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Full text of "Francis Bacon und seine Nachfolger : Entwicklungsgeschichte der Erfahrungsphilosophie"

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Francis Bacon und feine Nachfolger. 


Srancis Bacon 
und 
ſeine Nachfolger. 
Entwicklungsgeſchichte der Erfahrungsphiloſophie. 


Von 


Kuno Fiſcher. 


Zweite völlig umgearbeitete Auflage. 





Ceipzig: 
F. A. Brockhaus. 


1875. 


Das Net der Ucherfekung ift vorbehalten. 
«?/5 0 7 











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. 


1 
rt 


Borrede 
zur zweiten Auflage. 





In der gegenwärtigen Form hat jich der Umfang dieſes 
Werks um mehr als das Doppelte vergrößert, während 
von ben Inhalte der erften Auflage (1856) faum mehr 
als die Hälfte in die zweite übergegangen ift. Daher habe 
ich die leßtere ala eine völlige Umarbeitung bezeichnet. 

Zu einer ſolchen Veränderung bewog mich zunächit Die 
Rückſicht auf mein Werk über die „Gefchichte der neuern 
Philoſophie“. Da hier die Theile, welche Descartes, Spinoza 
und Leibniz, die Metaphyſiker der vorkantifchen Zeit, um- 
fafjen, in der zweiten Auflage ungleich ausführlicher be- 
handelt worden find als in der erjten, jo mußte ich jebt 
darauf bedacht fein, in Ddiefer erneuten Darftellung auch 
Bacon und feine Nachfolger, die den philojophiichen Ent- 
widlungsgang defjelben Zeitalter in der entgegengejebten 
Richtung beftimmt Haben, nicht in Rückſtand zu laſſen. Es 
ift mir erwünſcht gewejen und ich bin dafür der Verlags— 
handlung dankbar, daß nun auch in feiner äußern ‘Form 
dieſes Buch mit jenem größern Werke, zu dem es fachlich 
gehört, übereinjtimmt. 


vI 


Indeſſen war die Umarbeitung noch durch Beweggründe 
gefordert, die in dem Thema felbft lagen. Man Hat fid) 
während der lebten Jahre in England, Frankreich) und 
Deutjchland ſehr viel mit Bacon beichäftigt; die jüngjte 
engliiche Sejammtausgabe hat durd) das überaus reiche und 
wohlgeordnete biographiiche Material, das fie bietet, neues 
Licht über fein Leben verbreitet; die alten Streitfragen 
über den Werth feiner Perſon und Lehre find eifriger als je 
wieder angefacht und verhandelt, mit lauter Stimme find beide . 
von der einen Seite unbedingt verherrlicht, von Der anderen 
unbedingt verdammt worden und zwar aus entgegengefebten 
Gründen. Nachdem ein folder Verſuch, Bacon zu ver- 
nichten und in der Anerkennung der Welt gleichſam auzzu- 
rotten, zuerft von einem romanijchen Schriftiteller, den 
ultramontan Firchlicher Uebereifer benommen hatte, auöge- 
gangen war, haben wir neuerding3 die Ueberrafchung er- 
lebt, daß ein deutjcher Naturforfcher von großem Anſehen 
zum Heil der Naturwiſſenſchaft für nothwendig fand, eine 
ähnliche Erecution an dem engliſchen Philoſophen vorzu- 
nehmen, wobei es nicht an dem Beifall der Hörigen ge— 
fehlt Hat. Das eritemal follte Bacon büßen für die Sün- 
den, welche die Aufklärung des vorigen Jahrhunderts an 
der Kirche verfchuldet, das zweitemal für den Unverſtand, 
womit fi) die englifchen Landwirthe der heutigen Zeit an 
der Chemie verfündigen; er ift Dort als Haupt der Keber, 
hier al3 Typus der Dilettanten verurtheilt worden, beide- 
mal fo, da die vermeintliche Schuld zugleich aus der Ver: 
dorbenheit feines Charakters erklärt wurde. 

Unmöglich dürfen ſolche Vorstellungen von einem Manne, 
der den Ideengang der neuen Zeit als Führer bejtimmt und 





vu 


feine Wirkungen durch Jahrhunderte erſtreckt hat, das 
legte Wort behalten und dag unbejtochene Urtheil der Nach⸗ 
welt verwirren. Sie beweiſen nur, daß fich die Vorurtheile 
noch nicht gelegt haben, die aus einer trüben und un- 
gründlichen Einficht wie Nebel emporfteigen, welche den 
richtigen Anblid des Gegenftandes hindern und verdunfeln. 
Sie finden ihre befte Widerlegung an einer unbefangenen, 
auch den Mängeln gegenüber unverblendeten Würdigung, 
gegründet auf eine genaue Kenntniß und Prüfung der 
Sade. Wenn man Bacon’3 Zeitalter und Leben wirklich 
fennt, jo wird man feinen Charakter, jeine Schuld und 
Schidfale anders beurtheilen, al3 durch allerhand mora- 
liſche Phrajen, womit man fich gern bei diefer Gelegenheit 
gütlich thut. Unfere Zeit ift nicht glüdlich in ihren Literarischen 
Rettungen, die mehr überrafchen wollen, als aufllären; ebenfo 
wenig gelingt ihr, wie es fcheint, das entgegengejehte Spiel. 
Wenn man die Aufgabe der Erfahrungsphilojophie, Die 
Bacon begründet Hat, richtig fieht, jo wird man unmöglich 
eine neue Scholaftil von ihr erwarten; man darf aber auch 
nicht fordern, daß ihre Arbeit mit den Unterfuchungen der 
Naturwifjenichaft im engern Sinne des Wort einfad) zu- 
ſammenfällt. Bacon ift falſch beurteilt, wenn man ihn 
unter die Frage ftellt: was bat er in der Naturwifjenichaft 
geleiftet ? Ich antworte mit der Gegenfrage: was haben Die 
Anderen, wie Hobbes, Zode, Hume in der Naturwifjenichaft 
geleiftet ? Die Erfahrungsphilojophie iſt darauf gerichtet, 
die Erfahrung und damit die vorftellende und erfennende 
Menfchennatur zum eigenthümlichen Object ihrer Unter- 
ſuchung zu nehmen; das ift in Bacon ſehr deutlich ange- 
legt und wird mit jedem Schritte deutlicher, den Die eng- 


voı 


tische Erfahrungsphilofophie weiter geht. Diefer ganze 
Entwidlungsgang will aus dem Werfe Bacon’3 beurtheilt 
fein und die Leiftung Bacon’3 aus ihm, denn fie verhalten 
fih, wie Grund und Folge. Ich glaube, daß unter diefem 
Geſichtspunkte auch Bacon’3 Hiftorifche Stellung ſich der- 
geftalt hervorhebt und verdeutlicht, daß fie nicht mehr, wie 
Erdmann in feinem vortrefflichen „Grundriß der Gejchichte 
der Philoſophie“ fie noch ſehen will, im Zwielicht der Zeiten 
erjcheint, jondern im Aufgange der neuen Zeit. Bacon's 
Geiſtesthat ift dieſer Aufgang felbft. 

Das ift alles, was ich als Vorwort zu jagen habe. Es 
find die Gründe, weshalb ich den Gegenftand jo ausführlic) 
behandelt und dieſes Wert in die drei Bücher eingetheilt 
habe: Bacon’3 Leben, Lehre, Nachfolger. Der lebte Theil, 
der in der erſten Auflage das Thema der Schlußabhandlung 
ausmachte, ift bier zu einem Buch erweitert worden, Das 
den vorhergehenden nicht blos, wie ich urjprünglich beab- 
fichtigte, als Epilog, ſondern als Ergänzung dient, indem 
e3 der Begründung der Erfahrungsphilojophie deren Fort: 
bildung hinzufügt. 


Heidelberg, 1. November 1874. 


Kuno Fiſcher. 


Inhalt, 


— — 


Erſtes Bud. 


Batcon's Leben. 


Erſtes Kapitel. Seite 

Bacon's geſchichtliche Vorbedingungen............. ....... 3 
Die Scholaſtik in England. .. ............................. 5 

1. Wilhelm Ocecam .................. ................. 5 
2. Duns Scotus.............. ernennen een nennen 6 
3. Merander von Hales. ...................... ........ 7 
4. Roger Bacon .P.............................. 9 
5. Erigena und Anfelmus ............ ..... ............ 11 
6. Robertus Pullus. Johannes von Ealisbury........... 13 
Die Begrlindung ber neuen Zeit ..... .................... 15 
1. Die Renaiſſance ................... ..... . .......... 15 
2. Die antiariſtoteliſche Richtung. Petrus Ramus......... 16 
3. Die fteptifche Richtung. Montaigne ......... ........ 17 
4. Die italieniſche Naturphiloſophie ...................... 18 
5. Die transatlantiſchen und aſtronomiſchen Eutdeckungen ... 19 
6. Die lirchliche Reformation .............. ............. 22 
Zweites Kapitel. 

DaB Zeitalter Eliſabeth's ......................... 24 
Die engliſche Reformation .......... ..... ... .... .......... 24 
England unter Eliſabeth.................................. 26 

1. Eliſabeih's Politik. ................. ..... .......... 26 
2. Der geiſtige Aufſchwung des Zeitalters................ 31 


3. Bacon ........................................... 33 





x 


Drittes Kapitel. Seite 

Bacon unter Eliſabeth. ................................... 36 

Vorbemerkungen........................... .... .......... 36 

Abkunft und Erziehung . . . . . . . . . . ... ...................... 39 

1. Familie . . .. ... ........... ........................ 39 

2. Cambridge. Reife nach Frankreich ..... ......... .... 41 

3. Gray's Inn ...................................... 42 

4. Bacon und Burleigh . . . . . . . . . . . . .. ........... ..... 43 

Laufbahn unter Eliſabeth ... .............................. 45 

1. Parlamentariſche Wirkſamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... 45 

2. Erfolgloſe Bewerbungen. . . .......................... 51 
Dieries Kapitel. 

Bacon umd Eſſerx......................................... 55 

Eifer’ Perfon und Schickſale .............................. 55 

1. Eſſex und Elifabeth ............................... 55 

2. Statthalterfhaft in Irland ... ....................... 58 

3. Berſchwörung und Untergang. ...................... 60 

Bacon's Verhältniß zu Effer..-............ .. ............ 62 

1. Bacon's Declaration ............................... 64 

2. Bacon's Apologie.......... ......... .............. 65 

3. Auftreten gegen Eller .............................. 71 

Das Ergebniß . . . . . . . . ......................... ......... 72 
Fünftes Kapitel. 

Bacon unter Jakob 1. ........................... ........ 76 

Die neue Aera ........ .................... .... ..... ne 76 

1. Der König . . . . . . . ............................ ... 76 

2. Die neue Politik . . . . . . . . . . . .. ..................... 79 

Bacon's Stellung . . . . . . . ................ ................ 82 

1. Annäherung an das neue Regiment.. . . . . . . . .. ......... 82 

2. Heirath. Aemter und Würden .. . . . . . . . . ............. 84 


Sechstes Kapitel. 
Bacon's öffentliche Laufbahn. Der Weg zur Höhe und zum Sturz 88 


Die Barlamente unter Jalob vor 1621 ..................... 88 
I. Das erfte Barlament (1604— 7) . . . . . . . . . . ... ........ 90 
2. Das zweite Parlament (1610- 11) . . . ....... .. ....... 92 
3. Das dritte Parlament (1614) ... ................ .... 96 


Verfolgungen. Coke's Fall ................... ........... 101 


xI 


Siebentes Kapitel. 


Bacon’3 Sturz und letzte Jahre ................. ........ 
Das Parlament vom 1621—. . . . . . . . . . . . . ................... 
1. Bacon's Denkſchrift ................................ 

2. Anklage und Berurtheilung ......... .. ... .. ........ 

3. Bacon's Schuld ..................... .............. 
Urtheil Über Bacon's Verhalten. Sein Ende .... ........... 


Achtes Kapitel. 


Bacon's Werke .............................. .... ....... 
Ueberblick .................................... .......... 
1. Bacon als Schriftſteller ............................ 


2. Selbſtherausgeg 


ebene Merle ......................... 


3. Nahgelaffene Werke ................. .............. 
Das Gefammtwerk und deffen Theile. ...................... 
Die Hanptwerle und deren Entſtehung...................... 


1. Die Encyllopäd 


ie .................................. 


2. Das neue Organon ................................ 


3. Die Enchllopäd 
Gejammtausgaben ... 


ie und das neue Orgauon ............. 


Zweifts Bud. 


Bacon’s Lehre, 


Erſtes Rapitel. 


Das Ziel der baconiſchen Philofophie ......... ............ 
Bacon’s wiffenfhaftliche Denlweiſe ......................... 
1. Leben und Wiſſenſchaft ............................. 


2. Der baconiſche 
Das baconifhe Ziel. 


Weg ................ ......... . ..... 


eg Zur ur Zur Br Kur Br Tu Baur TE Zur Ser Tr Tr u Ber Bus Er Bee Tr Be TE Zur Te ey Br er 7 


1. Die Wahrheit der Zeit . . . . . . . .. . . . ................. 


2. Die Erfindung 


Zu Zur Tor Zur Kur ur Tr Sr Br Br u Tr Te oc Zur Tr Br er Br Zur Br er ur Br re er ar er 


3. Die Herrſchaft des Menfhen ........................ 
4. Ruten und Wahrheit. „Die Geburt der Zeit" ........ 


weites Kapitel. 


Die Erfahrung als Weg zur Erfindung .................... 


Der Ausgangspunkt . 
1. Die erfte Frage 


[ Zur Yu Zur ur Zu BEE —— ——0o — zur Zur Zur Sur Kur SEE Zu Kur Be ur Zur Zur ur Kur SE Ber Br Kr Zr Ber 0— 


[Dur Wa zur Bar See Eur Baar Te Te ee Er Baer — 


133 
133 
133 
135 
140 
140 
141 
145 
149 


151 
151 
151 


XII 


2. Die negative Bedingung. Der Zweifel ............... 


3. Die Idole 


umd deren Arten ......................... 


Die Ausfchließung dev Idole ................. ............. 
1. Idola theatri ............ .. ... .... ... .... .. nenn nee 


2. Idola fori 


we | 8 —— — — — — — — — —— Tr ET te: te 


3. Idola tribus ............... ...................... 


Drittes Kapitel. 


Der Weg der Erfahrung ....... ................... ...... 


Die Aufgabe ... 


L.Bur Br TE BE Zur BEL Zu Zur Bu Bar Zur BEE Br Zu Zur zur BeuE BE BEE Zur Zee Beer Ser ur Kur Zur Zur er ur Tr Tr —⏑ 6—2—0 


1. Die wahre Differenz ............................... 
2. Die Formen .............. .......... ... ........... 
Der Weg zur Löſung .................................... 
1. Die Tafeln der Juſtanzen ........................... 


2. Das Beiſp 
3. Induction 


Die Methode der 


ich (die Wärme). . . ... . ................... 
und Deduction . . . . . . .. ................... 


diertes Kapitel. 


Induction .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 


Die negativen Inſlanzen ... ............. .......... ........ 


Das Experiment 


. 0.2 tr TR Tr Tre 


Fünftes Kapitel. 


Die prärogativen Inſtanzen als Hälfsmittel der Erfenntuiß... 


Nene Hülfgmittel 


. 0 Ba TR 0 91 0 Er Tr Terre 


1. Bacon’ Mängel .................................. 
2, Die letzte Aufgabe des Organons .................... 


Die prärogativen 


Inſtanzen . . . . ............... ........... 


1. Mangel der Methode ............................... 
2. Die baconifhe Anordnung .......................... 
3. Die befchleunigte Imduction .............. .......... 


Sechstes Kapitel. 


Die baconiſche Lehre gegenüber der früheren Bhilofophie..... 
Die Entgegenfegung des Alten und Neuen .................. 


1. Das Ziel. 


PIE Sure WEL Zur Tr Ser ar Be Br ur Br Ze Tec er Ts Tr Teer Tr or Ser ar Tr Te Teer er er Beer Bar ur er er 


2. Die Grundlage ............ .... .... ....... ........ 


3. Die Wege 


Seite 
154 
159 
162 
162 
164 
162 


177 
177 
177 
179 
182 
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193 
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200 


211 
211 
211 
215 
217 
217 
220 
224 


‚237 


23) 
239 
241 
2414 


XIII 


Eeite 

Bacon's Stellung zu den alten Bhilofophen ................. 248 
1. Berhältniß zu Ariſtoteles............................ 248 

2. Berhältniß zu Plato........................... ..... 256 


3. Berbältniß zu Demofrit und zur alten Naturphilojophie.. 262 


Siebentes Kapitel. 
Die baconiſche Philsfophie in ihrem Verhältniß zur Boechie... 269 - 


Bacon’E Poetik ........................... ............. 269 
1. Philoſophie und Mythologie ......................... 269 
2. Die Dichtung als Allegorie ......................... 270 
3. Bacon's Erklärungsart .................. ........... 277 


Das griechiſche und römiſche Altertfum. Bacon und Shaffpeare 283 


Achtes Kapitel. 
Organen nnd Encyklopädie.............................. 293 


Uenntes Kapitel. 


Die bacsmilche Eneyklopädie................. ........ 302 
Einleitung ................................... ...... .. 302 
1. Die Bertheidigung der Wiſſenſchaft ................... 302 

2. Das Lob der Wiſſenſchaft ........................... 306 

3. Die Borfrage ...........,.............. ........... 307 
Eintbeilung. Die Welibeſchreibung .... .... ................ 309 
1. Naturgeſchichte ....................... ........... 310 

2. Literaturgeſchichte................. .... ............. 311 

3. Staatengeſchichte .................................. 314 
Welterlenntniß...... ..................... .... ..... ..... 318 
1. Eintheilung....................................... 318 

2. Fundamentalphiloſophie ........ .................... 319 

3. Theologie und Philoſophie........................... 322 


Zehntes Kapitel. 


Rosmelsgie. A. Raturphilofephie ............. ............ 327 
Die Aufgaben der Naturphiloſophie......................... 328 
1. Theoretifche und praktiſche........................... 328 

2. Phyſik und Metaphyſik.............................. 329 

3. Mechanik und natürliche Magie ...................... 335 


4. Mathematik..................... .................. 338 





xIV 


Eiftes Kapitel. 


Eeite 

Kosmologie. B. Anthropologie ........................... 341 

Die Aufgaben der Anthropologie........................... 341 

1. Eintheilung. Vorbetrachtung ........................ 341 

2. Somatologie. Medicin. ........................ nn 344 

3. Pſychologie ...... ................................ 350 

Zwölftes Kapitel. 

Die Logik als Lehre vom richtigen Berftandesgebraud ....... 355 

Logik im Allgemeinen........................... ......... 355 

1. Berftand, Wille, Phantafie .......................... 355 

2. Werth und Eintheilung der Logik .................... 356 

Die logischen Künſte ...... ...... ........... .............. 358 

1. Erfindungskunſt ..................... .... ... ...... 358 

2. Gedankenkunſt ..... . ............................... 360 

3. Gedächtnißkunſt. ................................... 362 

4. Darſtellungskunſt .... ..................... ......... 365 

a) Charalteriſtik ............................... 365 

b) Grammatik ................................. 366 

co) Rhetorik .................................... 370 

d) Beredſamkeit .. . .. ... ........................ 371 
Dreizehntes Kapitel. 

Sittenlehre........... ................ . ........ .......... 377 

Aufgabe der Sittenlehre ................ .............. .... 377 

Die Lehre vom Guten ................................... 378 

1. Grade des Guten... . . .............................. 378 

2. Arten des Guten .................................. 379 

‚3. Das Einzelwohl. . . . . . . . . . ......................... 381 

4. Das Geſammwmohl . . . . . . . .......................... 383 

Die Sittencultur ........................................ 385 

1. Das ſittliche und leibliche Wohl................ ..... 385 

2. Die ſittliche Geſundheit ............................. 386 

3. Charaktere: ....................................... 388 

4. Affecte ................................ . ...... .... 389 

5. Bildung ............... ....... ..... ............... 390 
Dierzehntes Kapitel. 

Geſellſchaftslehre ...................... . ... .......... 393 








xV 


Sunfzehntes Kapitel. Seite 
Die baconiſche BHilsfophie in ihrem Verhältniß zur Religion . 401 


Bacon’8 Stellung zur Religion ............................ 401 

1. Trennung von Religion und Philojophie .............. 401 

2. Die theoretifchen Geſichtspunkte...................... 410 

3. Die praltifhen Gefihtspunfte ........................ 413 

4, Die politifchen Geſichtspunkte ........................ 416 

Aberglaube und Frömmigkeit. .. . .......................... 420 
Sechzehntes Kapitel. 

Bacon und Joſeph de Maiſtre ................... ..... 427 
Siebzehntes Kapitel. 


Bacon und Bayle. Die religiöſe Aufklärung .............. 441 


Achtzehntes Kapitel, 
Die baconiſche Philoſophie in ihrem Verhältniß zur Geſchichte 
und Gegenwart. Bacon und Macanlay ............... 463 


Vennzehntes Kapitel. 


Liebig gegen Bacon ........................ ............ 486 
Die Streitſache ................ ......................... 486 
1. Liebig's Angriff ..................... .............. 486 

2. Liebig und Sigwart. . .............................. 489 
Liebig's Einwärfe ................ ..... .... .............. 491 
1. Neue Beweiſe gegen Bacon's Gefinnung............... 491 

2. Neue Art, Bacon zu Überfegen ...................... 494 

3. Bacon's Dilettantenruhm ........................... 497 

4. Das Urtheil über Bacon's Methode................... 498 

5. Unterfchied zwiſchen Liebig und Bacon ............ 2... 502 

Drittes Bud. 


Bacon’s Nadfolger. 


Erſtes Kapitel. | 
Die Fortbildung der baconifhen Philofophie ................ 509 
Die baconifche Bhilofophie als Empirismus ..............-.. 509 
Entwidlungsgang des Empirismus .................. ...... 511 


XVI 


Zweites Kapitel. Set 
eite 
Der Naturalismus: Thomas Hobbes. A. Das Verhältniß von 


Natur und Staat .................................... 517 
Hobbes’ Aufgabe und Zeitalter............................ 517 
Löfung der Aufgabe ..................................... 520 

1. Die Grundlage .................................... 520 
2. Natur und Staat. ................................. 525 
3. Die abfolute Staategewalt .......................... 526 


Drittes Kapitel. 


B. Das Berhältui von Staat und Kirche ................. 534 
Aufgabe .................... ... ........................ 534 
Löſung................................................. 536 

1. Die natürliche Religion... ................ .......... 536 
2. Die Staatéreligion oder Kirche .... ................. 538 


3. Die hriftliche Kirche.......................... ...... 540 


Diertes Kapitel. 
Der Senfnalismns: John Lode. A. Die Wahrnehmung und 


deren Objecte. Die Elementarvorftellungen............. 545 
Lode’8 Aufgabe und Zeitalter ...................... ...... 545 
Löfung ber Aufgabe................ .. ................... 54 

1. Urſprung der Vorſtellungen.......................... 554 
2. Senfation und Neflerion. Die Elementarvorftellungen... 557 
3. Die primären und fecnndären Qualitäten. .....-...--.» 560 


FSünftes Kapitel. 
B. Der Berftand und deſſen Objecte. Die zuſammengeſetzten 


Borftellungem ... ............................ ........ 565 
Die Stufen der Wahrnehmung ............................ 565 
1. Gedächtniß........................................ 566 

2. Urtheil .......................... ................. 568 

3. Berſtand ......................... ................ 668 
Die zuſammengeſetzten Vorſtellungen............. .......... 570 
1. Die Modi ...................... .......... ....... 571 

2. Die Subſtanzen ....... ........... ..... .. ..... .... 581 


3. Die Relationen.......................... .......... 683 


XVII 


Sehstes Kapitel. 


Eeite 
C. Werth und Gebraud der Borftellungen nnd Worte....... 588 
Die Geltung der Borfielllungen ............................ 588 
1. Klarheit ........................ .................. 588 
2. Objectivität (Realität, Angemeſſenheit, Richtigkeit)...... 589 
3. Aſſociation............................ ............ 592 
Die Geltung der Worte ........ ......................... 592 
1. Die kritiſche Frage ......................... rn 592 
2. Neal» und Nominalweſen .. . . . . . . ............... .... 594 
3. Gattungen und Arten als Nominalweſen .............. 596 
4. Die Bartileln ......................... ............ 597 
Der Gebrauch dev Worte ........................ ...... . 598 
1. Die Unvolllommenheit der Sprache ................... 598 
2. Der Miebraud) der Sprache....... .... ............ 599 
Siebentes Kapitel. 
D. Die menſchliche Erkenutnißßz. Bernunft und Glaube ...... 602 
Die Erkennmiß ......................................... 602 
1. Arten, Grade, Umfang... .......................... 602 
2. Traum und Wirlichleit ............................ 606 
3. Wahrheit und Grundfäte............... ........... 608 
4. Die Erlenntniß der Dinge .................. ....... 610 
5. Das Dafein Gottes ......... ............. .... .n.. 612 
Erlenntniß und Glaube Bernunft und Offenbarımg ......... 615 
1. Wahrheit und Wahrfcheinlichleit ................. ..... 616 
2. Vernuuft ......................................... 619 
3. Glaube und Offenbarung............................ 62% 
Adıtes Kapitel. 

Geſammtreſultat der locke'ſchen Lehre uud deren Anwendung 
anf Wiffenfchaft, Religion, Staat, Erziehung ........... 626 
Das wilfenfhaftlihe Gefammtrefultat ....................... 626 
1. Eintheilung der Wiffenfhaften ... ................... 626 
2. Wiffenfhaftlihe Aufgaben. Lode und Bacon........... 627 
3. Die piychologifche Frage. Condillac, Berkeley, Hume ... 628 
4. Die metaphuftihe Frage. Kant und Serbait........... 632 
Religionelehre. Gegenſatz zwifhen Lode u. Hobbes. Die Aufflärung 634 
1. Bernunftmäßigfeit des Chriſtenthums ................. 635 


2. Srundfaß der Toleranz. Trennung von Kirche und Staat 636 


xvIu 


Seite 

Staatslehre ........................ .................... 638 
1. Naturzufland und Bertrag .......................... 639 

2. Der Staat und die Staatsgewalten ......... ........ 640 

3. Die Trennung ber Staatsgewalten ........... ........ 643 
Erziehungslehre ...................................... ... 643 
1. Locke und Rouffeau ...... ................. ........ 643 

2. Die Erziehung als Entwidlung ...................... 645 

3. Die Entwidlung der Individualität. Das fociale Ziel... 646 

4. Die Privaterziehung und der Erzieher ................ 648 
5. Die Bebeutung des Spielens ........................ 649 


6. Der Anſchauungsunterricht und der pädagogifche Realismus 650 


Uenntes Rapitel. 
Die Fortbildung der locke'ſchen Lehre..................... 658 
Die fenfualiftiihen Hauptprobleme ......................... 653 
1. Die Wahrnehmungspermögen. Senfation und Reflerion.. 654 
2. Die Wahrnehmungsobjecte. Primäre u. fecundäre Qualitäten 657 


3. Subftantialität und Caufalität der Dinge.............. 659 
Der Entwidlungsgang des Senfnalismus .................. 660 
1. Die Standpunkte ................... .............. 660 

2. Die Zeitfolge ............................. ....... 661 

3. Zeitalter und Charakter des Materialiemus ............ 663 

Zehntes Kapitel. 

Die englifchfrangdfifche Aufklärung...................... 668 
Der Deismus ........................... ............... 668 
1. Die engliſchen Deiften ......... .................... 668 

2. Bolingbroke................................. 674 

3. Voltaire....................................... ... 678 
Die Moralphiloſophie ................................... 682 
1. Die engliſchen Moraliſten ........................... 682 

2. Mandeville ................... .. . ............... . 686 

3. Helvetius ... .............. ........... ........... 687 

J. J. Rouſſeau ....................................... 688 

Elftes Kapitel. 

George Berkeley............ ... ... .................. 694 
Berkeley's Stellung....................... ... .. ......... 694 
1. Verhältniß zu Locke und Malebranche ................. 694 

2. Vorläufer. Norris und Collier ...................... 697 


Lebensumriß ...., ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . .......... 698 


XIX \ 


Zwölftes Kapitel. 


Seite 

Berleley’3 Idealiomus.................................. 702 
Die Gruudfrage der Einleitung. .................. .. .... 702 
1. Locke's Widerſpruch.................. ............... 702 


2. Berkeley's Nominalismus. Die Unmöglichkeit abſtracter Ideen 703 
3. Die Geltung allgemeiner Ideen. Die Einzelvorſtellungen 705 


Die Wirklichkeit der Ideen ................................ 707 

1. Die primären Eigenſchaften als Ideen................. 707 

2. Die Dinge als Ideen .............................. 709 

3. Ideen und Geiſter ................................. 711 

4. Die Ideen als vermeintliche Abbilder der Dinge.......-. 7112 

5. Materialismus und Steptieismuß .................... 118 

6. Rothwenbigfeit des Idealismus. Die Welt in Gott..... 714 

7. Die Ideen als Dinge. Berleley’s Realismus .......... 716 

Die Einwürfe und deren Wiberlegung ...................... 718 

1. Chimären und Sinnestäuſchungen. Berkeley und Copernikus 718 

2. Der Schein bes Abfurden....... ..... .......... .5.. 720 

Berkeley's Erkenntnißlehre ................................ 722 
1. Die Erkenntnißobjecte. Die Ordnung der Dinge, das 

Buch der Welt .................................. 722 

2. Die mechaniſche Naturerlärung ...................... 125 

3. Geiſter und Gott. Die religiöfe Philofophie (Theodicee) 727 

4. Das fleptifhe Reſultat.............................. 729 


Dreizehntes Kapitel. 


David Hume............................. ............ 730 
Hume's Aufgabe und Standpunlt................. ......... 730 
1. Die Borgänger..... ......... ..... ......... .... ... 730 

2. Erfahrungsphilofophie und Erfahrung ................. 733 
Leben und Schriften ............................ .. ....... 736 
Das Hauptwerk und die Eſſays ........................... 143 


Vierzehntes Kapitel. 


Hume's Skepticismus. A. Stellung der Probleme .......... 746 
Die Borflellungen und deren Urſprung ..................... 746 
1. Impreffionen und Ideen ............................ 746 

2. Slanbe und Einbildung............................. 147 

3. Senfation und Reflerion. Gedächtniß und Einbildung .. 749 


4. Die Geſetze der Aſſociation.......................... 750 








xx 
Seite 
Erkenntnißobjecte und Exlenntnißproblem ................... 152 
1. Dinge (Objecte) und Borftellungen (Eindrüde)........ 152 
2. Raum umd Zeit ................................... 754 
3. Die Vorſtellungsverhältniſſe.......................... 755 
4. Das Erkenntnißproblem................. ......... ... 756 

Sunfzehntes Kapitel. 

Hume's Skepticismus. B. Löſung der Brobleme ........... 760 
Die Idee der Cauſalität ............................. .... 760 
.1. Die Cauſalität als Grund der Erfahrung ............. 760 
2. Die Quelle des Kraftbegrifis ........................ 762 
3. Die Erfahrung als Grund der Cauſalität ............. 163 
Die Idee der Subſtanz .................................. 167 
1. Nichtigkeit der bisherigen Lehre. Das Broblem......... 767 
2. Auflöfung. Die Illuſion der Einbildung ............. 769 
3. Spentität und Subftantialität des Ich ................ 771 
4. Einbildung und Vernunft ........................... 774 
Gewohnheit und Geſchichte. . . . . . .......................... 775 


Schluß. 


Erfahrungsphiloſophie und Glaubensphiloſophie. Hauiann und Jacobi 780 

Erfahrungsphiloſophie und natürliche Erfahrung. Die ſchottiſche 
Schule ................. ........ .................... 781 

Erfahrungsphifofophie und Fritifche Philoſophie. Hume und Kant 784 


Berihtigungen. 


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» 319 » 5v.u. fl: von l.: vor 
» 405 » 62.8. f.: vernünftig l.: unvernünftig 





Srfles Bud. 


- Bacon’S Leben. 


Fiſcher, Bacon. 1 


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Erfies kapilel. 
Bacon’3 geſchichtliche Borbedingungen. 





„Die Wahrheit ift die Tochter der Zeit”: diefes baco- 
nifche Wort gilt von jebem philoſophiſchen Syitem, welches 
die Geifter ergriffen, bewegt und der denlenden Weltanſchauung 
eine geordnete und herrichende Form gegeben bat. Aber nicht 
jeder Philoſoph ift fich diefer Abhängigkeit fo deutlich bewußt 
gewefen als Bacon, nicht jede Philoſophie trägt diefen ihren 
zeitgemäßen Charakter fo ausgeiprochen und offen an ber Stirn 
als die feinige. Sobald wir ihn hören, find wir belehrt, aus 
weldhen Bedingungen des Zeitalters er feine Aufgabe fchöpft, 
auf welcher Höhe der Zeit feine Bhilofophie entipringt, welches 
Ziel fie fich ſetzt und in weicher hertſchenden Zeitrichtung ſie 
ihren Lauf nimmt. 

Wie dieſe Aufgabe in dem geſchichtlichen Gange ber Dinge 
allmälig heranreift, foll in der Kürze, welche die Einleitung 
fordert, gezeigt werden. Die Entwicklungsgeſchichte der Scho- 
laftit und beren Auflöfung, der Bruch mit der mittelalterlichen 
Philoſophie und ber Uebergaug zu einer neuen Weltbilbung, 
die Begründung der letztern durch das Zufammenmwirken refor⸗ 
matorifcher Kräfte auf allen Gebieten des geiftigen Lebens: 
das find die Bedingungen, die das Zeitalter Bacon's Hinter 

1 * 


4 


fih Hat und deren nothwendige und zeitgemäße Frucht eben 
die Aufgabe ift, die er ergreift. Wenn man die Iektere, bie 
fo einfach zu fein und bem menfclichen Geifte fo nahe zu 
liegen fcheint, daß er fie mit dem erften Griff in der Hand 
hat, als ein gefchichtliches Product betrachtet, als ſolches durch⸗ 
denkt und in ihre Factoren auflöft, fo wird man finden, daß 
in der hriftlichen Eultur der abendländifchen Welt eine lange 
Reihe von Entwidlungsitufen zurückgelegt fein wollten, bevor 
bie Philofophie mit völliger Klarheit den Standpunkt einnehmen 
fonnte, von bem aus Bacon frühzeitig feine höchſte Xebens- 
aufgabe fah. Er wurzelt in dem Zeitalter der Elifabeth, welches 
fih auf die Reformation gründet, die jelbft auf dem Wege 
der Renaiſſauce von bem Mittelalter herlommt. Daher find 
die Scholaftil, die Renaiffance, die Reformation die gejchicht- 
lihen Borbedingungen Bacon's, deſſen gefchichtlicdes Lebens» 
element felbft das Zeitalter der Elifabeth ift. 

In dem Entwicklungsgange der Scholaftil gibt es kaum 
eine Zorderung, die nicht in England erfüllt worden wäre, 
faum einen wichtigen, zur Fortbewegung der ſcholaſtiſchen Auf- 
gaben nothwendigen Poften, der nicht hier die bahmbrechende 
Kraft oder den günftigen Boden gefunden. Um auf der großen 
geihichtlihen Heerftraße zu Bacon zu gelangen, kann man 
durch die ganze mittelalterliche Welt faft ohne Abſprung feinen 
Weg dur England nehmen. 

Ih werde diefen langen Weg jekt nicht an dem Leitfaden 
der Gefchichte durchmeſſen, fondern ans dem Zeitpunkte Ba⸗ 
con’8 daranf zurüdbliden und aus feiner Aufgabe jelbft, indem 
ih fie in ihre Elemente auflöfe, die geſchichtlichen Voraus⸗ 
fegungen eriennen, bie ihr von ber ſcholaſtiſchen Seite Her 
geftellt waren. 








J. 
Die Scholaſtik in England. 


1. Wilhelm Dream. 

Es giebt einen Bunkt, in welchem die mittelalterliche und 
neuere Philofophie, die jcholaftifhe und baconifhe, ſich un- 
mittelbar berühren, wie es einen andern giebt, worin beide 
einander völlig widerftreiten. Ich werde zuerft den Berüh— 
rungspumft hervorheben, in dem die baconifche Lehre wie bas 
einfache, nothwendige und nädfte Ergebniß der fcholaftifchen 
erfcheint. ” 

Denn die Scholaſtik mußte von fih aus und in bem 
folgerichtigen Gange ihres eigenen Geiftes zu der Einficht 
fommen, daß es eine menfchliche ober natürliche Erkenntniß der 
Slaubenswahrheiten nicht gebe, daß alle menſchliche Erkennt⸗ 
niß durch Begriffe ftattfinde, die felbft nicht real, fondern 
blos mental, nicht Dinge, fondern blos Zeichen oder „Ter⸗ 
mini‘ für die Dinge, baß die Univerfalien nicht real, alfo 
bie Realien nicht univerfell, fondern individuell feten, daß fich 
demnach der menfchlihen Erkenntniß keine andern Objecte 
bieten als bie einzelnen Dinge, bie finnlihen Erfcheimungen 
in und außer ıms, daher die Erfenninig felbft nur beftehen 
fünne in der Wahrnehmung und Erfahrung. Die Scholaſtik 
mündet in den Sa: „universalia sunt nomina‘; fie geftaltet 
fih zur nominaliftifchen Denkweife, die das menfchliche Wiffen 
vom Glauben treunt, auf die weltlichen Dinge Hinweift, auf 
das Gebiet und den Weg der Erfahrung. In Rüdfiht der 
theologifchen Erkenntniß tft diefe Scholafttt fchon verneinend 
und fleptifh, in Rüdficht der philoſophiſchen ift fie fchon em⸗ 
piriſtiſch, fie tft beides von Grund aus. 


— 


6 


Diefe nominaliftifche ober terminiftifche Richtung bildet 
die letzte Entwicdlungsform der Scholaſtik: das Zeitalter, 
in dem fie zur entfcheidenden Geltung kommt, ift das 14. 
Sahrhundert, der Mann, der fie flegreich eingeführt und 
gewaltig gemacht bat, ift der Engländer Wilhelm Occam. 


2. Dauns Scotus. 


Der Nominalismus iſt davon durchdrungen, daß Glaube 
und Wiſſen getrennt werden müſſen, und beweiſt die Noth⸗ 
wenbigteit diefer Trennung aus der Natur umnferer Begriffe. 
Die Trennung ift doppelſeitig. Sie ift die Freilaffung der 
Philoſophie aus der Botmäßigfeit des Glaubens und damit 
der erſte nothwendige Schritt zu deren Ernenerung: in diefem 
Sinne wird bie Trennung angenommen und vollzogen von 
Seiten ber Philofophie. Dagegen wird von der theologifchen 
Seite alles Gewicht gelegt in die Befreiung bes Glaubens von 
den Bedingungen der menfchlichen Erkenntniß, von dem Joch 
der Iogifchen Beweife. Die Philofophie möge fi verwelt- 
fihen, der Glaube will ſich entweltlichen, die Kirche ſoll es. 
Ihm gilt das Reich der göttlichen Dinge, zu welchem bie 
Kirche gehört, als bie höchſte und abfolute Wirklichkeit, voll⸗ 
fommen überfinnlich und übernatärlic, nicht anders als gläus 
big erfaßbar. Hier läuft die Grenzlinie. Dieſſeits das menſch⸗ 
liche Wiffen mit feinem auf die finnlichen und natürlichen 
Dinge beſchränkten Gefichtskreis, jenſeits die unerforichliche 
Welt bes Glanbens und der Offenbarung. 

In diefem theologifchen Geift der entfchiedenften Glaubens» 
bejahung, in dieſem kirchlichen Eifer für bie Unabhängigfeit, 
Unbedingtheit und Reinheit des Glaubens erklärt und begrün- 
det die Scholaftif die Abtrennung beffelben von ber Philofophie. 





7 

Bären die Glaubenswahrheiten erkennbar und bemonftrabel, 
fo wäre in den göttlichen Dingen eine jeder Willkür entrückte 
Nothwendigleit, alles Auchandersſeinkönnen wäre aufgehoben, 
der göttlihe Wille handelte nicht frei, nit umbedingt oder 
indeterminirt, e8 gäbe dann feine unbeſchränkte grundlofe Will- 
für Gottes, welche nad) der Richtſchnur anguftinifcher Denk⸗ 
weiſe der Kriftliche Glaube fordert. Die grundlofe Willkür 
Gottes und überhaupt die Willensfreiheit gelebt: To folgt bie 
Unbegreiflichleit der göttlichen Dinge, die Unerkennbarkeit und 
Uebernatürlichleit aller Glaubensobjecte, alfo die Nothwendig- 
feit ber Trennung von Glauben and Wiffen, Theologie und 
Bhilofophie, das Unvermögen einer Erfenntniß des wahrhaft 
Wirklichen aus menfhlichen Begriffen, die Unwirklichkeit und 
blos terminiftifhe Geltung der legtern, mit einem Wort bie 
nominaliftifhe Denkweiſe. Es ift der fcholaftiiche Indetermi- 
nismns, der dem Nominalismus vorausgeht und Bahn bricht. 
Einer der fharffinnigften Köpfe des gefammten theologifchen 
Mittelalters, der fi) den Namen bes „Doctor subtilis“ mit 
Recht verdient hat, Legt in den Indeterminismus den Schwer- 
punkt der Scholaftik: der Lehrer Decam’s, der britifche Fran- 
ciscanermönh Dune Scotus. Er fteht auf dem Leber: 
gange vom 13. ins 14. Jahrhundert und bildet den Endpunkt 
des ariftotelifchen Realismus, der die herrichende Geiftesrichtung 
bes 13. Jahrhunderts ausmacht. 


3. Alexander von Sales. 


"Das indeterminiftifhe Syſtem wiberftreitet dem determi- 
niftifchen und fett daher das lektere voraus. Hier ift der 
bewegende Grund des Gegenſatzes zwifchen Duns Scotus und 
Thomas Aquinas. In dem thomiftiihen Syſtem gipfelt die 


8 


kirchliche Scholaftit, die im hierarchiſchen Glaubensintereſſe 
auch die Togifche Feſtigkeit des Tirchlichen Lehrgebäudes, zu 
diefem Zwecke die Vereinigung von Glauben und Wiffen, darum 
die Herrſchaft der dogmatifchen Theologie, ben Dienft ber 
Bhilofophie fordert. Wie die Kirche jenes Zeitalters die Welt 
nicht ausfchließt, fondern beherrfchen, ſich unterordnen und ein- 
verleiben will, fo foll diefes Verhältniß fich auch in dem theo- 
logiſch⸗philoſophiſchen Zeitbewußtfein abfpiegeln. Die gött- 
lichen und natürlichen Dinge wollen als eine Ordnung, als 
ein Ganzes gefaßt, dad Reich der Gnade und das der Natur 
bergeftalt miteinander verbunden werden, daß die Natur 
als die BVorftufe der Gnade, die natürlichen Ordnungen 
als die Anlage gleihfam zu den facramentalen, dieſe letz⸗ 
tern als Biel und Vollendung jener erfcheinen. Wozu bie 
Menſchheit von Natur angelegt und beftimmt ift, das entfaltet 
und erfüllt ſich als Kirche: dies ift der Grundgedanke, der im 
Einverftändnig mit der Idee der mittelalterlichen, römiſch⸗ 
fatholifchen Weltordnung das thomiſtiſche Syftem trägt und 
durchdringt. Daher muß diefes Syftem die Ordnungen. des 
natürlichen, menſchlichen, bürgerliden und Tirchlichen Lebens 
als durchgängig beftimmt anfehen und die ganze Welt als ein 
Stufenreih, das nad göttlicher feſtgeordneter Willensricht- 
ſchnur durch Natur und Staat emporfteigt zur Kirche. 

Zur Ausbildung diefes theologifchen Determinismus, biefes 
ſcholaſtiſchen Naturſyſtems tft, wie man fieht, der Begriff der 
Entwidlung durhaus nothwendig, wie denfelben die arifto- 
telifche Philofophie vorbildlich gemadt, in ihrer Metaphyſik 
begründet und in den verfhiedenen Zweigen der Erlenntniß 


durchgeführt hatte So ift die Scholaftil von einer Aufgabe 


erfüllt, die an ber Hand und gleihfam in der Schule des 





9 


Ariftoteles gelöft fein will, mit Hülfe einer weit umfaffendern 
Kenniniß feines Syſtems, als das frühere Mittelalter gehabt. 
Die Bermittler find die arabifhen Philofophen. Von Hier 
ans nimmt das 13. Jahrhundert die Richtung des ariftote- 
Iifchen Realismus, deffen ſyſtematiſche Arbeit mit Albert 
den Großen beginnt und in Thomas Aquinas ihren Höhe- 
punkt erreicht. - 

Unter den erften Kennern der arabifd-ariftotelifchen Phi- 


lofophie, die dem Jahrhundert vorleudhten Ar her Bl x. 


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Franciscaner Alexander von Hales. — ran nn: 


4. Noger Bacon. 


Das ſcholaſtiſch- ariſtoteliſche Entwidlungsſyſtem/ der m 


Thomas die höchſte kirchliche Anerkennung gewinnt und bis 
heute die römische Kirchenphilofophie vorftellt, bietet zwei we- 
fentlihe Angriffspunfte: fein beterminiftifcher Charakter wider⸗ 
ftreitet dem Begriff der grundlojen Willkür Gottes, fein for- 
maliftifcher Charakter widerftrebt dem Bedürfniß wirklicher 
Raturerfenutnig. Iſt einmal das Reich der Natur eingeführt 
in das theologifche Syftem der Kirchenlehre und anerfannt als 
berechtigt in der Orbnung der Dinge, fo entfteht Hier eine 
Anfgabe, die fchon innerhalb der Scholaftif den naturwifjen- 
ſchaftlichen Erkenntnißtrieb aufregt und weckt. Wenn in 
bem göttlichen Weltplan die natürlichen Dinge ihre eigene 
Stelle haben und in ihrer Weife mitwirken zur Erfüllung bes 
göttlichen Zwecks, fo muß doch gefragt werden: worin diefe 
ihre eigenthämliche Wirkungsweife befteht? Der Endzwed ber 
Dinge will theologifch erkannt werden, ihre Wirkfungsart phy⸗ 
ſilaliſch. Die theologifche Einficht gründet fih auf Offen- 
barımg, die phnfifaliihe auf Entvedung Der naturmifjen- 





10 


ſchaftliche Geiſt, der in der ariftotelifchen Lehre lebt und bie 
arabifchen Philofophen angezogen hat, fängt an, wie vereinzelt 
es immer ift, fih in der Scholaftif des 13. Jahrhunderts 
zu rühren und im Wiberftreit mit den theologifchen Auto- 
ritäten des Zeitalters und dem fcholaftifchen Formalismus bas 
Erkenntnißbedũrfniß auf die concreten Wiffenfcheften, auf Kennt- 
niß der Spraden, Erforſchung ber Naturgefeke, phyſikaliſche 
Experimente zu richten. Es ift die-erfte mächtige Regung des 
Realismus im Sinne der neuern Zeit. Der englifhe Fran- 
ciscanermönd) Roger Bacon ift von diefem Zuge erfaßt umb 
giebt in feinen „Opus majus’ davon ein merfwürbiges und 
in feiner Art einziges Zeugniß. Er möchte zum Heil der 
Kirche unb zum Beſten der Theologie der Scholaftil vermöge 
naturwifienfchaftlicder Erkenntniß einen neuen philofophifchen 
Geift einflößen im entſchiedenen Gegenfak zu dem herrſchen⸗ 
den Geiſt. Die großen Theologen feines Zeitalters erklärt er 
für falfche Philoſophen; ihm gelten Ariftoteles, Avicenna und 
Averroes mehr als Alerander, Albertus und Thomas. 

Zwei einander entgegengefehte Mächte wiberftreiten dem 
thomiſtiſchen Syſtem: die grundlofe Willtür Gottes und das 
Naturgeſetz der Dinge. Auf jene beruft fi Duns Scotus, 
anf diefes Roger Bacon. Bon Scotns führt ber Weg durch 
die Trennung von Glauben und Wiſſen zum Nominalismus 
Occam's, zur Berweltfihung der Philofophie; Roger Bacon 
erfcheint, als ob von ihm aus geradenwegs in wenigen 
Sitten die Schwelle der neuern Philofophie zu erreichen 
wäre, als ob er der unmittelbare Borläufer von Zrancis Bacon 
hätte fein Tönnen; fein „Opus majus” erfdeint wie ein Weg⸗ 
weifer zur „Instauratio magna”. So iſt es nit. Dums 
Scotus war die reife Frucht feines Zeitalters, Roger Bacon 





11 


eine ımreife, die feinen fortwirkenden Samen trug. Im ihm 
mifchte fich genialer Wiſſensdrang mit abentenerlicher Neuerungs- 
fuht, und ber Blick auf die Probleme träbte fi) durch den 
prahlerifchen Affect, fte gelöft zu haben. Bacon kannte diefen 
feinen merfwürdigen Namensgenoſſen mehr aus dem Auf als 
den Werken beffelben, er fah in ihm den Typus eines erfin- 
dungsluftigen, aber noch im Dunkel tappenben Geiftes und 
eitirte in feiner „‚historia vitae et mortis”“ mit ungläubiger 
Miene ein paar Fälle aus Roger Bacon’s Abhandlung „von 
der bemunderungswürbdigen Macht der Kunft und Natur“, viel- 
leicht bie einzige Schrift jenes Monchs, die Bacon gelannt hat. 
Das Hauptwerk war im Zeitalter unfers Bhilofophen noch nicht 
veröffentliht. Man hat die Lehren beider über bie Hinder⸗ 
niffe der menſchlichen Erklenntniß miteinander verglichen und 
ohne Grund gemeint, daß das „Opus majus’ mit feinen vier 
„ofendicula” der Erkenntniß bem „Novum Organon” bei 
der Lehre von den vier „idola” zum Borbilde gedient babe. 


5. Erigena und Aufelmus. 


Dliden wir zurüd bis in bie erften Zeiten ber Scholaftif, 
deren Grundaufgabe war, bie dhriftlihen Glaubenswahrheiten 
zu beweifen, einleuchtend und verſtändlich, lehr⸗ und lernbar, 
mit einem Worte fhulgeredht zu machen. Auf dem Schauplak 
einer neuen aus dem Chaos der Böllerwanderung hervorge⸗ 
gangenen Welt, deren Erziehung und Bildung zunächft ganz in 
der Hand der Kirche lag, war dieſe Aufgabe notäiwendig, zeitgemäß 
and durchaus praftifg. Die Philofophie praktiſch verwerthen, 
heißt in jener Zeit, fie ber Kirche dienſtbar, durch fie die Kirchen⸗ 
lehre ſchulgerecht machen. Zur correcten Röfung biefer Aufgabe 
ift bie dogmatiſche und logiſche Richtſchnur vorgezeichnet. Die 





12 


Slaubenswahrheiten wie die Kirche felbft beanfpruchen bie 
höchfte und alleinige Realität. Wäre die Menſchheit nur in 
den einzelnen Menfchen wirklich, ſo wäre der Glaubensfak 
von dem Falle der Menfchheit in Adam, von der Erlöfung 
der Menfchheit in Ehriftus, fo wären biefe beiden Firchlichen 
Gardinallehren von der Erbfünde und Erlöfung nichtig. Wäre 
die Geltung der Kirche abhängig und bedingt von dem Willen 
der Einzelnen, fo wäre fie nicht das Reich der Gnade, was 
fie im Glauben jener Zeit ift und fein foll. Daher ift es 
im Urfprung und im erften Verlauf der Scholaftif nicht blos 
eine Togifche WUeberlieferung, fondern eine praftifch gültige und 
religiös motivirte Meberzeugung, ohne welche die Kirche ihre 
eigene Realität nicht verificiren Taun: daß die Gattungen ober 
Univerfalien an und für ſich wirklich find, unabhängig von den 
einzelnen Dingen. „Universalia sunt realie, universalia 
ante rem”: diefer platonifche Realismus durchdringt die Dent- 
weife der erften fcholaftiichen Zeitalter und herrſcht auf der 
Höhe des 12. Jahrhunderts. | 

Zwei Anfänge, zwifchen denen ein trübes und barbarifch 
verwildertes Zeitalter, das 10. Iahrhundert, Liegt, hat bie 
Scholaſtik zur platonifchen Begründung der Kirchenlehre gemadht, 
das erſte mal im Wiberftreit mit der Kirchenlehre und darum er- 
folglos und unpraktifh, das zweite mal im Einklange und darum 
ſiegreich: im 9. Sahrhundert in der karolingiſchen Welt 
durch den Briten Johannes Scotus Erigena, dann im 
Zeitalter Gregor's VII. durch einen Italiener von Geburt, der 
zum erften Kicchenfürften Englands emporgeitiegen war, ben 
Erzbifhof Anfelm von Canterbury. 

Bon bier aus nimmt die Scholaftik ihren ununterbrochenen 
Entwiclungsgang und nähert fidh in ben Theologen Frank⸗ 








13 


reichs, eine Reihe von Zwiſchen⸗ und WVebergangsformen 
ausbildend, dem ariftotelifhen Realismus bes 13. Jahr⸗ 
hunderts. 


6. Robertus Pullus. Ishannes von Salisbury. 


Indeſſen bedarf die Scholaftif, um nicht in einem Be⸗ 
griffsformalismus zu verüden, des praltiichen und religidfen 
Gegengewichts, geſchöpft aus den realen Interefien des kirch⸗ 
lichen und den frommen Bedürfniſſen des religidfen Lebens. 
Es giebt außerdem noch ein fehr nützliches Geſchäft, wodurch 
der logifch geſchulte Geift eine Iehrhafte und praftifche Anwen- 
dung findet, ich meine die Anwendung befjelben auf das ge- 
ſammte Material des kirchlichen und theologifchen Willens, 
das nur dadurch, bemeiftert werben kann, daß es geordnet, über- 
ſichtlich gemacht, ſummariſch zufammengefaßt wirb. 

Das religidfe Gegengewicht gegen die fcholaftifche Gelehr- 
ſamkeit ift die Myſtik; das praftifche gegen ben fcholaftifchen 
Formalismus ift das reale Leben der Kirche, ihre Bolitik, 
Machtſtellung und Herrfchaft, ihre allfeitige, ber Erfahrung 
und den Öffentlichen Intereſſen zugewenbete, nicht blos fchul- 
gerechte, fondern praktiſche und concrete Weltbildung. “Die 
orbiende Bewältigung bes kirchlichen und theologifchen Lehr- 
inhalts, die Herftellung folcher fcholaftifcher Organa ift das 
Geſchäft der Summiften. 

An der Myſtik des Mittelalters nimmt England feinen 
Anteil, aber nicht in erfter Reihe. Dagegen fteht an ber 
Spite der Summiften der Engländer Robertus Pullus, 
und auf eine einzige Art verkörpert ſich ber Geift der praf- 
tiſch⸗ kirchlichen Imterefien gegenüber dem fcholaftifchen Forma⸗ 
lismus in dem Engländer Johannes von Salisbury, der 


14 


von allen Seiten her das praftifche Moment gegen bas bios 
boctrinäre hervorhebt: die realen Wiffenfchaften gegen die blos 
formalen, das Quadrivium gegenüber dem Trivium, die Rhe⸗ 
torik gegenüber der Logik, Cicero gegen Boethius, die arifto- 
telifche Logik und Analytik gegen die bürftige, auf den engften 
und ımergiebigften Theil des Organon eingeſchränkte logiſche 
Bildung des bisherigen Mittelalters; ex betont bie thätige Re⸗ 
ligioſität und bie Weltinterefien der Kixche gegen eine unfrucht- 
bare, in leere Spitzfindigkeiten und Wortgefechte entartete 
Schulgelehrſamleit. Was die Scholaftil, Tirhlih gebunden 
wie fie war, von praktiſcher Denkweiſe entfalten konnte, ift 
von dieſem Kopfe umfaßt nud zur Geltung gebracht worken. 
Er befämpft die Schule aus dem Standpunkt bes Lebens, 

Es find fieben Jahrhunderte von Erigena zu Bacon. Dan 
fann in der britiichen Welt den Fortſchritt der fcholaftiichen 
Entwidlungsformen bis zu dem Buufte verfolgen, wo bie 
Philofophie aus dem Kreife und ber Herrſchaft der lirchlichen 
Theologie heraustritt und ihrer eigenen Erneuerung zuftrebt. 
Dabei läßt fih bemerken, wie auch in ber Scholaftit überall 
der praftifche und zeitgemäße Charakter ſich in England her- 
vorthut und zur Geltung bringt: Anfelmus von Ganterbury 
der erſte kirchlich correcte Begründer der ſcholaſtiſchen Theo⸗ 
logie, Robertus Pullus ber erſte Summiſt, Johannes von 
Salisbury der erſte und in feiner Art einzige Repräſentant 
praltiſch⸗ſcholaſtiſcher Weltbildung, Alerander von Hales unter 
ben erften Kennern der arabifch-ariftotelifchen Philofophie, 
Roger Bacon ber erfte Tcholaftiiche Naturphilofoph, Dune 
Scotns der erſte ſcholaſtiſche Inbeterminift und Judivibualiſt, 
endlih Wilhelm Occam der fiegreiche Ernenerer, „venerabilis 
inceptor“ der nominaliftifchen Richtung. 


15 


u. 
Die Begründung der neuen Beil. 
1. Die Renaifience, 


Der Weg von Decam zu Bacon mißt drei Jahrhunderte. 
Die Philoſophie, freigelaffen von Seiten der Scholaftil, muß 
ih ans eigener Kraft und eigenem Vermögen erneuen; biefes 
Bermögen, gleichjam das Kapital, aus dem fie fchöpft, ift zu 
erwerben, bie Grundlagen find erft zu fchaffen, auf denen fie 
feſtſteht. Eine neue Weltaufchauung muß ſich heranbilden, 
welche die Erfenntnigaufgaben und damit den Stoff zu einer 
neuen Philoſophie Liefert, und zu ber fich die letztere ähn- 
lich verhält, als die Scholaſtik zur Kirchenlehre. Daher Liegen 
zwifchen dem Nominalismus fcholaftifchtheofogifchen Urfprungs 
und dem Empirismus nenpbilofophiicher Art eine Reihe ver- 
mittelnder Aufgaben und Uebergangsftufen, deren Entwidlung 
die Arbeit des 15. und 16. Jahrhunderts ausmacht. ‚ 

Die erfte Bedingung iſt, daß bie Philoſophie des Alter- 
thums, insbefondere die des Platon und Artftoteles, von dem 
Dienfte der Scholaftil befreit und wieberhergeftelit fein wollen 
in ihrer eigenen echten Geftalt. Im ber platonifchen Alademie 
von Florenz, in ber ariftotelifchen Schule von Padua entfaltet 
fich diefer Reinigungsproceß, der das antike und ſcholaſtiſche 
Element auseinanderfegt. In Petrus Pomponatius Liegt die 
Differenz Har am Tage zwifchen dem Geifte der arifiotelifchen 
und dem der fcholaftifchen Lehre. Das wiebererwedte phile- 
fophifche Bedürfniß der Welt erſcheint zunächſt als der wieder- 
ernenerte Glaube an die alten Philoſophen, namentlih an 


16 


Platon und die Neuplatonifer; von diefem Glauben foll das 
Heil der Religion und Philofophie und ein neuer Bund beider 
ausgehen. Unter dem Einfluß des Gemiftus Plethon erhebt 
fih in Florenz, gepflegt durch die Mediceer, eine Art plato- 
nifcher Religion, die in Marfilius Ficinus das Chriftenthum 
durch platonifchen Geift wieder verjüngen will, die ſich in Pico 
mit der jüdifchen Kabbala verbindet und zur Theofophie ge- 
ſtaltet, welche letztere Reuchlin, den Erneuerer hebräifcher Sprad)- 
forfchung, ergreift und zu feiner fühnen und folgenreichen Ver⸗ 
theidigung der Tabbaliftifchen Literatur gegen die Dunfelmänner 
antreibt, weiter die natürliche Magie aus fich hervorgehen 
läßt, die in Agrippa von Nettesheim und Paraceljus die Rich- 
tung auf die Raturphilofophie einfchlägt. 

Die Wiederherftellung der antiten Philofophie ift einer 
der erften und wichtigften Beſtandtheile einer größern Auf: 
gabe: der Wiederherftellung überhaupt der Alterthumswiſſenſchaft, 
der Renaifjance, die da8 Studium der alten Spracden, Ge- 
fhichte und Kunft in die Zeitbildung einführt. Damit erweitert 
fi der Hiftorifche Gefichtskreis der Welt und dehnt fich aus, 
jo weit Forſchung und Kritik überhaupt reichen können. Cs 
eröffnet ſich die Ausficht in eine unbegrenzte Reihe wiffen- 
Ihaftlicher Aufgaben, in eine Geiftesarbeit, die Scahrhunderte 
fordert. 


2. Die antiariftstelifhe Richtung. Petrus Nemns. 


Aber die Wieberbelebung ber alten Philoſophie ift nicht 
der Anfang, fondern nur bie Borfchule der neuen. ‘Diefe foll 
aus eigener Kraft erwachſen und groß werben und darf fidh 
daher nicht gängeln laffen an dem Leitfaden einer philoſophi⸗ 
{chen Weberlieferung. Deshalb ift eine zweite Bedingung, bie 


17 


vor dem Eintritt der neuen Philofophie erfüllt werden muß: 
daß nicht blos Ariftoteles von der Scholaftil, ſondern die gei⸗ 
ſtige in ihrer Umbildung begriffene Welt auch von der Herr⸗ 
ſchaft des Ariſtoteles befreit wird; fie will ſelbſt ihre Richt- 
ſchnur finden und ihre Logik nicht aus fremder Borfchrift, fon- 
dern aus dem naturgemäßen Gange bes eigenen Denkens und 
aus deſſen Beobachtung fchöpfen. Daher wirft fie die arifto- 
telifche Logik und mit ihr die ariftotelifche Philofophie ab, 
wie man ein Zoch abwirft, nicht mit reifer und überlegener 
Einficht, fondern leidenfchaftlih empört über das getragene 
Joh. Diefer antiariftotelifche Geift verkörpert ſich in feinem. 
leidenfchaftlidder und ftürmifcher als in dem Franzoſen Petrus 
Ramus (Pierre de la Ramee), der unter den Opfern ber Bar- 
tholomänsneacht fiel, und deſſen Richtung nicht ohne Einfluß 
blieb auf die baconischen Entwürfe einer neuen Logik. 


3. Die fleptifge Richtung. Montaigne. 

Es liegt in der Natur einer Mebergangszeit, daß die Rich— 
tungen, in denen eine neue Philofophie fefte Geftalt annehmen 
und gleihfam kryftallifiren wird, noch nicht maßgebend und 
herrſchend hervortreten. Der alte Glaube ift erfchüttert und 
bat von fi aus die Erfenntniß aufgegeben, die philofophifchen 
Spfteme des Altertfums find überliefert und wiederbelebt, aber 
feines davon entfpricht den wifjenjchaftlichen Bebürfniffen einer 
neuen Weltbildung; die philofophifchen Anfichten befümpfen 
fi gegenfeitig, ebenfo die religiöſen, ebenſo beide unterein- 
ander. Unter diefen Bedingungen bleibt der philofophifchen 
Betrachtung kein anderer undefangener Standpunkt übrig als 
die Stepfis, die in diefen Wirrwarr menfhlider Gedanken 


und Meinungen ruhig und Mar hineinblidt, die Seweglichreit 
Fiſcher, Bacon. 


18 


und Unficherheit der menfchlichen Vorftellungen durchſchaut, 
die Berfchiebenheiten und Schwankungen menfchlicher Zuftände in 
dieſem Lichte erfennt und fchildert, daraus ben Schluß zieht, 
daß es eine abfolute Gewißheit nicht gebe, daß nichts thörichter 
und fchlimmer fei als die Einbildung des Wiffens, daß mitten 
in diefer allgemeinen Unficherheit menfchlicher Meinungen zulekt 
nichts ficherer fe, al8 worin die Menſchen am meiften überein- 
ftimmen: die Natur und die Sinne. Diefe Vorftellungsart 
hat in dem Franzofen Montaigne und deſſen „Essais” ihren _ 
zeitgemäßen und charakteriftifchen Ausdruck gefunden. Die 
Schrift erfien in der Iugendzeit Bacon's (1577). Zwanzig 
Jahre fpäter verdffentlichte diefer die Anfänge feiner „Essays“, 
das erfte Wert diefer Art in engliſcher Sprache, das unter 
feinen Händen wuchs und ihm einen Titerarifchen Auf ein- 
brachte, der feinem philofophiichen voranging. Er hatte Mon- 
taigne's Beiſpiel vor fih, als er feine „Essays“ fchrieb, 


‘4. Die italieniſche Naturphiloſophie. 


Die antiſcholaſtiſche, antiariftotelifche, ſteptiſche Richtung 
ſind unter den Vorbedingungen der neuen Philoſophie die nega⸗ 
tiven Factoren, ſie ſchaffen Luft und Raum für das neue Ge⸗ 
bäude, aber legen nicht feine Grundlagen. Die Wiederher⸗ 
ftellung der Alterthumskunde, die Nenaiffance im weiteften 
Sinn, ift ein pofitiver grundlegender Factor, fie eröffnet neue 
Erkenntnißaufgaben und neue Erfenntnißguellen. 

Unmoglich konnte der philofophifche Geift des Altertbums 
wiebderbelebt werden, ohne dag mit ihm zugleich die Aufgabe 
und der Durft nad} fpeculativer Naturerkenntniß erwachte. Diefer 
Urtrieb des pbilofophifchen Altertfums bemächtigt ich jetzt 
der chriſtlichen in ihrer geiftigen Erneuerung und Umbildung 








19 


begriffenen Welt. Dahin drängt von felbft bie Philofophie 
nad) ihrem Austritt aus ber Scholaftil. Wenn fie aufhören 
will und foll, ſcholaſtiſch und theologiich zu fein, was kann 
fie anders werben als kosmologiſch und naturphiloſophiſch? 
Man fühlt fi dem Geifte des Alterthums verwandt und will 
aus congenialem Streben, aus der Originalität des eigenen 
Zeitalters, mit felbftthätiger fpeculativer Kraft die Erkenntniß 
der Natur erneuen. Diefe Philofophie „de rerum natura 
juxta propria principia” ift eine Frucht ber Wiederbele⸗ 
bung des Altertfums und entfaltet fih im Laufe des 16. 
Jahrhunderts in Italien, dem DBaterlande der Renaifjance; 
die italienische Naturphilofophie bildet in der Entwicklungs⸗ 
reihe jener Uebergangsſtufeu, die von der Grenze des Mittel- 
alters bis an die Schwelle der neuen Philofophie führen, das 
legte Glied. Einer ihrer Gründer war Telefius, einer ihrer 
legten Bertreter, zugleich ihr Fühnfter und geninlfter Charakter, 
der für feine Sache Heroifch den Märtyrertod duldete, war 
Giordano Bruno. Auf feinen europälfchen Irrfahrten, ver- 
folgt von dem Glaubenshaß feiner Beinde, fand er für fi 
und feine Werke für einige Zeit eine Zuflucht in England; 
er lebte und Tehrte in London, als Bacon in Gray’s Inn 
eben feine Rechtsſtudien vollendet hatte. 

Bacon erfannte zwifchen der alten und italimifchen Natur- 
philofophie, zwiſchen Barmenides und Demokritos auf der 
einen und Telefius auf der andern Seite eine Verwandtſchaft, 
die ihm Bergleihungspunfte mit der eigenen Lehre barbot. 


5. Die traudatlantifhen und aflrensmifchen Entdedungen. 


Die Renaiffance erweitert den hiſtoriſchen Geſichtskreis 
über die gefammte Menfchheit, über den Entwidlungsgang 
2 * 


20 


der ganzen menfchlichen Cultur. Dieſer Horizont ift nicht mit 
einein male erhellt, aber es giebt Feine von außen gebotene 
Grenze niehr, die ihn einfchränft. Unter den gewaltigen Trieb⸗ 
federn, die aus der Wiedergeburt des Alterthums erwachen, 
lenkt die menfchliche Geiftesbildung in die freie humaniftifche 
Richtung. Das „regnum hominis” tritt an die Stelle der 
„eivitas Dei”. Das Reich des Menfchen ift die Erde. Schon 
hatte der geographifhe-Gefichtsfreis in ber Kenntnig der alten 
Melt feine Erweiterung begonnen durch die Kreuzzüge und fort- 
gefet durch die Entdedungsreifen der Italiener Marco Polo 
und Nicolas Conti im dftlihen Afien; jegt mußte er ausge- 
dehnt werben über die gefammte Erdflugel. Die Säulen des 
Hercules werden befiegt. Die transatlantifchen Seefahrten 
eröffnen die neue Welt, die fpanifch-portugiefiichen Entdeckungs⸗ 
und Croberungszüge, begonnen und bedingt durch die That 
des Columbus, befchreiben eine fortfchreitende Reihe folgen- 
reicher Aufgaben und Löfungen: die Auffindung des Landes 
im Weften, die Entdeckung, daß es ein Continent für ſich ift, 
jenfeit deffen das ftille Weltmeer, die Umſegelung Afrikas, 
die füdliche Umfegelung Amerikas, die Entdedung ber Sübd- 
fee, die erfte Weltumfegelung, die Entdedungen und Erobe⸗ 
rungen im Innern Amerikas, der Länder Brafilien, Mexico, 
Peru. Alle diefe Erfolge im Laufe weniger Sahrzehnte: die 
Thaten des Columbus, Balboa, Vasco da Gama, Magellan, 
Cabral, Cortez, Bizarro! Welche ungeheure Erweiterung bes 
menſchlichen Geſichtskreiſes, welche unermeßlichen Ausfichten 
für die Wilfenfchaft, den Unternehmungsgeift, die Cultur! Der 
nächte große und folgenreichite Fortſchritt auf diefem Gebiet 
it die Eröffnung Nordamerilas zur Gründung einer neuen 











21 


enropäifchen Colonialwelt. Bier gefchieht die epochemachende 
That durch Engländer im Zeitalter Bacon’s. 

Die Menſchheit auf der Erbe in ihrer weltgefchichtlichen 
Entwidlung war das erfte und nächfte Object: die Renaiffance 
öffnet die Perſpective in ein unermehliches eich Hiftorifcher 
Forſchung. Die Erde felbft als Wohnhaus der Menſchheit 
war das zweite: die transatlantifchen Entdedungen entfalten 
die Ausficht in ein unermeßliches Gebiet geographifcher, natur- 
wiſſenſchaftlicher, ethnographifcher Aufgaben. Was übrig bleibt, 
ift die Erde als Weltförper, die Erde im Univerfum, als 
Blanet ımter Planeten, nicht mehr im Mittelpunfte der Welt, 
nit mehr. umgeben von begrenzten Kugelgewölben, ſondern 
Glied eines Sonnenfyftems, welches ſelbſt Glied ift des uner- 
meßlichen Weltalls. Die Umbildung der Tosmographifchen 
Borftellungsweife geſchieht durch die Entdeckung des Kopernicus, 
die ſelbſt wieder eine unendliche Fülle neuer Aufgaben in ſich 
trägt, deren erfte und grundlegende gelöft werben durch Gali- 
fei, Kepler und Newton. Diejer ift Bacon's Landsmann, 
jene find feine Zeitgenoffen. In den Jahren, wo er in feiner 
öffentlichen Laufbahn fchnell emporfteigt vom Gemeralfiscal 
zum Siegelbewahrer und Großlanzler von England, entdedt 
Kepler feine Geſetze (1609 —18) und Galilei die Satelliten 
des Jupiter (1611). 

Wohin man blickt, e8 giebt für das Reich des Menſchen 
nirgends mehr ein ne ultra. Als Bacon fein „Neues Organon“ 
herausgab, nahm er zum Sinnbild dieſes Werkes ein Schiff 
das über die Säulen hinausſegelt. Er ſah, daß der Geſichts⸗ 
kreis der Menſchheit weit geworden und der Ideenkreis der 
Philoſophie eng geblieben und der Erweiterung von Grund 
aus bedürfe. Das war die Aufgabe, die ihn trieb. 





22 


6. Die kirchliche Reformation. 


Die neue Weltanfhauung, die im Laufe eines Iahrhun- 
derts, von ber Mitte des 15. bis in die Mitte des 16. zur vollen 
Entfaltung fommt, wiberftreitet in“allen Punkten der mittelalter- 
lichen und hebt die Iegtere aus ihren Angeln. Bier gilt die 
Erde ale Mittelpunkt der Welt, Rom als Centrum: ber Kirche, 
diefe als Erzieherin der Menfchheit, als das Neid) Gottes auf 
Erben, als das Band der Gemeinſchaft zwifchen Gott und 
Menſch. Ein durchgängiger und gründlicher Widerftreit 
entzweit die religiöfe Weltanfiht des Mittelalter und bie 
Anfhauungsweife der neuen Zeit, die dem Zuge der Huma⸗ 
niſten, des Columbus und Kopernicus folgt. 

Unmöoglich kann der Glaube in feiner bisherigen lirch⸗ 
lihen Berfaffung beharren, während ſich die Anficht von den 
menfhlihen und natürlichen Dingen in allen entſcheidenden 
Punkten fo von Grund aus geändert hat. Er bedarf der durch⸗ 
greifenden Reform nad) innen und außen, der religiöfen Ver⸗ 
tiefung und der kirchlichen Neugeftaltung; er hat innerhalb der 
Kirche jene fhon in der Myſtik, diefe in den großen vefor- 
matorifhen Kirchenverfammlungen des 15. Sahrhunderts er- 
jtrebt, aber gegen die Politif und Macht der Päpite am 
Ende nichts ausgerichtet. Das 16. Iahrhundert bringt die 
Glaubens: und Kirchenreform im Kampf mit der römifchen 
Kiche, im Gegenfag zur hierarchiſchen Machtvollkommenheit, 
im Bruch mit dem Bapftthum. Unter den epochemacdhenden 
Bedingungen, welche die geiftige Welterneuerung herbeiführen 
und entfcheiden, ift die Tirchliche Reformation bie tieffte und 
wichtigste: die tieffte, weil fie an den inneriten Meenfchen bie 











23 


erneuende Hand legt, die widhtigfte, weil fie am weitelten 
in das Bolfsleben jelbft einbringt bis in die unterften Schichten. 

Aus welchem Gefihtspunkte man auch die Reformation 
des 16. Jahrhunderts beleuchtet, fo erjcheint der Weg, den fie 
nimmt, als nothwendig vorgezeichnet dur) den Gang ber 
Dinge Blickt man zurüd auf die legten Entwidlungsformen 
der Scholaftit, jo wird jhon in Duns Scotus und Occam 
die Reinigung und Entweltlihung der Kirche gefordert, fie 
wird gefordert im Glauben an die Kirche und in ber Abficht 
auf deren Erhöhung. Damit ſtimmt die fpirituale Nichtung 
der Franciscaner, die religiöfe der Myſtiker. Der Verlauf 
der reformatorifchen Eoncile und Gegenconcile hat gezeigt, daß 
die Kirchenverbeſſerung nur durchzuführen ift auf antipapifti- 
ſchem Wege. Bedenkt man den Gegenfat, ber mit jedem 
Schritte eine größere Kluft aufthut zwifchen der vömifchen 
Kirche und jenen Entdedungen, die eine völlig neue Weltan- 
ſchauung begründen, jo bleibt dem Glauben, bem es ernftlich 
um die Sache der religiöfen Wahrheit zu thun ift, fein anderer 
Weg und leine andere Rettung übrig, als die bisherigen kirch⸗ 
lihen Formen abzuwerfen, die Lebensfrage der Religion von 
der Machtfrage der Kirche zu trennen, in die Duelle und in 
den innerftien Grund der Religion ſelbſt zurüdzulehren, das 
menfchliche Seelenheil Traft innerer Wiedergeburt zu feinem 
alleinigen Ziele zu nehmen und in diefem Sinne fih an ber 
Hand der riftlichen Glaubensurkunden zu erneuen. 





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Bweiles Kapitel. 
Das Zeitalter Elifabeih's. 





I. 
Die englifche Reformation. 

Die Reformation Hatte ſich in Deutfchland unter Yuther’s 
Führung erhoben und in ihrer weitern Entwidlung in die 
beiden Formen des Iutherifchen und veformirten Belenntniffes 
getheilt, welches Letztere felbft wieder in die Richtungen Zwinglis 
und Calvin's auseinanderging; fie verbreitete ſich über Deutſch⸗ 
land und die ffandinavifchen Ränder, über die Schweiz, Frank⸗ 
reich, die Niederlande und England und wuchs in unaufhalt- 
ſamem Fortſchritt zu der Bedeutung einer europäifchen Geiftes- 
macht, deren Aufgabe es war, ſich gegenüber der Tatholifchen 
Kirche die religiöfe und politifhe Geltung zu erlämpfen. In 
einem einzigen Lande gelangte der Proteftantismus zu einer 
gebieterifhen und uniformen Machtitellung, nicht blos zur 
Bereditigung, ſondern zur nationalen und kirchlichen Herrfchaft: 
in England. Bis zu biefem Höhepunkte durchläuft die Entwid- 
lung, in deren gejchichtlichem Hintergrunde wir die Kämpfe 
der englifchen Könige mit den Päpften und die reformatorifche 
Geftalt Wicliffe’s nicht überfehen dürfen, drei Abfchnitte. 

Der erfte Schritt ift die Loslöfung der englifchen Kirche 





25 


von Rom: die That Heinrich’ VIII, dem Thomas Cromwell 
zur Seite ſteht. Um feine eigene Ehe nach Gefallen Töfen 
und binden zu Tönnen, aus Leidenfchaft für eine ſchöne Frau 
madt fi der dogmatifche Gegner Luther's, ber „defensor 
hidei”, zum kirchlichen Antofraten (1531). Die englifche Kirche 
ändert zumächft nicht ihren Glauben, fondern nur ihren Herrn, 
fie wird unter der königlichen Suprematie und durch diefelbe 
zur Nationalkirche, antipapiftifch und zugleich antihäretifch; fie 
bleibt in ihren Glaubensartikeln der Hauptſache nach Tatholifch, 
denn roch gelten Cölibat, Seelenmeife, Ohrenbeichte, Brod⸗ 
verwanblung u. |. f. Unter dem folgenden Könige Eduard VI. 
geichieht der zweite Schritt, die Fatholifhen Glaubensartikel 
werden aufgehoben und an ihre Stelle neue gejeßt, welche 
Dogma und Eultus reformiren; die englifhe Nationalkicche 
wird proteftantifch: das Werk des Erzbifchofs Cranmer. Unter 
Eduard’8 Schweiter, der Latholifchen Marie, folgt der Rück⸗ 
Schlag, der Verfuh eines blutigen Wiederheritellung des Ka⸗ 
t5olicismus: der Tönigliche Supremat wird aufgehoben, bie 
Intholifhe Abendmahlslehre und der Cölibat wieder einge- 
führt, die Proteftanten werden verfolgt, viele hingerichtet, 
darunter Cranmer, der aus eigener Neigung nicht zum Mär⸗ 
tyrer gemadt war. Der dritte und leßte Schritt, der den 
kirchlichen Charakter Englands enticheidet, ift die Wiederher- 
ftellung der Reformation, die Vereinigung ihrer beiden Fac—⸗ 
toren, des nationalen und proteftantifchen, der politifchen 
Kirchenreform unter Heinrich VIII. und der dogmatifchen unter 
Eduard VI.: die Gründung der englifchen Staats- und Hoch⸗ 
kirche unter Elifabeth, der Schweiter der blutigen Marie, der 
Tochter Heinrich’8 und jener Anna Boleyn, um derentwillen 
der König fih zum Oberhaupte der Kirche gemacht. “Die 


26 


königliche Kirhengewalt wird wieder eingeführt, der Supremat- 
eid von jedem öffentlichen Staatsbeamten gefordert, die Glau⸗ 
bensnormen in neunumbddreißig Artikeln feitgeftellt und durch 
Parlamentsbefhluß zu ftantsrechtlicher Geltung erhoben. “Die 
englifche Nationalfirche fteht jet aufgerichtet und feftbegrün- - 
det da; ihre Gegner find von der Tatholifhen Seite die Pa- 
piften, von der proteftantifchen die ‘Diffenters oder Noncon- 
formijten, woraus die Puritaner und fpäter die Independenten 
hervorgehen, die renolutionären Gegner des Königthums und 
der biſchöflichen Kirche. 


II. 
England unter Elifabeth. 
1. Eliſabeth's Bolitit. 


Die nächſten Gefahren drohen von papiftifcher Seite. Die 
Katholifchen Intereifen richten fich gegen die neue Ordnung der 
Dinge, geftügt auf gewichtige, der Königin und dem Reiche 
bedrohliche Bundesgenoſſen: von außen auf eine Tatholifche, 
zur Niederwerfung der Proteftanten und zur Eroberung Eng- 
lands bereite Weltmacht, im Innern auf eine Tatholifche, zu 
Confpirationen geneigte Partei, auf ein grundfatholifches, zur 
Empörung geftimmtes Land, auf eine legitime Prätendent- 
ſchaft. Die feindliche Weltmacht ift Spanien unter Philipp II., 
daneben Frankreich unter der Herrfchaft der Guifen; die innere 
Gefahr kommt von Irland, dem Namen nad englifche Pro- 
vinz, großentheil® noch unter erbliden Stammeshäuptern, in 
feiner Gefinnung völlig katholiſch“); die Tegitime Trägerin des 


*) Die Borlämpfer ber katholiſch⸗iriſchen Interefien find die alten 
Fürften von Ulfter, die O'Neals, feit Heinrich VIII. Grafen von Tyrone. 





27 


Erbrechts auf die englifche Krone ift die vertriebene Königin 
von Schottland.*) Eliſabeth ftammt nad Tirchenrechtlicher 
Geltung und Anfchauungsweife aus einer ungültigen Ehe, fie 
ift nicht die Erbin Heinrich's VIII., fondern ein Baſtard, fie 
ift Königin Traft jenes Rechts, womit Heinrich VIIL als kirch⸗ 
licher Autokrat feine erfte Ehe gefchteden, die zweite gefchloffen 
bet, alfo kraft deffelben Rechts, das mit dem Machtſpruch 
der Töniglihen Gewalt die englifhe Staatsfirche gegründet. 
Die echte Erbin ift die papiftiiche Königin, für welche die Ta- 
tholifchen Mächte offen und geheim agitiren, Philipp IT. feine 
Waffen, die VBerfchwörer in England ihre Dolche gegen Eli- 
fabeth richten. Zehn Iahre nach deren Thronbefteigung erfcheint 
Maria Stuart in England (1568), verjagt und flüchtig, mit 
einer Blutſchuld beladen, erft ber Saft, bald die Gefangene, 
zuleßt das Opfer der Eliſabeth. 

Nie ift die Sache eines Königs fo folidarifch und per⸗ 
ſönlich eins gewefen mit einer nationalen und weltgejchicht- 
lichen Sache, als in der Stellung, die Elifabeth einnimmt. 
Die Legitimität ihres Urfprungs und ihrer Krone fteht und 
fällt mit dem Proteftantisinus, beide find nidhtig, wenn fie 
nah ber Tatholifch gültigen Rechtsanſchauung gewiürbigt wer- 
den; fie kämpft für ihre Perfon und ihre Krone, indem fie 
den Proteftantismus in England feit begründet, unerfchütter- 
Der Enfel des erflen Grafen fteht an der Spike einer Empörung gegen 
Elifabeth, wovon fpäter die Rebe fein wird. 

*) Die Großmutter der Maria Stuart war Margarethe Tudor, bie 
ältere Schweſter Heinrich's VIII.; ihre Mutter war die Schwefter der 
Guifen, ihr erſter Gemahl Franz IT. von Frankreich; der zweite ihr 
Beiter Darnley, au ein Enkel jener Margarethe Tudor, der Gemahlin 
Jacob's IV. von Schottland, deren Rahlommen aus dem frhottifdyen 


Königshaufe nach den unmittelbaren Erben Heinrich’s VILI. die nächften 
Anfprüche auf die englifche Thronfolge haben. 


28 


(ich aufrecht erhält, in Europa vertheidigt. Religion und Po- 
litik, Königin und Neich find hier nicht zu trennen, das Ge- 
fühl davon durchdringt die Königin, wie das ganze national 
gefinnte England, das nie königlicher gefinnt war. Eliſabeth 
brauchte nur ihre eigenen Intereſſen richtig zu verftehen und 
energifch zu wollen, um zu wilfen, was fie auf dem Throne 
Englands zu thun Hatte Daß fie e8 wußte und that, macht 
fie zu einer wahrhaft regierenden Frau, zu einer wirklich na- 
tionalen Herricherin, deren Name die Weberfchrift ift für 
eineß der größten und glorreichften Zeitalter Englands. 

Die Aufgaben der engliihen Staatskunſt find durch diefe 
Lage der Dinge vollkommen beftimmt und auf das ficherfte. 
vorgezeichnet. Nur Schwäche und Unverftand hätten ſich hier 
verivren und in Zielen oder Mitteln, die beide fo unverkenn⸗ 
bar geboten waren, fehlgreifen können. Weit fefter und kraft⸗ 
voller Hand, der Königin und der Sache des Landes völlig 
ergeben, Tenkt der erfahrene Burleigh, ſchon unter Eduard VI. 
Stantsfecretär, das englifhe Staatsſchiff. Nah außen gebietet 
bie englifche Bolitit den Kampf gegen Spanien; alle andern 
Stantsinterefien. und Stantshändel ordnen fich diefem Haupt- 
zweck unter und greifen folgerichtig und thatkräftig in 
die antilatholifche und antifpanifche Grunbrichtung ein; das 
eigene Intereife fordert, daß den Hugenotten in Frankreich, 
den proteftantifchen Niederlanden in ihrem Aufftande wider 
Philipp Schub und Unterftügung zu Theil werden. Mit Eli- 
fabeth ift das Glüd und der Sieg. Ihre Schiffe triumphiren 
über die fpanifchen, die Armada fcheitert an den Klippen Eng- 
fonds, ihre Waffen erobern Cadix und ihre Banner gehen 
fhon über das Weltmeer. Jetzt find die transatlantifhen Ent- 
deckungs⸗ und Eroberungszüge, hervorgerufen durch ben Krieg 














29 


gegen Spanien, auf Seiten Englands; die ſpaniſchen Beligungen 
an den Küften Amerilas und Afrikas werden angegriffen, 
neue Länder in der neuen Welt entdeckt und durch eine Reihe 
großer Seehelden dem engliſchen Ramen dauernder Ruhm ge- 
wonnen. Brancis Drake ift der erfte glüdliche Weltum⸗ 
jegler; Walter Raleigh richtet feinen Entdeckungslauf nad) 
Nordamerila, giebt den entbedten Küften den Namen der jung- 
fräulichen Königin, eröffnet die neue Welt dem Eingange eng- 
fifcher Bildung und legt die erften Keime zu Englands künf⸗ 
tiger Colonialmacht, zu der nordamerifaniichen Staatengrün- 
dung, wo nad zwei Iahrhunderten ein neues Zeitalter der 
Weltgeſchichte beginnen jol. Wie Spanien unter Philipp von 
feiner Höhe herabfinft, fteigt unter Elifabeth das Geſtirn Eng- 
lands hoch empor, es wird ein Staat erjten Ranges, die 
europäiiche Vormacht des Proteftantismus, eine Seemacht, und 
bat Schon die Anlage gewonnen, eine transatlantifche Welt⸗ 
macht zu werden, die erfte von allen. 

Der äußern Politik entfpricht die innere. Es fehlt nicht 
an Berfuchen und Umtrieben zu einer zweiten Tatholifchen Re⸗ 
ftauration, die Stimmung in Irland ift zum Aufruhr und 
zum Bunde mit Spanien geneigt, die Katholilen in England 
jelbft find noch zahlreih und mächtig, es giebt unter ihnen 
eine unpatriotiiche Partei, die von Rom und Madrid aus 
gelenkt wird, den Sturz der Königin im Schilde führt, Ver⸗ 
ſchwörungen brütet in der Abficht, zum zweiten mal eine ka⸗ 
tholifhe Marie zur Beherricherin Englands zu machen. Kaum 
ift die ſchottiſche Königin in englifcher Haft, fo beginnen ſchon 
die Befreiungsverfuche des Herzogs von Norfolt, der Grafen 
Northumberland und Weitmoreland; fie Schlagen fehl und Nor⸗ 
foll's Haupt füllt auf dem Blod, Es war die erfte Hinrich⸗ 





30 


tung unter Elifabeth; fo glücklich und ruhig floffen die erften 
zehn Iahre ihrer Regierung, die man die „halcyonifchen‘ ge- 
nanut Hat. Die Zeiten werden bebrohlicder. Seitdem bie 
Bulle Bius’ V. die Königin in den Bann gethan, des Thrones 
entfeßt, ihre Unterthanen des Eides der Treue entbunden bat, 
wacht das Nationalgefühl des englischen Volkes um fo beforgter 
für das Wohl der Königin; das Leben Elifabeth’s gilt in dieſer 
Zeit mit Recht als das Palladium des proteftantifchen Eng⸗ 
lands, von Seiten der Tatholifchen Verſchwörer fortwährend 
durd) geheime Anfchläge bedroht, von Seiten der Nationalen 
fo gefhütt und veriheidigt, daß ein eigener, diefem Zwecke 
“ freiwillig gewibmeter Verein, „die Geſellſchaft zur Vertheidi⸗ 
gung der Königin”, vom Parlamente genehmigt wird. Der 
Kampf zwifchen diefen beiden Parteien, der papiftifch und eng- 
liſch gefinnten, ift auf Leben und Tod, jede von beiden Hat 
eine Königin, mit der fie fteht und fällt: in diefem Kampfe 
fällt Marina Stuart. Nach der BVerfhwörung Babington’s 
(1586) wird fie des Hochverraths angeklagt, für ſchuldig er- 
Härt und zum Tode verurtheilt, die öffentliche Stimme for- 
dert laut die Vollftredung des Urtheils. Die Königin giebt 
zögernd nach und läßt die biutige Tragödie zu Fotheringay 
gefchehen, die fie aus Politik und Haß gegen ihre Neben- 
buhlerin gewollt hat, aus Sorge um ihren Nachruhm und 
aus Standesgefühl für das gekrönte Haupt, das fie dem Schaf- 
fote preisgab, lieber vermieden hätte; fie fonnte Maria Stuart, 
wie fehuldig diefe immer fein mochte, weder richten noch ftrafen, 
fondern nur opfern. Es ift wahr, daß fie diefes Opfer auch 
dem Wohle Englands gebracht bat und daß felbft bei gerin- 
gerem Haß fie die Königin von Schottland kaum zu retten 
vermodht hätt:, aber die Nachwelt vergißt nicht, daß auf Seiten 


31 


Eliſabeth's neben den politifchen Notbwendigleiten auch weib- 
Tiche Eiferfuht in mehr,als einer Dinfiht im Spiele war, 
und daß Maria Stuart, die auf dem Throne ein nichtiges und 
unmwürdiges Leben geführt, auf dem Schaffot die Seelengröße 
eines Märthrers bewiejen. 

Im Großen und Ganzen betrachtet erfcheint Efifabeth’s 
Politik wie aus einem Stüd, fie geht gegen bie Feinde des 
Proteſtantismus nach außen und innen, gegen jeden Verſuch, 
der die Geſchloſſenheit und Uniformität der englifchen Staats⸗ 
firche bedroht, fie wird zulekt eng und verfolgungsjüchtig gegen 
alle Nichthochkirchler, gegen die Recufanten auf ber Tatholifchen, 
die PBuritaner auf der proteftantifchen Seite, und was bie 
leßteren betrifft, fo wächlt unter dem Drud ihre Widerſtands⸗ 
froft, und es bereitet fi im Schoße des englifchen Prote- 
ftantismus felbft eine revolutionäre Gewalt vor, die nad Eli- 
fabeth den Kampf gegen die Hochlirche aufnimmt. 


2. Der geifige Aufigwnug des Zeitalters. 

Det nationalen und politifchen Größe Englands unter 
Elifabeth entfpricht die geiftige. Dieſe zweite Hälfte des fech- 
zehnten Iahrhunderts in England ift eines der geiftig erfüll- 
teften und befebteften Zeitalter, die e8 je gegeben. Man darf 
den Sieg der englifchen Flotte über die fpanifche in feiner Be⸗ 
deutung mit dem Siege der Griehen bei Salamis über die 
Berfer vergleichen, es Handelt fi) in beiden Fällen um eine 
Weltcultur und deren Rettung. Ob der europätfche Prote- 
ftantismus fiegen oder untergehen foll, ift die Frage, die fi) 
mit dem Siege Englands über die Armada für den Brote- 
ſtantismus entfcheidet. Als die Griechen den Sieg von Sa⸗ 
famis feierten, trafen in diefem Zeitpunkt die drei größten 


32 


Tragddiendichter des AltertHums auf verfchiedenen Lebensſtufen 
zufammen; als der Triumph über die Armada das National- 
gefühl ganz Englands durchdrang, war der größte dramatifche 
Dichter der neuen Welt in den Anfängen feiner Laufbahn und 
feit zwei Jahren in London; in demfelben Jahre hatte Bacon 
zu Gray’s Inn feine Rechtsſchule vollendet. 

Es ift, als ob jene reformatorifchen Kräfte, die zufammen- 
wirfend das neue Weltalter heraufgeführt haben, fich auf dem 
Schauplage Englands unter Elifabeth zu einer Nachblüthe ver- 
einigen. Die Alterthumswiſſenſchaft ift ſchon in die englifche 
Zeitbilbung übergegangen, die Königin felbft verfteht die claf- 
fifchen Sprachen und fpricht Latein, die Renaiffance ift Zeit- 
gefhmad und Mode. Die kühnſten Entdeder in transatlan- 
tifher Richtung find nicht mehr Spanier und Bortugiefen, fon- 
dern Engländer; auch in den eracten Naturwiſſenſchaften zeigt 
fih der englifhe Geift fortfchreitend und entdeckend, ich 
nenne die beiden Naturforfcher, der eine älter, ber andere jünger 
als Bacon, beide Tönigliche Leibärzte, der erjte unter Elifabeth, 
ber zweite unter Jakob und Karll.: William Gilbert und 
Sohn Harvey. Gilbert ift wichtig durch feine Unterfuchungen 
über Magnetismus und Clektricität, durch die Erweiterung 
der Elektricitätslehre, die Entdedung des Erbmagnetismus, die 
Erklärung der magnetischen Snclination und Declination; Har⸗ 
ven ift epochemachend durch die Entdedung des Blutumlaufs. 
Endlich hat die Reformation, foweit fie kirchlicher Natur ift, 
in der englifchen Staatsfirdhe eine nationale Machtftellung und 
gegen den Andrang des Katholicismus einen feiten Abſchluß 
gewonnen. So find alle Bedingungen beifammen, um in 
diefem Boll und in diefem Zeitalter den Aufgang ber neuen 
PHilofophie hervorzurufen. 


33 


3. Bacon. 

Ein Sohn diejes Zeitalters, berufen der Philofoph def- 
felben zu werben, ift Francis Bacon. Er findet die kirchliche 
Reformation als vollendete Thatjache vor, als öffentlichen Zu- 
ftand: hier giebt es für die Philofophie, die aus dem englifchen 
Zeit und Nationalbewußtfein hervorgeht, zunächſt Feine Arbeit; 
bier ift nichts aufzuldfen, nichts fortzufegen,; das Wefentliche 
ift gethan, das Nöthige ift, Frieden zu halten, Die engfifche 
Politik fücchtet jede innere Spaltung, jede religidfe Parteiung 
als eine Schwächung der Nationallraft, deren ganze und ein- 
müthige Stärke fie braucht. Die englifhe Philofophie athmet 
denfelben Geift: fie vermeidet geflifientlich alle Religionsftreitig- 
feiten und zieht daher ihre Grenzen fo, daß die Glaubensobjecte 
jenfeits berfelben fallen. Iſt die Tirchliche Reformation in der 
englifchen Staatskirche feſt geworden, fo ift Dagegen bie wiffen« 
Ichaftliche Reformation, die Erweiterung bes menfchlichen Welt- 
borizontes in Fluß und Fortſchritt begriffen. Hier liegt die 
Aufgabe und das Reich der Philofophie, diefe Richtung muß fie 
mit vollem Bewußtſein ergreifen und in ihr vorangeheu. „Die 
Wahrheit ift die Tochter der Zeit.” Die Zeit ift neu ge- 
worden; fie verftehen, Heißt den Grund diefer umfafjenden 
geiftigen Welterneuerung durchſchauen; aus dieſer Kinficht 
die Philofophie erneuen, heißt fie zeitgemäß machen. Hier 
erfennt Bacon feine Aufgabe und feinen Beruf: es gilt die 
Erneuerung der Bhilofophie im Geifte des Zeitalters, diefe 
‚nnstauratio magna” foll da8 Wert feines Lebens fein. 

Die Welt ift erneut worden durch Entdedungen, welche 
felbft nicht möglich waren ohne Erfindungen: ohne Buchdruder- 


kunſt keine Verbreitung der Schriftwerle des Alterthume, keine 
Fißqcher, Bacon. 


34 


durch die Renaiſſance erneute Weltbildung, Leine Bumaniftifche 
Gultur, fein „regnum hominis”; ohne Kompaß Teine trans- 
atlantifhe Seefahrt, Feine Entdedung einer neuen Welt. Wer 
daher die Bhilofophie zeitgemäß machen will, muß den Geift 
der Entdedung und Erfindung philoſophiſch machen, oder dem 
Geift der Philofophie erfinderifh. Aus dem glüdlichen Funde 
fol Erfindungstunft, aus dem Entdeckungstrieb entdedende 
Wilfenfhaft werden. Wie muß man denken, um erfinderijch 
und entdedend zu handeln? Das ift die Grundfrage. Wer 
fie Töft, hebt die Philofophie auf die Höhe der Zeit und zu- 
gleih den Drang nah Erfindungen und Entdedungen, dieſen 
Genius des neuen Weltalters, auf die Höhe der Philofophie. 
Diefer Dann will Bacon fein, an dieſes Werk will er die 
erite Hand legen. In einem Lebensalter, wo noch feine Geſchäfte 
ihn abzogen, wo noch alles friſch und zufunftsvoll in ihm war, 
faßt er diejen weitblidenden Entſchluß, nimmt ihn zur Aufgabe 
feines Lebens, zum höchften Ziele feines Ehrgeizes. Es ift 
nicht etwa diefe oder jene Erfindung, nicht diefe ober jene Ent- 
dedung, die er fucht, fondern er will aus dem Erfinden und Ent- 
decken überhaupt eine Wiſſenſchaft, eine neue Denkweiſe, eine 
Wiſſenſchaftslehre machen: diefe Wiffenfchaftslehre joll die 
neue Philofophie fein. Man muß diefe Abficht Bacon's von 
vornherein richtig und klar fehen, um feine Aufgabe nicht von 
Grund aus [chief aufzufaffen, um dann weiter, wie e8 in allen 
Fällen nothwendig und billig ift, zwifchen ber Aufgabe felbft 
und den Mängeln der Löfung befonnen zu unterfcheiben. 

Es giebt nichts Größeres, als ein Zeitalter über ſich felbft 
aufzuflären, ihm. feine Inftinete und Zriebfedern zu verdeut- 
lichen, dergeftalt ins Bewußtfein zu erheben, daß es mit voller 
Selbſterkenntniß feine Ziele ſetzt und verfolgt; je erfüllter und 





35 


reicher das Zeitalter ift, je mannichfaltiger feine Richtungen, 
um fo ſchwieriger wird die Aufgabe, es philofophifch zu treffen. 
Und e8 war gewiß eine der größten und fehweriten aller Auf- 
gaben, ans dem fruchtbaren Schoße der neuen Zeit die Phi⸗ 
loſophie zu entbinben, die ihr den Spiegel vorbalten, die Wif- 
ſenſchaftslehre zu heben, welche bie reiffte Tochter diefer Zeit 
fein jollte, aus dem Haupte diefes Jupiter, der das Weltalter 
des wiedergeborenen Alterthums, des Columbus, Kopernicus 
"und Luther, die Epoche Eliſabeth's, Shalefpeare’s und Walter | 
Raleigh's fchuf, die Minerva hervorzurufen in ihrer ganzen 

Rüftung! Bon diefer Größe und Schwierigkeit feiner Sache 

war Bacon ſchon durchdrungen, ale er dem erſten Entwurfe 

berfelben einen Namen gab: er nannte ihn „die grönte © Geburt 

der Zeit“, 








3 * 





__ rn - 


Dritles Kapitel. 
Bacon unter Eliſabeth. 





I. 
Vorbemerkungen. 

Die Meinungen und Urtheile über Bacon’8 perjünlichen 
Werth find jahrhundertefang faft einmüthig geweſen, ſowohl 
in der Bewunderung als in ber Verwerfung. Daß Bacon 
einer der fruchtbarften Denker der Welt und namentlich Eng- 
lands größter Philofoph geweſen fei, galt und gilt faft unbe- 
ftritten bis auf den heutigen Tag, ebenfo unbeftritten war die 
Meinung von dem völligen Unwerthe feines Charakters, Seit 
Pope gefagt bat, er fei einer der weifeften, herrlichften und 
zugleich ſchlechteſten aller Menſchen gewefen, iſt dieſe rhetorifche 
Figur gleihjam das Schema geworben, weldes die Biographen 
mit der Charafteriftif Bacon’s ausgefüllt haben; fie fehildern 
dbenfelben Dann als einen ber erhabenjten Philofophen und 
Stantsmänner, zugleich als einen ber niebrigften und verwerf- 
lichſten Charaktere, undankbar und falfh in der Freundſchaft, 
geldgierig in der Ehe, ſervil im Parlament, beſtechlich ale 
Richter: fo Lord Campbell in feinen Lebensbefchreibungen der 
englifchen Ranzler*), jo Macaulay in feinen Eſſahs. Sie 


*, John Campbell, The lives of the lord chancellors of England 
(London 1845), vol. II, ch. 51. 





37 


ſchildern uns ein pfychologifches Räthſel. Auch ohne die Ges 
ſchichte Bacon's zu Tennen, wirb man zweifeln, ob ein folches 
Bid, das einem Monftrum ähnlich fieht, nach der Natur ge- 
zeichnet ift. Macaulay hat die Sache auf bie Spike getrieben, 
nach ihm verhalten fih Bacon’s Intelligenz; und Charakter 
wie Engel und Satan. Diron vergleicht diefe Zeichnung einem 
Bilde nad) Rembrandt's Manier: „ſonnenheller Mittag um 
die Stirn, tiefe Nacht um das Herz‘. Er hat recht, wenn er 
binzufügt: „die Natur macht Keinen folchen Mann”. Andere 
haben den Charakter Bacon's zu retten unb mit feiner philo⸗ 
ſophiſchen Größe ins Gleichgewicht zu bringen gefucht; in diefer 
apologetifchen Tendenz hat ſchon Montag, einer der neueren 
Heranögeber der Werke Bacon’s, das Leben deſſelben gefchrieben. 
Aber die Spike diefer Richtung im ausdrücklichen und völligen 
Gegenſatze zu Campbell und Macaulah hat Diron in feiner 
„Berfönlihen Lebensgeihichte Lord Bacon's“*) zu bilden ge- 
fucht. Hier wird die frühere Benrtheilungsweife geradezu 
umgelehrt, fänmtlihe Anklagepunkte und Vorwürfe, die gegen 
Bacon geläufig find, verwandeln ſich unter den Händen diefes 
Biographen in ebenfo viele Beweggründe der Bertheidigung 
und Lobpreifung. „Dan muß die Sache umkehren”, jagt 
Diron, „nicht feine Lafter, fondern feine Zugenden, feine 
Ehrenhaftigkeit, Duldſamkeit, Großmuth, nicht feine Herzlofig- 
keit, Serpilität und Beſtechlichkeit, bewirkten feinen Fall.” 
Er plaidirt für Bacon, wie Macaulay in Anfehung des mo- 
raliſchen Charakters gegen ihn platbirt; er ift der entgegen⸗ 
geſetzte Abvocat, darum nicht weniger Advocat, ber entſchuldigt, 
wenn er nicht vertheidigen Tann, vertheidigt, wo er kaum ent- 


*) Personal history of Lord Bacon. From unpublished papers 
by William Hepworth Dixon (London 1861). 


88 


ſchuldigen follte, deſſen Abficht die unbedingte Rechtfertigung, 
nicht blos die Freifprechung, fondern die Glorifichrung bes 
Angeklagten ift, damit die Freifprechung um fo fidherer erfolge. 

Um alle denkbaren Standpunkte in ber Behandlung 
Bacon’s zu probiren, würde nur fehlen, daß jemand ben Ver⸗ 
fuh machte, feine Lehre für ebenfo ſchlecht zu erklären als 
feinen Charakter, von dem ja ohne weiteres vorausgefeßt wer- 
den barf, daß er vollfommen jchlecht war. In der That find 
ſolche Verſuche gemacht worden, zulekt in Deutichlaud, auf 
eine folde Weife, daß der erfte Theil falfch umd der zweite 
gar nicht begründet wurde. J. von Liebig wetteifert mit dem 
Grafen 3. de Maiftre in dem Ruhme, Bacon völlig erlegt 
zu haben. 

Bacon’s Leben und Charakter wollen nicht advocatoriſch, 
noch weniger ans fanatifchem Haß, fondern gefhichtlich erklärt 
und beurtheift fein. Wenn man Macaulay und Diron gelefen 
bat und fi) aus natürlichen Bedenlen fleptifch gegen beide ver- 
hält, fo ift man in ber richtigen kritiſchen Stimmung, Bacon's 
Geſchichte zu ſtudiren. Das befte Hülfsmittel dazu bietet in 
ber jüngften Gefammtausgabe der Werte Bacon’s Spebbing’s 
gründliche und umfaffende Unterfuchung, die leider die letzten 
acht Lebensjahre noch nicht umfaßt. Spebbing verhält ſich 
kritiſch ſowohl gegen die Lehre als gegen die Perſon Bacon’s 
und während früher auf die erfte alle Bewunderung, auf die 
zweite alle Berwerfung gehäuft wurde, fo kommt Hier das 
Sefammturtheil in ein natürliches und richtiges Gleichgewicht. 
Bacon's philofophifches Verdienſt wird nicht wie ein Dogma 
genommen, fondern der Herausgeber, ber jede Zeile Bacon’s für 
wärdig hält auf die Nachwelt zu kommen, unterfudht allen Exnftes 
die Frage nach den eigentlichen Grundlagen feiner wiffenfchaft- 





30 > 
lichen ®röße, warum Bacon, obwohl er feine experimentellen 
Entdedungen gemacht, feine veranlaßt, auch beren Methode 
nicht erft erfunden habe, dennoch mit Recht ald Regenerator 
ber Philoſophie gelte. 

Unter den Biographen giebt e8 nur einen, der den Phi⸗ 
Lofophen perjönlich gekannt und ihm eine Zeit lang nahe ge- 
ftanden hat: William Rawley aus Norwich, fein Kaplan, 
währenb er Kanzler war, in den legten fünf Iahren fein wiſ⸗ 
fenfchaftliher Secretär. Der kurze Lebensabriß, weldhen Raw: 
ley 1657 heransgab, ift als biographifcher Leitfaden brauch- 
bar, wenn man Spebding’s kritiſche Bemerkungen dazu⸗ 
nimmt. 

Die Lebenszeit des Philofophen umfaßt 65 Jahre, von 
denen ungefähr zwei Drittel dem Zeitalter ber Elifabeth ange- 
hören, das letzte dem Jakob's I.; wir unterfcheiden biefe beiden 
ungleihen Abfchnitte, deren Wendepunkt zufammenfällt mit 
jenem verhängnißvollen Wechſel der englifchen Königsherrichaft. 


I. 


Abkunft und Erziehung. 
1. Familie. 

Francis Bacon ift zwei Jahre jünger als die Regierung 
ber Elifabeth. Unter den erften Staatsmännern der Königin 
find feine nächften Verwandten; fein Bater Nicholas Bacon, 
ſchon unter Eduard VI. in Staatsgefchäften thätig, wird unter 
Eliſabeth Sroffiegelbewahrer und fteht bei der Königin in 
hohem Anfehen, er war in zweiter Ehe mit Anna Cooke ver- 
heirathet, der frommen und gelehrten Tochter eines Mannes, 
ber Eduard VI. unterrichtet und in feinem eigenen Haufe nach 
ber Sitte der Zeit die gelehrte Bildung gepflegt Hatte. So 


’ 40 


war namentlich diefe jüngere Tochter in die Kenntniß der alten 
Sprachen eingeführt worden, fie hatte etwas von theologifcher 
Gelehrſamkeit und war von bibliſchem Glauben, von religiöfem 
Eifer fo erfüllt, daß fie felbft den diffentirenden Predigern der 
Nonconformiften um ihres Eifers willen nicht abgeneigt war. 
Ihre ältere Schwefter war die Frau William Cecil's, der fpäter 
Lord Burleigh wurbe, erft Staatsfecretär, dann Schatmeifter 
unter Eliſabeth war und der leitende Staatsmann einer Zeit, 
die England groß gemacht Hat. 

Aus der zweiten Ehe des Nicholas Bacon ftanmen zwei 
Söhne, Anthony und Francis. Diefer, der jüngere, wurde 
den 22. Januar 1561 zu Dorkhoufe, der Amtswohnung feines 
Vaters, geboren.*) Bon feiner Kindheit im Haufe der Eltern 
ift nichts Wichtiges bekannt: er fei zart und kränklich geweſen, 
wißbegierig und frühzeitig aufmerffam auf mancherlei Natur- 
erjheinungen, die er fi) aus eigener Beobachtung zu erklären 
fuchte. Solche Beobachtungen reizten ihn mehr als die Knaben⸗ 
fpiele. Die Königin felbft foll den geweckten Geift des Knaben 
bemerkt, gern mit ihm gefprodhen und ihn fcherzwetie „ihren 
feinen Lordfiegelbewahrer” genannt haben. 








*) Als Bacon's Geburtsjahr wird bald 1560 bald 1561 bezeichnet. 
Das ift feine den Zeitpunkt betreffende Unficherheit, fondern eine kalen⸗ 
darifche Differenz. In England wurde früher und nod in der erfien 
Hälfte des vorigen Jahrhunderts das Jahr nicht mit dem 1. Januar, fondern 
mit dem 25. März (Mariä Berlindigung) begonnen. Wenn alfo Bacon 
nach dem julianifhen Kalender den 22. Sannar 1561 geboren tft, fo fiel 
diefer Tag nad) der engliihen Zählung noch in das Jahr 1560. So 
verhält es fih mit allen Daten, die vor dem 25. März liegen. Bon die⸗ 
ſem Tage an bis zum Ende des laufenden julianifchen Jahres muß bie 
engliſche Zählung mit der gewöhnlichen lübereinftimmen. Der gregoria- 
nifhe Kalender ift in England erſt 1752 eingeführt worden. 





41 


2. Cambridge. Neife nad Fraukreich. 


Beide Brüder Tamen im Frühling 1573 nad Cambridge 
anf das Dreifaltigkeitscollegium, dem damals ein Freund ihres 
Baters, Dr, John Whitgift, vorftand, fpäter Erzbifchof von 
Canterbury und eifriger Gegner ber Nonconformiften. Achn- 
lich wie Descartes auf ber Jeſuitenſchule von La Bleche, fühlte 
fi) Baron in dem Collegium von Cambridge wenig befriedigt, 
er erlannte bald, wie unfrudtbar das überlieferte Wiffen, wie 
unhaltbar feine Grundlagen, wie unvermögend zu jeder ernft- 
lien Fortbewegung der Wiſſenſchaft diefe Art fcholaftifch-ari- 
ftotelifcher Philoſophie fei, wie daher die Philofophie von ben 
bisherigen Wegen ablenten, ſich aus eigener Kraft ernenen und 
den Dünkel ber Schulgelehrſamkeit loswerden müſſe. Mit 
biefer Ueberzeugung, die feinem Ehrgeiz wiſſenſchaftliche und 
weite Ziele gab, verließ er Cambridge gegen Ende bes Jahres 
1575. 

Eine Reife im Auslande follte feine Erziehung vollenden. 
In Begleitung des englifchen Gejandten Sir Amias Paulet 
ging er nach Frankreich und landete den 25. September 1576 
in Calais. Es war vier Jahre nah der Bartholomäusnadt, 
die öffentlichen Zuftände Frankreichs fanden ſich in der ſchlimm⸗ 
ften Verwirrung, das Land von Religionsfriegen zerriffen, 
Heinrich von Ravarra an der Spike der Hugenotten, Heinrich 
Guiſe an der Spike der Katholiken im Bunde mit Spanien 
und dem Bapft, Heinrich III. entnerot, ohnmädtig, ein that- 
Iofer Schattenlönig. Die engliſche Gefandtihaft folgte dem 
Hofe. So kam Bacon von Paris nad) Blois, dem Sik der 
Neichsitände, nach Tours und Poitiers, wo er drei Donate blieb 
(1577). Die Nachricht vom Tode feines Vaters (20. Februar 





42 


1579) traf ihn zu Paris und rief ihn zurüd in die Heimat, im 
folgenden Monate landet er wieder in England. 


3. Gray’s Im. 


Am Tiehften würde Bacon den großen Plänen feines wif- 
fenfchaftlichen Ehrgeizes gefolgt fein, aber die Mittel zur Muße 
fehlten, der väterlihe Beſitz war mäßig und fünf Brüder 
erbten. Zwar hatte der Vater ein Kapital zurüdgelegt in der 
Abficht, es feinem jüngften Sohn zu Hinterlaffen, aber ba er 
ohne letzte Verfügung geftorben war, erhielt Bacon auch von 
diefer Summe nur einen Heinen Bruchtheil; fein älterer Bru- 
der Anthony erbte einige Ländereien, die Mutter ein Landhaus 
in Gorhamburh, das erft nad ihrem Tode (1610) in den 
Beſitz des jüngern Sohnes überging, nachdem der äftere ſchon 
im Frühjahr 1601 geftorben. So war es bie üfonomifche 
Lage, die ihn nöthigte, Amt und Einkommen zu ſuchen und ihn 
ſchon in der erſten Jugendfriſche von feinen wifjenfchaftlichen 
Plänen abzog. Er ergriff die juriftiihe Laufbahn, um zur 
Advocatur zu gelangen, der nothwendigen Vorftufe zum Richter- 
amt. Der Weg zu dieſem nächſten Ziele war lang und be- 
ſchwerlich; die praktiſche Rechtsgelehrſamkeit, die zur Ausübung 
der Advocatur gehört, mußte in einer jener Rechtsſchulen er⸗ 
worben werden, welche in England juriſtiſche Genoſſenſchaften 
oder Innungen bilden; unter den älteſten und berühmteſten 
dieſer Collegien, deren es gegenwärtig vier giebt, war. Gray's 
Inn, ſchon unter Eduard III. gegründet. Hier begann Bacon 
im Jahre 1580 ſeine Laufbahn. Das Recht der Barre oder 
der öffentlichen Rechtspraxis, die Berechtigung, in den Reichs⸗ 
gerichtshöfen zu plaidiren, macht den Barriſter; die erſte Vor⸗ 
ſtufe dazu ift „utter oder outward barrister“, und die Regel 














43 


fordert, daß ein folcher noch. fünf Jahre feine Rechtsftubien 
fortſetzt, bevor er den Zutritt zur Barre erlangt. Man muß 
Barrifter fein, um die Rechtswiſſenſchaft in der Innung lehren 
und Borlefungen darüber halten zu dürfen, ein folcher Nechts- 
lehrer heißt „reader“. Kin befonderer Grab ber Barrifter 
heißt sergeants-at- law, biefe sergeants bilden wieder eine 
engere Inmung, zu der aud bie höhern Richter zählen; wenn 
die Krone dieſen Grad ertheilt, fo heißt ber sergeant könig⸗ 
(her Rath und führt die ſeidene Robe. Diefe Stadien hatte 
Baron zu durchlaufen. Im Juni 1582 wurbe er utter bar- 
rister, vier Jahre fpüter barrister und 1589 reader. Nach 
der Angabe Rawlehy's ernannte ihn die Königin im folgenden 
Jahre (1590) zu ihrem Rath ober außerorbentlidhen Rechts- 
beiftand (one of her counsel learned extraordinary). Dod) 
ſcheint dieſes Datum nicht richtig, denn tm Jahre 1606 fchreibt 
Bacon an König Yalob, daß er neun Jahre lang ber Krone 
diene; demnach würde er erft feit 1597 in den regelmäßigen 
Dienſt eine® „counsel extraordinary” eingetreten fein. Vorher 
ft er nur einmal (1594) in Rechtsſachen der Krone gebraudt 
worden, und einen andern als diefen undefoldeten Dienft hat 
er unter Elifabeth nicht gehabt. Cr blieb lebenslänglich Mit- 
glied von Gray's Inn, wohnte hier gemeinschaftlich mit feinem 
Bruder Anthony, als diefer von feinen Reifen in Frankreich 
und Italien zurücdgelehrt war (1592), und flüchtete auch ſpäter 
aus feinen Staatsgefchäften gern in bie ftille Wohnung von 
Gray's Inn, um feinen wifienfchaftlichen Arbeiten zu leben. 


4. Bacon und Burleigh. 


Wäre es nach feinen Wünfchen gegangen, fo hätte Bacon 
feine juriftifche Laufbahn entweder ganz aufgegeben oder wenig— 


44 


ftens um einige Iahre abgekürzt, In einem einträglichen Hof- 
oder Staatsemte würde er leichter fo viel Muße gefunden 
haben, als er zur Ausführung feiner philofophifchen Neuerungs- 
pläne bedurfte. Wiederholt fuchte er Unterftügung bei feinem 
heim und wendete fich bald mittelbar bald unmittelbar an 
den einflußreihen Mann, der ihm exft zu einem Hofamt, dann 
zur Abkürzung feiner juriftifchen Laufbahn behüfflich fein follte. 
„Ich bin 31 Jahre alt“, fchrieb er 1591 an Lord Burleigh, 
„das ift viel Sand im Stundenglafe, id) geftehe, daß ich ebenfo 
weite wiſſenſchaftliche als befcheidene bürgerliche Ziele verfolge. 
Denn ich Habe die ganze menſchliche Erkenntniß zu meiner 
Provinz gemadt, und wenn ich fie von zweierlei Räubern 
reinigen könnte, nämlich von leeren Worten und blinden Er- 
perimenten, fo wirde ich an deren Stelle fleißige Beobad)- 
tungen, gegründete Schlüffe, nützliche Erfindungen und Ent- 
dedungen einführen und jenes Reich in Flor bringen. Diefer 
Plan fteht in mir fo feft, dab ich ihn nie aufgeben werde.” 
Diefe auf den Oheim gefegten Hoffnungen blieben un- 
erfüllt. Lord Burleigh zeigte fih in der Protection feines 
Neffen kühl und zurückhaltend, gewiß nicht aus Eiferfucht gegen 
Bacon’3 Ruhm, aus Neid gegen fein Talent, aus Furcht, der 
eigene Sohn könne dadurch verdunfelt werden. Cine Aeuße⸗ 
zung Bacon’ gegen Rawley hat diefe Borftellung veranlaft, 
die ſich dann unbefehen im Munde der Biographen fortgepflanzt 
hat. Wenn Bacon wirtliih von ber Eiferfucht der ihn ver- 
wandten Cecils zu leiden hatte, fo trifft diefer Verdacht nicht 
den Vater, fondern den Sohn und bezieht fich auf eine fpä- 
tere Zeit. So lange Burleigh lebte, hatte Bacon einen Ruhm, 
der zu beneiden war, und fuchte feine Größe auf einem Ge- 
biet, das jede Rivalität mit den Cecils ausſchloß; wenn Bur⸗ 





45 


leigh den Wetteifer zwifchen Neffen und Sohn vermeiden wollte, 
fo Tonnte er nichts Beſſeres thun, ale den Bitten des Neffen 
Sehör geben. Warum er fpröbe dagegen war, ift leicht zu 
erflären. Ihm galten die fpeculativen Pläne, von deren Ba⸗ 
con redete, als etwas gänzlich Unpraktiſches, das in Staats⸗ 
geſchäften nichts tauge. Die Königin dachte ähnlich. Daß er 
den Neffen um ber Philofophie willen hätte befördern follen, 
it in der That von Lord Burleigh nicht zu erwarten; daß er 
es um der Berwandtfchaft willen nicht that, ift zu loben; daß 
er ihn gehäffig behandelt habe, ift durch nichts zu beweiſen. 
Im Gegentheil, nad) den brieflichen Zeugniffen zu urtheilen, 
weiche Spebding mittheilt, erjcheint das verwandtfchaftliche 
Berbältniß fo gut, als e8 bei dem Unterſchiede der Stellung, 
die Bacon in der Ferne hielt, fein konnte. Er verdantte ber 
Fürſprache feines Dheims, daß ihm die Königin die Anwartichaft 
auf ein einträgliches Amt in der Sternfammer (clerkship of 
star chamber) ertbeilte, obgleich es freilih zwanzig Jahre 
dauerte (Detober 1589 bis Juli 1608), bevor er die Ein- 
fünfte erbielt. 


IH. 
Lanfbahn unter Elifabeth. 


1. Bartamentartige Wirkſamleit. 


Wir finden Bacon's Beſtrebungen auf drei verfchiedenen 
Wegen: in der Stille verfolgt er feine philofophifchen Pläne ohne 
Muße und darum ohne die zur Ausarbeitung ndthige Ruhe; in 
feiner juriſtiſchen Laufbahn, nachdem er die Advocatut erreicht 
bat, ftrebt er nach ben höhern Staatsämtern; daneben her gebt 
feine Thätigleit als Mitglied des Parlaments. Daß er in 


46 


feinen philofophifchen Plänen von Seiten der Königin und 
ihres Minifters nicht unterftügt wurde, folgte weniger aus 
perfönlicher Abneigung als aus der Gleichgültigleit, welche 
praftifche und politifche Naturen ſtets gegen die abgezogemen 
Beſchäftigungen philofophifcher Sperulation hegen; daB aber 
auch feine Bewerbungen um die höhern Wemter vergeb- 
lich blieben, verfcäuldete zum großen Theil feine parlamen- 
tarifche Wirkſamkeit, die ihm den Unwillen der Königin zus 
309g. Diefe Seite feines öffentlichen Lebens, die feinen Namen 
zuerft in England befannt machte, müfjen wir etwas näher 
beleuchten. Bon den erften Anfängen feiner juriſtiſchen Lauf- 
bahn, noch bevor er Barrifter wurde, bis Binauf zu der Höhe, 
wo er als der erfte Staatsbenmte Englands feinen glänzenden 
Lauf plöglich und ruhmlos endete (1584—1621), erſtreckt fich 
ununterbrochen feine Wirkſamkeit als Mitglied des Parla- 
mente, Was feine Bedeutung als Redner betrifft, fo be- 
zeugen zwei der gewichtigſten Stimmen, baß fein Talent und 
feine Wirkung außerordentliher Art waren. Nach dem Zeug- 
niffe Ben Ionfon’s waren feine Urtheile fo gehaltvoll und 
ernft, feine Ausdrudsweife fo würdevoll und einleuchtend, feine 
Wendungen fo anmuthig und leicht, feine Gedanken fo ftreng 
und geordnet, daß er die Aufmerkſamkeit aller Zuhörer fort- 
während fpannte und jeber den Augenblick fürchtete, wo er 
aufhören würbe zu reden. Und Walter Raleigh erklärt, indem 
er Bacon mit Robert Cecil und Lord Howard vergleicht: „Cecil 
fonnte reden, aber nicht fchreiben, Howard fchreiben, aber nicht 
reden, Bacon allein konnte beides. Er war glei groß ale 
Redner wie als Schriftfteller.” 

Schon aus der Bedeutung der Wählerfchaft, die er ver- 
trat, läßt fich erkennen, daß die Geltung feines parlamenta- 











47 


rifhen Namens fortwährend zunahm. Im den drei Parla- 
menten während der achtziger Jahre hat er diefen feinen poli- 
tifchen Ruf begründet: im Parlament von 1584 war er Mit- 
glied für Malcombe in Dorfetfhire, in dem von 1586 für 
Zeunton in Somerfetfhire, im Yahre 1588 vertrat er Liver⸗ 
pool. Schon aus den Jahreszahlen erhellt die außerordentliche 
Wichtigkeit diefer Parlamente; es find für England Jahre ber 
größten Gefahr und des größten Ruhms. 

Es handelte ſich zunächſt um die Sache ber Königin und 
bes engliſchen Proteftantismns, um diefe erfte aller nationalen 
Angelegenheiten gegen jene drohenden Agitationen, welche die 
Wiederherftellung des Katholicismus zum Zweck hatten. Seit 
1570 ift Elifobeth excommunicirt, der Papft und Spanien 
betreiben die Thronfolge der Maria Stuart; dagegen bildet 
fich eine geheime Geſellſchaft zur Vertheidigung der Berfon der 
nationalen Königin, ein befonderer Gerichtshof wird eingefekt zur 
Unterfuhung und Aburtheilung aller hochverrätherifchen Pläne, 
welche die Tatholifche Reſtauration und Prätendentfchaft be- 
günftigen. Das Parlament von 1584 ift der energifche Aus- 
druck diefer nationalen Gefinnung. Die Tatholifhen Wühle- 
rein dauern fort und gipfeln zulegt in einer höchſt geführ- 
lien Verſchwörung, welche die Ermordung Eliſabeth's, die 
Infurrection Englands, die Impafion von Seiten des Aus» 
landes, die Befreiung Maria Stuart's und deren Erhebung 

auf den englifchen Thron im Schilde führt. Die Folge der 
entdeckten Verſchwörung ift der Staatsproceß gegen die gefan- 
gene Königin; fie wirb ſchuldig erklärt und zum Tode verurtheilt. 
Bier Tage darauf, den 29. Detober 1586, tritt das Barla- 
zent zufammen, beide Haäͤuſer fordern die Verbffentlichung 
und Bollftredung des Todesurtheils, Bacon ſpricht in biefer 


48 


„great cause”. Den 8. Februar 1587 erfolgt die Hinrichtung. 
Bald darauf verfammelt fid) das den 2. December 1586 vers 
tagte Parlament von neuem und beſchließt Subfidien zur 
Unterftügung der Niederlande gegen Spanten; Bacon ift Mit- 
glied des mit diefer Angelegenheit betrauten Ausſchuſſes. Es 
folgt der Krieg mit Spanien, der Untergang der Armada im 
Sommer 1588; ein neues Parlament wird berufen und tritt 
im November diejes großen Jahres zufammen, bereitwillig ge- 
währt e8 neue Subfidien zur PVertheidigung Englands gegen 
fünftige Angriffe Spaniens; in diefer Sade ift Bacon nicht 
nur Mitglied des betreffenden Ausfchuffes, fondern Bericht- 
erftatter. 

Nah einer Paufe von vier Iahren wird ein neues Par- 
fament berufen, das den 19, Februar 1593 zufemmentritt. 
Bacon ift Mitglied für Middlefer und repräfentirt im Haufe 
der Gemeinen eine der politifch widhtigften, in ihrer Gefin- 
nung unabhängigften Graffchaften Englands. Spanien droht 
mit einer Invaſion von Norden und Süden, mit einer Lan⸗ 
dung in Schottland, welche das Zeichen zur Erhebung bes 
ſchottiſchen Adels geben fol. Diefer Gefahr gegenüber, die 
mit der Berzögerung wächſt, fordert die Regierung neue Sub- 
fidien und fchleunigfte Beichlußfaffung; das Oberhaus, damit 
einverftanden, drängt und will in ber Subfidienfrage an ber 
Berathung der Gemeinen theilnehmen. Nach dem Vorfchlage 
der Lords, den die Regierung billigt, follen drei Subfidien 
gewährt werden, zahlbar in drei Jahren, jedes Jahr zwei 
Zahlungen. 

In diefer Sache find zwei Punkte, denen fih Bacon wi- 
derſetzt. Es gehört zu den Grundpfeileen der englifchen Ver⸗ 
faffung, daß in allen &eldfragen das Unterhaus völlig unab⸗ 











49 


hängig beräth und befchließt; daher wiberräth Bacon, daß der 
Forderung einer gemeinfchaftlichen Berathung von Seiten der 
Lords nachgegeben werde, und gegen bie Mehrheit des Aus- 
ſchuſſes ftellt fi das Haus auf Bacon’s Seite. Die gemein- 
fchaftliche Beratbung mit dem Oberhaufe „about the sub- 
sidies” wird verworfen; man ftügt ſich auf einen Präcedenz⸗ 
fall unter Heinrich IV., wo baffelbe gefordert, aus bemfelben 
Grunde verweigert und bie Weigerung vom Könige richtig be- 
funden wurde. Der zweite Bunkt betrifft den Gegenstand der 
Forderung ſelbſt. Die Lords fordern drei Subfidien, zahlbar 
im drei Jahren, aljo jedes Jahr eine Subſidie. Darin Tag 
eine boppelte Nenerung: die Verdreifachung der zu Teiftenden 
Steuer und bie Berboppelung der Zahlungslaft, denn bie 
Subfidie pflegte in zwei Jahren gezahlt zu werden. Bacon 
war in diefem Falle nur gegen die legte Neuerung, er ſprach 
nicht gegen die dreifache Subfidie, fondern wollte nad) her- 
fönmlicher Weife die Zahlung in ſechs Iahren. Im Unter- 
baufe war eine vermittelnde Motion geftellt worden: Zahlung 
der drei Subfidien in vier Jahren. Dagegen fprad Bacon, 
er berief fih auf die Schwierigkeit und Unmöglichkeit der Lei- 
ftung, auf die Verbreitung unzufriedener Stimmung im Volt, 
auf deren gefährliche Folgen. Dieſe Nebe hielt er den 7. März 
1593.*) Sein Amendement in der Subfidienfrage fiel durch, 
die Motion wurde angenommen. 

Die Königin empfing die Bill, dankte dem Parlament 
und machte dabei eine Anfpielung, die nicht zu verlennen war, 
anf „Lente, die mehr ihre Grafſchaft, als die Bebürfniffe der 


2) Seine erfte Rebe vom 26. Februar gleih nad Eröffnung bes 
Barlaments betraf die Revifion und VBerbefferung der Gejege, eine Auf⸗ 
gabe, die er dem Parlament als eine beftändige und fortbauernde vorhielt. 

Fiſcher, Bacon. 4 


50 


Zeit im Auge haben”. Diefe feine parlamentarifhe Oppo⸗ 
fition in der Subftdienfrage vom Jahre 1593 war es, wodurch 
fth Bacon die Königin abgeneigt gemacht und für einige Zeit 
ihre Gunft verfcherzt hat. In einem Briefe, dem erſten, den 
er felbft aufbewahrt hat, rechtfertigt er fich wegen jener Rede 
bei Burleigh: „Wenn man meine Rede falfch berichtet Bat, fo 
werde ich gern in Abrede ftellen, was ich nicht gejagt Habe, 
wenn man fte faljch verftanden, fo werde ich gern den richtigen 
Sinn barthun und ben falfchen entfernen; wenn man fie falſch 
beurteilt und mir Sucht nad Popularität vorwirft, fo thnt 
man mir Unrecht und um fo mehr, als bie Art meiner Rebe 
beweift, daß ic) blos ſprach, um meinem Gewiffen genugzu⸗ 
thun.“*) 

Ohne Zweifel mochte Bacon viel daran gelegen ſein, die 
Königin ſich wieder geneigt zu machen und von ber loyalen 
Gefinnung, die ihn aufrichtig erfüllte, zu überzeugen; aber 
nichtS beweilt, daß er in dieſer Abficht unwürdige Schritte ge- 
than babe. In dem nächſten Parlamente, welches im October 
1597 zufammentrat, war er Mitglieb für Ipswich in Suffolt. 
Hier nun foll er fich bemüht Haben, feine oppofitionelle Hal- 
tung von 1593 wieder gut zu machen; er babe fich, erzählt 
Campbell, ftill, ängftlih und fervil gezeigt, wogegen Diron 
behauptet, daß er oft und energifch geſprochen. Soviel fteht 
feft, daß er in dem Parlamente viel gegolten hat, denn er war 
Mitglied faft aller Ausfchüffe, und foweit feine Thätigkeit noch 
erkennbar tft, verräth fie nirgends eine unwürdige Haltung. 
Es ift wahr, daß er in der Subfidienfrage feine Oppofition 
nicht wieder geltend machte, aber e8 gab nicht eine einzige 


*) The works of Francis Bacon (Spedding), vol. VIII, p. 233, 234. 


61 


Stimme, die ber Forderung der Regierung auf drei Subfidien, 
zahlbar in drei Jahren, enigegen war. Bacon’s Hauptthätig- 
feit war diesmal einer nationaldlonomifchen Frage von großer 
Wichtigkeit zugeiwendet, er wollte bem Berfall des Aderbaues 
und dem Untergange der Pächter anf engliſchem Boden durch 
ein Geſetz vorbeugen, welches der überhanbnehmenden Um⸗ 
wandlung des Aderlandes in Weide nothwendige Schranken 
feßte zur Hebung des Landbaues umd der Bevölkerung. Von 
feiner darauf bezüglichen Rede eriftirt noch ein Kleines Bruch⸗ 
ftäd.*) 


2. Erfolgiofe Bewerbungen. 


Nach feiner Oppofition, die er im Parlamente vom Iahre 
1593 bewiefen, war bie Königin zuerft fo erzürnt, daß fie 
Bacon nicht fehen wollte, und wenn fie ihm die Erlaubniß 
an den Hof zu Tommen auch bald wieder zurüdgab, jo blieb 
fie taub gegen feine Bewerbungen und gegen jede ihm günftige 
Sürfpradhe. Gerade damals war die Stelle des oberjten Kron- 
anwaltes und Generalfiscals (attorney general) freigeworden. 
Um diefes Amt bewarb ſich Bacon, von Efier lebhaft unter- 
ftätt; fein Mitbewerber war Eduard Cole, neun»Gahre älter 
als er, angefehen als der erfte Nechtsgelehrte Englands, be- 
reits in Amt und Würben, denn er war solicitor general, 
welche Stelle dem attorney general zunächſt ftand, zugleich 
ein Dann von großer parlamentarifcher Bedeutung, er war 
Sprecher im Unterhaufe, in feiner Haltung völlig loyal, dem 
Dienfte ber Krone ganz ergeben, Bacon's Gegner in der Sub- 
fidienfrage. Seldft wenn die Königin Baron günftig ge- 


*, The works, vol. IX, p. 77 fig. 
4* 


52 


weien wäre, Eonnte fie ihn kaum einem ſolchen Dianne bei 
einer folhen Bewerbung vorziehen; aber fie war ihm abge- 
neigt, auch der Siegelbewahrer Pudering war gegen ihn, 
und Burleigh that nichts zu feinen Gunften, vielleicht weil er 
ſah, daß nichts auszurichten war. Nur Effer betrieb bei ber 
Königin Bacon's Bewerbung fehr eifrig; er ftellte der Königin 
vor, baß fie um ihrer felbft willen Bacon zum Generalfiscal 
machen müſſe, fonft würde fie den fühigften Mann in ihren 
Dienfte verlieren; er fchreibt Bacon den 24. Auguft 1593, er 
werbe die Königin hoffentlih am Ende ermweichen, wie der 
Tropfen den Stein „saepe cadendo”. Er hoffte vergeblich. 
Die Königin fam immer wieder" zurüd auf Bacon’8 parlamen- 
tariſche Unart. 

Cofe wurde im Frühjahr 1594 attorney general. Nun war 
feine bisherige Stelle, die bes solicitor general, frei, und 
Bacon machte alle Anjtrengungen, fie zu erhalten, auch unter- 
ftüßten dieſes mal beide Cecils feine Bewerbung, Eifer zeigte 
fi) wiederum unermüdlich, aber feine zu lebhafte Fürſprache 
war der Sache eher ſchädlich als förderlich, denn fie machte 
die Königin ärgerlich. Der Siegelbewahrer wirkte gegen Bacon, 
und nachdem die Sache lange hinausgefchoben worden und 
Bacon immer wieder die ſicherſten Hoffuungen gefaßt hatte, 
erhielt im November 1595 Fleming das erledigte Amt. 

Es war eine unglüdlihe Zeit für Bacon, Alle feine 
Bewerbungen ſchlugen fehl, zulegt die um eine Frau, auch 
bier ftand ihm als der 'glüdlichere Nebenbuhler Eduard Cole 
entgegen. Die Frau, bie er begehrte, war Elifabeth Hatton, 
eine reiche, junge und ſchöne Witwe, Burleigh’s Enkelin; auch 
bier warb Eifer für Bacon, er ſchrieb an die Eltern Elifa- 
beth's und fagte in feinem Briefe, wenn er eine Schweiter zu 





63 


verheirathen Hätte, würde er fie Teinem lieber geben als feinem 
Treunde Bacon. Die junge Witwe ſchlug ihn aus, ſie war 
ehrgeizig und habſüchtig und nahm daher den reichen General⸗ 
fiscal Coke Tieber zum Manne als den armen Abvocaten 
Francis Bacon (1597). Dan bat behauptet, Bacon habe 
bios die reiche Frau gewollt, um feine fchlimmen Vesmögens- 
umftände zu verbeffern; ob er in der That fein anderes In- 
tereffe bei feiner Bewerbung gehabt Hat, weiß ih nicht nnd 
jehe auch nicht, woher e8 Biographen wie Campbell wilfen. 
Daß es mit feinen öfonomifchen Verhältniſſen damals fehr 
übel beftellt war, ift richtig; er war hoch in ben Dreißigen 
ohne Praris, ohne Amt, mit Schulden überhäuft, deren Zinfen 
er bezahlte, indem er neue Schulden machte. Don feiner Fa- 
milie war feine Hülfe zu hoffen; die Mutter Lebte auf ihrem 
Witwenſitz in Gorhambury und gab foviel fie hatte, aber fie 
hatte nicht viel; fein Bruder Anthony befaß einige Ländereien 
in Rebburn (Hertforbfhire), die wenig einbrachten; der eine 
feiner Halbbrüder Nicholas Hatte mehr, aber brauchte alles 
für feine eigene fehr zahlreihe Familie, der andere, Ebuarb, 
konnte Bacon wohl einen Aufenthalt in feiner Wohnung zu 
Twidenham anbieten, aber kein Geld. Seit Jahren Hatte 
Bacon die Anwartfchaft auf eine Regiftratur in der Stern- 
kammer, auch hatte ihm die Königin im November 1595 (als 
fie Fleming zum solicitor general ernannte) eine Anwartſchaft 
auf die nächte Pacht eines Landhauſes in Twidenham ertheilt, 
aber bas alles waren zunächſt nur Ausfichten, womit man 
feine Gläubiger bezahlen konnte. Die Schulden vermehrten 
fig, er nahm feine Zuflucht zu Pfanbleihern und Juden, und 
es Tam tm Jahre 1598 fo weit, daß der Goldſchmied 
Sympſon wegen einer Schuld von einigen hundert Pfund un- 


54 


fern Bacon, als biefer eben vom Tower herfam, auf offener 
Straße verhaften ließ. 

Selbft die Hoffnungen, die er auf Eifer’ Freundſchaft und 
Geltung bei der Königin fegen konnte, fingen an zu erbleichen. 
Der Einfluß des mächtigen Günſtlings war im Sinken, bas 
gute Einvernehmen zwifchen ihm und Bacon hatte fchon eine 
Ahfühlung erfahren; bald nahmen die Verhäftniffe die unheil- 
vollfte Wendung, in welche Bacon auf eigenthümliche Art mit 
verſtrickt wurde, denn feit dem Eſſex⸗Proceß hat die Welt nicht 
mehr glauben wollen, daß unter Bacon’s Fähigkeiten auch 
Dankbarkeit und Freundfhaft war. Die Efjer-Frage ift bio- 
graphiſch fo reichhaltig und für die Beurtheilung der Perſon 
Bacon’s fo wichtig, daß wir derfelben einen beſondern Ab⸗ 
fchnitt widmen. | 














Vierles Kapilel. 
Bacon und Eſſer. 





J. 
Eſſer' Perſon und Schickſale. 
1. Eſſex und Eliſabeth. 


Der einzige Mann am Hofe Eliſabeth's, der Bacon's 
Geiſt und Pläne hoch hielt und deſſen Namen wir in nächſter 
Beziehung zu ihm ſchon mehrfach genannt haben, war Robert 
Devereux Graf von Eſſex. Die Königin ſelbſt war wohl ge- 
lehrt, doch Kann man nicht jagen, daß fie Kunft und Wiffen- 
Schaft aus freier Neigung beſchützte; fie hatte nichts Mecdicei- 
ſches, fie Tieß die Gelehrfamfeit gelten, foweit fie praftifch 
war und mit den Öffentlichen Angelegenheiten des Staats und 
der Kirche unmittelbar zu thun Hatte, bie theologifche und juri- 
ftifche Gelehrfamleit; gegen die philofophifhen Dinge war fie 
gleihgältig, geringſchätzend, mistrauifh, die Beſchäftigung 
damit erſchien ihr als unbraudbar und als eine „disqualifi- 
cation” für den Staatsdienft. Was ihr allein am Herzen 
lag, war weniger die Herrichaft des Menfchen über die Natur 
vermöge der Wiffenfchaft, als bie Herrichaft Eliſabeth's über 
England vermöge der Politik; die Staatszwecke durchſchaute fie 





56 


klar, und felbft die Leidenſchaften, denen fie ſich hingab, konnten 
ihr Urtheil nicht verwirren. Ebenſo praltiſch und ebenſo ver⸗ 
ächtlich in Anſehung der rein theoretiſchen Dinge dachten ihre 
Staatsmänner, die Cecils, Walſingham, Eduard Cole u. a. 
Eſſer war ſechs Jahre jünger als Bacon, 34 jünger als 
Eliſabeth. Die Königin war 55 alt, als nach dem Tode feines 
Stiefvaters des Grafen Leicefter (1588) der einundzwanzigjährige 
Efſex ihr erflärter Günftfing wurde, ein Mann, noch in ber 
erften Blüthe der Jugend, von anmuthiger Ritterlichkeit, feu⸗ 
rigem Geifte, ungezügeltem Temperamente, kühnem Chrgeize, 
großmüthigen Neigungen, aufopferungsfähig in der Freund⸗ 
ſchaft, ohne Seldftbeherrihung in der LXeidenfchaft, ſtolz und 
berwegen bis zum Uebermaß, empfänglich fir Srauengunft und 
für Vollsgunft und ganz dazu gemacht, um beide zu gewinnen, 
ein Charakter und eine Erfcheinung, die etwas von ber Art 
des Alcibiades hatte und fi von der Höhe eines Leichtgewon- 
nenen Glücks mit Teichtfinnigem Frevelmuthe herabftärzte. Die 
Königin war ihm mit einer verfchwenberifchen und argwöhni⸗ 
Shen Zärtlichkeit zugethan und eiferfüchtig auf jeden Gegen- 
ftand feiner Neigung, feinen Ruhm, ſeine Popularität, feine 
Freunde; fte war fo geftimmt, daß fie feine Wänfche jet be 
reitwillig und zärtlich erfüllte, jet eiferfüchtig und eigenfinnig 
abſchlug. Der Grundzug ihrer Zuneigung war mütterlicher 
Art. In Eſſex' Adern floß das Blut der Boleyn, feine Mutter 
war die Nichte der Königin, fein Vater Walter Efier war ihr 
Freund gewefen in verlaffenen Zagen, fie Hatte von mütter: 
licher Seite her keinen andern männlichen VBermanbten.*) 








*) Anna Boleyn, die Mutter Eliſabeth's, hatte eine Schwefter, beren 
Tochter, Katbarine Carey, Eliſabeth's nächſte Eoufine uud ihre liebſte 
Augendfreundin war; diefe Hatte ale Lady Knollys eine Tochter, Lettice 











57 


Unter feinem Stiefvater Leicefter Hat Eſſex feine erften 
Kriegsdienfte in den Niederlanden gethan (1585-86). Vet 
ftieg er fchnell empor, die Königin ernannte ihn 1587 zu 
ihrem Stallmeifter, im folgenden Iahre zum General der Ca⸗ 
valerie im Kriege gegen Spanien und fehicdte ihn 1591 zur 
Unterftügung Heinrich's IV. mit engliſchen Hülfstruppen nad 
Frankreich; im Jahre 1593 wird er Geheimer Rath, brei 
Jahre fpäter erhält er den Dberbefehl der gegen Spanien be 
flimmten Landungstruppen; ber glänzende Erfolg dieſes Feld⸗ 
ugs, die Vernichtung der fpanifchen Flotte, die Eroberung 
von Cadir erhebt feinen Namen unter bie vollsthämlichen 
Helden Englande. 

Cadir ift der Gipfel feines Rubms. Von bier geht feine 
Bahn abwärts. Die nächſte Expedition nach den Azoren tm 
Zuni 1597, von Eifer befehligt, verunglückt durch feine Schuld. 
Er Hatte die fpanifche Flotte, bie mit Schätzen von Indien 
fam, auffangen und ihr den Weg nach Zerceira verlegen follen; 
er verfehlt fie und vereinigt fi mit Naleigh, der Contread⸗ 
miral war, Fayal genommen und das Werk der Eroberung 
faft vollendet Hatte. Der Ruhm diefer That gebührt Naleigh, 
aber Eſſer, darauf eiferfüchtig, erwähnt in feinem amtlichen 
Berichte nichts von Raleigh's Verdienſt und weckt daburd) 
deffen Feindſchaft. Uwerrichteter Sache kehrt die englifche 
Motte Ende Detober 1597 zurück, fogar die englifhe Küfte 
war in Gefahr. Schon jett Hatte Eifer die Unzufriebenheit 
der Königin erregt und verdient; aber zu verblendet, um bie 
eigene Schuld und feine Fehler zu ertennen, fpielt er den Be⸗ 


Kuollys, die in erfier Ehe mit den Grafen Eſſer, in zweiter mit dem 
Grafen Leicefter, Elifabeth’s Günſtling, vermählt war. Ihr Sohn if 
Effer, von dem wir reden. 


58 


leidigten und fängt an, misvergnüägt zu werben. Daß feine 
Empfehlungen nichts ausrichten, feine Gegner Einfluß und 
Aemter gewinnen, macht ihn übellaunig und den Einflüfterun- 
gen factidjer Feinde des Staats allmälig geneigt. In feiner 
eigenen Familie werden böſe Einflüffe genährt, feine Mutter 
hatte fich als Gräfin Efjer durch Leicefter, als Gräfin Leicefter 
durch Chriſtopher Blount, einen Mann niedriger Herkunft, ver- 
führen laffen und nad dem Tode des Gemahls den Verführer 
geheirathet. Dieſer Blount ift ein Werkzeug der Fatholifchen 
Agitation, und Efjer läßt fich durch ihn beeinfluffen. So legt 
fich das Ne, worin er ſich verfängt, um feine Füße. 


2. Statthalterfchaft in Irland. 


Ein neues Unternehmen lockt feinen Triegerifchen Ehrgeiz. 
Im Iahre 1598 ift in Irland unter dem Grafen Tyrone ein 
Aufftand ausgebrochen, der die Niederlaffungen der englifchen 
Proteftanten bedroht und das Land von ber englifchen Herr- 
ihaft befreien will. Jetzt begehrt Effer den Oberbefehl über 
das nach Irland beftimmte Heer, feine Gegner am Hofe, in 
ber Abficht ihn zu entfernen, begünftigen wie es fcheint feinen 
Wunſch, widerwillig giebt Elifabeth nach und ernennt ihn zum 
Lordlientenant von Irland (1599). Im Frühjahre Iandet er 
in Dublin; man ſah in London glänzenden Siegen entgegen, 
jo gänftig war die Volksſtimmung für Eifer; verglich doch 
Shakeſpeare, der damals feinen Heinrich V. aufführen ließ, 
im Prologe des letzten Actes ſogar den Jubel, mit dem einſt 
England den Sieger von Azincourt empfing, den freudigen 
Hoffnungen, womit das Volt jekt den Triumphator von Ir- 
land erwartet. 








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Wenn jest der Feldherr unfrer Königin ° 9* J 
Wie er es leichtlich mag, aus Irland käme 
Und brächt' Empörung auf dem Schwert geſpießt: 
Wie viele würben diefe Briedensftadt 
Berlaffen, um willlommen ihn zu heißen! 
Diefer Traum ging nicht in Erfüllung. Durch eine Reihe 
unkluger und unpolitifcher Maßregeln gerieth Efier in den Ver⸗ 
dacht, dem Aufitande felbft und der Tatholiihen action in 
bie Hände zu arbeiten; ftatt die Infurgenten mit Waffengewalt 
nieberzumwerfen, läßt er die günftige Gelegenheit vorübergehen 
und beginnt Unterhandlungen mit dem Haupte der Empörung. *) 
Das Vertrauen Eliſabeth's war tief erfchüttert, fie griff jeßt 
unmittelbar in die Leitung ber irifchen Angelegenheiten ein, 
und Efier ſah fi nicht blos in feinem Oberbefehl in Irland, 
fondern in feiner ganzen Stellung am Hofe der Königin be- 
droht. Plötzlich verläßt er Dublin und Tehrt im September 
1599 nad) London zuräd; im Reiſekleid, ſtaubbedeckt erfcheint 
er im Balafte Nonfuch und überraſcht die Königin bei ihrer 
Morgentoilette, feine perfönliche Gegenwart übt auf Efifabeth 
ben gewohnten Zauber, und es fcheint einen Augenblid, als 


ob fie ihm alles verzeihen wolle. Doch bald nah einem . 


Geſpräche mit Cecil, ihrem Minifter (Burleigh war das Jahr 
vorher geftorben), entfchließt fie fih anders und befiehlt, daß 
Effer in Haft bleibe; ihre Abſicht war nit, ihn zu ftärzen, 
fondern zu bemüthigen; fie wollte ihn nicht richterlich, fondern 


9 Auch in kleinern Dingen handelte Eſſex ungehorſam und rück⸗ 


ſichtslos gegen die Königin. Der junge Graf Southampton hatte 


die Bernon, eine der Hofdamen Eliſabeth's, verführt und war deshalb 
ans London verbannt worden. Heimlich kehrt er zurüd und heirathet 
bie Bernon. Die Königin firaft ihn mit Haft in feinem Haufe; gegen 
fein Wort entfernt er fi heimlich, geht nah Dublin zu Effer und 
diefer macht ihn zum General der Cavalerie. 





60 


päbagogifch trafen, mütterlich zücdhtigen, fo mild als möglich 
unter dem Scheine der Strenge; fie hätte es am Tiebjten bei 
der Cenſur bewenden laffen, welche die Sternfommer, ohne 
daß Eſſer gehört wurde, gegen ihn ausſprach. Aus Rückſicht 
auf die öffentliche Meinung ließ fie ein zweites Verfahren 
eintreten, wobei Anklage und DVertheidigung ftattfand; fie er» 
nannte zu bdiefem Zweck einen aufßerordentlihen Gerichtshof 
von 18 königlichen Commiffaren, der fi den 5. Juni 1600 
in Yorthouſe verfammelte, Efier Führung in Irland für ta- 
delnswerth erkannte und fein Urtheil dahin abgab, daß er von 
feinen Aemtern ſuspendirt fein und in feinem Hauſe gefangen 
bleiben folle, jolange e8 ber Königin gefalle. Eſſer verzichtete 
auf alle Rechtfertigung und hörte den Spruch Tnienb. 


3. Berſchwörnng und Untergang. 


Bald erhielt er die Freiheit zurüd und die Erlaubniß auf 
feine Güter zu gehen; ber Hof blieb ihm verboten, doc, Hatte 
Eliſabeth feine völlige Wieberherftellung im Sinne, und ale 
Effer im September 1600 London verließ, war ex ſicher, daß 


‚ihn die Königin in der Kürze zurückrufen werde. ber eine 


abgefhlagene Bitte machte ihn an der guten Abficht der Kö⸗ 
nigin vollkommen irre und nahm ihm jede befonnene Empfindung. 
Er Hatte gewünſcht, daß ihm das einträgliche Monopol ber 
fpanifhen Weine, deifen Dauer abgelaufen ar, wieder er⸗ 
neuert werde, und die Königin, bie dem Scheine feiner De⸗ 
muth und Gefügigkeit mistraute und dahinter nur Eigennug 
zu fehen glaubte, Hatte die Sache verweigert. Jetzt fing er 
an die Königin zu haſſen und ſprach von ihr offen in ben 
ungebührlichften und roheften Ausdrücken; er fei nicht ihr SPlave 
und werde ſich nicht fo ungerecht bebanbeln laſſen von dieſem 


61 


alten Weibe, ebenfo krumm an Geift als an Körper; er fann 
auf Race und ließ fich mit Blount und andern in hochver- 
räthertiche Pläne der unfinnigften Art ein. Man wollte ſich 
der Berjon der Königin bemächtigen und in ihrem Namen bie 
Gewalt ergreifen. Eliſabeth ift von allem unterrichtet, fie 
weiß, welche Sprache Effer offen gegen fie führt, welche ge- 
heime Anſchläge er brütet und daß der 8. Februar 1601 zum 
Ausbruch der Verfhwörung beitimmt ift. Den Abend vorher 
hatte der Graf Southampton im Globe vor den Berſchworenen 
Shakeſpeare's Richard IL. aufführen laſſen, gleichſam als er⸗ 
munterndes Beiſpiel der Abſetzung eines Königs und einer 
erfolgreichen Uſurpation; man ſagt auch, daß dieſe Dichtung 
damals der Königin verdächtig gemacht wurde als tendenzibſer 
Beſtandtheil eines großen Complots, das Stück ſolle den Unter⸗ 
thanen zeigen, wie man einen König aus dem Wege ſchaffe; 
fie ſei Richard, Eſſex ſei Bolingbroke. Die Verſchwörung 
ſelbſt war verzweigt und ſtand, wie es ſcheint, mit den iriſchen 
Rebellen und mit dem Könige von Schottland in Zuſammen⸗ 
bang; man will fie als eins der Glieder jener papiftifchen 
Berſchworungslette anfehen, bie ſich znerft an die Prätendent- 
fchaft der Maria Stuart anknüpfte und zulekt in dem Bulner- 
complot ausbrach. 

Den 8. Februar früh ſchickte Eliſabeth vier der Köchften 
Staatsbeamten, darunter den Großſiegelbewahrer unb den Korb 
Dberrichter, nad Eſſerhouſe, um die Urfache der geßeimen 
Berfammlungen zu erfahren. Eſſer hielt die Räthe der Ko⸗ 
nigin feft, ſtürzte mit feinem Anbange auf die Straße und 
rief die Bürger zu den Waffen. Niemand folgte ihm. Das 
Unternehmen ift ebenfo erfolglos als planlos. Nach wenigen 
Stunden, nach einem kurzen Kampfe ift alles vorüber, Eſſer 








62 


ſelbſt ergriffen und in ben Tower gebradt. Er ftellte den 
Hochverrath in Abrebe, das Unternehmen fei nicht gegen die Köni- 
gin und den Staat, fondern gegen ein Somplot feiner Feinde 
gerichtet gewefen, das Haupt dieſer Feinde fei Walter Raleigh, 
deffen Anfchläge gegen fein Leben eine ſolche Selbfthülfe her- 
vorgerufen hätten. Das Gericht fand Efjer ſchuldig und ver- 
urtheilte ihn zum Tode; mit der größten Seelenruhe nahm er 
das Urtheil Hin und fuchte nur das Leben feiner Freunde zn 
retten. Die Königin fol fehr geſchwankt haben, bevor fie dem 
Spruch beftätigte. Den 25. Februar 1601 fiel Efier’ Haupt 
auf dem Schafft. Zwei Jahre fpäter, den 24. März; 1603, 
ftarb Elifabeth in tiefer Schwermuth und bes Lebens voll- 
fommen überbrüßig; fie hatte die Königin gerucht, aber fie 
war ale Frau gebrochen. 


I. 
Bacon’s verhältniß zu Effer. 


Im Jahre 1590 oder fpäteftens in der erften Hälfte bes 
folgenden Jahres lernte Eifer Bacon Tennen und trat bald 
mit beiden Brüdern in Verbindung: Anthony wurde fein Se- 
eretär, Francis fein politifcher und juriftiicher Rathgeber. Wir 
wiffen, mit wie vielem Eifer, wenngleich mit wenigem Erfolg, er 
Bacon's Sache bei der Königin vertrat, wie aufrichtig und 
lebhaft er von feinem Zalent und Werth überzeugt war. 
Immer nennt er ihn feinen guten Freund Bacon. Bevor er 
nad Spanien unter Segel gebt, empfiehlt er ihn dem Siegel- 
bewahrer Egerton in einem Briefe vom 27. Mat 1596: „es 
fei in England fein Mann, deffen Glück er lebhafter und 














63 


eifriger wünfche”. Es war eine Zeit, wo Bacon in geringen 
und ungünftigen Berhältniffen keinen beffern Freund hatte, als 
den mächtigen, von jeder Gunft des Schidfals hoch empor- 
gehobenen Eſſer. Wie war es möglih, daß er gegen dieſen 
Mann, als er zu Boden lag, unter den Anklägern auftrat? 

As die Königin nach der Hinrichtung zum erften male 
in die Eity kam und fi) von Seiten bes Volks Talt empfangen 
jah, wünſchte fie, daß Eſſex' Verurtheilung und Hinrichtung 
durch eine „geſchickte Feder” Hffentlich gerechtfertigt werde; fie 
trug diefes Wert Bacon auf und er gehordte fogleid. Er 
ſchrieb „eine Erflärung der Ränke und Verräthereien, ver- 
jucht und begangen durch Robert weiland Graf Eifer und feine 
Mitſchuldigen“*). Alte Welt erhob gegen Bacon den Vor⸗ 
wurf, daß er falfh und undankbar gegen Eifer gehandelt. 
Diefer Vorwurf Hat fi fortgepflanzt von Geſchlecht zu Ge⸗ 
ſchlecht und ift heute noch fo laut wie damals, Daß er fon 
damals laut wurde, follte Dixon nicht beftreiten, da Bacon 
felbft e8 jagt. Ein Jahr nad dem Tode ber Elifabeth war 
er genöthigt, fi) „gegen gewille Vorwürfe in Betreff des ver- 
ftorbenen Grafen Effer‘ öffentlich zu vertheidigen; er that es 
in Form eines Brief an den Lord Montjoy, der Efier als 
Statthalter in Irland gefolgt war.**) 

Laute Vorwürfe find noch nicht gerechte. Bevor wir ur- 
theilen, wollen wir Bacon felbft hören. Wie bat er gegen 
Eier geichrieben? Wie zu feiner eigenen BVertheidigung? 


*, A declaration of the practices and treasons attempted and 
committed by Robert late Earl of Essex and his complices etc. (1601). 
The works (Sp.), vol. IX, p. 245 fig. 

**) Sir Francis Bacon his apology in certain imputations con- 
cerning the late earl of Essex in a letter to lord Montjoy, now 
Earl of Devonshire. The works (Sp.), vol. X, p. 139 fig. 





⸗ 64 


1. Bacon's Declaration. 
® 


In der Art, wie Bacon Eſſer' Schuld darftelit, regt fi 
feine Spur menfchlicher Theilnabme, Tein noch fo leifer Ver⸗ 
fuh der Milderung, in Gefinnung und That eriheint Efier 
als durchaus fchleht und verbrederiid. Er hat nichts im 
Sinn als feinen Ehrgeiz, der ihn fo weit treibt, daß er „prae- 
fectus praetorio”, Herr der gefanmten englifchen Kriegamadıt 
werben möchte; gegen jeben Nebenbubler ift er misgünffig, 
gegen die Königin verrätheriſch, Abfalon Ahnlich; mit ſchlimmen 
Plänen geht er nach Ireland, vergeudet die Zeit, ſchließt einen 
ſchimpflichen Frieden, fucht fid aus den irischen Rebellen eine 
Partei, aus dem Heer ein williges Werkzeng zu machen in 
der Abfiht auf eine bewaffnete Landung in England; Mit- 
fchuldige haben es bezeugt, es ſei fogar verabredet worben, 
Eifer folle König von England, Tyrone Vicelönig in Irland 
werden; mit diefem babe er einen Vertrag gegen bie 
englifchen Intereffen in Irland gefchloffen und bafür die Rb- 
uigin gewinnen wollen, baher feine plößliche Rückkehr nad) 
London. Nachdem feine Schuld erwiefen, habe ihm die Koni⸗ 
gin großmäthig verziehen; kaum in Freiheit gefegt, habe er 
die frühern Pläne wieder aufgenommen, geheime Wmtriebe 
gemacht, allerhand Leidhtfinnige und misvergügte Leute um fi 
verſammelt und eine Verfchwörung angezettelt, die den Um⸗ 
fturz der öffentlichen Dinge bezweckte; zulett habe er offene 
Gewaltthat verfucht und fel elend gejcheitert. Härter war Effer 
nit zu befchuldigen, als hier nad feinem Tode durch Ba⸗ 
con’s Feder geſchehen. Es war wie eine zweite Hinrichtung, 
und man darf ohne Empfindfamfeit erftaunt fein, daB der 
Mann, der diefe Schrift verfaßte, jemand war, dem Eſſer 

















65 


Sntes erwielen. Wenn er den unglücklichen Eifer mit Recht 
beſchuldigt, daß er undankbar gegen bie Königin gewejen, jo 
darf man wol fragen: war denn Bacon dankbarer gegen 


Eſſer? 
2. Baton's Apolsgie. 


Es fcheint, daß er ſelbſt das peinliche Gefühl dieſer Trage 
gehabt Hat, denn er ſucht am Schluß feiner Bertheidigung die 
Schuld jener Schrift vos fih abzuwälzen, ſophiſtiſch genug: 
er babe fie gefchrieben nicht wie ein Autor, fondern wie ein 
Serretär, in allen Punkten geleitet; fie fei im geheimen Rath 
ber Königin genau burchgefehen, erwogen und fo verändert 
worden, daß am Ende eine Schrift herauskam, wozu er felbft 
nichts gegeben als den Stil. Zuletzt habe fie die Königin 
noch einmal Wort für Wort gelefen und eigenhändig Aende⸗ 
rungen gemacht, fie habe ihn fogar getadelt, daß er den alten 
Reſpect gegen Eſſex nicht vergefien und „mylord of Essex“ 
gefagt Habe, während es bios heißen dürfe: „Essex’ oder 
‚she late earl of Essex“; ja fie beftand darauf, daß um 
diefer Kleinigkeit willen die Schrift noch einmal gebrudt wurbe. 

Diefe Bertheidigung ift fchlinnmer ale feine. Warum 
lich er feine Feder zu einer Schrift, die er als bie jeinige 
nicht anerlaunte und die das Gefühl der Welt gegen ihn auf- 
bringen mußte? Warum ließ er fih als Werkzeug brauchen? 
Es wird kaum möglich fein, in biefen Punkte Bacon von 
einer unwürdigen Willfährigkeit freizufprechen, aber, um in 
der Beurtheilung feiner Empfindungsweife ficher zu geben, 
muß man doch die Beziehungen zwiſchen Eifer und ihm ge- 
nauer unterfuhen; man muß wifjen, welches Verhältniß zwi⸗ 


fchen beiden beftand, welchen Wechſel valfeibe erlebt bat. 
Fifcher, Bacon. 


68 


Darüber gibt Bacon's VBertheidigungsfchrift eine ebenfo in- 
tereffante und charakteriftiiche, als meiner Meinung nach richtige 
Aufklärung. Die Frage felbft ift biographifch genommen fo er- 
beblich, daß wir uns unmöglich bei bem Gemeinplag begnügen 
fönnen, wonach auf ber einen Seite die großmüthigſte Sreund- 
ſchaft war, auf der andern Seite nichts als der Tältefte 
Undank. 

Seine Freundſchaft für Eſſer, ſo bekennt Bacon ſelbſt, 
ſei weder unbedingt noch ungetrübt geweſen, er halte es mit 
dem Worte der Alten: „amicus usque ad aras“; erſt Gott, 
dann ber König, dann der freund. Er habe in Eſſer eines 
der beiten und tauglichiten Werkzeuge für das Staatsiwohl ge- 
fehen und fih deshalb. dem Dienſte deffelben jo ausſchließlich 
gewidmet, daß er darüber den der Königin, Vermögen und 
Beruf vernadhläffigt, auch feinen Bruder bald nad deſſen Rück⸗ 
kehr beftimmt habe, ebenfalls in die Dienfte des Grafen zu 
treten. Eſſex Habe ſich gegen ihn wohlwollend und freigebig 
bewiefen, feine Amtsbewerbungen unterftügt und, als dieſe 
fehlgeichlagen, ihm ein Landgut geſchenkt, bas er für 1800 Pfund 
verfauft, obwohl es werthooller war. Indeſſen feien jehr bald 
zwifchen dem Grafen und ihm Differenzen entitanden, bejon- 
ders in zwei Punkten, betreffend Eſſer' Benehmen gegen bie 
Königin und feine Sucht nad) Kriegsruhm und Vollsgunſt. 
Er habe Eifer wiederholt gerathen, ſich gegen bie Königin folg- 
fam und gefügig zu zeigen, dann werbe fie bald wie Ahas⸗ 
verus fragen: „Was foll dem Manne geichehen, den der König 
ehren will?” Dagegen pflegte Efier zu fagen, man müſſe der 
Königin imponiren, um fie zu gewinnen, denn fie könne nur 
durch) Zwang und Autorität zu etwas gebracht werden. Hatte 
er dann mit feiner gewaltfamen Art wirflich etwas durchgefekt, 


67 


fo triumphirte er gegen Bacon: „Nun fehen Sie, weſſen Prin⸗ 
cipien die Probe beftehen!” Bacon entgegnete, ein folches 
Berfahren fei wie heiße Waffercuren, die wohl bisweilen helfen, 
aber fortgefett fchaden. Auch babe er ihn oft vor jenem zwie⸗ 
fachen Ehrgeiz nach Kriegsruhm und Volksgunſt gewarnt, ber, 
wenn er Glüd Babe, Leicht die Eiferfucht der Königin, feinen 
eigenen Uebermuth und dffentlihe Störungen erregen könne; 
Kriegsruhm und Bollsgunft feien wie die Schwingen bes 
Ikarus mit Wachs befeftigt, leicht zu Töfen, dann folge ber 
jahe Sturz. Eſſer nahm ſolche Rathfchläge wenig zu Herzen 
und meinte fpottend, fie kämen nicht von Bacon’s Geift, ſon⸗ 
dern von feinem Rod (auf die feidene Robe anjpielend). 

Diefe Meinungsverfchiebenheit führte allmälig zu einer 
gegenfeitigen Entfremdung, und als Effer wegen des trifchen 
Feldzugs Bacon wieder um Rath frug, hatten ich beide Männer 
feit 18 Monaten nicht gefehen. Bacon kannte die Lage der 
Dinge, er wußte fehr gut, daß Irland nur auf wirthichaft- 
fichem Wege zu helfen fei, er ſah voraus, daß Eifer in biefer 
Sache nichts ausrichten, nichts gewinnen, durch Miserfolge 
die Gunft ber Königin verlieren, durch feine Entfernung feinen 
Feinden am Hofe das Feld freilaffen werde. „Ich widerrieth 
es nicht 6108“, ſagt Bacon, „Sondern that förmliche Einfpradhe; 
es würben file Eſſer, die Königin, den Staat verberbliche Fol⸗ 
gen daraus entftehen; ich habe nie erniter weder mündlich nod 
ſchriftlich mit ihm geredet.” 

Während Eſſex' Abweſenheit fieht Bacon die Königin 
häufig in ihrem Palafte Nonfud und findet fie leidenſchaftlich 
verftimmt über Efjex’ Verfahren in Irland, er handele ohne 
Glück, ohne Urtheil und nicht ohne eigennütige Nebenabfichten. 
Damals habe Bacon der Königin gerathen, fie möge Effer in 

h * 


68 


ehrenvolifter Weife zurüdrufen und ihm eine Stellung am 
Hofe geben, wie Leicefter fie gehabt. Nach Efier’ plößlicher 
Rückkehr von Dublin babe er ihn ſogleich beſucht und feinen 
' niedergefchlagenen Muth aufgerichtet; auf feine Frage: was 
wird aus mir werden? babe er ihm Rath und Troſt gegeben: 
e8 fei ein Wöllchen, das vorüberziehe, ein Nebel, bei dem es 
daranf anlomme, ob er fteige oder falle; man müfje alles 
thun, daß er nicht ſteige. Schon damals Habe man gejagt, 
daß er die Königin gegen Efiex einzunehmen fuche; das jei 
falih, vielmehr habe er ftets zum Guten geredet, fogar ein 
Sonett an die Königin gerichtet, um fie verfühnlich für Eifer 
zu ftimmen.*) Selbft Eifer’ NRüdfendung nad Irland habe 
er nicht widerrathen, freilich noch weniger gutgeheißen; die 
Königin fei in diefer Sache völlig entjchieden geweſen und habe 
feines Rathes gar nicht bedinft. Sie hatte Montjoy an Efier’ 
Stelle ernannt und fprad davon gelegentlih mit Bacon. 
„Wenn Ihre Majeftät”, entgegnete diefer, „nicht die Abficht 
haben, Eifer zurüdzufchiden, fo konnten Ste keine beffere Wahl 
treffen.” Darauf babe die Königin heftig erwidert: „Eſſer! 
Wenn ich Effer je wieder nad Irland ſchicke, fo will ih Sie 
heiratben, Bacon, fordern Sie e8 von mir!“ 

Wir Tonnen das Verfahren, welches die Königin gegen 
Eſſex einfhlug; auch bier widerrietb Bacon zweimal, was 
die Königin wollte, und erregte dadurch ihren Unwillen. Zuerft 
mißbilligte er, daß die Sternlammer über Eſſer ungehört 
urtheilen folle, denn dies widerftreite den Formen der Ge- 
rechtigfeit und werde bei der öffentlichen Meinung Auſtoß 


e) Diefes Sonett Überreihte Bacon der Königin, ale biefe Ende 
September 1600 (alfo ein Jahr nach Effer’ Rückkehr) in feiner Sommer- 
wohnung zu Twickenham bei ihm zu Mittag aß. 














69 


finden; bie Königin nahm die Einrede übel und ſprach mit 
ihm monatelang fein Wort. Die Procedur fand ftatt, ohne 
daß Bacon daran theilnahm. Gegen Oftern 1600 wurbe bie 
Königin anderer Meinung, fie räumte ein, daß Bacon recht 
gehabt und wilnfchte ein zweites fürmliches Verfahren ‚ad 
castigationem‘, wie fie wiederholt fagte, nit „ad destruc- 
tionem”. Auch jet widerſprach Bacon; wenn ihn die Koö⸗ 
nigin frage, fo müffe er antworten, wie Frater Bacon's Kopf 
fpradh: „Zeit ift, Zeit war, Zeit wird niemals fein”; es ſei 
jeßt zu fpät, bie Sache fei kalt geworden und habe ſchon zu 
viel Wind gemadt. Die Königin, von neuem gegen Bacon 
verftimmt, blieb bei ihrem Entſchluß; es kam zu jener gericht. 
lichen Verhandlung in Yorkhouſe, wozu Bacon der Königin 
feine Dienfte anbot, aber auch erflärte, wenn fie ihn aus Rück— 
ſicht auf fein Verhältniß zu Effer ausſchließen wolle, fo würbe 
er bies als höchſte Gunft anfehen. Er wurde mit den übrigen 
Rronjuriften zugezogen und an der Unterfuchung in einem ganz 
untergeordneten Punkte betheiligt. 

Seitdem habe er alles gethan, die Königin mit Effer aus- 
zuföhnen; er habe ihr geſagt, daß fie zwei Triumphe davon⸗ 
getragen: über die Öffentliche Meinung und über Efjer’ Hoch⸗ 
muth; jene fei befriebigt, diefer gebemüthigt. Die Königin 
fchten damit fehr zufrieden und äußerte wiederholt, ihr Ver⸗ 
fahren gegen Eſſer fei „ad reparationem“, nicht „ad 
ruinam”. Während bes ganzen Sommers (1600) habe er 
für Effer’ Wiederherftellung gearbeitet und mit biefem felbft 
fortwährend brieflid verkehrt, er habe fogar auf Efjer’ Bitte 
Briefe in feinem Namen an bie Königin aufgejegt, wie er 
wußte, daß fie ihr den beſten Eindrud machen würden. Auch 
fei monatelang alles vortrefflich gegangen, die Königin mar 





10 


in der günftigften Stimmung und hörte wieder fehr gern 
von Eſſex Sprechen. Da bemerkt fie eines Tags gegen 
Bacon, daß ihr Eifer fehr ehrerbtetig gefchrieben habe, fie 
babe den Brief zuerft als eine Herzensergießung genommen 
und empfunden, dann aber gefehen, daß der eigentliche Be⸗ 
weggrund Fein anderer war, als die Bitte um Erneuerung des 
Monopols der füßen Weine. Mit einer geiftreichen Antwort 
und tm beiten Sinne für Eifer jucht Bacon den Argwohn der 
Königin umzuftimmen: es könne ja beides recht wohl zufammen 
beftehen, der Menſch habe zwei Grundtriebe, er ftrebe nad 
Berpolllommnung wie das Eifen nad) dem Magnet, zugleich 
nad) Selbfterhaltung wie der Wein ua ber Stange, das 
the der Wein nicht aus Liebe zur Stange, fonbern um ſich 
aufrecht zu Halten. Wiederum habe er zwei feiner falfchen 
wohlgemeinten Briefe gejchrieben, den einen als von feinem 
Druder Anthony an Effer gerichtet, den andern als Antwort 
des letztern, worin biefer feine Gemüthsverfaffung fo ſchil⸗ 
dert, wie die Königin fie wünſchte. Die Königin habe die 
Briefe gelefen, aber fih nicht umftimmen laſſen; fie blieb er- 
zürnt gegen Eifer, übel gelaunt gegen Bacon, fie ließ ihn ftehen, 
ohne ihn anzureden, fie ſchickte ihn fort, wenn er in Geſchäfts⸗ 
fahen kam, bis er endlich es nicht länger ertragen und der 
Königin eines Tags offen gejagt habe, fie behandle ihn als 
„enfant perdu“, er ftehe zwiſchen Thür und Angel, viele von 
den Großen feien ihm ungünftig, weil fie meinen, er fei gegen 
Eifer, die Königin fei ihm abgeneigt, weil fie glaube, ex ſei 
für ihn. Eliſabeth babe darauf freundlich und beruhigend 
geantwortet, aber von Eifer kein Wort geſprochen. Dies war 
Bacon's letztes Geſpräch mit der Königin vor dem verhäng- 
nißvollen 8. Februar. 





\ 11 


Was zuleht feine Theilnahme an dem Hochverrathsproceh 
felbft betrifft, fo habe er ſich nicht unter die Ankläger gedrängt, 
fondern nur gethan, was Amt und Pflicht gefordert; zwiſchen 
dem Berhör und der Hinrichtung habe er die Königin nur ein- 
mal gefproden und ihre Gnade im allgemeinen angerufen, 
weil das Verbrechen zwar groß, aber die Gefahr Hein war; 
Eifer fei nicht zu retten gewefen, aber feiner Bemühung ſei 
e8 gelungen, einige der Angellagten zu befreien. 


3. Auftreten gegen Eſſer. 


Bacon plaidirte in dem Hochverrathsproceß ſelbſt ſchonungs⸗ 
108 gegen Effer, er trat im Laufe der Unterfuhung zweimal 
auf, um die Ausflüchte des Angeklagten abzufchneiden und 
zeigte die Schuld beffelben im ſchlimmſten Lichte. Da Effer 
feine That bald ala Abwehr gegen Raleigh, bald als der Kö⸗ 
nigin keineswegs feindfelig. darftellen wollte, fo verglich ihn 
Bacon erft mit Pififtretus, dann mit Heinrich Guiſe, zwei 
Beifpiele, die für Effer nicht gefährlicher gewählt fein konnten, 
denn fie gingen unmittelbar auf die Abficht der Uſurpation. 
Es gebe, fagte Bacon in feiner Rede, für den Angeklagten 
leinerlei Rechtfertigung, nur das einfache Bekenntniß der Schuld. 
Eher hatte dem Gerichtshofe gegenüber allerhand Ausweichun⸗ 
. gen und Digreffionen verfudht, er hatte, um Bacon in Ver⸗ 
fegenheit zu bringen, fogar auf jene falfchen Briefe hinge—⸗ 
wiefen, die ber Anfläger jelbft in feinem Intereſſe gejchrieben; 
Bacon, fagte Effex, könne ihn am beften gegen Bacon ver- 
theibdigen. Diefer ließ ſich nicht irre machen, und er war es 
Hauptfächlih, der den Angeflagten unerbittlich bei ber Sache 
fefthielt, nämlich bei dem unleugbaren Hocverrath. Nachdem 


72 . 


das Urtheil gefällt war, legte Eifer aus freien Stüden um⸗ 
faffende Geftändniffe ab und ftarb ſchlicht und ergeben. 


II. 
Das Ergebniß. 


Nach diefer Einfiht in die Lage und den Berlauf ber 
Dinge läßt fi Bacon's Verhalten gegen Eſſex objectiv wür⸗ 
digen, und da ftellt fi) das unbefangene und fachkundige Urs 
theil doch günftiger für ihn als die gewöhnliche Meinung ber 
Welt. Dan muß überhaupt die Freundfchaft beider nicht zu 
ideal auffaffen; es war nicht Dreftes und Pylades, fondern 
bei aller gegenfeitigen Neigung der Lord und der Advocat, ber 
Gönner und der Schügling; ihre Beziehungen gründeten fich 
zum großen Theil auf praktifche Intereffen, auf gegenfeitige 
gute Dienfte, wobei Bacon das Seinige in Rath und That 
geleiftet Hat und dem Lord nichts ſchuldig blieb, das ihn zu 
einem Ueberſchuß von Dankbarkeit verpflichten Konnte Das 
Berhältniß fteht nicht fo, daß wir auf ber einen Seite blos 
den Wohlthäter, auf der andern blos den Empfänger vor ung 
jehen. Bacon hat fich Eſſex gegenüber keine Unredlichkeit, Feine 
Untreue vorzuwerfen: er hat, wo er nur konnte und fo lange 
als möglih, die Sache bes Grafen gefördert nad feiner 
beiten Veberzeugung und in ber beften Abficht; auch wear 
diefe Weberzeugung mehr als blos gute Gefinmung, fie 
wer das richtigſte Urtheil, und Eſſer hätte in ber Welt 
nichts Beſſeres thun können, als Bacon's wohlgemeinte 
Rathichläge befolgen. Er that das Außerfte Gegenteil und 
ging den Weg des Verderbens. Es ift nicht zu zweifeln, daß 





73 


auch von Eſſex' Hochverrath Bacon genau die Meberzengung 
Hatte, die er ausſprach, und daß diefe Ueberzeugung richtig 
war. Es würbe ihm menfchlich fchöner geftanden haben, wenn 
er ber Verurtheilung bes frühern Freundes, die er nicht hin⸗ 
dern konnte, fern geblieben wäre, felbft auf feine Gefahr; wenn 
er nach der Hinrichtung durch das Gefallen, welches die Kö⸗ 
nigin an feiner Feder fand, fich nicht hätte beftimmen Laffen, 
jenen Federdienſt gegen Eſſex' Andenken zu verrichten, um fei- 
nerfeits der Königin zu gefallen. Er mochte es wünfchen, 
nachdem er durch feine Freundſchaft und Fürſprache für Eſſer 
mehr als einmal den Unwillen und felbft den Argwohn Eli- 
fabeth’8 erregt hatte. Wäre Bacon ein Idealiſt in der Freund⸗ 
fchaft und ein Rigorift in der Staatspflicht geweien, fo Fünnte 
man benfen, daß er fi in einem Conflict zwifchen Staats- 
pflicht und Freundſchaft befunden und die erfte, wie es nöthig 
war, erfüllt habe; aber ex war fein Pylades in der Yreunb- 
ſchaft und Tein Cato in bürgerlicher Tugend. Ein ſolches Ge⸗ 
präge hatte der Widerftreit nicht, in ben er geratben war. 
Für Eifer Ipra nur die Rüdfiht auf das frühere Verhält⸗ 
niß und anf das Urtheil der Leute, gegen Effer die Ueberzeu- 
gung von feinem Hochverrath und der Wunſch, der Königin zu 
‚gefallen. Diefe beiden lebten Interefien, das politifche und 
perfünliche, gaben den Ausichlag, der feine Haltung entfchieb. 
Die Welt hat feine Freunbespflichten gegen Eſſex überfchägt, 
feine Ueberzeugung entweder nicht gekannt oder zu gering an- 
geſchlagen und darum unbillig und oberflächlich geurtheilt, 
daß er aus bloßem Eigennutz die Freundſchaft fchnöbe ver- 
rathen habe. Man darf fi über ein foldhes Urtheil nicht 
wundern, denn die Freundſchaft ift allemal populärer als bie 
Staatspflicht. 


714 


Indeffen, wenn in Rückſicht auf Bacon's Verhalten gegen 
Eſſex die blinde Berdammumng aufhören foll, fo ift fein Grund, 
auf feiner Seite alles vortrefflih zu finden, wie Dixon in 
einem Aufwand von Advocatenfünften verfucht. Es fer nicht 
wahr, daß fi die Meinung der Welt gegen Bacon erklärt 
habe, der befte Beweis bagegen ſei, baß er in demfelben Jahre 
(October 1601) zweimal ins Parlament gewählt wurde für 
Ipswich und St.-Albans. Das ift gar Fein Beweis, denn ein 
ichledhter Freund kann immerhin ein brauchbares Parlamenis- 
mitglied fein; wenn Bacon's Name durch den Proceß und 
die Declaration gegen Eſſer moraliich gelitten hatte, fo Hatte 
er deshalb noch nicht feine parlamentariiche Geltung verloren. 
Das befte Zeugniß gegen Diron giebt Bacon felbft, der glei - 
in den erften Worten feiner Bertheibigungsichrift befeunt, er 
wiffe wohl und empfinde e8 ſchmerzlich, daß er wegen &ffer 
üble Nachrede leide und im „common speech” ber Falſchheit 
‚und Undanfbarkeit befchuldigt werde. 

Mon möge fagen, daß Bacon in feiner Anklage gegen 
Eſſer nad) richtiger Ueberzeugung gehandelt und feine Pflicht 
erfüllt Habe; daß er es aber in der mildeften Weiſe gethan, 
ift ebenfalls unwahr, denn er hat nicht. gebuldet, daß der hoch⸗ 
verrätherifche Charakter des Unternehmens, der Eifer ben Kopf. 
foftete, den Eleinften Zweifel oder Abbruch leide. Was war 
da noch zu mildern? 

Diron geht noch weiter; er verneint, daß Bacon dem 
Grafen Eſſex irgendeine Rüdfiht aus Freundſchaft ſchuldig 
war, denn Effer fei gar nicht fein Freund geweien, er babe 
ihm nichts Gutes, fondern nur Uebles erwiefen. Was Habe 
denn feine Fürſprache bei der Bewerbung um die Stantsämter 
ausgerichtet? Nichts und weniger als nichts! Denn ber über- 


75 


triebene Eifer und die Heftigleit, womit Eifer die Sache Ba⸗ 
con’8 betrieben, Habe gefchadet. Und nun lautet der Schluß, 
der gröber ift als fophiftifch: Effer war die Urfache, daß Bacon 
niht Staatsanwalt wurde, alſo war ihm Bacon nichts fehul- 
dig, fondern Hatte vielmehr allen Grund, fi) über Eifer zu 
beflagen. Das heißt die Freundſchaft nicht nad) ber wohlwol- 
lenden Geſinnung, ſondern blos nach dem Profit beurtheilen, 
der dabei abfällt. Wenn Bacon ebenſo dachte, ſo war er in 
dieſem Punkte genau fo ſchlecht, wie ſich die öffentliche Mei⸗ 
nung ihn vorſtellt. Freilich meint Dixon, es fei nicht Wohl- 
wollen gewejen, weshalb Eſſex ſich fo eifrig für Bacon be⸗ 
mühte, ſondern einfach Schuldigleit und Schuld im buchftäb- 
lichen Sinn, denn Bacon habe ihm jahrelang Dienfte geleiftet 
und Eifer bei feiner Verſchwendung Yein Geld gehabt, ihn zu 
entſchädigen, daher fuchte er ihn mit Staatsämtern zu be- 
zahlen. Diefe Ausflucht ift wiederum falfch. Bacon ſelbſt rühmt 
in feiner VBertheidigungsfchrift Eifer’ Freigebigfeit und erzählt von 
dem großen Gefchent eines Landgutes, das ihm jener gemacht 
und das werthuoller war, als die für jene Zeit beträchtliche 
Summe, die aus dem DBerlauf gelöft wurde. 

Mit einem Wort: wenn die Sache zwifchen Eſſer und 
Bacon fo geftanden Hätte, wie Diron fie giebt, indem er fie in 
alten Punkten entftellt, jo hätte Bacon entweder gar Leine oder 
eine andere Apologie geichrieben. 





Sünftes Kapilel. 
Bacon unter Jalob 1. 





J. 
Die nene Aera. 
1. Der König. 


Elifabeth, ohme leibliche Erben, hatte die Thronfolge nicht 
gefeglich geordnet. Kurz vor ihrem Tode wegen ber letztern 
befragt, gab fie eine Antwort, die nicht ganz in der Art 
Alerander’s war: „Sch will keinen Lump zum Nachfolger, mein 
Nachfolger muß ein König fein, unfer Vetter von Schottland.” 
Es war. der Iegitime Erbe ihrer Krone, der Sohn Maria 
Stuart's, Yalob VI. von Schottland, der als Jakob I. auf 
dem Throne Englands die Reihe der Stuarts beginnt, bie 
nach ihm noch drei gefrönte Häupter zählt, deren keines feine 
Regentenlaufbahn glücklich antritt und endet: der zweite Stuart 
wird enthauptet, der dritte aus der Verbannung zurüdgerufen 
und wieberhergeftellt, der letzte vertrieben; unter Karl I. der 
Bürgerkrieg, unter Karl II. die Wiederherftellung, unter Jakob II. 
die Revolution, womit die männligen Stuarts fir immer ayf- 
hören zu regieren. Unter Ialob I. wird ber Grund zu den 
Uebeln gelegt, welche die Nachfolger Teineswegs unfchulbig 





77 


treffen. In dem Zeitalter Elifabeth’8 und durch ihr Verdienft 
war England ein Staat erften Ranges geworden. Jalob ver- 
einigte unter feiner Krone die Reiche England und Schottland 
and nannte fih König von Großbritannien, das war nicht 
Berdienft, fondern Süd; nachdem er 22 Jahre regiert hatte, 
fagte die Welt: „Sroßbritannien ift Heiner als Britannien“, 
das war nicht fein Unglüd, fondern feine Schuld. 

Kaum fehlte etwas, dag in ber Berfon dieſes Könige 
erfüllt wurde nicht blos, was bie fterbende Eliſabeth in Be⸗ 
treff ihres Nachfolgers gewollt, fondern auch, was fie nicht 
gewollt hatte. Er war in allen Punkten ihr völlige Wider- 
fpiel: fie eine männliche Königin, er ein weibifcher Mann, an 
dem nichts Löniglich war: mittelgroß von Statur, beleibt, der 
Bart dünn, die Beine ſchwach, die Zunge breit, man fagte 
von ihm; „er ißt, wenn er trinkt”; von Regehtentalent und 
Kraft feine Spur, fein größter Affect war die Furcht, er zit- 
terte bei jedem Schuß und wurde ohnmächtig vor einem ge- 
züdten Degen, er war nervenſchwach von Natur, ohne Willens- 
zucht, nod) geſchwächt durch eigene Schuld, vielleicht durch Later. 
Er hatte fi den Kopf mit einer öden Gelehrſamkeit, nament- 
lich theologifcher Art, gefüllt, womit er Staat machte; er hörte 
gern, wenn feine Schmeichler ihn „den britiihen Salomo“ 
nannten, der franzöfifche Miniſter Sully nannte ihn „den 
weifeften Narren in Europa”. Theologiſche Vorftellungen 
hatten ihn dergeftalt benebelt, daß er ben königlichen Beruf 
wie in einem Dunſt ſah und für die großen und realen Auf: 
gaben befjelben weder Sinn noch Fähigkeit Hatte; fein Wahl- 
ſpruch war: „kein Biſchof, Fein König”, er Hielt die königliche 
Macht für einen Ausfluf ber göttlichen, die Könige feien bie 
Ebenbilder Gottes, daher ihre Macht duch nichts eingeſchränkt 


18 


werben dürfe. Er dachte abfolutiftifch und bespotifch, ohne die 
Einſicht und Kraft des Gebieters. Gr liebte das theologiiche 
Gezänt, außerdem bie Hahnenfämpfe und die Günftlinge. 
Ans jungen, unbebeutenden Leuten in ber kürzeften Zeit große 
und gefürchtete Herren zu machen: bas war bie einzige Art 
feiner Schöpfung, nur daß er dieſen Gefchöpfen feiner Gunft 
gegenüber uicht ber Meifter war, fondern die Creatur. Wenn 
eine gewifle körperliche Anmuth dem Könige in die Augen 
ftah, fo war der Anfang der großen Laufbahn bei Hofe ge- 
macht. Es bedurfte dazu Teines andern Talents. So ftieg 
Robert Carr, ein junger Schotte, den man fürmlich ausgeftellt 
hatte, damit der König ihn fehe; er wurde bald Viscount von 
Rocheiter, dann Graf von Somerfet und war in Turzem ber 
einfiußreichfte Dann Englands (1612); fein Freund Thomas 
Overbury, der ihn geiftig weit überfah, beherrſchte den König 
dur den Günftling. „Es gab eine Zeit”, jagt Bacon, „wo 
Overbury mehr von den Stantsgeheimniffen wußte als ber 
ganze Staaterath zufammen.” Carr's Verführerin und fpäter 
feine Frau, Lady Effer, eine Schwiegertochter des unglüdlichen 
Grofen, haßte Overburh und wollte ihn aus dem Wege räumen. 
Das Verbrechen gelang, Overburh wurde auf Befehl des Künigs 
verhaftet und im Lower duch das Ehepaar Somerfet vergiftet 
(1613); daraus entftand ein Proceß, den Bacon mit der größten 
Schonung gegen die Somerfets führte (1616). Nach dem Sturze 
Carr's kam ein zweiter Günftling, der alle Lebenspläne, ſelbſt 
feine Heirath aufgab, um die große Favoritencarriere zu machen, 
die ihm auch über alle Maßen glüdte: George Villiere, der 
1614 in den Dienft des Königs trat und wie im Fluge von 
Würde zu Würde emporftieg, er wurde Ritter, Baron, Vis⸗ 
count, Graf, Marquis, zuletzt Herzog von Budingham. 





19 


Seit dem Auguft 1616, wo ihn der König zu Woobftod in 
ben Reichsabel erhoben hatte, galt ex Öffentlich‘ ale Favorit. 
Er ließ ih von Bacon in einer Anweifung die Bedeutung und 
Pflichten feiner Stellung als „Favorit“ genau auseinander 
ſetzen, diefes Schriftftüd aus bem Jahre 1616, dem Inhalte 
nach ohne Zweifel echt, findet fich in den Werken Bacon’s.*) 
Leider hat dieſer Mann in dem Leben unjeres Philofopben 
eine ſehr verhängnißvolle und verberbliche Rolle geipielt. „Ba⸗ 
con’s enropäifcher Ruhm ohne gleichen”, ſagt Dahlmann, 
„icheiterte in den ſchumzigen Gewäflern Budingham’s.’ 


2. Die nene Politik, 


Unter Elifabeth wer die auswärtige Bolitit durchaus pro- 
teftantifch,, national, antifpanifch geweien; unter Jakob wurde 
fie das Gegentheil, eine ſchwächliche, halb katholiſch gefinnte, 
bem Nationalgeifte Englands widerſtrebende, Spanien zuge- 
wenbete Friedenspofitit. Ihn trieb Fein nationaler Gedanke, 
fein großer Staatszwed, ſondern das kleinlichſte Familien⸗ 
intereſſe. Au die Spige feiner auswärtigen Politik trat das 
Broject einer ſpaniſchen Heirath, von dem er nicht ablieh, 
ſtumpf gegen die Antipathien Englands, im Widerftreit mit: 
Den Iatereften des Landes; der Prinz von Wales wurde mit 
einer jpanifchen Infantin verlobt und Frieden mit Spanien 
geſchloſſen (1604); als Prinz Heinrich ftarb (1612), mußte 
der zweite Sohn Karl, der nachmalige König, an die Stelle 
des Berlobten treten, zuletzt war es Budingham, der bie 
fpanifche Heirath fcheitern machte. Jakob's Tochter Elifabeth,. 
die man die „Rönigin der Herzen” nannte, war (den 14. Fe⸗ 


*) The works (Spedding), vol. XIH, p.9 flg., p. 13—56. 


80 


bruar 1613) mit dem Kurfürften Friedrich V. von der Pfalz 
vermählt worden, ber Anfang des beutfchen Religionskriegs 
brachte ihr die böhmifche Königskrone, die nad wenigen Mo- 
naten verloren ging und mit ihr die Pfalz, Diefe cal 
viriftifche Heirath wurde in England als ein wohlthätiges _ 
Gegengift gegen die fpanifche willkommen gebeißen, bas Volt 
wünſchte, al8 der große Krieg auf dem Feſtlande ausgebrochen 
war, eine kraftvolle Unterftükung des deutfchen Proteftantismus, 
es fühlte die Solidarität der proteftantifhen Weltinterefien, 
aber Jakob dachte an nichts ale höchſtens an die Erhaltung 
der Pfalz. 

Aus grundlofer Angft für feinen Thron, aus feiger Ge⸗ 
fülligfeit gegen Spanien opferte er einen der größten Männer 
Englands: er ließ-den Helden Walter Raleigh in den Tower 
werfen, hielt ihn jahrelang gefangen und ſchickte ihn zuletzt 
auf dad Schaffot. Die beiden Schweftern Heinridh’s VIII. 
waren Margaretha, Königin don Schottland, die Großmutter 
der Maria Stuart, und Maria, Königin von Frankreich, nach 
bem Tode Ludwig's XII. mit dem Herzog Suffoll vermählt, 
bie Großmutter der Jane und Katharine Gray; der Enfel diefer 
letztern, William Seymour, hatte gegen ben Willen Salob’s 
fih mit Arabella Stuart, einer Urenkelin jener Margarethe 
Tudor, vermählt (1610); Jakob fürchtete eine mögliche Brä- 
tendentfhaft und ließ beide gefangen nehmen, Arabella Stuart 
ftarb im Zomwer (1615). Lange vorher, gleich im Anfange 
der neuen Regierung, war Raleigh in den Verdacht gelommen, 
er wirkte im geheimen für die Thronerhebung ber Arabella 
Stuart; ob der Verdacht gegründet war, bleibe bahingeftelft, 
er wurde auf Hochverrath angellagt und zum Tode verurtheilt. 
Vierzehn Iahre blieb er im Tower, bürgerlich todt, geiftig um 











8 


fo lebendiger und fortwährend thätig. Gelockt durch die Aus- 
fiht auf die Goldminen, die Raleigh in Guyana entdeden 
wollte, ließ ihn der König fein Glück verfuchen, aber machte ihm 
zur Pflicht, bie fpanifchen Befigungen nicht zu verlegen. Das 
Unternehmen fcheiterte, jene Bedingung war verleßt worden, 
unverrichteter Sache Tehrte Raleigh zurüd, und auf die For⸗ 
deruug bed fpanifchen Gefandten ließ der König jekt das vor 
fanfzehn Jahren gefällte Todesurtheil vollftreden. Raleigh 
wurde enthanptet in demſelben Jahre, wo Bacon zum Kanzler 
von England ernannt wurde (1618). 

Jakob's innere Politik war ebenfo erbärmlich und klein⸗ 
lich als die auswärtige. Eliſabeth hatte Geld gebraucht für 
wichtige Zwecke und eine Staatsſchuld hinterlaſſen; der Nach⸗ 
folger verjchwendete zwecklos die Staatsmittel, war fortwäh- 
rend in Geldnoth und half fich auf elende und gemeinſchädliche 
Weite, er verkaufte die Domänen, erhöhte die Zölle, bewahrte 
die Monopole, handelte mit Adelspatenten, deren jedes feinen 
Preis hatte, umd gründete um des Geldes willen ben foge- 
nannten Baronetsadel (1611), Das Uebel der Monopole 
Hatte ſchon unter Elifabeth beſtanden; auch hatte fie in den 
fetten 15 Iahren ihrer Regierung aus bem Glauben ihrer 
katholiſchen Unterthanen eine Binanzquelle gemacht und den 
fogenannten Recujanten den Nichtbejuch der Staatsfirche für 
eine drüdende Steuer verfauft. Bon dem Sohne ber Maria 
Stuart hofften jest die Katholiken Abhälfe, aber Jalob fand 
die Steuer viel zu angenehm, um fie abzujchaffen; dies ver- 
ftimmte bie Tatholifche Partei und wirkte mit unter den An- 
trieben zu ber fogenannten Pulververſchwörung (1605), die, 
bei Zeiten entbedt, für den König die günftige Folge hatte, 
daß feine bereits finkende Popularität ſich wieber hob. 

Fifſcher, Bacon. 6 


ı. 
Bacom's Stellung. 
1. Annäherung an bad nene Regiment. 


Als Jakob den Thron beftieg, Hoffte alle Welt auf gute 
Zeiten, niemand beftritt die Rechtmäßigkeit feiner Erbfolge 
und es gab ihm gegenüber weder eine Prätendentſchaft noch 
eine Partei. Nirgends ſeien Unruhen zu befürchten, fchrieb 
Bacon an Robert Kempe gleih nach dem Tode Elifnbeth’s, 
die Bapiften jeien duch Furcht und Hoffnung im Zaum ge- 
halten, Furcht hätten fie genug, Hoffnung zu viel.“) Wäb- 
rend bie alte Königin noch Iebte, dienten fchon in der Stille 
manche der erften Männer ihres Hofs dem neuen Herrn und 
zeigten fi in Edinburg hold und gewärtig, vor allen Robert 
Cecil und der Graf Northumberland. Eſſex' Freunde und 
Anhänger, deren Leben verfchont geblieben, hatten von dem 
neuen Könige ihre völlige Wiederherftellung zu hoffen, vor 
allen der Graf Southampton. Gleich in den erften Zeiten 
der neuen Aera wurbe es, wie Sully behauptet, am Hofe 
Mode, geringſchätzig von Eliſabeth zu ſprechen. Bacon’s 
Better Robert Cecil ftieg empor, er wurde Graf von Salis- 
bury, Lordſchatzmeiſter und blieb bis zu feinem Tode (1612) 
der leitende Staatsmann. | 

Unter denen, welche fich dem neuen Könige etwas haſtig 
zu nähern und feine Gunft zu gewinnen fuchten, war aud 
Bacon, der mandherlei Wege probirte, um diefes Ziel zu 


*, The works (Spedding), vol. X, p. 74. 


83 


erreichen; er ſchrieb an Perfonen des fchottifchen Hofs, mit 
denen jein Bruder in Effer' Dienften fchon brieflich vertehrt 
hatte, empfahl fich dem Wohlwollen Cecil's, bot feine Dienfte 
Rorthumberland an, fehidte biefem den Entwurf einer Bro- 
clamation, die an das Volt zu richten dem Könige gut fcheinen 
fünne, und begrüßte endlich Jakob ſelbſt in einem eigenen Hul- 
digungsfchreiben, worin er die Schmeichelei zu weit trieb: Eli- 
fabeth fei glücklich gewefen in vielen Dingen, am glücklichſten 
darin, daß fie einen folchen Nachfolger habe! Er reifte fogar 
denn Könige entgegen (den 7. Mai 1603) mit einem Briefe 
Northumberland's und hoffte auf eine befondere Aubienz, die 
Jakob nicht ertheilte. Indeſſen hatte er ben König gefehen, 
und Die Art, wie er die Perſon deffelben in einem Berichte an 
Rorthumberland fchildert, zeigt, daß er verblendet genug ur- 
teilte, wenn wirklich alles, was er fagte, aufrichtig ge- 
meint war. . 

Southampton empfing von allen Seiten Beſuche, die ihn 
perfönlich zu feiner Befreiung (den 10. April 1603) beglüd- 
wünſchten; Bacon mochte nicht zurüdbleiben, und da ein rich⸗ 
tige® Gefühl ihn abhielt, perfünlich zu erjcheinen, fo fchrieb 
er dem Lord einige Zeilen der freudigften Theilnahme, worin 
er feierlich verfidherte, daß dieſer große Wechſel der Dinge 
in feinen Gefinuungen gegen Southampton feinen andern 
Wechſel zur Folge habe, als daß er jett mit Sicherheit 
fein könne, was er fon vorher in Wahrheit gemwefen jet. 
„J may safely be now that which I was truly before.” 
Die Aeußerung ift bezeichnend und Teine Heuchelei. Sout- 
hampton Hatte an Effer’ Plänen theilgenommen, er war 
in den Broceß verwidelt, und es giebt in Bacon's Declaration 
einige Stellen, die feine Mitſchuld erleuchten; doch ift es wahr- 

6 u 





84 


ſcheinlich, daß Bacon dazu beigetragen hat, den Zorn ber Kö⸗ 
nigin gegen ben jungen Grafen zu befänftigen und fein Schid- 
fal zu mildern. Jetzt, wo Eſſex' Freunde wieder enıporlamen, 
ſchien e8 Bacon gerathen, fein früheres Verhalten in jener 
Bertheidigungsichrift an Lord Montjoy öffentlich zu rechtfer⸗ 
tigen. 


2. Heirath. Aemter und Würden. 


Den 23. Juli 1603 wurde Jakob gekrönt. Den andern 
Tag ertheilte er einer Menge von 300 Perſonen ben Ritter⸗ 
Schlag, darunter war Bacon, ber diefe Ehre zwar gewünfct, 
aber e8 lieber gejehen hätte, fie nicht als einer unter vielen, 
„merely gregarious in a troop“, wie er an Cecil ſchrieb, 
fondern durch die Art der Ertheilung als perſönliche Diftine- 
tion zu empfangen. Die Verfchleuderung des Titels hatte ben 
Werth, Ritter zu heißen, fehr vermindert, indeffen find Teere 
Titel nicht die einzigen werthlofen ‘Dinge, woran weibliche 
Eitelkeit Gefallen findet, und bie Frau, die Bacon heirathen 
wollte, mochte e8 gern fehen, wenn ber Mann „Sir Francis“ 
genannt wurde. „Ich habe eines Aldermans Tochter, ein hüb- 
ſches Mädchen nad meinem Gefallen gefunden”, bemerkt 
Bacon in jenem Briefe an Cecil unter den Gründen, weshalb 
er den heruntergefommenen Titel der NRitterfchaft nicht ver- 
Ihmähe. Diefes Mädchen hieß Alice Barnham, ihr Vater 
war Kaufmann und Alderman in Cheapfide gewefen, jekt war 
fie die Stieftochter eines gewiffen Palington, als ſolche Hatte 
fie Bacon gerade damals kennen gelernt. Die Ehe wurde den 
10. Mai 1606 geichloffen, fie blieb Tinderlos und Teineswegs 
fo glücklich, als Rawley fie bezeichnet, denn Bacon hat feine 
letztwilligen Verfügungen zu Gunften der Frau in einem Codt- 


85 


cill widerrufen ‚for just and great cause”, und da bie 
Frau bald nach feinem Tode einen ihrer Diener betrathete, fo 
darf man annehmen, daß jener Beweggrund einer der fihlimm- 
ften war. Sie ift erft 24 Jahre nach dem Tode Bacon’s 
gefterben.*) 

Bacon's öffentliche Laufbahn ftieg unter Jakob fchnell 
empor und nahm befonders unter Buckingham's Einfluß einen 
glänzenden Aufſchwung. Sechsmal hat ihn der König in 
Aemtern (offices), dreimal in Würden (dignities) befördert. 
Unter Elifabeth war Bacon königlicher Rath ohne Befoldung 
geweien, Jakob beftätigte ihn in diefer Stellung und fügte eine 
Beſoldung von 40 Pfund Hinzu, außerdem gab er ihm eine 
Benfion von 60 (1604). Drei Iahre fpäter (den 25. Juni 
1607) wurde Bacon solicitor general, welches Amt er drei- 
zehn Iahre vorher mit fo vielen Hoffnungen und Bemühungen 
umfonft gefucht Hatte; es war das erſte Staatsamt, das er 
befleibete, ımd ex war über 46 Sabre, als er e8 erhielt. Den 
27. October 1613 ernannte ihn der König zum Generalfiscal; 
fo hatte Bacon bie Stelle erreicht, die er vor 20 Jahren zuerft 
begehrt. Damals hatte Eſſex' Fürſprache nichts ausgerichtet 
gegen Eduard Cole's Bewerbung. Bon jebt an fegelt Bacon 
mit Budingham’s Einfluß; dem mächtigen Günftlinge, dem 
Jakob nichts abfchlägt, hat er es zu danken, daß ihm bie 
Wahl freigeftellt wird zwiſchen der Ernennung zum Stante- 
rath unb ber Anwartihaft auf die Stelle des Siegelbewahrers, 
fobald fie erledigt fein wird. Da er das Sichere dem Künf⸗ 
tigen vorzieht, fo wählt er das erfte und wird ben 9. Juni 
1616 Mitglied des geheimen Raths. Den 3. März 1617 


*) The works (Spedding), vol. X, p. 78—81. Bgl. The works 
ed. by Montague, vol. XXI, 102 flg. 





86 


legt Lord Bradley fein Amt ale Siegelbewahrer aus Kränk⸗ 
lichkeit nieder, wenige Tage fpäter erhält es Bacon und fchreibt 
am Tade feiner Ernennung (7. März) einen Brief voll über- 
fließender Dankbarkeit an Buckingham. Sekt ift er, was fein 
Bater war, Bewahrer des großen Siegels von England; ben 
4. Sanuar 1618 wird er Großlanzler. Nach feierlihem Ein- 
zuge hält er in Weftminfterhall feine Antrittsrede als Siegel- 
bewahrer, den 7. Mai 1617. Da der König damals mit 
Buckingham auf einer Reife nad Schottland abwejend war, 
fo Hat ihn Bacon, als der höchſte Stantsbeamte Englands, 
zu vertreten, er tft gleichſam Protector, hält Hof und empfängt 
im Namen bes Königs die fremden Gefandten im Banketſaal 
zu Wbitehall. Als er in prächtigen Aufzuge feine Wohnung 
in Gray’s Inn verließ, um nad Wefitminfter überzufiebeln, 
fagte einer feiner frühern Eollegen der Rechtsinnung: „Wenn 
wir nicht bald fterben, fo werben wir ihn hierher zurüdlehren 
fehen in einer fehr befcheidenen Equipage“, eine traurige Pro⸗ 
phezeiung, die wohl noch ſchlimmer, als fie gemeint war, er⸗ 
füllt wurde. 

In feiner amtlichen Laufbahn Hat er den Gipfel erreicht, 
8 fehlt noch feine Aufnahme in den Reichsadel, die Erhebung 
zum Ber. Der erfte Grad ber Lorbfchaft ift Baron, der 
zweite Biscount; noch in demjelben Sabre, als Bacon Kanzler 
geworben, wird er Baron von Berulam; in den erften Tagen 
bes Yebruar 1621 erhebt ihn der König feierlich vor verfam- 
meltem Hofe zum Viscount don St. Albans. Es ift nicht 
rihtig, wenn man ihn, wie gewöhnlich gefchieht, „Lord Bacon 
von Berulam” nennt, denn der Name Bacon verhält ſich zu 
Berulam oder St. Albans wie Cecil zu Burleigh, oder Pitt 
zu Chatam: er heißt Francis Bacon, er nennt fich feit 1603 


87 » 


Sir Francis Baron, feit 1618 Fr. Verulam, feit 1621 Fr. 
St. Albans, 

Kurz vorher, den 22. Sanuar 1621, hatte er in der 
Mitte zahlreicher Freunde und Bewunderer fein jechzigftes Jahr 
voliendet, bald barauf, den 9. Februar 1621, wurde das neue 
Parlament eröffnet, zu deſſen Berufung er ſelbſt gerathen 
hatte, und in wenigen Wochen fah fi Bacon von der Höhe 
des Glüds herabgeftärzt in ſchmachvolles Elend. 


Sechsles Kapitel. 


Bacon’ üffentliche Laufbahn. Ber Weg zur Höhe umd 
zum Sturz. 





L. 
Die Parlamente unter Jakob vor To. ks12. 


Daß Bacon Staatsrath, Stegelbewahrer, Kanzler, Lord 
wurde, diefe glänzenden und Iehten Stufen feiner Laufbahn 
(1616—21) fehuldet er zum großen Theil der Gunft bes 
Günftlings, wogegen der erfte Abfchnitt vom bejolbeten Rathe 
des Königs bis zum Generalfiscal (1604—13) auf Verdienften 
beruht, die ſich Bacon durch feine parlamentarifche Haltung 
um bie Krone und den König erwarb. Weberhaupt muß man, 
um Bacon’s Laufbahn und Sturz ſich verftändlich zu machen, 
den politifchen Charakter der Zeit und den Entwidlungsgang 
der Parlamente unter Yalob etwas näher ind Auge fallen. 
Dem Barlamıente, welches feinen Sturz berbeiführte, waren 
feit dem Anfange der neuen Regierung drei borangegangen: 
das erfte, durch längere Vertagung unterbrochen, dauerte vom 
19. März 1604 bis zum 4. Juli 1607; das zweite trat den 
9. Februar 1610 zufammen unb wurde nad) einem Jahre (den 
29. Februar 1611) aufgelöft; daſſelbe Schidfal erfuhr fchon 
nad) zwei Monaten das dritte, im April 1614 eröffnete Bar- 


“» 


89 


lament. Wenige Tage vor dem Schluſſe des erften, worin 
Bacon Ipswich vertrat, wurde er Generalanwalt, einige Mo⸗ 
nate vor der Eröffnung des dritten, worin er Mitglied für 
Cambridge war, wurde er Generalfiscal; er hatte fih um 
beide Steffen nachdrücklich und wiederholt beworben; daß er 
fie erhielt, war eine Folge davon, daß der König feine Dienfte 
ſchutzen gelernt. 

Das Thema der parlamentarifchen Bewegung unter Ialob 
war fon der Kampf um die englifche Freiheit, der immer 
offener und betonter auftretende Gegenſatz zwifchen ben Volks⸗ 
md Kronrechten, den Privilegien der Gemeinen und den Prä⸗ 
rogativen der Krone. Daß die leitenden Staatsmänner, wie 
Cecil, nicht bei Zeiten die richtige Ausgleichung zu Enden 
wußten, noch weniger die Günftlinge, wie Somerfet und 
Budingham, am wenigften ber König felbft, das hat Englands 
AZuftänbe von innen heraus dergeftalt exfchüttert und aufgeldft, 
daß der Thron, welden der Nachfolger Jakob's beftieg, zu⸗ 
ſammenbrach. Man konnte den Sturm vorausfehen, er war 
ſchon im Anzuge, und es gefchah nichts, ihn zu hemmen und 
zu befchwichtigen; immer mehr umwöllte ſich ber politiſche 
Horizont, immer grollender wurde bie Stimmung bes Parla- 
ments, immer heftiger ſchwoll der Strom des öffentlichen Un- 
willens gegen Hof und Regierung, er wollte zulett fein Opfer 
haben und verfehlang den Mann, ber durch feine Eimficht ein 
Retter werben Tonnte, aber leider die Charafterftärke nicht 
hatte, dem Verderben ernfthaft Wiberftand zu leiſten, und da⸗ 
durch ſelbft in die Zahl der Schuldigen gerieth, unter denen 
er ſicher nicht der Schulbigfte war. Diefes Opfer war Bacon. 

Die öffentliche Lage, worin von Anfang an König und 
Barlament einander gegenüberftchen, 1% ſich mit wenigen 


90 


Worten ſchildern, ſie war für die Krone ſchlimm und mußte, 
je länger fie dauerte, um fo ſchwieriger und gefährlicher wer⸗ 
den: der König Hat Schulden und das Parlament Beſchwer⸗ 
den, der Staatsſchatz ift leer und bie Hülfsquellen find in der 
Hand des Parlaments, die Beichwerden des Landes find nicht 
weniger zahlreich, nicht weniger drüdend als die Schulden 
der Krone. Der König fordert Geld, das Parlament Abftel- 
Inng der Misbräuche, es knüpft die Leiftung an die Gegen: 
feiftung: das ift der große Handel („great contract“), ber 
fi), wie der rothe Faden, durch die Gejchichte ber Parlamente 
unter Jakob hindurchzieht. Der König bat nur fi, feinen 
Bortheil, das Geld und bie Doctrin des Abſolutiomus im 
Sinn, die nie leerer tft, als wenn die Tafchen auch leer find; er 
verfpricht Abhülfe, ohne fie zu gewähren, ohne fie eruftgeft 
zu wollen, ex ift freigebig nm mit Worten, wenn bie Sache 
nicht rüdt, fo ſchickt er eine Botfchaft oder Hält eine Rede 
und meint mit einem speech die Dinge ins Gleiche zu bringen. 
Darüber wird das Öffentliche Misvergnügen immer ärger, 
immer größer bie Zahl der Beſchwerden, immer länger biefer 
Hebelarm, ben bie Volkspartei in ber Hand hält. 


1. Das erſte Parlament (16047). 


An den Fragen, welche das Parlament von 16047 be 
fhäftigen, nimmt Bacon einen jehr thätigen und berborragen- 
den Antheil, ex tft Mitglieb fait aller Ausſchüſſe. Zwei 
Hauptfragen find von ber Regierung in den Vordergrund ge 
ftelit, die den König perfönfich angehen: die Kronſchulden und 
die Realunion zwiſchen Englend und Schottland. Bacon ars 
beitet für die Sache bes Königs; ımter feiner Mitwirkung 
geht die Subfibdienbill 8 dagegen kommt bie Union nicht 


9 


zu Stande. Der König wänfdhte die volle Bereinigung beider 
Länder, die unbeſchräukte Naturalifirung aller Schotten: in 
biefer Frage lag die Schwierigkeit. Man fürchtete Gefahren 
für England, namentlich die ber Liebervöllerung; Nicholas 
Auller jprach gegen die unbefchränkte Naturalifirung, Bacon 
dafür. Daß ein Schotte König von England geworben, fagte 
Fuller, mache aus Schottland noch Fein englifches Land und 
ans ben Schotten Teine Engländer; eine folche Bereinigung 
wäre eine Heirath zwifchen Arm und Reich, bie nicht unglei« 
her fein Tünne. Den 17. Februar 1607 hielt Bacon feine bes 
rühmte Rede für die Realunion der beiden Länder im Sinne 
des Königs: man müfje die Sache politifch anſehen, nicht 
blos kaufmänniſch, von Schottland ſei ein wachfender Men- 
ſchenzufluß nicht zu fürchten, England fei reich und Teines- 
wegs übernölfert, eine Zunahme feiner Bevöllerung drohe Teine 
Berminberung feines Reichthums, e8 bedürfe der Sicherheit mehr 
als bes Geldes, die Naturalifirung der Schotten verftärfe die 
Sicherheit, erhöhe die Wehrkraft des Landes, und von jeher 
feien die eifernen Männer bie Herren der goldenen geivefen. 
Die Rebe machte großen Eindrud, aber fette bie Sache nicht 
durch, auch der König fuchte vergeblich durch eine Anfprache 
bie Meinungen zu gewinnen. ‘Die Union follte noch nicht be- 
gründet, ſondern erft vorbereitet werben, indem man zunächft 
bie hinderlicden umd entgegenftehenden Gefee ans dem Wege 
räumen und den Boden eben wollte, 

Eine Reihe von Beichwerben waren im Haufe der Ge- 
meinen laut geworben, folche Kronprärogative betreffend, bie 
dem. Gemeinwohl ſchädlich unb in ber Ausähung misbräud- 
lich erfhienen: dahin gehörte vor allem das Recht ber Vor⸗ 
mundichaften, die Ertheilung ber Dionopole und Dispenfe, bie 





92 


Lieferungen für ben königlihen Haushalt, die der König auf 
feinen Reifen zu forbern hatte und durch fogenannte „pur- 
veyors“ eintreiben ließ; war die Laft folcher Lieferungen fchon 
drüdend genug, fo war die Art der Eintreibung noch drüden- 
der und bie zur Plünderung ansgenrtet, denn jene „purveyors“ 
verfuhren ganz wilffürlich in Rückficht ſowohl der Menge als 
der Qualität ber Gegenftänbe, die fie wegnahnten; fie waren 
wie ſich Bacon felbft gegenüber dem Könige ausdrüdte, nicht 
blos „takers”, fondern auch „taxers”. Bacon war Mitglied 
des Ausfchuffes, der mit diefer Frage fich zu befchäftigen Hatte, 
und erftattete Bericht an das Haus; es wurbe eine Petition um 
Abftellung befchloffen, die Bacon dem Könige überreichte, wo⸗ 
bei er in feiner Rede hervorhob, daß feine Laft für das arme 
Bolt fo drüdend fei, keine Beſchwerde fo allgemein, beftändig 
und bitter empfunden werde. Der König verfpradh Abhülfe, 
aber es war ihm nicht Eruft. 


2. Das zweite Parlament (1610-11). 


Bald find die Geldmittel des Königs wieberum erfchöpft 
und die Berufung eines neuen Parlaments zu neuen Bewilli- 
gungen notbwendig. Im Februar 1610 tritt es zufammen, 
der König fordert 600000 Pfund „supplies” zur Bezahlung 
feiner Schulden und 200000 Pfund für den Staat. Eine 
ſolche Eontribution mitten im Frieden ift ohne Beifpiel; als 
GSegenleiftung (Retribution) wird bie Abftellung aller gerechten 
Beſchwerden in Ausficht geftellt. Der gänftige Moment für 
den großen Bertrag zwifchen Krone und Parlament fcheint ge- 
fommen: ber Krone follen die Prärogative abgelauft werben. 
Der König hat nur das Interefie, fo theuer als möglich zu 
verfaufen; das Haus der Genreinen bagegen will fo viele Laften 


93 


als möglich ablöfen, ohne deshalb die finanzielle Grundlage 
der Krone fo zu geftalten, daß fie in Zukunft die Hülfe des 
Barlaments nicht mehr braucht, denn dies hieße die Krone 
völfig unabhängig machen und die englifche Freiheit jelbft in 
den Kauf geben. Damit bei dem großen Handel nichts über: 
fehen werde, müſſen die Beichwerden genauer als je gefam- 
melt, die dem Gemeinwohl fchädlichen Vorrechte der Krone 
forgfältiger als je unterfucht werden. Man fordert die Auf- 
hebung aller auf die Feubalherrlichleit bes Königs und dem 
alten Lehnsftant gegründeten Prärogative, man unterfucht das 
Hecht, welches die Krone beayiprucht und ausübt, die Aus⸗ 
fuhr und Einfuhr der Waaren zu befteuern. Diefe Trage 
fteigert und fchärft die Spannung. Den 12. Mai 1610 er- 
Hält der Sprecher eine Botfchaft, die dem Haufe verbietet, über 
das Tönigliche Hecht ber Wanrenbeftenerung Verhandlungen zu 
führen. Die Botfhaft wird dem Haufe mitgetheilt, als ob 
fie vom Könige käme; in ber That kommt fie, da der König 
abwejend ift, nicht von ihm direct, fondern vom Staatsrath. 
Das Haus verbietet dem Sprecher, künftighin eine ſolche Bot- 
fchaft anzunehmen. Umfonft jucht Bacon, diefen Beſchluß zu 
hindern, er möchte das Hans von der Formfrage auf die Sache 
zurüdführen und überzeugen, daß allerbings der König das 
Recht habe, Verhandlungen, die ihn oder die Krone fpeciell 
angeben, zu.hindern; dies habe Elifabeth gethan, als ihre Ver- 
mählung in rege kam, die katholiſche Marie, als das Par- 
lament eine Angelegenheit berübrte, bie ihre ‘Diener betraf. 
Indeſſen Tag in diefem Falle die Sache anders, es handelte 
fi) um die Privilegien des Haufes, um den Schu der Volks⸗ 
rechte und des Gemeinwohls, nur der König felbjt darf eine 
Botihaft an das Haus durch den Sprecher richten; wenn dieſe 


94 


Form umgangen wird, fo tft ein Privilegium des Hauſes ver- 
fett. Wenn das Haus nicht mehr das Recht Haben foll, über 
die Vorrechte der Krone zu verhandeln, wie foll es noch das 
Bermögen haben, die Freiheit der Unterthanen zu ſchützen? 
Wenn das fogenannte Recht der Töniglichen Auflagen unbe- 
ftritten und unbefchräuft zu gelten hat, fo Tann der König, 
mit einer folden Macht ausgerüftet, das Parlament überhaupt 
entbehren. Daher handelt e8 fih Hier um eine Eriftenzfrage 
des Parlaments, um das Rechtsverhältnig zwiichen Krone und 
Haus, zwifchen der Souveränetät des Königs und der Frei- 
beit der Unterthanen. Das Parlament muß das Recht haben, 
alle Fragen und alle Materien zu verhandeln, die das Recht, 
das Gemeinwohl, die Öffentlichen Zuftände betreffen; unter 
biefen Materien giebt es Feine, die nur den König angeht. 
Diefes Recht ift zu wahren. Mit aller Mäßigung und aller Ent- 
schtedenheit wird in biefem Sinne eine „petition of .right“ 
aufgelegt und dem Könige zu Greenwich den 24. Mai überreicht. 
Jet ift aus den Specialfragen bereits eine Brincipienfrage 
der Art geworben, wie fie Revolutionen vorausgehen. Solche 
Fragen muß eine weife und vorfichtige Regierung geſchickt zu 
vermeiden wiffen. Diefe Einficht fehlte dem Könige und feinen 
Rüthen. Dean ließ die Spannung wachen und unbenugt ben 
günftigften Augenblid vorüber gehen, ber fie mildern fonnte mb 
ganz geeignet war, König und Parlament einander zu nähern, 
denn die Verhandlungen fielen gerabe in die Zeit, wo ber 
Meuchelmord Heinrich’8 IV. die proteftantifche Welt entfekte. 
So hatte vor fünf Jahren während der Zeit des erften Barla- 
ments die Entdedung der Pulververſchworung (den 5. November 
1605) auf die Stimmung im Haufe ber Gemeinen einen mäd- 
tigen, dem Könige günftigen Einfluß geübt, gerade in einem Mo- 








95 


ment, wo diefem eine Stärkung der loyalen Affecte jehr ge- 
fegen fam. Jetzt, wo bie Berhältniffe ſchon fchwieriger lagen, 
Hätte bei der beftändigen Furcht des Landes vor den ftantöge- 
fährligen Machinationen der Tatholtichen Partei das Ereigniß 
in Frankreich einen ähnlichen Einfluß üben können, wenn man 
verftanben Hätte, den Moment zu brauchen. Aber Eecil hatte nicht 
bie Stoatöffugheit feines Vaters. 

In der Sache des „great contract” wurde nichts ausge: 
richtet. Der König wollte die ritterlichen Güter von den Feudal- 
Iaften befreien und frug, welchen Preis dafür die Gemeinen zu 
zahlen gefonnen jeien. Das Haus bot 100000 Pfund jährlich, 
Es wurde geantwortet: man habe den König misverjtanden, es 
handle fi) zunüchſt nicht um die Entſchädigungsſumme, die nach 
dem Maße ber Einbuße zu leiften fet, fondern um ben Preis, 
für welchen der König fich wollte willig finden Laffen, überhaupt 
auf die Sache einzugeben; es handle fich erft um ben Abkauf des 
Prärogetivs, dann um ben Gegenftand deffelben; der Künig 
fordere für die bloße Rechtsentäußerung 200000 Pfund jährlich, 
bie weitere Frage fei die Entſchädigung. Das Haus war am 
Ende bereit, diefe Summe zu leiften unter der Bedingung, daß 
die Befchwerdenfrage erlebigt werde; aber die Hofpartei fand, daß 
ber König dabei zu kurz komme, man wollte beredmet haben, daß 
diefe Summe nur erſetze, was der König materiell an Einkünften 
anfgebe. So konnte eine Einigung nicht erreicht werden. Das 
Barlament wurde den 29. Februar 1611 aufgelöft; ber König war 
änßerft verftummt, feine Finanzlage fchlimmer als je, bie Kaſſen leer, 
die Geſandten felbft fonnten nicht bezahlt werben, auch eine An- 
leihe war unter.diefen Umftänden nicht möglich, die Geldverlegen⸗ 
beiten des Königs lagen fo offen, daß alle Welt davon ſprach. 

As Cecil ftarb (ben 24. Mai 1612), betrug bie Staats⸗ 





96 


schuld eine halbe Million und das Deficit 160000 Pfund. Der 
Platz des Staatsfecretärs und Yinanzminifters war erledigt, int 
Rathe des Königs fand ſich niemand, der fühig war, die Keitung der 
Geſchäfte zu übernehmen. Bacon bot fich dem Könige zum Staats⸗ 
fecretär an, und die Geſchichte Englands, fo meint man, würde 
vielleicht einen andern Lauf genommen haben, wenn Bacon unter 
Jakob hätte fein dürfen, was Burleigh unter Elifabeth war; frei- 
Lich, ſetzt Spedding Hinzu, hätte Jakob dann Elifabeth fein müffen, 
womit die Bedingung, unter der Bacon als reitender Staats- 
mann auftreten fonnte, in das Reich der Unmöglichkeit verſetzt ift. 
Der König gab ihm die Stelle des Staatsfecretärs nicht, aber er 
ließ fi) gern von ihm berathen, und die Bedeutung, bie Bacon 
nad) Secil’8 Tode am Hofe gewann, ift ungleich größer als vorher. 


3. Das dritte Parlament (1614). 


Um der unerträglichen Lage ein Ende zu machen und bie 
Sinanzfrage zu löſen, rieth Bacon dem Könige die Berufung 
eines neuen Parlaments und entwarf dazu Plan und Vorbe⸗ 
reitung. Die Berufung gefchah im Yebruar 1614. Die Aus- 
fihten waren keineswegs günftig, das Wahlrefultat im März 
ergab zwei Drittel ganz neue Mitglieder. Der neue Staats⸗ 
fecretär Ralph Winwood, der die Sache der Regierung imt 
Haufe der Gemeinen vertreten follte, war in parlamentarifchen 
Dingen ganz ungeübt und unerfahren. Auch Bacon's An- 
jehen war nicht mehr das alte. Gleich nach der Eröffnung 
des Parlaments, bei der Unterfuhung der Wahlen, wurbe 
gegen die feinige das Bedenken laut, ob ein Generaffiscal 
(er war es feit Ende October des vorigen Jahres) zugleich 
Parlamentsmitglied fein dürfe, ob feine Pflicht im Dienſte 
des Königs fo viel Unabhängigkeit übrig laſſe, als die Stel- 





97 


{nung im Parlament fordere; man fand dafür keinen Präcedenz⸗ 
fall, aber e8 gab Analogien genug: warum follte der attorney 
general nit Mitglied des Parlaments fein dürfen, wenn doch 
der solicitor general es ohne alle Bedenken gewefen war? 
Das Haus beſchloß, Bacon's Wahl gelten zu laſſen, doch 
ſollte künftig ber Generalfiscal des Königs nicht mehr wähl- 
bar fein. Es war kein gutes Vorzeihen. Man konnte fehen, 
daß diefes Parlament auf feine Unabhängigkeit ſehr eiferfüchtig, 
gegen regierungsfreundliche Einwirkungen fehr argwöhnifch, für 
Bocon’3 Einfluß wenig empfänglich fein werde. Dazu kam 
ein Umftand, der die mistrauifche Haltung des Parlaments 
aufs äußerfte reizte: frühere Oppofitionsmitglieder unter der 
Führung von Henry Neville hatten ſich vereinigt, der Sache 
der Krone im Parlamente zu dienen, und ftanden zu bdiefem 
Zwede mit dem Könige in unmitelbarem Verkehr. Nachdem 
jchon das vorige Parlament beftimmt hatte, daB außer dem 
Sprecher kein Mitglied des Haufes mit dem Könige ummittel- 
bar über PBarlamentsfachen verhandeln dürfe, erfchienen dieje 
„ündertakers”, wie man fie nannte, als Feinde im eigenen 
Haufe. Ein Sturm des Unwillens brach gegen fie los, den 
Bacon muſonſt zu beichwichtigen fuchte; übrigens Hatte er von 
vornherein die ganze Unternehmung wiberrathen und von einer 
folhen Einmiſchung des Königs in den parlamentarifchen Ver⸗ 
Schr nichts Gutes erwartet. 

Se der Hauptjache kehrte das alte Spiel wieder, der alte 
Handel, nur ſollte diefes mal der äußere Schein des Schachers 
vermieben werden. Der König follte Freiheiten und Erleich⸗ 
terungen bewilligen, Vorrechte aufgeben aus freier Bewegung, 
richt um der Subfidien, fondern um des Gemeinwohls willen; 


das Haus jollte die Subfidien gewähren ebenfalls aus freier 
Fiſcher, Bacon. 7 


98 


Bewegung, aus" Sorge für das Staatswohl, denn der Schaf 
fei leer und die äußeren Gefahren drohend. Im Grunde war 
es nichts anderes als Angebot und Gegengebot. Bacon rieth, 
daß in demſelben Ausfchuß beide Fragen „pari passu“ be- 
handelt würden. Ex ſprach für die Subfidienbill, fie ſei noth- 
wendig in ſich, ganz unabhängig von den königlichen Ge⸗ 
währungen, das Land brauche Gelb, es fei bedroht durch eifer- 
füchtige Nachbarn und durch inmere Unruhen, die Zufunft des 
Eontinents fei dunkel, kein Staatsmann könne wiſſen, wie bie 
Lage nach Jahr und Tag fein werbe; wolle England nicht 
einem Manne gleihen, der in ben Krieg geht, fo folle es 
wenigftens einem Manne gleichen, der in bie Nacht geht, beide 
brauchen Waffen, ein Staat ohne Schat "habe jo wenig Frei⸗ 
beit, als ein Privatmann mit Schulber. Man fage, es fei 
Trieden, darum bebürfe England keiner Beritärlung des 
Schates; ebenfo gut könne man fagen, das Meer fei ruhig, 
darum brauche da8 Schiff, das in See gehe, feinen Ballaft. 
Der König zeige fich Tiberal nicht aus Schwäche, denn feine 
Macht fei fefter als je, ſondern ans Liebe zum Lande; das 
Parlament möge diefe Haltung erwidern und darum in ber 
Subfidienfrage gleichen Schritt Halten mit den königlichen Ge- 
währungen. 

Das Hans ließ fi) auf ben gleichen Schritt nicht ein. 
Seine Meinung war: erft das Gemeinwohl, dann die Sub- 
fidien. Vor allem wollte es die Frage wegen ber Türiglichen 
Waarenbeſtenerung ins Reine gebracht fehen; es wurde ein 
Ausſchuß gewählt, unter deſſen Mitgliedern Bacon war, um 
in diefer Frage eine gemeinfame Berathung beider Häufer vor- 
zubereiten. Die Lords verhielten fich ablehnend. Gin Mit- 
glied des Dberhaufes, der Biſchof von Lincoln, follte in einer 


9 


Rede das Haus der Gemeinen angegriffen und deſſen lohyale 
Gefinnung in Frage geitellt haben, das bloße Gerücht davon 
erregte die größte Erbitterung, man verlangte die Beſtrafung 
des Bifchofs, obwohl man nicht genau wußte, was er gefagt; 
einige Mitglieder des Unterhaufes wollten von der Sache ge- 
bört haben, vielmehr, die Duelle näher beleuchtet, Hatten fie 
einige gejehen, welche fagten, daß fie gehört Hütten, u. ſ. w. 
Es ftanden jih nicht blos Fragen, fondern erhitzte und ge- 
reizte Affecte gegenüber. 

Der König jendete eine Botfchaft, welche die Auflöfung 
aubrobte. Es Tam zu aufregenden Reden, Hosfins ſprach 
Teidenfhaftlid, gegen ben König, die Hofpartei, die Günftlinge, 
die Schotten, die Fremdherrihaft, die immer Unheil ftifte, 
jogar an die ficilianifche Vesper wurde erinnert. Nach wenigen 
Tagen folgte die Auflöfung. Nichts war erreicht als größere 
Erbitterung, nichts ausgerichtet in den brennenden Fragen, 
die Öffentliche Lage verfchlimmert, der Schat leer, die Schul- 
den vermehrt, die Gefahren von Irland, Rom und Madrid 
drohend, die Schwäche Englands überall befannt. Ueber biefen 
Zuſtand der Dinge Tonnte fein Patriot triumphiren, Teiner, 
dem die Sache des Landes am Herzen lag; es ift nicht anzu⸗ 
nehmen, daß Bacon, der zur Berufung des Parlaments 
dringend gerathen, einem fo verberblihen Acte, wie die Auf- 
löſung war, das Wort geredet habe. 

Um eine Heine finanzielle Aushülfe zu gewinnen, nahm 
man eine Zuflucht zu einer freiwilligen Contribution. Da 
das Parlament nichts bewilligen mochte, jo wurden die Unter⸗ 
thanen gebeten, dem Könige etwas zu ſchenken. Bacon gab 
feine Meinung, wie die „voluntary oblation‘ am zwedmäßig- 
ften zu betreiben fei, ohne jeden moraliſchen Zwang, ohne 

7 L 


100 


Beläftigung der armen Vollsklaffen und fo, dag die Loyalität 
und Freigebigleit der Wohlhabenden zum Wetteifer angefeuert 
werde. Am Ende brachte man eine Summe von 40—50000 
Pfund zufammen, die wenig half und bie Erwartung des 
Königs gar nicht befriedigte, während das ganze Verfahren, 
das die „benevolence” der Linterthanen in Anſpruch nahm, 
auf das Volk jelbft den ungünftigften Eindrud machte. Man 
Hatte den gefeßlichen Weg der Geldbewilligung umgangen; 
die Umgehung war fo gefchehen, daß fie den König als Bettler 
ericheinen ließ, und der Erfolg, den man mit fo übeln Mitteln 
endlich erreicht Hatte, war fo gering, daß er den moralifdhen 
Schaden nit einmal für den Augenblid anfwog. 


II. 
Derfolgungen. Coke's Sal. 


Die Misitimmung gab fi) in Meinungsäußerungen kund, 
die als Staatsverbrechen verfolgt wurden. Dliver St. John, 
ein Edelmann aus Marlborougb, Hatte das Anfinnen der frei- 
willigen Beifteuer in einem Schreiben an die Drtsobrigleit 
zurüdgewiefen, worin er das ganze Berfahren für ungeredht 
erflärte und dem Könige vorwarf, er habe feinen Kroneid 
verlegt und treibe es wie Richard II. Dieſer Brief galt ale 
eine aufrührerifhe Schrift, und der Verfaffer wurbe von der 
Sternlammer zu Gefängniß und Geldbuße verurtheilt, aber 
vom Könige begnadigt, nachdem er bereut und widerrufen 
hatte. Ueber fein Verhör erftattete Bacon dem Könige Be- 
richt (den 29. April 1615). *) 

Kurz vorher Hatte eine ähnliche Verfolgung ftattgefunden, 


*) The works (Spedding), vol. XII, p. 81 fig. 168. 


101 


mit welcher Bacon’8 Name näher zufammenhängt, und bie 
gerade deshalb bei der Nachwelt ein fchlimmes Auffehen erregt 
hat. Nirgends war die Misſtimmung gegen Salob exbitterter 
als unter den puritanischen Geiftlichen, bei denen ber religiöfe 
Widerwille mit dem politifchen Misvergnägen zufanmentraf; 
hier concentrirte fich jene entjchloffene und furchtbare Wider⸗ 
ſtandskraft, die nach einem Menſchenalter den Thron der 
Stuarts umwarf. Zu dieſen Männern gehörte Edmond 
Peacham, der ſeinen Biſchof in einer Schrift angegriffen hatte, 
die für ein Libel galt und ſeine Abſetzung bewirkte; bei einer 
Hausſuchnng fand ſich unter feinen Papieren eine von feiner 
Hand in der Form einer Predigt verfaßte Schmähſchrift gegen 
die Perfon und Regierung des Könige. Er wurde verhaftet 
und auf Hochverrath angeklagt. Da er von Dingen unter⸗ 
richtet fhien, die er nur von andern, mit den Negierungs- 
angelegenheiten vertrauten Perſonen erfahren haben konnte, fo 
glaubte man, daß er Mitwiffer Habe, witterte ein Complot 
umb folterte den alten Dann, um Geftändniffe zu erpreffen 
(den 19. Ianuar 1615). Er geftand nichts, wurbe den 10. März 
das letzte mal verhört und zum Tode verurtheilt. Indeſſen 
wurde das Urtheil nicht ausgeführt, der Verurtheilte ſtarb 
wenige Monate ſpäter. 

Dieſer Proceß und die dabei angewendete peinliche Frage 
ſpielt unter den weltläufigen Vorwürfen, die gegen Bacon's 
Charakter und Amtsführung gerichtet werden, eine anſehnliche 
Rolle. Indeſſen, wie fih aus den Acten der Sache ergiebt, 
ift Bacon weder ber Anftifter des Proceffes noch der Haupt- 
führer ber Unterſuchung geweien. Der Primas von England 
und der Tönigliche Staatsrath verlangten die gerichtliche Ver⸗ 
folgung und zugleich die Anwendung der peinlihen Frage; 


102 


die Anfforberung ging an die Kronjuriften, unter benen 
Bacon als Generalftscal aufzutreten unb das Brotofoll bes 
peinlichen Berhörs mit zu unterzeichnen Hatte. Diefe feine 
Namensunterfährift Hat die Anfmerkſamkeit der Nachwelt auf 
ben Proceß Peacham gelenkt, und man Hat aus biefem Zeug- 
niß, was Bacon's Berhalten zu der ganzen Unterfuchung be⸗ 
trifft, mehr gefolgert als daraus folgt. Die Anwendung ber 
Holter war damals noch üblih, und fie ift in dem vorliegen- 
den Falle von Bacon weber gefordert noch gutgeheißen werben, 


denn er fagt in feinem Berichte an den König über dns Ver⸗ 


hir ausdrücklich, er möchte Lieber, daß fich die Unterſuchung 
anderer Mittel bediene (den 21. Januar 1615).*) 

Jakob hielt Peacham's Verfolgung für gejetlich und be⸗ 
ſonders fiir politifch nethwendig, Bacon war der Anficht des 
Königs, und es ift Fein Grund zu der Annahme, baf er es 
blos aus Gefälligfeit war, er mag ſich darin geirrt haben, 
daß er einen Fall für Hochverrath nahm, ber nicht unter diefen 
Begriff fiel. Allerdings war in diefem Punlte die erite 
juriſtiſche Autorität des Königreichs einer ganz andern Mei- 
nung: Eduard Eofe, Bacon’s Nebenbuhler und Gegner, jekt 
Präfident des höchſten Reichsgerihtshofes und Mitglied des 
geheimen Raths. Dem Könige lag daran, in dem Proceß 
gegen Peacham ficher zu gehen und ben letzteren nicht eher 
vor den Gerichtshof zu ftellen, als bis er feiner Verurtheilung 
gewiß war, deshalb wünſchte er, bie Anfichten ber oberfien 
Richter privatim und jede einzeln zu hören, bamit Teine Be⸗ 
einfluffung, namentlich) von Coke's Seite her, ftattfinde. Dieſer 
erflärte ſich gegen ein ſolches Aushorchen richterlicher Mei- 


*) We are driven to make our way through questions which 
I wish were otherwise, etc. The works (Spedding), vol. XII, p. 96. 


1 — im — 





103 


nungen und verfagte zuerft feine Mitwirkung; als er fih am 
Ende doch dazu verfiand, gab er feine Meinung dahin ab, 
daß Peacham's Schrift nicht unter die Kategorie des Hoch⸗ 
verraths gehöre. Damit beginnen die ‘Differenzen zwifchen 
den Könige und Cole, gleichzeitig entftehen andere, die an 
Umfang und Bedeutung, weil fie königliche Machtbefugniffe 
betreffen, ſchwerer ins Gericht fallen und den König perfün- 
lich gegen Coke erbittern. Es handelte fi dabei namentlich 
um zwei Punkte, betreffend das königliche Recht der Pfründen- 
verleifung und bes Eingriffs in die Rechtsſprüche des höchſten 
Gerichtshofes. In den Verhandlungen über diefe Angelegen- 
heiten ift Bacon der königliche Vertrauensmann, er conferirt 
mit Sole, berichtet an den König, unb man flieht aus feinen 
Denfichriften, daß er nit blos Coke's juriftifcher, fondern 
auch defſen perfönlicher Gegner ift, dem daran Liegt, zugleich 
dem Könige zu dienen und einen Feind los zu werden. Ende 
Juni 1616 verliert Cole feine Aemter, in bemfelben Monat 
wird Bacon Mitglied des Staatsraths. Er follte bald er- 
fahren, daß ein geitärzter Feind gefährlicher ift als ein glüd- 
licher Nebenbuhler. Cole war während der Iehten Jahre ein 
populärer Mann geworden, die Uugnade des Könige ließ feine 
Vollsgunſt wachlen und vermehrte fein Anfehen im Parlament. 
Und nichts wurde für Bacon verbängnißnolier, als der Ein- 
fluß, ben dieſer erbitterte und zur Wiebervergeltung geveizte 
Gegner in dem nädften Parlamente gewann. 
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F} “ ” 








Siebenies Kapilel. 


Bacon’s Sturz und lebte Jahre. 





I. 
Das Parlament von 1621. 


1. vacon's Deutigrift. 

Nah der Auflöfung des letzten Parlaments beſchäftigte 
fi) Bacon fogleih mit der Aufgabe eines neuen; ſchon im 
folgenden Jahre (1615) verfaßte er eine Denkſchrift, worin 
dem Könige auseinandergefekt wurde, welche Fehler nad ben 
Erfahrungen der letzten Zeiten zu vermeiden, welde Politik 
einem neuen Parlamente gegenüber zu befolgen fei. Fehlge⸗ 
Schlagen war der Verſuch, den großen Handel zwifchen Krone 
und Parlament offen zu treiben und auf die vortheilhaftefte 
Weife für den König abzufchließen, aucd der zweite Berfudh, 
der den Schein des Handels umgehen wollte, hatte nicht zum 
Ziele geführt. Zulegt waren die Forderungen eine Schraube 
ohne Ende und der „great contract“ von beiden Seiten fo 
hoch hinaufgetrieben worden, daß er, um mit Bacon zu reben, 
am Ende eingeftürzt war, wie der Thurm von Babel. Der 
König hatte fi darauf in der ungünftigften und feiner une 
würdigften Lage gezeigt, in der des Bettlers; erbettelte Wohl- 


106 


thaten feien Gift für einen König, bemerkte Bacon fehr richtig, 
indem er bie „beneficia” wortfptelend „veneficia” nannte. 
Die Rathſchläge, welche Bacon dem Könige gab, gingen auf 
eine ganz neue Taktik und verinderten gleichſam den Spiel- 
plan: die Geldfrage folle zunächſt aus dem Spiel bleiben, ber 
König dürfe dem nächſten Parlamente gegenüber nicht mehr 
in Noth erfcheinen und möge vorläuflg feine Einkünfte durch 
ben Berlauf von Ländereien, Abelöpatenten u. f. w. vermehren; 
Dagegen feien die Mittel der äußeren Politik in ihrer ganzen 
Stärke anzuwenden, nm auf das Parlament zu wirken. Die 
auswärtige Politik fei immer die befte Ableiterin misvergnügter 
Stimmungen, fie überwältige am leichteften jeben Widerftand, weil 
fie die patriotifchen Empfindungen in Anſpruch nehme und den 
gewohnten Horizont des Tinterthanenverftandes überfteige; aus 
den bewegenden Kräften der äußeren Politik hatte Eliſabeth 
ihre Volksthümlichkeit und ihre Macht über die Parlamente ge- 
wonnen. Daher riet Bacon, die europälfchen ragen ftatt 
der inmern vor dem nädhften Parlamente in Bewegung zu feken. 
Die Lage Europas enthalte wirkliche Gefahren für England, 
Frankreich verbinde fich dur Heirathen mit Spanien und 
Defterreih, es drohe ein Bundniß der drei katholifchen Welt- 
mädte, im Hinblick auf die Gefahren, welche die nächſte Zu- 
kunft bringen könne, müfje man die nationalen Gefühle Eng- 
lands beleben, und man werde das Parlament opferwillig und 
loyal finden; es werde bereitwillig Geld geben, um jede Ber- 
bindung der englifchen Königsfamilie mit der fpanifchen zu 
hintertreiben, daher fünne der König einen mittelbaren und fehr 
wirkfamen Drud anf das Parlament durch den Schein aus⸗ 
üben, als 0b das fpanifche Heirathsproject Teine anderen Be⸗ 
weggründe habe als finanzielle. Auf diefe Weife wollte Bacon 


106 


in dem Syſteme der neuen Politik bes Königs, dexen Programm 
er entwarf, die fpanifche Heirath als einen Kunftgriff bewirkt 
jehen, um die Geldforderung zu masliren. Aber wie paßte 
auch nur der Schein eines folden Projects zu der amtifpani- 
ſchen Haltung, die nad feinem Nathe die auswärtige Poluik 
des Königs allen Ernftes annehmen ſollte? Und wußte er 
nicht, daß die anglo⸗ſpaniſche Heirat wirklich im Werke und 
der Vertrag in demſelben Jahre ſchon geſchloſſen war, wo er 
feine Denkſchrift verfaßte? Wir ſehen deutlich die Mängel 
feiner Bolitit vor uns. Er Lam zu feinem reinen Reſultat, 
zu Feiner feiten Richtſchnur, weil ex mit zu vielen und wiber- 
ſprechenden Factoren rechnete. Ex erlannte ſehr gut die Fehler, 
die gemacht waren, er ſah die Nothwendigkeit, fie zu vermei⸗ 
ben, aber er war in feiner Klugheit felbft viel zu nadgiebig, 
um fie [08 zu. werden, er wollie eine neue und beffere Politik 
rathen und verquickte damit, gleichviel in weider Form, ein 
Project, das ans der ſchlechten und werderblichen Politik des 
Königs herrührte. Es war fein Berhängniß, daß er zu Hug, 
oder, beffer gefegt, nit fo Hug wer, um ganz ehrlich zur fein. 

&r hatte nicht umſonſt auf die Bewegungen in Europa 
gerechnet, der Ansbrud des deutſchen Religiousfrieges, ber - 
Berluft VBöhmens und der Pfalz wirkten auf England zurück 
und fteigerten bie nationalspreteftantifhe Stimmung. Unter 
biefen gewaltigen Eindrüden wurde das neue Parlament ben 
9, Februar 1621 eröffnet. 


2. Auflage und Vernriheilung. 


Gleich in der erften Sitzung zeigte fi, wie groß im 
Hanfe der Gemeinen die Unzufriedenheit mit der Politik des 
Königs nach außen und innen war. Der Sinn des Parla- 





107 


ments ging, wie es die Intereffen Englaubs geboten, gegen 
jede Annäherung an Spanien, gegen die Heinlidde und blos 
familienpelitifche Behandlung der pfälgifchen Frage. Je weniger 
die äußere Bolitit befriedigte, um fo peinlider wurden bie 
Uchelftände der inneren empfunden, die Steuerauflagen, die 
Nachſicht gegen die Katholiken, vor allem die Misbräuche, na- 
mentlich in Betreff der Monopole und Gerichtshöfe. Man 
forderte deren Abſtellnng. An der Spite der Oppofitten fteht 
Eole, auf deſſen Antrag fogleih Ausſchüſſe zur Unterfuchung 
ber Mishräuce gewählt werben, bee eine hat es wit ben Mo⸗ 
nopolen, ein anderer mit den Gerichtähöfen zu thun. Dex 
Bräftdent des Tegtexen ift Robert Phillip. Den 15. März 
1621 berichtet er dem Haufe ber Gemeinen: es feien große 
Mishräude entdedt, die Perfon, auf welche die Anklage ziele, 
fei der Lordkanzler felbft, ein Diann, mit allen Gaben ber 
Natur fo reich ausgeftattet, daß er nichts weiter von ihm fagen 
wolle, denn er fei nicht im Stande genug zu ſagen. Die An- 
klage gehe auf Beitehung (bribery), er babe Geldgeſchenke in 
feinem ri'hterlichen Amte genommen. Die Anlisgepunlte hattın 
fih von Sitzung zu Sigung vermehrt und waren auf einige 
zwanzig gejtiegen. | 

Den 17. März führt Bacon zum legten male den Bor- 
fig im Oberbaufe, er hebt die Sigung früher auf ale gewöhn- 
lich, lehrt in großer Aufregung in fein Haus zurüd und er 
kanlt. Drei Tage fpäter übergiebt Buckingham dem Parla⸗ 
mente einen Brief Bacon's, worin diefer erklärt, ex wolle ſich 
gegen die Anklage vertheidigen. Den 26. März vertagt ber 
König das Barlament bis zum 17. April mit einer Rede, worin 
er bie Abftellung der hauptſächlichſten Monopole verfpricht, 
aber kein Wort des Schutzes für Bacon jagt. 


108 


[2 


Bacon’s Richter find die Lords. Die Anklageacte wird 
ihm fchriftlich vorgelegt und er bekennt ſchriftlich feine Schuld 
(den 22. April 1621). Bor einer Commiffion des Oberhanfes, 
bie fi zu ihm begeben, wiederholt er mündlich, was er fhrift- 
ih belannt hat: „Diefer Brief, Mylords, worin ich mid 
ſchuldig erflärt, ift von mir, von meiner Hand, aus meinem 
Herzen, ih bitte Ew. Lordfchaften, Barmherzigleit zu haben 
mit einem gebrochenen Rohr.‘ 

Den 3. Mai erfolgt das Urtheil: einftinmig wird er der 
Beftehung für fchuldig befunden. Das Strafertenntniß lautet: 
40,000 Pfund Geldbuße, Gefangenfchaft im Tower, folange 
es dem Könige beliebe, Verluft der Staatsämter, des Sites 
im Parlament, des Aufenthaltes am Hofe. *) Als ihm das 
Urtheil verfünbet wurde, erklärte Bacon: „Aus dem Grunde 
meines Gewiſſens befenne ich offen und freiwillig, ich bin der 
Beſtechung ſchuldig und verzichte auf alle Verteidigung.“ 

Er blieb zwei Tage im Tower, dann wurde ihm die 
Geldbuße erlaffen, eine Zeit lang lebte er verbannt auf feinem 
Landgut in Gorhambury, aber ſchon im folgenden Jahre (1622) 
erhielt er die Erlaubnig zur Rückkehr nach London, wo er feine 
alte Wohnung in Gray’s Iun wieder bezog. So erfüllte ſich, 
was fünf Jahre vorher einer feiner damaligen Collegen pro- 
phezeit Hatte. ‘Der König gab ihm eine Penſion von 1200 
Pfund und berief ihn fogar (1624) wieder in das Oberhaus,. 
Indeſſen ift Bacon bier nie wieder erfchienen. Der Verur⸗ 
thellung folgte Schritt für Schritt die Wiederherftellung, nicht 
ohne daß Bacon alle Welt mit Bitten um feine volfftändige 

*) Die Adelstitel wurden ihm nicht genommen; mit einer Majori« 


tät von zwei Stimmen Batte fid) der Gerichtshof dagegen erklärt. Da- 
ber fchrieb cr fi auch nach der Berurtheilung „Fr. St. Albans“. 


109 


Begnadigung beftürmte, er fchrieb aus feiner Verbannung 
Driefe über Briefe an den König, den Prinzen von Wales, 
Buckingham und andere einflußreiche Hofleute. Was der Kö⸗ 
nig nicht wieder herzuftellen vermochte, war fein guter Name 
in der Öffentlichen Meinung der Mit- und Nachwelt. 


3. Baton's Schuld. 


Man hat neuerdings Bacon zu retten und in dieſer Ab⸗ 
ficht nachzuweiſen geſucht: daß bie ganze Auflage aus ben 
niedrigften Beiveggründen bervorgegangen fei, daß fie in der 
Hauptſache falſch und Bacon an den Berbreihen, für die er ver⸗ 
urtheilt wurde, unſchuldig war, daß endlich bie Misbräuche, bie 
men ihm vorwerfen konnte, nicht. ihm, fondern dem ganzen 
Zeitalter und den Öffentlichen Zuftänden zur Laſt fallen. Diefe 
Einwürfe find nicht ohne Grund, und es ift billig, fie zu be- 
achten. Wenn fie auch keineswegs ausreichen, ihn zu recht⸗ 
fertigen, fo dürfen fie doch in diefer fchlimmften Angelegenheit 
feines Lebens das Urtheil über ihn in manchen Punkten be- 
rihtigen und mildern. Kine Art der Bertheidigung können 
wir nicht gelten laſſen: ex war vier Jahre Kanzler, fagt Dixon, 
er hat mehr als fieben taufend Berdicte gefällt, während die 
Anklage nur einige zwanzig Fälle gegen ihn ausfindig machen 
konnte, welche ſämmtlich in die beiden erften Jahre feiner Amts- 
führung fallen. Des Heißt mit andern Worten: er hat die 
Verbrechen nur in der erften Hälfte feiner Amtsführung be- 
gangen und bei weitem nit fo viel, als er hätte begehen 
föünnen. Eine ſolche Vertheidigung ift eine Anklage. ‚ 

Daß die wirkliche Anklage zugleich eine Verfolgung aus 
perfönlihen und ſchlechten Yeweggründen war, fcheint richtig. 
Buckingham's Mutter Hatte einen ihrer Söhne mit Coke's 





110 


Tochter verheirathet, was Lady Coke mit Hülfe Bacon's hatte 
verhindern wollen, aber nicht können; außerdem ſuchte Buding- 
ham's Mutter Aemter und Reichthümer für ihre Freunde, einer 
derfelben wollte Kanzler werden, und Bacon’s Auflage und 
Berurtheilung fchien der beite Weg, ben Plak zu erledigen. 
Sp arbeiteten fih Bacon's größter Feind und des Königs 
mädhtigfter Günftling in die Hände, um ihn zu verberben. 
Den einen trieb die Rache, den andern Habſucht und außer- 
dem Furcht, denn Budingham bedte bie eigene Schuld, indem 
er Bacon opferte. Im Hintergrunde des Proceifes lag ein 
Antriguengewebe, das aus Rache, Günftlingswirthſchaft und 
Nepotismus gefponnen war. Aber es tft nicht zu vergeffen, 
daß die Anklage ſelbſt von. ſolchen Männern ausging, die mit 
jenen ſchmuzigen Dingen nichts zu thun Hatten, und baf fie 
in der Sade richtig fein Tonnte, auch wenn ihre Motive 
ſchlecht waren. u 

Daß Bacon in feinem richterlichen Amte Geſchenke ange- 
nommen bat, ift wahr, aber Geſchenle find no nicht Be⸗ 
ſtechungen, es ift ein Unterſchied zwifchen „fees“ und „bribes“. 
Wenn ber Richter, während die Streitfadde fihwebt, Geſchenke 
empfängt, die auf feinen Urtheilsfpruch einwirken, fo hat er 
fih beitechen Taffen; es ift nicht bewieſen, daß die Geſchenke, 
die Bacon annahm, diefer Art waren. Er jelbft bat entfchie- 
den in Abrede geftellt, daß er je für Gelb Urtheile gefällt, 
Documente ausgeliefert, geiftliche Wemter ‚verlauft Habe; er 
habe nie im Geheimen Geſchenke empfangen, nie gegen Ver⸗ 
fprechungen, nie „pendente lite”. Er erflärte dem Könige in 
einer Unterredung, während der Vertagung bes Parlaments, 
daß er an dent Berbrechen der Beſtechung unſchuldig fei „as 
the any born upon St. Innocent’s day”. Indeſſen möge 





111 


bes Königs Wille gefchehen, er fei bereit, fi bem Könige zum 
Opfer zu bringen, und fei in deſſen Hand wie ein Stüd Lehm 
zu einem Gefäß, fet es der Ehre oder der Schande. 

Daß aber die höchſten Beamten in ihrem Amte Gefchente 
nahmen, war damals in England ganz an der Tagesorbnung; 
das that der König felbft, der Kanzler, der Oberrichter, ber 
Staatsfecretär u. ſ. w. Wer that es nicht? Die öffentlichen 
Bezahlungen waren keineswegs fo georbnet und ausreichend, 
dat Privatbelohnungen entbehrt werden konnten, ohne welche 
3.9. bie Angelegenheiten des privaten Rechtes von Seiten der 
Richter wären vernachläffigt worden. Geſchenke biefer Art 
galten nicht für eine „judicial. corruption“, ned) in dem erften 
Parlament unter Jakob waren fie fein Gegenftand der Be- 
ſchwerde, die Dppofition dagegen begann erft in den folgenden 
Barlamenten von 1610 und 1614. Auch ſtanden Bacon's 
Borgänger im Kanzleramt, die Hatten, Pudering, Egerton, 
in diefer Hinſicht leineswegs reiner da als er. Obwohl Bacon 
diefe Misbräude eintah und bei feinen DVerbefferungsplänen 
ber Geſetze und Öffentlichen Zuftände die Abitellung derfelben 
bezwedte, konnte er doch ihren Lockungen perfünlich nicht wiber- 
ftehen. Daß er fi die Früchte derfelben ſchmecken ließ, war 
im höchften Grade unklug, da er fehr gut wußte, wie die 
Öffentliche Stimmung gegen die Misbräudhe, die er felbft tadelte 
und theilte, mit jedem Jahre bitterer umd brohender wurde, 
Zu jeder Eharakterftärle gehört ein gewiffer Rigorismus, von 
dem Bacon gar nichts beſaß. Zu feiner Charalterfchwäche 
fam die Verſchwendung, die Neigung zur Pracht, die Frei⸗ 
gebigfeit aus Prunkſucht, lauter Fehler feiner Natur, denen 
er aus Liebe zum Schein, um ihrer glänzenden Außenjeite 
willen, unbekümmert nachgab. Er lebte großartig in Yorkhouſe, 





112 


umgab fi in feinem Landhauſe in Gorhambury mit einer 
förmlichen Hofhaltung, baute mit einem Aufwande von 10,000 
Pfund Verulamhoufe; feine Diener Hatten die Toftbarften 
Livreen und befaßen Wagen und Pferde; als ihm der König 
einft ein Reh zum Geſchenk machte, gab er dem Diener, der 
e8 brachte, funfzig Pfund. Auf diefe Weife brauchte er natür- 
ih weit mehr Geld, als er Hatte*), und ließ fich daher jene 
misbräuchlichen Geſchenke gern gefallen, bei denen es fraglich 
war, ob fie ſich noch diefjeits der Grenze gemeiner Beftechung 
hielten. In feiner Liebe zum Schein lag die wahre Beftedh- 
(ichfeit jeines Charakters: die Beftechlichleit, die unter Tein 
Strafgejeß fällt und der Grund ift jeber andern. Es giebt 
viele, die ihn auf das härtefte verdammen und in jenem inne 
ren Grunde nicht um ein Haar beffer find als er: in der Liebe 
zum Tand, zu Reichthümern, Adelspatenten, Orden! Im einer 
Hinſicht glauben fie, beifer zu fein, fie haben aus Liebe zum 
Tand manderlei gethan, aber nichts Polizeiwidriges. 


I. 
Yrtheil über Sacon's Verhalten. Sein Ende. 


Ein Punkt in dem Proceß ift noch dunkel, Wenn wir 
in der Handlungsweife Bacon's genau unterfcheiden zwifchen 
Schwähe und Verbrechen, zwiſchen der moraliihen Schuld 
und der ftrafbaren, und den Zuftand Öffentlicher Misbräuche in 
Nechnung nehmen, der in dem damaligen England Sitte war, 


*) Er hatte zulett im Ganzen 2760 Pfund jährlich, davon 1800 Pfund 
Amtseintünfte, 600 von feinen Ländereien, 220 von dem Vermögen ſeiner 
Frau, 140 von feinem mütterlichen Erbtheil. 








Zn _ 


113 


fo erklärt fi), wie Bacon felbjt über feine Schuld fo verſchie⸗ 
den und entgegengefeßt urtheilen konnte. Er hat die Schwäche 
eingeräumt, das Verbrechen in Abrede geftellt. Er bat dem 
Könige vor feiner Verurtheilung perfünlid) erflärt, er fei an 
den Berbrechen der Beſtechung ganz unfhuldig, und nad) feiner 
Berurtheilung noch aus dem Tower an Buckingham gefchrieben, 
er erfenne das Urtheil für gerecht; dennoch will er feit dem 
Zeiten feines Vaters der gerechtefte Kanzler Englands gewefen 
fein. Er hat den Richtern gegenüber ſich für ſchuldig er- u 
klärt, die Barmherzigkeit der Richter, die Gnade des Königs | 
angerufen. Er nannte fi ein gebrochenes Rohr; in diefem 
Falle war ein zu biegfames und ſchwankendes Rohr geknickt 
worden. Daß feine Handlungsweife dem Gerichtshofe gegen» 
über eine Bertheidigung zuließ, die in der öffentlichen Beurtheilung 
Bacon zu gut gelommen wäre, Tiegt am Tage. Auch Hat 
ſich Bacon zuerft vertheidigen wollen, dann auf jede Art der 
Bertheidigung Verzicht geleiftet. Das iſt der dunkle Punkt 
und die noch übrige Trage: warum Hat fi Bacon nicht 
vertheidigt ? 

Es giebt nur eine Art der Erklärung. Abgefehen von 
alten perfönlichen und fchlechten Motiven, die bei ſolchen Ver⸗ 
folgungen gewöhnlich die Hand mit im Spiel haben, war die 
Anklage gegen Bacon ein politifher Tendenzproceß. 
Oeffentliche Misbräuche eingewurzelter Art, für welche bisher 
niemand angeflagt und beftraft worden war, follten jetzt ge- 
richtet und beftraft werden. Das Öffentliche Nechtsgefühl forderte 
ein Opfer. Schon in den legten Barlamenten gährte ber Un- 
wilfe, der immer lauter und brohender wurde und dem Sturm 
der Revolution voranging. In dem höchſten Staatsbeamten 


| Englands, der an den Mishräuden feinen unteugbaren Antheil 
Fifcher, Bacon. 





114 


hatte, folite die Regierung, der Hof, der Günftling, der König 
jelbft getroffen werden. „Ich bin das erfte Opfer”, fagte 
Bacon dem Könige, „ic wünfche, das lebte zu fein.” Er fah 
die Gewitterwolken Heraufziehen umd wußte wohl, daß er das 
legte nicht fein werde: „der erfte Blitz trifft den Kanzler, der 
zweite wird die Krone treffen.” Bei diefer Lage der Dinge 
hätte feine Verthetbigung nicht geführt werden können, ohne 
den König und deffen Günftling als die wahrhaft Schuldigen, 
als die eigentlichen Nutnießer der öffentlichen Uebel bloßzu⸗ 
jtellen; für ihn felbft wäre fie jedenfalls erfolglos geblieben. 
Der König beihwor ihn, fich nicht zu vertheidigen, und gab 
ihm fein fürftlihes Wort, ihn wiederherzuftellen, falls er ver- 
urtheilt würde. Er war in die Mitte gedrängt zwifchen zwei 
einander entgegengefeßte Mächte, die ihm aufrieben: König 
und Hofpartei auf der einen, Parlament und Volkspartei auf 
der andern Seite; von diefer wurde er geftürzt, von jener ge- 
opfert. Seine Sade ftand fo, daß die Vertheidigung ihn nicht 
retten, wohl aber dem Könige misfallen Tonnte, er hatte nur 
zu wählen, ob er verurtheilt fein wollte mit oder ohne Aus- 
ficht auf Begnadigung. In Rüdfiht auf fein unmittelbares per- 
ſönliches Wohl mochte das Klügfte fein, zu thun, was der 
König wünfchte: ſich einfach fchuldig befennen und dem Richter- 
ſpruch unterwerfen. Er that das Klügſte. 

Wir willen, wie der König fein Verſprechen erfüllt, den 
ſchwerſten Theil der Strafe fogleicd aufgehoben und den Ber- 
urtheilten im Laufe dreier Jahre vollftändig wiederhergeftellt 
bat. Bacon’s Wiederberufung in das Dberhaus war einer 
der lebten Negierungsacte Jakob's. Der König ſtarb den 
27. März 1625; Bacon überlebte ihn wenig länger als ein 
Sahr. In das Öffentliche Leben ift er nicht mehr zurückgekehrt. 








115 


Was er fi in der Jugend gewünfcht, wiffenfchaftliche Muße, 
batte er während der lebten fünf Jahre feines Lebens in Fülle, 
freilich unter Bedingungen, die nicht unfreiwilliger fein konnten. 
Gr bat diefe Literarifche Muße, foviel ihm davon noch vergönnt 
war, für feine wiffenfchaftlichen Arbeiten, für bie Ausführung 
feiner Ideen nnd die Anordnung feiner Werte benutzt, und ein 
großer Theil feiner Schriften fällt in diefe Zeit. 

Der Sommer des Jahres 1625 Hatte Krankheiten nad 
London gebracht, ein überaus ftrenger Winter war gefolgt, 
beide ungünftig für Bacon’s ſchon gefhwächte Gefundheit. Im 
Frühjahr 1626 war er von Gorhambury nah) Gray’s Inn 
zurückgekehrt. Auf einem Ausfing in den eriten Tagen des 
April hatte er bei Highgate In einem Bauernhaufe einen Ver- 
ſuch angeftelit, ob Fleiſch durch Schnee vor Fäulniß bewahrt 
werden könne, und fich dabei eine fo Heftige Erkältung zuge- 
zogen, daß er nicht mehr nad) Gray’s Inn zurückkehren Tonnte, 
jondern in die benachbarte Wohnung des Grafen Arundel ge- 
bracht werben mußte. An diefen ift der letzte feiner Briefe, 
den er nicht mehr felbft zu fchreiben vermochte, gerichtet, er 
dankt dem Grafen für den Schuß, den er in jelnem Haufe ge- 
funden, und vergleicht fein Schickſal mit dem des älteren Plinius, 
dem auch ein wißbegieriger Verſuch das Leben geloftet. Hier 
ſtarb Bacon am Oftermorgen den 9. April 1626. Sein Kor⸗ 
per ruht, wie er gewünfcht hatte, neben dem feiner Mutter 
in der Michaeliskirche bei St.-Albans. 


8* 





Adjies Kapilel. 
Bacon's Verle 





J. 
Ueberblick. 


1. Bacon als Schriftſteller. 

Wir haben die Lebensgeſchichte Bacon's nicht durch den 
Gang ſeiner Schriften unterbrechen wollen. Sie ſind in der 
wiſſenſchaftlichen Stille entſtanden, die ihm nur ſelten zu Theil 
wurde und außerhalb feiner öffentlichen Bahn lag, fie haben 
auf feine äußeren Schickſale Keinen anderen Einfluß gehabt, als 
daß fie dem Slanze feiner Aemter und Würden den Ruhm des 
Schriftſtellers und Philofophen hinzufügten. Sein literarifcher 
Ruf jtieg mit feinen Aemtern, er ift durch die Öffentliche Geltung 
Bacon's vermehrt worden und hat ſchon bei feinen Lebzeiten 
eine große Probe beftanden: er war in fich felbft fo wohl be- 
gründet, daß er feinen Schaden litt, als Bacon’s bürgerlicher 
Ruf zu Grunde ging. War man vorher auf den Schriftfteller 
und Philofophen Bacon erft aufmerkfamer geworben, feitdem er 
Kanzler und Lord hieß, fo hat man fpäter über feinen literari- 
ſchen Werten den Kanzler und den Lorb vergeffen. Seine 
amtliche und feine literarifche Laufbahn treffen beide auf ihrem 
Höhepunkte zuſammen: al® Bacon der erite Staatsmann Eng- 


117 


(ands war, galt er auch als ber erfte philofophifche Schrift- 
fteller nicht blos feines Baterlandes, fondern der Welt. Sein 
„Neues Organon“, das wichtigfte feiner Werke, erfchien in dem 
legten feiner glüdlichen Jahre, dicht vor dem Ausbrud der 
Kataftrophe (1620). 

Aus der vorhergehenden Lebensgeſchichte leuchtet von felbft 
ein, daß er für die Ausreifung feiner wiffenfchaftlichen Pläne, 
für die Ausarbeitung der darauf bezüglichen Werke nur wenige 
Zeit übrig behielt und daher von dem Ganzen, deffen Idee 
er in fi trug, nur einzelne Theile entwideln konnte und aud 
diefe mit einer einzigen Ausnahme nur fragmentarifh. Don 
einer ſyſtematiſchen Vollendung im Großen und Ganzen ift 
daher nicht die Rebe, auch nicht von einer gleihmäßigen äußeren 
Abrundung des Gefammtwerkes: es blieb in einigen Theilen 
ganz unausgeführt, in den meiften übrigen Brudftüd, Ent: 
wurf, Problem. Freilich trug daran auch die Natur feiner 
Aufgabe ſelbſt Schuld, denn fie war fo geftelit, daß ihre 
Löfung nicht durch die Kraft eines Einzelnen, fondern nur durch 
das Zuſammenwirken vieler und mannichfaltiger Geifteskräfte im 
Laufe ber Zeit gejchehen konnte; er wollte nur die Bahn brechen, 
den Weg weißen, die Nichtfchnur geben, und wußte wohl, 
dag er ſelbſt da8 Werk, welches er im Sinne Hatte, nicht 
vollenden, jondern nur beginnen konnte. Er entwarf den Riß, 
wonad die neue Zeit das Gebäude der Wiſſenſchaft allmälig 
aufführen follte. Daher blieb auch die eigentliche Form feiner 
Arbeiten Entwurf, Programm, Grundriß: es war die Ge- 
ftaltung, die der inneren Anlage feines Werks und der äußeren 
Dispofition feines Lebens, die ihm fo wenig Muße übrig lieh, 
am meiften entfprad. Einen Gedanken faſſen, im Stillen 
ausbilden, ſchriftlich firiren, zum Entwurf ausgeftalten, in 


118 


gelegener Stunde umarbeiten, in günftiger Muße wieder auf: 
nehmen, weiterführen und, wenn es ging, ausarbeiten: das 
war die Art, wie fich feine philofophifchen Schriften entwidel- 
ten. Es find Keime, die ſich entfalten, ſobald fie Luft und 
Licht frei Haben. Daher finden fi unter feinen Werfen fo 
viele von gleichem Gedankeninhalt und ungleihmäßiger Aus- 
führung; man darf annehmen, daß die fürzere Form bei Bacon 
in der Regel die weniger entwidelte und frühere ift: fie ift 
Entwurf, nit Auszug. 


2. Selbſtherausgegebene Werle. 


Den erſten Grundgedanken ſeines Werkes mag Bacon 
frühzeitig, ſchon auf der Schule von Cambridge, gefaßt und 
den erſten Verſuch etwa zehn Jahre ſpäter in Gray's Inn 
niedergeſchrieben haben. Eine Schrift über den Zuſtand Europas 
im Jahre 1580, die er nach ſeiner Rückkehr aus Frankreich 
verfaßt haben ſoll, iſt wahrſcheinlich nicht von ihm, ſondern 
von ſeinem Bruder und übrigens unbedeutend. Zu den erſten 
„Essays“, zehn an der Zahl, fügte Bacon dialektiſche Unter⸗ 
fuchungen, betreffend die Meinungen über Gut und Böſe, 
„Colours of good and evil” (zehn Nummern) und außerdem 
zwölf fogenannte „Meditationes sacrae”, die er im folgenden 
Jahre (1598) in englifcher Sprache unter dem Titel „Religious 
meditations” berausgab. In das Yahr 1597 fallen die An- 
fünge feiner „Essays“. Weiter reicht unter Eliſabeth die Ent- 
widelung feiner Titerarifchen Arbeiten nicht, foweit fie nad 
außen erkennbar. Nach dem Tode Elifabeth’S beginnt die Zeit 
der größeren Arbeiten philofophifchen Inhalts. Nur drei davon 
ericheinen in dem langen Zeitraum vom Tode ber’ Elifabeth 
bi8 zum Sturze Bacon’s: zwei Bücher Über den Fortfchritt 


119 


ber Wiffenfchaften (The advancement of learning 1605), die 
Abhandlungen über die Weisheit ber Alten (De sapientia 
veterum 1609) und da8 neue Organon (Novum organon 1620). 
Die letzten fünf Lebensjahre find die Zeit feiner größten wiſſen⸗ 
Ichaftlihen Sammlung und der eigentlichen Ausarbeitung feiner 


Werke. In vier bis fünf Monaten des Jahres 1621 fhreibt 


er die Geſchichte Heinrich's VII.; wenige Tage vor feiner Ver- 
dammung faßt er den Entſchluß, an diefe Arbeit zu gehen, 
wozu er den Plan fchon lange im Sinne gehabt, fie ift im 
Dctober vollendet, fern von London und den Quellen zu einem 
Geſchichtswerk, und doch Hat er die Zeit und den Charalter 
des erſten Tudor fo zu treffen gewußt, daß diefe Charakteriſtik 
vorbildlich geblieben ift für alle folgenden Werke. Er bat die 
Geſchichte eines Königs gefchrieben, der fein eigener Premier- 
minifter war, er hat ihn nicht ibealifirt, noch weniger in ber 
Berfon Heinri’s VII. dem Könige Jakob ſchmeicheln wollen, 
als ob jener ein Ideal königlicher Thatkraft, diefer fein Abbild 
gewefen; er zeichnet in Heinrich cin wirkliches Regententalent 
in allen Verwaltungsangelegenheiten des Landes, in politifchen 
Dingen oft kurzfihtig, daneben habſüchtig und argwöhniſch. 
Diefe Gefhichte Heinrich's VIL. ift der ausgeführte Theil eines 
größeren bHiftorifchen Planes, der nicht ausgeführt wurde. 
Bacon wollte die Geſchichte Englands fchreiben von der Ver- 
einigung der Roſen unter Heinrih VII. bis zur Vereinigung 
der Reiche unter Jakob. *) Zwei Jahre fpäter erfcheint das 
ausgeführtefte feiner Werke, dns einzige, das er wirklich voll- 


*) Bon der Geſchichte Großbritanniens und von der Gefhichte Hein- 
rich's VID. find nur Anfänge gejchrieben worden, die Rawley nad) Bacon's 
Tode veröffentlicht hat. Eine Schrift, auf die Bacon großes Gewicht 
legte, ift feine Bertheibigung der Eliſabeth (In felicem memoriam Eli- 


120 


endet hat, die neun Bücher über den Werth und die Vermehrung 
der Wiffenfchaften (De dignitate et augmentis scientiarum 
1623), außerdem drei naturgefchichtliche Abhandlungen über die 
Winde, über Leben und Tod, über das Dichte und Dünne 
(Historia ventorum, H. vitae et mortis, H. densi et rari). 
Diefe Abhandlungen find dem Prinzen von Wales, das neue 
Drganon ift dem Könige gewidmet. Das letzte von ihm ſelbſt 
herausgegebene Werk war bie dritte Auflage feiner „Essays“ 
(1625); die erfte Ausgabe vom Jahre 1597 enthielt zehn Ab- 
bandlungen, bie zweite vom Jahre 1612 adtunddreißig, die 
letzte achtundfünfzig. 


3. Nachgelaſſene Werle. 


Bacon's Nachlaß ſollte nach ſeinem letzten Willen einem 
ſeiner Brüder und William Boswell übergeben werden. Die 
Herausgabe deſſeben erfolgte nur theilweiſe, in verſchiedenen 
Zeiten, durch verſchiedene Männer. Gleich nach dem Tode 
Bacon's gab fein Secretär William Rawley die Naturgeſchichte 
(Silva silvarum) und die neue Atlantis heraus, dem Könige 
Karl J. gewidmet; dann folgten durch denſelben Herausgeber 
vermiſchte Schriften: „Certain miscellany works” (1629), die 
„Resuscitatio‘ (1657) mit einer Lebensbefchreibung Bacon’s, 
zulet die „Opuscula philosophica” (1658). Eine fehr widj- 
tige Ergänzung aus dem baconifchen Nachlaß erfchien zu Amfter- 
dam im Sahre 1653 unter dem Zitel: „Francisci Baconi de 
Verulamio scripta in philosophia naturali et universali.” 
Der Herausgeber war Iſaak Gruter, von Boswell dazu bes 
gabethae) gegen ein Pamphlet, das umter dem Titel „Misera femina” 
aus Tatholifcher Werkftätte kam. Bacon’s Schrift wurde 1608 verfaßt 


und funfzig Jahre fpäter in deu „Opuscula philosophica‘ von Raw- 
ley verbffentlicht. 








121 


auftragt. Die Ausgabe enthält neunzehn verfchiedene Stüde, 
von denen dreizehn unter dem von Gruter gewählten Titel 
„Impetus philosophici” zufammengefaßt find. In Rawley's 
Hinterlaſſenſchaft fanden ſich baconiſche Papiere, aus denen 
Teniſon durch Rawley's Sohn, mit dem er bekannt war, einen 
Theil erhielt, den er als „Baconiana“ 1679 herausgab. Zu⸗ 
letzt gab Stephens im Jahre 1734 aus Bacon's Nachlaß 
„Letters and remains“. Eine vollſtändige und methodiſche 
Herausgabe der baconiſchen, Opera postuma“ blieb eine Aufgabe, 
die erft die jüngfte englifche Gefammttausgabe zu Löfen gefucht hat. 


IH. 
Das Geſammtwerk und deffen Theile. 
(Instauratio magna.) 


Es iſt eine Aufgabe bibliographifcher Specialforfhung, 
jedes baconifche Schriftftüc zu unterfuchen und von feiner Ent- 
ftehung kritiſch NRechenfchaft zu geben. Wir haben es bier mit 
den Hauptwerfen zu thun und werden bei der zerftüdelten 
Natur des Ganzen die Einfiht in den Entwidelungsgang der- 
felben am beften gewinnen, wenn wir von der Vorftellung des 
Gefammtwerls ausgehen, wie Bacon felbft es geordnet und 
die Ausführung deffelben im Sinne gehabt. Er ‘hat kurz vor 
feinem Tode diefen feinen Plan dem Bater Zulgentius brief- 
ich auseinandergefett. Das Gefammtwerk führt den Namen, 
der bie durchgängige Aufgabe feines wiſſenſchaftlichen Lebens 
bezeichnet: die große Erneuerung der Wiffenfchaft („Instauratio 
magna”). Dazu ift die erfte Bedingung eine volljtändige 
Veberfiht und Eintheilung der Wiffenfchaften, um genau zu 
wiflen, welche Aufgaben zu Löfen find; die zweite tft die Art 








122 


der Löfung, das Yuftrument zur Erneuerung der Wiffenichaft, 
die richtige Erfenntnigmethode; die dritte foll das Material 
oder den Stoff der Welterlenntniß d. 5. die gefchichtlihe Samm- 
tung und Beichreibung der Welterfcheinungen Tiefern; die vierte 
und letzte hat die darauf gegründete oder daraus gelöfte philo- 
ſophiſche Erfenntniß zum Ziel. Demnach zerfällt die „In- 
stauratiamagna“ in vier Haupttheile: 1) die EnchKlopädie, 2) die 
Methodenlehre, 3) die Naturgefchichte, 4) die wirkliche Philofophie. 

Zwiſchen dem erften und zweiten Theil wollte Bacon 
feine politifhen und moralifhen Schriften als einen befonderen 
Band („tomus interjectus”) eingefchoben wiffen; fie find dem 
erften Theil nicht blos willfürlih angehängt, fondern ftehen 
mit demfelben in einem ſachlichen Zufammenhang: dort giebt 
Bacon feine Anficht von den Aufgaben der politifchen Ge- 
thichtsichreibung, von der Bedeutung der Poefie, von den 
Aufgaben und der Führung des menfchlichen Lebens, er giebt 
jede diefer Anfichten an ihrem enchklopädiſch beftimmten Orte; 
hier zeigt er in einzelnen Fällen, wie politifche Gefchichte zu 
ſchreiben, Poefte zu erklären, wichtige Lebensfragen zu nehmen 
find. Der eingefhobene Band follte die Geſchichte Heinrich's VII. 
die Abhandlungen über die Weisheit der Alten und die „Essays“ 
enthalten. Diefe leßteren wünfchte Bacon ſoweit ala möglid) ver- 
breitet und aufdie Dauer erhalten; er hatte fte engliſch gefchrieben, 
aber die lateiniſche Sprache erfchien ihm als eine größere Bürg⸗ 
ihaft für die Verbreitung und Dauer einer Schrift, daher betrieb 
er die Lateinifche Ueberſetzung; fie erfolgte durch Rawley im Jahre 
1638 unterdem Titel: „Sermones fideles sive interiora rerum.“ 

Der dritte Theil giebt das Erfenntnigmaterial gefammelt 
und geordnet, das Magazin und Schatzhaus der Wiffenfchaft, 
der lebte die methodisch darans gelöſte Erkenntniß. Zwifchen 








123 


diefe beiden Theile der „Historia naturalis‘ und der „Philo- 
sophia activa” ftellt Bacon noch zwei Mittelglieder, die von 
dem einen zum andern führen, den Weg zur Erfenntniß zeigen, 
die Leiter oder den Faden geben follen, um aus dem Walde 
der Thatfachen zum Licht der Erkenntniß durchzudringen; er 
nennt daher den erjten Zwifchentheil „Scala mentis‘ oder 
„Filum labyrinthi“, ben zweiten „Prodromi sive anticipatio- 
nes philosophiae secundae“. Hier will Bacon feine eigenen 
Entdedungen als Beifpiele oder Vorfpiele der wahren Philo- 
jopbie geben. So umfaßt, wenn die moralifchen und politi- 
ſchen Schriften nur als Anhang des erften Theils gelten, das 
Gefammtwert ſechs befondere Theile. 

Davon bat Bacon nur den erften vollftändig ausgeführt, 
der zweite ift Bruchftüd geblieben, von dem dritten jagt er 
felbft, daß eine vollitändige Weltbefchreibung kein Privatmann 
keiften Könne, denn fie fordere einen Aufwand von Mitteln 
und Kräften, die nur Königen oder Körperfchaften zu Gebote 
ftehen. Er Hatte die Abficht, außer jener Sammlung von 
Thatfahen und Verſuchen in zehn Centurien, die Rawley unter 
dem Zitel: „Silva silvarum‘ herausgab, einige naturgeſchicht⸗ 
liche Beiträge zu liefern, deren er ſechs verſprach, aber nur 
drei (die wir oben genannt haben) ausführte.e Zu den drei 
andern über das Schwere und Leichte, über die Sympathien 
und Antipathien der Dinge, über Schwefel, Duedfilber und 
Salz bat er nur Borreden gefchrieben. *) Auch was den vierten 


*) Historia gravis et levis, H. sympathiarum et autipathiarum 
rerum, H. sulphuris,.mercurii, salis. — Zu biefer Art Unterfuchungen 
gehört auch die Abhandlung Über Ebbe und Fluth (De fluxu et refluxu 
maris) und über Schall und Gehör (Hist. soni et auditus). Jene bat 

Gruter (1653), diefe Rawley (1658) heransgegeben. 


124 


und fünften Theil des Geſammtwerks betrifft, haben fih in 
Bacon's Nachlaß nur Vorreden gefunden, die Gruter heraus- 
gegeben hat.“) ‚Der Iekte Theil bleibt nad) Bacon felbit 
Zukunftsphiloſophie. 


II. 
Die Hanpiwerke und deren Eutſtehung. 
1. Die Eucyllopädie. 

Demnad find die Bücher über den Werth und die Ver⸗ 
mehrung ber Wifjenjchaften und das neue Organon unter 
Bacon’s philofophifchen Schriften die ausgeführteften und bei 
weiten die wichtigſten. Wir wollen fehen, wie dieſe beiden 
Werke entitanden find und welche Tleinere Schriften fih um 
fie gruppiven oder ihnen als Verſuche und Entwürfe voran: 
gehen. " 

Die Enchklopädie oder die Schrift „De dignitate et aug- 
mentis scientiarum” ift ſchon achtzehn Jahre vorher in den 
beiden Büchern „The advancement of learning‘ vorgebildet: 
das erfte Buch) ift wahrſcheinlich 1603 verfaßt, gleich nad) dem 
Tode Elifabeth’s, es Handelt vom Werthe der Wiſſenſchaft, 
ihrer Bebeutung für Könige und Staatsmänner, und ift vielleicht 
auf das Intereffe Jakob's berechnet, der eben damals den Thron 
beftieg; das zweite Buch fällt in das Jahr 1605 und beſchäf⸗ 
tigt fid) mit den Mängeln und Aufgaben der Wiffenfchaft, wahr- 
Scheinlich wurde es während der Vertagung des eriten Parla- 


*) Unter den Impetus philosophici: „Scala intellectus sive filum 
labyrinthi, prodromi sive anticipationeg philosophiae secundae.” Bor- 
hergebt „Phaenomena universi sive historia naturalis ad condendam 
philosophiam'’, als Berfuch einer Vorrede zum dritten Haupttheil des 
Geſammtwerks. 


125 


ments (December 1604 bis October 1605) verfaßt; es ift an 
Umfang dreimal fo groß als das erfte und enthält die Materien, 
welche das fpätere Hauptwerk in neun Büchern und in latei- 
niſcher Sprache ausführt. 

Die Wiſſenſchaft als das geiftige Abbild der wirklichen 
Welt nennt Bacon gern den „globus intellectualis“, die Dar⸗ 
ftellung deffelben wird in dem erften Theil des Geſammtwerks 
bezwedt. Zwifchen der erften englifchen Faſſung und der 
loteinifchen Ausführung jteht ein Entwurf, der das Haupt⸗ 
werk gleichfam im Keime enthält: „Descriptio globi intellectua- 
lis.” Da bier eine ajtronomifche Entdedung aus dem Jahre 
1600 erwähnt und bemerkt wird, daß diefe Entdedung vor 
zwölf Jahren gejchehen fei, fo ift die Schrift aus dem Jahre 
1612. Eine zweite Abhandlung „Thema coeli“ hängt mit 
ehr nahe zufammen, beide Schriften find unter denen, Die 
Gruter herausgegeben. Was aljo die baconifche Encyklopäbdie 
betrifft, jo ift der chronologiſche Entwidelungsgang derſelben 
durch die Sabre 1603 bis 1605, 1612, 1622 bis 1623 be- 
zeihnet. Die lateinifche Ueberſetzung beginnt 1622, 


2. Dad nene Organen, 


Das Organon erichien 1620 mit einer Vorrede zu dem 
Geſammtwerk, einer Eintheilung des leßteren und einer Special: 
vorrede. Der Plan des Ganzen ift Hier ſchon fo bejtimmt, 
wie fünf Jahre Später in dem Briefe an Tulgentius. Es zer- 
fällt in zwei Theile, der zweite ift Bruchſtück geblieben; doc 
ift unter allen baconifchen Werken keines jo durchgearbeitet wie 
das Drganon, namentlich in feinem erften Theil. Bacon felbft 
erflärt, daß er es Jahr für Jahr umgefchrieben, int Ganzen 
wölf mal; dies bezengt auch Rawley, der die Handjchriften 





126 


geſehen: mithin fällt die erfte Ausarbeitung des Organons in 
das Jahr 1608. 

Doch find die Anfänge zu dieſem Werke noch früher. Es 
giebt zwei Schriften, die das Organon vorbilden und die 
Grundgedanken bereits enthalten. Die erſte und wichtigſte führt 
den Titel: „Gedanken und Meinungen” (Cogitata et visa), 
in dem Jahre 1607 verfaßt, wie aus Briefen zwifchen Bacon 
und Thomas Bodley erhellt. ‘Die Uebereinſtimmung dieſer 
Schrift mit dem erften Buche des Organons liegt am Tage, 
hier wird die Aufgabe gelöft, welche dort geitelltwird: nämlich 
die Eremplificirung der neuen Methode. An die „Cogitata” 
| fchließt fi) unmittelbar das Organon vom Jahre 1608. 

Die zweite Schrift heißt im Hinblid auf das Geſammt⸗ 
wert: „Abriß und Inhalt des zweiten Theils (Partis secundae 
delineatio et argumentum)”. Mit dem Organon verglichen, 
enthält fie diefelben Grundgedanken, doch ift Hier die Ueber- 
einſtimmung nicht jo genau, nicht fo augenfällig, wie bei den 
„Cogitata et visa”, auch enthält fie nichts von der Aufgabe, 
die Methode felbjt exremplarifch darzuftellen. ‘Daher fteht fie 
dem Organon ferner als jene und ift alfo früher, wahrfchein- 
lich fällt fie in das Jahr 1606. 

Wenn der Titel diejer Schrift von Bacon felbft herrührt, 
fo muß der Plan des Geſammtwerks, ich meine der „„Instauratio 
magna”, ſchon damals feftgeftanden haben. Der Name „in- 
stauratio“ findet fich in feinen Briefen nicht vor 1609. 
Beide Schriften find erft von Gruter veröffentlicht wor- 
den, bie zweite gehört zu den „Impetus philosophici”. Eben 
bort findet fi eine Neihe Kleiner Schriften, die als Vor—⸗ 
läufer und rudimentäre Formen des neuen Organons betrachtet 
werden müffen, wie die Unterfuhung über die Bewegungs⸗ 


127 


gefege, die Aphorismen und Rathichläge über die Hülfs- 
mittel des Geiftes, die zwölf Meinungen über die Erklärung 
der Natur, während das Proömium zu der lebteren als 
der Verſuch eines Vorworts zu dem Gefammtwerf erjcheint.*) 

Offenbar ift der erfte das ganze Erneuerungswerf Bacon’s 
bewegende Gedanke die Meberzeugung von der Unfruchtbarkeit 
und Nichtigkeit der bisherigen Syſteme geweſen. An .diefem 
Punkte bat er angefegt, und man darf annehmen, daß je 
früher die Entwürfe find, um fo geringfchätender und weg- 
werfender die Haltung ift, die er gegen bie überlieferte Philo- 
fophie zeigt. Der Sat gilt auch umgekehrt. Seine erfte 
Schrift foll den etwas großfprecherifchen Namen geführt haben: 
„Die größte Geburt der Zeit” oder aud) „die mannhafte Ge- 
burt der Zeit“ (Temporis partus maximus oder masculus). 
Das von Gruter herausgegebene Bruchſtück trägt diefen Cha- 
rakter; nirgends redet Bacon mit fo vieler Verachtung von 
den früheren Syftemen; die Zerftörung der verfchiedenen phi- 
loſophiſchen Theorien gilt als die erſte und nothwendigfte 
aller Arbeiten. 


3. Die Encyllopädie und das Organon, 


Es giebt eine baconifche, aus dem Nachlaß erſt ſehr fpät 
durch Stephens veröffentlichte Schrift, welche den Keim für 
beide Hauptwerfe und den Grund ihrer Trennung enthält. 
Titel und Sprade find dunkel und deuten auf eine frühe Ab- 
foffung, bei welcher Bacon vielleicht nod nicht die Abficht 
Hatte, für die Welt, fondern nur für Auserwählte zu ſchreiben. 

*) Filum labyrinthi sive inquisitio legum de motu, Aphorismi et 


consilia de auxiliis mentis, De interpretatione naturac gententiae XII. 
De interpretatione naturae proovemium. 


128 


Da er dem vergebliden Suchen der früheren Philoſophie ein 
Ziel (terminus) ſetzen wollte, jo hat er die Schrift vielleicht 
deshalb „Valerius Terminus” genannt. Sie enthält den 
frühften Typus für das Geſammtwerk. In dem zehnten Ka⸗ 
pitel wird ein Inventar der gemachten Entdeckungen, in dem 
folgenden die Auffindung des Weges und der Methode zu 
richtigen Entdeckungen gefordert; dort iſt die Aufgabe der En⸗ 
chflopädie, hier die des Organons geſtellt. Was in der Schrift 
„De augmentis” in neun Büchern, in „The advancement” 
in zweien gegeben wird, drängt fich hier in ein Kapitel zu- 
fammen. Offenbar ift diefe Schrift früher, als die beiden 
Bücher „The advancement of learning“, fie fällt vor 1603. 
Es läßt fich daher fchließen, wie e8 auch die Natur der Sache 
mit fih bringt, daß die Aufgabe eines neuen Organons ber 
Erfenntniß im Geifte Bacon's ſchon mit aller Klarheit gefaßt 
war, als der Plan einer Enchklopädie und bed Geſammtwerks 
no ganz unentfaltet im Reim lag, daß von der Idee des 
DOrganons aus fi) der wiſſenſchaftliche Geſammtplan entwickelt, 
daß e8 nicht blos einen Theil der „Instauratio magna“, fon- 
dern das Wefen berfelben, den erneuenden Grundgedanken 
felbft und die tragende Kraft des Ganzen ausmacht. 

Nach diefer Richtfehnur werden wir in dem folgenden 
Bude die Lehre Bacon’s darftellen. 


IV. 
Geſammtausgaben. 


Don den Geſammtausgaben der Werke Bacon’s fällt eine 
in das 17., zwei in das 18. Jahrhundert, drei in dieſes. 
Die älteſte erfchien ein Menfchenalter nad) dem Zode des 


129 


Philoſophen bei I. B. Schönwetter zu Frankfurt a. M. unter 
dem ‚Titel; „Reancisci Baconi baronis de Verulamio, vice- 
comitis S. Albani, summi Angliae cancellarii opera omnia, 
quae extant, philosophica, moralia, politica, historica.“ 
Borangegangen waren Rawley's und Gruter’s Ausgaben nach⸗ 
gelaffener Werte, Ich werde gewöhnlich nach diefer Ausgabe cittren. 

Die erfte englifche Gejfammtausgabe der Werke Bacon's 
verfuchte Blackbourne (London 1730, 4 vol.). Die Eintheilung 
folgt im Ganzen der baconifchen Anordnung des Gefammtwerfs, 
alle Schriften follen in einen fyitematifhen Zufammenhang 
gebracht werden, dies geſchieht auf Fünftliche und wilffürliche 
Weife ohne die Spur einer chronologiſchen Ordnung. Drei- 
unddreißig Jahre fpäter folgt eine zweite Gefammtausgabe 
von Bird, die ſich in der Eintheilung nach der vorhergehenden 
richtet (London 1763). Auch die dritte Gefammtausgabe, die 
Bafil Montagu verfuht (London 182534), verbefiert die 
Deüngel der vorhergehenden nicht. Daſſelbe gilt von der 
franzöfifchen Ausgabe Bouillet's (Paris 1834). 

Die befte und volfftändigfte Gefammtausgabe ift die jüngfte, 
zu der fich drei Männer in Cambridge vereinigt haben: Iames 
Spedding, 2. Ellis, D. D. Heath. Der Titel heißt: „The 
works of Francis Bacon, baron of Verulam, viscount St. 
Alban and Lord high chancellor of England” (London, Long⸗ 
mans, 1862—70). Die Eintheilung zerfällt in drei Gruppen: 
philofophifche und Literarifche Werke, juriftifche und Gelegenheits- 
Schriften. Zu den letzteren gehören die Briefe, Reden, Staats- 
papiere u. ſ. w. Die eigentliden Werke umfaffen die erften 
fieben Bände; die folgenden, bis zum breizehnten erfchienen, 
find biographifcher Natur und führen den befonderen Xitel: 


„Die Briefe und das Leben.” Das Unternehmen wurde 1847 be- 
Biſcher, Bacon, 9 





130 


ſchloſſen, den philofophifchen Theil follte Ellis, den juriſtiſchen 
Heath, den legten Spebbing beforgen. Nachdem Ellis erfranft 
war, übernahm Spebding auch deffen Arbeit (1853). Unter 
den philofophifchen Werken find alle begriffen, die Bacon ent- 
weder felbjt veröffentlicht oder zur Veröffentlichung beſtimmt 
und vorbereitet hat. Die nähere Eintheilung giebt die Be— 
ziehung der Werfe auf die Instauratio magna: in die erjte 
Klaſſe fallen die Schriften, die zu dem Geſammtwerk gehören 
und zur Aufnahme in dafjelbe bejtimmt waren; die zweite 
Klaſſe befteht aus folchen, die zwar mit dem Gefammtwerf 
zufammenhängen, aber zur Aufnahme in daffelbe nicht beftimmt 
waren; in die dritte Klaſſe endlich werden ſolche Schriften ge- 
rechnet, die fi zwar auf das Gejammtwerf beziehen, aber 
von Bacon verlaffen wurden. Den philofophifchen Werten 
coordinirt find die Titerariichen, darunter die „Essays“ und 
die hiſtoriſchen Schriften. 

Diefe Eintheilung ift fehr umftändlih und bei aller 
Genauigkeit im Einzelnen dem natürlichen Entwidelungsgange 
der Schriften nicht gemäß, dagegen find die Detailunter- 
fuhungen ſehr werthvoll und gründlid), insbefondere muß 
Spedding's Abhandlung über den Werth der baconijchen Phi⸗ 
fofophie, ſowohl was die Einficht in die Mängel, als bie 
Schätzung ihrer wahren Verdienſte betrifft, zum Weiten ge- 
rechnet werden, was darüber belannt if. Man darf unter- 
richteten Engländern nicht vorwerfen, daß fie über den Werth 
Bacon’s verbiendet urtheilen. 


Zweifes Yu 
ch. 


9* 





Erfies Kapilel. 
Das Ziel der baconifhen Philofophie, 





I. 
Bacon's wiſſenſchaftliche Denkweife. 
1. Leben und Wiſſenſchaft. 

Die großen Leiſtungen eines Menſchen ſind nie ſo abge⸗ 
ſondert und abtrennbar von ſeinem Leben, daß er hier ein 
ganz anderer ſein könnte als in den Werken ſeines Geiſtes; 
eine gewiſſe Uebereinſtimmung findet ſich ſtets zwiſchen der 
wiſſenſchaftlichen Geiſtesrichtung und der perfünlichen Gemüths⸗ 
art; Leibniz hätte mit feinem perfönlichen Charakter niemals 
ein Bhilofoph werden können gleihd Spinoza, Bacon ebenfo 
wenig ein Philofoph gleich Descartes. Die willenichaftliche 
Richtung, die er ergriff, entſprach volllommen der Eigenthüm- 
Iichleit feines Wefens, feinen Bedürfniffen und Neigungen. 
Richt blos er ſelbſt, fondern auch feine Wiffenfhaft war zu 
ehrgeizig, zu thatenluſtig, zu aufgefchloffen für die Welt, um 
fih in der Kinfamkeit zu begraben. Die Macht der Menſch⸗ 
heit zu befördern, nennt er felbft einmal die höchſte Stufe des 
Ehrgeizes; diejen Ehrgeiz hatte feine Wiſſenſchaft, er urtheilte 
früh, daß die dem Weltleben abgewendete Speculation eng 
und unfruchtbar bleiben müfje, daß ſich das bisherige Elend 


134 


der Pbilofophie, dem er abhelfen wollte, miterkläre aus 
dem herkömmlichen Stillleben der Gelehrten. „Die Kenntniffe 
diefer Leute‘, fagte Bacon, „find fo eng als ihre Zellen, als 
die Klöfter und Klofterfchulen, worin fie eingefchloffen Leben 
ohne Kenntniß der Welt, der Natur, des Zeitalter”. Im 
Gegenſatz dazu richtet er fein wiſſenſchaftliches Denken auf 
große praktiſche Zwecke, er findet die Wiſſenſchaft losgetrenut 
von dem Weltleben und möchte ſie mit dieſem in eine neue 
und fruchtbare Verbindung ſetzen; alle ſeine philoſophiſchen 
Pläne zielen dahin, die Wiſſenſchaft zu bereichern, ſie mächtig, 
angeſehen, einflußreich, gemeinnützig zu machen. Bereichern 
läßt ſich die Wiſſenſchaft nur mit Kenntniſſen, mächtig kann 
ſie nur werden, wenn ihre Kenntniſſe nützlich, anwendbar, 
wirkſam ſind. Denken wir uns Bacon's Lebensidee eingeführt 
in die Wiſſenſchaft, ſo wird, was dieſe begehrt, nichts anders 
ſein können, als ein Reichthum nützlicher und mächtiger Kennt⸗ 
niſſe, nur zu erwerben durch einen geſchickten, dem Leben zu⸗ 
gewendeten, für die Welterfahrung eingerichteten Verſtand. 
Statt des Reichthums, den er ſucht, findet Bacon in der vor⸗ 
handenen Wiſſenſchaft das baare Gegentheil, die bitterſte Ar⸗ 
muth, wenige unbrauchbare Kenntniſſe und dazu, um das Elend 
voll zu machen, die dünkelhafte Einbildung wunder wie reich 
zu fein. Will er alſo in der Wiſſenſchaft feinen Willen durch⸗ 
führen, fo muß er diefen Dumkel zerftören und ftatt ber vor- 
handenen Wiffenfhaft, der nicht zu helfen ift, eine neue erwerbs- 
fähige fhaffen. So entfteht in ihm die Idee der „Instauratio 
magna”. Der Baum der Erfenntniß, den er vor fich fieht, 
trägt feine Früchte mehr, man kann nur dürres Laub von ihm 
abfchütteln, und damit befehäftigen ſich die Zunftgelehrten der 
Zeit zu ihrer eigenen großen Genugthuung. Er batte die 


135 


ſcholaſtiſche Gelehrſamkeit kennen gelernt; auf die Frage, was 
er in ihren Büchern gefunden, antwortete er wie Hamlet dem 
Polonius: Worte, Worte, Worte! 

Wenn man Bacon’s Leben und Charakter kennen gelernt 
bet, jo kann man fchon willen, welcher Art die Reformation 
jein wird, die von ihm die Wiffenfchaft erwarten darf: voller 
Intereſſe für Welt und Leben, begierig nah Macht und An⸗ 
jegen, wie er jelbjt war, wird er beftrebt fein, die Wiffen- 
ſchaft praktifch denken zu Ichren, ihren Verftand nur auf die 
wirklichen Dinge zu richten, diefen Verftand fo nüchtern und 
gejhmeidig zu machen, daß er die Dinge vorurtheilsfrei be- 
trachten, richtig ergründen Tünne. Dazu braudte die Wiffen- 
Ihaft eine neue wegweiſende Methode, Bacon ftellte fie auf, 
fie bedurfte eine Menge Hülfsmtittel, um die Schwierigfeit des 
ungewohnten Weges zu befiegen, er jpähte nad) diefen Meitteln 
mit der ihm eigenthümlichen Gewandtheit, er fuchte feiner 
Theorie die bewegliche und biegfame Geftalt zu geben, die ſich 
ganz nad den Umftänden zu richten, überall die offene Stelle 
zu entdeden, für jeden Fall die befondere Handhabe zu finden 
wußte. Diefe Richtung der Wiffenihaft und Bacon's ganze 
SGemüthsart waren für einander gemacht. 


2. Der baconiſche Weg. 

Ich muß bier auf einen Irrtum Hinweifen, den ich über 
die baconische Philofophie vielfach verbreitet finde. Man 
glaubt, daß Bacon wohl ein fruchtbarer und anregender, aber 
fein confequenter Denker gewejen fei, daß in der Verfaffung 
feiner Lehre der ftreng wifjenfchaftlihe Zufammenhang und 
die folgerichtige Verfnäpfung der einzelnen Theile fehle. Ver: 
fteht man unter Conſequenz die ſyſtematiſche Schuleinrichtung 


136 


einer Philojophie, fo darf man diefen Charakter der baconi: 
ſchen abfprechen, indeſſen find Syitem und Confequenz nicht 
daffelbe, es giebt Philofophien, die weder die Abficht noch bie 
Anlage Haben, Schulfyftene zu fein, ohne deshalb die Richt⸗ 
ſchnur zu entbehren, die ihre Grundgedanken verknüpft und 
folgerihtig fortichreiten läßt. Je weniger man in der baconi- 
chen Lehre die eigenthümliche Art und Confequenz ihrer Denk 
weile erfannt hat, um fo mehr machen wir es unjerer Dar- 
jtellung zur Pfliht, die logiſche Bündigkeit bderfelben zu 
erleudten. 

Jeder geordnete Gedanfengang wird durch zwei Haupt- 
punkte beftimmt: von dem einen geht er aus, nad) dem andern. 
ftrebt er Hin, jener ift fein Ausgangspunkt, diefer fein Ziel. 
Welcher von beiden die Richtichnur giebt, ift für die Dentweife 
enticheibend: ob erit der Ausgangspunkt genommen und von 
hier in folgeridtiger Tortbewegung das Ziel gefucht, oder ob 
zuerst dieſes deutlich ins Auge gefaßt und darnad) der Weg 
abgemefjfen und beftimmt wird bis zu dem Punkte, von dem 
aus er beginnt. Seken wir den erften Yall, fo beginnt das 
Denen mit einem Princip oder einem Grundſatz, aus welchem 
alles Weitere gefolgert wird in geordneter Reihe, gleichviel 
welches das endlihe Ziel ift. Seken wir den zweiten Fall, 
fo fteht von vornherein das Ziel feit, dieſes erleuchtet den 
Weg, die Mittel, durch die es erreicht wird, die Reihenfolge 
derfelben, deren erftes Glied den Ausgangspunkt oder das 
Princip bildet. Hier alfo wird aus dem Ziele der Ausgangs: 
punkt erſchloſſen; wenn richtig gefchloffen wird, jo ift der Ge- 
dankengang unftreitig confequent, nur ift feine Ordnung, wie 
feine Richtung jenem anderen Wege entgegengefekt, der von 
dem gegebenen Ausgangspunkte zu dem nicht gegebenen Ziele 


137 


fortfchreitet. Wir haben zwei verfchiedene Wege des Denkens 
oder Methoden vor uns, deren jede ihre eigenthümliche Folge⸗ 
richtigfeit beansprucht: in der erjten Methode ift alles beftimmt 
durch den Grundfaß, in der zweiten alles durch das Ziel; 
jene, indem fie Folgerung an Folgerung Tnüpft, verfährt zu- 
fammenfegend oder fynthetifch, dieje dagegen, indem fie dns 
Ziel in die Mittel zerlegt, durch die e8 erreicht wird, verfährt 
auflöfend oder analytifch. 

Wir haben ſchon gefagt, wie Bacon’s erfter und beiwegen- 
Der Grundgedanke, aus dem Leben ſelbſt gefhöpft, ein praf- 
tiſches Ziel, eine Aufgabe ber Welt war; dieſes Ziel Hat er 
zuerft ergriffen und fi) dann über die Meittel befonnen, die 
Dazu führen, diefes Ziel Hat er in feinem Gedankengange ftets 
und underwandt im Auge behalten, daher war fein Denken 
zielfeßend und wegweifend, baher feine Denkweiſe analytifch 
und bemgemäß in ihren Grundlinien beftimmt.. Dean faßt 
ihn schief und verkehrt auf, wenn man meint, er habe ähnlich 
gedacht wie Descartes oder Spinoza; man Tann einen ana— 
Tytischen Denker nicht fynthetifch darftellen, ohne die folgerichtige 
und bilndige Ordnung feiner Ideen in eine willkürliche und 
Iofe zu verwandeln, d. 5. die Konfequenz der Denkweiſe zu 
verderben. Denn ber analytische Schluß von diefem Ziel auf 
dieſe Mittel ift ftreng und zutreffend, während der funthetifche 
von diefen Mitteln auf dieſes Ziel immer precär ausfieht; 
der Zweck fordert gebieteriſch das nothwendige Mittel, wogegen 
das Mittel viele Zwecke haben Tann. Nehmen wir an, Bacon 
habe ſich eine Aufgabe gefebt, die er nur durch Erfahrung, 
nur durch eine ſolche Erfahrung Töfen fonnte, fo war es voll⸗ 
fommen gerechtfertigt, daß er diefe zu feinem Princip erhob; 
wäre er dagegen von ber Erfahrung als feinem Grundjake 











138 


ausgegangen, jo Tonnten ihn von bier aus unzählige Wege 
zu unzähligen Zielen führen. Warum alſo wählte er gerade 
biefen einen Weg und diejes eine Ziel? Jetzt erfcheint als 
beliebige Wahl, was in ihm felbft als nothwendiger Gedanke 
wirkte. Mean fol daher nicht immer wiederholen, daß Bacon 
bon der Erfahrung ausgegangen fei, womit nichts gefagt wird, 
oder nicht mehr, als daß Columbus ein Seefahrer gewefen, 
während doch die Hauptſache ift, daR er Amerika entdedte; die 
Schifffahrt als ſolche war fo wenig der leitende Gedanke des 
Columbus, als die bloße Erfahrung der Bacon's. 

Ueber diefen Gegenfag der beiden Denkweiſen, über dieſe 


Natur der feinigen, geboten durch den innerften Beweggrund 


feines ganzen wiſſenſchaftlichen Wertes, hatte Bacon ſelbſt das 
Harfte Bewußtfein, das er wiederholt in feinen grundlegenden 
Schriften ausfpriht. Wir Haben ihm in der vorhergehenden 
Erklärung nicht etwa unfere Vorftellung geliehen, fondern aus 
feiner Seele geredet. Er unterfcheidet ben bejchaulichen ober 
rein theoretifhen Charakter der Wiffenfchaft von ihrer pralti- 
fhen, in der Welt wirffamen Geltung und ftellt die letztere 
in den Vordergrund, er will die Wiſſenſchaft von ihrer activen 
Seite ergreifen, es exrfcheint ihm ficherer von hier ans zu be- 
ginnen, alle Kräfte des Erfennens auf diejes Ziel zu richten 
und durch. den activen Theil der Wiffenfhaft den contempla- 
tiven zu beftimmen.*) Mit andern Worten, die ganze theo- 
retifche Geiftesarbeit ſoll einem praftifchen Ziele untergeordnet 
fein, dem fie dient. Bisher haben in der Bhilofophie Grund⸗ 
füge geherrſcht, die der Verſtand aus fich felbft nahm, jetzt 
ſollen Aufgaben herrichen, die aus dem Zuſtande der Welt 


* Nov. Org. U, Aph. 4. 





139 


gefhöpft find; Grundfäge find Borausfeßungen, die ohne Rüd- 
fiht auf die wirkliche Natur der Dinge der Verftand anticipixt: 
daher nennt Bacon jene Herrihaft der Grundfäbe die „Me⸗ 
thode der Anticipationen”. Das Weltziel dagegen, welches 
ihm vorjchwebt, fordert das PVerftändniß der Natur und des- 
halb die genaue und gründliche Auslegung ihrer Werke: daher 
nennt er feine Methode „bie der Interpretationen” und fet fie 
jener andern entgegen. Das find die beiden Lehrmethoden, 
bie er fchon in der Vorrede zum neuen Organon unterfcheidet: 
vermöge der einen laſſen ſich gefundene Wahrheiten ſyſtematiſch 
ordnen und darftellen, vermöge der andern dagegen laſſen jid) 
Wahrheiten finden; jene Tann den wilfenfchaftlichen Stoff be- 
arbeiten, diefe dagegen {haft ihn zu Tage, dort ift die Dars 
ftellung, bier die Erfindung die Hauptſache. Soll disputirt 
d. 5. mit Worten über Gegner gefiegt werden, fo ift bie 
„Methode der Anticipationen” an ihrem Plage; foll dagegen 
vorwärts geftrebt, fortgeſchritten, Erfenntniß gewonnen und 
durch Werke über die Natur gefiegt werden, fo kann das nur 
gefhehen durch „die Methode der Interpretation‘‘.*) Auf dem 
alten Wege der Grundſätze und Folgerungen Tann man Worte 
machen, durch Worte gewinnen, Schulen ftiften; der Weg ift 
leicht, daher populär, die belichte Heerjtraße, auf der die 
meiften gehen, aber unfruchtbar und ziellos in der Wiffen- 
ichaft, e8 werden Annahmen auf Annahmen gethürmt, aber 
feine Fundamente gelegt, Tein wirkliches Gebäude errichtet. 
Welhen der beiden Wege man ergreift, hängt ab von dem, 
was man will: will man durch Wortkünfte glänzen, fo bleibe 
man auf bem alten Wege; Hat man dagegen praftifche Ziele 


*, Nov. Org. Praef. Vgl. Nov. Org. I, 19 - 26. 


140 


vor Augen, fo muß man den neuen betreten. Was Bacon 
für feine Sache beanſprucht ift nicht der Beifall der Schulen, 
auch nicht das größere Talent, fondern nur die Richtigfeit des 
Weges in Abficht auf ein beftimmtes, praftifches Ziel. Beide 
Wege können neben einander beftehen, da fie ganz verfchiedene 
Richtungen Haben, nur wird man den neuen Weg nicht nad 
der Richtſchnur des alten beurtheilen dürfen.*) 


II. 
Das baconifche Biel. 
1. Die Wahrheit ber Zeit. 


Welches ift num, näher beitimmt, der Gefichtspunft, der 
die baconifche Philofophie von Anfang bis zu Ende beherrſcht, 
ih meine das Ziel, wonad) der Weg fih richtet? Diefes . 
Ziel fol aus dem Zuftande der Welt, d. 5. aus den DBe- 
dingungen der Gegenwart geſchöpft fein. „Es ift engherzig”, 
fagt Bacon, „ber Zeit ihr Recht zu verweigern, die Wahrheit 
ift die Tochter der Zeit, nicht der Autorität, und welche Seit 
ift älter als die unfrige? Die gewöhnliche Auſicht vom Alter- 
thum ift Teichtfertig und nicht einmal wortgetreu, denn das 
Alter der Welt muß für Altertfum gehalten werben, und 
diefes Alter kommt unferer Zeit zu, nicht dem jüngeren Welt- 
alter der Vorzeit; diefes ift alt in Vergleihung mit uns, aber 
jung in Rüdfiht auf die Welt.” **) Die Welt ift im Laufe 
ber Zeit älter, umfaffender, veicher geworben, die Wiftenfchaft 


*) Nov. Org. I, Aph. 26—33. 
”* Nov. Org. I, 84. Cog. et visa. Op. pg. 593. De augm. 
scient. lib. . 








141 


fol dieſem vorgerüdten Weltzuftande gleichkommen. „Es 
wäre eine Schande für die Menfchheit, wenn die Gebiete ber 
materiellen Welt, die Länder, Meere und Geftirne in unferen 
Zeiten unermeßlidh erweitert und erleuchtet worden, die Grenzen 
der intellectuellen Welt dagegen in der Enge des Alterthums 
feftgebannt blieben.” *) Die Bhilofophie und der Bildungs⸗ 
zuftand der’ Welt find einander ungleich, diefe Ungleichheit ſoll 
aufhören; die Philoſophie ift zurückgeblieben, fie ſoll die Gegen- 
wart einholen: das ift die Aufgabe. | 


2. Die Erfindung. 


Wir kennen die großen Weltveränderungen, die dem baco- 
niſchen Zeitalter vorausgehen, die Erweiterungen, weldje auf 
allen jeinen Gebieten der menſchliche Geſichtskreis erfährt. **) 
Entdedungen im Bunde mit Erfindungen haben eine neue 
Weltcuftur begründet, und es giebt feinen größeren Contraft 
inmerhalb der Menfchheit, als wenn die wilden Völker ber 
neuen Welt verglichen werden mit den gebildeten Völkern der 
alten Welt. „Was für ein Unterfehied”, ruft Bacon aus, 
„Wiſchen dem menfchlichen Leben in einem gebildeten Lande 
Europas und dem in einer wilden und unbebauten Gegend des 
neuen Indien! Führwahr diefer Unterfchied ift jo groß, daß 
man mit Recht fagen Tann, der Menfch fei ein Gott für den 
Menſchen, nicht blos, weil er ihm Hülfe und Wohlthaten er- 
weift, fondern auch durd) den Unterfchied der Bildung, umd 
dies bewirkt nicht Klima und Natur allein, fondern ber menſch⸗ 
liche Runftfleiß. Mit immer neuem Vergnügen bemerken wir 
die Bedeutung, Macht und Tragweite menfchlicher Erfindung; 


*) Nov. Org. I, 8. 
**) S. oben Bud I, Cap. I, ©. 33—35. 


5 


142 


nirgends erſcheinen ſie deutlicher als in jenen drei Erfindungen, 
die dem Alterthume unbekannt waren und deren Anfänge zwar 
neu, aber dunkel und unberühmt find: nämlich in der des 
Pulvers, des Compaſſes, der Buchdruckerkunſt. Dieſe drei 
Erfindungen haben die Phyfiognomie und den Zuſtand der 
Welt umgeſtaltet, in der Wiſſenſchaft, im Kriegsweſen, in der 
Schifffahrt. Und zahlloſe Reformen find ihnen gefolgt. Keine 
Herrichaft, feine Secte, fein Geftirn hat je größere Macht und 
größeren Einfluß auf die menſchlichen VBerhältniffe ausgeübt, 
als diefe mechanischen Dinge.” *) 

Der erfinderifche Menfchengeift hat die neue Zeit geſchaffen: 
bier erfennt Bacon die Aufgabe, welche das Zeitalter ihm 
ftellt. Die Bhilofophie zeitgemäß machen heißt foviel, als fte 
in Webereinftimmung bringen mit dem Geift der Erfindungen 
und Entdedungen. Den bisherigen Erfindungen bat es am 
philofophifchen Geiſte gefehlt, der bisherigen Philojophie an 
der Richtung, welche Entdeckung und Erfindung zu ihrem Ziel 
hat. Die bisherige Wiſſenſchaft Hat feine Werke erfunden, 
die bisherige Logik Feine Wilfenfchaft.**) Die Erfindung war 
bisher dem Zufall preisgegeben, und barum felten, von 
jest an ſoll fie abfihtlich gefhehen, und darum Häufig; bie 
Menſchen follen nicht blos finden, fondern erfinden: an bie 
Stelle des Zufalls fol der Plan, an die bes Glücks die Kunſt 
treten. Was bis dahin „casus” war, foll von jekt an „ars“ 
werden. Wenn den Menſchen, fagt Bacon, viele Erfin- 
dungen geglüdt find, während fie nicht darauf ausgingen, 
während fie ganz andere Dinge fuchten, fo müſſen fie ohne 


*) Nov Org. I, 129. Bgl. Cog. et visa. Op. pg. 692. 
**) Nov. Org. I, Aph. 11. 





143 


Zweifel weit mehr entdecken, ſobald fie gefliſſentlich fuchen, 
planmäßig und in geregeltem Wege, nicht ungeftüm und beful- 
toriih. Mag e8 immerhin bisweilen gefchehen, daß jemand 
dur einen glücklichen Zufall auf etwas geräth, das dem müh— 
ſamen Forſcher vorher entgangen ijt, jo wird dod im Ganzen 
genommen ficher das Gegentheil ftattfinden. Denn der Zufall 
wirkt felten, ſpät und zerftreut, die Kunſt dagegen ftetig, ſchnell 
und in Fülle. Auch läßt fich aus den vorhandenen Erfindungen 
auf die verborgenen fchließen. Bon den vorhandenen nämlich 
find einige der Art, daß fie kein Menſch geahnt hätte, bevor 
fie gemacht waren; denn die Dienfchen haben immer nur das 
Alte vor Augen, daran hängt ihre Einbildungsfraft, und wie 
es diefe mit fi) bringt, fo fafeln fie über das Neue. Nehmen 
wir an, es hätte jemand vor Erfindung des Pulvers die Wir- 
tungen defjelben als Facta befchrieben und etwa gefagt: es ſei 
ein Mittel gefunden worden, um die ftärkften Mauern und 
Befeftigungen aus weiter Ferne zu erfchüttern und umzuftürzen, 
jo würden die Leute auf manche Einfälle gelommen fein, wie 
man die Kräfte der Wurfmafchinen durd; Gewichte und Räder 
und ähnliche Dinge vermehren Tünne, aber von dem Feuer⸗ 
. winde hätte niemand aud nur eine Ahnung gehabt. Denn 

davon gab es Fein Beifpiel, Tein Vorbild, außer etwa im Erd» 
beben und im Blitz, und ein ſolches Beifpiel hätte alle Welt 
als unnachahmbar verworfen. Und ganz biefelbe Bewandtniß 
bat es mit der Erfindung der Seide. Hätte jemand gefagt, 
e8 gäbe einen Stoff, der Leinwand und Wolle an Feinheit 
und Feftigfeit, an Glanz und Weichheit Übertreffe, fo würden 
die Leute eher an alles Andere, wie Pflanzen, Haare, Federn, 
mir nidt an die Spinnerei eines Wurms gedacht haben. Aehn⸗ 
lich verhält es ſich mit ber Erfindung des Compaſſes und der 





144 


Typen. So jchwerfällig ift der menſchliche Verſtand. Zu- 
erft mistraut er der Erfindung umd dann verachtet er fich ſelbſt; 
zuerft fcheint ihm unglaublich, daß eine foldhe Erfindung ge- 
macht werden könne, und wenn fie gemacht ift, fcheint es ihm 
alsbald unglaublih, daR diefe Erfindung dem menfchlichen 
Geiſte fo lange entgehen fonnte.*) 

Jede wahre Entdedung foll gefchehen, wie die des Colum⸗ 
bus, der nicht auf gut Glück in die See führt, fondern das 
Ziel bedacht und gegründete Hoffnung Hat, das Land in Weften 
zu finden. Mit ihm vergleicht Bacon das eigene Wert, das 
den Weg zeigen will auf ein bejtimmtes wohlbegründetes Ziel.**) 
Das Ziel ift die Erfindung, der Weg das auf Erfindung an⸗ 
gelegte und eingerichtete, dazu gejchidte Denken, die Logik des 
Erfindens, die „ars inveniendi”. In biefer neuen Logik liegt 
der Kern feiner Aufgabe, den man nicht treffend genug bes 
zeichnet, wenn man ihn gemeiniglic den Philofophen der Er- 
fahrung nennt. Diefer Begriff ift zu unbejtimmt und zu weit. 
Er ift der Philoſoph der Erfindung. Darunter verftehe man 
nicht einen Erfinder, fowenig man unter einem Philofophen 
der Kunſt einen Künftler verfteht. Seine Philofophie ift Tein 
Syſtem, fondern ein Weg, er hat es unzähligemal gefagt, fie, 
ift unbegrenzt, wie das Reich der Erfindung, fie will ein be- 
wegliches Inftrument, Fein ftarres Lehrgebäude fein, Teine ge 
ſchloſſene Schule, Teine abgemachte, in fich vollendete Theorie. 
„Wir wollen verfuchen”, fagt Bacon, „ob wir die Macht des 
Menfchen tiefer begründen, weiter ausdehnen können, und 
wenn unfere Erfenntniffe auch hie und dba in manchen fpeciellen 


*) Nov. Org. I, 108 - 10. Bgl. ebendaf. II, 31. 
”) Nov. Org. I, 92 (Schluß). 


145 
Materien wahrer, ficherer, fruchtbarer find als die herfümm- 
lichen, fo geben wir dennoch feine allgemeine in ſich abge- 
ſchloſſene Theorie.‘ *) 

Feder Philofoph Hat ein Vorbild, das er in feinem Denken 
zu treffen und in Wiſſenſchaft aufzuldfen fucht. Plato's Vor⸗ 
bild war bie helleniſche Kunſt, die fi) in den Werfen ber 
Dichter und Bildhauer feines Zeitalter ausprägte; Bacon's 
Borbild ift der erfinderifche und entdeckende Geift, der feinem 
Zeitalter vorleudtet. Beide Bhilofophen verhalten und unter- 
Scheiben fich, wie ihre Zeitalter; ihre Begriffe richten ſich nad 
der menfchlichen Kunft, aber die Kunft, welcher der griechifche 
Philoſoph gleihlommt, ift die theoretifche, bedürfnißloſe der 
Ihönen Form, diejenige dagegen, der Bacon entfprechen will, 
die praftiiche, erfindungsluftige des menfchlichen Nutens. Cr 
analyfirt die Erfindung, wie Ariftoteles den Beweis. Beide 
BHilofophen find Analytifer. Die Zergliederung des theore- 
tiſchen Wiffens gab die Unterfuhungen, bie den Inhalt des 
alten Organons ausmahen; die Analyfis der Erfindung foll 
der Inhalt des neuen fein. 


3. Die Herrſchaft des Menſchen. 

Das Ziel der Wiſſenſchaft iſt die Erfindung. Das Ziel 
der letzteren iſt die Herrſchaft des Menſchen über die Dinge, 
dieſe alſo iſt unter Bacon's Geſichtspunkt der alleinige und 
höchſte Zweck der Wiſſenſchaft. Der Menſch vermag nur ſo⸗ 
viel, als er weiß, ſein Können reicht nur ſoweit als ſein 
Wiſſen, Wiſſenſchaft und Macht fallen in einen Punkt zuſam⸗ 
men.**) Je mehr eine Erfindung das Reich der menſchlichen 

*) Nov. Org. I, 116. 


**) Cog et Visa, Op. p. 592. Nov. Org. L 3. 
Sifher, Bacon. iO 





146 


Herrfchaft erweitert, um fo gemeinnüßiger und deshalb um 
fo größer ift die erfinderifche That, um jo werthvoller und 
mächtiger ift die Wiffenfchaft, durch die fie ftattfindet. Nicht 
die Art der Objecte adelt die Wiffenfchaft, fondern der Dienft, 
den fie der Menſchheit leiſtet, es ift eine falfche Anficht, ge- 
wiſſe Dinge für vornehmer als andere zu halten und biefen 
Rang auf die Wiffenichaften zu übertragen, e8 giebt in ber 
Wirklichkeit nichts, das der Erforfchung unwerth oder für den 
Verſtand verächtlich wäre, die Wiffenfchaft Tennt fo wenig als 
die Sonne etwas Niebriges oder Gemeines. „Was die gering- 
fügigen und hHäßlichen Dinge betrifft, von denen man, wie 
Plinins jagt, nicht reden darf ohne um Erlaubnig zu bitten, 
fo müfjen fie ebenfo gut erfannt werden als die herrlichſten 
und koſtbarſten. Die Wiffenfchaft tft nicht zu befleden, auch 
die Sonne beleuchtet auf gleiche Weile Paläfte und Cloaken 
und wird dadurch nicht unrein. Wir wollen Tein Capitol und 
feine Pyramide dem menfchlichen Uebermuthe weihen oder er- 
bauen, fondern einen Heiligen Tempel im menfchlichen Geifte 
gründen nach dem Vorbilde der Welt. Was werth ift zu fein, 
das ift auch werth gewußt zu werden, denn die Wiffenichaft 
ift das Abbild des Dafeins, und nun find die niedrigen Dinge 
fo gut vorhanden als die herrlichen.”* Genau fo dachte So- 
frates, dem unter den menſchlichen Dingen nichts zu gering 
und zu jchlecht fchien, um daraus eine richtige und wahre 
Borftellung zu löſen. 

Man Tann die Dinge nicht beherrjchen ohne fie zu fennen, 
und die Einficht, welche die Dinge durchfchaut, ift nur durch 
eine lange Bekanntſchaft, durch einen vertrauten Umgang zu 


*) Nor. Org. I, 120. 


147 


erreihen. Wie fih die Menfchentenntnig nicht vorweg nehmen, 
fondern nur im eingehenden und fortdauernden Verkehr er- 
werben läßt, ebenſo die Kenntniß der natürlichen Dinge. 
Diefer Verkehr ift die Erfahrung, die Welterfahrung, die 
fih mitten im Getriebe der Dinge aufhält und deren Aeuße⸗ 
rungen mit unbefangenem umd -offenem Sinme beobachtet. Der 
Weg zur Erfindung führt daher dur die Erfahrung; die Er- 
findung ift Zweck, die Erfahrung das nothmendige Mittel, 
So wird Baron der Philofoph der Erfahrung. Es fehlt viel, 
dag die Erfahrung als foldhe ſchon Erfindung ift, Erfahrungen 
haben die Menfchen von jeher gemacht und machen fie täglich, 
warum micht in eben dem Maße Erfindungen? Weil ihnen 
fehlt, was allein die Erfahrung erfinderijch macht: der entdedlerfbe 
Geiſt. Wie alfo muß die Erfahrung eingerichtet werden, damit 
die Erfindung unwilffürlich und nothwendig daraus herporgehe? 
Dies ift die Frage, in welche die baconifche Aufgabe fich faßt. 

Die Erfindung ift eine Kunft, die fi von der üfthetifchen 
darin unterfcheidet, daß diefe durch die Phantafie etwas Schönes, 
jene durch den Verftand etwas Nütliches hervorbringt. Nütz⸗ 
fi ift, was dem Menſchen dient, feine Macht vermehrt, die 
Macht der Dinge ihm unterwirft. Die gefährlichen Natur- 
fräfte werden ums durch die Erfindung dienftbar und botmäßig, 
fei e8 daß wir fte gebieterifch brauchen oder fiegreich abwehren. 
So ift der Blitz eine Naturgewalt, die uns bedroht, der Blit- 
ableiter eine Erfindung, die uns jener Gefahr gegenüber fichert. 
Um aber eine foldhe Erfindung zu machen, um überhaupt durch 
den Verftand etwas hervorzubringen, muß ich alle dazu erfor- 
derlihen Bedingungen Tennen. Jede Erfindung ift eine An- 
wendung von Naturgefegen. Um diefe anzuwenden, muß man 
fie fennen, man muß wiffen, unter welchen Bedingungen 


10* 





148 


Wärme ftattfindet, um ein Inftrument zu erfinden, welches 
Wärme erzeugt. Man muß die Naturgefege des Blitzes Tennen, 
um dem eleftrifchen Funken die ableitende Spike zu bieten. 
Und fo in allen Fällen. Unfere Macht über die Natur gründet 
fih auf unfere Einfiht in die Natur und deren wirfjame 
Kräfte Wenn id) die Urfache nicht weiß, wie will ich die 
Wirkung erzeugen? „Macht und Wifjenfchaft”, jagt Bacon, 
„fallen zufammen. Denn die Unkenntniß der Urſache vereitelt 
die Wirkung. Die Natur läßt fih nur befiegen, wenn man 
ihr gehorcht, und was dem forfchenden Verftande als Urfache gilt, 
eben dafjelbe gilt dem erfinberifchen als Richtſchnur und Regel.” *) 

Alſo das richtige Verftändnig der Natur ift das Mittel, 
wodurd die Erfahrung zur Erfindung führt. Iſt die Wiffen- 
ſchaft die Grundlage alles Erfindens, fo ift das richtige Ver⸗ 
ftändnig der Natur oder die Naturwiffenfchaft die Grundlage 
alles Willens, „die Mutter aller Wiffenfchaften”, wie Bacon 
fie nennt.**) Die Naturwiffenfchaft aber verlangt die richtige 
Auslegung der Natur, eine Kenntniß nicht blos ihrer Er⸗ 
ſcheinungen, ſondern ihrer Geſetze, d. h. eine wirkliche Natur⸗ 
erklärung. Dieſe macht den entſcheidenden Wendepunkt, in dem 
die Theorie praktiſch, die contemplative Wiſſenſchaft operativ, 
die Erkenntniß productiv, die Erfahrung erfinderiſch wird. 
Und die Erfindung ſelbſt bildet den Uebergang von der Er— 
klärung der Natur zur Herrſchaft des Menſchen. Durch die 
Wiſſenſchaft wird die Erfahrung Erfindung, durch die Erfindung 
wird die Wiſſenſchaft zur menſchlichen Herrſchaft. Unſere 
Macht beruht auf unſern Erfindungen und dieſe auf unſerer 
Einſicht. In Bacon's Geiſt gehören Macht und Wiſſen, 


*) Nov. Org. I, 3. 
**) Nov. Org. I, 80. 


149 


menfchliche Herrihaft und wiffenjchaftliche Naturerflärung fo 
wefentlich zufammen, daß er beide einander gleichſetzt und durch 
„oder” verbindet: fein neues Organon handelt „de inter- 
pretatione naturae sive de regno hominis”. 

Daß im Wilfen unfere Macht beftehe: in biefem echt 
philofophifhen Satze ftimmen Bacon und Spinoza überein, 
Nah Bacon maht uns das Wilfen erfinderifh) und darım 
mädtig, nad) Spinoza macht uns das Wiffen frei, indem es 
die Herrfchaft der Afferte oder die Macht der Dinge über 
ums aufhebt. Darin zeigt fi) die verfchiedene Gedankenrichtung 
beider Bhilofophen. Spinoza fest unfere Macht in das freie 
Denten, weldes im Zuftande ruhiger Weltbetrachtung bebarrt 
und fic) befriedigt, Bacon in das erfinderifche Denken, welches 
praftifh auf den Weltzuftand einfließt, denfelben cultivirt und 
verändert. ‘Das fpinoziftifche Ziel heißt: die Dinge beherrſchen 
uns nicht mehr; das baconifhe: wir beherrfchen die Dinge! 
Bacon braucht die Macht der Erfenntnig praktiſch, Spinoza theo- 
retifch, beide im weiteften Verſtande. Spinoza’s höchftes Ziel ift 
die Eontemplation, die den Deenfchen innerlich umwandelt und 
religiös macht, Bacon's höchftes Ziel ift die Cultur, welche 
die Welt umwandelt und den Menfchen zu ihrem Herrn macht. 


4. Ruben und Wahrheit. „Die Geburt der Zeit.‘ 


Es könnte feheinen, als ob nad) Bacon’s Meinung bie 
Philoſophie zwar nicht mehr die Magd der Theologie, die fie 
im Mittelalter war, bleiben, aber diefen Dienft nur verlaffen 
folle, um in einen andern zu treten, nämlid in ben des 
menfhlihen Rubens oder der praftifchen Lebenszwecke. Ihre 
Richtung würde dann völlig utiliftifch ausfallen. Dean hat 
auch Bacon fo verftanden und den utiliftifchen Charakter feiner 


150 


Lehre, das Wort im gewöhnlichen Sinne, genommen, für eine 
ausgemachte Sache gehalten, welche die einen gut, die andern 
verwerflich ‚finden. Indeſſen verfehlt man darüber Bacon’s 
wahre Anſicht. Je weiter und großartiger die menſchlichen 
Lebenszwede gefaßt werden, um fo weniger gehören fie in das 
enge Gebiet des gewöhnlichen Nugens, um fo mehr fällt in 
Abſicht auf ſolche Ziele die Wahrheit mit dem Nutzen, bie 
Erkenntniß mit dem Werke zuſammen. Sehr ſchön ſagt Bacon 
ſchon in der Vorrede ſeines Geſammtwerks und wiederholt es 
öfters, daß auf ſeinem Wege zunächſt nicht der Gewinn, ſondern 
das Licht geſucht werben folle*), daß die lichtbringenden Ver⸗ 
ſuche werthvoller umd begehrenswerther feien als die gewinn- 
bringenden, man verfehle das Ziel, wenn man im Wettlauf nad 
jedem goldenen Apfel greife wie Atalanta.**) In der Erfenntniß 
der wirklichen Dinge fei die Wahrheit der Nuten felbft, und die 
Werke der Natur jeien höher zu ſchätzen wegen der Wahrheit, 
die fie verbürgen, als wegen der Vortbeile, die fie gewähren. ***) 
Daher will auch Bacon das eigene Werk nicht als eine 
Sache betrachtet wiſſen, wobei er feinen Vortheil oder Ruhm 
im Auge habe, denn die Aufgabe, die er fich ſtellt, jei nicht 
willkürlich erfonnen, fondern aus dem Bedürfniß und Drange 
der Zeit hervorgegangen. Dieſe neue Philofophie, wenn fie 
gelingt und foweit fie gelingt, fei die „Geburt ber Zeit“, 

nicht die des Genies. }) 

*) Inst. magna. Praef. Op. p. 274. 
**) Nov. Org. I, 70. Bgl. I, 9. 

***) Ebend. I, 124. Bgl. II, 4. „Actirvum et contemplativum 
res eadem sunt et quod in operando utilissimum, id in scientia 


verissimum.’' 
+) Eben. L, 78. 





Bweiles Kapilel. 
Die Erfahrung ald Weg zur Erfindung. 





I. 
Der Ausgangspunkt. 
1. Die erfie Frage. 

Die Gefihtspuntte der baconiſchen Philofophie find dar- 
gethan. Ihr Ziel ift die Begründung und Vermehrung der 
menschlichen Herrſchaft, das Reich der Eultur: feine Cultur 
ohne Erfindung, welche die Naturkräfte dem Menfchen in die 
Hand giebt, keine Erfindung ohne Wiffenfchaft, welche die 
Geſetze der Dinge ans Licht bringt, Feine Wiffenfchaft ohne 
Naturerkenntniß, die nur einen Weg nehmen kann, den ber 
Erfahrung. Unter jedem diefer Geſichtspunkte Täßt fi Bacon 
harakterifiven, jeder bildet ein weientliches Kennzeichen feiner 
Bhilofophie, aber keiner darf für ſich allein gelten: er bezweckt 
bie Erweiterung der menſchlichen Eulturwelt durch eine kunſt⸗ 


gerechte Anwendung der Naturwiffenfchaft, er fucht die Natur- 


wiffenfchaft durch einen richtigen Gebrauch der Erfahrung; er 
will die Erfahrung durch richtige Methode in Wiffenfchaft, bie 
Wiſſenſchaft durch gefchickte Anwendung in Kımft, diefes kunſt⸗ 
fertige Wiſſen in praftifche und öffentliche Bildung verwandeln, 
bie er für das ganze Menſchengeſchlecht anlegt. Welder 


152 


“ einzelne Name reicht aus, diefen Geift ganz und treffend zu 
bezeichnen? Er wollte fein fertiges Syſtem, fondern ein 
febendiges Werk fchaffen, das fich mit den ‚Zeiten fortbilden 
follte, er ftreute die Saat aus für eine fünftige Ernte, Die 
langſam reifen und erft in Iahrhunderten erfüllt fein würde; 
Bacon wußte e8 wohl, er genügte fi), der Sämann zu fein 
und ein Werk Zu beginnen, welches allein bie Zeiten vollenden 
fonntn. Sein Selbftgefühl war das richtige Bewußtſein 
feiner Sache, es war nicht mehr und nicht weniger. In der 
Borrebe zur „Instauratio magna” fagt er am Schluß: „Sch 
Schweige von mir felbit, aber von der Sade, um die es 
fich handelt, verlange ich, dag fie die Menfchen nicht für eine 
bloße Meinung, fondern für ein Werk anfehen und überzeugt 
feien, daß wir nicht für eine Schule oder eine beliebige An- 
ficht, fondern für den Nuten und die Größe der Menfd- 
heit neue Grundlagen fuhen. Auch follen ſich die Leute 
nicht einbilden, daß unfer neues Wert ein grenzenlofes und 
übermenfchliches fei, denn es ift in Wahrheit das Ende und 
die rechtmäßige Grenze unendlichen Irrthums. Wir wiſſen es 
wohl, daß wir Menfchen find und fterben müfjen, aber wir 
glauben auch nicht, daß unfer Werk im Laufe eines Menſchen⸗ 
alterd vollendet werben könne, fondern übergeben e8 der Zu⸗ 
funft. Wir fuchen die Wiffenfchaft nicht anmaßend in den 
engen Zellen des menfchlichen Geiftes, fondern bejcheiden in 
dem weiten Reiche der Welt.” *, „Wir unterfcheiden drei Arten 
und gleihfam Stufen des menfchlihen Ehrgeizes: auf der 
erften Stufe fuht man die eigene Macht in feinem Vaterlande 
zu vermehren, das ift der gewöhnliche und fchlechte Ehrgeiz; 


*) Inst. magna. Praef. Op. p. 275. 


153 


auf der zweiten fucht man des Vaterlandes Macht und Herr- 
ſchaft innerhalb der Menfchheit zu vermehren, diefer Ehrgeiz 
hat mehr Werth und nicht weniger Reiz; wenn es nun jemand 
unternimmt, die Macht und Herrſchaft der Menſchheit felbft 
über das Univerfum der Dinge herzuftellen und zu erweitern, 
jo iſt ein folcher Ehrgeiz (wenn anders der Name noch paßt) 
unter allen der vernänftigfte und erhabenfte. Aber die Macht 
des Dienfchen über die Dinge beruht allein auf Kunft und 
Wirfenfhaft, denn die Natur wird beherrſcht nur durch Ges 
horſam.“*) 

Der Ausgangspunkt liegt in der Etfahrung, der Fortgang 
geſchieht durch die Naturwiſſenſchaft zur Erfindung, durch dieſe 
zur menſchlichen Herrſchaft. Daher iſt die erſte Frage: wie 
kommt die Erfahrung zur Naturwiſſenſchaft? Oder da die 
Erfahrung zunächſt nur die einzelnen Thatſachen und Vorgänge 
wahrnimmt und fammelt, beſchreibt und erzählt, fo heißt die 
Trage: wie wird aus ber Naturbejchreibung Naturerflärung, 
aus ber „descriptio naturae” die „interpretatio naturae”, 
wie wird die Naturgefchichte zur Naturwiffenfchaft, die „historia 
naturalis” zur „scientia naturalis”? 

Auf diefe Frage führt fi die Aufgabe zurück, welche 
Bacon im erften Buche feines neuen Organons negativ be- 
gründet und im zweiten pofitiv zu Löjen fucdht.**) 


*) Nov. Org. I, 129. 

**), Gr ſelbſt nennt den erſten Theil feiner neuen Lehre „pars 
destruens‘“. Bier follen die entgegenfiehenden Anfichten widerlegt und 
ber menſchliche Geift gereinigt, gleihfam die Tenne beffelben gefegt 
merden, nm ihn zu ber nenen Erlenntniß fähig und empfänglid zu 
maden. Nov. Org. I, Aph. 116. Bgl. Partis II del.) et arg. Op. 
p- 6%. 


154 


2. Die negative Bebingung. - Der Zweifel. 


Die Natur will ausgelegt fein wie ein Bud. Die beſte 
Auslegung ift diejenige, welche den Autor aus fich felbft er- 
Hört und ihm feinen andern Sinn unterfchiebt, als er Bat; 
der Lefer darf nicht feinen Sinn in den Schriftfteller hinein- 
legen, oder er bringt fih um die Möglichkeit eines richtigen ' 
Berftändniffes und kommt zu Einbildungen, welche Teer find. 
Wie fi der commentirende Lefer zum Buch, fo fol fich bie 
menſchliche Erfahrung zur Natur verhalten. Nach Bacon ift 
die Wiffentchaft das Weltgebäude im menfchlichen Geifte, darum 
nennt er fie einen Tempel nach dem Borbilde der Welt, Der 
Berftand foll die Natur abbilden und treffen, er fol nichts 
von ſich aus Hinzufügen, nichts von dem Dbjecte felbft weg- 
laſſen oder überfehen, etwa verleitet durch einen Eindifchen und 
weichlichen Ekel vor ſolchen Dingen, die der Unverftand gemein 
oder abſcheulich nennt. Er foll die Natur abbilden, indem er 
fie nachbilbet, und nicht aus eigener Machtvollkommenheit ſich 
ein Bild der Natur entwerfen, unbefünmert um bas Original 
außer ihm; ein folches felbftgemachtes Bild ift nicht aus ber 
Natur der Dinge genommen, fondern duch den menfchlichen 
Berftand vorweggenommen: es it in Rückſicht auf den Ver⸗ 
ftand eine „anticipatio mentis“, in Rüdfiht auf die Natur 
eine „anticipatio naturae”, verglichen mit dem Original außer 
uns nicht deſſen wirkliches Abbild, jondern ein nichtiges, wefen- 
loſes Bild, das nirgends eriftirt als in unferer Einbildung; 
ein Hirngeipinnft oder ein „ISdolon” Darum iſt bie erite 
(negative) Bedingung, ohne welche eine Erfenntniß der Natur 
überhaupt nicht möglich ift: daß nicht Idole an die Stelle der 
Dinge gefet werben, daß in Feiner Weife eine anticipatio 





155 


mentis ftattfinde. Nichts foll anticipirt, fondern alles erfahren 
oder aus den Dinge felbft gefchöpft werden: Teine Begriffe 
ohne vorhergegangene felbftgemacdhte Wahrnehmung, keine Ur- 
theile ohne vorhergegangene felbftgemacdte Erfahrung, keine 
anticipatio mentis, fondern nur interpretatio naturae. Hier 
findet Bacon den Grundmangel aller Wiſſenſchaft, die ihm 
boransging: flatt die Natur zu interpretiven, hat man fie anti- 
cipirt, indem die Naturerklärung entweder auf vorgefaßte Be- 
griffe oder auf eine zu geringe Erfahrung gegründet wurde; 
entweder wurde die Krfahrung ſchon unter einer anticipatio 
mentis angeftellt oder dadurch unterbrochen, in beiden Fällen 
.. alfo etwas vorweggenommten, das die Erfahrung entweder gar 
nicht ober zu wenig bewiejen hatte. So kam es nicht zu einem 
richtigen und eindringenden Verftändsiß der Natur, jo kam es 
nicht zu einer gefegmäßigen und fruchtbaren Erfindung, fo 
blieb die Erfindung dem Zufall preisgegeben, darum war fie 
jo felten, und die Wiffenfchaft felbft blieb in müßigen Spe- 
culationen befangen, darum war fie fo unfrucdtbar. Der 
Grund aller dieſer Mängel ift die fehlende oder die zu leicht: 
gläubige Erfahrung. 

Der menfchliche Berftand muß von jebt an das vollfom- 
men veine und willige Organ der Erfahrung werden. Er muß 
fi) zuerst aller Begriffe entjchlagen, die er nicht aus der Na⸗ 
tur der Dinge, jondern aus feiner eigenen gefchöpft Hat; diefe 
Begriffe find nicht gefunden, fondern anticipirt, fie find Idole, 
die den menfchlichen Verſtand trüben und ihm die Natur vers 
dunfeln, fie müffen ans dem Wege geräumt und gleichfam an 
der Schwelle der Wiffenihaft für immer abgelegt werden. 
„Die Idole und falichen Begriffe”, fagt Bacon, „belagern 
den menfchlihen Geift und nehmen denfelben fo ſehr gefangen, 


156 


daß fie ihm nicht allein den Eingang der Wahrheit erjchweren, 
fondern auch den wahrheitsoffenen Geift immer wieder hemmen, 
wenn wir uns nicht warnen Taffen und mit allem Ernſt gegen 
diefe Vorurtheile rüſten.““) Sie find nah Bacon gleichſam 
die Unterlaffungspflichten der Wiſſenſchaft. Sie gleichen den 
Irrlichtern, welche der Wanderer kennen muß, damit er fie 
meide; Bacon will fie uns kenntlich machen, dieſe Srrlichter 
der Wiffenfchaft, die uns von dem richtigen Wege der Er- 
fahrung abführen: darum handelt er zuerft von den Täuſchun⸗ 
gen und dann von der Methode der Erkenntniß. Wer bie 
wirklichen Abbilber der Dinge fucht, muß fi) vor ihren Trug⸗ 
bildern bitten, deshalb muß er fie Tennen lernen, wie der 
fchlußfertige Denker die Trugfchlüffe „Die Lehre von den Ido- 
len“, jagt Bacon, „verhält fi zur Erklärung der Natur 
ganz ähnlih wie die Lehre von den Trugſchlüſſen zur gewöhn- 
lichen Dialektik,“ 

Den Idolen und Vorurtheilen gegenäber, fie mögen 
fommen, wober fie wollen, beginnt die Wiffenfchaft mit dem 
Zweifel und der völligen Ungewißheit. ‘Der Zweifel bildet 
den Ausgangspunkt ber Wiſſenſchaft, nicht deren Ziel, dieſes 
ift die fichere und wohlbegründete Erkenntniß. Im Ausgangs- 
punkte ftimmt Bacon mit ben Steptifern überein, nicht im 
Refultet: „Die Anficht derer, welche den Zweifel fefthalten, 
und meine Wege ftimmen in ihren Anfängen gewiffermaßen 
zufammen, aber im Endziel trennen fie fih unermeßlich weit 
von einander in entgegengefeßte Richtungen. Jene erklären 
fchlechtweg, daß nichts gewußt werben Tünne; ich fage nur, 
dag auf dem bisher üblichen Wege nicht viel gewußt werden 





*) Nov. Org. I, Aph. 88. 





157 


konnte; jene nehmen der menſchlichen Erkenntniß alles Anfehen; 
ich ſuche vielmehr nad Hülfsmitteln, fie zu unterftügen.” *) — 
„Das Ziel, weldhes id im Sinne habe und mir vorhalte, ift 
nicht der Zweifel (acatalepsia), jondern die richtige Erkennt⸗ 
niß (cucatalepsia), denn ich will die menfchlichen Sinne nicht 
verwerfen, fondern leiten und unterftügen, ich will den menſch⸗ 
lichen Berftand nicht geringſchätzen, fondern regieren. Und es 
ift beffer, daß man weiß, wie viel zur Erlenntniß gehört, 
und dabei das eigene Wiffen für mangelhaft Hält, als daß 
man fi) ein tiefes Willen einbildet und doch die Erforderniffe 
dazu nicht Tennt.”**) 

Bergleichen wir den baconifchen Zweifel mit dem cartefia- 
nifchen: beide haben denfelben Urfprung und diefelbe Richtung, 
bafjelbe Ziel vor fih und dafjelbe Bewußtſein zu ihrem Be⸗ 
weggrunde: die Ueberzeugung von der Unficherheit aller bis- 
herigen Erlenntnig und das Bedürfni nad einer neuen. Die 
Sache der Wiffenfhaft muß wieder ganz von vorn, die Arbeit 
des Berftandes ganz von neuem unternommen werden. Genau 
fo denken Bacon und Descartes. Darum foll dur den 
Zweifel alle bisher gültige Erkenntniß zunächft aufgehoben 
jein, um freies Gebiet für eine neue zu fchaffen. Ihr Zweifel 
ift reformatorifcher Art: er ift die Neinigung des Verſtandes 
in Abfiht auf eine volllommene Erneuerung der Wiſſenſchaft. 
Aber was foll nun der fo gereinigte und zunächft leere Ver- 
ftand? Hier unterjcheiden ſich die beiden Reformatoren der 
PHilofophie und nehmen entgegengefeßte Richtungen, denen die 
Zeitalter folgen. Descartes fagt: der reine Verftand muß 

*) Nov. Org. I, Aph. 37 u. 67. Bgl. Scala intellectus sive 


filam lab. (Imp. phil.) Op- p. 710. 
**) Nov. Org. I, 126. 


158 


ganz fich felbft überlaffen werden, um alle Urtheile lediglich 
aus ſich felbft zu fchöpfen, aus der Kraft des Haren und deut- 
lichen Denkens; Bacon dagegen erflärt gleich in der Vorrede 
zu feinem Organon: „Das einzige Heil, das uns übrig bleibt, 
befteht darin, daR die gelammte Arbeit des Verftandes ganz 
von neuem wieder aufgenommen und der Verftand felbft 
pom erften Anfange an niemals ſich ſelbſt überlafien, 
fondern beftändig geleitet werde.” *) 

Den fleptifch gereinigten Verstand richtet Descartes auf 
ſich felbit, Bacon auf die Erfahrung; jener macht ihn ſogleich 
felbftändig, diefer madt ihn vollfommen abhängig von der 
Natur als dem Gegenftand der Erfahrung; bei Descartes reift 
der Berftand, faum feiner Vorurtheile ledig, fogleih zum 
Mann, bei Bacon bleibt er zunächit Kind und wird als Kind 
behandelt; diefe Behandlung ift weniger fühn, aber fie er- 
fcheint naturgemäßer. Bacon behandelt den menſchlichen Ver⸗ 
ftand wie ein Erzieher, das Kind ſoll allmälig fid) entwideln, 
wacjen, zunehmen. Im einer folchen kindlichen Gemüthsver- 
faffung, die den Eindrücden der Welt unbefangen offen fteht, 
fol ſich die Wiffenfchaft erneuern, indem fie ſich wahrhaft 
verjüngt. Den Idolen gegenüber läßt Bacon die Willen- 
Ihaft mit dem durchgängigen Zweifel, der Natur gegenüber 
mit "der reinen Empfänglichleit beginnen. Der menfchliche 
Verſtand fol fi der Natur mit kindlichem Sinne ganz hin⸗ 
geben, um in der Natur wirklich einheimifh zu werben; er 
muß heimlich mit ihr vertraut fein, um fie erft zu erkennen, 
dann zu beherrfchen. Daher vergleiht Bacon die Herrfchaft 
des Menfchen, die in der Erfenntmiß befteht, oft und gern 


*) Nov. Org. Praef. Op. p. 278. Indicia vera de interpr. nat. 
(Imp. phil.) Op. p. 677. 





159 


mit dem Himmelreih, von dem die Bibel jagt: „Wenn ihr 
nicht werdet wie die Kinder, jo werdet ihr nicht in das Himmel- 
reich kommen!” — „Die Idole jeglicher Art müfjen alle durd) 
einen bebarrlichen und feierlihen Beſchluß für immer ver- 
nichtet und abgefchafft werden. Der menfchliche Verſtand muß 
fih davon gänzlich befreien und reinigen, auf daß in das 
Reich der menschlichen Herrichaft, welches in den Wiffenfchaften 
befteht, der Eingang, wie in das Himmelreih, nur den Rin- 
bern offen fei.”*) 


3. Die Idole und deren Arten. 


Wir können demnach im Sinne Bacon's diejenige Be- 
trachtung der Dinge als die wahre bezeichnen, die von ber 
Erfahrung übrig bleibt nach Abzug aller Idol. Um den 
Ausgangspunkt und Weg der Erfahrung richtig zu beftimmen, 
ift daher das erfte Erforderniß, daß jene Zrugbilder genau 
erlannt und in Abrechnung gebracht werden. Es ift bie Grund- 
form aller Zäufhungen, daß wir unmwillfürlich unfere Natur 
in die der Dinge einmifchen und deshalb kein richtiges Bild 
der lebteren gewirmen. Aus der Verfaffung der menschlichen 
Natur und Gefellfchaft folgen eine Menge Borurtheile fehr 
verjchiedener Art, die uns gefangen nehmen und unfere Auf- 
fefjung der Dinge verwirren. Um fie genauer zu beftimmen, 
unterfcheidet Bacon vier Quellen der Idole und ebenfo viele 
Arten, die daraus entfpringen; die natürlichen Zrugbilder 
haben ihren Grund entweder in dem allgemeinen oder in dem 
individnelfen Charakter der menſchlichen Natur, jene find die 
Eigenthümtlichfeiten unferer Gattung, unferes Stammes (idola 


*) Nov. Org. I, 68. Cog. et Visa, Op. p. 597. 


160 


tribus), diefe die Eigenheiten des Individuums, die fich ins 
Unbeftimmbare und Dunkle verlieren (gleichſam in die Höhle 
der Individualität, idola specus); die gefellfchaftlihen Vor⸗ 
urtheile beftehen in dem eingebildeten Werthe, in der con- 
ventionellen Geltung ber Dinge, die nicht dur die Natur 
beftimmt wird, jondern dur die Öffentlihe Meinung, fie 
ftammen entweder aus dem täglichen Verkehr oder aus der 
ererbten Weberlieferung, jene Beſtimmung maht der Markt, 
wie die Geltung der Waare (idola fori), diefe die Schule. Die 
letzteren find die fchlimmften von allen, da fie die größte Geltung, 
bie der Wahrheit, beanfpruchen, das größte Anfehen, das der 
Weisheit, behanpten, und doch im Grunde nicht gehaltooller 
find als die Fabeln und Dichtungen der Theaterwelt (idola 
theatri.*) 

Bon biefen vier Klaffen menſchlicher Trugbilder ift bie 
zweite (die Eigenheiten des Individuums) zu vereinzelt und 
unberechenbar, um bier näher verfolgt zu werden; es genügt, 
die DBeifpiele zu bemerken, die Bacon für jene idola specus 
giebt. Er rechnet dazu die LTiebhabereien wie die Begabungen 
der Einzelnen, die befondere Art der Erziehung wie des Um⸗ 
gangs, die individuelle Gemüthsart überhaupt und die jeweilige 
Lage der Gemüthszuftände im befonderen; ber Verſtand des 
einen ift vorzugsweife geſchickt Unterfchiede zu finden, der 
eines anderen dagegen Aechnlichkeiten, jener diftinguirt, diejer 
combinirt bejjer; oder bei dem einen tritt die Xiebhaberei für 
das Alte in den Vordergrund und beftimmt feine Neigungen 
und Urtheile, bei dem andern die Liebhaberei für alles Neue; 


*) Ueber die Lehre von den Idolen vgl. Nov. Org. I, 38—68. 
(Ueber die allgemeine Eharalteriflif der Idole ebend. I, 41—44.) De 
augm. scient. V, cp. 4. 


161 


fo verfchieden find auch die Objecte ihrer Bewunderung, bie 
Vorbilder ihrer Nachahmung. Mit einen Worte jeder ein- 
zeine Menſch ift ein dunkler Mikrokosmus, und die Wahrheit 
fol nicht aus der Heinen Welt gefchöpft werden, fondern, wie 
ſchon Heraflit gefagt hat, aus der großen.*) 

Die drei andern Klaſſen find von mehr allgemeiner und 
öffentlicher Geltung, fie können deutlich bezeichnet und grund- 
fäglich aufgegeben werden. Auch Bacon hat an einer andern 
wichtigen Stelle die Widerlegung der Idole, die den negativen 
Theil feiner Lehre ausmacht, als eine dreifache bezeichnet, in- 
dem er die „idola specus“ bei Seite ließ; er hat hier bie 
drei anderen jo geordnet, daß die „idola theatri” den erften 
Ort einnehmen, die „idola tribus” den leten.**) Dieje An- 
ordnung erfcheint uns zwedmäßiger, denn fie geht von außen 
nad innen, von den überlieferten Vorurtheilen zu den an- 
geerbten und natürlihen. Man muß fi zuerft von der Au- 
torität der Schulfyfteme, dann von der Geltung der herkömm⸗ 
lichen Beweife, zulegt, was das Schwierigite ift, von den 
Täuſchungen losmachen, die aus der natürlichen Verfaſſung 


*) Weber die idola specus, ebend. I, 42. Im befonderen barliber 
I, 53-58. Bgl. De augm. scient. V, 4. An diefer Stelle erklärt 
fi) aud) der Name idola specus durd die Hinweifung auf das pla- 
toniſche Bild (im Eingang des fiebenten Buchs der Staatslehre), worin die 
in dunklen und falfchen Borftellungen befangenen Menſchen mit Höhlen- 
bewohnern, die das Licht der Sonne nicht Tennen, verglichen werden, 

**) Itaque pars ista, quam destruentem appellamus, tribus red- 
argutionibus absolvitur: redargutione philosophiarum, redargutione 
demonstrationum, redargutione rationis humanae nativae. Part. II 
del. et arg. Op.p. 680. Aehnlich unterſcheidet Bacon in ber Ueber⸗ 
fit, die dem Geſammtwerk voransgeht (distributio operis): die Idole 
zerfallen in zwei Klaſſen, überlieferte und eingeborene (adscititia und 
innata); jene find die Schulſyſteme und Herfümmlichen Beweiſe, dieſe 
die idola tribus. 

Fißcher, Bacon. 11 


162 


der menſchlichen Vernunft felbft (ratio humana nativa) her- 
rühren. Nach. diefer Reihenfolge wollen wir jegt die Idole 
in Abrechnung bringen. 


II. 
Die Ausfchließung der Idole. 
1. Idola theatri. 


Demnach find die erften Srrlichter, die um fo gefährlicher 
fcheinen als fie in der Einbildung der Menfchen für leuchtende 
Geftirne gelten, die „idola theatri“.*) Sie bezeichnen bie 
großen Heerftraßen der dffentlihen Irrthümer, breit getreten 
durhd Schulen und Secten, denen die Menge folgt, und ver- 
zweigt in verfchiedene Richtungen, die alle von der wahren 
Erfenntniß abführen. Je gefhwinder und länger man auf 
falfchen Wegen geht, um jo weiter verirrt man fich. Daher 
ift hier nichts wichtiger, als die Verirrung einzujehen und bei 
Zeiten umzukehren. 

Zwei Richtungen find vom Uebel: die falſchen Behaup⸗ 
tungen und der falſche Zweifel, der dogmatiſche Weg und der 
ſkeptiſche, dieſer letztere ſo verftanden, daß er die Unbegreif⸗ 
lichkeit der Dinge zu ſeinem Grundſatz macht und damit ſelbſt 
in die falſche Behauptung umſchlägt. Auf beiden Wegen wird 
der Verſtand irregeführt und verdorben, dort durch die An⸗ 
nahme unbegründeter Anſichten unterdrückt, hier durch die 
Ueberredung von der Erfolgloſigkeit alles Denkens erſchlafft 
und entnervt. Die neue Akademie ift das Beiſpiel einer ſolchen 
fleptifchen Denkweiſe, dagegen das Muſter eines falſchen und 


*) Nor. Org. I, 61-67. 


163 


anmaßenden Dogmatismus bie ariftotelifche Philofophie, die 
nad türfiiher Sitte die Rivalen umgebracht und fi) dadurch 
eine Art Alleinherrfchaft erworben hat.*) 

Der Grundzug aller dogmatifchen Philoſophie ift das 
unbegründete Annehmen und Behaupten. Mit der wahren 
Naturphilofophie verglichen, treten ihre Mängel zu Tage: 
entweder ift fie auf die Erfenntniß der wirklichen Dinge gar 
nit oder nicht ernfthaft oder auf eine verkehrte Weife gerichtet. 
Verkehrt wird die Naturphilofophie, wenn die Natım nach der 
Analogie eines mechanischen Kunſtwerks betrachtet und erflärt 
wird, als ob ihre Körper durd) Zufammenfegung aus gewifien 
Elementen, durch darin verborgene Kräfte nach gewiffen darin 
angelegten Formen entftänden. Daher kommen die falfchen 
Begriffe urfprünglicher elementarer Qualitäten, verborgener 
Eigenſchaften, ſpecifiſcher Kräfte u. ſ. f.**) 

Unbegründet ift die dogmatifche Philofophie, wenn ihr die 
fideren Grundlagen ber Erfahrung fehlen, fei es daß die 
empirifche Grundlage unficher oder gar nicht vorhanden ift. 
Sie ift unfidher, wenn anf Grund der gewöhnlichen ungepräf- 
ten Erfahrung allgemeine Annahmen gemacht werden, oder 
wenn daffelbe ftattfindet auf Grund einer zwar geprüften, aber 
viel zu geringen Erfahrung; fie fehlt ganz, wenn fich die An- 
nahmen auf religiöfen Glauben und theologische Ueberlieferungen 
ftügen. Im erften Fall entjteht eine Philofophie aus leerem 
Berftande, ſophiſtiſch und rationaliftifch, im zweiten eine em- 
pirifche, im dritten eine myſtiſche Philofophie. Als Beiſpiel 
der erften Art gilt Ariftoteles, als VBeifpiel der zweiten die 


*) Nov. Org. I, 67. Op. p. 293. 
**) Ebend. I, 66. 
11* 


164 


Alchymiſten, mit denen Bacon jehr unberechtigter Weife Gil- 
hert zufammenftellt, als Beifpiel der dritten Pythagoras und 
Plato, wie gewiffe neuere Verſuche aus der bibliſchen Schöpfungs- 
gefchichte die Kosmogonie abzuleiten. Dieſe Myſtiker fuchen 
das Lebendige unter dem Todten, fie irren nicht blos, ſondern 
vergöttern den Irrthum, das ift das größte aller Uebel, eine 
wahre Peft für den Verſtand. Im diefe drei Arten theilt ſich 
das Geflecht der Irrthümer: die fophiftifche, empirische und 
myſtiſche Philofophie.*) 

Die idola theatri grundſätzlich ausſchließen, heißt die Er- 
kenntniß frei machen von allen Einfläffen der Ueberlieferung, 
von allem Glauben an das Anfehen fremder Meinungen, das 
beißt fie anmeifen auf die eigene Betrachtung, die nicht was 
andere fagen oder für. wahr halten, gläubig ansimmt und wie- 
derholt, jondern nur was fie felbft erfahren und wahrgenom- 
mien bat, aus Veberzeugung feithält. Nach Abzug des erften 
Idols bleibt daher nichts übrig als die Erfahrung in eigener 
Perſon. An die Stelle bes Autoritätsglaubens tritt die felb- 
ftändige Wahrnehmung. 


2. Idola fori. 


Hier wird uns fogleid eine zweite Einbildung gefährlich. 
Wir meinen die Dinge felbjt zu kennen, ohne fie jemals ernft- 
lich kennen gelernt zu haben; wir meinen über ihren Werth 
fiher zu fein, weil wir die Zeichen dafür befigen und mit 
Leichtigkeit ausgeben. Diefe Zeichen der Dinge find deren 
Namen und Worte, die wir eher Tennen lernen als die Natur 
der Dinge felbft, und durch welche wir unjere Vorftellungen 


*) Nov. Org. I, 62-65. Op. p. 290 fig. 


165 


von ben Dingen einander mittheilen. Gewöhnt von Kindheit 
an, ftatt der Dinge Worte zu feten, mit diefen Worten jedem 
verftänblich zu fein, halten wir unwilllärlich die Worte für 
die Sachen, die Zeichen der Dinge für die Dinge felbft, ben 
Nominalwerth für den Realwerth. Die Worte find gleihfam 
bie geläufige Münze, womit wir im gefelligen Verkehr die 
Borftellungen der Dinge ausgeben und einnehmen: fie find, 
wie das Geld im Handel, nicht der fachliche und natürliche, 
fondern der conventionelle Werth der Dinge, der durch die 
Berhältniffe des menschlichen Verkehrs gemacht wird. Wir 
müſſen uns hüten, diefen Marktpreis für die Sache zu nehmen, 
er ift für diefe felbft eine völlig auswärtige und gleichgültige 
Beitimmung. Die Worte richten fi) fo wenig nad) der Natur 
der Dinge, daß 3.9. in unferm Spradigebraud die Sonne 
ih noch immer um die Erde bewegt, während es in Wahr- 
heit niemals der Fall war, während wir felbft feit lange von 
dem Gegentheil überzeugt find. Die Worte fagen nicht, was 
die Dinge find, fondern was fie uns bedeuten, wie wir fie 
uns vorftellen, und in den meiften Fällen find unfere Worte 
fo unſicher, als unfere Vorftellungen unllar. Entweder find 
die Worte leer und bezeichnen nichts, wie z. B. das Wort 
„Zufall, oder fie find verworren und bezeichnen etwas Un—⸗ 
flares, wie 3.3. die Worte „Erzeugung und Untergang, ſchwer, 
leicht, dünn, feucht u. ſ.f.“ Weil Worte und Sprachgebrauch 
die Dinge bezeichnen, nicht wie fie ihrer Natur nad) find, fon- 
dern wie fie im menfchlichen Verkehre vorgeftelit werden: darum 
rechnet Bacon die Einbildung, die an den Worten hängt und 
im Wort die Sache felbft zu Haben meint, unter die idola 
fori, darum liebt er jo fehr, der Wortweisheit die Sach— 
fenntniß entgegenzufeßen: ein Gegenfaß, ber unter feinen 





166 


Nachfolgern zum Stichwort wırde. Was Bacon bei den idola 
fori über die Worte fagt, enthält in der Kürze das Programm 
aller Unterfuchungen, die in feiner Richtung über die Sprache 
angeftellt werden; ſowol das Forum als die Idole fpielen in 
biefen Unterfuchungen ihre Rolle: das Forum, weil die Sprade 
als Werk der menfchlichen Uebereinkunft, d. h. als ein willlür- 
lihes Machwerk gilt, die Idole, weil die Worte Allgemein- 
begriffe und darum wefenlofe Vorftellungen bezeichnen. Wir 
müffen uns hüten, aus der Autoritätsherrfchaft unter die Wort- 
herrſchaft zu fallen, bie im Grunde mit jener zufammengeht 
und ſchlimmer ift, weil fie weniger bemerkt wird, denn wir 
glauben, daß wir die Worte beherrfchen, während im Gegen: 
theil fie uns beherrfchen. *) | 

Die Verblendung durch die idola theatri lag barin, daß 
wir, befangen unter der Autorität überlieferter Anfichten, nicht 
mit eigenen Augen fehen, fondern mit fremden; die Verblen⸗ 
dung dur die idola fori befteht darin, daß wir die Dinge 
nehmen, nicht wie fie find, fondern wie fie im menſchlichen 
Verkehr gelten, daß wir ftatt der Dinge nur mit Worten zu 
thun haben. Die Ausfchließung diefer Idole ift demnach die 
Hinweifung unferer Erfahrung von den Zeichen der Sache an 
bie Sache felbft, vom Neben und Disputiven auf die fachliche, 
in das Object felbft eingehende Unterfuhung. Nah Abzug 
der idola theatri bleibt uns nichts übrig als ſelbſt kennen 
lernen, nit von anderen annehmen; nad) Abzug der idola 
fori leuchtet ein, was wir kennen lernen follen: die Dinge 
ſelbſt. Dort wirb die eigene Erfahrung gegen den Autori- 
tätsglanben, Hier die Sachlenntniß gegen die Wortweisheit 


*, Nov. Org. I, 5960. 


167 


aufgeboten. Verſuchen wir aljo, unverblenbet durch fremde 
Dieinungen und die Gewohnheit der Worte, mit unferen eigenen 
Organen die Objecte felbit zu erfaffen, die Natur der Dinge 
im genauen Sinne felbft wahrzunehmen. 


3. Idola tribus. 


Hier erhebt fih aus unferer eigenen Natur die gewaltigfte 
aller Tänſchungen, das fchwerfte aller Bedenken: ift unfere 
Wahrnehmung der Dinge auch wahr, find die Dinge wirklich 
fo, wie wir fie nehmen, wie fie fih in unfern Sinnen dar- 
ftellen und fpiegeln, find die finnlichen Eindrüde die richtigen 
Abbilder der Dinge felbft, der entfprechende Ausdrud ihres 
Weſens oder nicht vielmehr der entjprechende Ausdrud des 
unfrigen? Unfer Wahrnehmen und Begreifen der Dinge ift 
gleihfam ein Ueberſetzen derfelben aus der phyfiſchen Natur 
in die menfchlihe, aus dem Univerfum in unfere Individnali⸗ 
tät, aus der großen Welt in die Feine: eine Meberfeßung, wo⸗ 
bei das Original feine Eigenthümlichkeit einbüßt und die 
menſchliche unwillfürlih annimmt. So miſcht ſich in unfere 
felbjteigene Wahrnehmung der Dinge, unabhängig von ben 
autorifirten Tehrmeinungen und den geläufigen, im menfchlichen 
Verkehre gültigen VBorftellungen, etwas den Dingen Fremdes, 
das wir unwillfürlih von uns aus mitbringen, das in ben 
Bedingungen unfjerer Natur Liegt, wodurd wir die wahren 
Abbilder der Dinge verfehlen und verunftalten. Unſere eigene 
Natur fpiegelt uns Trugbilder vor, täufcht uns mit faljchen 
Vorftellungen: das find unfere angeftammten Borurtheile (idola 
tribus*): fie find die mächtigften, denn fie beherrfchen das 


+ 


9 Nov. Org. I, 45-52. 


168 


ganze menschliche Gefchlecht; ihre Herrichaft ift am ſchwerſten 
zu ftürzen, denn fie ift nicht durch gefchichtliche Autorität im 
Laufe der Zeiten geworden, jondern durch die Natur felbft be- 
gründet. Die menfhlihe Seele ift ein Spiegel der Dinge, 
aber diejer Spiegel ift von Natur fo gefchliffen, daß er die 
Dinge, indem er fte abbildet, zugleich verändert, daß er feines 
darftellt, ohne es zu verkehren und wie durch Zauber unferer 
Natur analog zu machen.*) Was aber bat die menfchliche 
Borftelungsart mit den Dingen gemein und umgelehrt? Was 
hat 3. B. die Sonne damit zu thun, daß fie dem Auge des 
irdiſchen Planetenbewohners die Erde zu umlreiſen jcheint? 
Das ift ein Trugbild, deſſen Grund nicht in der Beſchaffen⸗ 
heit der Sonne, fondern in unferer Beichaffenheit, in unferm 
Auge liegt, in unferm Standpunkt. Wenn ich behaupte, die 
Sonne bewegt ſich, denn jo fagt die Bibel, fo lehrt Btole- 
mäus, jo urtheile ich durch ein idolon theatri; wenn ich daffelbe 
behaupte, weil alle Welt fo redet, fo urtheile ich durch ein 
idolon fori; wenn ich fage, die Sonne bewegt fi), denn ich 
ſehe es mit eigenen Augen, jo urtheile ich durch ein idolon 
tribus. Ich fühle die Wärme des Waſſers mit meiner Hand 
und nad diefer Wahrnehmung halte ich dafjelbe Waſſer jetzt 
für Talt, wenige Augenblide fpäter für warm, ohne daß ſich 
das Maß feiner Wärme verändert hat. So ift es mit allen 
unfern Wahrnehmungen, mit unferer gefammten Betrachtung 
der Dinge; wir mefjen und beurtheilen die Dinge nach unferm 
Maß, betrachten fie unter dem Gefichtspunkte unferer Natur, 
der freilich für uns der nächſte und natürlichfte, den Dingen 
jelbft völlig fremd und gleichgültig ift; wir faſſen fie auf, nicht 


*) Nov. Org. I, 41. 


169 


wie fie find, fondern wie fie ſich zu uns verhalten, nicht 
nad ihrer, fondern nad) unferer Analogie, wir be- 
tradten fie „ex analogia hominis”, nidht „ex analogia uni- 
versi”. Unter biefer Formel laſſen fi) die idola tribus am 
beften bezeichnen. „Dieſe Idole“, fagt Bacon, „find in der 
menſchlichen Natur felbft begründet, in dem Stamm oder &e- 
ſchlechte der Menſchheit. Es ift falſch, den menſchlichen 
Sinn für das Maß der Dinge zu halten. Im Gegen- 
theil find vielmehr alle unfere Wahrnehmungen ſowohl der 
Sinne ald des Verſtandes nad Analogie des Menſchen, nicht 
nach Analogie des Univerſums. Der menfchliche Berftand 
verhält fih zu den Strahlen der Dinge wie ein unebener 
Spiegel, der feine Natur mit der Natur der Dinge vermifcht 
und fo die Iektere verkehrt und verdirbt.” *) 


*) Nov. Org. I, 41. Diefe Stelle bat Spinoza in feinem zweiten 
Briefe an Oldenburg fehr verächtlich erwähnt; er behandelt Bacon als 
einen berworrenen Schwäßer, ber liber den Grund des Irrthums und 
die Natur des Geiſtes ins Blaue fafele, aber er widerlegt ihn nicht, er 
zeigt nicht einmal beutlid) den Punkt, ber zwifchen ihm und Bacon die 
durchgängige Differenz ausmacht. Es ift der Mühe werth, diefen Bunt 
hervorzuheben, denn es ift offenbar in der obigen Stelle ſehr vieles, mas 
Spinoza ganz ebenfo Hätte jagen können: 1) Der Menſch iſt nicht das 
Maß der Dinge; diefer Sat ift aus der Seele Spinoza’s geredet. 2) Alle 
unſere Borftellungen find falſch, die nicht nach Analogie der Natur, fon- 
dern nach menfchlicher gemacht find; darin Liegt ber Grund nuſers Irr⸗ 
thums, der Irrthum befteht in unfern inadäquaten Borftcliungen: diefer 
Say iſt nicht weniger ächt fpinoziftifh. 3) Alle unfere Vorftellungen, 
die finnfichen wie die Logifchen, find nach menſchlicher Analogie, alfo 
inadäguat; der menschliche Berftaud iſt von Natur ein inadäquater Spiegel 
der Dinge. Hierin allein Tiegt zwifchen beiden der Differenzpunkt, welchen 
Spinoza deutlicher hätte hervorheben follen. Denn nad ihm iſt die 
Wahrheit dem menſchlichen Beifte von Natur immanent, nur zunächft 
eingehüßt und verdunkelt Durch die inabägqnaten (finnlichen) Ideen. Darum 
befteht die richtige Erfenntniß bei Spinoza allein in der Aufllärung. Bei 


170 


Zwei Hauptquellen des Irrthums Liegen in unferer Na- 
tur: die Sinne und der Verftand. Verglichen mit der Fein- 
heit, mit der wirklichen und beftändigen Natur der Dinge, 
find unfere Sinne beſchränkt, ftumpf, täufchend und wandel- 
bar; der Verftand dagegen Hat Die natürliche Neigung zu ord⸗ 
nen, zufammenzufaffen, zu vereinigen, baher pflegt er auch 
eine größere Orbnung, Einförmigfeit, Webereinftimmung in 
der Natur der Dinge anzunehmen, als die Wahrnehmung 
findet, er macht dieſe Voransfegung nad feiner Art, Hält 
daran feft, überfieht die widerfprechenden Fälle, die Hartnädig- 
feit macht ihn eigenfinnig, der Eigenfinn anmaßend, ungebul- 
dig, hochmüthig, die Vorliebe für die ihm günftigen That» 


ihm corrigirt fi der Verſtand aus fich felbft; anders bei Bacon, wo 
er am Gängelbande der Natur durch) fortgefekte Erfahrung zur richtigen 
Erkenntniß erzogen wird. Diefer Gegenſatz zwiſchen Spinoza und Bacon 
ift derfelbe als zwifchen Bacon und Descartes, als zwifchen Lode und 
Leibniz, zwiſchen Empirismus und Nationalismus überhaupt. Daß hierin 
Spinoza dem Gegner lein Recht zuerlennt, Tiegt im Charalter feines 
Standpuntts. Bieleiht war es Spinoza auch unbequem, auf einem 
entgegengejetsten Standpunkte ſoviel Berwanbtes zu finden, vielleicht war 
es diefe Verwandtſchaft, bie ihm an Bacon befonders widerwärtig auf, 
fiel. Bei ihm galt der Wille als eine Folge der Erkenntniß, barum 
fonnte er nie der Grund des Irrthums fein. Nun fagt er von Bacon: 
„Was diefer noch weiter zur Erklärung des Irrthums vorbringt, läßt ſich 
alles auf bie cartefianifche Theorie fehr Teicht zurückführen, daß nämlich 
ber menſchliche Wille frei und umfaffender fei als der Berftand, oder 
wie fi Bacon felbft im 49. Aph. noch verworrener ausbrüdt: „Der 
menſchliche Verſtand ift Fein reines Licht, fondern durd) den Willen ver- 
dunfelt. Die Stelle iſt nicht genau angeführt; fie lautet: „Der menſch⸗ 
liche Berfland iſt kein reines Licht, fondern wird durch ben Willen und 
bie Affecte verdunfelt, daher braucht er die Wiffenfchaft, wozu er will, 
er hält fllr wahr, wovon er wünſcht, daß es wahr fei u. ſ. w.“ Bacon 
fagt, daß die Begierde den Berfland verwirre, Spinoza fagt, daß die 
Begierde ein verworrener Berfland fei. In der That erklären beide 
Urtbeile dafjelbe, nämlich die Berworrenheit der Begierde. 





171 


fahen, die Abneigung gegen die widerftreitenden machen ihn 
oberflählid und unerfahren. Die Affecte miſchen fich ein und 
trüben ihn gänzlid. Aus Vorliebe zur Einheit und ſyſtema⸗ 
tiſchen Ordnung fuht er nach fogenannten Principien oder 
letzten Gründen; ftatt die Dinge zu unterfuchen und zu zer- 
legen, abftrahirt er davon und ergeht ſich in leeren Begriffen, 
überfpringt die wirklichen Fleinen Theile der Körper und ergögt 
fi) an eingebilbeten Atomen, überfpringt die Mittelurfachen 
und fpielt mit Enburfadhen, läßt das Nächte unbelannt und 
geht im Fluge auf das Entferntefte, das er in den Enbur- 
ſachen ergriffen zu haben meint. Diefer Flug ift eine doppelte 
Täuſchung: er foll nicht fliegen, fondern Schritt für Schritt 
gehen, in Wahrheit ift er auch nicht geflogen, denn jene End⸗ 
urfachen oder Zwede hat er nicht aus der Duelle des Weltalls 
geihöpft, fondern aus fid), aus feiner eigenen Natur, blos 
aus dieſer. Er hat das Nächſte außer Acht gelaffen und ift 
bei dem Alfernädhften ftehen geblieben, bei fich felbjt; er Hat 
das Eniferntefte geſucht, vorwärts ins Unermeßliche geftrebt 
und ift keinen Schritt weiter gelommen.*) 

Was bleibt demnach übrig, wenn uns Berftand und 
Sinne täufhen und der menſchliche Geift von Natur ein 
trügerifcher Spiegel der Dinge iſt? Verftand und Sinne 
dürfen nicht gelaffen werden, wie fie find; man muß fie be- 
arbeiten, berichtigen, unterftügen, damit fie den Dingen ge— 
recht werden; man muß „der Zauberjpiegel des Geiſtes“ Klar 
und eben fchleifen, damit aus dem speculum inaequale ein 
speculum aequale werde. Dies gefchieht nit durch Natur, 


*) Nov. Org. I, 45—52. Bgl. De int. nat. sent. XII. Una veri- 
tas, una interpretatio: Sensus obliquus, animus alienus, res im- 
portuna. Op. p. 734. 








172 


Sondern allein dur) Kunſt. Was dem bloßen Sinn und dem 
ſich felbft überlaffenen Berftande nicht möglich ift, nämlich die 
Dinge richtig wahrzunehmen, das foll beiden mit Hülfe Fünft- 
Tiher Werkzeuge. gelingen. Ausgerüftet mit dem gejchidten 
Inftenment wird die menſchliche Wahrnehmung richtig, ohne 
daffelbe ift fie trügeriih. Was dem bloßen Auge unfihtbar 
oder undeutlich ift, wird dem bewaffneten Auge ſichthar und 
Har mit Hülfe des Fernrohrs und Mikroſtops. ‘Die menfd- 
liche Hand kann wohl die Wärme des Waffers fühlen, aber 
nicht eigentlich wahrnehmen, nicht beurtheilen, denn wir empfin- 
den nur die eigene Wärme und wie fi) dazu die des berühr- 
ten Körpers verhält. Die Temperatur des Körpers für ſich 
genommen zeigt uns bas Thermoffop, es jagt dem Auge, was 
die Hand nicht wahrzunehmen vermag.*) Wir wollen die 
Wahrnehmung mit Hülfe des Inftruments Beobachtung nennen, 
und das Mittel, wodurd wir eine Naturerfcheinung rein dar- 
stellen, ohne fremdartige und verhüllende Zufäge, Verſuch 
ober Experiment. Was daher übrig bleibt nad) Abzug der „idola 
tribus“, ift die Beobachtung und der Verſuch. Sp erflärt 
fih Bacon felbft: „Weder die bloße Hand noch der fich felbft 
überlafiene Verſtand können viel ausrichten. Sie bedürfen 
beide der Inftrumente und Hülfsmittel.” Und an einer andern 
Stelle: „Alle wahre Erflärung der Natur beſteht in richtigen 
Erperimenten, wobei der Sinn nur über das Experiment, biefes 
über die Natur und die Sache felbft urtheilt.”**) Der fidh 


* Nov. Org. II, Aph. 13. Ueber die Wärmeempfindung, die blos 
ſubjectiv und relativ ift, ebend. Tafel der Grade Nr. 41; Über die Wärme- 
beobadjtung vermöge des Thermoſkops, ebend. Nr. 38. 

*“*) Nov. Org. I, 2. Aph. 50. Bgl. Aphorismi et cons. de auxiliis 
mentis (Imp. phil.). Op. p. 733. 


173 


felbft überlaffene Verftand, wenn er auch noch fo logiſch ge- 
ſchult it, Töft Kein Räthſel der Natur und bewegt Feines ihrer 
Werke, ebenjo wenig vermögen e8 unfere bloßen Sinne und 
Leibesträfte, wären fie auch noch jo geübt. Die Dialektik kann 
fo wenig ein Naturgefeß erfennen, als die Athletit einen 
Obelisfen aufrichten.*) 

In der Natur des menschlichen Verftandes tft e8 vorzüg- 
ih ein Begriff, der uns verführt, die Erflärung der Natur 
verfälfcht und die Hauptſchuld der Unwiſſenheit und Unfrudt- 
barleit der bisherigen Philofophie träge. Wir find geneigt, 
unfere Natur und deren Beitimmungen auf die Dinge zu über- 
tragen, die Dinge nad) uns, ftatt ung nad) den Dingen zu 
richten und auf diefe Weife die Naturerfcheinungen nach menſch⸗ 
fiher Analogie aufzufaffen. So erflären wir bie Natur falfch, 
wir tragen menschliche Beitimmungen auf fie Über und denken 
ihre Erfcheinungen nicht phyfilalifch, fondern anthropomorphiſch. 
Es liegt in ber Verfaſſung unfers Verſtandes, Gattungsbegriffe 
zu bilden, in der unferes Willens, nad) Zwecken zu handeln; 
biefe Sattungsbegriffe und Zwede find Formen, die zum 
Wefen des Menſchen gehören, in der Natur der Dinge nichts 
erflären, und dieſe nichtserklärenden Begriffe haben in der 
Philofophie die Rolle der Principien gefpielt. „Der wißbe- 
gierige Verſtand“, fagt Bacon, „Tann nirgends Halt machen 
oder ausruhen, fondern er jtrebt über jede Grenze hinaus, 
aber vergebens. Ihm feheint undenkbar, daß es eine lekte 
äußerfte Grenze der Welt geben foll; unwilllürlich meint er, 
es müſſe noch etwas jenfeitd der Grenze geben. Auf der 
andern Seite ift e8 ebenſo undenkbar, daß bis zu dieſem Augen⸗ 


*) Nov. Org. Praef. Op. p. 277, 278. 


174 


blick eine Ewigkeit abgelaufen fei, denn jene gewöhnliche Unter- 
ſcheidung des Unendlichen a parte ante und a parte post 
fann man unmöglich gelten laſſen; daraus würde folgen, daß 
eine Unendlichkeit größer fei als die andere, und daß ſich das 
Unendliche felbft verzehre und zum Ende neige. ' Achnlich ift 
die fubtile Theorie von der unendlichen Theilbarkeit der Linien, 
die auf der Ohnmacht des Gedankens beruft. Aber am ver- 
derblichſten zeigt fich diefe Ohnmacht des Geiftes in der Auf- 
findung der Urfadhen. Obgleich oberfte und alfgemeinfte Ur- 
ſachen in der Natur eriftiren müffen, bie fich nicht weiter be- 
gründen laſſen, fo greift dennoch der raftlofe Geift nach Be⸗ 
ftimmungen, bie ihm befannter find. Während er in weite 
Fernen hinausftrebt, fällt er zurüd auf das Alfernächfte, näm⸗ 
ih auf die Endurfahen, die aus der menſchlichen 
Natur, nicht aus der des Univerfums ftammen: und 
aus diefer Quelle fließt das unglaubliche Verderben 
der Philofophie. Es verräth den unerfahrenen und ober- 
flächlichen Denker, wohl im Allgemeinen nad) Urſachen zu ver- 
langen, im Einzelnen dagegen nicht darnach zu ſuchen.“*) 
Im Zwedbegriff unterfcheidet ſich die Metaphyſik von 
der Phyſik. Die Natur nah Zwecken erflären, heißt bie 
Metaphyſik in die Phyſik einmifchen, das heißt die Phyſik 
verwirren und unfruchtbar machen. Die Unfruchtbarkeit einer 
Wilfenfchaft ift ihr Elend. Wie ſich Bacon die Aufgabe fekt, 
dieſem Elende abzuhelfen, fo ift er darauf bedacht, überall in 
den Wiffenfchaften die berworrenen Zuftände aufzuffären, das 
Vermiſchte zu trennen, das Ungleichartige zu fondern. Er 
will die Phyſik reinigen, darum verweiſt er die Endurfachen, 


*) Nov. Org. I, 48. ©. oben &.171. 


s 


175 


die der Phyſik nichts heffen Fünnen, in die Metaphyſik. Die 
Phyfik befchäftigt fi nicht mit den Formen, fondern mit der 
Materie der Dinge, fie erllärt die Erfcheinungen im Einzelnen, 
beicheidet ficy mit den Mittelurfacdhen (causae secundae) und ' 
überläßt die erften Gründe der Dinge der Metaphufil, fie er- 
klärt nichts durch Zwede, ſondern alles in ‚der Natur durd) 
wirfende Urſachen (causae efficientes). Die wirkenden Ur- 
ſachen find die phyſikaliſchen (causae physicae). So bezeichnet 
Bacon in feiner Schrift „De dignitate et augmentis scien- 
tiarum” die Theorie der Zwede als einen Theil ber Meta- 
phyſik, den man bisher zwar nicht außer Acht gelaffen, aber 
an einen falfhen Ort geftellt hatte. „Man pflegte die End- 
urſachen im der Phyſik, nicht in der Metaphyſik zu unterfuchen, 
aber dieje verkehrte Ordnung hat jehr fchlimme Folgen gehabt 
und befonders in der, Phyſik den größten Schaden angeridıtet. 
Denn die Methode der Endurfachen in der Bhyfif Hat die 
Unterfudung der natürlichen Urfachen vertrieben und zu nichte 
gemadt. Deshalb war die Naturphilofophie eines Demofrit 
und anderer, weldhe Gott und Geift von der Bildung ber 
Dinge fernhielten, die Weltordnung aus dem Spiel der Natur- 
fräfte erklärten (welches fie Schidfal oder Zufall nannten) 
und die Urfachen der einzelnen Erjcheinungen aus einer materiellen 
Rothwendigkeit, ohne alle Einmifchung von Zweden, berleiteten, 
in phyfikaliſcher Rückficht bei weiten ficherer und eindringlicher 
als die Theorien eines Plato und Aristoteles.” — „Die Unter: 
juhung der Zmede ift unfrudtbar und kinderlos wie eine 
gottgeweihte Sungfrau.” *) 

Damit ift Bacon’8 Ziel und Weg in der Hauptſache be- 


*) De augm. scient. Lib. III, cap. 4 u. 5. gl. unten Gap. X. 


176 


zeichnet. Er will die Herrſchaft des Menfchen über die Natur 
durch die Erfindung, die Erfindung durch die erfahrungsmäßige 
Erklärung der Natur, die Erklärung ber Natur ohne alle 
Idole. Laß dich in deiner Aufidht von den Dingen nicht durch 
irgend welche Autorität oder Lehrmeinung beftimmen, jondern 
betrachte felbft, lerne felbft die Dinge kennen! Lerne 
die Dinge kennen nicht durch Worte, fondern in der Wirklich 
feit, nicht wie fie in den Iandläufigen Vorftellungen erfcheinen, 
fondern wie fie in der Natur find, d. h. unterfudhe die 
Dinge jelbft, nimm fie wahr! Aber nimm fie wahr ohne 
alle menſchliche Analogien: laß dich nicht irren durch Die 
Sinne, die dir Trugbilder vorfpiegeln, durch den fchnellfertigen 
Verftand, der das Einzelne überfliegt und unwillkürlich fich 
ſelbſt den Naturkräften unterfchiebt, d. h. ftüße beine Wahr- 
nebmung auf Beobadtungen und Verſuche, fchließe 
von beiner Naturerllärung von vornherein die Zwecke 
aus, fuhe überall nichts als bie wirkenden Urſachen 
der Naturerfheinungen! 

Was alfo übrig. bleibt nach Abzug aller Idole, das ift 
die erperimentivende Wahrnehmung unter dem Gefichtspunfte 
der mechanifhen oder natürlichen Caufalität. Auf diefem 
Wege allein Tann der menfchliche Geift das wirkliche Abbild 
der Natur treffen. Und das ift nach Bacon die Aufgabe der 
Wiffenfchaft: „Die Welt fol nicht, wie bisher gefchehen ift, in 
die enge Sphäre des menſchlichen Verftandes eingezwängt, ſon⸗ 
dern diefer foll ausgedehnt und erweitert werden, um das 
Bild der Welt, wie fie ift, in fi aufzunehmen.‘*) 


*) Garascene ad hist. nat. N.IV. Op. p. 422. 





Drittes Kapilel. 
Der Weg der Erfahrung. 





J. 
Die Aufgabe. 
1. Die wahre Differenz. 


Die einzig wahre und fruchtbare Betrachtungsweiſe ift 
alfo die erperimentirende Wahrnehmung, gerichtet allein auf 
die wirkenden Urfachen der Dinge. Wir wollen diefe von 
allen Idolen gereinigte Wahrnehmung, diefe vollfonmen ob- 
jective Beobachtung der Dinge mit Bacon die reine Erfahrung 
nennen (mera experientia), Was die Erfahrung foll, Leuchtet 
ein: fie geht aus von den Thatfachen der Natur umd richtet 
fi) auf deren Urfahen. Es handelt fih darum, den Weg 
ausfindig zu machen, der nicht durch einen glüdlichen Zufall, 
fondern mit Nothwendigkeit von dem einen Punkte zum andern 
führt: diefer Weg ift die Methode der Erfahrung. Ihre erite 
Aufgabe verlangt, die Thatfachen der Natur ˖ kennen zu lernen 
und deren Merkmale aufzufaffen, die Fälle zu ordnen und zu 
jammeln, auf diefem Wege das Material herbeizufchaffen, 
welches den Stoff der Wifjenfchaft bildet. Denfen wir uns 
diefe Aufgabe mit möglichfter Volljtändigfeit gelöft, fo haben 

Fiſcher, Bacon, 12 


- 178 


wir eine Reihe von Fällen, eine Sammlung von Thatjachen, 
die zunächft nur befchrieben und erzählt werden können. Die 
Löſung der erften Aufgabe befteht mithin in der einfachen Auf- 
zählung der wahrgenonmenen Thatfachen (enumeratio simplex), 
deren ſachliche Zufanmenftellung die Naturbefchreibung oder 
Naturgeſchichte ausmacht. Wie wird aus einer ſolchen Natur- 
befehreibung Naturwiſſenſchaft, aus diefer Erfahrung Erfennt- 
niß, oder was daffelbe heißt, aus der Erfahrung der That: 
ſachen die der Urſachen? Erſt die Erfahrung der Urfaden 
iſt wirkliche Erkenntniß, denn „alles wahre Wiffen ift Wiffen 
durch Gründe”. Wie alfo erfahre ich die Gründe oder die 
wirffamen Bedingungen, unter denen die fragliche Erfcheinung 
ftattfindet? 

Jede Naturerfheinung iſt mir unter gewiffen Bedingungen 
gegeben. Es Handelt fi) darım, unter den gegebenen die- 
jenigen zu erkennen, welche zur Erfheinung ſelbſt nothwendig 
und weſentlich find, ohne welche die fragliche Erſcheinung nicht 
jtattfinden könnte. Alfo lautet die Frage: wie finde ich die 
wefentlihen Bedingungen? Und die Antwort: indem id) 
von den gegebenen die unmefentlihen oder zufälligen abziche; 
der Reft, welcher bleibt, befteht offenbar in den wejentlichen 
und Wahren. Weil die nothwendigen Bedingungen in allen 
Fällen die gegebenen nad) Abzug der zufälligen find, darum 
nennt fie Bacon die wahre Differenz (differentia vera) 
und bezeichnet diefe als die Duelle der Dinge, die wirkende 
Natur oder die Form der gegebenen Erjdeinung (fons 
emanationis, natura naturans, naturac datae forma, *) 
Wie bie wahre Betrachtung der Dinge die menschliche Wahr: 


*) Nov. Org. II, 1. 


179 


nehmung iſt nach Abzug aller Idole, fo find die wahren Be- 
dingungen eines Phänomens die vorhandenen nah Abzug 
der zufälligen. Alfo heißt die Trage: wie erkenne ich die zu— 
fälligen? Diefe herauszufinden und von den gegebenen 
auszufcheiden, macht die eigentliche Aufgabe und das Ziel der 
baconifchen Erfahrung. Iſt diefe Aufgabe gelöft, fo ift damit 
die Einficht in die wejentlihen Bedingungen des Phänomens, 
die Erfenntniß der Urſache, die interpretatio naturae, ge: 
. geben. 


2. Die Formen. 


Die ariftoteliihe Metaphyſik Hat vier Arten der Urfachen 
unterfchieden: Materie, Zorn, wirlende Urſache, Endurfade. 
Die Endurfahhen find ans der Erklärung der natürlichen Dinge 
auszufchließen; fie haben hier nichts ausgerichtet, vielmehr ge- 
fhadet, denn fie gehören unter die Zrugbilder unferes Der- 
jtandes. Ariftoteles Hat die Form mit dem Zweck zufanımen- 
fallen laſſen, Bacon fett fie gleich der wirkfanten Urſache oder 
den Bedingungen, aus denen eine Ericheinung ſtets hervorgeht, 
die das Wefen derfelben ausmachen. Daher iſt ihm die Form 
der Natur gleichbedeutend mit ihrer nothwendigen Wirkungsart, 
d. h. mit ihrem Geſetz; die Erforfhung, Auffindung, Erklärung 
dieſes Geſetzes gilt ihm als die Grundlage alles Wiffens und 
erfinderifchen Handelns.“) Es ijt wohl zu beadhten, in wel- 
hem Sinne Bacon den Begriff der Form verfteht, diefen in 
der philoſophiſchen Schulſprache eingenifteten, vielumftrittenen, 
der Misdeutung ausgefegten Terminus. Auch ift er felbjt in 
diefem Punkte vielfach misverjtanden worden von Seiten der 
Ueberfeger und Erflärer. Er verfteht unter Form nicht Zwed, 


*, Nov. Org. II, 2. 
19* 


180 


nicht Gattung oder Typus, fondern Wirkungsart, fo fällt 
fie zufammen mit der causa efficiens, aber fie dedt ſich mit 
diefer nicht ganz. Was unter gewiffen Umftänden gejchehen 
kann und gefchieht, durch da8 Zuſammenwirken der verjchiedenen 
Körper, durch deren Einwirkung auf einander, folgt ebenfalls 
aus Urfachen, aber aus folden, die, an veränderliche Be⸗ 
dingungen geknüpft, nicht beftändig, ſondern vorübergehend 
wirken, fie jind „‚causae fluxae”, hier fällt die causa efficiens 
mit der causa materialis zufammen, weshalb Bacon an der- 
jelben Stelle aud) jagt „causa efficiens et materialis‘.*) 
Demnad) verfteht Bacon unter Form die conftante oder be- 
jtändige Wirkungsart der Natur, er verfteht unter Formen 
die allgemeinen und nothiwendigen Naturkräfte, die immer wir- 
fen und deren jede das Weſen einer allgemeinen phyſi⸗ 
falifchen Eigenfchaft ausmadt. Es find die Grundfräfte, 
entfprechend den Grundeigeuſchaften der Körper. Darum 
nennt er auch die Formen „ewig und unwandelbar“ und be- 
zeichnet die Erforſchung derſelben als die Aufgabe der Grund- 
wijfenfchaft oder Metaphyſik, während die Phyſik es mit 
der Wirkſamkeit ber verfchiedenen Stoffe (causa efficiens et 
materialis) zu thun hat.**) Die Metaphyſik fpielt bei Bacon 
eine doppelte Rolle, was freilich) zur PBräcifion ihrer Stellung 
nicht beiträgt: fofern fie die Endurfachen oder Zwede be: 
trachten fol, bildet fie eine Provinz für fi), die von der 
Phyfit zu trennen ift; als Erforfhung der Grundfräfte da- 
gegen bildet fie die Grundlage der Phyfif, und Bacon würde 
beijer gethan Haben fie ‚allgemeine Phyſik“ zu nennen. Auf 


*) Nov. Org. II, 3. ®gf. De augm. Lib. III, cp. 4. Op. p. 80. 
**) Ehend. IT, 9. ©. unten Cap. X. 








181 


die Metaphyſik in diefem phyfifalifchen Sinn ift das baco- 
niſche Organon gerichtet. 

Es kann kein Zweifel ſein, daß Bacon nur dieſen Sinn 
mit dem Ausdruck „Form“ verbindet. Wer die Formen er- 
kennt, der hat die Einſicht in die allgemeinen Naturfräfte ge- 
wonnen und vermag das Höchſte zu leiften, „der begreift“, 
fagt Bacon, „bie Einheit der Natur in den verjchiedenartigften 
Erſcheinungen, der Tann Dinge entdecken und hervorbringen, die 
völlig neu find, die weder die wandelbare Natur noch die 
eifrigfte Kunft jemals zu bewirken vermocht, deren Gedanke felbft 
nie würde in eines Menſchen Kopf gekommen fein” Wer 
der Natur im Einzelnen bie und da.eine Wirkung ablaufcht, 
der kann manches erfinden, aber die Grenzen der menschlichen 
Herrſchaft rückt er nicht weiter. Wer die allgemeinen Natur- 
fräfte verfteht und dadurch zu regieren weiß, bem fteht die 
. hödhfte Erfindungsfraft zu Gebot, die Bacon „Magie“ nennt, 
nicht weil fie Wunder verrichtet, fondern „wegen des weiten 
Spielraums und der größern Herrfchaft über die Natur“. 
Die Metaphyſik im obigen Sinn, praftifch angewendet, iſt 
Magie; die Phyſik in der engeren Bedeutung, praktiſch ange- 
wendet, Mechanik.“) Die Form ift der Inbegriff der wefent- 
fihen Bedingungen, aus benen die Erfcheinung nothwendig 
hervorgeht. Diefe Form gefeßt, fagt Bacon, fo ift die Er- 
ſcheinung unfehlbar da, die Form aufgehoben, fo ift die Er- 
Scheinung unfehlbar entſchwunden: fie ift der Wefensgrund 
(fons essentiae), aus dem die Erjcheinung folgt.**) 

Die Erſcheinung, um die e8 fich Handelt, ift eine allge- 


*) Nov. Org. II, 3 u. 9. 
**) Ebend. II, 4. ©. unten Cap. X. 


182 


meine und durchgängige Eigenschaft aller Materie, wie Wärme 
Licht, Schwere. Der Inbegriff ihrer wefentlichen Bedingungen, 
der Wejensgrund ift Fein geheimnifvolles Ding, fondern eine 
Thätigleit, ein Vorgang, ein bloßer Act (actus purus), der 
auf eine gefegmäßige und beftimmte Weife gefchieht. ‚Wenn 
ich von Formen fpreche”, fagt Bacon, „ſo verftehe id} darunter 
nichts anderes als die Gefege und Beltimmungen des reinen 
Actes, die das Wefen einer einfachen und allgemeinen Natur: 
erfcheinung ausmachen. Es ift ganz dafjelbe, ob ih Form 
der Wärme, Yorın des Lichtes, oder Gejek der Wärme, Gefek 
des Lichtes ſage.“*) 

Demnach heißt die Aufgabe des Organons: wie erkennen 
wir die Form oder die wefentlichen Bedingungen einer folchen 
Erfcheinung? 


I. 
Der Weg zur Löfnng. 


1. Die Tafeln der Juſtanzen. 

Die Auffindung der wefentlichen Bedingungen fekt die 
Ausſchließung der unweſentlichen voraus, diefe werben aus— 
gefchloffen von den vorhandenen Bedingungen, unter denen 
uns die fragliche Erſcheiuung, z.B. die Wärme, gegeben ift, 
aljo fett die Ausschliegung der unweſentlichen Bedingungen 
voraus die Wahrnehmung einer Neihe gegebener Fälle. Die 
Forderung heißt: finde die wejentlichen Bedingungen, d. t. die 
Differenz, welche bleibt nad) Abzug dev nuweſentlichen Be— 
dingungen von den vorhandenen! Mit einem Subtractionss 
exempel verglichen, ift die Aufgabe dreitheilig: ftelle den 


*) Nov. Org. II, 17. 


183 


Minnendus auf, dann den Subtrahendus, finde ben Neft! 
Das Erfte tft die Wahrnehmung und Aufzählung gegebener 
Fälle, das Zweite die Ausſchließung (exclusio, rejectio) der 
unwefentlihen Bedingungen, das dritte die Cinfammlung, 
gleichſam die Weinlefe der wefentlichen (vindemiatio). 

In jedem gegebenen Tall, z. B. der Wärmeerfcheinung, 
find nothwendig alle wejentlichen Bedingungen enthalten, aber 
zugleich find eine Menge anderweitiger Beitimmungen, begleitende 
Umftände u. |. f. damit verbunden, die mir den eigentlichen Vor⸗ 
gang verhüllen. Die wefentlichen Bedingungen find ba, aber 
für mich nicht erfennbar. Wie mache ich fie erfennbar? Was 
zwar in jedem alle ftattfindet, aber in feinem einzelnen mir 
ertennbar hervortritt, wird einleuchtender fein, wenn ich viele 
Fälle zufanmenftelle, darin gleichartig, daß in jedem die frag⸗ 
lihe Erfcheinung jich zeig... Was die Bedingungen betrifft, 
jo ftimmen in einigen diefe vielen Fälle überein, in anderen 
nicht; ich werde die Tetteren mit Sicherheit für unweſentlich 
und nicht zur Sache gehörig Halten, die erften mit einer ge- 
wiffen Wahrfcheinlichkeit für weſentlich. Jedenfalls läßt ſich 
das Gebiet der Unterſuchung verengen. Jetzt iſt das Ergebniß 
zu prüfen. Die weſentliche Bedingung geſetzt, fo iſt die Er- 
fcheinung da. Iſt fie nicht da, fo ift die Bedingung nicht 
wefentlih, fondern zu eliminiren. Alſo müſſen jett andere 
Fälle gefuht und wahrgenonmen werden, darin den erjten 
vergleichbar, daR fie ähnliche Bedingungen haben, aber darin 
entgegengefeßt, daß die fragliche Ericheinung nicht ftattfindet. 
Es find die Gegenfälle Sie enthalten den Subtrahendus, wie 
die eriten den Minuendus. Jene nennt Bacon „die pofitiven 
oder übereinftimmenden’, diefe „die negativen oder contradic- 
torifchen Inftanzen” Die Ordnung und Aufzählung der pofi- 


184 


tiven Instanzen bildet die „tabula essentiae ct praesentiae”, 
die der negativen die Tafel der Abweichung („tabula declina- 
tionis sive absentiae”). Um in dem Bilde des Nechenerempels 
zu bleiben: die Aufgabe der Subtraction wird angefegt durd) 
die Vergleichung der pofitiven und negativen Inſtanzen, fie 
wird gelöft durch die Ausfchließung der unweſentlichen und 
Einfammlung der wefentlihen Bedingungen („rejectio”‘ und 
„vindemiatio‘). Zwijchen den Anfat und die Löjung hat Ba- 
con noch eine dritte Vergleichungsreihe geftellt, die dazu bei- 
tragen foll, die wefentlichen Bedingungen erkennbar zu machen. 
Mit der Zunahme der legteren, wenn fie in der That wejentlic) 
find, muß auch die Erſcheinung zunehmen und ebenjo umge- 
ehrt. Die hier aufgeführten Fälle beziehen ſich auf die gra- 
duelle Bermehrung und Verminderung, Bacon nennt fie daher 
„die Zafel der Grade”. 

Die fünf Abfchnitte, die nach Bacon den Weg zur Röfung 
bezeichnen und eintheilen, find demnach: die Aufftellung der 
pofitiven Inftanzen, die Entgegenftellung der negativen, bie 
Bergleihung der Grade, die Ausſchließung des Unwefentlichen, - 
die Sammlung des Wefentlichen. 


2. Das Beifpiel. 
(Die Wärme.) 


Bacon Hat diefen Weg nicht blos’ vorfchreiben, fondern 
auch zeigen wollen, wie man ihn geht. Das Beifpiel, welches 
er wählt, ift die Wärme. Daß die Wärme unter den Wir- 
fungsweifen der Natur eine centrale Stellung einnimmt, hat 
die älteſte Phyſik geahnt, die neuefte bewiefen; es giebt viel- 
leicht Feinen Punkt, in welchem alltägliche Lebenserfahrung, 
Speculation und exacte Naturforihung fo nah zufammenftoßen. 





185 


Der erfte italienishe Naturphilofoph Teleſius fekte Stoff 
und wirkende Thätigfeit als bie Urprincipien der Natur den 
Stoff ald das paffive, Wärme und Kälte als die activen 
(nature agenti) und verglich fie mit dem, was die Peripatetifer 
„Formen“ nannten.*) Wir willen, daß Bacon unter Formen 
nichts anderes verfteht als die active Natur felbft, die gefeß- 
mäßige und nothwendige Wirkungsweife, die Wärme gilt ihm 
als Hauptform, als das vorzüglichite und hauptſächlichſte aller 
Beifpiele. Wer die Formen erkennt, fagt Bacon, durchſchaut 
die Einheit der Natur. Aus der mechaniſchen Wärmelehre 
wird in der heutigen Phyſik die Lehre von der Erhaltung und 
Einheit der Kraft bewiefen, das höchfte und umfaſſendſte Princip 
der gejammten Naturwiſſenſchaft. Und es ift merkwürdig ge- 
nung, daß in. der Auflöfung der Frage: was ift Wärme? Ba- 
con auf feinem Wege zu einem Ergebniß gelommen ift, das 
mit der Erklärung der neueften Phyſik fat übereinftimmt. 

Es ift wahr, daß diefer baconifche Weg ſehr umftändlich, 
künſtlich erjchwert, in manden einzelnen Beftimmungen 
falſch ift, theils fehlten dem Zeitalter, theils ihm felbft die 
richtigen VBorftellungen von Wärmebeihaffenheit, Wärmever- 
breitung, Wärmeleitern, Wärmecapacität u. |. f. Im Wider- 
fpruh mit ſich felbft macht er die Wärmeempfindung zum 
Mag der Wärmebefchaffenheit (Temperatur), er nimmt Wärme 
und Kälte, als ob fie entgegengefette Qualitäten wären, und 
fagt gelegentlich bei der Vergleihung der Grade: „Holz ift 
nicht fo kalt als Metall, doch das gehört in die Tafel der 
Kältegrade.” Zuerft werden 28 pofitive Inftanzen der 

*) Bern. Telesio ossia studi storici su Yidea della natura nel 


risorgimento italiano di Francesco Fiorentino (Firenze 1872), 
I, 224. 


186 


Wärmeerſcheinungen aufgeführt, diefen 32 negative Inftanzen 
entgegengeftellt, dann folgen 41 Fälle gradueller Vergleihung, 
darauf 14 Grelufionen, endlich die Lefe.*) 

Als pofitive Inftanzen gelten vor allem die Wärme: 
erfcheinungen unter Einwirkung der Sonnenftrahlen und des 
Teners, dann die Erwärmung flüffiger und Luftförmiger 
Körper, die thierifche Wärme (die thierifhen Bedeckungen, wie 
Wolle, Haare, Federn nimmt er für warme Körper, während 
fie ſchlechte Wärmeleiter find), Entjtehung der Wärme unter 
hemifchen Einflüffen, dur Reibung u. f. f. Das Alles wird 
vereinzelt aufgeführt, die wichtigjten Inftanzen neben folchen, 
die nichtig oder falfch find. Um gründlich zu erfcheinen, Hat 
fih Bacon den eigenen Weg ohne Noth erfchwert und durch 
Geftrüpp ungangbar gemacht. Wäre er bei fundamentalen 
Erfcheinungen geblieben, hätte er den Begriff der negativen 
Inſtanz etwas weiter und richtiger gefaßt, fo wäre fein Weg 
kürzer und lichtuoller gewefen. Wärme unter Einwirkung der 
Sonnenftrahlen ift eine pofitive Inftanz, Wärme durch Reibung 
cbenfalle. Nun gilt ihm als negative Inftanz die ähnliche 
Bedingung ohne die fragliche Erfcheinung. Sonnenftrahlen ohne 
Wärme, Reibung ohne Wärme würden in den beiden gegebenen 
Fällen negative Inftanzen fein. Gegen die Reibung giebt es 
feine negative Inſtanz, Bacon räumt es felbft ein**), gegen 
die Sonnenstrahlen verjucht er als negative Inftanz den Satz, 
daß die Mondftrahlen nit wärmen, aber erftens ift der 
Mond keine Sonne, und zweitens läßt er es ſelbſt auf den 
Verſuch anfommen, ob die Mondftrahlen durch ftarfe Con⸗ 


*) Nov. Org. U, 11—13. 18. 20. (Bofitive Inſtanzen giebt Bacon 
eigentfih nur 27, die letzte Heißt „alia“.) 
**) Nov. Org. II, 12. Tab. decl. s. abs. Nr. XXI. 


187 


centration nicht au wärmen.*) Wem Wärme unter Licht- 
entwidelung als pofitive Inftanz gilt, fo ift die entfprechende 
negative Licht ohne Wärme. Aber hier Liegt eine zweite nega— 
tive Inftanz offen zu Zage: Wärme ohne Licht, Wärme durd) 
Reibung! Kine Entgegenfegung, um jo wichtiger, weil fie 
gar nicht problematiſch ift, eine Erfheinung, um fo fundanıen- 
tafer, eine Inftanz, um fo prärogativer (mit einem Tpäteren 
baconifchen Ausdrud zu reden), weil c8 gegen fie, wie Bacon 
jelbft jagt, Feine negative Inftanz giebt. 

Hier ift ein Grundfehler, der nicht der Methode, fondern 
der Ausübung zur Laft fällt. Ich Habe den Fall vor mir: 
A unter der Einwirkung von B. Der Fall hat zwei mögliche 
Gegenfälle: A ohne B, B ohne A. Es ſei fraglich, ob ſich 
A ohne B conftativen läßt, es ift nicht fraglich, daß B ohne A 
stattfindet. Jetzt ift die ficherfte Gegeninſtauz: B ohne A, 
Wärme ohne Licht, Wärme durch Reibung. Statt gleich bei 
dem erften Schritt Halt zu machen und die fidherfte Gegen⸗ 
inftanz aufzurufen, fchlendert Bacon im Zuge der pofitiven 
Inftanzen weiter und kommt hier unter andern auch zur Rei⸗ 
bung mit der Genugthuung, daß er es auf Nr. 16 gebradjt Hat. 

Daher Tommt es auch, daß Bacon mandes erſt am 
Schluß feiner Tabellen fagt, was er gleich zu Anfang hätte 
fagen follen: erft in der letzten Stelle der Gradvergleichungen 
bezeichnet er den Unterfchied zwiſchen Wärmeempfindung und 
Wärmebeſchaffenheit, und daß jene nur relativ und fubjectiv 
jet; erft in der letzten Stelle der Erelufionen zieht er aus der 
Thatfache der Wärme durch Reibung den erleuchtenden Schluß, 
daß die Wärme nicht etwas urſprünglich Gegebenes, alfo Tein 


*) Nov. Org. II, 12. Tab. decl. Nr. V. 


188 


Stoff fei, fondern eine Thätigkeit, eine Wirkung im activen 
Sinn.“) 

Zuletzt gewinnt er ſein Reſultat aus wenigen Inſtanzen, 
die er felbjt die einleuchtenden Fälle (eluscentiae, instantiae 
ostensivae) nennt, weil hier die Sache felbft weniger durd) 
Nebenumftände verdeckt wird; als folche gelten ihm die Flamme, 
die Reibung, das Sieden, DVerbampfen, Schmelzen. Pan 
ficht, daß die vorhergehenden Aufjtellungen zum großen Theil 
Parademarſch und jene vielen Inftanzen Paradefoldaten waren, 
von denen die wenigften in den Krieg fommen. Aus einigen 
hervorgehobenen Thatſachen wird ausgemacht, was die Wärme 
als folhe ift, abgefehen von unferer Empfindung: der phyſi⸗ 
falifche Begriff der Wärme Wärme ift Bewegung, nidt 
etwa fo, al8 ob die Bewegung eine ihrer Eigenſchaften fei, 
als ob fie Bewegung erzeuge oder durch diefelbe erzeugt werde: 
fie ift felbft nichts anderes al8 Bewegung, als eine befondere 
Art der Bewegung. Was für eine Art? Die Reibung zeigt, 
daß diefe Bewegung nicht von einer Maſſe auf eine andere 
übertragen oder mitgetheilt wird, fondern innerhalb der Theile 
eines Körpers vor ſich geht; die Erfcheinungen des Siedens, 
Berdampfens u. f. f. zeigen, daß die Bewegung expanfiv, bie 
Wärme alfo ein ausdehnender Bewegungsact ift; aus der 
Flamme will Bacon ertennen, daß diefe ausdehnende Bewegung 
nad) aufwärts ftrebt, aus dem Feuer und der Verbrennung, 
daß fie unregelmäßig, oscillirend, die kleineren Theile durd- 
dringend, heftiger Art if. Seine Definition Heißt: Wärme 
iſt eine ausdehnende, gehemmte, durch die Fleineren Theile 
fteebende Bewegung. Die heutige Phyſik erklärt: Wärme ift 


*) Nov. Org. II, 20. 


189 


fein Stoff, fondern Bewegung, eine befondere Art der Be⸗ 
wegung, feine Bewegung größerer Maffengruppen, keine fort- 
fchreitende, Teine drehende, Teine wellenartige, wie Schall oder 
Licht, fondern eine unregelmäßige Bewegung der Kleinften 
Theile, der Molecüle und Atome: fie ift unregelmäßige Mole⸗ 
eularbewegung. 


3. Induction und Deduction. 


Jetzt laſſen fich die Wege genau erfennen und unterfchei- 
den, auf denen der menſchliche Geiſt die Erkenntniß ſucht. 
Es giebt überhaupt nur zwei Wege, die verfucht werden können, 
der eine führt in die Irre, der andere zur Wahrheit: entweder 
folgen wir den Irrlichtern unjerer Idole oder dem wahren 
Licht der Natur. Jede Erkenntnißart, da fie dur Gründe 
ftattfindet, ift eine Beweisart, die falfchen Beweiſe find gleich- 
ſam die Befejtigungen und Schugwehren unferer Borurtheile, 
die Dadurch bewaffnet und verjtärkt werden. Den Trugbildern 
entjprechen die Trugbeweiſe. Der ſchlimmſte von allen, der 
die natürliche Ordnung des Erfennens völlig verkehrt, ift der 
Schluß aus bloßen Begriffen, aus allgemeinen Vorderfägen 
durch erfünftelte Meittelfäge auf Icere Schlußſätze; diefe Be— 
weisart geht nicht von Thatſachen zu Gefeßen, fondern von 
Worten zu Worten, fie verfehlt nicht blos die Natur, fondern 
läuft ihr zuwider und verliert fie ganz außer Augen. Darum 
nennt Bacon diefe Art der Wortbeweife, die bei der Schule 
in Anjehen ftehen, dieſes leere dialektiſche Verfahren der ge- 
wöhnfichen Deduction „die Mutter der Irrtümer und die 
Salamität der Wilfenfchaften”.*) 


*) Nov. Org. I, 69. 


1% 


Das entgegengejette Verfahren beginnt nicht mit leeren 
Begriffen, fondern mit Thatſachen oder Wahrnehmungen. 
Wenn aber aus der erſten beften Wahrnehmung fogleich ein 
allgemeiner Saß abgeleitet und daraus die übrigen fchulgerecht 
gefolgert werden, fo find wir um nichts gebeffert, fondern 
fallen zurüd in die fchlechte für grundfalfch erkannte Beweis⸗ 
art. Es ift nicht genug von Wahrnehmungen auszugehen, es 
muß auch am Leitfaden der Thatſachen, nach der Richtſchnur 
der Erfahrung von Satz zu Satz fortgeſchritten werden. An 
die Stelle der gewöhnlichen Deduction tritt der Erfahrungs— 
beweis.*) 

Unſere Sinneswahrnehmungen find beſchränkt und trüge- 
riſch. Wenn wir von falſchen Wahrnehmungen ausgehen, ſo 
iſt der ganze Erfahrungsbeweis nichtig. Um als brauchbare 
Prämiſſen zu gelten, müſſen die Wahrnehmungen berichtigt, 
die Thatſachen feſtgeſtellt werden. Dies geſchieht durch Be— 
obachtung und Verſuch. Der menſchliche Verſtand iſt aus 
Vorliebe für allgemeine Sätze geneigt zu voreiligen Schlüſſen. 
Es darf aus den gegebenen und richtigen Thatſachen nicht 
mehr geſchloſſen werden als daraus folgt: der Erfahrungsbe- 
weis fei jtreng und exact, er gehe von Schritt zu Schritt, nicht 
fprungweife, fondern ftufenweife. **) 

Aus wenig Thatſachen läßt ſich mit Sicherheit nicht viel 
ſchließen. Nun ift das Ziel der Erfahrung die Entdeckung 
der verborgenen Naturprocefje, die Einfiht, wie die Natur 
handelt, die Erklärung der Naturgefege. Eine folche Erklärung 
nennt Bacon „Ariom”. Um mit Sicdjerheit Axiome zu fin- 


*) Nov. Org. I, 19. 76. 
**) Ebend. I, 19.. 


191 


ben, darf der Gefichtsfreis der Erfahrung, ich meine die That- 
jachen, die fie beherrfcht, nicht zu beſchränkt und dürftig fein.*) 

Geftütt alfo auf richtige, durch Beobachtung und Verfuch 
fejtgeftellte Thatfachen, auf ein umfafjendes Material folder 
Fälle, jchreite dieſe weitblickende Erfahrung vorfichtig und be- 
hutſam vorwärts, von Schritt zu Schritt, von Stufe zu Stufe, 
bei jedem Schritt immer die Thatſache vor Augen, woraus 
fie fchließt, bei jedem Schluß, den fie macht, immer ſpähend, 
ob nicht Thatfachen vorhanden find, die dagegen zeugen. Diefer 
Weg richtiger Erfahrung ift die Induction, der eigentliche 
Schlüſſel zur Erflärung der Natur, „Zur Grundlegung 
der Sache Handelt es ſich zuerjt um eine ausreidhende und 
brauchbare, durch Beobachtung und Verſuch feftgeftellte Natur- 
befchreibung. Denn was die Natur thut oder leidet, Täßt ſich 
nicht erdichten noch erdenken, fondern nur entdeden. Aber 
eine ſolche Naturbejchreibung ift fo mannidhfaltig und zerftreut, 
daß fie den Berftand verwirrt und diffus macht, wenn fie 
nicht geordnet dargejtellt wird. Daher find Zabellen und 
Reihen der Inftanzen zu entwerfen und fo einzurichten, daß 
der Berftand fein Verfahren darauf richten Tann. Aber auch 
nach ciner ſolchen Vorbereitung ift der fich ſelbſt überlaffene 
und wilffürlihe Verftand noch nicht zureihend "und gejchict, 
die Ariome zu entdeden, wenn er nicht gelenkt und gejchütt 
wird. Darım muß man drittens die methodifche und wahre 
Induction anwenden, die der eigentliche Schlüffel iſt zur Er- 
Härung der Natur.” **) 

Der wahren Induction entſpricht die wahre Deduction. 


*) Nov. Org. I, 70. 
**) Ebend. II, 10. 


192 


Das Ziel aller Erfenntniß follte die Erfindung fein, nicht die 
zufällige, jondern die abjichtliche, methodische. Die Kunft des 
Erfindens ruht auf der Anwendung der Naturgefeße, fordert 
alfo deren Entdedung, bie im Wege der reinen Erfahrung, 
der richtigen Induction gefchieht. So theilt ſich der neue 
Weg, auf den Bacon binweift, in zwei Hauptabfchnitte: von 
der Wahrnehmung zur Entdedung, von ber Entdeckung zur 
Erfindung, vom VBerfuh zum Ariom, vom Ariom zum Ver- 
ſuch; der erſte Verſuch geht auf Entdedung, der Iekte auf Er- 
findung. Den erften Weg nennt Bacon Induction, den zwei- 
ten Deduction: jene iſt die Methode der Erklärung, diefe 
die Methode der Anwendung. Die Induction endet mit dem 
erfannten Gefe, die Deduction mit der gelungenen Erfindung. *) 
So ſchließt Bacon’s Philofophie, wie er fein Leben gefchloffen 
haben wollte: mit dem Triumph des Experimente. 

Was die bloße Erfenntniß der Dinge betrifft, fo giebt 
e8 nur einen Weg, der zum Ziel führt: die Methode der 
Induction. Sie ift, fagt Bacon, der wahre Weg, den bisher 
noch feiner verſucht hat.**) Und was für die Bedeutung und 
Würdigung Bacon’ fehr wichtig ift: die Induction gift ihm 
al8 der wahre Weg,. in Abficht nicht bloß auf die Phyſik, 
jondern auf alle Erfenntniß ohne Ausnahme. . Er erklärt aus- 
drücklich, daß diefelbe Methode, wonach Wärme, Licht, Vege- 
tation u. f. f. unterfucht werben, auch allein gültig fei zur Er- 
forfhung der Gemüthsbewegungen, der Geiftesthätigfeiten, des 
bürgerlichen Lebens u. f.f., daß auch Logik, Moral, Politik, 
überhaupt alle Wiffenjchaften mit der Naturphilofophie unter 
einen und denſelben Geſichtspunkt fallen. 


*) Nov. Org. II, 10. **) Ebend. IL, 127. 





Dierles Kapitel. 
Die Methode der Inductiou. 


— — — — 


J. 
Die negativen Inſtanzen. 


Wir müffen den Punkt hervorheben, auf den Bacon ſelbſt 
in feiner Methodenlehre das größte Gewicht gelegt, den er als 
das eigentliche Kennzeichen ihrer Neuheit an fo vielen Stellen 
geltend gemacht Hat. Geſetzmäßige und wahre Imduction 
nennt er die feinige, um fie vom einer andern zu unterfcheiden, 
die weder geſetzmäßig noch wahr ift, die vegellos verführt und 
zu falfchen Ergebniffen fommt. Erfahrung und Induction als 
ſolche find fo wenig neu, daß fie vielmehr den täglichen Un- 
terhaft unferer Erkenntniß ausmachen; jeder Tag bringt uns 
Erfahrungen, aus einer Reihe täglicher Erfahrungen ziehen 
wir zulegt eine Summe, bie und als endgültiges Refultat 
oder Ariom gilt. Diefer Schluß von der Thatfache anf das 
vermeintliche Axiom geſchieht audh im Wege der Indnction, 
und nad) einer ſolchen Induction "bildet jic die tägliche Lebens- 
weisheit, wie die Wetterregel im Verftande des Bauern. Aber 
ebenfo überzeugen wir uns täglich von der Unficherbeit nnferer 


jo gemachten Erfahrung, von der Unrichtigfeit ihrer Schlüffe. 
Bifher, Bacon. 13 


—A 


194 


Eine neue Erfahrung, worauf wir bei der Summe der früheren 
nicht gerechnet hatten, zeigt, daß unſere Regel falſch war, und 
eine einzige genügt, das vermeintliche Geſetz zu widerlegen. 
Wenn auch nur einmal nicht eintrifft, was unſerer Regel nach 
eintreffen ſollte, ſo iſt bewieſen, daß dieſe Regel nicht gültiger 
war als ein Idol. Der eine Fall bildet gegen unſere Regel 
die negative Inſtanz. Und im Laufe der gewöhnlichen Er- 


.fahrung ſtoßen wir fortwährend auf folche negative Inftanzen, 


die wieder zu nichte machen, was wir auf unfere bisherige 
Erfahrung gegründet und auf diefen Grund hin geglaubt Hatten. 
An folhen negativen Inftanzen pflegen die Wetterregeln der 
gewöhnlichen Art zu Schanden und lächerlich zu werden, und 
die gewöhnliche Erfahrung fteht nicht ficherer als der Kalender. 
Sider fteht die Erfahrung erft, wenn fie die negativen In— 
tanzen nicht mehr zu fürchten hat, wenn ihre Rejultate nicht 
mehr der Gefahr ausgefekt find, daß fie der nächite Augenblic 
mit einer unerwarteten Erfahrung widerlegt: wenn ihr mit 
einem Worte Teine unvorhergefehenen Fälle mehr begegnen 
fönnen. Daher muß die Erfahrung, um ficher zu gehen, ſo— 
viel al8 möglich alle Fälle vorherjehen, fie muß ſich bei Zeiten 
gegen die Gefahr der negativen Inftanzen fügen, indem fie 
diefelben bedenkt; fie felbft muß, bevor fie ihr Reſultat ab- 
Ihließt, die negativen Inftanzen auffuchen und ihnen begegnen, 
damit nicht diefe ihr begegnen und das vorzeitige Nejultat 
umftoßen. Der einzig fihere Weg der Erfahrung führt mit- 
ten dur die negativen Inſtanzen hindurch. Diefen 
Weg nennt Bacon im Unterfchiede von der gewöhnlichen Er- 
fahrung die methodifche, im Unterfchiede von der gewöhnlichen 
Induction die wahre, Widerlegt überhaupt kann eine Erfahrung 
nur werden durd) das Zeugniß widerfprechender Thatſachen. 


195 


Wenn feine Thatjache mehr gegen fie zeugt, fo ift fie unmider- 
leglich, fo fteht fie feft. Und gegen diefes Zeugniß kann ſich 
die Erfahrung nur dadurd) ſchützen, daß fie es felbjt aufſucht 
und abnimmt, daß fie, wie in einem Rechtsſtreite, die pofi- 
tiven Inftanzen mit den negativen gleihfam confrontirt und 
erit nad) diefem Verhöre fich entfcheidet; fie muß ben erften 
Grundfag der Gerechtigkeit befolgen: audiatur et altera pars! 

Die negativen Inftanzen machen die Erfahrung ſchwierig 
and im wiſſenſchaftlichen Verſtande geſetzmäßig; ohne diefelben 
ift fie leicht und unfritifh, darum legt Bacon ein fo großes 
und nachdrückliches Gewicht auf die negativen Inftanzen: fie 
gelten ihm als das Kriterium der erfahrungsmäßigen Wahr: 
heit, als deren einzige Bürgſchaft. Verbürgt ift die Wahrheit, 
wenn fie widerſpruchslos ift; verbürgt ift die erfahrungsmäßige 
Wahrheit, wenn fid) die Erfahrung bei jedem ihrer Urtheile - 
die möglichen Widerfprüche vorhäft, Far macht und löſt. Dies 
geichieht durch die Beachtung der widerftreitenden Fälle. Dieſe 
hemmen und fichern jeden Schritt der Erfahrung und geben 
ihr die Richtſchnur, wonad ſie Tangfam dem fichern Ziele zu- 
ſtrebt, nicht vorfchnell zu einen eingebildeten und nichtigen 
forteilt. „Ich halte dafür”, fagt Bacon in feinen Gedanken 
und Meinungen, ‚daß man eine folche Form der Induction 
einführe, die aus, einzelnen Thatjachen allgemeine Schlüffe 
zieht, aber fo, daß dagegen nachweislich Tein widerſprechendes 
Zeugniß, feine negative Inftanz mehr aufgeführt werden kann.“) 
Durch die unausgejegte Vergleihung der pofitiven Inftanzen 
mit den negativen werden die nothwendigen Bedingungen von 
den zufälligen gefondert. Deshalb nennt Bacon diejen ver- 


— 


*) Cogitata et Visa. Op. p. 597. 


196 


gleihenden Verftand „das göttliche Feuer’, wodurd die Natur 
gejichtet und die Geſetze ihrer Erſcheinungen erleuchtet werden: 
„Es muß eine Sichtung und Zerfegung der Natur ftattfinden 
nicht durch das elementare Feuer, fondern durch den Verftand, 
der gleihfam das göttliche Feuer iſt.“ „Nur durch die ne- 
gativen Bedingungen fünnen wir gu den affirmativen vor- 
dringen nad allfeitiger Ausfchliegung.”*), Anfpielend auf 
die Alchymiſten, jene philosophi per ignem, bie im wirf- 
lichen Feuer die Körper auflöfen und fcheiden, fagt Bacon, er 
brauche zu feiner Scheidung nicht den Vulcan, fondern die 
Minerva, freilid) eine andere Minerva als die der bisherigen 
Wiſſenſchaften, die zur Einjiht in die verborgenen Proceffe 
der Natur viel zu plump und unbeholfen war.**) * 

Wir ſahen früher, wie die baconifhe Wiffenfchaft aus 
edem Zweifel hervorging, der ihr nichts übrig ließ als die 
reine Erfahrung; fie will den Zweifel nicht glei) den Sfep- 
tifern feithalten, fordern ftrebt nad, jihern Erkenntniſſen, aber 
auf diefem Wege nimmt fie den Zweifel mit fi als fort- 
währenben Begleiter aller ihrer Unterfuhungen und fchliekt 
feine ab, ohne diefen Begleiter gehört und beruhigt zu haben. 
Jener erſte Zweifel, der aller Wiffenfchaft vorausgeht, macht 
diefe rein empirifch; dieſer zweite, der die Wiffenfchaft auf 
jedem ihrer Schritte begleitet, macht die Erfahrung Fritifch, 
Ohne den erjten würde die Erfahrung ſchon in ihrem Urfprunge 
mit Idolen behaftet fein und deshalb jtets im Trüben bleiben; 
ohne den andern wilrde fie auf ihrem Wege Idole ſtatt der 
Wahrheit ergreifen und deshalb leichtgläubig und abergläubiſch 


*) Nov. Org. II, 15 u. 16. 
**) Ebend. II, 6 u. 7. 


197 


‚werben. Davor fchüßt fie der fortgeſetzte Zweifel, ber Fritifche 
Berftand, der gegen jede pofitive Inftanz die negative aufruft. 
Woher anders kommt bie Leichtgläubigfeit und der Aberglaube 
der Leute, al8 aus diefem Mangel an Tritiihem DVerftande, 
aus diefer Nichtbeachtung der negativen Inftanzen, aus diefer 
leichten und faulen Befriedigung mit ein paar pofitiven be- 
lichigen Fällen? Hätte man: die negativen ebenfo gut gehört, 
fo wärden fo viele Wunderdinge, die man ıumerflärlichen und 
dämonifchen Kräften zufchreibt, nie geglaubt worden fein. Da 
fabelt man von heiffehenden Schlafwandlern, welche die Zu— 
funft weiffagen und treffen, von prophetifchen Träumen, die 
erfüllt worden u. ſ.f. Der leichtgläubige Verſtand, ſchon durch 
die ungewöhnliche und außerordentliche Begebenheit gefeſſelt, bes 
gnügt ſich mit dem einen, nicht weiter unterſuchten Falle, erzählt 
die Sache weiter, wird abergläubiſch und macht Abergläubiſche. 
Der kritiſche Verſtand fragt: wo ſind die Schlafwandler, die nicht 
weiſſagen, deren Weiſſagungen nicht eintreffen? Ohne Zweifel 
würde man ſie finden, wenn man ſie ſuchte, und eine einzige ſolche 
negative Inſtanz würde hinreichen, aller Welt den Glauben 
an die Unfehlbarkeit ſolcher Weiſſagungen zu nehmen, alle 
Welt zu überzeugen, daß hier andere Kräfte im Spiele ſind 
als dämoniſche oder gar göttliche. Wenn jeder Glaube der 
Art, der ſich auf gewiſſe Fälle, auf gewiſſe Erfahrungen be- 
ruft, die Fenerprobe der negativen Inftanzen beftehen follte, 
die er erfahrungsmäßig beftehen müßte, wie wenige würden 
diefe Probe aushalten! ‚Als man jemand”, fagt Bacon, „in 
einem Tempel die Votivtafeln der Geretteten zeigte und dann 
mit der Trage zur Laſt fiel, ob er jeßt die gnädige Gottheit 
anerfenne, antwortete er ſehr richtig mit der Gegenfrage: aber 
wo ftehen die verzeichnet, die troß ihrer Gelübde im Schiff: 





198 


brud) umgekommen find? Und diefelbe Bewaudtniß hat es 
(fährt Bacon fort) mit jeglichem Aberglauben, den Stern- 
deutereien, Träumen, bedeutungsvollen Wahrzeichen, Verhäng- 
niffen und was dergleichen mehr iſt. Die Menfchen, die fi 
an folhen leeren Dingen ergögen, bemerken immer nur bie 
Fälle, wo die Sache zufällig eintrifft, die erfolglofen dagegen, 
obwohl fie bei weitem die Mehrzahl find, laſſen fie außer Acht. 
Am tiefften aber Hat fich diefes Uebel in die Wiſſenſchaften 
und die Bhilofophie eingejchlichen. Der menjchliche Verftand 
hat einmal diefen eigenthüänlichen und feftgewurzelten Irrthum: 
daß er ſich (den Hang zum Wunderbaren ganz bei Seite ge 
jeßt) überhaupt mehr durch pofitive Iuftanzen als durch nega⸗ 
tive beftimmen läßt, während er fich doch beiden mit gleicher 
Unparteilichfeit bingeben follte. Ja für die Aufjtellung eines 
wahren Arioms ift die Bedeutung der negativen Juſtanz alle 
mal größer als die der pofitiven.”’*) Dem offenbar Fönnen 
hundert Fälle nicht beweifen, was ein einziger widerlegt. 
Die negativen Instanzen, welche Bacon methodisch geltend 
macht, bilden in feiner PBhilofophie den Fritifchen Wiberfprudjs- 
geift, die Bürgschaft gegen alle Teichtgläubige Empirie, gegen 
alles Leichtfertige Annehmen, mit einem Worte gegen alle Idale, 
vor denen die bloße Erfahrung nicht ſchützt, noch weniger der 
ſich felbft überlaffene Verftand. Denn die bloße Erfahrung 
beachtet die negativen Inſtanzen nicht, fie ſammelt Fälle und 
macht darans Tleichtfertige Ariome; noch weniger beadjtet fie 
der fich felbft überlaffene Berjtand, der die Erfenntnig nur 
aus ſich ſchöpft ohne Rückſicht auf alle äußern Inftanzen: fo 
verfehlen . beide die wirklichen Abbilder der Dinge. Dagegen 


— 





*) Nor. Org. I, 46. Bgl. De augm. scient. V, cp.4. Op.p. 140. 





199 


die Fritifche Erfahrung vereinigt den Reichthum der Erfahrung 
mit der Kraft des PVerftandes, indem fie die Einfeitigfeiten 
beider und darum deren Irrthümer vermeidet. Sie fammelt, 
indem fie fichtet, und Handelt auf diefe Weife ebenfo erfahrungs- 
mäßig als verftändig: fie ift rationelle, denkende, vernunftge- 
mäße Erfahrung. In diefer allein findet Bacon das Heil der 
Wiffenichaft, in der Vereinigung von Vernunft und Erfahrung, 
wie er das Elend der Wilfenfchaft in der Trennung beider er- 
biidt. „Wir wollen”, jagt er in der Vorrede zu feinem Ge- 
ſammtwerk, „zwijchen Erfahrung und Vernunft jene unfelige 
Scheidung aufheben, die alle menfchlichen Angelegenheiten ver- 
wirrt hat, umd für ewige Zeiten eine wahrhafte und gefek- 
mäßige Verbindung ftiften.”*) 

So begreift Bacon feinen Standpunkt der Vergangenheit 
gegenüber als einen neuen und höhern, der die bisherigen 
jtarren Gegenſätze auflöft und vereinigt. Jeue Gegenfäße 
waren unfrucdhtbar und mußten es fein. Mit ihrer Ber- 
einigung erſt beginnt die fruchtbare und erfinderifche Wiffen- 
ſchaft. In der bildlich treffenden Ausdrudsweife, die ihm 
jtetS zu Gebot fteht und feine Schreibart auszeichnet, vergleicht 
Bacon bie bloße Erfahrung mit den Ameifen, die nichts können 
als fammeln, den fich ſelbſt überlaffenen Verſtand mit dem 
Spinnen, die aus ſich ihr Gewebe hervorbringen, die denkende 
Erfahrung, welche die feinige ist, mit den Bienen, die zugleich 
jammeln und fichten. „Alle, die bisjegt die Wiffenjchaften be— 
trieben haben, waren entweder Empiriker oder Dogmatifer. 
Die Empiriker find wie die Ameifen, die viel brauchbares 
Material zufammentragen, die Vernünftler wie die Spinnen, 


*) Inst. Magna. Praef. Op. p. 275. 


200 


die ans fich heraus ein Gewebe zufammenfügen, aber die Ber- 
nunft in der Mitte von beiden gleicht der Biene, die ihr 
Material aus den Blumen der Gärten und Wiefen zieht und 
diefes Material dann mit eigener Kraft ſichtet und ordnet. 
Richt unähnlich ift die wahre Arbeit der Philofophie, denn fie 
ſtützt fich nicht ausfchlieglich oder hauptſächlich auf die Mittel 
des bloßen Verftandes, fie legt das durch Erfahrung geſammelte 
Material nicht im bloßen Gedächtniß nieder, fondern im Ver- 
ftande, nachdem fie den Stoff geformt und in ihre Herrſchaft 
gebradyt hat. Darum müſſen, was bisher nicht gejchehen, 
Erfahrung und Vernunft ein fefte® und unverlegliches Bünd- 
niß. eingehen, um dem troftlofen Zujtande der Wiffenfchaft 
ein Ende zu machen.”*) Der angefammelte Erfahrungsitoff 
wird zur Wiſſenſchaft durch methodifche Bearbeitung; dieſe Be- 
arbeitung bejteht in der wahren Induction, für welde der 
Erfahrungsftoff gleihjam das Hausgeräth ift, das fie ordnet 
und braucht, gleichfam der Wald, den fie fihte. Daher be- 
zeichnet Bacon die historia naturalis als ‚‚verac inductionis 
supellex sive silva”. **) 


II. 
Das Experiment. 


Die Erfahrung auf ihrem Wege von der Wahrnehmung 
zum Ariom ift von zwei Gefahren bedroht: in der Auffaffung 
der Thatfachen wird fie beirrt durch die Sinnestäufchung; in- 
dem fie die Thatjachen auf Gejege zurüdführt, droht ihr der 
Trugſchluß. Sie bedarf daher, wie Bacon fo oft fagt, der 


— 1 0 on — 


*) Nov. Org. I, 95. Bgl. als Barallelftelle Cog. et Visa. Op. p. 596. 
**) Parasceue ad hist. nat. Nr. II. Op. p. 421. 


201 


Leitung. Das Weltgebäude ift ein Labyrinth*); um es zu 
erforfchen und fich im Dunkel deffelben nicht zu verirren und 
zu verlieren, bebürfen wir den Faden der Arindne, jenes 
„flum labyrinthi“, wie Bacon die Wegweifung aus dem 
Felde der Thatfachen in das der Urſachen zu nennen licht. **) 
Gegen die Blendung der Sinneswahrnehmung ſchützt die Be- 
rihtigung durch Beobachtung und Verſuch, gegen die voreiligen 
falichen Schlüffe die Beachtung der negativen Inftanzen, bie 
fritiiche Vergleihung der Thatſachen. In beiden Fällen wer- 
den die Bedingungen, unter denen die Thatjache wahrgenom⸗ 
men wird, verändert, ſowohl auf Seiten unferer Wahr- 
nehmung als auf Seiten der Erfcheinung, und zwar werden 
fie nicht zufällig, fondern abfichtlich verändert, um aus dem 
Gebiete der Wahrnehmung den blos fubjectiven Eindrud, aus 
dem der Thatſache die blos zufälligen Umftände zu entfernen. 
Auf diefe Weife wird die Erfahrung auf ein bejtimmtes Ziel 
gerichtet, fie fommt nicht, ſondern wird gefucht: wenn fie von 
ungefähr fommt, ift fie Zufall; wenn wir fie fuchen, beabfid)- 
tigen, anftellen, ift fie Berfud oder Erperiment (experien- 
tia quaesita = experimentum), „Es bleibt nichts übrig”, jagt 
Bacon, „als die reine Erfahrung. Wenn fie uns Tommt, 
heißt fie Zufall, wenn wir fie fuchen, Experiment. Doch bat 
diefe Art der Erfahrung feine feften Ziele, fie tappt umher, 
wie die Menfchen bei der Nacht zu thun pflegen, ob fie nicht 
zufällig den rechten Weg treffen. Sie würden Tlüger und 
beifer Handeln, wenn fie den Tag erwarten oder Licht anzün- 
den und fi dann auf den Weg machen wollten. Die wahre 


— — — — 


*) Inst. Magna. Praef. Op. p. 274. 
**) Imp. phil. Op. p. 709 (scala intellectus sive filum labyrinthi). 


202 


Erfahrung dagegen zündet zuerft Licht an, dann zeigt fie mit 
dem Lichte den Weg, fie hebt an mit geordneten, gefichteten, 
wohlbedadhten Wahrnehmungen, zieht daraus ihre Ariome und 
aus den feitgeftellten Aromen neue Experimente.‘ „Darum 
mögen fich die Zente nicht länger über die Dede in den Wiffen- 
fchaften wundern. Sie haben fi) nad allen Richtungen vom 
Lege verirrt, entweder haben fie die Erfahrung gänzlich ver- 
lafjen oder fi) in der Erfahrung wie in einem Labyrinthe 
verirrt, indem fie blind umhbertappten. Die wahre Methode 
leitet auf ficherem Wege mitten durch die Wälder der Erfahrung 
in das offene Feld der Geſetze.“*) 

Alfo nicht die bloße Erfahrung gilt, fondern die experimen⸗ 
telle, nicht der Verſuch auf gutes Glüd, in der Hoffnung auf diefen 
oder jenen Gewinn, fondern in Abficht auf wahre Erfenntniß: 
das entdedende Experiment, die „lucifera experimenta‘**), 
nicht das blinde Experiment, fondern das von der Methode 
erleuchtete und ficher geführte. 

Diefer Begriff der experimentellen Erfahrung entſcheidet 
den Charakter der bacontichen Methode, wie diefe den Charak— 
ter der baconifchen Phtlofophie überhaupt. Man bat neuer: 
dings in Frage, ja in Abrede geftellt, daß Bacon den Begriff 
des Experiments gehabt habe, eine Frage, bie natürlich ganz 
unabhängig ift von der anderen, ob er die Kunft des Experi- 
ments beſeſſen, ob er felbft gute und wohlinftruicte Experi- 
mente gemadt.hat? Da er fi in diefer Kunft verfucht Hat, 
jo ift die Frage aufzuwerfen, fie ift in der Hauptfacdhe zu 
vereinen, aber damit ift nichts über bie Frage entfchieden, bei 


*) Nov. Org. I, 82. 
**) Ebend. I, 99. 





208 


der wir ftehen. Windelman würde diefelbe Bedeutung für die 
Erkenntniß der griehifchen Kunft haben, wenn er jelbit ein 
fchlechter Bildhauer geweſen wäre, er war gar feiner, es thut 
dem Berdienfte Bacon’8 um die Erneuerung der Philoſophie, 
um die Erlenntniß neuer Ziele und Bahnen nicht den min- 
deften Eintrag, daß er in der Ausübung feiner Methode wenig 
vermocht und nichts Erhebliches geleiftet. Sein Werk war bie 
Aufftellung, die Wegweifung, und wo er im Gefühl feiner 
Million redet, hat er felbft nie etwas anderes beanſprucht. 
„Id übernehme blos die Rolle des Zeigers”, jagt er in 
dem Vorwort zu feinem Hauptwerk.*) 

Erdmann verneint, daß Bacon in feiner Methode die 
Aufgabe und Bedeutung bes Erperiments richtig erfannt habe, 
er habe fie nur geahnt; diefer Mangel gilt ihm als Haupt- 
grund, weshalb Bacon nicht an die Spige der neuern Philo- 
fophie zu ftellen, fondern nod zu den Männern der Ueber- 
gangszeit zu rechnen fei. Das Experiment, fagt Erdinann, 
fei nicht bloße Erfahrung, fondern gehe aus auf Erfahrung. 
Genau daſſelbe ſagt Bacon in der oben angeführten Stelle, 
nur daß er mit dem bloßen Suchen ſich nicht begnügt, ſondern 
geordnetes und methodiſches Suchen fordert. Das Erperiment 
bat nah Erdmann die Bedingungen zu entfernen, die zur 
Erfcheinung nicht nothwendig gehören, es läßt nur die wefent- 
lichen übrig. Genau daſſelbe fordert Bacon und es ift, wie 
wir ausführlid gezeigt haben, der Grundgebante feiner ganzen 
Methode. Daher find ihm die negativen Inftanzen fo wid): 
tig. Aber, jo wendet Erdmann ein, er verhält ſich dazu blos 


*) Nov. Org. Praef. Op.p.278: „Nos indicis tantummodo per- 
sonam sustinemus.” gl. Nov. Org. I, 32. 


204 


wahrnehmend, und die Abwefenheit gewilfer Bedingungen 
wahrnehmen, Heißt nit fie veranlaffen.*) Cr ſucht andere 
Bedingungen auf, aber er felbft thut von fi aus nichts, die 
gegebenen Bedingungen zu verändern durd einen Tunftgerechten 
Eingriff in die Natur, durch eine naturfundige Cperation, 
welche letztern erit das Weſen des Erperiments ausmachen. 
Wer eine Erfcheinung unter andern Bedingungen fucht, um 
zu erproben, ob die von ihm gefundenen aud) die wefentlichen 
jind, um dieſe Frage an die Natur zu richten, um von der 
Natur felbjt und von ihr allein fi) die Antwort zu Holen, 
der iſt fhon im Wege des Experiments, und es müßte ſonder⸗ 
bar zugehen, wenn er die Hände nur im Schoß behalten 
und nicht ſelbſt ans Werk legen wollte, um die Natur zur 
Antwort zu bewegen. Es müßte ein Gelübde fein, das ihn 
verhindert. Gin folches Gelübde Hatte Bacon nicht abgelegt, 
und e8 war keineswegs feine Meinung, ſich der Natur gegen 
über nur contemplativ zu verhalten. So oft fagt er, daß zur 
Einfiht in die Natur die bloße Wahrnehmung, auch wenn fie 
mit den beften Werkzeugen ausgerüftet fei, nicht ausreiche, daß 
auch die feinfte Beobachtung, die nur zufieht, fi) nur wahr- 
nehmend verhält, nicht fein genug fei, um die verborgenen 
Proceffe der Natur zu durchſchauen, daß zu diefer Einficht der 
fundige Eingriff in die Natur felbit gehöre. Ich gebe eine 
Stelle aus der Ueberficht des Gefammtwerks: „Zeugniß und 
Unterweifung der Sinne find ſtets nad) menſchlicher Analogie, 
nicht nach der des Univerfums, und cs ift grundfalfch zu be 
haupten, daß der Sinn das Maß der Dinge fei. Um diefem 


*) % €. Erdmann, Grundriß der Geſchichte der Philoſophie 
(2. Aufl.), I, 569. 








205 


Uebeljtande zu begegnen, haben wir zur Berichtigung der 
Sinneswaehrnehmung allerhand Hülfsmittel zu vereinigen ge- 
fucht. Und zwar fuchen wir diefen Schuß gegen die Täufchungen 
und die Wandelbarkeit der Sinne nit ſowohl in Werf- 
zeugen, als in Verſuchen. Denu die Feinheit der 
Erperimente ijt weit größer als die der bloßen Sinne, 
aud wenn fie ausgerüftet find mit den beiten Inſtru— 
menten. Ich fpredhe von folchen Erperimenten, die unter 
dem Gefichtspunfte einer beftimmten Trage kundig und kunſt⸗ 
gerecht ausgedacht und angewendet werden. ‘Daher lege id) 
auf unfere eigene unmittelbare Sinneswahrnehmung Tein 
großes Gewicht, fondern will die Unterfuchung fo geführt jehen, 
dag die Wahrnehmung über das Erperiment, das Experiment, 
über die Sadje entjcheidet.‘*) Zwiſchen die finnlihe Wahr- 
nehmung, ausgerüjtet mit allen Werkzeugen, die fie berichtigen 
und verfeinern, und die fraglicde Naturerfcheinung, um deren 
Erforfhung es ſich handelt, ftellt Bacon das Erperiment, nicht 
beifäufig, fondern grundjäglid. Das Experiment findet ſich 
bei Bacon als ein wefentlicher Beftandtheil feiner Methode 
genan an der Stelle, wo es Erdmann vermißt, und genau in 
der Bedeutung, die Erdmann ihm zufchreibt. Bacon fordert 
grundfäglich (d. 5. bei ihm immer wegweifend) die Erfahrung 
durch Experimente und verwirft die Erfahrung ohne diejelben, 
er fordert die erperimentelle Erfahrung. Er Hätte auch 
jonft nicht jo häufig und nachdrücklich gejagt, das Ziel feiner 
Methode fei der Sieg der Kunft über die Natur**); bie bis- 
herige Philoſophie Tenne nichts Höheres als den Sieg über 


*) Distributio Operis. (Die zweite nicht numerirte Seite der von 
mir citirten Gefammtausgabe.) Bgl. Nov. Org. I, 50. 
*) Nov. Org. 1, 117. 





206 


Gegner dur Worte, die jeinige wolle den Sieg über die 
Natur dur Werke*), dort wird gefiegt im Disputiren, bier 
durch Erperimentiren. Man kann ein Dbject nicht befiegen - 
wollen, wenn man ruhig vor ihm ftehen bleibt und es be- 
trachtet, man muß fid mit ihm einlaffen und es zwingen. 
Diefer experimentelle Charakter feiner Methode läßt ſich nicht 
fürzer und treffenber ausdrüden als mit Bacon's eigenen 
Worten: „Ich halte die Induction für diejenige Be— 
weisart, weldhe den Sinn ſchützt und die Natur be— 
drängt.“**) An einer andern Stelle, nachdem er weitläufig 
über die Kunſt des Erperimentirens gehandelt hat, charafterifirt 
er diefes Bedrängen der Natur in einem fchönen und ſprechen— 
den Bilde: „Wie man die natürliche Gemüthsart eines Men⸗ 
ihen nur erfennt und anf die Probe ftellt, wenn man fie er- 
regt und herausfordert, wie Proteus einjt feine Gejtalten nur 
wechfelte, wenn man ihn feilelte und gebunden fefthielt, jo 
offenbart ſich aud) die Natur weit beutlicher, wenn man ihr 
| funftgereht Zwang anthut, als wenn man fie frei ſich felbft 
überläßt.***) Die Natur gleicht diefem Proteus; die Gewalt, 
die ihr kunſtgerecht angethan wird, ift das Erperiment. 

Daß alfo Bacon das Erperiment in feiner ganzen Be- 
deutung erfannt, gewürdigt und die Erfenntniß darauf hinge- 
wiefen habe, nicht blos als einen Weg unter anderen, fondern 
als den alleinigen Weg, der zum Ziel führt, fteht außer Zweifel. 
Auch darf man nit fchlehtweg behaupten, daß er in ber 


*) Distr. Operis (erſte Eeite). 
*+*) Ebend. „Inductionem enim censemus eam esse demonstrandi 
formam, quae sensum tuetur et naturam premit.‘ 
***) De augm. scient. II, cp. 2. Op. p. 47. Bgl. de sap. vet. 
Nr. XIH. Proteus sive materia.: Op. p. 1266 fig. 

















207 


eigenen Ausübung feiner Methode, wie wir fie oben kennen 
gelernt, das experimentelle Verfahren nicht felbft angewendet, 
jondern zu den gegebenen Thatſachen pofitiver und negativer 
Art fi nur wahrnehmend verhalten habe. Ob 3.3. die 
Strahlen des Meondlichtes aud) wärmen, ift eine Frage, die 
unfere unmittelbare Wahrnehmung verneint, aber dieſe Ant- 
wort genügt ihm nicht, es foll verfucht werden, ob durch eine 
Soncentration der Monditrahlen vermöge des ftärfiten Brenn- 
jpiegel8 nicht Wärme erfcheine, wenn nicht fühlbar, doch ther- 
moſkopiſch. Er fordert einen Verſuch, der die gewöhnfichen 
Bedingungen, unter denen wir das Mondlicht wahrnehmen, 
verändert und gefliffentlich) fo verändert, daR die Wirkung ver- 
ftärft, die zu geringe Intenfität entfernt wird.*) Wenn Yacon 
in der Sammlung feiner Experimente, die fo reich ift an 
falfchen, rohen, mislungenen, ſchlecht infteuirten Verſuchen, 
unter anderem die Frage aufwirft, ob die Luft fich zu einem 
feften Körper verdichten und denfelben ernähren könne, und 
einen Berfuch darüber anordnet, der mit Pflanzen gemacht 
wird, die frei aufgehangen wachſen, der alle Bedingungen an— 
derweitiger Ernährung, jede Berührung mit einer andern er- 
nährenden Subftanz ausſchließt und daun die Gewichtszu- 
nahmen jener Pflanzen prüft, um daraus zu fchließen, daß 
aus der Luft Nahrungsftoffe in den Pflanzenlörper aufgenom- 
men find, jo wird man einem folchen Verfahren bei allen . 
Mängeln, die c8 hat, doch nicht die Anlage und Bedeutung 
eines Experiments abjprechen wollen und im dem gegebenen 
Tall fogar einräumen müſſen, daß diefer Verſuch auf eine 
jehr wichtige Entdedung ausgeht. Daß die Pflanzen wirklich) 


— — — — — — 


*, Nov. Org. I, 12. Nr. V. 


208 


von der Luft leben und deren Stoffe zu ihrer Ernährung brau- 
chen, tft eine Entdeckung, die Bacon gefpürt, und nad) den 
Einfihten der neueren Chemie erft Liebig in dem Streit über 
die Humustheorie zu Ende geführt bat.*) 

Indeffen handelt es fih gar nit um den Werth oder 
Unwerth der von Bacon felbft gemachten Verſuche, fondern nur 
um den methodologiſchen Werth des Experiments in feiner 
Lehre. Und Hier, in dem Bilde zu reden, welches Bacon felbit 
fo gern braucht, wollen wir gezeigt haben, daß die Hinweifung 
auf das Erperiment fich zu feiner Lehre verhält, wie der aus- 
geftredte Arm zum Wegweifer. Die Erperimente ſelbſt laſſen 
fih nad den beiden Hauptzielen des baconifhen Weges im 
zwei Arten unterjcheiden: die einen führen von der Wahr- 
nehmung zum Ariom, die anderen vom Axiom zur Erfindung, 
jene heißen „Tihtbringende”, diefe „fruchtbringende“, 
welche leteren Bacon geringer ſchätzt, wenn fie blos auf Gewinn 
ausgehen, ohne von der Einficht in die Natur erleuchtet zu fein.**) 

Schon die Beobachtung der Thatſache, die berichtigte und 
verfeinerte Sinneswahrnehmung ift nicht möglich) ohne Werk⸗ 
zeuge, deren Erfindung und Anfertigung nur zu Stande kommt 
durch Verſuche und Experimente. Es giebt daher neben den 
entdedenden Experimenten zwei Arten erfinderifiher: das Ziel 
der einen find Werkzeuge zur Erfenntniß, das der andern 
Werke zur Vermehrung der menfchlichen Herrſchaft. Zwiſchen 
beiden fteht das lichtbringende Experiment, die Entdeckung des 
Geſetzes. Um an das baconifcdhe Beifpiel von der Wärme 


*) Silv. silv. Cent. 1, 29. Op. p. 760. Zu vgl. Bacon von Beru- 
lam befonders vom medicinifhen Standpunkte von Dr. 9.0. Bamberger 
(Würzburg 1865), ©. 15. 

+) Nov. Org. I, 99. Bgl. oben S. 149 fig. ©. 192. 


209 


anzufnüpfen: es wird wahrgenommen, daß Wärme die Körper 
ansdehnt, daß bei ihrer Zunahme das Waſſer zulett verdampft, 
bei ihrer Abnahme zuletzt gefriert, daß alfo die verfchiedenen 
Wörmegrade des Waſſers von’ diefen beiden Grenzpunkten 
näher oder weiter entfernt find; zur Unterſcheidung und Be⸗ 
jtimmung diefer Grade reiht unfere Wärmeempfindung nicht 
hin, e8 muß ein Werkzeug erfunden werden zur Meſſung der 
Zemperatur: die Aufgabe wurde gelöft dur die Erfindung 
des Thermometers. . Die Anfertigung, Herftellung, Verviel— 
fältigung, Vervollkommnung diefes Inftruments giebt cine Ge⸗ 
Ichichte von Experimenten. Es wird wahrgenommen, daß der 
Drud der Luft die Entwidelung der Dampfblafen Bindert, 
daß alfo zum Sieden des Waffers bei größerem Drud mehr 
Wärme erforderlid) ift als bei geringeren, daß daher auf 
hohen Bergen der Siedepunkt niedriger ftehen müſſe als in 
der Ebene. Wie e8 fih damit wirflid) und genau verhält, 
fann nur ausgemacht werden durch Verſuche, angeftellt auf 
verichiedenen Höhen, durch eine Reihe vergleichender Verſuche, 
deren Refultat eine phyſikaliſche Einfiht if. Hier ift das 
Thermometer nicht Ziel der Erfindung, fondern Werkzeug zur 
Erfenntniß und als ſolches vorausgejett. So ift die erperi- 
mentelle Erfindung eines Inftruments felbft wieder die DBe- 
dingung zur erperimentellen Erforſchung eines Geſetzes. Gilt 
der Sat: je höher der Drt, um fo geringer der Luftdruck, 
um fo niedriger der Siedepunkt, fo darf man ihn umfehren: 
je niedriger der Siedepunkt, um fo geringer der Luftdruck, 
um fo höher der Ort, und nichts hindert, das zur Wärnte- 
meflung erfundene Inftrument anzuwenden zur Höhenmefjung. 
Sollen Berfuhe angeftellt werden unter gänzlider Aus- 


Ihliegung des Luftdrucks, fo muß ein Inftrnment erfunden 
Fiſcher, Bacon. 14 


210 


fein zur Herftellung eines Iuftleeren Raums, wie die Luft 
pumpe. Seten wir die Wahrnehmung voraus, daR der auf- 
fteigende Dampf die Luft ans emem Gefäße vertreibt, daß 
"dann in dem Tuftdicht verfchloffenen Gefäß dırd Abkühlung 
oder Verdichtung des Dampfes (Verminderung feines Volu⸗ 
mens) ein Iuftleerer Raum Hergeftellt wird unter dem Kolben, 
der das Gefäß nad oben Iuftdicht verfchließt, jo wird der 
atmofphärifche Luftdrud den Kolben abwärts treiben, und es 
ift die Einfiht gegeben zur Erfindung der atmofphärifchen 
Dampfmaschine. Werden in der Fortbildung diefer Erfindung 
die Vorkehrungen fo getroffen, daß nicht mehr eine andere 
Maſchine, fondern der Dampf felbjt den Kolben aufwärts 
treibt und nicht mehr der atmofphärifche Luftdruck ihn abwärts 
bewegt, fondern der Dampf jelbft, fo ift diefer als die be- 
wegende Kraft in die Mafchine eingeführt und die Grundform 
der eigentlihen Dampfmafchine erfunden, die fich zu unferm 
Zeitalter verhält, wie die Anwendung jener drei großen Er- 
findungen, die Bacon fo Häufig anführt, zu feinem Zeitalter: 
diefe Erfindung Hat auch die Phyſiognomie der Welt umge⸗ 
italtet und ift eines der größten Beifpiele jener fruchtbringen- 
den Experimente, die gemacht find in Abficht auf den menfch- 
lihen Nuten und zur Vermehrung der menfchlichen Herrfchaft. 

Ich habe Beifpiele gewählt, die ſich bei Bacon nicht finden 
fünnen, die aber ſämmtlich in der Richtung auf feine Ziele Liegen 
und feines außerhalb feines Weges; fie follen Hier dazu dienen, um 
feine Unterſcheidung der Experimente deutlich zu machen und den 
Sat, der die Summe feiner Lehre enthält: daß richtige Beobach⸗ 
tungen, wahre Entdedungen, nügliche Erfindungen nur gemacht 
werden können durch reine, völlig vorurtheilsfreie, durchgängig 
experimentelle Erfahrung. 


fünfles Kapitel. 
Die prärogativen Iuftanzen als Hülfsmittel der Erkenntniß. 





J. 
Uene ßälfsmittel. 


1. Bacon's Mängel. 

Es iſt immer wieder hervorzuheben, daß man in der Lehre 
Bacon's ein Syſtem weder ſuchen noch vermiſſen darf. Den 
Vorwurf dieſes Mangels würde ſich Bacon gern gefallen 
laſſen, er würde ihn umkehren und in ſeine Vertheidigung ver⸗ 
wandeln. „Vielmehr“, jo könnte er ſagen, „gehört es noth- 
wendig zu meiner Denkweiſe, daß fie des Abſchluß nicht fucht 
und nicht will; genug daß ich die nothwendigen Ziele bezeichne, 
den richtigen Weg angebe, felbft ein Stück dieſes Weges ver- 
ſuche, Schwierigkeiten forträume, Hülfsmittel erfiime und das 
Uebrige den Gefchlehtern und Jahrhunderten überlaſſe; 
fie werden weiter kommen, hoffentlid) nie zu einem lebten 
Ziele. Es ift genug, die Menjchheit in die Bahn fortfchrei- 
tender Bildung zu lenken, fie mit den Hülfsmitteln auszu- 
rüften, um ihr Wiffen und damit ihre Herrfchaft zu erweitern; 
anf diefer Bahn gewährt jeder Punkt einen Triumph, bildet 
jeder Punkt ein Ziel, und nach dem letten.Ziele al8 dem Ab- 
ſchluß aller Arbeit Tönnen nur ſolche ſuchen und fragen, die 


14* 


212 


in dem großen Wettlauf menſchlicher Kräfte nicht mit- 
ſtreben!“ 

Nicht ein Syſtem war ſeine Aufgabe, ſondern das Setzen 
der Ziele, die Richtung, die Wegweiſung. Und ſo wie Bacon 
dieſe ſeine Sache erfaßt und empfunden hat, mit dieſer feuri- 
gen Gewißheit, daß fie die unwiderſtehlich gewaltige, die 
jiegreiche und ſiegverſprechende fei, fo hat ex, wie fein zweiter 
neben ihm, c8 vermodt, fie in das Bewußtſein der Welt zu 
erheben und hier zu erleucdhten, nicht al8 eine Beſtrebung neben 
anderen, fondern als Ziel und Aufgabe der Menschheit. Dies 
allein macht ihn zum Philoſophen, fowenig es ihn zum Natur- 
forfcher gemadt hat. Nimmt man ihn als Naturforjcher, der 
er nicht war, fo ift er mit feinem der großen Naturforicher 
ſeines Zeitalters zu vergleichen; nimmt man ihn als Philo- 
fophen, der die Geiftesrichtung, in welche die Naturwiffenfchaft 
fällt, allgemein gemacht, dem Zeitalter vorgehalten und ein- 
geprägt hat, beides in unauslöfchlichen Zügen, fo vergleicht fic) 
feiner mit ihm. Ueberſieht man diefen Unterfchied, jo iſt es 
- leicht, den Berg, welcher Bacon heißt, in einen Maulwurfs- 
hügel zu verwandeln, aber e8 ift darum nicht ebenſo leicht, 
uns zu erklären, warum die Welt Jahrhunderte lang an diejer 
Stelle einen Berg fah. 

In einer Zeit, wo die Weltrichtungen fi. ändern und 
eine neue Richtung durch die Arbeit vorgerückter Geiſter ſchon 
ihren Aufſchwung genommen hat, während ſie noch mit vielen 
Hemmungen kämpft, iſt die philoſophiſche Erleuchtung dieſer 
Richtung als der allein mächtigen, der allein ſiegreichen, eine 
gewaltige und entſcheidende That. Sie war Bacon zugefallen. 
Die Ueberzeugung von ihrer Nothwendigkeit durchdrang ihn 
völlig und iſt vielleicht die einzige, die unter allen Wandlungen 











213 


feines Lebens, bei aller Schwäche und Nachgiebigkeit feines 
Charakters feit hielt und nie erfchlittert wurde. Hier Tiegt feine 
Stärke, die Macht, die er über feine Zeit ausgeübt hat und 
über die Geichlechter, die ihm gefolgt find. Und wo die Stärke 
ift, da fuche man, wie immer bei bedeutenden Menfchen, auch 
die wirklichen Mängel; der Mangel eines Syſtems hat mit 
Bacon’s Stärke nichts zu thun und ift Leine wirflihe Schwäche. 

Ich |preche von den Mängeln feiner Methode, die zum 
Theil in deren nothwendiger Einfeitigfeit, zum Theil in ihm 
ſelbſt Tiegen. Wir haben folche perfönliche, durch die Methode 
nit verjchuldete Mängel fchon bei der erften Einrichtung 
feines Weges erfannt, in der Art der Beitimmung und Ent- 
gegenfegung der Inftanzen.*) Ein zweiter unleugbarer Mangel, 
der ihm, nicht feiner Methode zur Laft fällt, ift fein Verhal⸗ 
ten zu den hervorragenden Naturforfchern feiner Zeit. Kepp⸗ 
ler's Entdedungen kennt er nicht, Harvey, wie es frheint, ebenfo 
wenig, Galilei und Gilbert kennt und erwähnt er öfters, 
namentlich den letteren, aber fat nur, um fie zu befämpfen. 
Er nimmt Gilbert gern als Beifpiel jener „empirifchen Philo- 
fophie”, die er verwirft, weil fie aus zu wenig Verfuchen zu 
viel herleiten wolle, und ftellt ihn mit den Alchymiſten zuſam⸗ 
men; er ift dem copernifanifchen Syſtem abgeneigt und nimmt 
den erften Beweggrund deffelben, daß die Natur einfacher und 
regelmäßiger verfahre als bei der geocentriichen Weltanficht 
und den Epichkeln der Planeten der Fall ift, diefen erften 
Stüßpunft der copernilanifchen Hypotheſe von der Bewegung 
der Erde umd den Freisfürmigen Bahnen der Planeten, für eine 
jener täufchenden Liebhabereien des menschlichen Verftandes, die er 


*) ©. oben &. 18587. 


214 


zu ben „idola tribus” redynet.*) Es ſcheint, daR ihm dieſes 
größte aller Beijpiele gegen die Wahrheit unferer Sinnes- 
wahrnehmung eine zu vernichtende Inftanz gegen die Erfennt- 
niß war, die nach ihm den Ausgangspunkt und die Grundlage 
alfer Erkenntniß bilden jolltee Er weiß, daß unfere Sinne 
täufchen, daß ihre Vorſtellungen unferer Natur, nicht der 
Natur der Dinge entfprechen, er fordert ftets, daß fie durch 
Inftrumente berichtigt werden, aber dabei fett er doch immer 
voraus, daß diefe Berichtigung unfere Sinmmesvorftellungen 
nur genauer bejtimmt, nur mehr verfeinert, aber nicht völfig 
über den Haufen wirft. Wenn wir mit optiſchen Mitteln die 
Bewegung der Erde fehen könnten, jo würde Bacon ein Coper- 
nikaner geworden fein. Um einzufehen, daß ji) mit der Wahr- 
heit des copernilanifchen Syftems unfere entgegenfehte Sinnes⸗ 
wahrnehmung volllommen verträgt, hätte er unterfuchen müffen, 
was er vorausfekt: das Erfenntnigvermögen der Sinne. Wie 
kritiſch und vorfichtig er auch verführt, die Duellen der Sinnes- 
erfenntnig felbft unterfudht er nie; er ftellt zwiſchen unfere 
Wahrnehmung und die Dbjecte das künſtliche Beobadhtungs- 
werfzeug und den Verſuch: das Erperiment ſoll über die Sache, 
der Sinn über das Erperiment entfcheiden, fo erfcheint die 
Sinneswahrnehmung doc als die legte, zwar zu läuternde, 
aber unerforfchte und ungeprüfte Quelle aller wirklichen Er- 
fenntniß. Um Galilei’8 und Keppler's Unterfuhungen würbi- 
gen zu Tönnen, hätte Bacon eine tiefere Kenntniß der Mechanik 
und dazu eine mathematijche Bildung nöthig gehabt, die ihm 
fehlte; fogar die Einfiht in den Werth der Mathematik ging 
ihm ab, und wenn er auch gelegentlicd einmal fagt, daß durd) 


*) Nov. Org. I, 64. 45. II, 36. 











215 


Mathematik die Phhſik am meiften gefördert werde *), jo fteht 
diejes Wort vereinzelt da und trägt feine Früchte. Er hat bei 
aller Sfepfis den Standpunft der natürlichen Sinneswahr- 
nehmung jo naiv gelten laſſen und feftgehalten, daß ihm die 
mathematifchen Dbjecte als künſtliche Abftractionen, und die 
copernifanifche Ajtronomie als eine verdächtige Hypotheſfe er- 
ſchien. 


2. Die letzte Aufgabe des Organons. 


Bon der Sinneswahrnehmung beginnt der Weg der Induc- 
tion, der durch Beobachtungen und Verſuche zur Erfenntniß 
der Geſetze und durch beren Anwendung zu den Erfindungen 
führen foll, die das Neid) und die Herrſchaft des Menfchen 
erweitern. Die Richtung ift gegeben, die Hauptftationen find 
bezeichnet, alles übrige ift noch unbeſtimmt. Jeder Schritt 
fann in die Irre führen, daher ift eine durchgängige Leitung, 
ein Gängeln von Schritt zu Schritt, eine Reihe befonderer 
methodifcher Maßregeln nothwendig, die Bacon als die Hülfe- 
mittel. des Verſtandes „auxilia intellectus” bezeichnet, und 
deren Nachweifung die lette Aufgabe des Organons ausmacht. 
Hier foll gezeigt werden, welche Fälle vor allem zu beachten, 
wie die Induction zu unterjtügen und zu berichtigen, wie bie 
Unterſuchung vorzubereiten, zu ordnen, zu verändern, zu be- 
grenzen, wie die Anwendung der Gefeße zu machen und von 
der theoretifchen Phyſik zur praftifchen fortzufchreiten fe. Da 
nun bei jeder neuen Entdedung und Erfindung eine Reihe 
phyſikaliſcher Säge vorhergeht, fo muß das letzte und wichtigfte 
Hüffsmittel die ftufenmäßige Ordnung der Ariome felbft fein, 


*) Nov. Org. II, 8. Bgl. unten Cap. X, 4. 


216 


gleichfam eine Stufenleiter derjelben nad) aufwärts und ab- 
wärts.*) Es find neun Arten der Hülfsmittel, die Bacon 
aufführt, er hat nur eines davon, das erite, näher behandelt; 
jo ift das Organon unvollendet geblieben, nicht aus Zufall, 
auch nicht weil andere Arbeiten ihn gehindert Hätten, er hatte 
Muße und Feine Arbeit konnte ihm wichtiger fein als bie 
Bollendung diefes feines Hauptwerks. Er ließ es liegen und 
ging in den „Wald der Wälder”. Daß diefer Abjchluß dem 
Werke fehlt, ift faum zu beflagen, es würde in der Sade 
wenig gewonnen haben und innerlich nicht mehr vollendet fein 
als e8 if. Der Weg der Induction läßt fi nicht von An 
fang bis zu Ende mit guten Rathſchlägen pflaftern und zu 
einer Wunderftraße machen, auf ber nie ein Fuß ftraudelt. 
Die leitenden Grundgedanken Hatte Bacon ausgefproden, fie 
fehren in feinen verfchiedenen Schriften immer wieder, häufig 
in derfelben Form, und wenn er das obige Regiſter ausgeführt 
hätte, fo würde er fie wiederholt haben, ohne etwas wefentlich 
Neues zu geben. Darum nehmen wir auch das Drganon, 
mit der Geftalt verglichen, die Bacon ihm geben konnte, Teines- 
wegs für fo unvollendet als e8 äußerlich fcheint. ‘Das richtige 
Gefühl, die Sache im Speziellen nicht weiter führen zu kön⸗ 
nen, mag Bacon gehindert haben, an die letzten Ausführungen 
zu gehen, und am Ende mochte es ihm gerathener feheinen, die 
Erwartungen zu fpannen, als zu täufchen. Auch das iſt unter 
feinen perfünlichen Mängeln einer, den wir nicht unbemerkt 
lajjen. Jedem Neuerer, je umfafjender feine Aufgaben find, 
liegt die Gefahr um fo näher, mehr zu verfprechen als er 
leiftet, und den Schein einer peinlichen und pedantifchen Gründ- 


*) Nov. Org. II, 21. 








217 


tichleit mit großfprecdhenden Verheißungen auf feltfame Weife . 


zu mifchen. Es ift ſchwer zu fagen, wo bier die Selbft- 
täufhung aufhört. Der Speifezettel wird größer als die 
Küchenvorräthe, das Schaufenfter glänzender als das Waaren- 
fager, und es foll nicht zur Entfchuldigung, fondern nur zur 
richtigen Beurtheilung dienen, wenn wir Hinzufügen, daß es 
mehr Beifpiele als Bacon giebt, in denen die Kraft der 
Neuerung durd ein zu reges und ehrgeiziges Selbitgefühl ver- 
führt wurde, auf folche Weife ihr Maß zu überfchreiten. Das 
Schlimmfte ift, daß dadurch die Sache verunftaltet wird und 
an ihrer Einfachheit Schaden leidet. 


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Die prärsgativen Inſtanzen.  i2..- 


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1. Mangel der Methode. 


Unter den Hülfsmitteln, die Bacon nennt, iſt das erfte 
und allein ausgeführte auch das Hauptfählichite. Hier gilt es 
Abhülfe zu finden gegen einen wirklichen und augenfälligen 
Mangel der Methode, die auf rein inductivem Wege, wie wir 
ihn Kennen gelernt, die Vorgänge der Natur erfennen, bie 
Geſetze entdeden, die Artome feftftellen fol. ‘Der vorgefchrie- 
bene Weg geht durch die unausgefegte Beachtung der nega- 
tiven Inftanzen. Hier erheben fich gegen bie Möglichleit, das 
Ziel zu erreichen, zwei Schwierigkeiten. 


Die negativen Inftanzen beachten, heißt noch lange nicht 


fie erfchöpfen, und erſchöpft müffen fie fein, wenn das Ariom 
fejtftehen fol. Es darf dagegen feine negative Inftanz mehr 
zeugen, fie barf, wie Bacon ausdrücklich jagt, „nachweislich“ 


218 


nicht mehr vorhanden fein.*) Nicht genug aljo, daß man feine 
wiberfprecyenden Thatſachen mehr findet, man muß auch be- 
weifen können, daß es Leine mehr giebt. Diefen Beweis Tann 
die Erfahrung nie führen, fie kann nicht einmal behaupten, 
gefchweige denn beweifen, daß in irgend einem Fall die con⸗ 
tradictorifhe Inftanz unmöglich fei. Denn die Natur ift 
reiher als die Erfahrung. Mit Recht verlangt Bacon, daß 
die Wiffenfchaft nad) Ariomen trachten, und daß dieje gelten 
müffen im Sinne der ftrengen Nothwendigfeit und Allgemein- 
heit, die jede Ausnahme verbietet. Aber eben dieſe ftrenge 
Allgemeinheit läßt fi) auf dem Wege der bloßen Erfahrung 
nie vollftändig, fondern nur annäherungsweile erreichen. Durch 
die Methode der Induction find die negativen Imftanzen nie- 
mals bis auf die Nagelprobe zu erichöpfen. 

Aber auch die Beachtung derjelben hat ihre Schwierig- 
feit. Sie befteht in der forgfältigen Vergleihung der pofiti« 
ben und contradictorifchen Fälle. Solange nun diefe Fälle gleic)- 
berechtigt find, müffen fehr viele gefammelt fein, muß fich die - 
genaue Vergleichung durch eine lange Reihe derfelben fortge- 
feßt und wiederholt haben, bevor man zu einem Schluß von 
den Thatſachen auf das Ariom auch nur den eriten Verſuch 
wagen darf. Hier fommt alles an auf die Ausjcheidung der 
zufälligen Bedingungen. Und eben dazu ift die Vergleichung 
jehr vieler Fälle, alfo viele Zeit und viele Mühe nöthig. Ein 
Schluß aus wenigen Fällen hat offenbar die negativen Im- 
ftanzen mehr zu fürdten als ein Schluß aus vielen. In der 
Zahl der verglichenen Fälle Liegt hier die einzig mögliche Bürg- 
haft gegen das Borhandenfein widerjprechender Thatſachen. 


— —— 


2) Cog. et Visa. Op. p. 597. Bgl. oben ©. 196. 











219 


Hier Tiegt die Schwierigkeit in der Breite des erforderlichen 
Deaterials, in der langen, umftändlichen, zuleßt unfichern Ver—⸗ 
gleihung. Die Sichtung erleichtern heißt fie verkürzen, die 
zufälligen Bedingungen fchneller Fenntlich, die wefentlichen Leich- 
ter überfichtlich madjen oder, wie fih Bacon ausdrückt, in die 
Enge treiben. Dies kann nur gefchehen, wenn fid) die vielen 
Fälle auf wenige zurüdführen laſſen, wenn ich ftatt vieler nur 
wenige zu beobachten brauche, Aber mit welchem Rechte ift 
dies möglih? Solange ein Fall fo beachtungswerth ift als 
der andere, folange in diefer Rüdficht die Fälle gleichberech- 
tigt find, leuchtet ein, daß deren immer viele fein müffen, um 
mit einigem Erfolge verglichen zu werden. Wenn fich aber 
Fälle finden, deren einer foviel gilt als eine Reihe anderer, 
fo werben wir ftatt diefer vielen mit Recht jenen einen betrach⸗ 
ten und unfer Refultat foviel ſchneller erreihen. Solche Fälle 
find unferer Betrachtung würdiger, fie find in diefer Rückſicht 
mehrberecdhtigt als andere und haben durch ihre Beſchaffenheit 
gleichſam ein natürliches Prärogativum. Deshalb nennt fie 
Bacon prärogative Inftanzen. Ohne Zweifel giebt es Fälle, 
in denen fid) ein gegebenes Naturphänomen reiner und unge- 
mifchter darftellt als in andern, offenbar laffen fich Hier die 
zufälligen Bedingungen fchneller ausfondern, weil weniger da 
find, und darum die wefentlichen leichter und deutlicher erfen- 
nen. ‘Die prärogative Inftanz erleichtert meine Sichtung, denn 
fte zeigt mir wie auf einen Blid die wahre Differenz, die 
wirkende Natur, das Geſetz der Erſcheinung. Was ich fonft 
aus einer Menge von Fällen durch eine lange Vergleichung 
mühſam zufammenfuchen muß, finde ich hier in einer einzigen 
Erſcheinung beifammen. 


220 


2, Die baconifhe Anordnung. 


Das ift der wahre, auch von Bacon beftimmte Begriff 
der prärogativen Inftanz, und wenn er ihn feitgehalten hätte, 
fo würde feine Lehre einfacher und beffer ausgefallen fein als 
jet, wo er eine feiner beliebten Tabellen daraus gemadjt hat, 
die fiebenundzwanzig Arten prärogativer Inftanzen aufführt *), 
darunter folche, die nicht Erfenntnißobjecte, fondern Erfennt- 
nißwerkzeuge find, und wieder andere, die nichts mit der Er- 
fenntniß zu thun haben, fondern technifchen Zwecken dienen. 
‚ Unter feinen Händen ift die Theorie der prärogativen Inſtan⸗ 
zen von ihrem Wege abgelommen und zu einem Spielraum 
geworden, auf dem Bacon eine Menge Bemerkungen und Ein- 
fülle, darunter bedeutfame und werthvolle, ausgeftreut Hat. 
Er verfucht zuletzt alle diefe Fälle unter allgemeine Gefichts- 
punkte zu ordnen, die theils auf Erkenntniß, theils auf praf- 
tifhe Ziele gerichtet find. In Rüdjiht auf die Erfenntniß 
werben folche Fälle hervorgehoben, die vorzüglich geeignet find, 
die finnliche Wahrnehmung zu berichtigen, die Verſtandesein⸗ 
ficht zu erleichtern, den Standpunkt zu erhöhen, die Weltan- 
ficht zu erweitern, von der herfömmlichen und gewohnten Vor- 
ſtellungsweiſe abzulenken, gegen falfche Annahmen zu fchügen.**) 
Die erften fünf Fälle erjcheinen jeder für fi, die folgenden 
fünf gruppirt, die nächſten fünf wieder vereinzelt, die folgenden 
fünf wieder gruppirt, ebenfo die lebten fieben. Dabei fpielt 
er mit den Namen feiner Inftanzen, al8 ob diefe magifche 
Schlüſſel wären, welde die Geheimniffe der Natur öffnen: 
„die Inftanzen der Macht, des Bundes, des Kreuzes, der 


*) Nov. Org. I, 22—52. 
**) Ebend. II, 52. 











221 


“ Pforte, der Tadel, die magifchen Inftanzen u. f. w.” In— 
deifen geht alles natürlich zu, und Bacon weiß wohl, daß 
Geſchwindigkeit Teine Hexerei, aber eine Hauptbedingung der 
fogenannten magischen Experimente ift.*) Unter den Inftan- 
zen der Tadel**), die mit denen der Pforte beginnen, finden 
wir ftatt Thatfachen Inftrumente, die zwar zur inductivem 
Beobachtung fehr wichtig find, aber doch nicht unter den DBe- 
griff der Fälle gehören, wie Mikroſkop, Zeleffop, Aftrolabium, 
Thermoflop, daneben die telegraphifhen Zeichen, die Teine 
naturwiſſenſchaftlichen Inftrumente find, daneben Symptome, 
die nihis mit Inftrumenten gemein haben. 

Bacon Hat wiederholt eine Gefchichte der Erfindungen 
gewünfcht als eines ber unftreitig Iehrreichiten Mittel zur Ein- 
fiht in den Erfindungsproceß. Auch hier Tehrt diefe Forderung 
wieder unter dem Namen „Inftanzen der Macht”. Aber da 
es fih hier um natürliche Thatfachen von hervorragender Be⸗ 
deutung handelt, fo find diefe Inftanzen nicht am Ort, umd 
Bacon ſelbſt weiß nicht recht, welche Stelle fie haben, ob fie 
zur Belehrung oder zur Erfindung dienen follen. Aufgeführt 
find fie in der Gruppe folcher Fälle, die vorzüglich geeignet 
fein follen, den Berftand zu ovientiren, dagegen im NRüdblid 
nimmt fie Bacon aus diefer Gruppe heraus und ftellt fie 
unter den technifchen Gefichtspunft. ***) 

Da Bacon bie inductive Methode auf alle Objecte aus⸗ 
dehnt, ſo iſt ihm kein Vorwurf daraus zu machen, daß er 
unter den natürlichen Thatſachen auch pſychiſche Vorgänge 
erwähnt und z. B. das Gedächtniß beſonders aus den Mitteln er- 


*) Nov. Org. II, 38 fig. 
**) Ebend. II, 46. 
***) Ebend. II, 31. Bgl. 52. 


222 


fennen will, die es vorzugsweifeumterftügen, weshalb er diefe Ge- 
dächtnißmittel als Beifpiel einer prärogativen Inftanz anführt.*) 

Die natürlichen Thatfachen im engeren Sinn find die 
Eigenfchaften, Veränderungen, Bildungen der Körper. - Die 
Veränderungen find Bewegungen, Kraftäußerungen, die Bacon 
unter dem Namen der „Inftanzen des Streites’ zu unterfchei- 
den fucht; diefe Zafel der Bewegungsarten giebt er als eine 
„Skizze der Naturwiffenichaft”.**) Die Bewegung wird be- 
ftimmt durch Meffung ihrer Raum⸗- und Zeittheile: dies for- 
dern „die mathematischen Injtanzen”.***) Es Tann die Frage 
entftehen, ob Körper und Kraft trennbar feien, ob bie Kraft- 
äußerung unabhängig vom Körper jtattfinden könne? Fülle, 
die zur Beantwortung diefer Trage prärogative Bedeutung 
haben, nennt Bacon „Imftanzen der Scheidung”. Cr giebt 
al8 bedeutfames Beiſpiel die Wirkfamkeit in die Werne, die 
Anziehung der Körper. Iſt diefe Wirkſamkeit thatſüächlich, fo 
findet fie in Orten ftatt, wo der Körper nicht ift, alfo unab- 
hängig vom Körper, fo giebt es Wirkfamfeit ohne Körper, 
alfo unkörperliche Subitanzen, da doch feine Wirkfamfeit ohne 
Träger gedacht werden fanıı.}) 

Es fei eine Veränderung, die zumächft verfchiedene Er- 
Höärungsarten erlaubt, von denen nur eine die richtige fein 
kann. Die Brage der Unterfuchung fteht hier an einem Punkt, 
wo fich verſchiedene Wege kreuzen: Bacon nennt hervorragende 
Fälle diefer Art „Inftanzen des Kreuzes”. Ein folder Fall 
3. B. ift die Erflärung der Ebbe und Fluth. Entweder er- 


*, Nov. Org. II, 25. Bgl. unten Cap. XII, N. II, 3. 
**) Ebend. II, 48. 
“er, Ebend. II, 44-48. 

+) Ebend. II, 37. 











223 


Höre fi diefer Wechfel aus periodifhen Zuflug und Abfluß, 
oder aus periodifcher Hebung und Senkung des Meeres; im 
erften Wall gefchehe die Bewegung entweder wie ‘in einem 
ſchwankenden Beden, fodaß auf der einen Seite der Zufluß 
und gleichzeitig auf der entgegengefekten der Abflug ftattfinde, 
oder der Zufluß fet gleichzeitig auf beiden Seiten und erfolge 
dann durch Einftrömung von außen. Gegen bie gleichzeitige 
Ebbe und Fluth auf den entgegengejegten Ufern deffelben 
Meeres Sprechen Thatfachen, gegen die Möglichkeit der Ein- 
ftrömung von anßen ebenfalls. Alfo bleibe die Hebung und 
Senkung, die nicht durch Vermehrung und Verminderung der 
Maffe, auch nicht durch Ausdehnung und Zufammenziehung 
erflärt werden könne, alfo feinen anderen Erflärungsgrund 
übrig laffe als die magnetifche Anziehung.*) Den wahren 
Erffärungsgrund fand Bacon nicht und konnte ihn bei feiner 
Befangenheit gegenüber den aftronomifchen Thatfachen nicht 
finden. Ein zweites Beifpiel ift der Fall der Körper. Ob 
die Anziehung der Erde die Urfache des alles fei? Iſt fie 
die Urfache, fo müßte der Körper, je näher der Erde, um fo 
jchwerer fein, je ferner, um fo weniger ſchwer, jo müßte diefer 
Unterſchied an der Pendelbewegung, alfo an der Uhr wahr: 
genommen werden, deren Gang auf der Höhe eines Thurmes 
Tangfamer fein werde als in der Tiefe der Erde. Hätte 
Bacon die Achſendrehung der Erde eingeräumt, fo hätte er 
ihließen dürfen, daß die Schwere der Körper abnimmt, je 
größer die Breitenkreife werden, und er hätte hier das Mittel 
* gefunden, wie man diefe Abnahme mißt: durch die Mopdifica- 
tion der Pendelbewegung (worin fpäter erſt Newton eine Folge 


— — — — 


*) Nov. Org. II, 36. Bgl. De fluxu et refluxu maris. Op. p. 639—50. 


224 


der mit den Breiten wachſenden Gentrifugaffraft, einen Be⸗ 
weisgrund für die Achfendrehung der Erde erfannte.*) 

Daß die Natur ihre Arten nicht trennt, fondern durch 
Mittelbildungen von einer zur andern continuirlich fortgeht, 
dafür zeugeri in prärogativer Weife die fogenannten „Grenz⸗ 
inſtanzen“**x) oder Uebergangsformen, unter deren Beifpielen 
der anthropomorphe Affe nicht unerwähnt bleibt. Daß mande 
Thiere intelligent handeln, ift ein Beifpiel für die „Inftanzen 
der Vereinigung“, die gewiffe Eigenfchaften, die man zu tren- - 
nen pflegt, wie menfchliche Intelligenz und thierifhe Geſchick- 
lichkeiten, in augenfcheinlicher Verbindung darthun.***) 


3. Die beſchlennigte Induction. 


Als Bacon an dem Beifpiel der Wärme die Anwendung 
feiner Methobe zeigen wollte, hatte er zwar eine Menge ein- 
ſchlagender Thatfachen in drei verjchiedenen Tabellen aufgeführt, 
zulett aber aus wenigen Fällen, die er felbft „hervorleuchtende“ 
nannte, die wejentlihen Bedingungen gefammelt.T) Diefe 
Fälle find ſchon prärogative Inftanzen im eigentlichen und 
richtigen Verſtande. Auch geht Bacon unmittelbar von hier 
zu feiner Lehre von den prärogativen Inftanzen über, die er 
dann ungebührlich erweitert. In der einfachen und urjprüng- 
lichen Bedeutung ſolcher Fälle, daß fie nämlich hervorleuchtende . 
und darum beſonders beachtenswerthe Thatſachen find, liegt 
der Werth ihrer Leiftung. Sie befteht darin, daß die richtige 


*) Nov. Org. II, 36. 
**), Ebend. II, 30. 
***) Ebend. II, 83. . 
7) S. oben 8. 188. Nov. Org. II, 20. Bacon ſelbſt bezieht ſich 
auf dieſe Stelle zurück II, 24. 


225 


Beachtung derfelben den Gang der Induction abfürzt und da- 
durch befchleunigt, daß Hier auf einen Blick eine Menge un: 
wefentlicher Bedingungen, wenn nicht alle, ausgefchloffen find; 
Thatſachen, welche diefem Zweck entfprecdhen, diefem Bedürfniß 
der inductiven Unterfuchung entgegenfommen, find in Wahr- 
heit prärogativ. 

Es fei z. B. die Erfcheinung der Farben, bie wir an fehr 
perfchiedenartigen Körpern wahrnehmen, Steinen, Metallen, 
Blumen, Hölzern u. f. w. Giebt es nun Erſcheinungen, die 
mit den arigeführten nichts gemein haben als Farben, fo er- 
fennen wir bier das Phänomen ber legteren am veinften, 
am wenigften mit anderen Zuthaten vermiſcht. Solde Er: 
fcheinungen find Thautropfen, Kryftalle, vor allem das Prisma 
oder Farbenfpectrum. In diefer vor allen übrigen hervorftechen- 
den Erfcheinung, in diefer Thatſache einzig in ihrer Art, die 
Bacon deshalb unter die Fälle rechnet, die er „instantiae 
solitariae” nennt (e8 find die erjten, die er anführt), ent: 
deckt ſich leicht, daß die Farbe nichts anderes ift als „eine 
Mobification des Lihts durd) die verfhiedenen Grade 
des Einfalls“.*) 

Am Brisma fehen wir, wie die Farben entjtehen, und 
erfennen daher weit offener und leichter ihre Bedingungen, als 
da, wo fie wie inhärente Eigenfchaften ericheinen. Deshalb 
läßt Bacon gleich an der zweiten Stelle als prärogative In- 
ftanzen folche Thatfachen überhaupt gelten, an denen wir eine 
Eigenſchaft in ihrem Entitehen oder Vergehen beobachten kön⸗ 
nen, und nennt fie „instantiae migrantes”, nur daß feine 
Beifpiele weniger glüdli gewählt find.**) Goethe hat in 


*) Nov. Org. II, 22. **) Nov. Org. II, 23. 
Fiſcher, Bacon. 15 





226 


feinen Materialien zur Gefchichte der Farbenlehre auch Bacon’8 
gedacht, aber die obige merkwürdige Stelle nicht gekannt, fonft 
würde er fie angeführt haben. Ueberhaupt muß ihm die 
baconifche Theorie der prärogativen Inftanzen entgangen fein, 
fonft hätte er von Bacon nicht jagen Können, „daß ihm in 
der Breite der Erſcheinung alles gleih war”. Er verfennt 
und unterfchäßt die baconifhe Methode, die er mit der ge- 
meinen Erfahrung auf gleichem Fuße behandelt, und ihr ſchuld⸗ 
giebt, daß fie die Menſchen auf eine grenzenlofe Empirie hin- 
gewiejen habe, „wobei fie eine ſolche Methodenſcheu empfanden, 
daß fie Unordnung und Wuft als das wahre Element anfahen, 
in weldem das Wilfen allein gedeihen könne“. Bacon’ Er- 
Härung der Farben, die er beifpielsweife und beiläufig giebt, 
enthält einen Gedanken, mit dem ſich Goethe hätte befreunden 
fönnen. „Newton“, jagt Goethe, „ſcheint vom Einfachen aus- 
zugehen, indem er ſich blos ans Licht Halten will, allein er 
jest ihm Bedingungen entgegen fo gut wie wir, nur daß er 
denjelben ihren integrivenden Antheil an dem Hervorgebrachten 
ableugnet.“ Dieſen integrirenden Antheil des bredjenden Me- 
diums läßt Bacon gelten, indem er das Prisma von ben 
farbigen Körpern abjondert und von der Farbe fagt, fie fei 
„modificatio imaginis lucis immissae et receptae, in priore 
genere per gradus diversos incidentiae, in posteriore per 
texturam et schematismos varios corporis”.*) 

In den prismatifchen Erjcheinungen liegen die wefentlichen 
Bedingungen der Farbe am Tage. Andere Fälle find dadurd) 
prärogativ, daß fie die unmefentlichen Bedingungen fofort er- 


*) Nov. Org. Il, 22. Bgl. Goethe’s fümmtliche Werke, XXIX, 
S. 89, 93. XXVII, ©. 293 fg. 








227 


kennbar machen und alfo deren Ausfchließung beſchleunigen. 
Bacon nennt fie „instantiae ostensivae”. Es Handle fid) 
3. B. um die Bedingung, von der die fpeeififchen Gewichte der 
Körper abhängen, ob etwa Kigenfchaften, wie Feſtigkeit oder 
Härte, dabei maßgebend fein Können, fo genügt eine flüffige 
Subftanz, die fo viele harte und fefte Körper an ſpeeifiſchem 
Gewicht weit übertrifft, um auf das deutlichfte zur zeigen, daß 
jene Eigenſchaften nit in Betradht kommen, vielmehr die 
wejentliche Bedingung der fpecififchen Schwere in der Dichtig— 
feit (Menge der Theile bei gleichen Volumen) zu fuchen fei. 
Das Duedfilber, fo viel jchwerer als Diamant und Eifen, 
als fämmtlihe Metalle, ausgenommen Gold (und Blatina, 
wie Bacon nicht Hinzugefügt Hat), ift ein vortreffliches Beiſpiel 
einer ſolchen oftenfiven Injtanz.*) 

Das Ziel der methodifchen Erfahrung ift die Erkenntniß 
im größten Umfange, die Einfiht in den Zuſammenhang, die 
Berwandtfchaft und Einheit der Dinge. Dieſem ächt wiffen- 
Ihaftlihen Triebe war Bacon feineswegs frend, er hatte ihn 
jo gut wie jeder große Denker, er behielt die Erkenntniß des 
Ganzen als letztes Ziel der Naturwiſſenſchaft ſtets vor Augen, 
nur follte fie nach feiner Meinung durch Bienenarbeit, nicht 
als Spinnengewebe erreicht werden. Die Induction geht von 
der Wahrnehmung zum Ariom, von der Thatſache zum Geſetz, 
fie hat den natürlichen Trieb, nachdem fie einige Thatſachen 
erflärt Hat, deren mehr zu erklären, den Umfang ihrer Geſetze 
zu erweitern und ihre Ariome im ftetigen Yortfchritte zu ver- 
allgemeinern. Das allgemeinfte Ariom ift das der ganzen 
Natur, das größte Geſetz ijt die Erklärung aller Erfcheinungen. 


*) Nov. Org. II, 24. 
15* 


228 


Wie jedes Geſetz die Einheit gewiſſer Erfcheinungen ausdrüdt, 
fo begreift diefes größte Gefe die Einheit der geſammten 
Natur oder das All-Eine, die „unitas naturae”. Diejes Ziel 
hält Bacon der Wiffenfhaft vor, darauf richtet er ausdrüd- 
lich feine Methode. Er fegt die Einheit der Natur nicht in 
einem Principe voraus, fondern will diefelbe aus der Natur felbft 
erfennen, aus ihren Erfcheinungen fchließen. Gleich Spinoza 
fieht er in den ‘Dingen natura naturata, der als wirkende 
Kraft die natura naturans zu Grunde liegt; diefe gilt auch 
ihm als die Duelle aller Dinge, als unitas naturae. Wäh— 
rend aber Spinoza aus der natura naturans die naturata 
deducirt, will Bacon umgelehrt aus der naturata die natu- 
rans induciren. Er fuht deshalb nad) Erjcheinungen in der 
Natur, die auf die Einheit de8 Ganzen Hinweifen, Gefichts- 
punkte in die Einheit der All-Natur eröffnen und fo ven Schluß 
der Induction unterftügen. Giebt es folche Ericheinungen, die 
mehr al8 andere die Einheit des Ganzen ahnen laffen, fo 
feffeln fie als prärogative Inftanzen unfere auf das Ganze 
gerichtete Aufmerkſamkeit. Es Teuchtet ein,‘ welcher Art diefe 
wichtigen Fälle fein müſſen: es find die hervorftechenden Achn- 
lichkeiten in den verfchiedenen Bildungen der Natur, die be- 
Deutfamen Analogien, die ung die einmüthig wirkende Natur- 
kraft vor Augen rüden. Hier ftellt Bacon die Induction 
unter den Gefihtspunft der Analogie, d. h. er macht die 
naturwifjenfchaftliche Unterfuchung aufmerffam auf die Berwandt- 
ihaft der Dinge, indem er fie auf die Einheit des Ganzen 
wendet.*) Er zeigt gleichjam die Familienähnlichkeiten in der 

*) Inter praerogativas instantias ponemus sexto loco instantias con- 


formes sive proportionales, quas etiam parallelas sive simtlitudines 
physicas appellare consuevimus. Nov. Org. II, 27. 


229 


Natur, um den Stammbaum der Dinge auszufpähen bis in 
feine Wurzeln. 

In dem Auffuchen der Analogien offenbart ſich ein charaf- 
teriftifcher Zug des baconifchen Geiftes. Um die Induction 
unter den Geſichtspunkt der Analogie zu ftellen, müſſen die 
Achnlichkeiten entdecdt und richtig wahrgenommen fein; biefe 
Entdeckung macht nicht die Methode, fondern das Auge des For⸗ 
fchers, die Methode folgt der Entdedung, nahdem fie gemacht 
ift. Auch ift e8 nicht die bloße Wahrnehmung mit ihren finn- 
Tichen oder Fünftlichen Werkzeugen, wodurd die Analogien ent- 
deckt werden, fondern der weiterdringende Geift. Die bedeut- 
famen Analogien find die innern, geheimen Aehnlichkeiten, die 
nicht anf der Oberfläche der Dinge Tiegen, welche den bloßen 
Sinn ftreift; der jpeculative Sinn, das Talent des Forfchers 
muß fie fuchen, der Tact, der das Talent begleitet, muß fie 
treffen. Beides läßt fich methodisch bilden, aber nicht geben. 
Jede treffende Analogie ift eine richtige Combination, die allein 
durch den finnigen Verſtand gemacht wird. So gefhiet Bacon 
ift, mit folchen eindringenden und überrafhenden Combinationen 
feine Methode zu unterftügen, jo behutſam möchte er den 
. eombinationsluftigen Verftand mit Hülfe des methodifchen Geijtes 
zügeln. Ich will nicht behaupten, daß Bacon felbft dieſe 
Grenze eingehalten habe, daß alle feine Analogien aud) immer 
fo treffend waren als kühn und finnig, aber er war ſich Har 
über die Tragweite und den wifjenfchaftlichen Werth der Ana- 
logie. Er fuchte das Gleichgewicht zwifchen feinem Genius und 
feiner Methode, fein Geift lebte in einer beftändigen Wechſelwir⸗ 
fung beider. Noch bevor er felbft feine Analogien vorbringt, als 
Beilpiele, die er im Vorübergehen Hinwirft, mäßigt er durch 
richtige Grenzen die Bedeutung und den Gebraud) derfelben, 


230 


Man foll fie nicht als Axiome zur Erfindung, fondern als 
Wegweifer nehmen, die auf die Einheit des Ganzen Hin- 
deuten. Sie haben in Bacon’s eigenem Berftande weniger 
eine eracte als eine anregende Bedeutung; "fie dienen ihm felbft 
mehr dazu, den anfchauenden DVerftand auf das Ganze zu 
richten, al8 im Einzelnen zu belehren. Bon der Harmonie des 
Univerfums find die Analogien gleihfam die erjten Accorde, 
die wir vernehmen. „Sie find”, fagt Bacon, „gleihfam die 
ersten und unterjten Stufen zur Einheit der Natur. Sie be- 
feftigen nicht fogleich ein Ariom, ſondern bezeichnen und be- 
obachten nur eine gewiffe Uebereinftimmung der Körper; fie 
befördern nicht gerade die Auffindung exacter Geſetze, aber fie 
enthüllen uns die Werkftätte der Welt in ihren einzelnen Thei- 
ten, und fo leiten fie uns bisweilen wie unter der Hand 
zu erhabenen und trefflichen Erkenntniſſen, namentlich folchen, 
welche mehr die Bildung der Körper als die einfachen Natur: 
gefeße betreffen.”*) Und mitten im Vortrage feiner Analogien 
begriffen, die mit Fühnen Kombinationen das Weltgebäude durch⸗ 
eifen, unterbricht fi Bacon, bemerkt von neuem den wiffen- 
Thaftlihen Nuten der Analogie und zugleich die Gefahren und 
Bedenklichkeiten, die gerade diefe Art der Combination bedrohen. _ 
Es iſt richtig, nur mit Hülfe der Analogie kann die Induc- 
tion wirkliche Einheit in die Naturwiffenfchaft bringen und das 
geijtige Band der Dinge entdeden, das fie in der bloßen Be— 
ſchreibung der Theile niemals findet und zuleßt ganz aus den 
Augen verliert. „Man muß”, jagt Bacon im Rückblick auf 
die angeführten Analogien, „ſolche Gefichtspunfte vorzeichnen 





*) Itaque sunt tanguam primi et infimi gradus ad unionem 
naturae etc. Nov. Org. II, 27. 

















231 


und öfters daran erinnern, daß die eifrige Forſchung beim 
Unterfuhen und Zufammenhäufen des naturgefhichtlihen Ma— 
terials die entgegengefegte Richtung ergreife, als welche bisher 
- im Gange war. Denn bisher erging fi) der menfchliche Fleiß 
mit Vorliebe in den Varietäten der Dinge und fuchte gern die 
Berjchiedenheiten im Reihe der Thiere, Pflanzen und Mine⸗ 
rale, aber dieſe Varietäten find dem größten Theile nach mehr 
Spiele der Natur als von ernftlihem Nuten für die Wilfen- 
ſchaft. Dergleichen Dinge find ergötzlich und haben bisweilen 
auch praltifchen Nuten, aber fie tragen wenig oder nichts bei 
zur wirklichen Einfiht in die Natur. ‘Deshalb müſſen wir 
unfere Mühe darauf verwenden, die Aehnlichkeiten und Ana⸗ 
logien der ‘Dinge fowohl im Ganzen als im Einzelnen zu 
unterfjuchen und zu bemerken. Denn es id die Analogien, 
weiche die Natur vereinigen und den Anfang zur wirklichen 
Wiſſenſchaft machen.““) Indeſſen wollen fte behutfam und 
mit kritiſchem Verſtande gefucht werden. Sind nämlich die 
unendlichen Varietäten der Dinge fehr oft ein bloßes Spiel 
der Natur, jo können die Analogien, welche unfere Combination 
auffindet, fehr leicht ein bloßes Spiel des Verftandes oder der 
Einbildungskraft werden. Wir machen Analogien, die in der 


*, Nov. Org. II, 27. Op. p. 360. — „Das ift wahrlid) von ge- 
ringer Bedeutung, daß man alle Species von Blumen im Gedähtniß . 
habe und benennen könne, alle die Iris- und Zulpenarten oder alle Con« 
chylien, oder die endlofen Barictäten von Hunden und Falken; dieſes 
find vielmehr Naturfpielereien und zufällige Eigenthlämlichkeiten. Auf 
ſolche Weife kann man fih eine Maffe von Kenntniffen erwer- 
ben, ohne eine Ahnung von Wiffenfhaft zu haben, und dod) 
brüftet fich gerade damit die gewöhnliche Naturgefhichte, die mit allem 
Diftinguiren und Sammeln nimmermehr zu dem Ziele gelangen kann, 
welches ic) meine.” Descr. globi intell. III. Op. p. 607. 


232 


Natur nicht find, finden Aehnlichleiten, wo fie in Wahr- 
heit fehlen, heften uns an zufällige, wejenloje Webereinftim- 
mungen und machen fo etwas Bielfagendes aus einem Nichts- 
fagenden. Solche Spielereien, denen fid) eine ſpeculirende 
und wenig behutfame Phantafie oder ein ſchwärmender Ver- 
itand gern überläßt, haben die Naturwiſſenſchaft mit einer 
Menge von Idolen bevöffert. Wenn die Analogien fruchtbar 
fein ſollen, müſſen fie die Achntichleiten der Dinge in wefen- 
haften Punkten ergreifen und "gleihfam der geheimen Werf- 
jtätte der Natur abgelaufcht fein. Darum fährt Bacon fo 
fort: „Aber in allen ſolchen Analogien ift eine gewichtige und 
jtrenge Vorficht anzuwenden. Denn nur folche find gültig, die 
notürlihe Achnlichfeiten bezeichnen, d. 5. wirkliche und fub- 
ftantielle, die im WMeſen der Natur Liegen, nicht zufällige, die 
ſich auf eine Specialität beziehen, noch weniger eingebildete, 
wie fie die Leute der natürliden Magie (ganz oberflächliche 
und untergeordnete Menfchen, die man bei ernften Dingen, 
wie die unfrigen find, faum nennen jollte) überall zur Schau 
tragen, die mit der größten Eitelkeit und Unbefonnenheit leere 
Aehnlichkeiten und Sympathien in der Natur befchreiben und 
oft fogar den Dingen andichten.‘*) 

Die Analogien felbft, die Bacon als Beifpiele anführt, 
find weitausfehend und vorgreifend, anziehende und reiche ©e- 
ſichtspunkte, welche fruchtbare Berfpectiven eröffnen. Er ent- 
wirft in flüchtigen Zügen den großen Stammbaum der Dinge, 
er zeigt in umfafjenden Combinationen, wie alles in der Welt 
zu einer Familie gehöre. Vielleicht ift nie in der gebrängten 
Form eines furzen Aphorismus und in flüchtig ausgeftreuten 


*) Nov. Org. II, 27. Op. p. 360. 











233 


Beifpielen eine fo vielverheißende Ausficht in den Weltzu- 
jammenhang dargelegt worden. Er beginnt mit einer Ver⸗ 
gleihung zwifchen Spiegel und Auge, Ohr und Echo; Spiegel 
und Auge reflectiren die Tichtftrahlen, Ohr und Echo die Schall⸗ 
wellen. Es befteht, jo fchließt Bacon, überhaupt eine Analo- 
gie zwifchen den Sinnesorganen und den reflectirenden Kör⸗ 
pern, zwiſchen Warnehmungsarten und Bewegungsarten, 
zwifchen der organischen und unorganifchen Natur. Die Idee 
einer durchgängigen Analogie aller natürlichen Erſcheinungen 
fteht deutlich vor feiner Seele. Alle Verhältniffe und Stim- 
mungen der lebloſen Natur find wahrnehmbar; daß fie von 
uns nicht wahrgenommen werben, liegt nur in der Beichaffen- 
heit unfers Körpers, dem fo viele Sinne fehlen; darum find 
mehr Bewegungen in den Ieblofen Körpern als Sinne in den 
. lebendigen, aber gewiß ift: fo viele Sinne in diefen, fo viele 
Bewegungen in jenen. In diefer Rüdficht entfprechen fich beide. 
Sp viele Arten 3. B. fehmerzlicher Empfindung im menjd- 
fihen Organisınus möglich find, fo vielerlei Bewegungen, wie 
Drud, Stoß, Zufammenziehung, Ausdehnung u. ſ. f. giebt es 
in ben Teblojen Körpern, nur daß diefe die Bewegung nicht 
empfinden, weil ihnen die Lebensgeifter fehlen. *) Die Ver—⸗ 
gleihung der organifchen und unorganifchen Natur im, Ganzen 
führt Bacon auf Analogien im Einzelnen. Er bemerkt bie 
ähnlichen Bildungen zwifchen Pflanzen und Steinen und ver- 
gleicht hier beifpielsweife den Gummi mit gewiffen Edelfteinen. 
Innerhalb des Pflanzenbaus bemerkt Bacon die ähnliche Struc- 
tur der Theile und weift jchon mit dem Verſtande der fo viel 
jpätern Pflanzenmorphologie darauf Hin, wie ſich im vegetabi- 


*) Nov. Org. II, 27. Op. p. 858 fig. S. Cap. XI, 2. 


234 


lichen Wachsthum die Elementarformen vervielfältigen und 
peripherifch entwideln. Im ihrer entgegengejebten Richtung 
findet Bacon den einzigen Unterfchied zwifchen Wurzeln und 
Zweigen, jene find die abwärts ber Erde zuftrebenden Zweige, 
diefe die aufwärts der Luft und Sonne zuftrebenden Wurzeln. 
Den Bau der Pflanze vergleicht er mit dem des Menfchen 
und beftimmt den letztern al8 umgefehrte Pflanze (planta in- 
versa). Was bei der Pflanze die Wurzel, foll beim Men— 
ichen das Gehirn fein; bier entipringen die Nerven, um fich 
im Organismus allfeitig zu verzweigen und auszubreiten; To 
ijt die Wurzel des menſchlichen Baues nad) oben gerichtet, die 
Geſchlechtstheile nach unten, umgelehrt bei der Pflanze In 
der Thierwelt vergleicht er die Bildung der Bewegungsorgane 
bei den Bierfüßern, Vögeln, Fiſchen. Von den individuellen 
Bildungen lenkt er zuleßt den Blick auf die großen Weltver- 
hältniffe und bemerkt, fchon der fpeculativen Geographie unferer 
Tage vorgreifend, die Analogien in der Formation der Erd- 
teile; fo fpringt ihm die Achnlichkeit zwijchen Afrika und 
Südamerifa in die Augen, die ſich beide über die ſüdliche 
Hemifphäre erftreden und analoge ifthmifche und promontori- 
ſche Bildungen haben. „Das ift nicht zufällig”, ſetzt Bacon 
bedeutfam Hinzu. Er faßt die alte und die neue Welt in einen 
vergleichenden Blid und bemerkt hier, wie fich die beiden 
großen Ländermaffen gegen Norden breit ausftreden, gegen 
Süden verengern und zufpigen. Das Große und Leber: 
rafchende in diefen Bemerkungen ift, daß fie überhaupt gemacht 
werden, daß Bacon die Analogie auch in diefen Verhältnifien 
entdeckt. Es wird nicht fchwer fein, den einmal hervorgeho- 
benen Gefichtspunft zu detailliren und ins Einzelne zu ver- 
folgen. Denn anerkannt ift in dieſen flüchtigen und kurzen 


235 


Andeutungen ein höchſt wichtiger Geſichtspunkt der geographi⸗ 
ſchen Wiſſenſchaft, nämlich die Bedeutſamkeit der Arealbildung. 
Zum Schluß verſucht Bacon ſeinen vergleichenden Blick noch 
an den Künſten und Wiſſenſchaften und ſpäht nach den hier 
befindlichen Analogien. Er nimmt als Beiſpiel Rhetorik und 
Muſik, Mathematik und Logik. Dort findet er ähnliche Tro— 
pen oder Figuren, hiek ähnliche Denkweiſen. Der rhetoriſchen 
Figur, die man „praeter expectationem“ nennt, entſpreche 
vollkommen die mufifalifhe „declinatio cadentiae”. Die 
Mathematik Hat den Grundfag: wenn zwei Größen einer drit- 
ten gleich) find, fo find fie auch unter einander gleich; dem ent- 
ſpreche ganz die logiſche Schlußform des Syllogismus, ber 
zwei Begriffe durd) einen dritten verbindet. 

Wir urtheilen nicht Über den wiflenfchaftlihen Werth und 
die Tragweite aller diefer beifpielsweife gemachten Analogien, 
fie find uns wichtig zur Kenntniß Bacon’s, nicht weniger duch 
ihren Inhalt, als die Art, wie fie auftreten. Sie zeigen einen 
Geift von großer Gefichtsweite, von leichtem combinatorifchen 
Scharfſinn. Er braudt die Analogien nicht als Gegenftand, 
fondern als Inftrument, als Hilfsmittel feiner Methode; er 
braucht diefes Mittel verfchwenderifch, wie es feine Neigung 
und feine reihe Kraft mit ſich bringt; er greift damit über 
die Methode hinaus, und die Gefahr Liegt nahe, fo fehr fie 
Bacon zu vermeiden ftrebt, daß er die Methode nicht blos ver- 
läßt, fondern ihr zumiberhandelt. Denn im Grunde ift jede 
Analogie eine anticipatio mentis. Aber die Abficht der baco- 
nifchen Analogien zeigt, daß er mehr fuchte, als die Erfahrung 
einträgt, er fuchte auf biefem Wege, was er auf dem der In— 
duction allein nicht entdeden konnte: die Einheit der Natır 
in der Verwandtfchaft aller Dinge oder die Harmo— 


236 


nie des Univerfums. Hier finden wir Bacon im Bunde 
mit Leibniz und deffen Nachfolgern, wie früher mit Spinoza 
und Descartes. Er muß fich gefallen laffen, daß wir auf ihn 
felbft jenen vergleichenden Blick anwenden, den er für die 
ganze Natur hatte, daß wir ihm feine geiftigen Verwandtſchaf⸗ 
ten, feine eigenen Analoga vorbalten: es find feine „parallelen 
Inftanzen”, angewendet auf unſere Betrachtung. Sie fchmä- 
fern nicht feine Originalität, fondern erleuchten feinen umfaſſen⸗ 
den Geiſt. Mas in Leibniz grundfäglicde Richtung, war in 
Bacon ergänzende; was dort als Ariom, galt hier als Hülfe- 
conftruction und umgekehrt. Leibniz bedurfte der Induction 
ebenfo ſehr, al8 Bacon der Analogie. 

Bacon's Geift reicht weiter als feine Methode, aber 
in diefer Tiegt feine epochemachende Kraft, und wir müfjen 
hier feinen Gegenfaß zum Altertfum und der davon abhängi- 
gen Bhilofophie begreifen. Dabei verfegen wir ung ganz in 
den Geift Bacon's und ftellen uns jenen Gegenfaß fo vor, wie 
er felbft ihn dachte. 


— —— — — — 





vechsles Kapitel, 
Die baconifhe Lehre gegenüber der frühern Philoſophie. 





Ziehen wir die Summe der baconischen Philofophie im Rück⸗ 
blid auf die folgerichtige Ordnung ihres Ideenganges: | 

1) Die Wiffenfhaft foll dem Menſchen dienen, indem fie 
ihm nüßt; fie joll ihm nüten durch Erfindungen: ihr Zwed 
ift die Herrſchaft des Menſchen. 

2) Erfinderifch Tann die Wiffenfchaft nur werden durch 
die Erforfchung der Dinge: ihr Mittel ift die Erklärung der 
Natur. 

3) Die richtige Erklärung der Natur ift nur möglid 
durch reine und methodifche Erfahrung. Rein ift die Erfah- 
rung, wenn fie nicht nach Idolen und menſchlichen Analogien 
urtheilt, in feiner Weife die Dinge anthropomorphifirt, nichts 
borausjegt, nichts vorwegnimmt, fondern fich zu den gegebenen 
Zhatfachen völlig unbefangen, wahrnehmend, beobadhtend, ver- 
fuchend verhält; fie ift methodisch, indem fie den Weg der 
wahren Induction geht. Wahr ift die Induction, wenn 
fie aus vielen Fällen durch genaue und kritiſche Vergleichung 
die Geſetze erfchlieht; Eritifch ijt die Vergleihung, indem fie 
den pofitiven Instanzen die negativen gegenüberftellt; befchleu- 
nigt wird die inductive Schlußfolgerung durch die Unterfuhung 


238 


der prärogativen Inftanzen. Dieſe fo eingerichtete Erfahrung 
vermeidet durchgängig, fowohl in ihrem Ausgangspunft als in 
ihrem Verlauf, die unficheren und vorläufigen Hypotheſen. 
In diefer Faſſung ftellt Bacon feine Lehre und fich ſelbſt 
der Vergangenheit entgegen. Er fieht in feinen Principien alle 
Bedingungen vereinigt, um die Wiffenfchaft volljtändig zu er- 
neuern, wozu bisjett feiner den Muth und die Kraft Hatte; 
er fühlt fich al8 den Träger diejes ernenernden Geiſtes, als 
den Reformator der Wiffenfchaft. „Niemand“, fagt Bacon, 
„bat bisjeßt jo viel Beharrlichfeit und Stärke des Geiftes 
gehabt, un es über fich zu gewinnen, alle herkömmlichen Theo— 
rien und Begriffe vollfommen abzulegen und den fo gereinig- 
ten und gellärten Verſtand von neuem auf die einzelnen Dinge 
zu richten. Daher war die menfchliche Vernunft in ihrer bis- 
herigen Berfaffung ein Gemiſch von vielem Autoritätsglauben, 
zufälligen Erfahrungen und Findifchen Begriffen. Und es wird 
mit der Wiffenfchaft erft beffer werden, wenn jemand fid) fin- 
det, der im reifen Alter, mit gefunden Sinnen und befreitem 
Seifte fi) ganz von neuem auf bie Erfahrung und die Dinge 
im Einzelnen richtet.” „Hier aber können fich die Menſchen 
mein eigenes Beifpiel zur Hoffnung gereichen laffen. Das 
fage ih nit aus Prahlerei, jondern um des allgemeinen 
Beften willen. Wenn fie in die Sache fein Vertrauen feßen 
wollen, fo mögen fie mich anjehen, der ich nur ein Menſch 
unter Menfchen bin: wie ich in meinem Alter, von Staats- 
gefchäften überhäuft, nicht begünftigt durdy eine Fräftige Ge- 
fundheit und darum zu vielem Zeitverlufte genöthigt, vollkom— 
men als der Erfte diefe Sache verjucht habe, ohne alle Vor⸗ 
gänger, deren Fußtapfen ich folgen fünnte; wie ich ganz allein 
daftehe und dennod) den wahren Weg ergriffen, den Gelft den 


239 


Dingen allein unterworfen und die Sache ſelbſt, wie ich glaube, 
ein Stüd vorwärts gebradt habe.“*) 


J. 
Die Entgegenſeung des Alten und Neuen. 
1. Das Ziel, 


In allen jenen Punkten, von denen die Erneuerung der Philo- 
fophie abhängt, findet Bacon einen ausgemachten Gegenfak 
zwifchen fih umd der Vergangenheit. Er will die Wilfenfchaft 
hingewiefen haben auf ein anderes Ziel, eine andere Grund- 
lage, einen anderen Weg. Er richtet die Philofophie unmittel- 
bar auf die Erweiterung der menfchlihen Herrfchaft, er will 
fie gemeinnügig und praftiich machen und widerjtrebt aus 
dieſem Gefichtspunfte ihrem bisherigen Charakter, der theore- 
tiich und nur wenigen zugänglich war. Aus einer Sache der 
Schule, was fie vor ihm gewefen, will Bacon die Wiſſenſchaft 
zu einer Sache des Lebens umgeftalten; fein Erneuerungsplan 
fteht in einem ähnlichen Gegenfate zur frühern Philofophie 
als der kantiſche: Kant will die Philoſophie kritiſch machen, 
Bacon praftifh, jener fieht in allen frühern Syſtemen un- 
fritifche, diefer unpraftifche Philofophie. Unter einem folchen 
fummarifchen Urtheil, welches beide aus fo verfchiedenen Ge- 
fihtspunften über ihre Vergangenheit fällen, find ‚fie wenig im 
Stande, den philofophifchen Bildungen der Vergangenheit im 
Einzelnen gerecht zu werben; fie fommen darin überein, daß 
alle Philofophie vor ihnen unfruchtbare Speculation gewefen, 
daß die Shiteme der Vergangenheit dem Gegenjat von Dog⸗ 


*) Nov. Org. I, 97. 113. 


240 


matismus und Skepticismus verfallen und eben dadurch gegen- 
feitig ihre Nefultate aufheben. Für Kant find die Repräfen- 
tanten der dogmatifchen und ffeptifchen Philofophie Wolf und 
Hume, für Bacon die dogmatifchen Ariftoteliler und die afa- 
demifchen Sfeptiler. „Die Einen fommen zu falfhen und 
leichtfertigen Zielen, die Andern gefliffentlich zu gar keinem.“) 
Um diefe beiden Wendepunfte der neuern Bhilofophie unter 
einen gemeinfchaftlihen Ausdrud zu faſſen, fo wollen Bacon 
und Kant, überzeugt von der Unfruchtbarkeit der bisherigen 
Speculationen, jeder in feiner Weife die Philofophie frucht⸗ 
bar und praftifh machen. Bacon richtet fie auf praftifche 
Naturerkenntniß, Kant auf praftifche Selbſterkenntniß. Die 
reiffte Frucht der baconifchen Philofophie ift die Erfindung im 
Intereffe der menſchlichen Herrfchaft, die der Tantifchen die 
Moral im Sinne der menfchlichen Freiheit und Autonomie. 
Es ift die Unfruchtbarkeit in Folge des blos theoretifchen 
Vhilofophirens, die Bacon nicht nrüde wird, der Vergangen- 
heit vorzuwerfen. Die Leute bilden fich ein, in ihren über- 
lieferten Syſtemen viel zu wiffen, darum kommen fie nicht 
weiter, fondern beharren im thatlofen Stillftande. Die Ein- 
bildung des Reichthums ift die Urfache ihrer Armut. „Die 
Weisheit‘, fagt Bacon, „die wir von den Griechen überfommen 
haben, erſcheint uns als die Kindheit der Wiffenfchaft; fie ift, 
wie ein Kind, fertig zum Schwaten, unfräftig und unreif zum 
Zeugen.” „Wäre dieſe Wiſſenſchaft nicht völlig todt, fo hätte 
fie niemals viele Jahrhunderte Hindurd in ihrem alten Ge⸗ 
leife ohne alles lebendige Wachsthum dergeftalt beharren Tön- 
nen, daß nicht blos die Süße Süße, fondern auch die Fragen 


*) Nov. Org. I, 67. 


241 


Fragen blieben, deren feine durch Disputiven gelöft, fondern 
genährt und nicht von der Stelle gerüdt wurde. Der Gang 
der Ueberlieferungen und Schulen zeigt immer nur Meifter 
und Schüler, niemals einen Erfinder, nie einen folchen, der 
Erfindungen um etwas Beträchtliches vermehrt und weiter- 
geführt. Aber das Gegentheil fehen wir an den mechaniſchen 
Künften: als ob fie Lebensluft athmeten, wachjen fie und ver- 
vollkommnen fich mit jedem Tage!“ ‚Dagegen die Philoſo⸗ 
phie und die fpeculativen Wiffenfchaften werden wie die Statuen 
angebetet und gefeiert, aber fchreiten, wie diefe, feinen Schritt 
vorwärts.“*) | 


2. Die Grundlage. 

Iſt die Erweiterung der menfchlichen Herrfchaft durch die 
Erfindung das Ziel der Philojophie, fo giebt es nur eine 
Grundlage, auf der fie ruhen und gedeihen kann: die Natur- 
wiſſenſchaft. Das iſt es, was ber bisherigen‘ Philofophie 
gefehlt Hat: fie ift das Erbtheil der Griechen, deren Weisheit, 
die älteften Philofophen ausgenommen, im Grunde nichts war 
als Sophiftit, ohne reales Wilfen, ohne erfinderifhe Kraft, 
bloße Wortweisheit, bloßes Wort- und Schulgezänt. Wie den 
Glauben, joll man aud) die Philofophie an ihren Werfen er- 
kennen. Die Früchte, die fie getragen, waren nicht Trauben 
und Dliven, fondern Dornen und Difteln. Die Vorzeit war 
weifer, die Acgypter haben doc in den Thieren die erfinderi- 
ſchen Inſtincte verehrt, die Griechen der gerühmten claffifchen 
Zeit Haben blos in Reden gemetteifert; darüber find fie, wie 
jener äghptiſche Priefter fagte, Kinder geblieben, die weber bas 


*) Inst. Magna. Praef. Op. p. 271. Bgl. Cog. et Visa. Op. p. 585. 
Sicher, Bacon, 16 


242 


Alter der Wiſſenſchaft noch die Wilfenfchaft des Alters Hat: 
ten. Mit Recht fpottete Dionyfins gegen Plato über die 
Schulweisheit der Bhilofophen, über diefe Reden müßiger 
Sreife vor unerfahrenen Jünglingen! ‘Die Schulweisheit ift 
im Schulſtreit jteden geblieben. Man Yaffe ſich darüber nicht 
täufchen durch die Herrſchaft, welche die ariftotelifche Philo- 
fopbie davongetragen, durch die Einigung der Geijter unter 
dem Scepter des Ariftoteles., Die Einigung ift nur fcheinbar, 
fie beruht auf blinder Nachbetung, auf dem Beifall der Menge, 
der ebenfo blind ift. Diefer Beifall ift nirgends verbächtiger 
als in wilfenichaftlihen Dingen, wo man ihn nehmen follte, 
wie Phocton, als feine Rede beflatfcht wurde: er frug, was 
habe ich Falſches geſagt?“) Selbft die Wahrheit, wenn fie 
nachgebetet wird, führt nicht weiter, denn die Nachbeter find 
wie die Gewäſſer, die nicht höher emporfteigen als der Ort 
liegt, von dem fie herabfallen. **) 

Daß es mit den Wiffenfchaften ſchlecht fteht, Tiegt am 
Tage. Woher fommt es, daß es nicht beffer fteht? Die Haupt- 
urſache findet Bacon in der zu kurzen Dauer ihrer Entwid- 
lung, denn von der Gefchichte der Menfchheit überhaupt Habe 
nur der kleinſte Zeitraum den Wiffenfchaften gehört, von der 
wiffenfchaftlichen Arbeit ſelbſt nur der geringfte Theil ben 
Naturwiſſenſchaften. „Und doch ift die Naturwiſſenſchaft 
die Mutter aller Wiffenfhaften. Alle Künfte und 
Wiffenfchaften, jobald fie von diefer Wurzel losgeriffen werben, 
fünnen wohl noch als Zierrath gepflegt und gebraucht werden, 
aber fie wachſen nicht mehr.” ***) „Bon den bdrittehalb Jahr⸗ 

*) Nov. Org. I, 71-77. 


**) Inst. Magna. Praef. Op. p. 274. ®gl. De augm. I. Op. p. 19. 
**") Nov. Org. I, 79. 


243 


taufenden der Menfchengefchichte gehörten Taum ſechs Jahr⸗ 
bumderte den Wiffenfchaften. Denn die Zeit hat ihre Wüſten 
wie der Raum. Es gibt nur drei wifjenfchaftliche Perioden: 
die griechiſche, römifche, neueuropäifche.” „Nachdem fidh der 
chriſtliche Glaube über die Welt verbreitet hatte, mußten fich 
die vorzüglichften Geifter auf die Theologie wenden; ihr wur- 
den alle Belohnungen, alle Hülfsmittel gewidmet. Das Stu- 
dium der Theologie bejchäftigte das dritte Zeitalter der Wiffen- 
Ihaft im neneuropätfchen Abendlande; während des zweiten er- 
gingen fich die philoſophiſchen Unterfuchungen in der Moral, 
die bei den Heiden die Stelle der Theologie vertrat, auch be- 
ſchäftigten fid) damals die erften Geifter mit politifchen An- 
gelegenheiten, die bei dem Umfange des römifchen Staats faft 
alfe Kräfte in Anſpruch nahmen. Jene Zeit aber, wo bei den 
Griechen die Naturphilofophie aufzufommen fchien, war Hein 
und von jehr geringer Dauer. Denn früher waren es die 
fogenannten fieben Weiten, die ſich, Thales ausgenommen, nur 
mit Moral und Politik abgaben, und fpäter, nachdem Sofra- 
tes die Philofophie vom Himmel auf die Erde herabgeführt 
batte, erftarfte die Moralphilofophie noch mehr und entfrem- 
dete der Naturwiffenichaft die Gemüther.“ „Indeſſen möge 
niemand erwarten, daß die Wiffenfchaften beträchtlich meiter- 
fommen, bevor die Phyſik in die einzelnen Wiſſen— 
Ihaften eingedrungen und diefe wiederum auf die 
Phyſik zurüdgeführt find Darum find Aftronomie, 
Optik, Mufil, die meiften mechanifchen Künfte, fogar die 
Medicin und (was manche noch mehr verwundern wird) aud) 
die Moral, Politik und Logik fo ungründlich und ſchwankend 
auf der Oberfläche ber Dinge, weil fie als felbftändige und 
befondere Wiffenfchaften, wozu man fie gemacht hat, nicht mehr 
" 16* 





244 


von der Naturphilofophie ernährt werden.” „So ijt «8 fein 
Wunder, daß die Wiſſenſchaften nicht wachſen, da fie ihren 
Wurzeln entriffen find.” *) 


3. Die Wege. 

So falih Ziel und Grundlage, jo verkehrt waren bie 
Wege und Mittel der bisherigen Philoſophie, und aud) darin 
‚Liegen die Urfachen des Elends. Entweder ift man ganz ab— 
feit8 der Erfahrung gegangen, oder hat ſich in der Erfahrung 
dem Zufall und blinden Verſuchen überlaffen. Schon bei den 
Alten ift die Naturphilofophie verdorben worden, von Plato 
durch Zheologie, von Ariftoteles durch Logik, von Proklus 
durch mathematifche Hirngefpinfte.**) Statt aus der Erfahrung 
zu fchöpfen, dichtet man ſich metaphyſiſche PVorausfegungen. 
Dazu kommt die Einmifhung religiöfer Vorftellungen, die 
Hemmungen durch den Aberglauben, durch den blinden und zügel- 
Iojen, der Naturwiſſenſchaft feindlichen Neligionseifer. Die 
Grieden Haben ihre Naturphilofophen wegen Gottlofigkeit ver- 
folgt, nicht beſſer haben die hriftlichen Kirchenväter gehandelt, 
die jene richtigen und naturwiſſenſchaftlich begründeten Vor⸗ 
jtellungen von der Kugelgeftalt der Erde und den Gegenfüßlern 
verdammten. Grundlofer Weife fürchtet man die Erforſchung 
der Wahrheit aus Angft für die Religion, und der Unverſtand 
der Theologen verjperrt faft jeder befjern Philofophie den Zu- 
gang. Beiden einen ift dieſe Feindſeligkeit einfältiger, bei den 
anderen ſchlauer, diefe letzteren halten es für weit zuträglicher, 
daß die Mittelurfachen nicht erforfcht werden, denn fo lange 


— — 





*) Nov. Org. I, 78-80. 
**) Nov. Org. I, 82. 96. 











245 


die Menfchen über die natürlichen Urſachen der Dinge in Un- 
wiſſenheit bleiben, Tönne man leichter alles auf den Zauber- 
ftab Gottes zurüdführen. Das Heißt freilich nichts anderes 
als Gott mit der Lüge einen Gefallen thun wollen.*) Was 
Bacon an diefer Stelle die „virgula Dei“ nennt, hat Spi- 
noza in derfelben Rüdfiht als das „asylum ignorantiae“ 
bezeichnet. 

Nicht blos aller Art mächtige Vorurtheile verfperren den 
Weg, and die vorhandenen Zuftände der gelehrten Bildung 
find ganz dazu angethan, daß fle den Fortjchritt nicht auf- 
- Tommen laffen: die Werkftätten der Gelehrten, wie ihre Schu- 
fen. Ihre Werkftätten find die Bibliothefen, ihre Schulen die 
Akademien und Collegien. Betrachtet man die Bibliotheken, 
fo erftaunt man über die unermeßliche Menge der Bücher, 
und wenn man fie Tiejt, erftaunt man auf entgegengefeßte Art 
über die endlofen Wiederholungen; zuerft wundert man fich 
über die Mannichfaltigkeit diefer Schäße, und zulegt wundert 
man ſich Über die Dürftigleit und Armuth, die als Frucht 
der Büchergelehrfamteit übrig bleibt.**) Um diefe Früchte 
immer von neuem zu erndten, find die gelehrten Akademien 
und Collegien die beften Pflanzichulen. Hier wird eine gewiffe 
Büchergelehrfamkeit, das Studium gewiffer Schriftfteller zum 
Gefängniß gemacht, in das man die Jugend einfperrt. Wehe, 
wenn einer an den Schranken rüttelt, wenn einer das Joch 
der Büchergelehrſamkeit abwerfen will! Die VBorlefungen und 
Uebungen find ſchon fo beitellt, daß in den abgerichteten Köpfen 
ſchwerlich ein neuer Gedanke, ein eigenes Urtheil erwacht, und 


J 


*) Nov. Org. I, 89. Bgl. De augm. I. Op. p. 5. 
**) hend. I, 85. 


246 


wenn dieſer ſeltene Fall eintritt, wenn einer oder der andere 
von ſeiner freien Urtheilskraft Gebrauch macht, ſo möge er 
ſehen, wie er zurechtkomme, er wird bei der Zunft keinen Bei⸗ 
ſtand finden und auf feiner Laufbahn erfahren, daß feine Be- 
ftrebung und Geiftesfreiheit ihm Hinderniffe bereiten, die feines- 
wegs leicht find. (Als Bacon diefe Bemerkungen niederfchrieb, 
mag ihm feine eigene Jugendgeſchichte vorgeſchwebt haben.) 
Wer nicht in dem herfümmlichen Seleife der Büchergelehrfam- 
feit bleiben, fondern eigene und neue Wege gehen will, wird 
als ein unruhiger Kopf verdächtigt. Aber es ift ein großer 
Unterfchieb zwifchen Neuerungen im Staat und in der Wiffen- 
Ihaft; ein neues Licht, das in der Wiſſenſchaft aufgeht, iſt 
nicht fo gefährlich als eine neue Bewegung in bürgerlichen 
Dingen, wo eine Verbeſſerung felbft der öffentlichen Zuftände 
bebenflich ift wegen der Störungen, die daraus folgen, denn 
die Wiffenfchaft ruht auf Beweiſen, das bürgerliche Xeben auf 
Autoritäten und Einrichtungen. Auf dem Gebiete der Künite 
und Wiffenfchaften muß, wie in den Bergwerfen, alles in Be- 
wegung fein, hier muß unaufhörlich gearbeitet, immer weiter 
fortgefchritten werden. So follte e8 fein, wenn es vernunft- 
gemäß zuginge, fo ift es nicht im wirklichen. Leben, wo es 
auch in den gelehrten Dingen eine Verwaltung und Polizei 
giebt, die mit zu fchwerem Drud auf dem Fortfähritt der 
Wiſſenſchaften Laftet.*) 

Es iſt kaum beffer beftellt mit der Art, wie man bisher die Er- 
fahrung betrieben. Die vorhandenen Erfindungen werden ange- 
ftaunt wie Wunderwerke, und darum weber verbeffert noch ver- 
mehrt.**) Die VBerfuhe find blind, daher entdeden und 


— — — — — 


*, Nov. Org. I 90. **) Ebend. I, 85. 





247 


erfinden fie wenig; die Erfahrung ift unkritiſch und Hält fich 
fieber an unfihere Gerüchte als an geprüfte Zeugniffe, fie 
macht es wie ein Staat, der lieber glauben wollte, was bie 
Leute in der Stadt ſchwatzen, als was feine glaubwärbigen 
GSefandten berichten. Am Ende ift bei den abenteuerlichen 
Verſuchen der Alchymiſten, fo unmethodifch und blos umher⸗ 
tappend fie verfahren, noch das Meifte herausgelommen, wenn 
auch etwas ganz anderes, als fie ſuchten; es ift ihnen ge- 
gangen, wie den Söhnen in der Zabel, benen der Vater einen 
Weinberg vermacht hatte mit einem Schatz an verborgener 
Stelle, die niemand kannte, fie gruben den Berg um und 
dachten nur an den Schatz, fie fanden fein Gold, aber die 
Weinerndten wurden gut.*) 

Bei diefen fo lange fortgefeßten, immer unfruchtbaren 
und ziellofen Beftrebungen im Reihe der Wilfenichaft, hat 
ſich zuleßt eine völlige Hoffnungslofigfeit der Geifter bemädh- 
tigt, ein Unglaube an die Möglichkeit eines wahren Fortſchritts, 
an die Erreichbarkeit großer Ziele. Die Natur ſei dunkel, 
das Leben kurz, die Sinne trügerifch, die Urtheilsfraft ſchwach, 
die Verfuche ſchwierig. So Hört man felbft verftändige und 
ernfte Männer reden. Diefer Unglaube, diefe fleptifche Ge- 
finnung ift gleichfam das Facit der Rechnung und unter 
allen Hinderniffen, die dem Fortſchritt entgegenftehen, das 
größte. Man nimmt bie Wilfenfchaft, als ob ſie ein Wert 
ber Zeiten und des Schickſals wäre, woran die Menſchen 
nihts ändern können; jet ſei Ebbe, ein andermal 
Fluthl**) 


*) Nov. Org. I, 98 u. 86. 
“) Ebend. I, 92. 


248 


MH. 
Bacon's Stellung zu den alten Philofophen. 


1. Berhältuiß zu Ariftoteles, 

Der Abitand des Alten und Neuen Tann nicht größer 
fein als Bacon ihn empfinde. Es ift uns weit wichtiger, 
feine Beurtheilungsweife in diefem Punkte kennen zu lernen, 
als fie jelbft zu beurtheilen, denn wir haben es nicht mit 
einem Biftorifer zu thun, fondern nit einem Neuerer. Meſſen 
wir daher die Abftände zwifchen ihm und den alten Philoſo— 
phen fo, wie Bacon jelbft ſich ihnen entgegenftellt und feine 
Lehre mit der ihrigen vergleicht. 

Die Naturerklärung ift die Aufgabe. Alle Idole, die fie 
hindern, find verworfen, darunter die Zwede, die Gattungs- 
begriffe, die abftracten Denkformen als menfchliche, den Dingen 
jelbft fremde Analogien; er jet den Zweden die wirkenden 
Urſachen, den Gattungsbegriffen die einzelnen Dinge, den 
Denkfformen die Naturformen entgegen und verneint damit 
alles, was die Naturerflärung teleologiſch, idealiftifch, forma- 
liſtiſch macht. Um diefe Gegenſätze unter einen Ausdrud 
zufammenzufafjen: er legt fein Gewicht in die Oppofition 
wider die gefammte Formalphilofophie, die vor ihm die über- 
twiegend mächtige gewejen war, ſowohl durch den Umfang als 
die Dauer ihrer Herrſchaft. Unter der Formalphilofophie, die 
ihm entgegenfteht, begreift Bacon die ariftotelifch-[cholaftifche, 
die platonifch-ariftotelifche, die pythagoreifch-platoniiche. Alle 
diefe Shfteme unterliegen dem leitenden Gefichtspunfte der 
Endurfachen, die in Bacon’8 Augen als Trugbilder des 
menſchlichen Verſtandes erfcheinen; die Schöpfungen ber For- 


249 


malphilofophie find die gefchichtlichen Ausbildungen diefes Irr- 
thums, fie find die Erdichtungen, welche in der Philofophie 
die Theaterwelt bilden, und gelten ihm darum als „idola 
theatri”. Der theoretifhen Bhilofophie ftellt Bacon die praf- 
tifche entgegen, ber Metaphyſik und Theologie, als den bis- 
berigen Fundamenten ber Wiffenfchaft, die Phyſik, der Formal: 
philofophie die materiale, der gemeinen Erfahrung die wiffen- 
ſchaftliche. Alle diefe Gegenſätze comcentriven fi) (Bacon 
gegenüber) in Ariftoteles, der in dem Meiche der bisherigen 
Philofophie die Dictatur führte.) Er hatte die Theorie felig 
geſprochen als den höchſten Aufſchwung des Geiftes, wodurch 
wir den Göttern ähnlich werden, er Hatte die Metaphufit 
Inftematifh ausgebildet und die Naturerflärung darauf ge 
gründet, er war der eigentliche wiſſenſchaftliche Zräger der 
Formalphilofophie und der Schöpfer ihrer Logik, er ftelfte 
die Phyſik unter den teleologischen Geſichtspunkt, nachdem er 
denfelben metaphyſiſch befeftigt, und brachte die ganze griccdhi- 
che Formalphilofophie in ein Shitem, womit er das Mittel- 
alter beherrſchte. Und zuletzt trägt Ariftoteles in Bacon’s 
Augen auh die Schuld der bisherigen unmethodifchen und 
unkritiſchen Erfahrungsweife, denn er hat die Imduction in 
die Philofophie eingeführt, ohne diefelbe Fritifch zu fichten und 
zu ordnen. Neben einer unfruchtbaren Logik hat Ariftoteles 
eine unftritifche Erfahrung zum Anfehen erhoben; was alfo 
konnte die Bhilofophie, die ihm folgte, Großes erreichen, da 
fie folde ftumpfe Waffen führte? So fieht Bacon alle idola 
theatri, welche den Schauplatz der Wiſſenſchaft einnehmen, 
vereinigt in Arijtoteles. Auf diefen Punkt vichtet er daher alle 


— — ——— — — 


*) Cog. et Visa. Op. p. 585. 


250 


Widerftandskraft, die er gegen das Alterthum und die Ver⸗ 
gangenheit überhaupt aufbietet. ‘Der Name des Ariftoteles 
bildet gleichfam die hervorragende Spite, die alle Blitze ab- 
leiten muß, die Bacon gegen die frühere Philoſophie ſchleu— 
dert. Wir müfjen biefen Namen im Munde Bacon’s mehr 
als ein nomen appellativum, denn als ein nomen proprium 
nehmen, damit er gegen ben wirklichen Ariftoteles nicht zu 
ungeredht erjcheine. Inwieweit er diefen durchdrungen und 
getroffen Hat, ift eine Frage, an der wir vorübergehen. Denn 
wir unterfuchen hier nicht, was Ariftoteles war, ſondern wie 
fih Bacon ihn vorftellte Er befämpfte in Ariftoteles den 
Theoretifer, den Metaphyfifer, den Formaliften und den Em- 
pirifer; er machte fih zum Teibhaftigen Anti-Ariftoteles,. 
Dem ariftotelifchen Organon feßt Bacon das feinige entgegen 
in doppelter Rückſicht: er bekämpft die ariftotelifche Logik durd) 
die Erfahrung, die ariftotelifhe Erfahrung, welche er der ge 
wöhnlichen gleichfeßt, durch die methodiſche. Dem Shyllogis— 
mus ftellt er die Induction, der ariftotelifchen Induction die 
wahre gegenüber. Seine Taktik ift in beiden Fällen diefelbe: 
fowohl von dem Syllogismus als von ber ariftotelifhen Er- 
fahrung foll gezeigt werden, daß fie unfruchtbar, unpraktiſch, 
zur Naturerflärung unbrauchbar fei. 

Der Syllogismus ift unfruchtbar, denn er kann nichts 
Neues entdeden, nichts Unbelanntes finden, fondern nur Be 
griffe, die ſchon befannt find, fchlußgerecht darjtellen; er ift 
eine bloße Gedankenform, die zu ihrer Erfüllung einen gege- 
benen Inhalt voransjegt. Aber die ächte Wiffenfchaft will ihren 
Inhalt felbft finden, nicht blos den fchon gegebenen oder über- 
tieferten ordnen, fie fucht aus dem Belannten das Unbekannte. 
So tft der Syllogismus, der nur Belanntes verknüpft, in 

















251 


der Hand der Wiſſenſchaft ein umnüges Inftrument, das zu 
ihren Unterſuchungen nichts Hilft, zu ihren Zwecken nichts bei- 
trägt. Die Logik, welche fyllogiftifch verfährt, kann feine 
Wiſſenſchaft machen, fie ift untauglich, wie Bacon jagt, „zum 
Auffinden wiffenfchaftlicher Wahrheiten”. Der Syllogismus be- 
fteht aus Urtheilen, diefe aus Worten, Worte find Zeichen 
für Begriffe, und die Begriffe felbft find zunächſt undeutliche 
und abftracte Vorftellungen der Dinge, die ohne gründliche 
Unterfuhung gemacht und vorausgefaßt find, die auf bloßen 
Credit angenommen und mitgetheilt werden. So beruht der 
Syllogismus, wenn wir ihn in feine letzten &lemente zer- 
legen, auf unllaren und unſichern Beftimmungen.*) Diefe 
unfichern Beftimmungen werden von der formalen Logik zur 
gültigen Münze gemacht, als folche behandelt und ausgegeben. 
So dient diefe Logik nicht dazu, die Wahrheit zu unterfuchen, 
fondern den Irrthum zu befeftigen, fie ift nicht blos unnütz, 
ſondern fogar ſchädlich.““) Die Shllogiſtik lebt nur von 
Worten, fie Tann nur Worte machen, nicht Erfindungen, fie 
nützt nicht zu Thaten, fondern blos zum Neben, fie macht nicht 
erfinderifch, fonbern vebefertig, und das bloße Hin- und Her- 
reden nüßt nichts. Die Wortfunft dient nicht dem „regnum 
hominis”, fondern nur dem „munus professorium“, 

Anders dagegen, als diefe Logik, handelt die Erfahrung 
Sie beweift nicht durch Worte, fondern durch Thaten, fie de— 
monftrirt ad oculos, fie redet nicht, fondern erperimentirt. 
Mit dem Inftrument berichtigt fie unfere finnliche Wahrneh- 





*) Nov. Org. I, 14. Bgl. Cog. et Visa. Op. p. 589. De augm. 
scient. V, cap. 2. Op. p. 125. | 
**) Nov. Org. I, 12. 








252 


mung und macht diefe den Dingen adäquat. „Wir müſſen“, 
fagt Bacon in feinen Gedanken und Meinungen, „unfere Zu: 
flucht zu der Beweisführung nehmen, die durch Experimente 
(per artem) gelenft wird. Ueber den Syllogismus, der bei 
Ariftoteles die Stelle des Orakels vertritt, können wir uns 
furz faſſen. Wo cs ſich um Lehrbegriffe Handelt, dic auf 
menfchlichen Meinungen beruhen, wie in moralifchen und poli- 
tifhen Meaterien, mag ex nüglih und in gewiffen Sinne fürs 
derlich fein. Aber für die Feinheit und VBerborgenheit der 
Naturericheinungen ift er unfähig und nicht zutreffend.“ „Daher 
bleibt als einziges Hülfsmittel und letzte Zuflucht allein die 
Induction übrig. Auf diefe feßen wir unfere wohlbegründete 
Hoffnung, da fie mit emſiger und genauer Sorgfalt die Dinge 
felbft befragt, deren Zeugniſſe ſammelt und dem PVerftande 
zuführt.“*) 

Alſo keine Syllogiſtik, ſondern Erfahrung, aber nicht die 
ariſtoteliſche, deun dieſe iſt ebenſo unfruchtbar als der Syllo- 
gismus, fie verfehlt nicht weniger das wahre Ziel aller wiſſen— 
Ihaftlihen Forſchung. Bernünftigerweife follte die Logik 
Wahrheiten entdeden und die Erfahrung Werke erfinden, jene 
follte ung neue Erkenntniſſe, diefe neue Erfindungen verjchaffen. 
Aber die ariftotelifche Yogik trägt nichts bei „ad inventionem 
scientiarum“, die ariftotelifhe Erfahrung nichts „ad inven* 
tionem operum“, beide find unfähig zum Erfinden und darum 
unnütz. Die ariftoteliiche Erfahrung iſt unfruchtbar aus dop- 
peltem Grunde: entweder ift fie eine bloße Befchreibung, ein 
breites, formlofes Material (wie der Syllogismus eine leere, 
inhaltlofe Form war), „eine fehr einfältige und ganz kindiſche 


*) Cog. et Visa. Op. p. 589. 











| u Stu nF 
Art“, wie Bacon fagt, „die in der Aufzählung einzelner Fülle 
fortläuft und deshalb niemals mit Nothiwendigfeit, fondern 
unficher und precär fehließt“*), alfo zu Feiner Erfenntnif der 
Geſetze, zu feiner Erklärung der Natur, zu feiner Erfindung 
führt, fondern troden und unfruchtbar bleibt; oder dieſe Er- 
fahrung fließt aus wenigen Fällen fogleid) auf die allgemein- 
jten Gefeße, ohne die negativen Inftanzen zu beachten, ohne 
ihren Weg, fei es dur -gründliche Vergleichung verjchieden- 
artiger Fälle auszudehnen, ſei es durch Auffindung präroga- 
tiver Inftanzen zu verfürzen. Sie findet nicht, fondern ab- 
jtrahirt die Geſetze: fo ift fie unmethodifch und unkritiſch. Sie 
unterfucht nicht, fordern anticipirt die Natır. Bon den ein- 
zelnen Thatfachen zu ben allgemeinen Gefegen geht fie wie im 
Fluge, nicht Schritt für Schritt, von Stufe zu Stufe. Ihr 
Fehler ift eine zügellofe Ungeduld, deren Antrieb die Erfah 
rung nicht raſten läßt, fondern bewirkt, daß fie nicht aufmärts 
fteigt, jondern fliegt und fo das Ziel verfehlt, das fie nicht 
fchnell genug erreichen fann. Sie greift ſogleich nah den 
oberften Gejeten, bejtimmt die erften Urfachen der Erfcheinun- 
gen, bevor fie deren Mittelurfachen Tennen gelernt hat, und 
meint dann in der Fette der Weſen die fehlenden Glieder 
durch ſyllogiſtiſche Kunſt zu ergänzen. Auf eine ſolche Er- 
fahrung läßt fich kein Experiment, keine Erfindung gründen; 
ſie iſt mithin ebenſo unfruchtbar als der Syllogismus. 

An die Stelle dieſer Erfahrung ſetzt Bacon die erfin- 
derifhe, die einen andern Weg geht. „Zwei Wege”, fagt 
Bacon, „führen zur Wahrheit. Der cine fliegt von den 
finnliden Wahrnehmungen aufwärts zu den allgemeinften 


*) Cog. et Visa. Op. p. 589 flg. 


254 


Ariomen und fucht von bier aus die mittlern: diefer Weg ift 
der üblihe. Der andere führt von den finnlichen Wahrueh- 
mungen zu den Ariomen, indem er continwirlih und ftufen- 
weife emporfteigt und erſt zulett bei den allgemeinften Ariomen 
anfommt: diefer Weg ift der wahre, aber noch nicht verſuchte.“*) 
Der wahre Weg von den Erfcheinungen zu den höchften Na- 
turgefegen führt durch eine Stufenreihe von Ariomen. ‘Diefe 
Stufenreihe macht im Unterſchiede von der bisherigen Er- 
fohrung das charakteriftifche Kennzeichen der baconifchen. ‚Der 
menschliche Berftand darf von der Wahrnehmung der einzelnen 
Dinge zu den entfernten und allgemeinften Ariomen nicht 
jpringen oder fliegen und dann mit der jo gefundenen Wahr- 
heit die mittlern Axiome auffuhen: fo hat man es bisjekt 
gemacht, der Verſtand bat dem ungeftümen, nad vorwärts 
drängenden Triebe die Zügel fchießen laſſen, um fo mehr, als 
er durch ſyllogiſtiſche Beweisführungen dazu belehrt und an- 
gehalten war. Aber die Wiffenfchaft Fann erft dann gedeihen, 
wenn auf einer wirklichen Leiter, von Stufe zu Stufe, in 
gefchloffener Reihe, worin fein Glied fehlt, Leine Kluft Raum 
findet, emporgeftiegen wird von den einzelnen Dingen zu den 
unterften Gefegen, von da zu ben mittlern, ſodaß jedes Ge- 
fe immer mehr umfaßt als das nächſt vorhergehende, und 
erjt zulett zu den allgemeinften. Denn die unterften Gefeße 
grenzen ganz nahe an die bloße Erfahrung, die oberften aber 
und allgemeinften find bloße Begriffe, abftract und ohne be- 
jtimmten Inhalt. Dagegen die mittlern, die fich zwifchen den 
Ertremen befinden, find die wirklichen, beftimmten, Tebendigen 
Gelege. Auf diefe gründen ſich die menfchlihen Angelegen- 


*, Nov. Org. I, 19. 


255 


heiten und die allgemeinften, keineswegs abftracten Grundfäge. 
Darum müffen wir dem menfchlichen Geifte nicht Fittige, fon- 
dern Blei und Gewicht anlegen, um feinen Flug zurüdzuhalten 
und zu zähmen.”*) 

Syllogiſtik und Erfahrung, diefe beiden Werkzeuge der 
ariftotelifchen Philofophie, ftehen, wie Bacon bemerkt, iu 
wechfeljeitigem Verkehr; fie ergänzen einander, indem fie fic) 
gegenfeitig unterftügen. Die Shllogiftit braucht die ftoffliche 
Erfahrung, um von diefer den Inhalt zu empfangen, den fie 
Ihlußgerecht ordnet; die Erfahrung braucht die Syllogiftif, um 
mit ihrer Hülfe zwifchen den Erfcheinungen und den allgemei- 
nen Gejeten die Mittelglieder zu finden. Ohne Erfahrung 
wire die Syllogiftif leer und bewegungslos; ohne Syllogijtit 
wäre die Erfahrung aphoriftifch und felbft ohne den Schein 
einer ſyſtematiſchen Drdnung. 

Der erfindungsiuftige Geift hat von beiden nichts zu er- 
warten. Seine Erkenntnißweiſe ift die logifche Erfahrung oder 
die erfinderifche Logif. Diefe ſetzt Bacon dem Ariftoteles ent- 
gegen, ſowohl dem Logifer als dem Empirifer, Die Togifche 
Erfahrung unterfcheidet fih als Erfahrung von der formalen 
(erfahrungslofen) Logit, und als Logik von der gewöhnlichen 
(unlogifchen) Erfahrung. Sie verhält ſich zu biefen beiden, 
um mit Bacon zu reden, wie Wein zu Waffe. „Wir 
milffen auf uns ſelbſt“, jagt Bacon zu verfchiedenen malen, 
„jenes treffende Witzwort anwenden: daß unmöglich gleich 
denen können, die Wafjer und die Wein trinken. Alle ande- 
ven, fowohl die Alten als die Neuern, haben in der Wifjen- 
haft rohen Saft getrunken, gleichjam Waffer, das entweder 


*) Nov. Org. I, 104. 





256 


unmittelbar aus dem Verſtande felbft floß oder durch dialel- 
tiſche Kunſt wie durch Räder aus der Erde Hervorgeholt wurde. 
Wir dagegen trinken einen andern Trank und trinken ihn allen 
Vebrigen zu, der aus zahllofen Trauben gewonnen, die reif 
und gezeitigt, von den Zweigen gefammelt und abgepflüdt, 
dann im der Kelter gepreßt, zuletzt in Gefäßen gereinigt und 
geklärt find. Darum ift es kein Wunder, wen wir mit jenen 
Waſſertrinkern nicht übereinstimmen.” *) 


2. Verhältniß zu Plato. 


Innerhalb der Formalphilofophie macht Bacon ſelbſt 
einen bemertenswerthen Lnterfchied zwiſchen Ariftoteles und 
Plato. Bon beiden erfcheint ihm Plato als ber höhere Geift, 
als der genialere Kopf.**) Zwar find dieje größten Bhilofo- 
phen des clafjifchen Alterthums in ihren Syftemen beide gleich 
weit von den: wahren Bilde der Natır entfernt, fic find beide 
in Sdolen befangen, aber die platonifchen find ebenfo poetifch, 
als die ariftotelifhen fophiftifch.***) Die Irrthlimer Plato's, 
fowenig er fie theilt, erfcheinen in Bacon's Augen Tliebens- 
würdiger und natürlicher. Der Phantafie verzeiht man es 
eher, wenn jie irrt, als dem Berftande. Bacon Hatte eine 


*) Nov. Org. I, 123. 2gl. Cog. et Visa. Op. p. 5%. Offenbar 
verſteht Bacon winter „aquam sponte ex intellectu manantem‘ die 
Sylogiftif, und unter „aquam per dialecticam tanquam per rotas ex 
puteo haustam” die Erfahrung, die aus wenigen Thatfachen die all- . 
gemeinften Ariome wie mit einem Ruck bervorbringt. In der WBarallel: 
ftelle der Cog. drlict er daffelbe aus durd) „industria quadam haustum 
(liquorem)”. 

**) Platonem virum sine dubio altioris ingenii fuisse. Cog. et 
‘ Visa. Op. p. 585. 

*#*) Platonem — tam prope ad poetac, quam illum (Aristotelem) 
ad sophistae partes accedere. Cog. et Visa, p. 585. 











257 


bewegliche Einbildungstraft und einen empfänglichen Sinn für 
die Reize der Poeſie, diefer Sinn fand fich angezogen von 
dem Zauber der platonifchen Philoſophie; diejer poetifche 
Zug in Bacon, der fi) nicht blos in feiner größern Zuneigung 
zu Plato Tundgiebt, fondern auch feine Schreibart bewegt und 
die Wahl feiner Beifpiele und Bilder lenkt, beweift aufs neue, 
"was Humboldt einmal an Columbus finnig bemerkt, daß ſich 
die dichteriſche Phantafie in jeglicher Größe menſchlicher Cha- 
raftere ausfpricht.*) 

Bacon beurtheilt und unterfcheidet Blato und Ariftoteles 
ungefähr fo, wie e8 in unferer Zeit manche mit Schelling und 
Hegel gehalten Haben. Er fett beiden bie empirifhe Forſchung 
entgegen, welche Plato durch Phantafie, Artftoteles durch Dia⸗ 
lettif verborben habe: „Das größte Beiſpiel der fophiftifchen 
Bhilofophie ift Artftoteles; er hat die Naturwiffenfchaft durch 
jeine Dialektik verdorben, da er die Welt aus Kategorien ent- 
fteben ließ.“ Dem Ariftoteles wirft Bacon vor, daß er die 
Wirklichkeit in Kategorien auflöfe, dem Plato, daß er bie 
Wirklichfeit in Phantafiebilder verwandle und umdichte: jener 
feße an die Stelle der Dinge logifche Schemen, diefer dichte 
riſche Anſchauungen, beide Idole. Blato ſei myſtiſch und 
poetiſch, Ariſtoteles dialektiſch und ſophiſtiſch. So urtheilte 
damals Bacon über die claſſiſchen Philoſophen des Alterthums; 
ganz Ähnlid wurde und wird bei uns über Scelling und 
Hegel geurtheilt. Nimmt man dazu, daß man Hegel mit 
Ariftoteles, Schelling mit Plato zu vergleichen liebt, jo wird 
unfere Parallele des baconifhen Urtheils mit dem heutigen 
noch fprechender. 


”) A. von Humboldt, Anfichten der Natnr, I, 256 fig. 
Sicher, Bacon. 17 


258 


Bacon verwirft die platonifchen Ideen wie die ariftoteli- 
fchen Reategerien; beide find ihm abftracte, unfruchtbare, in 
ber Ratur nichts erflärende Formbegriffe. Aber die platoniſche 
Philoſophie Hält ihre Ideen, die in Wahrheit Idole find, für 
die göttlichen Urbilder der Dinge feloft, fie Sergöttert ihre 
Idole und erfcheint jo dem resfiftiichen Denker als eine Apo⸗ 
theofe des Irrthums, fie befticht den Verſtand durch die Ein- 
bildungstruft und erfcheint ihm in dieſer Rückſicht als ein 
logiſches Verderben, als eine phantaftiiche Philoſophir. „Denn 
der menfihliche Berftand”, fagt Baron, „ift dem Einfluß der 
Phantaſte ebenfo umterwerfen, als dem der herfünunlichden Be⸗ 
griffe. Jeurs ftreitjüchtige und fophiftiiche Geſchlecht verſtrickt 
den Verſtand, dagegen ſchmeichelt ihm das andere phantaftijche, 
ſtolze, poetiſche Gefchlecht der Philoſophen. Auch der Verſtand 
wie der Wille hat ſeinen Ehrgeiz, namentlich in hohen und 
emporſtrebenden Geiſtern. Ein vorzügliches Beiſpiel dieſer 
Philoſophengattung iſt unter den Griechen Phthagoras, nur 
vermiſcht und belaſtet mit einer Menge aberglänbifcher Theo⸗ 
rien. Dogegen gefährlicher und feiner tritt fie auf in Plato 
und deſſen Schule. Hier zeigt fich das Vkbel in allen Theilen 
der Philoſophie: abftracte Bormbegriffe werden eingeführt, bie 
Endurſachen und erften Gründe, dagegen die Mittelurjachen 
und was dazu gehört anfer Acht gelafien. Bier muß man 
die altergrößte Vorfidht anwenden. Denn unter allen Uebeln 
ift die Vergätterang des Irrthums das ſchlimmſte: es ift 
geradezu für das Verderben bes Geiftes zu Halten, wenn ſich 
zum Wahn noch bie Verehrung gefellt. Solchem eiteln Wahn 
‚ haben fid) manche der Neuern mit dem größten Leichtfinn der⸗ 
geftalt Hingegeben, daß fie in dem erſten Capitel der Genefis, 
im Bude Hiob und andern heiligen Schriften die Grundlagen 


259 


ber Naturwiffenfchaft finden wollten, indem fie das Todte 
unter dem Lebendigen fuchten. Dergleichen falſche Beftrebungen 
mäffen um fo mehr gehemmt werden, weil aus der unver- 
ftändigen Vermiſchung des Göttlichen und Menſchlichen nicht 
blos eine phantaſtiſche Philoſophie, fondern auch eine irr⸗ 
gläubige Religion entſteht. Darum iſt es gut, mit nüchternem 
Verſtande dem Glauben zu geben, was des Glanbens iſt.“*) 

Indefſen findet ſich bei dieſem durchgängigen Gegenſatze 
der Denkweiſen und Richtungen doch ein philoſophiſcher Be⸗ 
rührungspunkt zwiſchen dem größten Idealiften des Alterthums 
und dem Begründer der realiftiſchen Philoſophie der neuen 
Zeit. Die platonifche Methode Hat etwas der baconifchen 
Verwandte, Auf ähnliche Weiſe ſucht jener die Ideen, dieſer 
die Gelege der Dinge; bie fokratifch - platontfde Methode 
entbindet aus den Borftellungen den Begriff, bie baconifche 
aus ben Natırverfcheinungen das Geſetz; in beiden Fällen ift 
der Ideengang inbuctiv, ev beginnt vom Einzelnen und erhebt 
fid) zum Allgemeinen, in beiden Fällen ift die Induction eine 
folge, die allmälig und ftafenweife zum Allgemeinen fort- 
fhreitet, dort zu den been, bier zu den Gefeken, dort zum 
Urbifd, Hier zum Abbild der Natur, dort zu den Endurſachen 
der Dinge, bier zu deren wirkenden Urſachen. Und was bie 
Hauptſache tft: diefer Stufengang der Induction führt bei 
beiden durch die negativen Inftanzen. Plate läßt nad) bem 
Vorbilde des Sokrates jede Begriffebeftimmung die Probe der 
negativen Inſtanzen beftehen, feine Definitionen berichtigen 
und läutern fich fortwährend burch die contradictoriſchen Fälle, 
die hier nicht Naturerſcheinungen find, ſondern Begriffsbeftim- 


une 





*, Nov. Org. I, 65. 
17* 


260 


mungen: oder Urtheile. In dem Gefpräh über den Staat 
handelt es ſich um die dee der Gerechtigkeit; der Gerechte, 
jo fcheint e8 dem Kephalos, muß jedem das Seinige geben, 
alfo das Geliehene, wenn es der Andere fordert, zurüderftatten. 
„St es auch gerecht”, fragt Sokrates, „die geliehenen Waffen 
zurüdzugeben, wenn fie der Andere im Wahnfinn fordert?‘ 
Dffenbar nicht. Hier ift die negative Inſtanz, fie zeigt, daB 
die erfte Definition der Gerechtigkeit zu weit war und darum 
die Sache nicht traf; nicht in allen Fällen ift die Gerechtigfeit, 
wie fie Kephalos fich vorftellte.*) Es hieße die platonifchen 
Geſpräche abjchreiben, wollte man bie Beifpiele folcher nega⸗ 
tiven Inftanzen ſammeln. Ebenſo madt Bacon durch die 
negative Inftanz die Probe, ob die gefundenen Bedingungen 
eines Naturphänomens die weientlichen find oder nicht. Plato 
verjucht e8 mit den Begriffen, wie Bacon mit den ‘Dingen; 
beide Laffen ihre Borftellung die Probe der negativen Inftanz 
beftehen, um zu ſehen, ob die Sache jo tft, wie fie meinen; 
beide experimentiren, der Eine logifch, der Andere phyfilalifch; 
jener, um den wahren Begriff in unfern Borftellungen, diefer, 
um die wahren Gefege in der Natur zu finden. Sie gehen 
auf ähnlichen Wegen nad) entgegengejegen Zielen: per veram 
inductionem. Auch der Menfh und das menfchliche Denken 
ift, wie die Natur, ein Proteus, den man nöthigen muß, ſich 
zu äußern und Rede und Antwort zu ftehen. Iſt das Erperi- 
ment eine Trage an die Natur, fo geftellt, daß diefe ant- 
wortet und fich offenbart; was find dann die fofratifch-plato- 
niſchen Geſpräche anderes al8 Erperimente mit der Natur des 
menſchlichen Denkens? 


— — — — 


x 





*) Platon. Rep. I, 331. 




















261 


Auch diefe Verwandtſchaft Hat Bacon erkannt; fie macht 
ihn dem Blato geneigter als dein Ariftoteles. Cr felbft giebt 
darüber folgende Erflärung: „Die Induction, die zur Erfin- 
dung und zum fihern Beweis von Wiffenfchaften und Künften 
dienen foll, muß die Natur fichten und fcheiden, indem fie die 
wefentlihen Bedingungen von den zufälligen trennt; fie muß- 
die negativen Inftanzen durchmachen, um dur einen richtigen 
Schluß zu den affirmativen zu kommen. Und dies tft bisher 
noch nicht gefchehen, ja nicht einmal verfucht worden, außer 
etwa durch Plato, der zur Sichtung feiner Defini- 
tionen und Ideen wenigftens diefe Form der Induc— 
tion brauchte.“*) 

Die platonifche Inductton führt zu einer Ideenwelt, die 
fih auf dem Wege fortgefeßter Abftraction bildet; die baco- 
niſche Induction führt zum Abbild der wirklichen Welt auf 
dem Wege fortgefetter Erfahrung. Inter dem Gefichtspunfte 
Plato's erjcheint die wirkliche Welt als das Abbild, wozu die 
Philoſophie das Urbild finden foll; unter dem baconifchen da- 
gegen erjcheint die wirkliche Welt als das Urbild, deſſen Ab⸗ 
bild die Philofophie zu treffen jucht. Die platonifche Abſtrac⸗ 
tion befteht im Analyfiren der Begriffe, die baconifche Erfahrung 
im Analyfiren der Dinge. Die Analyfe der Dinge ift die 
Zerlegung ber Körper, darum fordert Bacon ftatt der plato- 
nischen Abftraction bie „dissectio naturae”, die „anatomia 
corporum‘. „Denn wir gründen im menjchlichen Geilte das 
wahre Bild der Welt fo wie es ift, nicht wie es jedem Be— 
liebigen feine Vernunft aus eigener Willkür eingiebt, und dieſes 


*) Nov. Org. 1, 106. 





262 


Bild kann nur getroffen werden durch die genauefte Zerlegung 
und Theilung der Dinge. *) 


3. Berhältuiß zu Demokrit und zur alten Naturphilofophie. 


Dies führt uns auf das legte Verhältniß, welches zugleich) 
einen feiten Berührungspunkt bildet zwifchen der baconiſchen 
und griechifchen Bhilofophie. Dem Ariftoteles wiberftrebt Bacon 
aus allen Kräften und in allen Punkten, er will mit ihm gar 
nichts gemein haben, feine Methode erjcheint ihm ebenfo un- 
nütz und unfruchtbar als feine Lehren. Plato bietet ihm eine 
formale Verwandtſchaft; er findet hier feine Methode wieder, 
die wahre Induction, nur gebraucht zu nichtigen Zweden und 
unnügen Grfindungen, denn bie platonifchen been ober 
Dichtungen haben nichts mit dem menſchlichen Leben gemein 
und koönnen auf diefes nicht praktiſch und umgeftaltend ein- 
fließen. 

Indeſſen giebt es einen Lehrbegriff des Alterthums, ber 
für Bacon eine wirkliche Verwandtſchaft enthält: das ift der 
Gegenfag zur Formalphiloſophie, der Materialismus, die Na- 
turphilofophie des vorfotratifchen Zeitalter; es ift vor allem bie 
atomiftifche Lehre des Demokrit, welcher fi) Bacon zuneigt 
und mit ihm alle folgenden Philofophen feiner Richtung. 
Dieſes philofophifche Zeitalter, das ältefte, lebte noch in ber 
eoncreten Anſchauung der Natur, in der einfachen Auffaffung 
der Körperwelt, nicht in leeren, barans abgezogenen Formen. 
Die Principien, welche man bier den Dingen zu Grunde legte, 
waren korperlicher Art und fielen zufammen mit den Ele⸗ 
menten. Bacon's Abneigung gegen die Formalphilofophie 


*) Nov. Org. I, 124. ⸗ 


263 


macht und erklärt feine Zuneigung zum Materialismus; fein 
Gegenſatz zum Ariftoteles macht und erflärt feine Verwandt⸗ 


Ihaft zu Demokrit. Bacon und Demokit, dem Epikur 


folgte, wie diefem Lucrez, find gleichfam die beiden Gegenfüßler 
der Yormalphilofophie, die das claffifche Alterthum und von 
bier aus das fholaftiihe Mittelalter beherrſchte. „Es 
ift beſſer“, jagt Bacon, „die Natur zu feeiren, als zu ab- 
ſtrahiren. Das bat die Schule Demokrit’s gethan, bie tiefer 
als alle übrigen in bie Natur felbft eindrang.“s) Eben wegen 
feiner Schärfe und Grünblichleit Habe Demokrit bei der Maſſe 
feinen Anklang gefunden und feine Lehre fel von den Winden 
anderer Bhilofophien beinahe verweht worden. Und doch habe 
diefer Mann in feiner Zeit das höchſte Anjehen genoffen und 
einftimmig unter allen Weifen für den größten Raturphilofo- 
pben, ja für einen Magus gegolien. Weder des Ariftoteles 
Polemik, der fih die Nebenbuhler um den Thron der Philo- 
fophie nach türkifcher Art aus dem Wege fchaffte, noch Plato's 
Hoheit und gefeiertes Anſehen hätten vermocht diefe Lehre zu 
vernichten. Während in den Schulen alles von Artftoteles 
und Plato wiederhallte unb der Lärm und Pomp, der damit 
gemacht wurde, groß war, ftanb bei benlenden Männern, 
welche die ftillen und fchiwierigen Betrachtungen lieben, Demo 
Irit’8 Lehre in hohen Ehren. Wie hoch fie in der römischen 
Zeit gehalten wurde, ſah man aus dem Lobe Eicero’s, aus 
dem Gedichte bes Lnerez, der aus ber Denkweiſe feines Zeit- 
alters gerebei. Nicht Ariftoteles und Plato, jonbern die Bar- 
baren der Böllerwanderung, bie Genferih und Attila, Hätten 
diefe Philofophie mit der Weltbildung überhaupt verwüſtet. 


*) Nor. Org. I, 51. 


264 


Erſt nah diefem großen Schiffbruch der menfchlichen Wiffen- 
ſchaft hätten jene beiden Philofophen den Sieg über Demofrit 
bei der Nachwelt davongetragen, ihre Tafeln feien wie leichtere 
Waare vom Strome der Zeit forigetragen und bis auf uns 
herabgeführt worden, während die fchwerer wiegenden unter: 
ſanken und in Vergeffenheit geriethen. Die Zeit fei gekommen, 
Demokrit im Andenken der Welt wiederherzuftellen.*) 

Und nicht blos Demokrit, das ganze Zeitalter der älteften 
griechischen Naturphilofophie jet Bacon den fpäteren Philo- 
jophen, insbejondere ber Lehre bes Ariftoteles entgegen, die 
er als das Mufter fophiftiicher Philofophie Hinftelll. Wie 
Ariftoteles die Naturphilofophie durch Dialektil verdorben, die 
Welt aus Kategorien zurechtgemacht, willkürliche Einfälle ftatt 
Erfenntniß gegeben, immer bemüht fich fo zu äußern, daß 
feine Worte wie eine pofitive Erklärung erfchienen, wenig be- 
fümmert um die innere Wahrheit der ‘Dinge, das zeige ſich 
am beften, wenn man feine Lehre mit jenen früheren ver- 
gleiche, die bei den Griechen verbreitet waren. „Denn bie 
Homoiomerien des Anaragoras, die Atome des Leucipp und 
Demokrit, Himmel und Erde des Parmenides, Streit und 
Liebe des Empedokles, der Weltproce des Heraklit, der bie 
Körper in das Urfener ſich auflöfen und wieber daraus her- 
vorgeben läßt: alle diefe Lehren haben doch etwas von ädhter 
Naturphilofopbie, fie fchmeden nad) Welt, Erfahrung, körper⸗ 
licher Natur, während die Phyſik des Ariftoteles zum großen 
Theil aus dialektifchen Wortkünſten bejteht, die dann unter 
folenneren Namen in der Metaphyſik wiederlehren, als ob fie 


*) Parmenidis et Telesii et praecipue Democriti philosophia 
tractata in fabula de cupidine. Op. p. 652. 53. 











265 


hier eine venlere Geltung hätten und nicht ebenjale blos no- 
minal wären.’ *) 

Doch giebt Bacon unter jenen giechiſchen Naturphiloſo⸗ 
phen alter Zeit den Atomiſten den Vorzug; ihre Vorſtellungs⸗ 
weiſe, da fie die Körper im eigentlichen Wortverſtande durch— 
dringt und in die Heinften Theile auflöft, ift die naturgemäßefte, 
die am meiften materialiſtiſche. Demokrit Hatte den richtigen 
Grundſatz, dag die Materie ewig fei, daß die ewige Materie 
fein form- und gejtaltlofes Weſen, fondern von Anbegiun 
durch bewegende und geftaltende Kräfte beftimmt werde, daß 
Materie und Kraft fehlechterdings ungertrennlich feien, in der 
Natur der Dinge nie gefchieden und darum in der Naturer- 
klärung wohl zu unterjcheiden, aber nicht zu trennen. Jene 
form- und geftaltlofe Materie, von der Plato und Ariftoteles 
mit ihren Schülern fo viel reden, ift nicht die Materie der 
Dinge, fondern nur die Materie jener unbejtimmten und un—⸗ 
Haren Reden, womit fi die Wortphilofophie breit macht. **) 
Demokrit's Mangel Liegt nur darin, daR er feine richtigen 
und unzerftörbaren Grundſätze nicht durch methodifche Natur- 
erflärung gewonnen, fondern aus dem fich felbft überlafjenen 
Berftande vorweggenommen, daß er fie nicht phyſikaliſch be— 
wiejen, fondern metaphyſiſch behauptet hat. ***) Diefer Mangel 


— — 


*) Nov. Org. I, 63. 

**) Atque abstracta materia ista est materia disputationum, uon 
universi. Parmenidis, Telesii et praecipue Democriti phil. etc. 
Op. p. 654. 

***) Dies iſt der Grund, warum Bacon feine Philofophie mit der 
atomiftifchen nicht identiflcirt. Er wollte phufilalifche Atome, ‚nicht me- 
taphyſiſche; die phnfifalifchen Atome find die Eorpusteln oder Partikeln, 
d. h. die legten Heinften Theile der Körper, die wir wahrnehmen und 
nachweifen können, die Atome im metaphyſiſchen oder frengen Wortver- 


266 


Demokrit's trifft überhaupt die griechifche Naturphilofophie, 
deren Charakter ſich in den Atomiften am fehärfften ausprägt. 
Die folgenden Zeitalter von Sokrates bis herunter zu Bacon, 
ausgenommen die Wiederholungen der atomiftifchen Lehre in 
Epilur und Lucrez, verfchlechterten die Naturphilofophie und 
damit den wiffenfchaftlichen Zuftand überhaupt in zunehmender 
Entartung. Zuerft wurde die ächte Naturphilofophie verborben 
und in Schatten gerücdt durch die platonifche Ideenlehre, die 
an die Stelle der Dinge Begriffe feßte, dann nod mehr durd) 
die ariftoteliiche Logik, die ftatt der Dinge und Begriffe Worte 
fette, ſpäter durch die römische Moralphilofophie, zulett durch 
die chriftliche Theologie, die fich zur Vollendung der Barbarei 
und Geiftesverwirrung mit der ariftotelifhen Philofopbie ver: 
miſchte. Jenes ältefte Zeitalter allein, noch nicht verbildet 
durch eine falfche Philoſophie, noch wenig verwirrt durch idola 
theatri, hatte den richtigen Inftinet und die richtige Abficht. 
Um fie auszuführen, fehlten ihm nur die wiffenfchaftlichen 
Mittel. Ohne Inftrumente, ohne Methode, wie fie waren, 
fonnten diefe älteften Naturphilofophen nicht erfahrungsgemäß 
und wahrhaft phyſikaliſch denken. Was blieb ihnen übrig, da 
fie die Natur nicht auf wiſſenſchaftlichem Wege erflären Tonnten, 
als diefelbe zu anticipiren? Ihre Phyſik wurde ſchon im lir- 
fprunge Metaphyſik. Es war ridhtig, daß fie die Brincipien der 
Dinge in den Elementen und wirklichen Noturkräften ſuchten, 
aber diefe verwanbelten ſich ihnen fogleich in allgemeine Ariome; 





fiande dagegen Gedanfendinge, die noch fein Naturforſcher je entdedt 
hat. „Die Sade foll nicht bie auf Atome zurückgeführt werden, die 
einen leeren Raum und eine unveränderliche Materie fälſchlich voraus- 
fegen, fondern auf wirkliche Meine Theile, die in Wahrheit eriftiren (ad 
particulas veras, quales inveniuntur).‘‘ Nov. Org. II, 8. Bgl. ebend. I, 66. 


267 


fie fanden ihre Principien mehr durch einen divinatorifchen 
Blick als durch gründliche Unterſuchung. Ohne fichere Er- 
fahrungsmethobe waren fie angewiefen anf den bloßen Berftand. 
Sie hatten Feine falfche Methode, fondern gar feine. Und 
was kann ber ſich felbft überlaffene Verftand, da er zu wiffen 
nicht vermag, anders als dichten? So erfcheint in Bacon’s 
Augen die äftefte Weisheit zwar ihrem Inhalte nach der Natur 
und Wahrheit verwandt, am nüchften unter allen Philoſophien 
der Bergangenheit, aber ihrer Form nach mehr als Dichtung, 
denn als Wiffenfchaft. Natur und Wahrheit find darin gegen- 
wärtig, nicht als deutliche Erkenntniß, gegründet auf Erfahrung, 
Sondern als Mythus und Erfindung des dichterifchen Verſtan⸗ 
des. Hier erblidt Bacon die Verwandtſchaft der griechifchen 
Phnfiologie und Mythologie, und unter diefem Gefichtspuntt 
entftebht feine Auffaffung von ber „Weisheit der Alten”. Die 
Phyſiologie erfcheint ihm als Dichtung, was fie in der That 
auch in dem älteften Zeitalter war, und bie Mythologie als 
Weisheit im Gewande der poetifhen Erzählung, d. 5. als Fabel, 
als Sinnbild der Ratur und ihrer Kräfte, der Menfchen und 
ihrer Sitten, denn and) die Dichtung ift ein Abbild der Wirk 
lichkeit. Darin alfo ftimmen die ältefte Dichtung und bie 
ältefte Weisheit überein, daß fie der einfahen Wahrheit, von 
der fie noch nicht durch falfche Verftandeswege abgelommen 
find, am nächſten ftehen und den Sinn der Natur, der fie er- 
füllt, auf bildliche Weife auslegen. Daher nahm Bacon die 
Mythen des Alterthums als Sinnbilder oder Parabeln und 
verfuchte eine folche allegorifche Erklärung in feiner Schrift 
über die Weisheit der Alten. Er gelangte, wie es fcheint, 
auf doppeltem Wege zu biefem Gefichtspunkte. Auf dem einen 
entdedte er in dem älteften Zeitalter naturwifjenfchaftliche 


268 


Mythen, Fabeln, die als bedentungsvolle Anfchauungen auf- 
treten und, ihrer dichterifhen Hülle entkleidet, fich in natur⸗ 
philofophifche Süße verwandeln, die feiner Denkart näher ver- 
wandt fcheinen als alle Shyfteme der fpätern Weisheit. Wenn 
aber in einigen Fällen die Mythen offenbar allegorifche Be⸗ 
deutung haben, warum nicht cbenfo gut in vielen andern? 
Wenn e8 naturwiffenfchaftliche Mythen giebt, warum foll es 
nicht ebenjo gut moralifche und politifche geben? So Tonnte 
Bacon ſchließen und demnach den Verſuch machen, die allegorifche 
Erflärung, die ihm in einigen Fällen durch die Natur der Sache 
geboten ſchien, auf viele ähnliche Fälle anzuwenden. Und nicht 
genug, daß er fo ſchließen konnte; nach der Entbedung, die 
er bei feiner Anfchauung der frühern Philofophie in dem älte- 
ften Zeitalter derfelben zu machen glaubte, mußte er fogar 
die allegorifche Erklärung der alten Dichtungen jeder andern 
vorziehen. Dazu zwang ihn außerdem der Geſichtspunkt, 
unter dem er die Poeſie als folche auffaßte. Dies ift der 
andere Weg, den wir meinen. ‘Der erfte führt in Weife der 
Induction von einer gefchichtlichen Thatfache zu einem Ariom, 
das Bacon verallgemeinert, indem er baffelbe auf viele Fälle 
‚anwendet; der andere filhrt in Weiſe der Deduction von einer 
allgemeinen Theorie zu einem Experiment, welches die voraus- 
geſetzte Theorie beftätigen und an einer Reihe von Fällen bei- 
fpielsweife geltend machen will. Beide treffen in einem Ziele 
zufammen, und diefes Ziel ift Bacon's Schrift „über die 
Weisheit der Alten”. Der kürzere von beiden Wegen, der in 
gerader Linie auf fein Ziel losſteuert, ift der zweite, der un⸗ 
mittelbar aus dem Gefichtspunfte der baconiſchen Poetik her- 
vorgeht. 














Siebentes Kapitel, 
Die baconiſche Philoſophie in ihrem Verhältniß zur Poeſie. 





J. 
Bacon's Portik. 


1. Philoſophie und Mythologie. 


Bei der kritiſchen Muſterung, die Bacon über die frühere 
Philoſophie hält, ſieht er ſich am äußerſten Ende derſelben 
der Poeſie gegenüber; der einzige Berührungspunkt, den ſeine 
Philoſophie mit der Vergangenheit gemein hat, liegt in dem 
älteſten Zeitalter, wo die Wiſſenſchaft noch eins war mit der 
Dichtung. Am weiteſten entfernt iſt der baconiſche Geiſt von 
dem ariſtoteliſch⸗ſcholaſtiſchen, er nähert ſich in einer gewiſſen 
Rückſicht dem platoniſchen, er trifft am nächſten zuſammen 
mit dem demokritiſch⸗atomiſtiſchen: hier begegnen ſich die diver⸗ 
girenden Richtungen der baconiſchen und der frühern Philofo- 
phie; fie convergiren ganz in der Nähe der Mythologie, in 
ben dichterifchen Zeitalter der Wiffenfchaft, wo Philoſophie 
und Poefie noch unmittelbar miteinander verlehrten. Bacon's 
Interefje an den Mythen der Alten ift auf die VBerwandtfchaft 
geftüßt, die er mit dem frübeften Zeitalter ber Naturphilofo- 
phie empfindet, und feine Verſuche der Mythenerklärung Laffen 


270 


fih unmittelbar zu den Zügen rechnen, bie fein Verhältniß 
zur alten Philoſophie namentlich nach der pofitinen Seite er- 
leuchten. Daher feen wir unfern Weg aus dem vorigen Ab- 
fchnitt fort, wenn wir unferem Bhilofophen gleich von hier 
aus in das Gebiet feiner Mythenerklärung wenigftens fo weit 
folgen, um die Art und Richtung derſelben kennen zu lernen. 
Aus feinem Verhältniß zur Philofophbie der Alten folgt fein 
Verhältniß zu den Mythen, und aus diefem Iebteren läßt ſich 
der Standpunkt erkennen, den feine eigene Lehre zur Poeſie 
überhaupt einnimmt. Obwohl nun die Boetik eigentlich in 
dns enchllopädifche Hauptwerk gehört, jo wollen wir ſchon 
jeßt davon reden und bei der fpätern Darftellung feines zwei⸗ 
ten Hauptwerks nur das rein wiſſenſchaftliche Feld beachten. 
Es kommt dazu, daß die mythologiſchen Verſuche früher ſind, 
als die Ausführung der Enchklopädie, daß Bacon die Bei⸗ 
fpiele, die er bier gab, aus jenen fchöpfte, während auf ber 
andern Seite der Typus feiner Poetik fchon feftftanb, bevor 
er die Schrift über die Weisheit der Alten verfaßte. Sie 
fteht zwifchen dem Entwurf und der WMusführung des enchflo- 
pädiſchen Werks und ihre Verfuche können nicht blos, Sondern 
müſſen betrachtet werden als in doppelter Hinficht bemerfens- 
werthe DBeifpiele, denn fie erleuchten fowohl Bacon's PBhilo- 
ſophie gegenüber den Alten, als feine Poetik. 


2. Die Dichtung als Alfegorie. 


Wir wiffen, welche praftiche Ziele umfaffender Art Bacon 
der Philoſophie ſetzt, ihre Früchte follen Werke fein, welche 
die Erkenntniß in die Macht des Menfchen über die ‘Dinge 
verwandeln und diefe Herrfchaft erweitern; ber praftifche Gert 

s Toll die Welt erfinderifch umbilden, der theoretifche ſoll fie er- 














271 


fahrungsgemäß abbilden. Diefe abbildliche Darftellung der 
Welt ift Weltbefchreibung und Welterflärung, jene ift bie Ge- 
ichichte ber Natur und Menſchheit, diefe die Wiſſenſchaft, 
welche ertennt, was die Geſchichte berichtet; bie Geſchichte ge- 
hört dem Gedächtniß an, welches unfere Erfahrimgen fammelt 
und aufbewahrt; die Wiſſenſchaft ift das Wert der Vernunft, 
welche jene Erfahrungen durchdenkt und auf allgemeine Geſetze 
zurückführt. Aber außer Gedächtniß und Vernunft hat ber 
theovetiſche Menfchengeift noch ein anderes Vermögen: die Ein- 
bildungstraft oder Phantaſie. Es muß mithin au ein Abbild 
der Welt möglich fein durch die Phantafie, welches nicht rein 
factifch ift, wie das Abbild ber Welt im Gedächtniß, nicht 
rein gefegmäßtg, wie das Abbild der Welt in der Vernumft, 
fondern von beiden fi darin untericheidet, daß es nicht ge- 
funden wird, fondern erfunden. Wahrnehmung und Vers 
nunft follen bie treuen Spiegel fein, welche die Dinge reflec- 
tiren, ohne fie zu verändern, die Phantafie dagegen ift ein 
Zanberfpiegel, der die Dinge verändert, indem er fie abbilbet. 
Ste imnginirt das Abbild der Welt. Diejes erfundene Welt- 
abbild ijt Die Poeſie. Ihr gehört in dem Reiche bes theore- 
tiſchen oder abbildenden Geiftes die mittlere Provinz zwifchen 
Geſchichte and Wiſſenſchaft. 

In ihrem Verfahren tft die Poeſie den praltiſchen Geiſte 
verwandt, denn fie ift erfinderijch, aber ihr Zweck bleibt theo- 
retiſch, denn er beiteht in ber bloßen Daritellung der Welt. 
In der Art ihrer Weltdarftellung unterfcheidet fid) die Poeſie 
von der Wiſſenſchaft und Gefchichte, diefe nämlich müſſen die 
Welt daritellen, wie fie ift; die Poeſie dagegen darf fie dar- 
ftellen, wie das menſchliche Gemüth wünfcht, daß fie fein 
möchte; jene machen den menfchlichen Geift den ‘Dingen abä- 


2712 


quat, dieje die Dinge dem menſchlichen Geift. „Deshalb 
kann die Poeſie mit Necht als etwas Göttliches erfcheinen, 
weil fie die Abbilder der Dinge unferm Wunfche gemäß er- 
icheinen läßt und nicht unfern Geift den Dingen unterwirft, 
was Bernunft und Gefchichte verlangen.”*) Demnach ift 
unter dem baconischen Gefichtspunfte die Poefie das Abbild 
der Welt nicht blos in, fondern auch nach unferm Geifte: 
das Abbild der Welt, dargeftellt unter den Idolen der Phan- 
tafie. Alfo Hier erfcheint bie Poefie nur als Spiegel ber 
Welt, nicht als Spiegel der menfchlihen Seele, nur als 
Abbild der Gefchichte, nicht als Abbild des eigenen Gemüths. 
Es giebt mit andern Worten für Bacon feine lyriſche Poefie. 
Das folgt mit Nothwendigkeit aus feinem Standpunfte, der 
dem theoretifchen Geiſte nur Weltabbildung, der Poefte nur 
phantafiegemäße Weltabbildung zufchreibt. Bacon ſelbſt erklärt: 
„Satiren, Elegien, Epigramme, Oden und was zu diefer 
Gattung gehört, entfernen wir aus der Betrachtung der Poeſie 
und rechnen es zur Philofophie und Ahetorik.”**) Hier zeigt 
ſich ſchon die eigenthümliche Beſchränkung der baconifchen Poetik: 
ſie verneint die lyriſche Poeſie und iſt unvermögend, dieſelbe 
zu erklären. Damit überſieht ſie nicht blos eine ganze Welt 
der Poeſie, die exiſtirt, gleichviel mit welchem Namen man 
ſie bezeichnet, ſondern, was mehr iſt, ſie überſieht zugleich 
die unverfiegbare Duelle aller Dichtung, fie überſieht, was 
die menfchliche Phantafie erfinderifch macht und poetifch ſtimmt. 


*) De augm. scient. Lib. U, cp. 13. Op. p. 60. 

**) De augm. scient. Lib. II,cp. 13. — Per poesim autem hoc loco 
intelligimus non aliud quam historiam confictam sive fabulam. Carmen 
enim stili quidam character est atque ad artificia orationis pertinet. 
I, cp. 2. Op. p. 48. 














273 


Die Iyrifche Poefie ift der Ausdrud der Gemüthsbewegungen 
und Empfindimgen, welde die Phantaſie infpiriven, zum 
Dichten fähig und_bedürftig machen, die poetifche und Tünft- 
leriſche Thätigleit überhaupt bedingen unb hervortreiben. Es 
giebt Feine Kunftfhöpfung ohne Phantafie, es giebt Teine 
ichaffende Phantafie, ohne ein im Innerſten bewegtes Gemüth, 
und die lyriſche Poeſie jagt, was das bewegte Gemüth Ieidet. 
Wer die Poefie fo erflärt, daß er die lyriſche ausschließt, der 
denkt fich Poefie und Kunft überhaupt ohne ſchaffende Phantaſie 
und Gemüthsbewegung; es ift alfo natürlich, daß er von bei- 
den nichts übrig behält als die Profa. ‘Dies wird fich deut- 
fih genug an Bacon zeigen. Seine Begriffe von Poefie ſind 
weit proſaiſcher als er ſelbſt. Er beginnt damit, daß er das 
Urpoetiſche in die Rhetorik, d. h. in die Proſa verweiſt: die 
lyriſche Poefie; er hört damit auf, daß er das Urprofaifche 
als den höchſten Grad des Voetifchen Hinftellt: die allegorifche 
Poeſie. In feinen Augen kehrt fi) die Poeſie geradezu um. 
Wo fie aus ihrer natürlichen und erften Duelle fhöpft, da 
erfcheint fie ihm gar nicht; wo fie im Begriff ift, ſich in 
Proſa zu verwandeln, und nur ihre Hülle noch nit ganz 
abgelegt Hat, da erfcheint fie ihm auf dem Höhepunkte ihrer 
Würde und Kraft. Denn was bleibt der Poefte übrig, wenn 
jie die lyriſche Gattung ausfchließt? Nichts als die Abbildung 
der Gefchichte, die fie darftellt in Form der Erzählung als 
vergangene Begebenbeit, in der Form des Dramas als gegen- 
wärtige Handlung, in der Form des Sinnbildes als bedeut- 
ſamen Vorgang. Das poetische Abbild der Geſchichte ift ent- 
weder Erzählung oder ‘Drama oder Sinnbild, daher die 
Gattungen der Poefie epifh, dramatiih, parabolifh, Die 
epifche Voefie ftelit die Gefchichte dar als vergangen, d. h. fie 
Fiſcher, Bacon. 18 


— 








274 


erzählt, die dramatifche vergegenwärtigt die Geſchichte, d. 6. 
fie giebt fie al8 Handlung, die parabolifche läßt fie als Bild 
einer Wahrheit erſcheinen, d. h. fie verfinnbildlicht. Die erite 
ift „historiae imitatio“, die zweite „historia spectabilis“, 
die dritte „historia cum typo“.*) 

Die epifche Poefje grenzt an die Geſchichte, die parabo- 
liſche an die Wiffenfchaft; jene ift Darftellung, diefe Deutung 
der Gefchichte; die Darftellung feßt die Ueberlieferung voraus, 
die Deutung ftrebt auf die Erflärung zu. Da nun Bacon’s 
ganze Aufgabe dahin zielt, aus der Gefchichte (Weltbefchrei- 
bung) Wiſſenſchaft (Welterllärung) zu machen, fo begreift 
fih, wie ihn unter allen Gattungen der Poefie am meiften 
diejenige anzieht, die der Wiſſenſchaft zunächſt fteht. Die 
parabolifche ift ihm die wichtigfte: „fie überragt die an- 
dern“.**) Sie feifelt die Phantafie durch ihre Bilder und 
reizt den Verſtand durch deren Bedeutſamkeit. So bildet fie 
gleichſam die Einleitung oder Vorfchule, den eriten, Findlichen, 
phantafiegemäßen Ausdrud der Wiffenfchaft; ihr didaktifcher 
Werth ift in Bacon’s Augen zugleich der poetifche. Nicht das 
Intereffe für die Kunft, ſondern für die Wiffenjchaft fteigert 
bier die Bedeutung der allegorifchen Poefie, fie ericheint um 
jo viel poetiſcher, als fie nügliher und der Wiſſenſchaft 
dienftbarer iſt als die andern poetifchen Gattungen; fie ver- 
wandelt die Geſchichte in ein Sinnbild, in einen Typus, ent- 
weder um Geheimniffe zu verhülfen oder um Wahrheiten zu 
verfinnlihen: im erften Fall ift fie myſtiſch, im zweiten didak⸗ 
tisch; die myſtiſche Symbolik dient der Religion, die didaktifche 


*) De augm. scient. II, cp. 13. Op. p. 59. 
**) At pocsis parabolica inter reliquas eminet. Op. p. 60. 


275 


der Wiſſenſchaft. Die heiligen Geheimniffe der Religion wer- 
den durch Sinnbilder dem Auge der Menge ebenfo verhüllt, 
al8 die Wahrheiten der Natur dadurch faßlich und allen zu- 
gänglich gemacht werden. Menenius Agrippa überzeugte durch 
feine Fabel das römifhe Voll von der Gerechtigkeit der 
politifchen Standesverhältniffee Aehnlich redete auch die 
Wiffenfchaft in dem älteften Zeitalter zu den Menfchen. 
„Denn damals waren die Schlußfolgerungen der Bernunft 
neu und ungewohnt, darum mußte man die VBernunftwahrhet- 
ten dur Sinnbilder und Beifpiele den Menſchen anfchaulich 
machen. Deshalb war damals alles voll von Fabeln, Para⸗ 
bein, Räthſeln und Gleichniſſen. Daher kamen die finnbilb- 
lichen Körper des Pythagoras, die Fabeln des Aeſop und was 
dergleichen mehr if. Selbft die Sprüche der alten Weifen 
redeten durch Gleichniſſe. Wie die Hieroglyphen älter find 
als die Buchſtaben, fo find die Parabeln älter als die Be— 
weife: fie find die durchfichtigften Argumente und die wahrften 
Beiſpiele.“*) 

Das iſt der Geſichtspunkt, unter dem Bacon die Sagen 
des Alterthums auffaßt. Dieſe Götter- und Wundergeſchich⸗ 
ten ſind Abbilder der Welt (der Natur und Menſchheit) durch 
die Phantafie. Aber ſie ſind nicht natürliche Abbilder: was 
können ſie anders ſein als bedeutſame? Sie ſind weder epiſch 
noch dramatiſch: was können ſie anders ſein als paraboliſch? 
Sie find weniger Abbilder als Sinnbilder der Welt, deren 
die älteſte Weisheit bedarf, um ihre Wahrheiten einleuchtend 
zu machen. Die Wiſſenſchaft hat das Intereſſe, den Sinn zu 


*) De augm. scient. II, cp. 13. Op. p. 60. Bgl. De sap. vet. 
Praef. Op. p. 1248. 


18* 


276 


erklären, ben jene Sagen bildlich, gleihfam hieroglyphiſch 
ausdrüden; diefe Mythenerklärung, die nur eine allegorifche 
fein kann, rechnet Bacon unter die zu löſenden Aufgaben der 
Wiſſenſchaft und macht felbft den Verſuch einer Löfung. „Da 
alle bisherigen Erflärungsverfuche jener parabolifchen Dichtung 
ungenügend find, fo müffen wir eine Philofophie, die jenen 
alten Barabeln nachforfcht, unter die wiffenfchaftlicden Auf- 
gaben rechnen. Zu biefem Zwede wollen wir felbft das ein- 
oder andere Beiſpiel angeben, denn für alle Arbeiten, die wir 
unternommen wünſchen, werben wir ftetS entweder Vorſchrif⸗ 
ten oder Beifpiele aufftellen, damit es nicht jcheine, als ob 
wir nur oberflächlich die Sache geftreift und wie die Auguren 
die Gegend nur mit geiftigem Auge meſſen, aber nicht ver: 
ftehen, felbft die Wege zu betreten. Was num die Poefie be- 
trifft, fo ift die Erflärung der alten Parabeln das Einzige, 
was uns in diefem Zweige wünfchenswerth erfchienen.”*) 

So führt feine Poetik ihn geraden Weges zu feiner Schrift 
über die Weisheit der Alten, Hier wird an einer Reihe von 
Beifpielen die Löfung der bezeichneten Aufgaben vorbildlid) 
gezeigt. Und zu diefer Löfung bietet die baconifche Poetif 
nicht blos Gefihtspunft und Vorſchrift, ſondern zugleich 
eremplarifche Fälle, die ſchon die Schrift über die Weisheit 
der Alten enthält. Die Sagen vom Pan, Perfeus und Dio- 
nyſus dienen gleihfam als prärogative Inftanzen, um an der 
erften das Sinnbild einer kosmischen oder naturphilofophiichen, 
an der zweiten das einer politifchen, an ber dritten das einer 
moralifhen Wahrheit nachzumweijen.**) 


*) De augm. scient. II, cp. 13. Op. p. 61. 
**) Ebend. II, cp. 13. Bgl. De sap. vet. VI, VII, XXIV. 

















277 


3. Bacon's Erflärmgöert. 


Um zu fehen, wie Bacon in feiner Auflöfung der My- 
then verfährt, werden einige Beiſpiele genügen. Das widhtigfte 
fei das erfte. Berknüpfen wir den Standpunkt feiner Poetik 
mit dem beftändigen Hinblid auf die alte Naturphilofophie, 
fo konnte ihm nichts gelegener fein als wenn er denfelben 
Mythus im Munde der Dichter und Philofophen zugleich an- 
traf und .fand, daß beide in verwandter Abficht fich deſſelben 
Sinnbildes bedienten. Kein Mythus feffelte feine Aufmerkfam- 
feit mehr als der fosmogonifche, aus defjen Bildern die alt- 
poetifchen und altphilofophifchen Vorftellungen von dem Urftoff 
und der Urkraft der Dinge hervorleuchten. In der Fabel vom 
Eros fuchte er die ihm verwandten Züge der Kehren des Par- 
menides, ZTelefius und in&befondere des Demokrit. Diefer 
fosmogonifche Eros ift nicht der Sohn der Afrodite, fondern 
der ältefte der Götter, der Bildner der Welt, die geftaltende Ur⸗ 
kraft, hervorgegangen aus dem Ei, das felbft aus den Schoße 
der Nacht hervorging. Als Urweſen ift er ohne Eltern, ohne 
Urfadhe, d. h. unerkennbar und dunfel. Die Ietten Urfachen 
aller Dinge find dunkel. Mit Recht läßt der Mythns das 
Ei, aus dem er hervorgeht, im Schoße der Nacht reifen 
und die Nacht darüber brüten. Aber das Ei witd aus der 
Nacht geboren, ans ihm der Eros, er tritt hervor und fommt 
zum Borfchein. Die Geburt ift eine Ausſchließung. Auch 
die Erkenntniß gefchieht durch Ausfchließung, durch negative 
Inftanzen, die das Verborgene enthülfen. Jetzt vergleicht fich 
die Geburt des Eros mit der baconifhen Methode, die Ver: 
gleihungspunkte find fo willkürlich als wankend, fie fpringen 
von dem Erkenntnißobject auf die Erlenntnißart, von der Na- 


278 


tur der Dinge auf die der Erfahrung; in der baconifchen 
Methode find die negativen Inftanzen die Feuerprobe der Er- 
Ienntniß, der Weg zum Licht; in der Vergleihung mit dein 
Mythus erjcheinen fie als der Weg dur die Nacht, freilich 
folange wir das Licht ſuchen, find wir noch nicht im Licht, 
alſo noh im Dunkel. Bis die Ausſchließung vollendet ift, 
fagt Bacon an diefer Stelle, folange find wir nod) nicht im 
Klaren, daher der Beweis durch Ausſchließung der Inftanzen, 
bevor er jenes Ziel erreicht Hat, noch keine Erkenntniß ift, fon- 
dern gleihfam Naht. So fpielt Bacon mit feiner Methode, um 
fie dem Bilde anzupaffen, weldyes darüber ganz aus den Augen 
verloren wird. Denn der Eros, um wieder in den Mythus 
zurückzukommen, ift ber Urftoff mit feinen Kräften, und nun 
wird von dem Mythus gerühmt, daß er den Urftoff nicht als 
die unbeſtimmte und abftracte, form⸗ und geftaltlofe Materie 
einführt, ſondern als durchgängig in allen ihren heilen ge- 
ftaltet und bewegt. Da find wir bei den Atomen des Demo⸗ 
frit, bei dem Gegenfat diejer Lehre gegen die platoniſche und 
ariftotelifhe, an derfelben Stelle, die wir im vorigen Ab- 
ſchnitt ausführlich kennen gelernt.*) . 

In allen einunddreißig Fällen, woran fi Bacon in feiner 
Schrift über die Weisheit der Alten verſucht hat, finden wir 
diefelbe Erflärungsart. Wo er der Sache näher fommt, da 
ift e8 dem Mythus zu danken, nicht ihm. Er febt überall 


— — — — — 


*) De principiis atque originibus secundum fabulas Cupidinis 
et coeli sive Parmenidis et Telesii et praecipue Democriti philo- 
sophia tractata in fabula de Cupidine. Op. p. 650—53. Bgl. De 
sap. vet. XII (coelum sive origines), XVII (cupido sive atomus). 
S. vor. Cap. S. 362-—68. 














279 


die allegorifche Beichaffenheit der Mythen voraus, ohne fich 
im mindeften um ihre Geſchichte zu kümmern, ohne ihren Ur: 
fprung, ihre veligiöfen, volfsthümlichen, Localen Elemente zu 
unterfuchen, die frühern Bildungen von den ſpätern, bie epi⸗ 
chen Beſtandtheile von den allegorifchen zu fondern. Cr 
nimmt fie nicht als Mythen, fondern nur al8 PBarabeln, als 
Gleichniſſe, bei denen das Bild gegeben, der Sinn zu finden 
ift; er verwandelt die Barabel in ein Gleichniß und über» 
ichreibt jede einzelne mit der Gleichung, die er hineinlegt und 
ausführt: „cupido sive atomus”. Er allein ift bier der 
allegorifche Dichter und ift in feiner Erklärung ſo wenig ein 
Miytholeg als Aejop ein Zoolog war. Wenn wir die My— 
thendidhtung mit Naturproducten vergleichen dürfen und uns 
jest daran erinnern, wie eifrig Bacon verlangt hat, daß die 
Bildungen der Natur in ihren Eigenthümtlichleiten aufgefaßt und 
erflärt werden, alle vorgefaßte Meinungen, alle menfchlichen 
Analogien aus unſerer Betrachtungsweife entfernt werden 
folfen, fo ift feine Mythendichtung eines der ftärfften Beiſpiele 
des Gegentheils. Viel Zieffinn wird Hier mit vielem Leicht- 
finn fruchtlos verjchwendet, ımd es wimmelt von verfehlten 
Analogien, vor denen das baconifhe Organon felbft gewarnt 
hatte. Statt vieler Beifpiele wollen wir eines anführen. 
Der Gott Pan gilt ihm als Sinnbild der Natur. Wie ihm 
die Natur erfcheint, jo muß fie fich in jenem Bilde verfinn- 
fihen, in biefer Abficht muß das Altertum den Panmythus 
gebichtet haben. Pan vepräfentirt den Inbegriff der irdiſchen 
Dinge, die der VBergänglichleit anheimfallen, denen die Natur 
eine beftimmte Lebensdauer vorfchreibt: darum find die Parzen 
die Schweftern des Gottes; bie Hörner des Pan fpigen ſich 
nach oben zu: ebenfo die Natur, die von den Individuen zu 


280 


den Arten, von ben Arten zu den Gattungen emporfteigt und 
fo dem Bau einer Pyramide gleiht, die fih in den Pan⸗ 
hörnern verfinnbildlicht; diefe berühren den Himmel: die 
höchſten Gattungsbegriffe führen aus der Phyſik zur Meta- 
phyſik und zur natürlichen Theologie; der Körper des Pan 
ift behaart: diefe Haare find ein Symbol ber Lichtftrahlen, 
die von den leuchtenden Körpern ausgehen; der Baukörper ift 
doppelförmig, gemifcht aus Menfch und Thier, aus der höhern 
und niedern Gattung: daſſelbe gilt von allen natürlichen 
Bildungen, überall zeigen fi Webergangsformen von der 
niedern Stufe zur höhern, Mifhungen aus beiden. Die 
Ziegenfüße des Gottes find ein Symbol der aufjteigenden 
Weltordnung, die Panflöte ein Sinnbild der Weltharmonie, 
die fieben Rohre bedeuten die fieben Planeten; der gekrümmte 
Stab ift das bedeutfame Zeichen des verfchlungenen Weltlaufs, 
endlich die Echo, die fi dem Pan vermählt, veranfchaulicht 
die Wiffenfchaft, die das Echo der Welt, deren Abbild und 
Wiederhall fein foll. 

Es kann nicht fehlen, daß fi hier und da, wo felbft die 
erfünftelte Erklärung den Gegenftand nit ganz verfehlen 
fonnte, auch finnvolle und treffende Züge finden. Es giebt 
gewiffe Mythen, denen Charakterzüge einer menſchlichen Ges 
müthsart aufgeprägt find, und die als folhe Typen unfere 
Einbildungsfraft feffeln. So ift der Prometheus gleihfam 
ein Urtypus des im Selbftgefühl eigener unabhängiger Kraft 
aufftrebenden Menfchengeiftes. In diefem Vorbild haben fd 
Goethe und Bacon gefpiegelt. Diefer fieht in dem Zitanen 
der Sage den erfinderifhen Menfchengeift, der die Natur 
feinen Zwecken unterwirft, die menfchliche Herrichaft begründet, 
die mienfchliche Kraft ins Grenzenlofe fteigert und gegen die 





281 


Götter aufrihtet.*) Wie er im Prometheus das Vorbild des 
emporftrebenden, durch Erfindung mächtigen Menjchengeiftes 
fieht, fo erfcheint ihm Narciß als Typus der menfchlichen 
Eigenliebe. Er benugt die Dichtung, um mit deren Zügen 
ben Charakter der Selbtliebe zu fchildern, und wie fehr er 
auch die Züge bes Dichters misbeutet, wie fremd feine Er- 
Härung dem Charakter des Mythus ift, fo fehr beweift fie 
feine eigene feine und finnige Menſchenkenntniß. Den Dichter 
hat er verfehlt, aber den Charakter ber Eigenliebe fo menjchen- 
fundig getroffen, daß wir die Schilderung mit jeinen Worten 
wiederholen, „Narciß, fo erzählt man, war wunderbar von 
Geftalt und Schönheit, aber zugleich erfüllt von unmäßigem 
Stolz und unerträglicer Berfhmähung. Selbitgefällig, wie 
er war, verachtete er die Andern und Iebte einfam im Walde 
und auf der Jagd mit wenigen Gefährten, denen er allcs 
war. Sehnfüchtig verfolgte ihn überall die Nymphe Echo. 
So kam er einft auf feinen einfamen Wanderungen zu einer 
Haren Duelle, und hier lagerte er fi) am heißen Mittage. 
Kaum hatte er im Wafferfpiegel fein eigenes Bild erblickt, fo 
verfant er in deſſen Betrachtung, ftaunte fih an, umd ganz 
und gar in diefe Anjchauung vertieft und davon Hingeriffen, 
fonnte ihn nichts von diefem Bilde entfernen. An die Stelle 
feitgebannt, erftarrte er und verwandelte ſich zulekt in dic 
Blume Narciß, die im eriten Frühlinge blüht und den unter: 
irdifhen Göttern, dem Pluto, der PBroferpina und den Eu- 
meniden geweiht iſt. Diefe Babel fcheint die Gemüthsver⸗ 
faffung und die Schidfale ſolcher zu veranſchaulichen, die 
alles, was fie find, von der Natur allein haben, ohne eigene 


*) De sap. vet. XXVI (Prometheus = status hominis). 


282 


Anftrengung, jener Lieblinge der Natur, die fih in Selbftliebe 
aufföfen und gleihfam verzehren. Diefe Gemüthsart bringt 
es mit fih, daB folche Deenfchen felten im öffentlichen Leben 
erjcheinen und ſich mit den bürgerlichen Gefchäften einlaffen. 
Denn im öffentlichen Leben müſſen fie manche VBernadläffigung, 
manche Geringfhätung erfahren, die ihr Selbftgefühl drüden 
und fchmerzen würde. Darum leben fie lieber einfam, für 
ih, gleihfam im Schatten, nur mit fehr wenigen auserwähl- 
ten Gefährten, und nur mit foldhen, von denen fie verehrt 
und bewundert werben, die ihnen echoartig in allem, was fie 
fagen, beiftimmen und gleihfam ihr Wiederhall find. Sind 
fie nun, wie es nicht anders fein kann, von diefer Lebensart 
entfräftet, ausgehöhlt und von Selbftbewunderung verzehrt, 
dann ergreift fie eine unglaubliche Thatloſigkeit und Trägheit, 
fodaß fie ganz und gar erftarren und alles Feuer und allen 
Lebensmuih einbüßen. Sinnig laffen ſich diefe Gemüther mit 
den Srühlingsblumen vergleichen; im erſten Jugendalter blühen 
fie und werben von aller Welt bewundert, im reifen Alter 
täuſchen und vereiteln fie die Hoffnungen, die man auf fie 
gejett Hatte. Wie die Frühlingsblumen find diefe reichbegab- 
ten Naturen den unterirdifchen Göttern geweiht, denn fie ver- 
Ihwinden fpurlos, ohne der Welt etwas genüßt zu haben. 
Denn was feine Frucht von ſich giebt, fondern wie ein Schiff 
im Meere vorübergleitet und verfintt, das pflegten die Alten 
den Schatten und unterirdifchen Göttern zu weihen.“*) 
Man ficht aus diefem Beifpiele, das wir gefliffentlic) 
gewählt haben, wie rüdfichtslos Bacon mit den Zügen der 
Dichtung umgeht. Sein Narciß ift ein anderer als der des 


— — — — — 


*) De sap. vet. IV. (Narcissus — philautia.) 








283 


Ovid. Gerade der dichterifche Hauptzug erfcheint bei Bacon 
in fein Gegentheil verkehrt: in der Dichtung verſchmäht Narciß 
die Echo, die ihn verfolgt, in der baconifchen Erklärung fucht 
er die Echo als die einzige Gefellfchaft, die er verträgt. Aus 
der ſehnſüchtigen Nymphe macht Bacon Parafiten und aus 
dem Narciß einen allgemeinen menfchlihen Typus, den er 
treffend und meifterhaft zeichnet. 


II. 
Das griechiſche und römiſche Alterthum. 
Bacon und Shalfpeare. 


Für die gefchichtliche und religiöfe Grundlage der Mytho⸗ 
logie hat Bacon weder Siun noch Maßſtab; er nimmt die 
Mythen als Iuftige Gebilde einer willfürlichen Phantafie, als 
poetifche Xehrbegriffe, die er nad der Form feines Geiftes 
erflärt und verwandelt. Aber die Mythologie bildet die 
Grundlage des Alterthums. Sowenig er diefe erkennt, fo- 
wenig ift er im Stande, die Welt zu beurtheilen und zu ver: 
jtehen, bie fi auf jener Grundlage erhebt. Er urtheilt über 
das Alterthum mit fremdem Geifte Ihm fehlt der Sinn 
für deſſen gefchichtliche Eigenthümlichleit, der congeniale Ber: 
itand für das Antike, der Hier, wenn irgendwo, nöthig ift zu 
einer eindringenden Erkenntniß. Diefer Mangel bleibt in 
der gefammten von Bacon begründeten Aufflärung. Auch die 
deuskche Aufflärung hat an diefem Mangel gelitten und ſich 
duch Windelman und deifen Nachfolger davon befreit; diefe 
Ergänzung iſt auf der englffdh-franzöfifchen Seite ausgeblieben, 
und es fcheint, als ob dem Geifte, der hier die Herrichaft 


284 


führt, dafür die Anlage fehlt, die durch Feine empirifche 
Kenntniß erworben, gefchweige erfegt werden Tann; denn fie 
berubt auf einer Verwandtſchaft, die unter den denkenden Völ⸗ 
fern der neuen Welt das deutfdhe auszeichnet, vielleicht zum 
Erſatz für manche andere Mängel. Wir reden hier von dem 
griechiſchen Alterthum, welches Bacon von dem römtfchen 
nicht genug zu unterfcheiden wußte; diefer Unterfchied aber ift 
fo groß, daß er kanm den gemeinfamen Namen buldet. ‘Das 
claſſiſche Altertfum im fpecififhen Sinn ift das griechifche 
auf homerifher Grundlage. Bacon dagegen, wie es fein 
Nationalgeift und fein Zeitalter mit fi) brachte, erblidte 
das grjechifche Altertfum nur durch das Medium des römi- 
(hen. Er Hatte jelbft in feiner Deuf- und Empfindungsweiſe 
etwas dem römischen Geifte VBerwandtes, der ſich zum griechi⸗ 
Ichen verhält wie die Profa zur Poeſie. Wie die griechifche 
Mythendichtung im vömifchen Verftande erfchien, ähnlich er⸗ 
Scheint fie in dem baconifchen. Die Römer erlärten die alten 
Dichtungen in jener allegorifhen Weife, die bei den fpätern 
Philofophen nad) Ariftoteles, namentlich bei den Stoifern 
verbreitet war und befonders durch Chryſipp geltend gemacht 
wurde. Diefe fpätern Philofophen waren ſchon auf dem 
Vebergange aus der griehifhen Welt in die römifhe. So 
fehr fih Bacon in der Vorrede feiner Schrift über die Weis- 
heit der Alten gegen die Stoifer, vorzüglid gegen Chryſipp 
zu verwahren fucht, fo wenig bat er ein Recht, ihre Mythen—⸗ 
erklärung für eitler und willfürlicher zu halten als die feinige. 
Das ganze Zeitalter, in dem er Ichte, Tannte das griechifche 
Alterthum nur im Geifte des römischen, mit diefem fympa- 
thifirte der englifche Nationalgeift 'vermöge feiner Weltſtellung 
und die baconifche Denkweife felbft. Zwiſchen dein römischen 








285 


und baconifchen Geifte Liegt die Verwandtſchaft in dem über- 
wiegend praltifchen Sinn, der alles unter dem Gefichtspunfte 
bes menſchlichen Nutzens betrachtet und defien letter und 
größter Zweck fein anderer ift als die Vermehrung der menſch⸗ 
lihen Herrſchaft. Man darf diefe Parallele durch einige 
Punkte verfolgen. Die Römer begehren die Herrichaft über 
die Völker, Bacon die Herrfchaft über die Natur, beide brau- 
hen als Mittel die Erfindung: bei den Römern ift diefes 
Mittel die militärifche, bei Bacon die phyfilalifche Erfindung. 
Was dort die fiegreichen Kriege, das find hier die flegreichen 
Erperimente. Um ihren Kriegen einen fihern Hintergrund 
zu geben, finden die Römer die bürgerlichen Geſetze, welche 
die innern Nechtszuftände befeftigen und regeln; um feine &r- 
perimente auf eine fichere Baſis zu ftügen, ſucht Bacon die 
natärlichen Gefeße, welche die innern Bedingungen auf- 
ftellen, unter denen die Erperimente gelingen. Und bei beiden 
macht die Erfahrung die Richtſchnur, wonach die Gefeße ge: 
bildet werden, dort in politifchem, hier in naturwiffenfchaft- 
lihem Verſtande. Praktiſche Weltzwecke beftimmen bie Rich— 
tung des römifhen und des baconiſchen Geiſtes und erzeugen 
in beiden eine gewiffe Verwandjſchaft der Denkweiſe. Unter 
dem Geſichtspunkte des praktiſchen Nutzens, der von ihren 
nationalen und politiſchen Zwecken abhing, haben ſich die 
Römer die griechiſche Götterwelt angeeignet, fie haben fie 
bürgerlich gemacht und die Bhantafie daraus vertrieben. ‘Darum 
neigte fi der römifche Verftand von felbft zur allegoriſchen 
Erklärung der Mythen, wodurd) die naive Dichtung zu einer 
Sache des reflectirenden Verftandes gemacht und aus ber freien 
Schöpfung der Phantafie in ein Mittel für didaktifche oder 
andere Zwecke verwandelt wird. 'Weberhaupt ift die allegorifche 


286 


Erklärung poetifcher Werke erft möglich mit der Trage: was 
will die Dihtung, wozu dient fie? Auf dieſe Frage ift die 
alfegorifche Erflärung eine denfbare Antwort. Die Antwort 
ist fo profaifch und dem Geifte der Poeſie fremd als die Frage. 
Die Allegorie felbft dient dem Künftler, wo er fie braucht, 
nie zum Zwed, fondern nur als Mittel, fie ift nie fein Ob- 
ject, fondern ftets Inftrument, und er braudt fie nur da, 
wo er fein Object nicht anders als mit ihrer Hülfe ausdrüden 
kann. Sie tft in der Poefie, wie überhaupt in der Kunft, 
eine Hülfsconftruction, die allemal einen Mangel beweift ent- 
weder in den natürlichen Mitteln der Kunft oder in denen 
des Künftlere. So läßt fi) die Poeſie erft dann allegorifch 
erflären, wenn man diefe felbft fo betrachtet als fie die Alle- 
gorie: nicht als Zweck, fondern als Mittel für auswärtige 
Zwecke. Das war die römische Auffaffungsweife gegenüber 
den Schöpfungen der griechifchen Phantafie, und damit ftimmte 
die baconifche ‘überein. 

Diefelbe VBerwandtfchaft mit dem römifchen Geiſte, dies 
jelde Fremdheit gegenüber dem griechifchen finden wir in 
Bacon’s größtem Zeitgenoffen wieder, deſſen PBhantafie einen 
fo weiten und umfafjenden Gefichtsfreis beherrichte als Bacon's 
Verftand. Wie konnte der griehifchen Poeſie gegenüber dem 
Verſtande eines Bacon gelingen, was der gewaltigen Phantafie 
eines Shakſpeare nicht möglih war? Denn in Shal- 
fpeare ftellte fi der Phantafie des griechifchen Alterthums 
eine gleichartige und ebenbürtige Kraft gegenüber, und nad 
dem alten Spruche follte doch das Gleiche durch das Gleiche 
am erjten erfannt werden. Aber das Zeitalter, der National- 
geijt, mit einem Worte alle die Mächte, welche den Genius 
eines Menſchen ausmachen, und denen unter allen das Genie 





287 


felbft am wenigften widerftehen Tann, ſetzten hier die undurch⸗ 
dringliche Schranke. Sie war dem Dichter fo undurddring- 
lich als dem Philofophen. Shakſpeare vermochte fowenig 
griechifche Charaktere darzuftellen, als Bacon die griecdhifche 
Boefie zu erflären. Wie Bacon hatte Shakſpeare etwas Römi- 
fches in feinem Geift, nichts dem Griechifchen Verwandtes. Die 
Soriolane und Brutus, die Cäfar und Antonius wußte ſich 
Shaffpeare anzueiguen: er traf die römifchen Helden des Plutardh, 
nicht die griedhifchen des Homer. Die legtern konnte er nur 
parodiren, aber feine Parodie war nicht zutreffend, fowenig zu⸗ 
treffend als Bacon’s Erklärungen der Mythen. Es müſſen 
verblendete Kritiker fein, die fich überreden können, die Helden 
ber Ilias feien in den Caricaturen von Troilus und Ereffida 
übertroffen; dieſe Parodie fonnte nicht zutreffend fein, weil fie 
von bornherein poetifch unmöglich war. Schon der Verſuch, 
den Homer zu parodiren, beweift, daß man ihm fremd ift. 
Denn was fich nie parodiren läßt, ift das Einfache und Naive, 
das in Homer feinen ewigen und unnachahmlichen Aus- 
drud gefunden! Ebenſo gut Könnte man Caricaturen machen 
auf die Statuen des Phidias! Wo die dichtende Phantafie 
nie aufhört, einfach und naiv zu fein, wo ſie ſich nie verunftaltet 
durch Ziererei oder Unnatur, da ift das geweihte Land ber 
Voefie, in dem der Parodiſt feine Stelle findet. Dagegen 
läßt fi eine Parodie denten, wo fi der Mangel an Ein- 
fachheit und Natürlichkeit Fühlbar macht, ja fie kann hier als 
poetifches Bedürfniß empfunden werden. So konnte Euripides, 
der oft genug weder einfach noch naiv war, parodirt werben, 
und Ariftophanes bat gezeigt, wie treffend, Selbft Aeſchylus 
der nicht immer ebenfo einfach als groß blieb, Tonnte nicht ganz 
der parodirenden Kritit entgehen. Aber Homer ift ſicher! 


288 


Ihn parodiren heißt, ihn verfennen und fo weit außer feiner 
Tragweite ftehen, daß man nichts mehr von der Wahrheit und 
dem Zauber homerifcher Dichtung empfindet. Hier fanden 
Shalfpeare und Bacon. Die Phantafie Homer’s und was 
durch diefe Phantafie angefchaut und empfunden fein will, blieb 
ihnen fremd, und das war nit weniger als das griechiſch⸗ 
claſſiſche Alterthum. Man kann den Ariftoteles nicht verftehen 
ohne den Plato, und ich behaupte, man kann die platonifche 
Ideenwelt nicht mit verwandten Geifte auſchauen, wenn mar 
nicht vorher mit verwandtem Geifte die homerifche Götterwelt 
empfunden bat. Ic rede von der Form des platonifchen 
Geiſtes, nicht von feinen Objecten; der homerifche Glaube 
(dogmatisch genommen) war freilich nicht der platonifdhe, fo- 
wenig als der des Phidias. Aber diefe dogmatifchen oder 
logiſchen Differenzen find weit geringer al8 die formale und 
äfthetifche Bermandtichaft. Die Eonceptionen Plato's find von 
homeriſcher Abkunft. 

Dieſen Mangel geſchichtlicher Weltanſchauung theilt Bacon 
mit Shakſpeare neben fo vielen Vorzügen, die fie gemein haben. 
In die Parallele beider, welche Gerpinus in der Schlußbe- 
tradhtung feines „Shaffpeare” mit der ihm eigenthümlichen 
Kunft der Combination gezogen uud durch eine Reihe treffen- 
der Punkte durchgeführt Hat, gehört auch die ähnliche Stellung 
beider zum Altertum, ihre Verwandtſchaft mit dem römifchen 
Geifte, ihre Fremdheit gegenüber dem griecdhifchen.*) Beide 
hatten in eminenter Welle den Sinn für Menſchenkenntniß, 
der das Intereffe am praftifchen Dienfchenleben und an ber 
geſchichtlichen Wirklichkeit fowohl vorausfest als hervorruft. 


*) Shafipeare von Gervinus. Bd. IV, ©. 343 fig. 





289 


Dieſem Intereſſe entſprach der Schauplatz, auf dem ſich die 
römiſchen Charaktere bewegten. Hier begegneten ſich Bacon 
und Shakſpeare, in dem Intereſſe an dieſen Objecten und in 
dem Verſuch, fie darzuſtellen und nachzubilden: dieſe Ueberein⸗ 
ſtimmung erleuchtet ihre Verwandtſchaft mehr als jedes andere 
Argument. Dabei findet ſich keine Spur einer wechſelſeitigen 
Berührung. Bacon erwähnt Shakſpeare nicht einmal da, wo 
er von der dramatiſchen Poeſie redet, er geht an dieſer mit 
einer allgemeinen und oberflächlichen Bemerkung vorüber, die 
weniger auf ſie ſelbſt als auf das Theater und deſſen Nutzen 
gerichtet iſt; und was ſein eigenes Zeitalter betrifft, ſo redet 
Bacon von dem moraliſchen Werth des Theaters mit großer 
Geringſchätzung. Aber man muß auch Bacon's Verwandt⸗ 
ſchaft mit Shakſpeare nicht in ſeinen äſthetiſchen Begriffen, 
ſondern in den moraliſchen und pſfychologiſchen aufſuchen. 
Seine äſthetiſchen Begriffe folgen zu ſehr dem ftofflichen In⸗ 
terefie und dem utiliftifchen Geſichtspunkt, um die Kunft als 
ſolche in ihrem jelbftändigen Werthe zu treffen. Indeſſen das 
hindert nicht, daß Bacon's Art, Menfchen zu beurtheilen und 
Charaktere aufzufaffen, mit Shakſpeare zufammentraf, daß er 
den Stoff der dramatiſchen Künſt, das menschliche Leben, ähn- 
lich vorstellte als der große Künftler ſelbſt, der diefen Stoff 
wie keiner zu geftalten wußte. Iſt nicht das unerjchöpfliche 
Thema der ſhakſpeareſchen Dichtung die Geſchichte und der 
naturgemäße Gang der menfchlichen Leidenschaften? Iſt nicht 
in ber Behandlung diefes Themas Shalfpeare unter allen 
Dichtern der größte und einzige? Und eben dieſes Thema 
jeßt "Bacon der Moralphilofophie zur vorzüglichen Aufgabe. 
Er tadelt den Ariftoteles, daß er die Affecte nicht in der Ethik, 


jondern in der Rhetorik behandelt, daß er nicht ihre natür- 
Fiſcher, Bacon. 19 


2% 


liche Geſchichte, fondern ihre Fünftliche Erregung ins Auge 
gefaßt Habe. Auf die natürliche Gefchichte der menjchlichen 
Affecte richtet Bacon die Aufmerkſamkeit der Philofophie, er 
vermißt die Kenntniß davon unter den Wifjenfchaften. „Die 
Wahrheit zu reden“, fagt Bacon, „fo find die vorzüglichen 
Lehrer diefer Wiffenfchaft die Dichter und Gefchichtichreiber, 
die nach der Natur und dem Leben darftellen, wie die Leiden- 
Ichaften aufgeregt und entzündet werden müflen, wie gelindert 
und befänftigt, wie gezügelt und bezähmt, um nicht auszubrechen, 
wie bie gewaltſam unterbrüdten und verhaltenen Leidenfchaften 
ſich dennoch verrathen, welche Handlungen fie hervorbringen, 
welchen Wechfeln fie unterliegen, welche Knoten fie fchürzen; 
wie fie einander gegenfeitig befäümpfen und widerjtreben.‘*) 
Eine ſolche lebensvolle Schilderung verlangt Bacon von der 
Moral, er verlangt damit nichts Geringeres als eine Natur: 
gefchichte der Afferte: genau dafjelbe, was Shakſpeare geleiftet 
hat. Welcher Dichter hätte es beffer geleiftet als er? Wel— 
her hätte den Menſchen und feine Leidenschaften, wie ſich 
Bacon ausdrüdt, mehr „ad vivum” gezeichnet? „Die Dich— 
ter und Gefchichtfchreiber”‘, meint Baron, „geben uns die Ab- 
bilder der Charaktere; die Ethik ſoll nicht dieſe Bilder felbit, 
wohl aber deren Umriffe aufnehmen, die einfachen Züge, welche 
die menſchlichen Charaktere beitimmen. Wie die Phyfif die 
Körper feciren fol, um ihre verborgenen Eigenfchaften und 
Theile zu entdeden, fo ſoll die Ethik in die menfchlichen Ge- 
müthsverfaffungen eindringen, um deren geheime Dispofitionen 
und Anlagen zu erfennen. Und nicht die inneren Anlagen, aud) 
die äußeren Bedingungen, welche die menfchlichen Charaktere 


— — 





*) De augm. scient. Lib. VII, cp.3. ©. unten Cap. XIII, N. III. 4. 














291 


mit ausprägen, will Bacon in die Ethik aufgenommen wiffen: 
alle jene Eigenthümlichkeiten, die ſich der Seele mittheilen von 
Seiten des Gefchlechts, der Lebensftufe, des Vaterlands, der 
Körperbefhaffenheit, der Bildung, der Glücksverhältniſſe 
n.f.f.”*) Mit einem Wort, er will den Menfchen betrachtet 
wiffen in feiner Individualität: als ein Product von Na- 
tur und Geſchichte, durchgängig beftimmt durd natür- 
liche und gefhichtlihe Einflüffe, dur innere Anlagen 
und äußere Einwirfungen. Und genau fo hat Shaffpeare 
den Menſchen und fein Schidfal verftanden: er faßte den Cha⸗ 
rafter als ein Product diefes Naturells und diefer gefchicht- 
lihen Stellung und das Schickſal als ein Product diejes 
Charakters. " Wie groß Bacon's Interefje für ſolche Charakter⸗ 
ihilderungen war, zeigt ſich darin, daß er felbit fie zu machen 
berfuchte. Er entwarf in treffenden Zügen das Charafterbild 
von Julius Cäſar, in flüchtigen Umriffen das von Auguftus.**) 
Beide faßte er in ähnlichem Geifte auf, al8 Shakſpeare. Er 
fah in Cäſar alles vereinigt, was an Größe und Adel, an 
Bildung und Reiz der römifche Genius zu vergeben Hatte, er 
begriff diefen Charakter als den größten und gefährlichſten, ven 
die römische Welt haben konnte. Und was bei der Analyſe 
eines Charakters ftets die Probe der Rechnung macht, Bacon 
erffärte den Charakter Cäſar's fo, daß er fein Schickſal mit- 
erklärte. Er fah, wie Shaffpeare, daß es in Cäſar die Neigung 
zum monarchiſchen Selbftgefühl war, die feine großen Eigen⸗ 
Ihaften und zugleich deren Verirrungen beherrſchte, woburd) 
er der Republik gefährlich und feinen Feinden gegenüber blind 





*) De augm. scient. Lib. VII, cap. 3. ©. unten Cap. XII. 3. 
**) Imago civilis Julii Caesaris. Im. civ. Augusti Caesaris. Op. 


. 1320 fg. 
pP 8 19* 


292 


wurde. „Er wollte”, fagt Bacon, „nicht der Größte unter 
Großen, fondern Herrfcher unter Gehorchenden fein.” Seine 
eigene Größe verblendete ihn fo, daß er die Gefahr nicht mehr 
fannte. Das ift derfelbe Cäfar, den Shakſpeare fagen Täßt: 
„Ich bin gefährlicher als die Gefahr, wir find zwei Leuen, an 
einem Zage geworfen, dod) ic) der ältere und der fchredlichere! 
Wenn Bacon zulegt Eifar’s Verhängniß darin fieht, daß er 
feinen Feinden verzieh, um mit diefer Großmuth der Menge 
zu imponiren, fo zeigt er uns ebenfalls den verblendeten Dann, 
der den Ausdrud feiner Größe auf Koften feiner Sicherheit 
fteigert. " 

Es ift ſehr charakteriftifch, daß Bacon unter den menjd)- 
lichen Leidenſchaften am beften den Ehrgeiz und die Herrſch⸗ 
ſucht, am wenigften die Liebe begriff, die er am niedrigften 
ſchätzte. Sie war ihm fo fremd als die Iyrifche Poeſie. Doch 
erfannte er in einem Fall ihre tragifche Bedeutung. Und ge- 
rade aus diefem Fall hat Shakſpeare eine Tragbdie gelöft. 
„Große Seelen und große Unternehmungen‘, meint Bacon, 
„vertragen ſich nicht mit diefer Heinen Leidenfchaft, die im 
menſchlichen Leben bald als Sirene, bald als Furie auftritt. 
Jedoch“, fügt er Hinzu, „ist hiervon Marcus Antonius 
eine Ausnahme.”*) Und in Wahrheit, von der Kleopatra, 
wie fie Shakſpeare aufgefaßt hat, läßt fich treffend jagen, daß 
fie dem Antonius gegenüber Sirene und Furie zugleich war. 


*) Sermones fideles, X, de amore, Op. p. 11583. 














Adıtes Kapitel, 
Organon und Enchklopädie. 


Nachdem wir über den Gefihtspunft im Klaren find, 
unter dem Bacon feine neue Lehre gründet und die alten be⸗ 
fümpft, befchreiben wir von hier aus den Umfang und Ge- 
jichtstreis feiner Philoſophie. Wir kennen die fehs Haupt- 
theife, in welche das Geſammtwerk zerfallen follte*), von 
denen zwei in geordneter Weife ausgeführt, wenn auch nicht 
in gleicher Weife vollendet find: der Grundriß, nach welchem, 
und die Methodenlehre, Traft welcher der Bau einer andern 
Philofophie errichtet werden follte. Die Methode ehrt das 
Drganon, den Grundriß enthalten die Bücher über den Werth 
und die Vermehrung der Wiffenfchaften, fie umfegeln gleichfam, 
um mit Bacon felbft zu reden, bie Küften der Wiffenfchaft 
und befchreiben den Globus der gefammten Geifteswelt, ber 
alten unb neuen. Unter ben philofophifchen Werken, bie er 
felbft herausgab, war der Entwurf zu biefem Grundriß base 
erfte, die Erweiterung und Ausführung deffelben das letzte. 

In diefen beiden Schriften, dem Organon und dem 
Srundriß, Tiegt Bacon's erneuernde, wegweifende, bahn⸗ 


*) ©, oben Bud) I, Kap. YII, S. 121—24. 


294 


brechende That, der folgenreiche Anfang, den er gemacht hat, 
den allein er machen wollte; er wußte zu gut, daß die Zeit 
fortfchreitet und die Syſteme der Philofophie auflöft, auch 
wenn fie noch fo gefchloffen erjcheinen, daß biefer auflöfenden 
Macht am eheften und am grünblichften gerade die Lehrgebäude 
verfallen, bie für die Ewigkeit gelten wollen. ‘Daher war es 
von Anfang an feine Abfiht, eine Philofophie einzuführen, 
die nicht troß der Zeit beſtehen, jondern mit ihr fortfchreiten 
ſollte. Er fuchte die Wahrheit der Zeit, kein abgefchloffenes, 
Sondern ein progreffives Werk, das er felbft mit unverblendetem 
Urtheil den Mächten der Zeit unterwarf und Hingab. ALS 
er den eriten Entwurf feines Grundriffes veröffentlichte, ver- 
glich ih Bacon in einer brieflihen Aeußerung mit dem Glöckner, 
der die Leute zur Kirche ruft; als er achtzehn Jahre fpäter 
das vollendete Werk herausgab, fagt er am Schluß: „Man 
kann mir vorwerfen, daß meine Worte ein Jahrhundert erfor- 
dern, wie einft zu dem Gefandten eines Städtchens, als diefer 
Großes verlangte, Themiſtokles fagte: «Deine Worte follten 
einen Staat Binter fi Haben!» Ich antworte: Vielleicht 
ein ganzes ISahrhundert zum Beweifen und einige 
Iahrhunderte zum VBollenden.” 

Darum blieb auch bei allen Erweiterungen und Aus- 
führungen die Grundform feiner Werke Entwurf, die Gruub- 
form feiner Darftellung encylopädifh und aphoriftifh. Der 
Grundriß Hat die Form der enchflopädifchen Ueberficht, das 
Drganon die der Aphorismen. An einer Stelle feiner Ench- 
Hopädie, wo er bei Gelegenheit der Rhetorik von der Kunft 
des wiſſenſchaftlichen Vortrags handelt, bemerkt Bacon felbft, 
daß die Darftellungsweife in Aphorisiien, wenn fie nicht ganz 
oberflählich fein wolle, aus der Tiefe und dem Mark der 





295 


Wiſſenſchaften gefhöpft werden müſſe und die allmälig gereifte 
Frucht des gründlichften Nachdenkens fei. Diefe Bemerkung 
trifft ihn felbft, die Beziehung auf dad Organon Tiegt nah 
und er durfte in Anfehung diefes Werkes, das er lange durch: 
dacht und zwölfmal umgearbeitet hatte, wohl fordern, daß 
man feine Aphorismen nicht für abgeriffene und flüchtige Ge- 
danken nehme. 

Bergleihen wir Organen und Grundriß, fo find ihre 
Aufgaben verfchieden, ihr Zufammenhang einleuchtend. Die 
Enchtlopädie will aufbauen, die Methodenlehre muß megräu- 
men, was im Wege fteht; dort foll „das Magazin bes 
menfchlichen, Geiſtes“ gefüllt, hier „die Tenne deſſelben“ ge- 
fegt und geebnet werden. Daraus crflären fih mancherlei 
Abweichungen und ſelbſt Widerfprüche, die zwifchen beiden 
Werfen auffallen Fönnen und für welche jene Verſchiedenheit 
der Aufgaben ein ausreichender und befjerer Erklärungsgrund 
ift als etwa perfünlihe Abfichten anderer Art, die Bacon ge: 
habt haben könnte. Die Bücher über den Werth und die 
Vermehrung der Wiffenfchaften menden fich fämmtlih an den 
König und beginnen mit einer Lobrede, die nicht fchmeichel- 
hafter und in der Schmeichelei kaum ausfchweifender fein Tann. 
Freilich galt damals an den Höfen nad der Sitte der Zeit 
die äußerſte Schmeichelei für den gewöhnlichen Grad der Höf- 
lichkeit. Daß nun Bacon in Rückſicht auf den König manche 
Stellen gemäßigt und vorfichtig gehalten, manche gefliſſentlich 
fo gewendet hat, daß fie dem Könige gefallen follten, ift nicht 
in Abrede zu ftellen. Indeſſen war mit dem Geſammtwerk 
auch das Drganon dem Könige gewidmet. Als Bacon diefes 
herausgab, lebte er am Hofe und ftand in der Fülle des An- 
ſehens; als er feine enchklopädiſchen Bücher veröffentlichte, 


2% 


war er gefallen und vom Hofe fern. Es iſt nicht einzufehen, 
warum er hier in der Rüdficht auf königliche Liebhabereien 
hätte übermäßiger fein und weiter gehen follen als dort. Da— 
gegen ift leicht zu fehen, daß in der Aufgabe des Organons 
die Entgegenfegung, in der des enchklopädiſchen Werkes 
die Umfaffung lag, daß Bacon dort fchärfer und negativer, 
hier, wo er jede mögliche Wiffenfchaft zu berüdfichtigen, ihr 
die Stelle anzuweiſen, die vorhandenen Leiftungen einzufchließen 
hatte, anerfennender und pofitiver verfahren mußte Im 
Organon find die Urtheile über Ariftoteles und die Scholaftiter 
wegwerfend und geringfchägig, von dem Beſtreben erfüllt, fie 
aus dem Wege zu räumen, in dem Grundriß finden fih Ur- 
theile auch anderer Art; bei Ariftoteles wird die wiſſenſchaft⸗ 
fihe Größe feiner Leiftungen anerkannt, bei den Scholaftifern 
die formelle Denkkraft, die große Lichter aus ihnen gemacht 
hätte, wenn nicht ihre Dbjecte fo einfürmig gewefen wären. 
Im Organon gilt die Naturwiffenichaft als die große Mutter 
aller Wiffenfhaften, in der Enchllopädie wird eine Funda— 
mentalphilofophie gefordert, die auch der Naturwiffenichaft zu 
Grunde Tiegen fol; dort ift die Metaphyſik der Inbegriff 
phyſikaliſcher Axiome, aus deren Auffindung und Beitimmung 
die Zweckbegriffe grundſätzlich ausgefchloffen find, Hier enthält 
die Metaphyſik im Unterfehiede von der Phyſik die teleologifche 
Erflärung der Dinge; das Organon redet gegen die Ver⸗ 
mifhung der Theologie und Bhilofophie, die Enchklopädie 
anerkennt eine natürliche Theologie und giebt ihr den Platz 
innerhalb der Philofophie. Freilich war dort unter Philofophie 
immer Naturphilofophie verftanden, und daß mit biefer die 
Theologie in keinerlei Weife vermifcht werben folle, wird auch 
bier ebenfo nahdrüdtich gefordert. Man fieht deutlich, daß 











297 


e8 fih um eine Veränderung nicht des Standpunftes und der 
Sade, jondern des Umfangs der Wiffenfchaft Handelt, der 
erweitert werden muß, um Plat zu gewinnen. Es find mehr 
Wiffenfchaften da, als im Organon Raum haben. Hier foll 
eine neue Welt der Erkenntniß entdeckt werden, während auf 
dem Globus der Wiſſenſchaften Plaß fein muß auch für die 
alte. Dort gilt nur das Neue, Hier das Alte und Neue. 
„Wir haben den ganzen Umfang ſowohl der alten als neuen 
Welt der Wiffenfchaften umſegelt“: mit diefen Worten beginnt 
das legte der enchklopädiſchen Bücher.) Die Natur der 
Wiffenfhaft und Philofophie ift bei Bacon elaſtiſch, das Or— 
ganon faßt Wiſſenſchaft, Philofophie, Phyfit in daffelbe Vo— 
Iumen und verftärkt ihre Spannkraft bis zum Heftigften Wi: 
derftande unter dem Druck aller veralteten Geiftesatmofphären;; 
- die Enchflopädie läßt die Wiffenfhaft ihre größte Ausdehnung 
nehmen, fie hebt den Drud und vermindert den Widerftand: 
hier reicht die Wilfenichaft weiter als die Philofophie und be- 
herbergt auch die geoffenbarte Theologie, die Philofophie wei- 
ter als die Naturphilofophie und beherbergt neben diefer auch 
die natürliche Theologie. Erwägt man, wie fchwierig es ift, 
die ftreng methodifche und enchklopädiſche Denlart zu vereini- 
gen, wie jene ebenfo nothwendig Ausfchließungen als dieſe 
Einräumungen fordert, jo wird man finden, daß die Weber- 
einftimmung der beiden Hauptwerke Bacon’ nicht größer fein 
kann, als fie ift. 

Die Erweiterung der Wiſſenſchaft ift bedingt durch ihre 
Erneuerung von Grund aus. Im diefer Gefammtaufgabe find 
beide Werke dergeftalt einig, daß das Organon auf die Er- 


*) De augm. IX. Op. p. 257. 


298 


neuerung, die Enchklopädie auf die Erweiterung bedacht ift. 
Das ganze Gebiet der Wilfenfchaft wird ausgemeffen, im feine 
verfchiedenen Reiche getheilt, die Gegenden gezeigt und bezeich- 
net, die noch brach Liegen und angebaut werben follen. Auch 
hier erkennen wir jene beiden Grundzüge der baconiſchen Geiftes- 
art: die Richtung auf das Ganze und der Trieb nad Neuem. 
In der erften Abficht ſucht Bacon eine vollftändige Ein- 
theilung des menfchlichen Wiffens, in der zweiten ſpäht er 
überall nad) ungelöften und zu Löfenden Aufgaben. Er nüpft 
an das Vorhandene da8 Neue, an die Leitung das Problem. 
Rad) ihm foll die Wiffenfchaft das Abbild der wirklichen Welt 
fein; in dem Zuftande der Wiffenfchaften, den er vor fidh 
fieht, erfcheint ihm diefes Abbild fo verfehlt, fo unähnlich, jo 
lückenhaft. Wer nichts vermißt, fucht nichts. Wer nicht richtig 
ſucht, findet nicht viel umd nichts auf richtige Art. Das rid- 
tige Suchen ift das Thema des Organons, das richtige Ver⸗ 
miffen das ber Enchflopädiee So greifen beide Werke in 
einander und bedingen ſich gegenfeitig. 

Was Bacon zunächft vermißte, war der Zufammen- 
hang ber einzelnen Wifjenfchaften; was er zumächft fuchte, 
war beshalb die Wiffenfchaft als cin Ganzes, die natürliche 
Verbindung ihrer Theile, deren Feiner abgetvennnt und los⸗ 
geriffen von den übrigen eriftiren follte Er wollte Leben 
in der Wiffenfchaft weden; darum mußte hier vor allem ein 
lebensfähiger Körper geichaffen werden, ein Organismus, dem 
fein Theil fehlt, deſſen Theile ſämmtlich fo verfnäpft find, 
daß fie in Wechfelwirkfung ftehen. Die Unfruchtbarkeit der 
bisherigen Wiffenfchaft, welche dem Geifte Bacon’s fo peinlich) 
auffiel, war zum großen Theile mitverſchuldet durch die 
Trennung, worin fi) die Wilfenichaften befanden, abgefperrt 











DH 


299 


von einander, ohne gegenfeitigen Austaufch und Verkehr. So 
unfruchtbar die Trennung ift, fo fruchtbar muß die Vereini— 
"gung fein. Schon die überfichtliche Darftellung der Wiffen- 
fchaften befördert bie wiffenfchaftliche Eultur und erleichtert 
deren Mittheilung; die volljtändige Eintheilung zeigt, was 
zum Ganzen der Wiffenfchaft noch fehlt, was noch nicht ge- 
mußt wird, und bewegt fo den wiffenfchaftlichen Geiſt zu neuen 
Beftrebungen. Endlich treten durch die encyflopädifcdhe Ord⸗ 
nung die einzelnen Wiſſenſchaften in lebendigen Verkehr, fie 
können fich jett gegenfeitig vergleichen, berichtigen, befruchten. 
Auf diefen Punkt legt Bacon ſelbſt das größte Gewicht und 
macht denſelben im Anfange des vierten Buchs zum Leitſtern 
des enchllopädifchen Weges: „Alle Eintheilungen der Wiffen- 
Ichaften find fo zu verftehen und anzuwenden, daß fie die 
wiſſenſchaftlichen Gebiete bezeichnen und unterfcheiden, nicht 
etiwa trennen und zerreißen, damit durchgängig die Auflöfung 
des Zufammenhangs in den Wilfenfchaften vermieden werde. 
Denn das Gegentheil hiervon bat die einzelnen Wiffenfchaften 
unfruchtbar, Teer gemacht und in die Irre geführt, weil dic 
gemeinfame Duelle und das gemeinfame Feuer fie nicht mehr 
ernährt, erhält, Täutert, ” *) 

Auf einen folgen Zufammenhang gerichtet, dürfen die 
Bücher über den Werth und die Bermehrung der Wiffenfchaf- 
ten als der Verſuch eines Syſtems angefehen werden, aber 
nicht mit den Augen des Shſtematikers, fondern mit denen 
des Enchklopädiſten. Die Syſtematiler werden mit Recht fin- 
den, daß die baconifchen Eintheilungen nicht fehr genau und 
durchgreifend, die baconifchen Verknüpfungen oft fehr Loder 


— — 





*) De augm. IV, cp. 1. Op. p. 98. 


300 


und willfürlich find. Das Eintheilungsprincip ift neu, die 
Eintheilungsregeln find die gewöhnlichen logiſchen Divifionen. 
Unterfcheiden wir den Syftematifer vom Enchklopädiſten, fo 
genügt dem letztern bie bloße Zufammenftellung des wiffen- 
ſchaftlichen Deaterials, welches der andere zufammenfügen, d. 6. 
innerlich verknüpfen möchte durch ein gefegmäßiges Band. 
Der Enchflopäbift fucht vor allem die Vollfftändigfeit in den 
Meoterien, er wählt darum für fein Werl diejenige Yorm, 
welche die VBollftändigkeit am meiften begünftigt und ſoviel als 
möglich verbürgt. Wenn diefe Form die fuftematifche nicht tft 
oder fein kann, fo wählt er die aggregative, und unter allen 
aggregativen Formen wird die Vollftändigfeit der Materien 
am eheſten feftgeftellt durch die alphabetifhe. Wenn eine En- 
cyHopäbie fein wirkliches Syſtem fein kann oder will, fo muß 
fie Wörterbuch werden. Die baconiſche Enchklopädie war fein 
Syſtem, genau genommen, fondern eine logifche Aggregation; 
darum wurde fie in ihrer Fortbildung zum Dictionnaire und 
vertaufchte die logiſche Form mit der alphabetifchen. Diefe 
Fortbikdung ift nach Bayle's kritiſch-hiſtoriſchem Dictionnaire 
die franzöfiihe Encyklopädie, das philofophifche Wörterbuch 
von Diderot und d’Alembert, die fich in ber Vorrede ihres 
Werts felbft auf Bacon berufen und namentlid auf feine 
Schrift über die Vermehrung der Wiffenfchaften.*) Die fran- 
zöfifche Enchklopädie, diefes Magazin der Aufklärung, führt 
fi) auf Bacon zurüd, nicht blos als den Begründer der 
realiftiihen Philofopbie überhaupt, fondern zugleich als den 
erften Enchklopädiſten diefer Richtung. Aber der Unterfchied 

*) Encyclopedie ou dictionnaire raisonnd des sciences et des 


arts par Diderot et d’Alembert (1758). Le discours preliminaire. 
Bol. Art.” Baconisme. 











301 


zwiichen Bacon und den franzöfifchen Encyklopädiſten befteht 
nicht blos in der Logifchen und alphabetifhen Form ihrer 
Werke, fondern, was damit zufammenhängt, in der verſchie⸗ 
denen Stellung beider zur Wiffenfchaft. Diderot und d’Alem- 
bert ernteten, was Bacon gefäet hatte: diefer erneuerte bie 
Philoſophie, jene ſammelten, was die nene Bhilofophie erzeugt 
hatte; Bacon hatte e8 vorzugsweife mit Aufgaben zu thun, 
die franzöſiſchen Enchllopädiften mit Refultaten, fie redigirten 
die Acten der Philofophie, Bacon fuchte deren Probleme. 
Seine Bücher über die Vermehrung der Wiffenfhaften nannte 
d’Alembert „Catalogue immense de ce qui reste & d&couvrir”, 





Neunles Kapilel. 
Die baconiſche Encyklopädie. 


— — —— — 


J. 
Einleitung. 
1. Die Vertheidigung der Wiſſenſchaft. 


Die Bücher über den Werth und die Vermehrung der 
Wiffenfchaften, wie fie das ausgeführte Werk giebt, zerfallen 
in zwei fehr ungleiche Haupttheile; das erfte Buch Handelt von * 
dem Werth, bie folgenden von der Vermehrung der Wiffen- 
fchaften. Beide Theile verhalten ſich fo, daß in dem erften 
die Aufgabe vorbereitet wird, die in dem zweiten ausführlich) 
gelöft werden fol. ‘Daher nehmen wir das erfte Buch als 
die Einleitung des Ganzen. 

Wenn man für nothwendig findet, den Werth der wifjen- 
Ihaftlihen Erkenntniß erft zu rechtfertigen, jo muß man noch 
Grund haben, ihn zu vertheidigen, man muß Gegner vor ſich 
jehen, welche die wifjenfchaftlihe Forſchung bekämpfen, Ein- 
würfe, die ihre Bedeutung in Frage jtellen oder herabſetzen. 
Man kann eine Sache nicht vertheidigen, ohne die Feinde der- 
felben anzugreifen, daher begegnen uns gleich im Anfange 
des Werks polemifche Züge, die In manchen Punkten an das 
Drganon erinnern. Die Gegner, die Bacon zurückweiſen will, 





303 


bevor er pofitiv von dem Werthe der Wiffenfchaft redet, find 
die Einwürfe der Theologen, der Stantsmänner und der Ver— 
ächter der Gelehrten überhaupt. 

Die Theologen wittern in der Wiffenfchaft die alte 
Schlange, welche die Menſchen verführe; fie fürchten, daß die 
Erforſchung der natürlichen Urſachen die Menfchen gottlos 
mache, weil fie darüber die oberfte und höchſte Urfadhe ver- 
geffen. Da er zu dem Könige redet, citirt Bacon eine Menge 
falomonifcher Ausſprüche, die für den britifchen Salomo Be- 
weisgründe ad hominem waren. Das Zeugniß der biblifchen 
Schlange führt Bacon gern an, da es nicht gegen, fondern 
für ihn fpreche, denn die Schlange habe die Menſchen nicht 
zur Erfenntniß der Natur, fondern zu der bes Guten und 
Böſen verführt und damit auf den falfchen Weg geleitet, der 
von der Naturerfenntniß ablenke, eben darin habe der Sün- 
denfalf beftanden. Auch fei die Naturphilofophie dem Glauben 
feineswegs feindlih, nur folange fie an der Schwelle ftehen 
bleibe und die Dinge oberflählich betrachte, Tönne fie dem 
Atheismus zufallen; dagegen je tiefer fie eindringe in die Ur- 
fachen der Dinge, um fo näher fomme fie Gott, denn der letzte 
Ring der natürlichen Kette der Dinge hänge am Throne Ju⸗ 
piter's. Ein Tropfen aus dem Becher der Philofophie, jagt 
Bacon anderewo, bringe zum Unglauben; wenn man den 
Becher bis auf den Grund Icere, fo werde man fromm. 

Die Einwürfe der Stantsmänner find ebenfo falſch als 
die der Theologen. Es fei nicht war, daß die Wiffenfchaft 
die Geiſter verweichliche und zum Dienfte des Stante im Kriege 
und im Frieden untauglih made. An fo vielen Beispielen 
geſchichtlicher Erfahrung laſſe fich zeigen, daß der Ruhm der 
Waffen mit dem der Wiffenfchaften zufammen beftehe und das 


304 


Wohl der Völker am beiten gedeihe unter Fürften, welche die 
wiſſenſchaftliche Bildung fördern und felbft darin vorleuchten. 
Das fchlechtefte Beispiel, das er wählen Tonnte, fehien ihm 
hier das wirkfamfte: König Jakob! 

Abgeſehen von den Bedenken, die falfcher Religionseifer 
und Gejhäftsdünfel gegen die Wiſſenſchaft zu richten pflege, 
haben fich aus einer gewiffen Geringſchätzung der gelehrten Leute 
eine Menge Vorurtheile gegen die Wiffenfchaft felbft verbreitet. 
Wenn man die Gelehrten, die zum großen Theil arme Schul: 
meifter feien, etwas näher anfehe und auf ihre Sitten, ihre 
Irrthümer und Eitelfeiten achte, fo könne man unmöglid) von 
der Sache, die fie betreiben, eine hohe Meinung faffen. Was 
die Armuth betrifft, fo will e8 Bacon den Bettelmönden 
überlaffen, deren Xobrede zu halten. ‘Die Geringſchätzung der 
Sculmeifter ftraft er mit einem niederfchlagenden und merk⸗ 
würdigen Wort. Entweder veradhte man die Zöglinge, weil 
fie unmündig, oder das Gefchäft der Erziehung, weil es niedrig, 
fei; im erften Fall verfenne man die Bedeutung der Jugend, 
im andern die der Erziehung. Die Verächter der Iugend er- 
innert er an das Wort der Rabbiner: „Eure Jünglinge wer- 
den Gefichter fehen und eure Alten Träume haben!” Die 
Verächter der Pädagogik mögen bedenken, daß die Erziehung 
unter die woichtigjten Aufgaben der Gefeßgebung und des 
Staats gehöre, daß die beften Zeitalter dies wohl gewußt 
und die Erziehung in diefer Bedeutung gewürdigt, daß es fehr 
ſorglos und thöricht fei, fie wie ein herrenlofes Gut auf die 
Seite zu werfen und fi) von Staatswegen gar nicht darum 
zu fümmern. Diefes Toftbare Gut hätten in neuerer Zeit die 
Sejniten an fi genommen und müßten e8 zu pflegen. 
„Wenn ich jehe”, fügt Bacon Hinzu, „was diefer Orden in 











305 


der Erziehung leiftet, in der Ausbildung fowohl der Gelehr- 
famfeit als des Charakters, fo fällt mir ein, was Agefilaus 
vom Pharnabazus fagte: „Da du ein folder bift, jo wünfchte 
ih, du wäreft der unfrige!”*) 

An den Sitten der Gelehrten werde allerhand getadelt, 
bald finde man fie zu gefchmeidig und biegfam, bald zu un- 
höflich und unfein; jet werfe man ihnen vor, daß fie ihr 
eigenes Intereſſe zu wenig verftehen, jet, daß fie die Reichen 
und Mächtigen zu gern auffuchen und die größte Nachgiebig- 
feit gegen fie zeigen. ‘Diefen letten Tadel verwandelt Bacon, 
indem er fih auf Beiſpiele alter Philofophen beruft, in ein 
Lob der Klugheit. Wenn die Philofophen die Reichen auf- 
ſuchen, was nicht ebenjo umgekehrt der Fall fei, fo wiſſen 
jene befjer was fie brauchen, als diefe, wie ſchon Dio— 
genes gefagt. Als ein Bhilofoph mit dem Kaifer Hadrian 
disputirte, gab er nach, weil ein Mann, der über dreißig Xegio- 
nen gebiete, immer Recht haben müffe. Alles zufammengefaßt, 
fo feien die Sitten der Gelehrten fo entgegengefettter Art, daß 
fie nicht den gelehrten Stand, fondern die Menfchen und deren 
Gemüthsart bezeichnen, alfo gar feinen Grund gegen bie 
Wiffenfhaft bieten. Aehnlich verhalte es fich mit der Lehr⸗ 
art, die bei dem einen zu fchwülftig und wortreich fei, bei 
dem andern zu fpikfindig und ftreitfüchtig, bei dem dritten zu 
unkritiſch und leichtgläubig. Als Beiſpiel der erften Art 
nennt Bacon jenes Haſchen nad) Bilderreihthum und Wis, 
welches damals in England Mode war, als Beispiel der zwei- 
ten die Scholaftifer, wobei er nicht vergißt, aud) die Stärke 
derjelben hervorzuheben, als DBeifpiel der dritten die Berichte 


*) De augm. Lib. E Op. p. 11. 
Fiſcher, Bacon. Ä 20 


306 


der Kirchenväter über die Wunderthaten der Märtyrer, die 
leichtgläubigen Erzählungen aus dem Gebiet der Naturgefchichte 
bei Plinins, Albertus, Cardanus u. a., denen gegenüber er 
den Ariftoteles hervorhebt als ein Leuchtendes Beiſpiel wiſſen⸗ 
Ichaftliher Größe, der in feiner Thiergefhichte wohl veritan- 
den habe, das Glaubhafte dom Zweifelhaften zu fondern.*) 
Und wenn man als Beifpiele Teichtgläubiger und abergläubi- 
cher Wiffenfchaft auf Aftrologie, Magie und Alchymie Hin» 
weife und auf den Charlatanismus, der hier getrieben werde, 
ſo folle man deren Nuten nicht ganz überfehen, denn die 
Aftrologie ſuche doch nad) dem Einfluß der himmlifchen Kör- 
per auf die irdifchen, wie abergläubifch fie ſich die Sache and) 
vorftelle, die Magie wolle ſich ber Naturfräfte bemeiftern und 
trachte nach praftifchen Zielen, die Aihymie endlich finde zwar 
feinen Schaß, aber bearbeite doch ben Weinberg. 


2. Das Lob der Wiſſenſchaft. 


Nachdem die Einwürfe gegen die Wiffenfchaft entlräftet 
find, wird gezeigt, daß unter allen göttlichen und menfchlichen 
Dingen keines werthuoller fei als die Erfenntniß. Voran 
ftehe die göttliche Weisheit in der Schöpfung der Welt, die 
himmlifche Hierarchie ftelle die Engel der Erleuchtung höher als 
die des Dienftes, in der Gründung des Chriftentbums habe 
die Weisheit Chrifti mehr vermocht al8 die Wunder, zur Ver⸗ 
breitung deſſelben habe der weifefte der Apoftel das meilte 
beigetragen, die Kirche fei mächtig geworden durch die Weis⸗ 
heit und Gelehrſamkeit der Biſchöfe, und eben jeßt zeigen die 
Jeſuiten, wie viel die Kirche geivinnen könne durch die Pflege 


*) De augm. Lib. I. Op. p. 18. 


307 


der Wiffenfchaften. Was aber die rein menfchlichen Dinge 
betreffe, jo Haben ſchon die Alten die Kraft der Erfindung‘ 
und des Wiffens vergöttert und höher geftellt felbft als bie 
Staatengründung; Theſeus haben fie zum Halbgott, Bacchus 
und Ceres, Merkur und Apollo dagegen zu Göttern gemacht, 
Plato habe das Heil des Staats in die Herrfchaft der Philo- 
fophen gefeßt und wenigftens jo viel beweife die Gefchichte des 
römischen Kaiferreichs, daß unter den weiſeſten Fürſten die 
Völker am glüdlichiten leben. Philoſophiſche Einficht habe 
Kenophon mit militärifcher Kunſt, Alerander und Cäfar mit 
welterobernder Thatkraft vereinigt. Unter allen menjchlichen 
Genüffen fei der Genuß der Erfenntniß der höchſte, der einzige, 
der immer befriedige, der nie überjättige. Nichts ſei erhabener 
und wohlthuender als, wie Lucrez preife, von ber Höhe 
der Wilfenichaft, aus der Burg der Wahrheit berabzufchauen 
auf das Getümmel menfchlicher Leidenfchaften, auf die Irr- 
thümer und Mühſeligkeiten, die unter uns find. Und wie es 
nichts Höheres gebe als die Wiffenfchaft, jo fei auch nichts 
dauernder und ficherer als ihr Nachruhm. 

Was der Wiffenjchaft entgegenfteht, find nur Vorurtheile, 
die nie ganz aufhören werden, weil fie in der Gedankenloſig⸗ 
feit und dem Mangel an Urtheilsfraft ihren Grund haben. 
Man wird nie verhindern können, daß es Leute giebt, bie, 
wie der Hahn in der Fabel, das Gerftenforn dem Cdelfteine 
vorziehen, oder wie Midas den Pan lieber haben als den 


Apollo. 
3. Die Borfrage. 


Iſt nun die Wiffenfchaft das werthvollſte Gut, das die 
Menſchheit befigt, fo iſt auch die Vermehrung deſſelben eine 
20 


308 

der wichtigſten öffentlichen Angelegenheiten, und der Staat 
muß, foviel er vermag, auf die Mittel zur Förderung der 
Wiffenichaften bedacht fein. Das ift die VBorfrage, die Bacon 
im Anfange des zweiten Buchs behandelt und die er.als Auf- 
gabe dem König ans Herz legt. Hier fommt alles darauf 
an, die wilfenichaftlihen Anftalten zeitgemäß zu verbeffern, 
veraltete Einrichtungen abzufchaffen, neue auf den Fortſchritt 
der Wiffenfchaften berechnete an deren Stelle zu ſetzen. “Die 
profeffionefle Gelehrfamtfeit, das „munus professorium‘, hat 
ſich überlebt, die Bücherweisheit trägt Teine Früchte mehr, die 
Scholaftiichen Vorlefungen und Uebungen find nichtig. Logik 
und Rhetorik follte die lettte aller Vorlefungen fein, weil fie 
nur fruchtbar fein kann, wenn aus den übrigen Wifjenfchaften 
ein Reihthum von Kenntniffen eingefammelt ift; jet, wo fie 
ohne diefe Vorausſetzung die erfte aller Vorlefungen fein foll, 
muß fie nothwendig die dürftigfte und armfeligfte werden. 
Ebenſo fruchtlos und verderblid find die Uebungen in der 
Redekunſt. Entweder wird auswendig gelernt oder improviſirt: 
im erften Ball ift gar Feine geiftige Selbftthätigkeit vorhanden, 
im zweiten ift fie leer, beides daher unnütz. 

Die gelehrten Anftalten bedürfen einer gründlichen Re⸗ 
organifation, um zwei Aufgaben zu löfen: Männer für den 
Staatsdienft zu bilden durch das Studium der Gejchichte, 
Bolitit und neueren Spraden, dann die Wiffenfchaften und 
Künfte in der freien und umfaffenden Bedeutung des Worte 
weiterzuführen. „Ich wundere mich“, fagt Bacdn, „daß e8 in 
ganz Europa unter fo vielen gelehrten Collegien nicht cines 
giebt, das den freien und univerjellen Studien der Künfte und 
Wilfenfchaften gewidmet ift.” Er fordert eine allgemeine philo- 
fophifche Facultät als Pflanzfchule befonders der Naturwiſſen⸗ 








309 


ihaften, ausgerüftet mit allen dazu nöthigen Hülfsmitteln, 
denn e8 fehle nicht fowohl an Büchern ald an Stern» und 
Erdkarten, Darftellungen des Himmels- und Erdglobus, aftro- 
nomifchen Inftrumenten, botanischen Gärten, phyſikaliſchen und 
hemifchen Laboratorien u. f. f. Alte Bücher habe man genug, 
e8 fehle an neuen, man bedürfe Anftalten zur Vereinigung 
ſolcher wiffenfchaftlicher Kräfte, deren alleinige Aufgabe bie 
Bermehrung ber Wiſſenſchaften, die literarifche Verbreitung 
der neuen Entdedungen ſei. Was Bacon hier gefordert und 
eine fpätere Zeit ins Wert gefekt hat, find Alademien der 
Wiſſenſchaft. Und da die Wirkungen, die er ins Auge faßt, 
nur möglich find durch die Vereinigung der Kräfte, fo wünfcht 
er einen fortdauernden wechjeljeitigen Verkehr aller Akademien 
Europas. Eine folhe Fülle von Sräften in Bewegung zu 
ſetzen, iſt natürlich nicht die Sache eines Privatmannes, ſon⸗ 
dern der Könige und Staaten. Der Privatmann verhalte ſich 
hier wie der Merkur am Scheidewege, ber zwar mit aus⸗ 
geftredtem Finger die Richtung zeige, aber nicht felbft den 
Fuß rühren und von feinem Geftell herabfteigen könne. *) 


I. 


Eintheilung. Die Weltbefchreibung. 

Das Princip, wonad) Bacon den „globus intellectualis” 
eintheilt, ift pſychologiſch. Wie Plato aus ben menfchlichen 
Seelenfräften die politifchen Stände herleitet, fo Bacon bie 
großen Abtheilungen der Wiſſenſchaft. Soviele Kräfte in 
uns die wirflihe Welt vorftellen können, foviele Abbildungen 


— 





*) De augm. II. Op. p. 37-43. 


310 


derfelben find möglich, in foviele Theile zerfällt das Gefammt- 
bild des Univerfums. Unſere Borftellungsträfte find Gedädt- 
niß, Phantafie, Vernunft: daher giebt es ein gedächtnißmäßiges, 
phantafiegemäßes, verminftgemäßes Abbild der Well. Das 
Gedächtniß ift aufbewahrte Wahrnehmung und Erfahrung. 
Das empirifche Abbild ift Weltbefchreibung, das phantafie- 
gemäße Poefie, das rationelle Wilfenfchaft im engeren Sinn. 
Bon der Poefie haben wir gehandelt, fie ift, mit der Gefchichte 
verglichen, eine „Fiction“, mit der Wilfenfchaft verglichen ein 
„Traum“. 8 bleiben uns mithin als die beiden Hanpttheile 
des welterfennenden Geiftes Geſchichte und Wiſſenſchaft übrig, 
die fich zu einander verhalten, wie das Gedächtniß zur Ber: 
nunft. Die menjchliche Seele erhebt fih vom finnliden Wahr- 
nehmen zum vernünftigen Denten; denfelben Gang befolgt die 
baconische Methode, denjelben die Encyklopädie. 


1. Die Naturgeſchichte. 


Die Weltbefchreibung oder Geſchichte enthält das Abbild 
der Weltbegebenheiten, gejammelt dur Erfahrung und auf« 
bewahrt im Gedächtniß. Da nun die Welt das Reich ber 
Natur und dev Menfchheit in fich begreift, fo zerfällt die 
Weltgeichichte in „‚historia naturalis’ und „historia civilis”. 
Die Werke der Natur find entweder frei, wenn fie blos durch 
Naturkräfte gefchehen, oder unfrei, wenn fie aus folden Be: 
wegungen der Körper hervorgehen, die durch menfchliche Kunft 
bewirkt werden: die freien Bildungen fünnen regelmäßig oder 
anomal fein, die einen nennt Bacon „generationes”, die ans 
dern „praetergenerationes”, die Fünftlichen Naturwerfe find 
mechaniſch. Die Naturgefchichte zerfällt demnach in die hi- 
storia generationum, praetergenerationum und mechanica. 





311 


Die letztere wäre eine Geſchichte der Technologie, die Bacon 
vermißt und darum fordert, wie auch eine Geſchichte der natür- 
lichen Misgejtaltungen. Die Reihe der regelmäßigen Natur- 
bildungen läßt er in fünf Klaſſen zerfallen, indem er nad 
dem Borbilde der Alten von den oberften Regionen in die 
ſublunariſchen berabfteigt: er beginnt mit den Himmelskörpern 
und geht von bier abwärts zu den Meteoren und atmofphäri- 
ihen Erſcheinungen, dann zu Erde und Meer, den Eleinen- 
ten oder allgemeinen Materien, endli zu den fpecififchen 
Körpern. 

Die Beſchreibung diefer Objecte ift entweder blos er⸗ 
zählend oder methodifh. Der letzteren wibmet Bacon ſchon 
hier ein aufmerkſames Intereffe, er empfiehlt „die inductive 
Naturbefchreibung” als den Weg, auf weldem der natur- 
gefchichtliche Stoff der Philoſophie zugeführt wird. „Die er- 
zählende Befchreibung ift geringer zu ſchätzen als die Induction, 
welche der Philojophie die erſte Bruft reiht.” Kine foldhe 
wiſſenſchaftliche oder der Wiffenfchaft zugängliche Geſchicht⸗ 
fchreibung der Natur vermißt Bacon und wollte in feinen 
naturgeſchichtlichen Schriften felbft zur Löſung diefer Aufgabe 
einige Beiträge liefern. 


: 2, Literaturgeſchichte. 


Das menſchliche Gemeinwesen zerfällt in Staat und Kirche: 
daher theilt fich die Gefchichte der Menjchheit in „historia 
ecclesiastica”“ und „historia civilis” im engeren Sinn. 
Zwifchen beiden bemerkt Bacon eine Rüde, was immer fo viel 
- jagen will als eine Aufgabe. Noch giebt es Feine Literatur: 
und Kunftgefhichte. Für die Löſung diefer Aufgabe hat Bacon 
zwar felbft fein Beifpiel, aber mit wenigen Zügen eine‘ Vor⸗ 


312 


ſchrift entworfen, die wir jeßt erft wahrhaft würdigen können, 
weil man erft in unferer Zeit angefangen hat, fie zu erfüllen. 
Seine Vorſchrift ift Heute noch fo gültig als damals. Gie 
zeigt, wie gründlih Bacon die Aufgaben, welche er der Zu- 
kunft fette, zu faflen wußte, in weldem neuen, gejunben, 
weitblidenden Geift er fie dachte. Schon die bloße Forderung 
einer Literatur- und Kunitgefchichte überrafht im Munde der 
eben erwachten PBhilofophie, unter den baconifchen Neuerungs- 
plänen, noch mehr die eracte Vorfchrift, wonach er feinen 
Plan wollte ausgeführt wiffen. Was ift die Literatur anderes 
als ein Abbild der Weltzuftände im menfchlichen Geifte? Was 
alfo kann die Gefchichte der Literatur anderes fein als ein 
Abbild vom Abbilde der Welt? Und eben deshalb über- 
raſcht uns diefes Poftulat im Munde Bacon’s. Diefer reali— 
ftifche Kopf richtete ſich ſo ausschliefend auf das Abbild der 
Welt, daß wir uns wundern, wie er zugleich ein Abbild von 
biefem Abbilde vermiffen und wünfchen fonnte Das erklärt 
fih allein aus dem großen realiftifhen Verſtande, womit 
Bacon die menfchlihen Dinge anfah, er ſchätzte die Literatur 
nach ihrem realen Werthe, er bemerkte ihren realen Zufammen- 
hang mit dem menschlichen Leben im Großen und wollte fie 
unter diefem weltgefhichtlichen und politifchen Geſichtspunkte 
dargeftellt wiffen. Literatur und Kunft galten ihm als das 
feelenvolifte Glied im Organismus der menfchlichen Bildung; 
hier fpiegelt fic) das Bild der Welt im Auge des menfchlichen 


-Geiftes. Darum fagt Bacon: „Wenn die Gejchichte der Welt 


in diefem Theile verfäumt wird, fo gleicht fie einer Bild- 
fäule des Bolyphem mit ausgerifjenem Auge “Die 
Literatur ift immer der Spiegel ihres Zeitalters, fie ift in 
diefem Sinne ein Theil der Univerfalgefchichte. Aber es giebt 


313 


noch feine Univerfalgefchichte der Literatur: in diefem Sinn 
macht fie Bacon zu einem wiffenfchaftlichen Defiderium. Die 
einzelnen wilfenfchaftlichen Fächer, wie Mathemgtif, Philo— 
fophie, Rhetorik u. ſ. f, haben wohl einige Notizen ihrer 
eigenen Geſchichte, aber es fehlt das Band, welches dieſe ab- 
geriffenen und zerftreuten Bruchſtücke zu einem Ganzen ver- 
fnüpft, e8 fehlt das gefchichtliche Sefammtbild der menfchlichen. 
Wiſſenſchaft und Kunſt. Es ift nicht genug, daß jede Wiffen- 
ichaft ihre Vorläufer kenne. Es giebt einen Zufammenhang 
in allen Titerarifchen Werten eines Zeitalter, es giebt einen 
pragmatifhen Zufammenhang in der Reihenfolge diefer Zeit- 
alter. „Die Wiſſenſchaften“, fagt Bacon treffend, „eben 
und wandern, wie die Völker.” Die Literaturgefchichte ſoll 
die Zeitalter ſchildern, die Epochen ins Auge faffen, den Gang 
verfolgen, den die Wiffenfchaften genommen haben von den 
erften Anfängen durch die Blüthe zum Verfall, und von da 
wieder zu neuen Anfängen: wie fie erwedt, erzogen, dann 
allmälig aufgelöft und zerfeßt, endlich wieder von neuem be- 
lebt worden. In diefem Gange find die Schidfale der Literas 
tur auf das genauefte mit den Schidjalen der Völker verbun- 
den. 8. giebt einen Cauſalzuſammenhang, eine Wechſelwirkung 
zwifchen dem literarifhen und politifchen LXeben. Auf diejen 
bebeutfamen Punkt richtet Bacon fehr nachdrücklich die Auf- 
merkſamkeit des Geſchichtſchreibers. Die Literatur foll darge- 
jtellt werden in ihrem nationalen Charakter, unter ben 
Einflüffen des bejtimmten Vollglebens, deifen Abbild fie dar- 
jtellt; ihre Werke find immer mitbedingt durch die klimatiſche 
BDeichaffenheit der Weltgegend, die natürlichen Anlagen und 
Eigenthümlichkeiten der Nationen, deren günftige und ungünftige 
Schickſale, durch die Einflüffe der Sitten, Religionen, politi- 


314 


ihen Zuftände und Geſetze. Die Objecte der Literargejchicht- 
lihen Darjtellung find demnach die allgemeinen Zuftände ber 
Literatur in Verbindung mit den politifchen und religiöfen. 
Mit andern Worten: Bacon faßt die Literatur als einen 
Theil der gefammten menſchlichen Bildung; er will die Literatur- 
und Kunftgefhichte im Sinne der Culturgeſchichte behandelt 
wiffen.*) Und in weldem Geift, in welder Form wünſcht 
Bacon diefe Geſchichte geichrieben? „Die Gefchichtjchreiber 
ſollen nit nad) Art der Kritiker und Kritikaſter ihre Zeit 
mit Loben und Tadeln zubringen, fondern die Dbjecte dar: 
ftellen, wie fie find, und die eigenen Urtheile ſparſamer ein- 
miſchen. Diefe Objecte follen fie nicht aus den Darftellungen 
und Beurtheilungen Anderer entlehnen, fondern aus den 
Duellen felbit fchöpfen, nicht etwa fo, daß fie die darzu— 
jtellenden Schriften blos ausziehen und ihre Leſefrüchte feil 
bieten, fondern fo, daß fie den Hauptinhalt derſelben durch⸗ 
dringen, ihre Eigenthümlichfeit in Stil und Methode lebhaft 
begreifen und auf diefe Weife ben literarifhen Genius 
des Zeitalters, indem fie feine Werte daritellen, 
gleihfam von den Todten erweden.” **) 


3. Stagatengeſchichte. 

Auch der politifchen Gefchichte fett Bacon neue Aufgaben 
und Vorſchriften in dem fruchtbaren Geifte feiner Philofophie. 
Die Geſchichtſchreibung gründet fich, wie alle Wiffenfchaft, auf 
die Erfahrung, und die Erfahrung hat zu ihrem nächſten Vor- 
wurf die Particularien, zu ihrem nächften Gebiete die eigene 
Anfhauung Darum legt Bacon mit gutem Grunde einen fo 

* Was die deutfche Literaturgeichichte betrifft, fo ift Gervinus 


derjenige, der Bacon's Aufgabe gelöft hat. 
**) De augm. Lib. I, cp. 4. Op. p. 49 fig. 











315 


großen Werth auf die Particulargefchichte, die Memoiren und 
Biographien gegenüber den Univerjalhiitorien, die in ben 
meiften Fällen den Leitfaden der Erfahrung, die Faßbarkeit 
des Inhalts entbehren und in demfelben Grade einbüßen an 
Lebendigfeit und Treue der Darſtellung. Sehr richtig fagt 
er im Hinblick auf die Univerfalgefchihte: „Bei einer genauern 
Erwägung fieht man, wie die Gefege der richtigen Gefchicht- 
ſchreibung fo ftreng find, daß fie bei einer fo ungeheuern Weite 
des Inhalts nicht wohl ausgeübt werden können, und fo wird 
Anfehen und Werth der Gefchichte durch Maffe und Umfang 
des Stoffs eher verkleinert al8 vermehrt. Muß man von 
überalf ber die verfchiedenartigften Materien hereinziehen, fo 
Iodert fi) nothwendig der gebundene und ftrenge Zufammen- 
hang der Darftellung, fo erfchlafft die Sorgfalt, die fich auf 
fo viele Dinge erftredt, in der Ausführung des Einzelnen, fo 
wird man allerhand Traditionen und Gerüchte aufnehmen und 
aus unächten Berichten oder fonjt leichtem Stoff Geſchichte 
zufammenfchreiben. Ja es wird fogar nothwendig werben, 
um das Werk nicht ins Grenzenlofe auszudehnen, vieles Er- 
zählenswerthe gefliffentlich wegzulaffen und nur zu oft in die 
epitomarifche Darfjtellungsweife zu verfallen, d. 5. Auszüge zu 
machen ftatt der epifhen Erzählung. Dazu kommt nod) eine 
andere nicht geringe Gefahr, die dem Werthe der Univerfal- 
geichichte ſchnurſtracks zumiderläuft. Wie diefe nämlich mandje 
Erzählungen aufbewahrt, die fonft verloren gegangen wären, 
fo vernichtet fie andererfeits manche fruchtbare Erzählungen, die 
fonft forigelebt hätten, nur um der kürzeren Darftellung willen, 
die bei der. Menge fo beliebt ift.*) Dagegen erlauben die 


*) De augm. Lib. II, cp. 8. Op. p. 55. 


316 


Lebensbeichreibungen bedeutender Menfchen, die Specialgefchich- 
ten, wie der Feldzug des Chrus, der peloponnefifche Krieg, 
die catilinarifhe Verſchwörung uw. ſ. f. eine lebhafte, treue, 
künſtleriſche Darftellung, weil ihre Gegenftände durchgängig 
bejtimmt und abgerundet find. ‘Die ächten Hiftorifer, bie Ken- 
ner der Gefhichtichreibung, werden mit Bacon übereinftimmen. 
Der wahre und Fünftlerifche Gefchichtsfinn jucht fi) von felbft 
zur Darftellung ſolche Stoffe, die er vollkommen benteiftern 
und in allen ihren Theilen deutlich ausprägen Tann. Nur 
aus gründlichen Specialgefhichten Tann die Univerfalhiftoric 
refultiren, wie nad Bacon die Philofophie aus der Erfahrung, 
die Metaphyſik aus der Phyfil. Die großen Hiftorifer be- 
ginnen gewöhnlich mit Monographien und fpecialgefchichtlichen 
Aufgaben, die fie am liebften aus dem Gebiet ihrer Tebendig- 
ften Anfchauung nehmen. An folhen durchgängig beftimmten 
und faßbaren Materien kann ſich das Talent des Hiftorio- 
graphen zugleid) beweifen und üben. Es geht bier dem 
Hiftorifer wie dem Künftler. Je unbeitimmter und allgemei- 
ner der Vorwurf ift, den ſich der Künftler wählt, um fo un⸗ 
lebendiger und unwirkſamer ift feine Darftelung. Was dem 
. Stoff an natürlicher Lebensfülle fehlt, entbehrt das Kunftwert 
an poetifchem Reiz. Innerhalb des gefchichtlichen Völkerlebens 
iteht aber dem Gefchichtfchreiber nichts näher als die eigene 
Nation. Hier ſchöpft er nicht blos aus der erfahrungsmäßigen 
Gefchichte, fondern aus der eigenen, gewohnten Erfahrung. 
Darum empfiehlt Bacon die nationale Gefchichtichreibung als 
das Tebendigfte und nächſte Thema. Diefe Aufgabe ift im 
Interefje der Gefchichte und des Zeitalters; fie entfpricht dem 
Geifte des reformatorifchen Princips, welches dem Mittelalter 
gegenüber eine nationale Kirche, eine nationale Politik, eine 





—— — — 


317 


nationale Literatur erwedt und diefe Mächte vor Allem in 
England fiegreih behauptet hatte Und nicht genug, daß 
Bacon die nationale Gefehichtfchreibung zur Aufgabe machte, 
er unternahm ſelbſt die eremplarifche Löſung derfelben, er 
wählte die Gefchichte feiner Nation in dem eben erfüllten Zeit- 
raum ihrer nationalen Wiederherftellung, die Geſchichte Eng- 
lands von der Vereinigung der Rofen unter Heinrid) VII. bis 
zur Bereinigung der Reiche unter Jakob I. In feiner Ge: 
ſchichte der Regierung Heinrich's VII. bat er den erften 
Theil diefer Aufgabe gelöft.*) 

Bacon will die politifche Geſchichte ebenfo rein und fadh- 
lid) dargeftellt wifjen als die literariſche. Hier foll die Dar- 
ſtellung nicht fortwährend fritifiren, dort nicht politifiren. 
Er deutet auf das Gefchlecht jener Hiftorifer, die einer Doctrin 
zu Liebe Geſchichte fchreiben und immer mit Vorliebe auf ge- 
wiſſe Begebenheiten zurückkommen, um ihre Theorie daran zu 
demonftriren; fie vergleichen jedes Factum mit der Doctrin, 
die fie im Kopfe haben, und wie die Vergleihung ausfällt, 
jo das Urtheil. Haben fie irgend ein modernes Verfaſſungs⸗ 
ideal im Kopfe, fo werben fie auch Männer wie Alerander und 
Cäſar nad ihrem Schema beurtheilen und uns belehren, daß 
jene Welteroberer nicht conftitutionelle Monarchen waren. 
Diefe unausftehliche Art, Gefchichte zu fchreiben, nem Bacon 
fehr treffend „die Gefhichte wiederfäuen”. ‘Das möge 
dem Politifer erlaubt fein, der die Geſchichte nur benußen will, 
feine Doctrin zu belegen, aber nicht dem wirklichen Gefchicht- 
ſchreiber. „Es ift unzeitig und läftig, überall politifche Be- 
merfungen einzuftreuen und damit den Baden der Gefdichte 


*) Bgl. oben Bud) I, Cap. VIII, ©. 119. 


318 


zu zerftüdeln. Freilich ift jede etwas umfichtige Geſchicht⸗ 
fchreibung mit politifchen Vorſchriften gleichſam geſchwängert, 
aber der Gefchichtfchreiber foll nicht an fich jelbft zur Hebamme 
werben. *) 


III. 
Welterkenntniß. 
1. Eintheilung. 


Die Beichreibung der Dinge hat e8 mit Thatſachen, die 
Poefie mit bloßen Bildern, die Wiffenfchaft mit den Urfachen 
der Dinge zu thun; die Gefchichte riecht, die Poefie träumt, 
die Wiſſenſchaft entdedt, fie forfcht nach den Quellen, die 
gleich) den Gewäffern entweder vom Himmel herabfallen oder 
aus der Erde hervorbredhen. Ohne bildlichen Ausbrud: bie 
Urſachen find entweder übernatürlich oder natürlich, jene wer- 
den offenbart, diefe erfahren. Erkenntniß durch Offenbarung 
ift pofitive oder geoffenbarte Theologie, Erkenntniß durch Er- 
fahrung ift Philofophie, die Duelle der Offenbarung ift das 
göttlihe Wort, die der Erfahrung der menſchliche Sinn. 

Das Gebiet der Bhilofophie reicht fo weit als das natür- 
liche Licht. Indem Bacon das Erkennen mit dem Sehen, die 
Erjheinungsweife der Objecte mit der Bewegungsart ber 
Lichtftrahlen vergleicht, unterfcheidet er drei Zweige oder 
Theile der Philofophie: die natürlichen Dinge erjcheinen uns 
in directem Licht, Gott in gebrochenem, unfer eigenes Wefen 
in reflectirtem; wir ftellen die Natur unmittelbar vor, Gott 


— — — — — 


*) De augm. U, cp. 10. Op. p. 56. 


319 


durch die Natur, uns jelbjt vermöge der Weflerion. ‘Daher 
zerfällt die Philofophie in die Xehre von Gott, von der Natur, 
vom Menfchen.*) 


2. Fundamentalphiloſophie. 


Wenn fih die Wiffenfchaft in fo viele Theile verzweigt, 
fo muß e8 aud einen Stamm geben, aus bem jene Zweige 
entfpringen, Wurzeln, aus denen der Baum der Wiffenfchaft 
bervorwädft. Hier ſtellt ſich in den Geſichtskreis Bacon's 
die Aufgabe einer Stamm- und Grundwiſſenſchaft, die er, 
weil alle übrigen Wiffenfchaften aus ihr hervorgehen, deren 
„Mutter” nennt; er bezeichnet fie im Unterſchiede von den 
befonderen Wilfenfchaften als die allgemeine (scientia generalis), 
im Unterfchiede von den Theilen der Bhilofophie als deren 
Grundlage (prima philosophis). Es fei die Weisheit, die 
man früher „die Wiffenfchaft aller göttlichen und menfchlichen 
Dinge” nannte. **) 

Im Organon galt die Naturphilofophie als die Mutter 
aller übrigen Wilfenfchaften, die Metaphyſik als der Inbegriff 
der oberften phyſikaliſchen Grundfäge; in der Enchflopädie 
gilt die Metaphyſik als eine befondere Art der Naturerklärung, 
welche die ftreng phyſikaliſche nicht ift.***) Alfo ift die Meta- 
phyfit bei Bacon entweder phyſikaliſche Grundwiſſenſchaft 
oder naturphilofophifche Nebenwiſſenſchaft, in feinem Tall 
allgemeine Grundwiſſenſchaft. Bacon unterfcheidet feine prima 
philosophis ausdrüdlich fowohl von der Metaphyſik, wie von 
ihm die philofophifche Grundwiſſenſchaft genannt wurde, ale 

*) De augm. III, cp. 1. Op. p. 73. 


**) Ebend. III, cp. 1. Op. p. 74. 
“) Bol. oben Buch II, Cap. II, ©. 174 Hg. Bgl. Cap. X, 2. 


320 


auch von der Naturphilofophie, die er felbit im Organon 
mit demfelben Namen bezeichnet, den er im dritten feiner 
encyklopädiſchen Bücher der prima philosophia giebt. 

Was wollte Bacon mit diefer Fundamentalphilojophie, von 
der er nicht recht weiß, ob er fie vermiffen und unter die 
neuen Aufgaben rechnen fol? „Ich zögere, ob fie fchlechter- 
dings in die Nepofitur des Vermißten gehört, doch glaube ich 
fie dahin rechnen zu dürfen.“ Unficher, wie die Faſſung der 
Frage, ift die Antwort. Wir finden nur unbeftimmte und 
ſchwankende Umriſſe, die weder an dieſer Stelle noch fonft 
wo in feinen Schriften näher ausgeführt werden. Jede bes 
fondere Wiſſenſchaft ſoll e8 vermöge der Induction zu gewiſſen 
allgemeinen Sägen biingen, die feitftehen und die übrigen 
tragen. Einige diefer „Ariome” find ihr eigenthümlich, einige 
theilt fie mit anderen Wiffenfchaften, einige mit allen. Es 
giebt gewiffe Axiome, die ebenfo mathematifche als Logijche, 
phyſikaliſche, ethiſche, politifche, theologifhe Geltung haben. 
Es darf daher eine Wilfenfchaft geben, die alle jene ben 
übrigen gemeinfamen Orundfäge in fi) aufnimmt und gleidj- 
fam ein „receptaculum axiomatum‘ bildet. Dies wäre eine 
Aufgabe der philosophia prima.“) Bei allen durch Induc- 
tion gefundenen Sägen handelt es fich um mehr oder weniger 
Fälle, um Uebereinftimmung und Verſchiedenheit, wejentliche 
und unwejentlihe Bedingungen, Möglichkeit und Unmöglid)- 
feit u. |. f., alfo um eine Reihe von Beitimmungen, unter 
die alles Erkennbare fällt. Diefe Beltimmungen, wie Biel 
und Wenig, Einheit und Verfchiedenheit, Wefentliches und 


"Unwefentliches, Mögliches und Unmögliches u.f. f. nicht als, 


*) De augm. II, cp. 1. Op. p. 74. 


321 


leere Abftractionen, nicht in ihrer dialektifchen, fondern in 
ihrer realen Bedeutung zu behandeln, wäre eine zweite Auf- 
gabe. Was Bacon hier vorichwebt, könnten wir eine indnc- 
tive Kategorienlehre nennen. *) 

Alle diefe Fingerzeige geben noch feine beftimmte Weifung. 
Bielleiht fommen wir auf einem Umwege dem Ziele etwas 
näher. Einheit in der Verfchiedenheit ift Webereinftimmung, 
Sonfenfus, Analogie. Wenn e8 in den Witjenfchaften Ana⸗ 
logien giebt, Süße, in denen alle Wilfenfchaften, wie ver- 
Ichieden fie fein mögen, übereinftimmen, fo würde die Einficht 
in diefe Analogie, die Erkenntniß diefer Süße das fein, was 
die baconifche Grundwiſſenſchaft Teiften fol, Wenn es in der 
Natur der wirklichen Dinge Analogien giebt, deren Umfang 
fi) erweitert, fo würden diejenigen Beichaffenheiten, worin 
alle übereinftimmen, diefe Analogien vom größten Umfange 
das fein, was jene baconifhe Grundwiſſenſchaft unterfuchen 
fol. Damit find wir hingewiefen auf die Vorftellung der 
Analogien, die Bacon im zweiten Buche des Organons unter 
den prärogativen Inftanzen behandelt. Die natürlichen Ana- 
logien find, wie Bacon fagte, die erften Stufen, die zur 
Einheit der Natur führen. Diefelben Stufen führen zur 
Einheit der Wiffenfchaften, die doc, nichts anderes fein Tann, 
als das Abbild der Einheit der Natur, zu jener Grundwiſſen⸗ 
haft, die nichts anderes ift, als die Wiffenfchaft unter dem 
Geſichtspunkte der Analogie. Hatte doch Bacon ſchon an jener 
Stelle des Organons die Wiffenfchaften unter diefen Gefichte- 
punft geftellt und 3. B. Mathematik, Logik, Rhetorik u. ſ. f. 
in ähnlichen Beiſpielen verglichen als hier, wo er fi die 


*) De augm. III, cp. 1. Op. p. 76. 
Fiſcher, Bacon. 21 


322 


Tundamentalphilofophie zum Ziel fett. Die natürlichen Ana- 
logien führen auf die Stufenreihe der Dinge und erklären 
fi daraus. „Dan Hat viel von der Einheit und PVerfcie- 
denheit der Dinge geredet”, fagt Baron an unferer Stelle, 
„aber nicht darauf geachtet, wie die Natur beide vereinigt, 
wie fie ihre verfchiedenen Arten ftets durch Mittelarten ver- 
bindet, zwiſchen Pflanzen und Thieren, Fischen und Vögeln, 
Bögeln und Bierfüßern u. f. f. Uebergangsformen einſchiebt.“ 
Berallgemeinern wir diefe Vorftellung des Stufenreichs zu 
dem Begriff einer univerjellen Ordnung fowohl der Dinge als 
der Wiſſenſchaften, die deren Abbild find, fo fehen wir das 
Problem der baconifchen „scientia generalis” vor uns, Daß 
alle Dinge von dem unterften Weſen bis zu dem höchſten 
eine Stufenleiter bilden, ift der Grundgedanfe, den Bacon 
hatte, der ihn antrieb, überall Analogien zu fuchen in den 
Dingen wie in den Wiffenfchaften, der das Motiv zu feiner 
Grundwiſſenſchaft bildet, obwohl er ihn nur fragmentarifch 
äußert und in rohen Beifpielen zum Vorſchein bringt. Hätte 
er ihn tiefer erfaßt und folgerichtig ausgebildet, jo wäre feine 
Lehre auf den Begriff der Weltentwidlung eingegangen, 
er wäre dann der englifche Leibniz geworden und nicht der 
Segenfüßler des Ariftoteles. Diefelbe Idee, die in der Ench- 
klopädie eine Grundwiffenfchaft ftiften, das Ariom der Ariome 
ausmachen, das „receptaculum axiomatum“ fein wollte, 
begnügte fih im Organon mit der Nebenrolle eines Hülfs- 
mittels, | 


3. Theologie und Philoſophie. 


Die Theologie findet auf dem baconifchen globus intel- 
lectualis zwei Pläße, den einen völlig außerhalb der Philo- 


323 


fophie, den andern innerhalb derfelben: dort die geoffenbarte, 
hier die natürliche Theologie, beide getrennt durch die Grenz- 
linie der Philofophie; jene nennt Bacon die göttliche Theologie, 
diefe die göttliche Philofophie, weil ihr Gegenftand Gott, ihre 
Erfenntnißart das natürliche Licht ift. Die Grenze beider 


Theologien ift die Grenze zwifchen Offenbarung und Natur, 


Religion und Bhilofophie, Glaube und Willen: diefe Grenze 
ſoll die Wiffenfchaft nie üÜberfchreiten, eingedent der Worte: 
„Gebet dem Glauben, mas des Glaubens iſt“, womit ſich 
Bacon einmal für immer die möglichen Grenzſtreitigkeiten 
aus dem Wege räumt und ſich mit dem Glauben weniger 
auseinanderſetzt als abfindet. Wird jene Grenze verwiſcht, 
ſpielen Philoſophie und Religion ineinander über, ſo entſteht 
auf beiden Seiten der Irrthum: die mit der Wiſſenſchaft ver- 
miſchte Religion wird heterodor, die mit der Religion ver- 
mifchte Wiſſenſchaft phantaſtiſch; eine „häretiſche Religion” 
und eine „„phantaftifche Philofophie” find die unvermeidlichen 
Folgen der Grenzverwirrung.*) 

Das richtige Verhältnig ift die Trennung. Die natür- 
liche Theologie erkennt Gott aus der Natur, wie man den 
Künftler aus feinen Werfen erfennt, fie kann aus der Eriftenz 
und Ordnung der natürlihen Werfe die Macht und Weisheit 
des Schöpfers darthun, fie kann den Gottesleugner widerlegen, 
vielleicht befehren, aber weiter veicht fie nicht; aus der Natur 
läßt fich nicht erkennen, was Gott in Abficht auf den Menſchen 
gewollt und zum Heile defjelben verordnet hat. Die göttliche 
Heilsordnung ift fein Wert der Natur, fondern pofitiver 
Offenbarung. Der Glaube daran ift Religion, ein falfcher 


*) De augm. II, cp. 2. Op. p. 76 fig. Vgl. unten Cap. XV. 
. 21* 


324 


GSottesglaube ift Gökendienft, die Verneinung des göttlichen 
Dafeins überhaupt ijt Atheismus. Die natürliche Theologie 
fann den Atheiften widerlegen, aber in der Religion nichts 
ausrichten, fie Tann weder die wahre begründen noch die falfche 
berichtigen, fie kann die Religion weder machen noch beweifen, 
fondern nur ihr Gegentheil verhindern. ‘Daher Tann fie der 
Religion keinen pofitiven, fondern nur einen negativen Dienft 
leiſten. 

Auch über die möglichen Mittelweſen zwiſchen Menſch 
und Gott, über Geiſter, Engel, gute und böſe, kann die 
natürliche Theologie ihre Betrachtungen und Vermuthungen 
anſtellen, indeſſen kann man dieſe Aufgaben nicht zu den neuen 
und Leiſtungen dieſer Art nicht zu den vermißten rechnen, 
denn ſie ſind im Ueberfluß vorhanden; vielmehr wäre zu 
wünſchen, daß die natürliche Theologie weniger ausſchweifend 
und die meiſten Unterſuchungen über Engel und Dämonen 
weniger eitel, abergläubiſch und ſpitzfindig wären.*) 

Da nun die geoffenbarte Theologie alle Philoſophie gänz- 
lich ausfchlieht, wie Tann innerhalb derfelben noch von Wiſſen⸗ 
haft geredet werden? Denn Bacon ftellt fie doch in den 
Umkreis der Wiffenfchaft, wenn auch nicht in den der Philo- 
fophie. Wir werden fpäter auf das baconifche Verhältniß der 
Religion und Philofophie in einem befonderen Abjchnitt zurüd- 
fommen und wollen hier nur die Hauptpunfte zur Beantwor⸗ 
tung der obigen Trage bezeichnen. Daß Bacon die geoffen- 
barten Heilswahrheiten gleichjet der chriftlichen Religion und 
diefe der wahren, bedarf Feiner weiteren Erörterung. Diefe 
Dffenbarungen find pofitive Glaubensnormen, die feititehen, 


*) De augm. II, cp. 2. Op. p. 77—18. 


325 


wie die Regeln im Spiel. Wer mitfpielen will, muß ſich 
den Regeln des Spiels ohne weiteres fügen, dagegen fteht 
die Anwendung und der Gebrauch derfelben frei, und bier hat 
die Vernunft ein Wort mitzureden; es ift ihre Sache, daß 
geſchickt und richtig gefpielt wird, dazu gehört, daB man 
erftens die Regeln vichtig verjteht und zweitens richtige Schlüffe 
daraus zieht. Das richtige Verftehen und Schließen iſt eine 
Sache der Logik, und hier würde eine Art „‚göttlicher Logik“ 
am Ort fein, bie viele Streitigleiten befeitigen und darım 
heilfam wirken Könnte, wie „eine mit Opium vermifchte Arz- 
nei”. Eine folche Logik wird vermißt und gewünfdht. Wenn 
die VBorderfäße vermöge des Glaubens außer Streit find und 
die Schlußfäte vermöge einer ſolchen Logik ausgemacht und 
bewiefen werben, fo werden eine Menge ftreitiger Glaubens- 
materien hinfällig.‘ Die Vernunft geht nicht über jene Vor— 
derfäge hinaus, als ob fie diefelben zu prüfen hätte, fondern 
folgt ihnen blos, daher nennt Bacon diefe Art des Logifchen 
Vernunftgebrauchs ‚‚ratio secundaria”. Es giebt ferner in 
Glaubensfragen Abweichungen, die nicht von gleichem Gewicht 
find und darum auch nicht von gleihen Wirkungen fein follen. 
Die einen gehen bis zum Abfall; in Rüdficht auf folche 
Differenzen gilt das Wort: „Wer nicht für mich ift, der ift 
wider mih!” Dagegen follen abweichende Anfichten, die 
nit fo weit gehen, nad) dem andern Worte beurtheilt wer- 
den: „Wer nicht wider mich ift, der ift für mich!““) Beide 
Worte laſſen fi) danı, wie es gefchehen foll, richtig vereini- 
gen, wenn innerhalb der Glaubenseinheit gewiffe Grade unter- 
Ichieden werden. ine folche richtige Unterfcheidung wefentlicher 


*) De augm. IX. Op. p. 257 —261. 


326 


und unweſentlicher Glaubensfragen würde zum Religiongfrie- 
den viel beitragen, und ift deshalb, da fie vermißt wird, zu 
wünfchen. *) In diefer Abfiht auf eine der Offenbarung 
gemäße Glaubensreinheit und Berminderung theologifcher 
Streitigfeiten wünfcht Bacon zulegt Beifpiele der Schriftaus- 
fegung, die weder die Fünftliche Methode der Scholaftifer nad)- 
ahmen noch in die willfürliche Weife des Paracelfus oder ber 
rein natürlichen und menſchlichen Erfläruugsart verfallen, fon- 
bern den kirchlich praftiihen Zweck vor Augen haben; er 
vermißt und wünſcht eine proteftantifhe Exegeſe nad der 
Glaubensrichtſchnur der englifhen Staatskirche: fo ließe fi) 
furz bezeichnen, was er meint. 

Nachdem wir von der Weltbefchreibung in ihren verfchie- 
denen Zweigen, von der Fundamentalphilofophie und den bei- 
den Arten der Theologie gehandelt haben, bleiben uns von 
der baconifhen Enchklopädie die philofophifhen Wiffenfchaften 
im Befonderen übrig, deren Objecte und Erfenntnißart im 
natürlichen Licht Liegen: die Lehre von der Natur und vom 
Menſchen. 


— t 





*) De augm. IX, 2. Op. p. 261. 


Behntes Kapitel. 
Kosmologie. A. Naturphilofophie. 


Will man die Gefammtaufgabe der Menfchheit, wie Bacon 
fie beftimmt Hat, in die Fürzefte Formel fafjen, fo befteht fie 
darin, daß wir die Welt abbilden und fortbilden. Nur auf 
die Abbildung läßt fi die Fortbildung gründen: auf das 
Reid) der Erkenntniß das Reich der Cultur oder das regnum 
hominis. Daher fagt Bacon fo gern: „Wir wollen einen 
Tempel gründen im menfchlichen Geift nach dem Vorbilde der 
Welt.” Das Original it die Welt, das Abbild die Vor- 
ftellung der Welt in uns, unfere Aufgabe ift, die richtige 
Borftellung zu gewinnen. Diefer Weg allein führt zur 
Herrichaft. 

Nun war das Weltgemälde, je nachdem es dur Phan- 
tafte oder Wahrnehmung (Gedächtniß) und Vernunft ausgeführt 
wird, entweder poetifcher oder wifjenfchaftlicher Art, und das 
legtere, das die Welt nimmt und darftellt, wie fie ift, un- 
verhüäftt und ohne Sinnbild, Hat die zweifache Aufgabe der 
Beichreibung und Erflärung. Die Beſchreibung giebt das Ab- 
bild der Thatſachen, das hiftoriiche Weltabbild, die Erklärung 
giebt das der Urfachen, das feientififche Abbild, welches, ab- 
gefehen von den übernatürlihen Urſachen ober der geoffenbar- 


328 


ten Theologie, das philofophifche Gebiet der Erfenntnig um- 
faßt, gerichtet blos auf die natürlichen Urfachen. Und abge- 
ſehen von der Gotteserlenntnig aus natürlichen Urſachen oder 
der natürlihen Theologie, bleibt für das philofophifche Erkennt⸗ 
nißgebiet der Inbegriff der natürlichen Dinge oder dic Welt 
als das einzige und eigentliche Object übrig: die Philofophie 
al8 (rationelle) Kosmologie. Alle Theile des Weltabbildes, 
die nicht philofophifche Kosmologie find, Haben wir im vor- 
bergehenden Abſchnitt behandelt; von der Philoſophie als Kos⸗ 
mologie iſt jetzt zu reden. 

Die Eintheilung der Kosmologie ergiebt ſich von felbft: 
fie zerfällt in die beiden Sphären der phyſiſchen Welt im 
engeren Sinn und der Menfchenwelt, fie ift in der erften 
Rückſicht Naturphilofophie, in der zweiten Anthropologie im 
weiteften Umfange. Um in der baconifchen Enchklopädie den 
Ort ber Kosmologie deutlich zu fehen, geben wir das folgende 
Schema: 


Abbild der Dinge (globus intellectualis). 














Veltbeſchreibung. Dithtung. Erktnntniß der Urſachen. 
Mau Menfchheit epiſch übernat. natürliche 
wi hecefte weiti. tirchtich dramatiſch FAR Gott (Rosmaloaie) 
— — araboliſch — I. 
Bildun 5* der geil ſtirchen⸗ p ſch nat. | Ratur | Menid- 
gen |XTceh geſch. Theol. heit 
Miebil iogte, uter. 
dungen. Geſch. 


Die Aufgaben der Naturphilsfophie, 
1. Theoretiſche und praltiſche. 
Wir haben zunächſt das Gebiet der Naturphilofophie vor 
und Ihr Ziel ift die Erfindung d. 5. die Beherrfchung der 





329 


Natur durch Anwendung ihrer Geſetze, die felbjt bedingt ift 

durch deren Erkenntniß. Man Tann beftimmte Wirkungen nur 

bezwecken und bervorbringen, wenn man die Urfachen kennt 

und in feiner Gewalt hat. Daher theilt fich die ganze Bahn _ 

der Naturphilofophie von der Erfahrung bis zur Erfindung 

in zwei Hauptwege: der erfte fteigt von der Erfahrung zu 

den Urſachen oder den Quellen der Thatfachen empor, der 

andere geht von hier abwärts zur Erfindung; auf dem eviten 

Wege verhält fi) die Naturphiloſophie unterfuchend, entdeckend, 

theoretifh, auf dem zweiten verfuchend, operativ, praktiſch. 

Demgemäß unterfcheidet Bacon die Naturphilofophie in die 

beiden Gebiete der theorctifchen und praftifchen, oder wie er 

fi) bildlich und fpielend ausdrüdt, die theoretifche Naturphi- | 
loſophie fährt in die Bergwerke der Natur und fördert die 
Erze zu Zage, die praftifche bringt fie in die Defen, unter den 

Hammer, auf den Amboß, fie bearbeitet, ſchmilzt und fchmie- 

det, was jene ergründet und aus dem verborgenen Schooße der 

Natur bervorholt. *) 


2. Phyſik und Metaphyfil, 


Die theoretifche Naturphilofophie erforfcht die natürlichen 
Urſachen der ‘Dinge, welche felbjt zweifacher Art find, die 
Bacon nad) dem VBorgange und dev Ausdrucksweiſe des Arifto- 
teles fo unterfcheidet, daß er die alten Namen beibehält, aber 
die Bedeutung ändert. Co ändern fid) auch in der bürger- 
lichen Welt die Zuftände und PVerfaffungen, aber die Namen 
der Obrigfeiten bleiben ſich gleidh.**) Er unterfcheidet die 


— — — — 


*) De augm. Lib. III, cp. 3. Op. p. 78. Bgl. oben S. 141—49. 
**) Ebend. II 4. Op. p. 79. Bgl. oben Cap, IH, S. 180. . 





330 


natürlichen Urfadhen in materielle und formale, in wirkende 
und zwedthätige oder in mechanifche Urfachen und Abfichten 
(causae efficientes und finales). Mit der Materie und den 
wirkenden Urfachen hat es die Phyſik, mit den Formen und 
Endurfachen die Metaphyſik zu thun. Die theoretifhe Natur- 
philofophie zerfällt demnad) in Phyſik und Metaphyſik: die 
Grundbegriffe der phyſikaliſchen Erklärung find Materie und 
Kraft, die der metaphyfifchen Form und Zwed.*) 

Die Phyſik fteht in dev Mitte zwifchen Naturgefchichte 
und Metaphufif: von der breiten Grundlage der Thatſachen 
jtrebt fie enpor zu den Urfachen, die, je höher man fteigt, fich 
immer mehr und mehr vereinfachen; jo gleicht die gefammte 
(theoretifche) Naturwiffenfchaft einer Pyramide, deren Spike 
die Metaphyſik if. Es wird daher einen Theil der Phyſik 
geben müſſen, der fich näher an die Naturgefchichte Hält, und 
“einen höher gelegenen, der an die Metaphyſik grenzt. **) 

Die phyfifchen Körper find zufammengefeßt: fie find in 
ihrer Zuſammenſetzung unendlich mannigfaltig und verfchieden, 
fie find felbft wieder Theile eines Ganzen und bilden zufanı- 
men das Weltgebäude oder Univerfum, fie beftchen aus Ur— 
ftoffen, die ihre Principien oder Elemente ausmachen. Daher 
wollen fie unterfucdht werden fowohl in Rückſicht ihrer Einheit 
und Verbindung als ihrer Mannigfaltigkeit und Verfchieden- 
heit, und fo zerfällt die Phyſik in drei Theile: fie handelt in 
Rückſicht der Einheit von den Principien oder Urftoffen und 
von der Welt, in Rückſicht der Mannigfaltigfeit von den ver- 
Ichiedenen Körpern. Und da diefe bei aller Verfchiedenheit 

*) Physica est, quae inquirit de efficiente et materia, meta- 


physica, quae de forma et fine. De augm. III, 4. Op. p. 80. 
**) Ebend. III, 4. Op. p. 80. 81. Bel. S. 91, 





331 


gewifjfe Grundeigenſchaften gemein haben und in gewiſſe Haupt⸗ 
claffen ſich unterfcheiden, jo wird bier die Phyſik zwei Auf- 
gaben löſen müffen, indem fie die Linterfchiede im Einzelnen 
erflärt und dann die gemeinfamen Factoren: fie Handelt in 
der eriten Rüdficht „de concretis”, in der zweiten „de na- 
turis”, jene nennt Bacon die conerete, diefe die abitracte 
Phyſik, und es ift klar, daß die concrete Phyſik näher der 
Naturgefhichte ftcht, die abftracte näher der Metaphufit.*) 
Die erfte unterfucht die einzelnen concreten Körper, wie Mine- 
ralien, Pflanzen, Thiere, die andere die allgemeinen phyſika— 
liſchen Eigenfchaften, wie Schwere, Wärme, Licht, Dichtigfeit, 
Cohäſion u. ſ.f. Die conerete Phyfit nimmt diefelbe Ein- 
theilung als die Naturgefchichte, nur daß fie die Objecte er- 
Härt, welche diefe blos befchreibt. Hier vermißt Bacon vor 
allem die Phyfif der Himmelsförper; es giebt nur einen 
mathematiſchen Abriß ihrer äußern Form, Feine phyſikaliſche 
Theorie ihrer Urſachen und Wirkungen. Es fehlt eine phyſi— 
kaliſche Aſtronomie, die Bacon im Unterſchiede von der mathe— 
matiſchen die lebendige nennt, eine phyſikaliſche Aſtrologie, 
die im Unterſchiede von der abergläubiſchen die geſunde 
heißen ſoll. Unter der lebendigen Aſtronomie wird die Ein- 
ficht in die Gründe der Himmelserſcheinungen, in die Urſachen 
ihrer Geftalt und Bewegung verftanden, unter ber gefunden 
Aftrologie die Einficht in die Wirkungen und Einflüffe, welche 
die Geftirne auf die Erde und deren Körper ausüben. Diefe 
Wirkungen find in allen Fällen natürliche, nicht fataliftifche, 
die Geftirne beftinnmen nicht das Schickſal der Welt, in diefem 
Aberglauben beftand der Unfinn der bisherigen Aftrologie, 


*) De augm. III, 4. Op. p. 80. 81. 


332 


wohl aber üben fie, wie Sonne und Mond, auf die Erbe 
phyſiſche Einflüffe aus, die fih im Wechſel der Jahreszeiten, 
in Ebbe und Fluth, in gewiſſen LXebenserfcheinungen u. f. f. 
Tundgeben. Eben diefe Wirkungen find zu erklären, ihre Ur- 
ſache und Kraft, ihre Art und ihr Spielraum. 

Die baconifche Metaphyſik gehört in die Naturphilofophie: 
fie Hat e8 blos mit der Natur zu thun, darum ift fie nicht 
Sundamentalphilofophie, wie bei Ariftoteles, fie hat es nur 
mit natürlichen Urfachen zu thun, darum ift fie nicht Theo» 
logie, wie bei Plato. Bacon vergleiht den Bau der Welt 
und der Wiffenfchaften gern mit dem der Pyramiden. „Alles 
fteigt nad einer gewiffen Stufenleiter zur Einheit; 
diefe Hetrahtungsweife, die ſchon Parınenides und Plato ge- 
habt haben, freilich nur als „nuda speculatio‘*), bildet 
das Grundthema feiner Yundamentalphilofophie, welche die 
ftufenmäßige Ordnung aller Weſen vor fi) hat, während die 
Metaphyfit nur die Scala der phyſiſchen Dinge betrachtet 
und in der Stufenleiter der Wiffenfchaften auf der oberiten 
Sproffe der Naturlehre fteht, hinausblickend über die Grenze 
der Phyſik, nicht über die der Naturphilofophie. Die Wteta- 
phyſik beichreibt zwei Gebiete, von denen das eine mit der 
Phyſik verkehrt und zufammenhängt, das andere gar nicht. 
Es iſt wichtig, zwiſchen Metaphyſik und Phyſik diefen Zufam- 
menhang wie dieſe Grenze im Sinne Bacon's genau zu bes 
zeihnen. Die natürlichen Urſachen metaphyſiſcher Art, die 
mit der Phyſik zufammenhängen, find die Formen, bie natür⸗ 
lihen Urſachen metaphyſiſcher Art, die gar nicht phyſikaliſch 
find und fein dürfen, find die Zwede Wir kennen bereits 





*) De augm. II, 4. Op. p. 91. 


— 


333 


den baconischen Begriff der Formen als den der wirkenden 
Naturen oder Irfachen, welche allein die Richtſchnur der phyſi— 
falifchen Erklärung bilden. Es ift nicht leicht zu fagen, worin 
hier die metaphyſiſche Erklärung fid) von der phyſikaliſchen 
noch unterfcheiden fol. Im Grunde nur im Namen. Setzen 
wir, daß die wirkenden Urfadyen der natürlichen Dinge fich 
immer mehr und mehr vereinfachen, jo würden die lebten, 
einfachften, oberſten Urfachen gleichfam die Formen erfter 
Clafje, die Gegenftände der Metaphyſik fein. So erflärt ſich 
der Ausſpruch Bacon’s: „Die Metaphyſik betrachtet vorzugs- 
weife jene einfachen Formen der Dinge, die wir früher die 
Formen eriter Elafje genannt haben.“*) Hier hat die Meta- 
phyſik ihre gegen die Phyſik offene Seite und die abftracte 
oder beſſer gefagt allgemeine Phyſik geht ungehemmt in die 
Metaphyſik über. 

Dagegen iſt das phyſikaliſche Gebiet vom metaphyſiſchen 
völlig gejchieden durch den Begriff des Zwecks, der in der 
Phyſik nichts ausrichtet, von diefer ganz fern zu Halten ift 
und in feiner Anwendung auf Naturerfcheinungen eine Pro- 
vinz blos der Metaphuyfit bildet. Soweit die Metaphyſik 
in dem vorher erklärten Sinne allgemeine Phyſik ift oder fein 
joll, wird fie von Bacon vermißt und gefordert; als teleolo- 
gifche Naturerffärung wird fie der Sache nad nicht vermißt, 
nur die richtige Stellung diefer Erflärungsweife zur Phyſik 
fucht man vergebens. ES ift von der größten Wichtigkeit, 
daß hier die beiden Gebiete auf das Sorgfältigfte gefchieden 
werden, denn es war von größten Uebel, daß die Grenze 


*) De augm. III, 4. Op. p. 91. Weber die Bedeutung der For- 
men vgl. oben ©. 179 fig. . 


N. 334 


verrücdt und die teleologifche Erflärungsmweife in die phyſika— 
lifche eingemifcht wurde. Dies hat die Leßtere fortzufchreiten 
gehindert und unglaubli verwirrt. Wie die Philofophie 
durch Vermiſchung mit der Theologie phantaftifch wird, fo 
die Phyſik durch die Vermifchung mit der Teleologie. „So— 
bald die Endurfachen”, fagt Bacon, „in das phnfifalifche 
Gebiet einfallen, entvöffern und verwäften fie diefe Provinz 
auf jammerpolle Weile.” Die Phyſik reinigen, heißt die End- 
urſachen in die Metaphyſik verweiſen. In der Phyſik ift die 
Erffärung der Dinge nach Zweden unfruchtbar und Tchädlich, 
in der Metaphyſik ift fie am richtigen Ort. “Der teleologifche 
Geſichtspunkt fol nicht überhaupt verneint, fondern nur in 
feiner Anwendung befchränft, er foll dem phyſikaliſchen aud) 
nicht entgegengejegt, jondern nur davon getrennt werden; beide 
ichließen fich Teineswegs aus, fondern fünnen fi) wohl mit 
einander vertragen. Was in diefer Rückſicht Tediglich ale 
Wirkung blinder Kräfte erfcheint, warum foll e8 in anderer 
Rückſicht nicht zugleich nützlich und zwedmäßig erfcheinen 
dürfen? Man wird'gern anerkennen, daß die Augenwimpern 
zum Schutze der Augen, das Fell der Thiere durch feine 
Teftigfeit zur Abwehr gegen Hite und Kälte, die Beine zum 
Tragen des Körpers dienen; aber was nüten folche Erklärungen 
in der Phyſik? Die phyſikaliſche Trage Heißt nicht: wozu 
dienen die Angenwimpern, fondern warum wachſen an diefer 
Stelle Haare? Offenbar hat die Hier wirkfame phyfifalifche 
Bedingung nicht die Abficht, ein Schugmittel für die Augen 
zu bilden. Ebenfo wenig will die Kälte, wenn fie die Poren 
der Haut zufanmenzieht und dadurd) die Härte derfelben be- 
wirkt, die Thiere gegen die Einflüffe der Temperatur jchüßen. 
Die phyſikaliſchen Erklärungen find von den teleologifchen 





. 335 


völlig verſchieden. Widerfprechen fi) darum beide? Hindert 
etwa die Urfache, daß ihre Wirkung nüglich wird in einer 
Beziehung, die der Urſache felbft fremd ift? Die Eonfufion 
entjteht exit, fobald man den Nuten, den die Wirkung hat, 
zu deren Urſache macht. Gegen diefe Confufion vichtet fich 
Bacon; um fie aufzuklären, trennt er, was nicht zufemmen 
gehört: die causa cefficiens von der causa finalis, die meche- 
niſche Erflärung der Dinge von der teleologifchen, die Phyſik 
von der Metaphyſik. Iene zeigt uns nur die gefekmäßige 
Notur, diefe zugleich die zwedmäßige. Sie deutet damit in 
letter Inſtanz auf cine vorfehende Intelligenz, weldje das 
blinde Walten der Naturfräfte mit weifer Oekonomie lenkt 
und ordnet, und fo gewährt die Metaphyfif eine Ausficht, 
die näher zu verfolgen der natürlichen Theologie überlaffen 
bleibt. *) 


3. Mechanik und natürliche Magie. 


Der theoretiſchen Naturphilofophie fteht die praktiſche zur 
Seite. Wie jene in Phyſik und Metaphyſik, fo theilt fich 
diefe in Mechanik und Magie: der Phyſik entfpricht die Mecha- 
nif, der Metaphyſik die Magie; die Mechanik ift angewandte, 
praftifche, erfinderifche Phyſik, die Magie in demfelben Sinne 
proftifche Metaphyſik. Nur als allgemeine Phyſik, nicht fofern 
fie von den Abfichten der natürlichen Dinge handelt, kann die 
Metaphyſik überhaupt praftifch werden. Als Teleologie Hat 
fie feine Praxis; die Teleologie ift zur phyſikaliſchen Erfindung 
ebenfo untauglich als zur phyfilalifchen Erfenntniß. An diefer 

*) De augm. Lib. UI, 4 Op. p. 911 - 93. Ueber den Gegenfaß 


der Metaphyſik und Phyſik in Betreff der teleologifchen Betrachtungs⸗ 
weife vgl. oben ©. 174 fig. 


336 . 


Stelle findet fid) jenes berühmte und oft wiederhofte Wort 
Bacon's: „Die Unterfudhung der Endurſachen ift unfruchtbar 
und gebiert nichts, gleich ciner Gott geweihten Jungfrau.” *) 

Die Mechanik ift nicht ganz vernadläffigt, dagegen fehlt 
die Magie, fie wird, wie die Wilfenfchaft, deren Praris oder 
erfinderifhe Anwendung fie bildet, vermißt und gefordert. 
Nur laffe man fi) durch das Wort „Magie“ nicht irre führen 
über Bacon's wirkliche Meinung; er fett die natürliche oder 
ächte Magie der abergläubiichen und unächten entgegen, wozu 
er die Träume der Aftrologie und Alchymie rechnet. Es bleibe 
dahingeftellt, ob das Ziel, welches die Alchymiſten gefucht 
haben, die Erzeugung des Goldes und der Panacee, überhaupt 
erreichbar fet, jedenfalls leuchtet ein, daß es auf die Art, wie 
fie e8 fuchten, durch Tincturen, Elixire u. dgl. nothivendig ver: 
fehlt werden mußte. Denn bevor man zur Herftellung des 
Goldes irgend einen Verſuch macht, muß man die phnfilali- 
ſchen Bedingungen und Factoren deffelben, feine weientlichen 
Eigenfchaften und deren natürliche Entftehungsart genau kennen, 
und davon Hatten die Aldhymiften feine Ahnung. Die Magie 
im Sinne Bacon’s gründet ſich auf die allgemeine Phyſik, 
auf die Kenntniß der -oberften und einfachſten Naturkräfte, 
auf die Einficht in die erzeugende Wirkſamkeit der Natur und 
deren innerften Grund. In diefer Einficht liegt die Möglich— 
feit, wie die Natur zu Handeln, und die erjtaunlichften 
Wirkungen, gleihjam natürliche Wunder Hervorzubringen. 
Was in unferen Tagen die erfinderifche Mechanif und Chemie 
feiftet, ich meine die Erfindungen, welche die Welt umgeftaltet 


*) Nam causarum finaliam inquisitio sterilis est et tanquam 
virgo Deo consecrata nihil parit. De augm. III, 5. Op. p. 9. 
Bol. oben S. 175. 





337 


haben, das erfüllt und verdeutlicht die Aufgaben, die Bacon 
unter dem Namen der natürlihen Magie dachte und der Zu⸗ 
funft zum Ziel feßte. Dieſe neue und ächte Magie, fagt 
Bacon vortrefflih, verhält fich zur frühern und unächten in 
Betreff der phyſikaliſchen Wahrheit, wie fi die Erzählungen 
von ben Thaten Arthur’s von der Zafelrunde zu den Com⸗ 
mentaren Cäſar's in Betreff der hiſtoriſchen Wahrheit ver⸗ 
Balten. Jene find Mähren, dieſe dagegen Geſchichte. Die 
Wirklichkeit übertrifft die Phantafie. Cäſar hat Größeres ge- 
leiftet, als jene Mährchen ihren Schattenhelden anzudichten 
auch nur gewagt. Jene alte abergläubiihe Magie bat fi 
zur Natur verhalten, wie Irion zur Juno, fie hat ftatt ber 
Natur die Dunſtgebilde ihrer Träume ergriffen, wie biefer 
ftatt der Göttin die Wolle. *) ” 

Zu diefen naturphilofophifchen Wifjenfchaften, wie fie hier 
auseinandergefett find, Tommen noch gewiffe Anbänge, die 
Bacon der theoretifchen Phyſik, der praktiſchen Phyſik und 
der gefammten Naturphilojophie hinzufügt. 

Um bie theoretifche Phyſik vorfichtig zu machen, .foll in 
ihrem Anhange hingewiefen werben auf die berechtigten Zweifel 
und Bebenten, welde der Erklärung fowohl der einzelnen 
Dinge als des Weltganzen gegenüberftehen. In der erften 
Rückſicht fordert Bacon ein Verzeichniß der Probleme umd 
rühmt Ariftoteles, der bier mit gutem Beifpiele vorangegangen; 
in der zweiten Rückficht, was die Anficht von den Principien 
und dem Weltganzen betrifft, will er bie Theorien der alten 


—— — — — — 


*) De augm. II, 5. Op. p. 3—%. Bgl. Nov. Org. I, 8. 9. 
Bgl. oben S. 181. 210. 
FJiſcher, Bacon, Pr] 





338 


(oorfofratifhen) Naturphilofophen, die er dem Ariftoteles 
vorzieht, aufgeführt, in ihrem folgerichtigen Zufammenhange 
dargeftellt und beberzigt wiffen, damit man nicht für neu 
halte, was alt fei, befjere Autoritäten von den fchlechteren zu 
unterfcheiden wiſſe und überhaupt die Verfchiedenheit der An- 
fihten Tennen lerne. Zu den alten Namen fügt er von den 
neueren die bes Paracelfus, Telefius, Gilbert. *) 

ALS Anhang der praftifchen Phyſik oder der erfinderifchen 
Naturwilfenfhaft erneut Bacon jene Yorderung, auf die er 
bei fo vielen Gelegenheiten zurückkommt: daß ein Inventar 
der menſchlichen Güter, welche die Natur verliehen ober bie 
Erfindung erworben hat, angelegt und befonders diejenigen 
Erfindungen hervorgehoben werden, die man vorher für 
unmöglih gehalten. Dann follen in einem zweiten Ver⸗ 
zeichniß die nützlichften und fruchtbarſten Erfindungen auf- 
geführt werden, die zugleich den Stoff und die Aufgabe zu 
weiteren Berfuchen in fi tragen (catalogus polychresto- 
rum, **) 


4, Matbematif. 


Den „großen Anhang” zur gefammten Naturphilofophie 
bildet die Mathematik; fie gilt bei Bacon als Hülfswiſſenſchaft 
der theoretifchen und praftifchen Phyfil. So menig ihm bie 
Logik für eine felbftändige Wiffenfchaft gift, fo wenig bie 
Mathematif; der Werth beider Tiegt in dem, was fie zur 


*) De augm. DI, 4. Op. p. 87-89. 
**) Ebend. IU, 5. Op. p. 96 fig. 


339 

Naturerflärung beitragen, fie ſollen nicht herrſchen, fondern 
dienen, nämlich zur Löſung phyſikaliſcher Aufgaben und zur 
Erweiterung phyſikaliſcher Einfichten. ‚Denn viele Theile der 
Natur können ohne Hülfe und Dazwiſchenkunft der Mathe- 
matif weder fein genug begriffen, noch deutlich genug bewiefen, 
noch fiher genug praftifch gebraucht werden.” Bacon unter- 
jcheidet die reine und gemifchte oder angewandte Mathematik, 
zu welcher legteren er Aftronomie, Geographie, bie Lehre von 
der Berfpective, Muſik u. ſ. f. rechnet, während die reine 
Mathematik es mit Figur und Zahl d.h. mit der bloßen Größe 
oder abjtracten Quantität zu thun Bat. Da nun die Duanti- 
tät als joldhe zu den Formen der natürlichen Dinge gehört, 
eine der beftändigen, der wirffamften und zugleich die ab- 
ftractefte diefer Formen ift, jo fällt unter biefem Gefichtspunft 
die reine Mathematik in das höchfte Gebiet der abftracten oder 
allgemeinen Phyſik und bildet demnach einen Theil der Meta- 
phufif. *) 

Wenn die Naturwiffenfhaft diefe ihre Aufgaben und 
Wege richtig anerkennt und fich derfelben bemeiftert, jo wird 
fie friedlich und unaufhaltfam fortfchreiten und fid) der Geifter 
ohne Widerftand bemächtigen, gleich jenem franzöfiichen Heer, 
von dem Alexander Borgia ſagte, daß es Neapel erobere 
nicht mit den Waffen, fondern mit der Kreide in der Hand, 
um feine Quartiere zu bezeichnen. Die Abficht der baconifchen 
Erneuerung der Philofophie ift nicht der Krieg und die Er- 
regung von Streitigkeiten, jondern „pacificus veritatis in- 
gressus “ .**) 


*) De augm. III, 6. Op. p. 96- 98. 
**) Ebend. II, 6. Op. p. 8. 


340 


Hier ift ein Schema der baconijchen Dispofition der 
Naturphilofophie: 















Naturphilofophie 
Theoreiife Praltiſche 
Phyſik Metaphyſik Mechanil Magie 
conerete | abfirarte | Formen | Enb⸗ 

I. Glaffe urſachen 

reine 

Math. 
u Mathematit 


seine | gemildite 





Eifies Kapitel. 
Kosmologie. B. Anthropologie. 





. Die Aufgaben der Anthropologie. 
1. Eintheilung. Borbetradtuug. 
Den zweiten Haupttheil ber Kosmologie bilbet bie Wiffen- 
fhaft vom Menfchen, in ihr Tiegt das Ziel des menſchlichen 
Wiffene, worauf das delphiſche Wort: erkenne dich felbft! 
fhon bie alte Philofophie hinwies. Und wie ber Menſch 
Yeine Ausnahme von den Dingen, fondern ein Theil ber 
natürlichen Welt ift, jo fol auch die Erkenntniß ber menſch⸗ 
lichen Natır im Zufammenhange mit den übrigen Wiſſen⸗ 
haften gehalten fein und fortſchreiten. Wird biefer Zuſam⸗ 
menbang aufgelöft und bie einzelnen Glieder bes großen Or⸗ 
ganismus ber Wiffenfhaften von einander getrennt, fo werben 
fie nicht mehr von der gemeinfamen Lebensquelie ernährt und 
veröben. Die Wiffenfchaften einander zu benachbaren unb 
durch gegenfeitige Theilnahme zu fördern, ift ber ausgefprochene 
Hauptzwed der baconifhen Enchklopädie, und «8 hat feinen 
guten Grund, daß Bacon gerade beim Eintritt in die Anthro- 
pologie dieſe Aufgabe beſonders herworbebt.*) 


*) De augm. IV, 1. Op. p. 97 fig. 





342 


Das menfhliche Leben erfheint in zwei Hauptformen: 
in der natürlichen Bereinzelung und in der gefellfchaftlichen 
Verbindung, dort „fegregirt”, bier „congregirt”; demgemäß 
theilt fih die Anthropologie in die beiden von Bacon fehr 
ungleich behandelten Theile: die Lehre von dem menjchlichen 
Individuum und von der Gefellfhaft (phil. humanitatis und 
phil. civilis). Und da die menſchliche Natur körperlich und 
geiftig ift, fo muß die Erfenntniß derfelben fich in die beiden 
Theile der Somatologie und Pſychologie fondern, welde 
letztere in Rüdficht auf die beiden Hauptfräfte des menfchlichen 
Geiftes, Verftand und Willen, in die Wiſſenſchaften der Logik 
und Ethik auseinandergeht, das Wort Logik im weiteften Um— 
fange genommen. Aus diefer Eintheilung ergeben ſich vier 
anthropologifche Hauptfächer nad) folgendem Schema: 


Anthropologie. — 
Indivibunm Geſellſchaft (Staat) 
Körper . Seele Politit 

Eomatoiogie | Logit | Ethir 


Indeſſen bevor Bacon in die einzelnen Gebiete eingeht, 
wünſcht er eine anthropologiſche Vorbetrachtung allgemeiner 
Art, die ſich theils auf die perfänlichen Lebenszuſtände des 
Menſchen, theild auf das Berhältnig oder Band zwifchen 
Seele und Körper beziehen fol. Was jene betrifft, fo foll 
die Rede weniger fein von Elend und Unglüd, als von ben 
Kroftäußerungen der menfchlichen Natur; die Darftellung des 
menſchlichen Sammerthales fei ſchon beſetzt durch eine reiche 
Literatur philoſophiſcher und theologiſcher Schriften, hier fei 
nichts zu vermiffen und es fei unnöthig, diefe heilfamen und 
janften Unterhaltungen zu vermehren. Dagegen möchte er, 


343 


was Pindar vor Hiero rühmt, die Blüthen der menschlichen 
Tugenden abpflüden und die Vorhalle der Anthropologie mit 
erhabenen Menfchenbildern ausſchmücken, mit Beifpielen ge- 
waltiger intellectueller und fittlicher Leiftungen. 

Daß Seele und Körper eng verbunden, nit von einan- 
der unabhängige, fondern auf einander wirffame Naturen 
find, läßt fih an gewilfen Thatſachen darthun, die Bacon 
näher unterfucht und unter den Prolegomena zur Anthropologie 
an zweiter Stelle belenchtet wünſcht. Gewiſſe Seelenzuftände 
haben ihren eigenthümlichen körperlichen und gewiſſe körper: 
liche Beichaffenheiten ihren befonderen pfychilchen Ausdrud 
in Borftelungszuftänden, die unwillfürlich aus ihnen hervor⸗ 
gehen: bort macht die körperliche Erfcheinung die pfnchifche 
Individualität erkennbar, hier der pfuchifche Zuftand die körper⸗ 
liche Beichaffenheit; beide Arten der Wechfelwirkung nennt 
Bacon Kennzeichen (indicationes): die erfte findet er haupt- 
fählih in ber Bhyfiognomie, befonders im pathognomifchen 
Ansdrud habituell gewordener Geberden, die zweite in ben 
Träumen, die von förperlichen Zuftänden herrühren. Er 
vermißt die Fortbildung der Phyfiognomil und fordert nament- 
lich Aristoteles gegenüber, der fi) nur an bie feſten Umriſſe 
gehalten, den Fortfchritt zur Pathognomik. Die Chiromantie 
verwirft er als Chimäre und ebenjo die gewöhnliche Traum⸗ 
denterei. Eine zweite Form der Wechfelbeziehung zwiſthen 
Seele und Körper find die unmittelbaren Einwirkungen (im- 
pressiones) pfychiſcher Veränderungen auf körperliche Zuftände 
und umgelehrt, die Xocalifirung piychijcher Anlagen und sun 
keiten in Körperlihen Organen u. f. f.*) 


*) De augm. W, 1. Op. p. 98- 102 





344 


2. Somatologie. Mebicin. 

Die Wiffenfhaft vom menfchliden Körper faßt Bacon 
wefentlich praftifch, fie fol dem Wohle des Körpers dienen, 
und ba biefes in der Geſundheit, Schönheit, Stärke und 
Sinnesluft befteht, fo ift jene Wiffenfchaft vierfah: Medicin, 
Kosmetik, Athletit und die Kunft zu genießen (sc. voluptaria 
oder eruditus luxus, wie Tacitus fagt). 

Die drei lebten werben nur flüchtig und vorübergehend 
behandelt. In ber Kosmetik ift weniger zu vermiffen als zu 
berwerfen, wie die weibiichen Putzkünſte, namentlich wäre zu 
wünfchen, daß ben Frauen das Schminken durch öffentliche 
Geſetze unterfagt würde; die Athletit foll die Körperkräfte üben 
in Abſicht ſowohl jeder Art der Gefchicklichleit als ber Ab- 
härtung; bie legte Disciplin umfaßt alles, was die Sinne an⸗ 


genehm reizt und unterhält, die äfthetifchen wie materiellen 


Sinnesgenüffe, auch bie amüfanten Täufchungen der Tafchen- 
fpielerei werden bazu gerechnet, Malerei und Muſik als Augen- 
weibe und Ohrenſchmaus genommen und den Zafelfreuben be- 
nachbart; von ber Wolluft will Bacon nicht reden, da fie mehr 
bes Cenſors bedürfe als des Lehrers. Die Künfte gehen Hand 
im Hand mit den Entwidlungszuftänden des Gemeinmwefens: 


wenn es emporfteigt, blühen die Künfte bes Kriegs, wenn es: 


in voller Kraft fteht, die freien Künfte, wenn es herabfinft 
bie Künfte des genießenden Luxus.“) 

Unter allen dem Törperlichen Wohl gewibmeten Wiffen- 
haften ift ihm bie wichtigſte unb mit der Naturphilofophte 
am nächften verfnüpfte bie Medicin, die er beshalb auch am 


9) De augm. IV, 2. Op. p. 102. 113 fig. 


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ausführlichften betrachtet. Man darf den menfchlichen abrper 


einem muftlalifchen Inſtrumente vergleichen, deffen Wohlklang 
und Harmonie in der Geſundheit beſteht, daher die Alten mit 
Recht Muſik und Heilkunſt demſelben Gotte zuſchrieben. Da 
aber der Werth dieſer großen Kunſt gewöhnlich nur nach dem 
bloßen Erfolge geſchätzt wird, ſo weiß die Menge nicht den 
Quackſalber vom Künſtler, den Charlatan vom Arzt zu unter⸗ 
ſcheiden, ja ſie ſchätzt jenen höher als dieſen; ſo hat ſich die 
Charlatanerie mit der Medicin verſchwiſtert, wie in der Sage 
der Alten die Zauberin Circe mit dem Gotte Aesculap. Daher iſt 
die Medicin von allerhand Blendwerk erfüllt, ſie wird mehr 
prahleriſch gehandhabt, als ernfthaft bearbeitet, und die Arbeit 
felbft ift der Art, daß fie die Einfichten nicht erweitert. Von 
biefer fchlimmen Verwandtfchaft mit dem Charlatanismus, von 
dieſer blinden Empirie, die nicht vorwärts kommt, von dieſen 
abergläubiſchen und eiteln Beimiſchungen möchte Bacon die 
Medicin gereinigt fehen, er möchte fie von den Uebeln befreien, 
an denen fie leidet, und aus ihr eine gefunde Wilfenfhaft und 
Kunſt machen, wie aus der Aftrologie und Magie. Sie foll 
nichts anderes fein ober werden als praktiſche Natur- 
wiſſenſchaft, gerichtet anf das Wohl des menfchlichen Kör- 
pers. Daher find ihre drei Aufgaben: Erhaltung der Gefund- 
heit, Heilung der Krankheit, Verlängerung des Lebens (Diä- 
tetit, Pathologie, Makrobiotik), welche letztere eine Wiſſenſchaft 
für fih ausmacht, die Bacon vermißt und mit befonderem Ins» 
texeffe behandelt. Er hat in feiner „„historia vitae et mortis“ 
den Berfuh gemacht, nad) dem Leitfaden einer bejtimmten 
Theorie ein Syſtem ber Makrobiotik zu geben. Zur Erhal- 
tung ber Gefundheit, wobei Lebensorbnung und Lebensart 
die hauptſächlichen Bedingungen ausmachen, ift die Mäßigfeit 


a 





346 


allein nicht ausreihend und man überſchätzt fie ‚häufig, bie 
Gewohnheit körperlicher Bewegung ift hier von überaus großem 
Nutzen, nicht blos das Spazierengehen, fondern Bewegungen, 
bei denen gewiffe Organe bejonders angeftrengt und gefräftigt 
werden, wie Ballfpielen, Bogenfchießen u. f. w. 

Um Krankheiten zu behandeln, muß man deren Natur, Ur- 
ſachen und Heilmittel kennen und gründlich unterfuchen. Darum 
fordert Bacon vor allem nad) dem Vorgange bes Hip- 
pofrates und feinen eigenen Grundfäßen gemäß, daß die ver- 
ſchiedenen Krankheiten genau und präcis befchrieben werden in 
ihrer Beihhaffenheit, ihrem Verlauf, in der Anwendung und 
dem Erfolge der Heilmittel: er vermißt und fordert Krank: 
heitsgeſchichte; zur Erfenntniß der Kranktheitsurfachen, 
die häufig in den mechaniſchen Zuftänden der Organe ihren 
Sit haben, fordert er forgfältige anatomifche Unterfuchungen 
vergleichender Art, pathologifhe Anatomie, Vivifectionen 
an Thieren; es ift drittens eine auf woiljenfchaftliche Unter- 
fuchung gegründete Arzneimittellehre nöthig, um nad) der 
Einfiht-in die Natur und Wirkungsart der Medicamente bie 
Anwendung derfelben zu richten, fonjt herrſchen wohl bie 
Aerzte über die Arzneien, nicht aber diefe über die Krankheiten. 
Hier vermweift Bacon auf die Heilfräfte der Natur und fordert 
die Fünftlihe Nahahmung der Mineralwaffer. Die Aerzte 
jolfen fi nicht damit begnügen, daß gewiſſe Krankheiten als 
unbeilbar auf ihren Proferiptionsliften ftehen, fondern gerabe in 
Betreff diefer Krankheiten fordert Bacon, wie vor ihm ſchon 
Paracelfus gethan, die genaueſten fortgejeßten Beobachtungen, 
damit fi die Zahl der projeribirten vermindere. Und endlich, 
wo die Heilung nicht möglich und der Tod nicht aufzufchieben 
ift, follen die Aerzte darauf bedacht fein, die Schmerzen zu 


347 


lindern, das Sterben zu erleidhtern und einen Zuftand herbei- 
zuführen, den Bacon im Unterfdiede von der zum Tode wohl 
vorbereiteten Gemüthsverfgffung die äußere Euthanaſie nennt. *) 

Nachdem in unfern Tagen ein berühmter Chemiler Bacon 
für einen naturwiffenfchaftlichen Charlatan erllärt bat, wollen 
wir an biefer Stelle, welche die Frage von der medicinifchen 
Seite berührt, die Stimme eines Mannes hören, deſſen Worte das 
Gewicht einer fachmänniſchen Autorität haben. „Auf dem Felde 
der praftifchen Medicin“, jagt Bamberger, „welches befamnt- 
ih Halb zum Gebiete der Kunft, halb zu jenem der Wiffen- 
ſchaft gehört, hätte Bacon, wenn er fich demfelben gewidmet 
hätte, ganz gewiß glänzende Erfolge errungen. Für Diele 
Arena war fein vorzugsweife dem Praftifchen zugewendeter, 
das Aeußere der Erjcheinungen, ihre Analogien und Differen- 
zen fo raſch und glücklich auffindender Geift wie gefchaffen.” 
‚Meberdieß zeigt Bacon eine fehr große Vertrautheit mit alfen 
Theilen der Medicin, die jedenfalls fehr eingehende theoretifche 
Studien vorausſetzt.“ Nachdem Bamberger die Epoche der 
Medicin, in welder Bacon auftritt, gefchildert, giebt er mit 
deffen eigenen Worten die daraus kurz zufammengefaßten Ur- 
theile und "Forderungen, um zu zeigen „wie in diejer Periode 
des Kampfes, der Verwirrung und der Gährung in der Me- 
dicin Bacon's wunderbar klar und fcharf blickender Geift das, 
was diefer Wiffenjchaft noth that, erfannte und den Weg, den 
fie verfolgen müſſe, mit faſt mathematifcher Präcifion be- 
ſtimmte“. 

„Dieſe Sähtze, die Bacon vor drittehalb Jahrhun⸗ 
derten ſchrieb, haben heute noch ihre Geltung, es läßt ſich 


*) De augm. VII, 2. Op. p. 103-110. 


348 


nichts von ihnen wegnehmen und kaum etwas hinzufligen; in⸗ 
foweit die Mebicin Bacon’s Deſiderate erfüllt hat, Hat fie fich 
zum Range einer Wilfenfchaft emporgefchwungen; was ihr daran 
noch fehlt, bildet die Aufgabe der Zukunft. Und hier müſſen 
wir uns wohl fragen: wie viele Aerzte der baconifhen Zeit 
waren wohl im Stande, bie Bebürfniffe ihrer Wiffenfhaft 
und den Weg, ben biejelbe verfolgen mußte, fo richtig zu er» 
fennen unb mit folcher Genauigfeit zu formuliven? Wie viele 
mochten wohl einfehen, daß die pathologifche Anatomie und 
Chemie — damals faft noch unbelannte Begriffe — in Ver⸗ 
bindung mit einer forgfältigen Caſuiſtik und einer geläuterten 
und verläßlichen materia medica, die möglichfte Befreiung von 
Theorien und vorgefaßten Anfichten, die aufmerffame Beob- 
achtung und Unterfuchung allein im Stande feien, der Medi⸗ 
cin einen ebenbürtigen Pla im SKreife der Wiſſenſchaften zu 
erringen? Ich glaube, es gab keinen, oder wenn es einen gab, 
fo hat ew wenigftens unterlafien, der Nachwelt feine Gedanken 
zu überliefern.“ *) 

Viel weniger unbefangen und vorurtheilsfrei, als in der 
Bathologie, deren Aufgaben er rein naturwiſſenſchaftlich faßt 
und beurtheilt, zeigt ſich Bacon in feinen malrobiotifchen An- 
ſichten. Es fehlt auch hier nicht an richtigen und feinen Beob⸗ 
achtungen im Einzelnen, aber die ganze Grundlage, auf ber 
feine Regeln und Operationen (zehn an ber Zahl) zur Ber: 
- fängerung des Lebens beruhen, tft unhaltbar und falſch. Wir 
reden von feiner „historia vitae et mortis”. Neben einigen 


*) Ueber Bacon von Verulam beſonders vom medicinifhen Stand» 
punkte, von Dr. 9. v. Bamberger. Der 8. 8. Univerfität zu Wien zur 
Feier ihres fünfhunbertjährigen Jubiläums dargebracht von ber Jultus- 
Marimilians-Univerfität zu Würzburg. 1865. ©. 17. 19. 21 fig 














349 


vernünftigen diätetifchen Vorfchriften wird alles von der Ein- 
wirfung auf die Lebensgeifter (spiritus vitales) abhängig ge- 
madt: es ift bie pneumatifche oder fpiritualiftifche Theorie, 
die Bacon vorfand und feinen malrobiotifchen Regeln zu 
Grunde legte. Den Grundirrthum eingeräumt, jo waren die 
Bolgeirrthümer, in die Bacon gerieth, wenigftens fo confequent 
als fte fein konnten. „Betrachtet man”, fagt Bamberger, 
„dieſes abentenerlihe Syftem, fo muß man ſich wohl unwill- 
fürlich die Frage vorlegen, ob ſich Bacon wirklich dem Wahn 
bingeben Konnte, daB diefes ewige Beſalben und Bepflaftern, 
Klyftiren, Burgiren und Mediciniren im Stande fei, das menſch⸗ 
liche Leben auch nur um die Dauer einer Stunde zu verlängern, 
oder ob er damit nur die Welt täufchen und fich auf wohl« 
feile Weife bei der großen Menge Ruhm und Anſehen erwer- 
ben wollte. So nahe es läge, bei dem fcharfen Geiſte und 
dem ruhm- und ehrgeizigen Charakter Bacon’s das letztere an⸗ 
zunehmen, fo würde man damit doch bei der Beurtheilung 
Bacon’s einen gewaltigen Misgriff begehen. Denn man darf 
nicht vergeſſen, daß die Grundlage und der Ausgangspunkt 
des ganzen Syſtems die Theorie der den Organismus be- 
berrichenden Spiritus, ihrer Natur und Bedürfniſſe eine mit 
der ganzen Naturanſchauung Bacon's auf innigfte vermebte ift. 
Er hält es für überflüffig, dafür auch nur einen Beweis bei- 
zubringen, womit er doch ſonſt nicht Targ ift: „patet e con- 
sensu et ex infinitis instantiis”; e8 ift für ihn fo klar wie 
die Sonne. Es Tann alfo in diefer Beziehung von abſicht⸗ 
licher Täuſchung nicht die Nede fein. Die falfchen Prämiſſen 
müffen aber nothwendig zu falfchen Schlüffen führen, und fo 
Itegt dem ganzen Syſtem, fo ſehr es auf den erften Anblid 
abenteuerlich und willkürlich erfcheinen mag, eine zwingende 





350 


Logische Nothwendigkeit zu Grunde. Waren bie Lebensgeifter 
wirklich fo beichaffen, wie Bacon überzeugt war, jo mußte 
man ihnen auf diefem und feinem andern Wege beifommen, 
man mußte fie verdichten, damit ſie ſich nicht verflüchtigten, 
fie abkühlen, damit fie ſich nicht zu fehr erhitten u. ſ. f. Es 
handelte ſich alfo nur um die zu biefem Zwecke geeignetiten 
Mittel, und bier war Bacon ganz von den herrſchenden mebi- 
ciniſchen und pharmakologiſchen Anfichten abhängig, die er fo 
gut als möglich für feine Intentionen auszubeuten fuchte.” 
„Auch hier wie bei vielen andern Gelegenheiten ift es ihm be- 
fonders darum zu thun, die Aufmerkſamkeit und die Beobach⸗ 
tung auf ein beftimmtes Ziel zu lenken. «Die Aerzte und 
die Nachkommen werden fchon beifere Saden erfinden, als 
jene, die ich hier empfehle. »’*) 
3. Pſychologie. 

Im Hinblick auf das pfuchifche Gebiet des menfchlichen 
Lebens fieht Bacon gleich ein Problem vor fi), das im Wege 
der natürlichen Erkenntniß nicht aufgelöft werben Tann und 
ihn daher nöthigt, den Text der leßteren zu unterbrechen. Denn 
die Aeußerungen der menjchlichen Vernunft oder die bewußte 
Geiſtesthätigkeit laffen fich nicht aus derfelben pfychifchen Ur⸗ 
jache erklären, welche das Törperliche Leben bewegt und unter 
deifen natürliche und materielle Bedingungen gehört. Aehnlich 
wie Ariftoteles aus gleichem Bedenken den thätigen und leiden- 
den Berftand jo unterfchieden Hatte, daß er jenen IvcaSev in 
den Menfchen eintreten, diefen dagegen dem lebendigen Körper 
inwohnen ließ, unterjcheidet Bacon die vernünftige und unver: 
nünftige Seele: jene ift erfchaffen, diefe erzeugt, jene ift göft- 


*) Bamberger, Ueber Bacon von Berulam u. f. w., ©. a1 ng. Bol. 
hist. yitae et mortis. Op. p. 489—572. 





351 


lichen und ũübernatürlichen, dieſe elementariſchen Urſprungs und 
thieriſcher Art; er nennt die letztere auch die niedere oder ſinn⸗ 
liche Seele (anima inferior vel sensibilis) im Unterſchiede 
von der erften, die höherer Art ober im engeren Sinne bes 
Wortes Geiſt iſt. Zwiſchen beiden ift Kein gradueller, fon- 
bern ein wefentlicher oder fubjtantieller Unterfchied. Daß es fo 
ist, leuchtet auch der Erfahrung ein und anerkennt die Philo- 
fophie, fie anerkennt das Wirken geiftiger Kräfte in der menſch⸗ 
lihen Natur; da aber der Geift göttlichen Urfprungs 
ift, fo Tann fie nichts ausmachen über deffen Subftanz und 
Herkunft. Was bdiefe letzteren betrifft, jo weiß Bacon für bie 
Pſychologie feinen andern Rath, als fih an die Offenbarungen 
der Theologie und Religion zu halten. Die finnlihe Menfchen- 
feele ift darum nicht gleich der thierifchen. Der große Unter- 
fchied beider befteht darin, daß die finnliche Seele im Thiere 
herrſcht, im Menfchen dagegen der Vernunft dient und dienen 
toll, alfo herabgefet wird zu einem Organ des Geiftes.*) 
Bacon leugnet den Geift nicht, fondern erflärt ihn. für 
unbegreiflih und verweiſt den Begriff deifelbden aus dem 
Gebiete der Wiffenfchaft in das der Religion, er macht zwifchen 
finnlicher und vernünftiger Seele eine Kluft, die er nicht aus- 
zufülfen vermag. ‘Der Geift wird bei ihm zu einer unerflärlichen, 
die Seele zu einer Törperlichen Subftanz, die ihren Sik im 
Gehirn habe und nur unfichtbar fei wegen der Feinheit ihres äthe- 
rifhen Stoffs; der Geift wird auf Gott, die Seele auf den 
Körper zurüdgeführt. So finden wir in Rüdficht auf das 
Berhältnig zwifchen Geift und Körper (Gott und Welt) Bacon 
in einem ähnlihen Dualismus als Descartes. Aber die Wiffen- 


*) De augm. IV, 3. Op. p. 114—116. 





352 


haft, die mit ihrem Erkenntnißbedürfniß überall auf die Ein- 
heit und den Zuſammenhang der Erjcheinungen ausgeht, wider» 
ftrebt von Natur jeder endgültigen Trennung; daher find bie 
Nachfolger Bacon’s, je folgerichtiger fie in der angebahnten 
Richtung fortfchreiten, um fo eifriger beftrebt, jene dualiftifche 
Borftellungsweife zu befeitigen, das Unerklärliche für nichtig 
‚ und den Geift mit der Seele zugleich für eine körperliche Sub- 
ftanz oder für einen körperlichen Vorgang zu erklären. Im 
bemfelben Maße als innerhalb der baconiſchen Richtung dem 
Dualismus widerftrebt wird, wird dem Materialismus zu- 
gejtrebt, und es konnte nicht fehlen, daß diefer die lebte Con⸗ 
fequenz war. Aehnlich wie Spinoza zu Descartes verhalten 
fih die Materialiften des vorigen Iahrhunderts zu Bacon. 
Dan muß fi) das Zeitalter vergegenwärtigen, in dem 
die Magie fo vielen philofophifchen Reiz und populäres An- 
jehen Hatte, um es begreiflich zu finden, warum Bacon fo oft 
und gern auf die magifchen Dinge zu Tprechen kommt, immer 
bemüht, fie auf richtige und natürliche Begriffe zurüdzuführen 
und die abenteuerlichen Vorftellungen zu befeitigen. So will 
er auch bei Gelegenheit der menſchlichen Seele beiläufig von 
ber Weiffagung und Bezauberung (divinatio und fascinatio) 
handeln, von der natürlichen Weiffagung im Unterjchiede von 
der wiſſenſchaftlichen, die aus natürlihen Urſachen künftige 
Dinge vorherfieht. Diefe Art von Weiffagung, die aus Einficht 
vorherfieht, fällt mit der natürlichen Erkenntniß zufammen, bie 
andere Art unmittelbarer ‘Divination ift entweder Ahnung oder 
Erleuchtung, und Bacon urtheilt richtig, wenn er die unge- 
wöhnlichen ekſtatiſchen Stimmungen der Seele mit krank⸗ 
haften Zuftänden des Körpers, wozu auch die Wirkungen der 
Askeſe zu rechnen find, in Zufammenhang bringt. Die foge- 


353 


nannten magifhen Mittel haben die Wirkfamleit, die man 
ihnen zufchreibt, nur durch unfere Imagination umd den Glau⸗ 
ben daran; ohne den Glauben an den Talisman giebt es keinen, 
und wie es fich auch mit der Macht und Zauberkraft ber 
Imagination verhalten möge, fo ift fie binfällig gegen das 
Gebot: „Du follft im Schweiße deines Angefichts dein Brod 
eſſen!“ Du follft nicht zaubern, ſondern arbeiten! *) 

Was aber näher die Kraftäußerungen der körperlichen oder 
finnfihen Seele betrifft, fo beftehen fie in der wilffürlichen 
Bewegung und der finnlihen Wahrnehmung, und bier bieten 
fi) der wiſſenſchaftlichen Unterfuhung ungeldfte Aufgaben der 
wichtigften Art. Noch ift nicht erklärt, wie die willfürliche 
Bewegung zu Stande fommt, wie Wille und Einbildung die 
förperlihen Organe ſowohl bewegen al8 die Bewegung der- 
jelben hemmen. Ebenſo ift e8, um die Natır der Empfindung 
zu erflären, von der größten Bedeutung, daß man die Wahr: 
nehmung im allgemeinften Sinne de8 Worts von der Empfin- 
dung oder finnlihen Wahrnehmung (‚‚perceptio” und „sen- 
sus“) wohl unterfcheide. Jene Tann ohne dieje ftattfinden. 
Meberall, wo Körper auf einander einwirken und ſich ver- 
ändern, fi) gegenfeitig anziehen oder abſtoßen, mechanifch 
oder chemisch, ift Perception ohne Empfindung. Wenn der 
Magnet das Eifen anzieht, die Flamme zum Naphtha ſpringt 
u. ſ. f., ift eine wahrnehmende Thätigfeit im Spiel ohne Sinne, 
Auch in der thierifchen Affimtlation, in den vegetativen Lebens⸗ 
verrichtungen wird wahrgenommen, aber nicht gefühlt, Die 
Wahrnehmung oder Perception ift allgegenwärtig.**) 


*, De augm. IV, 3. Op. p. 116—118. 
**) Ebend. IV, 3. Op.p. 118 fig. Ubique denique egt perceptio. 
Fiſcher, Bacon. 23 


354 


Es handelt fich Hier nicht um eine Wortitreitigkeit, jon- 
dern um eine der wichtigften Tragen, eine „res nobilissima“, 
wie Bacon fagt. Wenn man das PVerhältniß und den Unter- 
ſchied zwiſchen Wahrnehmen und Empfinden nicht einfieht und 
beide zufammenfallen läßt, jo ift man zwei Irrthümern preis- 
gegeben: entweder läßt man die Sinne fo weit reichen ale 
die Perception und befeelt in phantaftifcher Weife, wie die 
Alten gethan haben, die ganze Körperwelt, oder man läßt 
die Perception nur da gelten, wo Sinne und finnlihe Empfin- 
dungen auftreten, und dann bleiben die Vorgänge der unbe 
jeelten Natur väthjelhaft. Im erften Fall giebt es keinen 
Unterfchied zwischen den unorganischen und organifchen Kör⸗ 
pern, im zweiten leinen Weg von jenen zu dieſen. 


Bwölftes Kapitel. 
Logik ald Lehre vom richtigen Berftandesgebrand, 





I. 
Logik im Allgemeinen. 
1. Berftand, Wille, Phantafie. 


Die menfchlichen Geiftesträfte find Verftand und Wille. 
Da der Urfprung dieſer Vermögen ſich der wiffenfchaftfichen 
Unterfudung entzieht, fo richtet fi die Hauptfrage der An- 
thropologie auf deren Gegenftände und Gebrauch: die Wiffen- 
ſchaft vom richtigen Verſtandesgebrauch ift die Logik, die 
vom richtigen Willensgebraud) die Ethik; jene lehrt den Weg 
zur Wahrheit, diefe den zum Guten. Wenn beide Vermögen 
richtig gebraucht werden, fo iſt das Wahre mit dem Guten 
aufs engfte verbunden. So foll es fein, aber der Fall ift 
in Wirklichkeit jehr felten, und die Männer der Wiffenfchaft 
müffen erröthen, daß fie in eigener Perfon häufig Beiſpiele 
bes Gegentheils find; während ihr Verſtand dem Lichte der 
Wahrheit nachgeht, folgt ihr Wille den Verlodungen bes 
Böſen, in ihrem Streben nad) Erfenntniß gleichen fie Engeln, 
die emporjchweben, in ihren Begierden Schlangen, die auf 

23% 


356 


der Erde Friehen. Diejes Bild hat Macaulay von Bacon 
entlehnt, um e8 gegen ihn ſelbſt zu Tehren.*) 

Es giebt ein Vermögen, welches jowohl den Verſtand 
als den Willen zu bewegen . vermag, indem es jenem die 
Wahrheit, diefem das Gute im Bilde erfcheinen läßt: diefe 
Kraft mit dem Janusgeſicht ift die Phantafie. Sie wirkt 
in beiden Vermögen als gemeinfchaftlihes Organ, fie verhält 
fih zur Vernunft nicht wie der Körper zur Seele, fondern 
wie die Bürger zur Obrigkeit. Der Körper dient der Seele, 
die Bürger gehorchen der Obrigkeit, aber fie können felbft 
Obrigkeit werden; fo kann auch die Phantafie zur Herrſchaft 
fommen und unfere Borftellungen und Entfchlüffe lenken, wie 
es in ber Religion, in der Kunft, in der Beredſamkeit wirf- 


lich geſchieht.**) 
2. Werth und Eintheilung der Logik. 


Wir handeln zunächſt von der Logik, die zu ihrem Gegen- 
jtande Hat, was in allen übrigen Wiffenfchaften das wirkſame 
Organ bildet: bie Verſtandsthätigleit ſelbſt. Schon daraus 
erhellt, worin fich diefe Wiſſenſchaft von allen übrigen unter- 
ſcheidet: 1) fie hat e8 mit einem Gegenftande zu thun, der 
nicht unter die Erfcheinungen der Sinnenwelt gehört, in deren 
Gebiet bie concreten und befonderen Wiffenfchaften fich theilen, 
fie tft darum abftracter als dieje; 2) ihr Gegenftand ift 
al8 Drgan in allen anderen Wiſſenſchaften enthalten und 
ihnen gemeinfam, daher ift die Logik als die umfaffende und 
allgemeine Wiſſenſchaft univerfeller als die übrigen; 3) fie 


— — — —— 


*) De augm. Lib. V, 1. Op. p. 121. ©. oben ©. 37. 
**) Event. V, 1. Op. p. 121. 








357 


unterſucht die Bebingung, die alle übrigen Wiffenfchaften 
vorausſetzen, und durch weldhe fie zu Stande fommen. So 
ift Die Logik in Nücficht der anderen Wilfenfchaften funda- 
mental, fie ift Wiffenichaft der Wilfenichaften, Wiffen- 
ſchaftslehre. 

Ihre abſtracte Natur macht, daß nur wenige ſich mit 
ihr befreunden und die meiften fie widerwärtig finden; denn 
die weichlichen und faulen Köpfe Können das trodene Licht 
nicht vertragen. Die concreten Wiffenfhaften haben gleichſam 
mehr Tleifh, und es geht mit der geiftigen Nahrung, welche 
die Wiffenfchaft bietet, wie mit der leiblichen: die meiften 
Menfchen haben den Gaumen der Israeliten in der Wüſte, 
fie verfhmähen das Manna und jehnen fich nach den TFleifch- 
töpfen Aegyptens. Es giebt Feine Wiſſenſchaft, Feine Erfin- 
dung, feine Kunſt ohne richtigen Verftandesgebraud. Wegen 
diefer ihrer fundamentalen Bedeutung ift die Logik nicht eine 
Wiſſenſchaft oder Kunſt neben anderen, fondern verhält fi 
zu biefen, wie die Hand zu den Werkzeugen, wie die Seele 
zu ben Formen. Wie die Hand das Organ der Organe 
heißt, fo darf die Logik die Kunft der Künfte genannt werben. 
Inden fie dem Berftande zeigt, wie er feine Ziele feten und 
erreichen foll, bringt fie ihn zugleich in die richtige Bewegung; 
fie ftärkt den Verſtand, indem fie ihn leitet; wie ja auch die 
Uebung im Pfeilſchießen nicht blos bewirkt, daß man beffer 
zielt, fondern auch den Bogen leichter fpannt.*) 

Wir können nur darjtellen und einleuchtend mittheilen, 
was wir in Wahrheit geiftig befigen; wir befigen nur, was 


*) De augm. V, 1. Op. p. 122. („At istud lumen siccum 
plurimorum mollia et madida ingenia offendit et torret.“ Ein 
ähnlicher Ausſpruch findet ſich bei Heraklit.) 


358 


wir erwerben und behalten. Die Kunft des Darftellens fett 
daher die des Behaltens und Erwerbens voraus, der Geiftes- 
erwerb aber befteht darin, daß wir Unbelanntes entdeden, 
Geſuchtes finden, Gefundenes richtig verftehen und beurtheilen. 
Demnad zerlegt fi die Gefammtaufgabe der Logik in vier 
befondere Aufgaben, deren jede zu ihrer Löſung eine eigene 
Togifche Kunft fordert: die Kunft der Erfindung (Entdedung), 
Beurtheilung, Feithaltung und Darftellung (Mittheilung); 
die beiden erften bilden die Logik im engeren Sinne, die dritte 
ift die Gedächtnißkunſt (Mnemonik), die vierte bie Rhetorik, 
das Wort im weiteften Umfange genommen.*) 


II. 
Die logiſchen Künfe. 
1. Erfindungstunft. 

Die Erfindungskunft ift fo gut als nicht vorhanden. Es 
giebt Erfindungen, aber feine Kunft des Erfindens, das Mittel 
fehlt, durch welches alle Erfindungen zu haben find, wie 
durch Geld alle möglichen werthvollen Dinge. Dieſer Mangel 
im Inventar der Menfchheit ift als ob in bem Berzeihniß 
einer Dinterlaffenichaft alles Geld fehlt. Der menſchliche 
Geift hat Fein Geld, kein zinstragendes Capital. Das ift der 
größte aller Uebelftände, der empfindlichfte aller Mängel, da- 
ber die Abhilfe in diefem Punkte die nachdrücklichſte aller 
Forderungen. Dier ift in der baconifchen Enchklopädie die 
Stelle, wo das neue Organon einfegt und Baron felbft die 
Hand ans Wert legt.*) 


*) De augm. V, 1. Op. p. 122. 


359 


Sudet, fo werdet ihr finden. Das Suchen ift experi- 
mentell, die Kunft des Suchens befteht in Verſuchen, bie 
anf Entdedungen ausgehen, und nach den Zielen, die gefucht 
werden, unterfcheiden fich die Arten der Verſuche, der Wege, 
der Erfindungstunft felbft. Entweder man fucht neue Erfin- 
dungen, indem man die vorhandenen verändert und auf bie 
mannigfaltigfte Weife mobificirt, oder man fucht neue Ein- 
fihten, indem man die Natur der Dinge ausforfcht und er- 
gründet; jene Berfuche find gewinnbringend, dieſe lichtbringend. 
Die Erfindungsklunft der erften Art ift induſtriell, die dev 
zweiten experimentell im eigentlichen Sinn oder phyſikaliſch. 
Die induftrielle oder technifche Erfindungskunſt jagt auf allen 
möglichen Wegen nad) neuen nüßlichen Werfen, die erperimen- 
telle oder phyſikaliſche Entdeckungskunſt forfcht nad) den Ur- 
ſachen und Gefeken der Natur und füllt daher mit der wirk—⸗ 
lichen Naturwiffenfchaft zufammen, jene nennt Bacon „Jagd 
des Ban’, dieje „interpretatio naturae” und hier vermeift 
er ausdrücklich auf das neue Organon, das die methodifche 
Naturerflärung in Abficht auf die Erweiterung der menjchlichen 
Einfiht und Herrfchaft zu feiner Aufgabe gemacht. Die Jagd 
des Ban ließe ſich mit ber „silva silvarum“ vergleichen, nur 
daß fie nicht auf den naturwiffenfchaftlichen Zweck eingefchräntt 
bleibt. _&8 wird gezeigt, auf welcderlei Arten gegebene Er- 
fahrungen und Verſuche durch Veränderung, Berfegung, Ver- 
fängerung, Umkehrung des Verfahrens u. ſ. f. ſich modificiren, 
um neue praftifche Ergebniffe und Erfindungen zu Tiefern. 
Das Machen und Fabriciren in Abficht auf den menfchlichen 
Nuten und Gewinn ift dabei die Hauptſache. Habe man 
3.3. Inftrumente erfunden, um dem Gefichtsfinn zu Hülfe 
zu kommen, fo fei das Project nahegelegt, ähnliche Werkzeuge 


360 

für das Gehör herzuftellen. Nachdem man gelernt, aus leine⸗ 
nen Stoffen Papier zu fabriciren, laſſe ſich dafjelbe mit 
anderen Stoffen, 3. B. Seide verfuchen. Das Siegel zeige, 
wie eine Form in Wachs abgedrücdt und vervielfältigt werde; 
fete man an bie Stelle des Wachjes Papier, an die Stelle 
der Form die Buchſtaben und Schriftzeichen, fo jet das Motiv 
zur Erfindung der Buchdruckerkunſt gegeben. Die Erfahrung . 
Iehre, daß uns das Bild eines bekannten, aber nicht gegen- 
wärtigen Objects an die Sache felbit erinnere: darin liege ein 
Yingerzeig, wie man mit Bildern dem Gedächtniß zu Hülfe 
fommen und eine Art Gedächtnißkunſt erfinden könne.“*) 


2. Gedantentumnft. 


Die Kunft richtig zu denken follte unter den logiſchen 
Künſten eigentlich die erſte ſein, und wenn Bacon ſie hier an 
zweiter Stelle behandelt, ſo hat er das Mittel dem Zwecke 
nachſetzen und dem Erfinden (Entdecken) als der Hauptaufgabe 
des menſchlichen Denkens den Vorrang laſſen wollen. Nur 
durfte er in der Reihenfolge der logiſchen Künſte die Stellung 
der erſten nicht fo beftimmen und gleichſam rechtfertigen, als 
ob das Erfinden (Entdeden) die Vorausfegung bes Urtheilens 
wäre. Erfinden und Denken verhalten fi wie Zwed und 
Mittel, und die Erreichung des Zwecks ift bedingt durch bie 
richtige Anwendung des Mittels. 

Der menfchliche Verſtand ftrebt nad) Gedankenverknüpfung 
und alles wiſſenſchaftliche Denken fordert eine Grundlegung, 
welche wie ein Atlas unfere Vorftellungswelt trägt. Entweder 
befteht dieſes Bundament in der richtigen Vorftellung der er- 





*) De augm. V, 2. Op. p. 122—132. ©. oben S. 141—45. 





361 


fahrungsmäßigen Thatſachen, d. h. in Wahrnehmung - und 
Beobadtung, oder in allgemeinen Grundfäügen, aus denen 
durch Mittelfüge alles Weitere folgt. Im dem erften Fall ift 
die Art der Beurtheilung und Beweisführung inductiv, im 
zweiten fyllogiftifch. Der Weg zur Erfindung ift die in— 
ductive Logik, welche die Aufgabe des neuen Drganons aus- 
macht. Wir wiffen bereits, in welchen Sinne Bacon eine 
neue Induction fordert und die gewöhnliche verwirft: weil fie 
die negativen Inftanzen außer. Acht läßt und fi mit ein paar 
gegebenen Fällen befriedigt. Hütte Samuel es ebenfo gemacht, 
als er den Nachfolger Saul's fuchte, fo würde er nicht nach 
bem abwefenden David gefragt, jondern einen beliebigen von 
den eben vorhandenen Söhnen Ifai's zum Könige gewählt 
haben. *) ' ° 

Die ſyllogiſtiſche Beweisführung ift nicht entdedlend, fon- 
dern darſtellend, fie gefchieht direct oder indirect (durch die 
Unmögfichleit des - Gegentheils), fte ift richtig oder falſch. 
Die richtigen Beweife find die Syllogismen im engeren Sinne, 
die falfhen die Trugſchlüſſe (elenchi); die Lehre von den 
richtigen Beweiſen ift die Analytif, die von den falfchen die 
Widerlegung der Trugichlüffe Nun bejtehen die letzteren in 
falichen Begriffen und Sätzen oder in falfchen Deutungen oder 
in Trugbildern. Daher ift die Wiberlegung der Trugfchlüfie 
eine dreifache, gerichtet gegen die Sophismata, gegen die 
„elenchi hermeniao“ und gegen die Idole. Für die Wider- 
legung der Sophismen hat Ariftoteles vortreffliche Regeln, 
Plato noch befjere Beiſpiele gegeben. Hier bleibt nichts zu 
wünfchen übrig; die falfhen Deutungen und Auslegungen 





*) De augm. V, 2. Op. p. 124. 


362 


werden hauptſächlich dadurch verfchuldet, dak man in dem 
Gebrauch der allgemeinften Begriffe und der Worte nicht ſcharf 
und vorfichtig genug unterfcheidet; die Widerlegung der Ibole 
ift eine der wichtigjten Aufgaben, die erfte zur Begründung 
einer neuen Philofophie: die Löſung derfelben geſchieht durch 
das neue Drganon, 

Die Natur der Beweife richtet ſich nad der Art der 
Materien, politifche Beweisführungen müffen anderer Art fein . 
als mathematifche, auf gewiſſen Gebieten gilt feine apodiktiſche 
Sewißheit, auf anderen gilt nur diefe. Dean muß diefe in 
der Natur der Gegenftände begründeten Unterfchiede wohl in 
Acht nehmen und ſich demgemäß hüten, hier allzu ftrenge Be: 
weife zu fordern, dort allzu leichte anzunehmen.*) 

Es find drei Punkte der Logik, die Bacon in der Enchklo⸗ 
pädie unerörtert Täßt, weil fie im neuen Organon ausgeführt 
find: fie betreffen die Erflärung der Natur, die Methode der 
Induction, die Widerlegung der Idole. Ihre Reihenfolge ift 
im neuen Organon die umgelehrte, wie e8 dem natürlichen 
Gange der Aufgaben entfpricht. 


3. Gedächtnißlnnſt. 


Das Bermögen Vorftellungen aufzubewahren und feit- 
zubalten nennt Bacon Gedächtniß und fordert, daß die Ge- 
dächtnigmittel unterſucht, gelehrt und diefe Lehre zu einer 
förmlichen Kunft ausgebildet werde. Da nun die Bor- 
ftellungen entweder durch äußere Hilfsmittel oder ohne eine 
ſolche Beihülfe durch das bloße Gedächtniß feftgehalten werden, 
weiches die Objecte aus eigener Kraft wieder hervorbriugt, in- 


— — — — — 


*) De augm. V, 4. Op. p. 136 - 142. 


363 


dem es biefelben, wie man zu fagen pflegt, auswendig weiß, 
fo handelt Bacon zuerft von jenen äußeren Hülfsmitteln (ad- 
minicula memoriae), dann von dem Gedächtniß felbjt. Erft 
unter biefen zweiten Gefichtspunft fällt die eigentliche Ge- 
dächtnißkunſt. 

Das Gedächtniß hat, ſowohl was den Umfang als die 
Genauigkeit des Behaltens angeht, ſein Maß. Daher ſind 
ihm äußere Hülfsmittel nothwendig, ſie beſtehen darin, daß 
die Objecte äußerlich gemerkt, firirt, aufgezeichnet, nieder⸗ 
geſchrieben werben; je mannigfaltiger und complicirter die 
Menge ber aufzubewahrenden Vorftellungen ift, um fo wichtiger 
ift e8, daß man die Aufzeichnung in wohlgeordneter Weife 
einrichtet, die Gegenftände überfichtlich zufammenitelit, tabella- 
riſch aufführt, unter Gemeinpläße bringt. Natürlich richtet 
fih die Art der Anordnung nad der Art der Objecte. Die 
Aufbewahrung durch die Schrift, ohne welche unfer Gedächt— 
niß arm bliebe und 3.3. jede wirkliche Gefhichtsfunde unmög- 
lich wäre, ift weniger Memoria als Mnemoſyne. 

Die eigentliche Gedächtnißkunſt, vermöge deren wir ge- 
habte Vorftellungen aus eigener Kraft (ohne. jede äußere Bei⸗ 
hülfe) uns wieder vergegenwärtigen und auswendig behalten, 
ift eine Aufgabe Togifcher Induftrie, die fchon die Alten ge- 
fannt und bearbeitet haben. Man kann daraus eine fehr 
brodlofe Kunft machen, wenn es fih nur darum Handelt, eine 
große Reihe von Worten oder Zahlen, die vorgefagt wird, 
auf der Stelle zu wiederholen. Mit folchen Dingen läßt fich 
prahlen und flüchtiges Staunen erregen, aber nichts ausrichten. 
Das menfchliche Gedächtniß ift Kein Seil, um darauf zu tan- 
zen. Bacon unterfcheidet Hier zwei Arten ber Gedächtnißmittel: 
die eine, wodurch wir Vorftellungen, die uns entfallen find, 


364 


fuchen und finden, die andere, wodurch wir Vorſtellungen in 
unferem Gedächtniß fo befeftigen, daß fie augenblidlih zur 
Hand find. Wir können nichts fuchen, ohne eine gewiſſe Vor⸗ 
fenntniß deffelben zu haben, und wir befeftigen unfere Vor⸗ 
ftellungen am beften, indem wir fie vermöge der Bhantafie in 
Bilder verwandeln, denn das Bild, wie fchon oben erwähnt 
wurde*), erinnert uns fogleid; an die befannte Sache. Iſt 
die leßtere eine abftracte Vorftellung, fo tft ihr Abbild ſym⸗ 
bolifh. Daher nennt Bacon die erfte Art der minemonifchen 
Mittel VBorbegriff (praenotio), die zweite Sinnbild (emblema). 
Wir werden in dem weiten Gedäüchtnißfelde ein Object Teichter 
finden, wenn wir das Gebiet, in dem die Vorſtellung Tiegt, 
vermöge des Vorbegriffs mehr und mehr einengen, bis wir 
den gefuchten Punkt haben; dazu helfen gewiffe Eintheilungs- 
ſchemata, gleichſam Verftandes- und Gedächtnißfächer, das 
Auffinden verborgener Vorftellungen gleicht darin dem Auf- 
finden äußerer Dinge, es ift ſchwer eine Sache juchen, wenn 
man in der Welt nicht weiß, wo fie fein mag, wogegen fie 
leicht gejucht und gefunden wird, wenn man weiß, fie kann 
nur in biefem Zimmer, diefem Schrank, diefem ade u. f. f. 
ſein. Wir behalten Worte und Sprüche eher in gebundener 
als in ungebundener Rede, weil dort ber Neim oder das 
Metrum die Pränotton giebt, die das Gedächtniß ſchnell 
orientirt, 

Sollen abftracte Vorftellungen in beftimmter Ordnung 
dem Gedächtniß eingeprägt werden, fo iſt das Emblem ober 
Sinnbild das hülfreiche mnemoniſche Mittel. Bei dem Bei: 
jpiele, welches Bacon giebt, hat ihm offenbar der nächfte unter 


De — 


*) ©. oben ©. 221 flg. &. 360. 


365 


feinen Händen befindliche Fall vorgefchwebt; er braudt als 
Beifpiel die Begriffe: Erfindung, Ordnung, Vortrag, Hand— 
lung (e8 find die Gegenftände der Logik und Ethik, die drei 
erften find die uns befannten Theile und Aufgaben der Logif). 
Man wird diefe Begriffe leicht behalten, wenn man 3.8. die 
Erfindung unter dem Bilde eines Jägers, die Ordnung unter 
dem eines Apothefers, der feine Büchſen zurechtftellt, den Vor- 
trag unter den eines Predigers auf der Kanzel, die Handlung 
endlih unter dem Bilde eines Schaufpielers auf der Bühne 
porftellt. [Bacon hat das Beifpiel nicht weiter ausgeführt und 
in einem mnemoniſchen Hauptpunkt unvollftändig gelaffen. Es 
ift nicht genug, daß man Bilder ftatt der Begriffe hat, man 
muß die Bilder, damit fie zufammenhalten, auch verfetten in 
einer Weife, die der Ordnung und Reihenfolge der Begriffe 
entfpricht. In dem gegebenen Fall müßte man fi etwa vor- 
ftellen, daß der Jäger feinen Freund den Apotheler Sonntags 
befucht und beide zufammen erſt in die Kirche, dann ins 
Theater gehen. Don diefen Bildern lieft das Gedächtniß ohne 
Mühe die Begriffe: Erfindung, Ordnung, Vortrag, Handlung 
ab und behält fo die baconifche Eintheilung der Bhilofophie.]*) 


4, Darſtellungskunſt. 
a. Charakteriftif. 

Hier hat Bacon den ganzen Umfang der Bedingungen 
und Mittel vor fi, durch welche Vorſtellungen mitgetheilt 
werden, es gefchieht auf zwei Arten: entweder ohne Vermittlung 
der Worte oder durch diefelbe, 

Die Mittheilung ohne Worte befteht in Zeichen, die un« 
mittelbar die Sache ober Vorſtellung felbft ausdrüden, ent- 


*) De augm. V, 5. Op. p. 142—44. 


366 


weder bildlih oder nicht bildlih. Das bildlihe Zeichen ift 
ein Gleihniß der Sache, e8 hat mit dieſer ein tertium 
comparationis, während das bildlofe Zeichen mit der Sade 
gar nichts gemein hat. Bacon nennt die erfte Art Hiero- 
glyphen, die zweite Charaktere, und zwar (im Unterfchiebe 
von den Buchftabenzeichen, welche Laute ausdrüden) Real: 
charaftere (characteres reales), Wenn id) durch gewiſſe 
Stride, fo oder jo verbunden oder geftellt, unmittelbar Vor⸗ 
jtellungen ausdrüde, fo find ſolche Zeichen erftens bildlos, 
denn fie fchließen jede bildliche Vergleichung mit dem Object 
aus, zweitens real, denn ſie bezeichnen nicht Worte ſondern 
Sachen. Ließen ſich Zeichen dieſer Art erfinden und im 
literariſchen Weltverkehr allgemein gültig machen, ſo könnten 
die verſchiedenſten Völker gegenſeitig ihre Gedanken austauſchen, 
ohne ihre Sprachen zu verſtehen. Das wäre die fosmopoli- 
tiſche Erfindung einer Univerfaldjarakteriftit oder Bafigraphie, 
auf welde Bacon an diefer Stelle Hinweift, und die unſer 
Leibniz zu einer feiner Lebensaufgaben machte, die er unabläffig 
verfolgte. Gebehrden als Ausdrud von Vorftellungen find 
lebendige Hieroglyphen. Als Beriander gefragt wurde, mas 
ein Tyrann thun müſſe, um feine Herrſchaft zu erhalten, ſagte 
er nichts, jondern ging im Garten umher und fchlug den 
Blumen die Köpfe ab, Er antwortete mit einem Gleichniß 


ohne Worte, *) 
b. Grammatik. 
Die Mittheilung durch Worte ift die Nede und deren 


jichtbares Zeichen die Schrift; die Darftellung dur) Sprechen 
und Schreiben bildet den eigentlichen Gegenftand und die Auf- 


*) De augm. VI, 1. Op. p. 14346. (Diogenes läßt den Thra- 
ſybulos von Milet da8 obige Gleichniß fpielen). 





367 


gabe der Rhetorik als einer logifchen Kunft. Bacon zerlegt 
feine Unterfuchung in drei Tragen: die erfte betrifft die Sprach— 
bildung, die Sprache als Drgan oder Werkzeug, die zweite 
den Gebrauch dieſes Werlzeugs in Abficht auf die Darftellung 
beftimmter Objecte, alfo die Methode der Darftellung oder 
die Spradye als Kunft, die dritte geht auf die. Wirkungen, 
weiche durch diefe Kunſt hervorgebracht fein wollen, und auf 
die Art und Weife, wie fie erreicht werden. ‘Die erſte Frage 
gehört der Grammatik, die zweite, welde Hier die Haupt- 
fahe ift, der Rhetorik im engeren Sinne, die dritte hat es 
mit der Beredſamkeit als einem Mittel der Weberredung d. h. 
mit der Wirkung auf die Zuhörer zu thun. Die Grammatik 
befchäftigt fie mit dem Bau und der Conftruction der Sprache, 
die Rhetorit mit der Methode oder Anwendung auf die dar: 
zuftellenden Objecte, die Beredſamkeit mit der Wirkung auf 
die zu erregenden Gemüther.*) 

Das Element der Sprade ift der Laut. Wie die Laute 
durh die Stimmorgane erzeugt werben, ift eine Frage der 
Phyſiologie, welche die Grammatik vorausjekt; die Lehre vom 
Wohllaut, Accent, Sylbenmaß u. f.f. gehört in die Proſodie, 
welche der Poetik zur Grundlage dient, das Gebiet der eigent- 
fihen Grammatik find die Sprachformen. Hier unterjcheidet 
Bacon die Grammatik im Titerarifchen und philofophifchen 
Sinne: die erfte dient zur Erlernung einer gegebenen Sprache, 
die andere zur Einficht in die Entftehung und Entwidlung der 
Spraden. Da diefe Einfiht nur durch Spradpvergleihung 
gewonnen werden kann, fo läßt Bacon die philofophifche 

*) Bacon unterfcheidet dieje drei Theile der ars traditiva fo: 1) de 


organo sermonis, 2) de methodo sermonis, 3) de illustratione ser- 
monis. 


368 


Grammatit mit der vergleichenden Sprachkunde zufammen- 
fallen. Sie allein gilt ihm als der Weg zu ächter Sprad)- 
wilfenfchaft; er formulirt fchon die Aufgabe, deren ernfthafte 
und weittragende Löſung erjt zwei Jahrhunderte nad) ihm be- 
gonnen wurde, und es ift Teineswegs der Zufall eines glüd- 
fihen Borblids, daß Bacon diefe Aufgabe jah, fondern unter 
dem Geſichtspunkte, der feine ganze Lehre charakterifirt und 
überalf auf die methodifche Vergleihung der vielen verfchieden- 
artigen Fälle dringt, mußte er die Aufgabe der Sprachver⸗ 
gleihung entdeden und fordern, er Tonnte einer philofophifchen 
Grammatik fein anderes als biefes Ziel fegen; wir dürfen 
hinzufügen, daß ihm auch die Tragweite einer ſolchen Wiffen- 
ſchaft und die Aufichlüffe, die von ihr zu erwarten feien, im 
voraus einleuchteten. Er jah, wie von hier aus das Duntel 
vorgefchichtlicher Zuftände fi) einigermaßen erhellen, wie an 
der Hand diefer Unterfucdhungen eine Art Völkerpſychologie 
fih ausbilden, wie aus der Sprachvergleichung fi) werde er- 
Hören laffen, warum die alten Sprachen einen weit größeren 
Neihthum an Formen und Flexionen entwidelt hätten als die 
modernen u.a. m.*) 

Die Elemente der Schriftſprache find die Buchftaben, das 
Alphabet. Es ift ſchon recht, daß man die Worte fchreibt 
wie man fie fpricht, da aber die Schreibert bei der Dauer 
der Schriftwerfe füglich diefelbe bleibt, während die Ausſprache 
mit den Zeiten fich ändert, fo entfteht eine natürliche Differenz 
beider, die man nicht ausrotten kann durch Fünftliches Gleich⸗ 
machen und plögliche Umwandlungen der Orthographie. Bacon 
hatte als nächſtes und ftärkftes Beifpiel einer ſolchen Differenz 


*) De augm. VI, 1. Op. p. 146 fig. 


369 


die eigene Volksfprache vor fih, und man hätte feine Be⸗ 
mertung beherzigen jollen, als im vorigen Sahrhundert in der 
englifchen Literatur der Plan auflam, eine neue, der Ausfprache 
gemäße Schreibart einzuführen. *) 

Das Alphabet, jelbft eine der größten und fruchtbarften 
Erfindungen, enthält Stoff und Aufgabe zu weiteren Erfin- 
dungen. Da die alphabetifchen Charaktere die Elementarlaute 
bezeichnen, jo müfjen fie, um Worte und Sätze auszubrüden, 
erft einzeln zufammengefügt werden, weshalb das Schreiben 
weit langjamer vor fich geht, als das Sprechen. Könnte man 
Charaktere erfinden, die ftatt der Laute fogleih Worte und 
ganze Wortgefüge bezeichnen, jo würde ſich auf dieje Weife 
viel Zeit fparen und ebenfo geſchwind fchreiben als fprechen 
laffen. Hier ift das Motiv zur Erfindung der ftenographifchen 
Kunft. Die gewöhnliche alphabetifche Geltung der Lautzeichen 
fennt jeder, der lefen und fchreiben Tann. Da es nun man⸗ 
cherlei fchriftliche Aufzeichnungen und Mittheilungen giebt, die 
nicht für jedermann, fondern nur für einen oder wenige be- 
ftimmt find, jo muß man außer dem Bulgaralphabete noch 
„verborgene oder private Alphabete” haben, die nur Ein⸗ 
geweihte verftehen. Das ejoterifche Lautzeichen iſt die Chiffre 
(ciphra). Hier berührt Bacon die Kunft des Chiffrirens und 
Dediffrirens und verlangt, daß die dazu erforderlichen Zeichen 
für den Schreibenden fo leiht und bequem, für den Unein⸗ 
geweihten fo unverftändlich und zugleich fo unverbädtig als 
möglich ſeien. Diefe Aufgabe ſei am glücklichſten gelöft, 
wenn man dafjelbe Alphabet zugleich exoteriih und efoterifch 
brauche, fodaß derfelbe Brief zugleich einen Sinn habe für jeber- 

*) De augm. VI, 1. Op. p. 148. 

Fiſcher, Bacon. 24 


370 


mann und einen verborgenen nur für die Eingeweihten (eine 
Erfindung gleichſam palimpfeftifch zu fehreiben). Das Vulgar⸗ 
alphabet enthalte den Stoff zu einer beliebigen Menge ejoteri- 
icher Alphabete; man nehme zwei Lautzeihen, z. B. a und bh, 
und bilde aus ihnen eine Complerion von fünf Stellen, fo 
erhält man 32 Combinationen, von denen 24 ftatt der gewöhn- 
fihen Buchſtaben gefett werden, auf diefe Weife entjteht aus 
zwei beliebigen Lautzeichen ein chiffrirtes Alphabet. *) 
c. Rhetorif. 

Der zweite Hauptpunft betrifft die Methode des Vor—⸗ 
trags, die durch den Zweck des letzteren und die Natur der 
darzuftellenden Dbjecte beftimmt wird. Man kann nicht alle 
Materien über denfelben Leiften fchlagen und nad) einem vor- 
räthigen Schema behandeln, daher die vorfchriftsmäßigen Dis- 
pofitionen, die dichotomifchen Eintheilungen oder gar die fo- 
genannte Inllifche Kunſt für die Rhetorik völlig unbrauchbar 
und leer find. Cine andere Art des Vortrags gehört ſich für 
Anfänger, eine andere für Unterrichtete, welche die Wiſſenſchaft 
fortbilden ſollen. Ob die Darftellung weitläufig erflärend 
oder kurz und gedrängt, ob fie aphoriftifch oder methodiſch, 
behanptend oder fragend verfahren foll, richtet fich nad) der 
jedesmaligen Aufgabe. . Mit vorräthigen Regeln ift hier nichts 
auszurichten, und es ift thöricht, die Darftellung für alle Fälle 
an ſolche Richtſchuuren binden zu wollen. Sie ſoll zwedmäßig 
eingerichtet werden, in jedem Fall die Meittel anwenden, die 
den gegebenen Zwed cerreihen, d.h. kurzgeſagt fie foll klug 


— — 





— 


*) De augm. VI, 1. Op. p. 148—51. Wenn Bacon „ciphrae 
verborum’ fordert und als erfle Bedingung verlangt „ut sint expe- 
ditae, non nimis operosae ad scribendum‘', fo ift darin die Aufgabe 
zur Erfindung der ſtenographiſchen Kunft angelegt. 








371 


fein. Daher nennt Bacon diefen zweiten Hauptpunft aud) 
„die Klugheit des Vortrags “.*) 


d. Beredjamtfeit. 

Nun ſoll die Redekunſt nicht blos den DVerftand unter- 
weijen und überzeugen, fondern das Gemüth der Zuhörer be- 
berrichen und ihrem Willen Impulfe geben; fie fol Wahrheiten 
nicht 6108 lehren, jondern durch die Wendung und den Schein, 
den fie ihnen für die Einbildungskraft zu geben weiß, in Mo- 
tive des Handelns verwandeln und auf die Willensrichtung 
fowohl der Einzelnen als der Mafjen einwirken. Gerade darin 
liegt die Macht des Redners, der Triumph der Beredfamfeit. 
Mit Recht hat deshalb Ariftoteles die Rhetorik zwifchen die 
Dialektif auf der einen und die Ethik und Politif auf der 
andern Seite geftellt. Gegenwärtige Eindrüde find immer 
mädjtiger als vergangene und Fünftige: Darum muß der 
Redner, was er fchildert, fo lebhaft bdarftellen, daß es mit 
der Macht des gegenwärtigen Eindruds die Gemüther ergreift, 
er muß die Kunft befiten, alle Vorftellungen, die er ausprägt, 
leiht und gewaltig in die Phantafie der Zuhörer eindringen 
zu laffen. Wenn man die Tugend fehen fönnte, jagt Plato, 
fo würde alle Welt fie lieben, In diefem Sinne und in diefer 
Abſicht ſoll der Nebner die Tugend malen können. Das ift 
es, was Bacon „die Illuftration der Rede” nennt und 
woraus er eine befondere Aufgabe der Rhetorik macht. Hier 
handelt es fi) blos um die vernunftgemäße Einwirkung auf 
die Phantafie der Zuhörer, die fo mannigfeltig geftimmt: ift, 
als deren Gemüthsart. Auf diefe Stimmung muß fi) der 


*) De augm. VI, 2. Op. p. 151—56 (scientia methodi= pru- 
dentia traditivae). 


24* 


372 


Redner verftehen, er muß in den Wäldern ein Orpheus, 
unter den Delphinen ein Arion fein fünnen.*) 

Es giebt eine Menge populärer Vorftellungen fehr wirt- 
famer und beweglicher Art, die der Redner ganz in feiner 
Gewalt haben und gleichfam fpielen muß, wie cin Virtuofe 
fein Inftrumen. Er muß daher in der Behandlung folder 
Borftellungen geübt fein und auf diefem Gebiet einen Vorrath 
gleihfam von Bravourſtücken befigen, die ihm augenbliclich, 
wo er fie braudt, zur Hand find. Bacon bezeichnet deshalb 
dieſen Theil der rhetorifchen Kunft als „ars promptuaria“” 
und behandelt ihn anhangsweife in Beifpielen. Ic glaube, 
daß aus dieſem Bedürfniß in ihm ſelbſt die Eſſays entftanden 
find, fie liegen dicht neben feinen Parlamentsreden, fie find 
. aus dem vhetorifchen Gebrauch und in Abficht auf denfelben 
hervorgegangen, und aus einem Theil jener Eſſays Hat er 
die Beiſpiele geſchöpft, die er bier in fein euchklopädiſches 
Wert aufgenommen. Er giebt zwei verfchiedene Arten folcher 
Beifpiele und fagt felbjt, daß beide aus einem Vorrath ent- 
lehnt find, den er In feiner Jugend geſammelt und von dem 
er noch viel in Bereitſchaft habe. Ich weiß Feine Stelle, die 
fo viel Licht über den Urfprung feiner Eſſays verbreitet als 
diefe. **) 

Unter die populärften Vorftellungen, die in der Öffentlichen 
Schägung eine fehr große und zugleich fehr ſchwankende und 
wetterwendifche Rolle fpielen, gehören offenbar die des Guten 
und ſeines Gegentheils. Ueber diefe Werthe, die durch die 
Einbildung einen fo mächtigen Einfluß auf die Urtheile und 


*) De augm. VI, 8. Op. p. 15658. 
e) hend. VI, 3. Op. p. 168. 


373 


Affecte der Menge ausüben, find die Leute in allerhand Tän- 
ſchungen befangen, die fih aus Sceingründen ebenfo leicht 
beweifen als aus guten Gründen zerftören laffen. Es ift für 
den Redner nothwendig, daß er die Sophiſtik, die auf bem 
Gebiete jener Vorftellungen herricht, völlig durchſchaut und 
bemeiftert, daß er ſich auf die Farben verfteht, womit man 
das Gute und Böſe ausmalt, daher wird es ihm fehr bien- 
ih fein, wenn er in feinem Vorrath die „Farben des Guten 
und Boöſen“ befigt: unter diefem Namen hatte Bacon ſchon 
der erften Ausgabe feiner Eſſays eine Reihe ſolcher Betrachtungen 
mitgegeben, deren jede in gedrängter und ſcharfer Faſſung, 
ganz dem rhetortihen Zwecke gemäß, ein Sophisma und deffen 
Widerlegung enthielt; er wiederholt fie hier al8 „exempla 
colorum boni et mali”. Gut ift, was die Leute Toben, ſchlecht, 
was fie tadeln: fo lautet der erfte Sat, deffen Geltung fo 
weit reicht als die abhängige und beftechlidhe Einbildung der 
Menſchen. Die Widerlegung zeigt, aus welcher trüben Duelle 
diefe Schäßung herrührt, aus der öffentlihen Meinung, bie 
bald aus Unwiffenheit täufcht bald aus Abficht, wie der Kauf⸗ 
mann, der feine Waare lobt.*) 

Das zweite Beifpiel find die fogenannten „Antithejen“, 
deren Bacon aus einem weit reicheren Vorrath an dieſer 
Stelle 47 anführt. Das Thema find populäre Begriffe, die 
fortwährend im Munde der Leute umlaufen umd darum in der 
Gewalt des Redners fein müſſen. Jeder diefer Begriffe hat 
feinen Werth und Unwerth, fein Für und Wider; es iſt num 
Bacon’s Aufgabe, in jedem diefer Fälle das Für und Wiber 
dicht neben einander zu ftellen, in der prägnanteften Faſſung, 


*) De augm. VI, 3. Op.p.163—68. Bgl. oben Buch I. Cap. VIN. ©. 118. 


374 


ſodaß man den Eindrud erhält, als ob enigegengefeßte Pole 
aufeinander ftopen; jede feiner Wendungen ift leicht, ſpielend, 
pointirt und dabei fo gedanfenvoll und menfchenkundig, daß 
man dieſe Antithefen mit äfthetiihen Vergnügen lieſt und ſich 
an der Gabe ächten Wites, die Bacon zu Gebote ftand, er- 
götzt. Die Themata, die zum größten Theil unter die allge: 
meinen Gegenfähe von Gut und Uebel fallen, betreffen äußere 
Güter, wie Adel, Wohlgeitalt, Iugend, Geſundheit, Familie, 
Reichtum, Ehre, öffentliches Anfehen, Herrihaft, Süd, oder 
Untugenden, wie Aberglaube, Stolz, Undankbarkeit, Neid, 
Unkeuſchheit, Grauſamkeit u. |. f., oder Tugenden, wie Gerech— 
tigkeit, Tapferkeit, Enthaltjamleit, Beftändigfeit, Großmuth, 
Wiſſenſchaft, Gelehrſamkeit, Kühnheit, Liebe, Freundſchaft u. |. f. 
Läßt fih für und wider den Reichthum etwas Beſſeres fagen 
als die paar Worte: „Reichthum ift eine gute Dienerin und 
die ſchlimmſte Herrihaft?” Für die äußeren Ehren: „in 
ihrem Lichte werben fowohl die Tugenden als die Laſter 
deutlicher gejehen, darum rufen fie jene hervor und zähmen 
dieſe“. Dagegen: „die fie genießen, müffen die Meinung des 
Pöbels borgen, um fi für glüdlih zu halten“. „Wie fid 
Berftand und Glück verketten”, jagt Goethe, „das fällt dem 
Thoren niemals ein.” Bacon jagt vom Glüd: „es ift wie 
eine Milchſtraße, ein Haufen verborgener Tugenden, die man 
nicht kennt.“ Ueber den Unwerth bes Stolzes ift Teicht zu 
reden, über den Werth deſſelben findet fich bei Bacon ein 
wahrhaft tieffinniger Ausſpruch: „wenn der Stolz; von ber 
Verachtung Anderer zur Selbftveradhtung emporfteigt, fo ent- 
fteht aus ihm unmittelbar die Weisheit”. Um die Undank— 
barkeit zu erklären, jagt Bacon: „fie folgt aus der Einficht 
in die Urſache ber Wohlthat”; um fie zu verwerfen: „fie 


375 


wird nicht durch Strafen gezüchtigt, fondern ift den Furien 
zu überlaffen”. Zum Lobe der Tapferkeit fpricht er wie ein 
Stoifer: „nichts ift fürdterlicher als die Furcht“, „die übri- 
gen Tugenden befreien uns von der Herrichaft der Lajter, die 
Tapferkeit allein von der des Schickſals“. Gegen die Tapferkeit 
fpriht er wie Fallſtaff. Das Lob der Beitändigleit Heißt: 
„Te erträgt Widerwärtigfeiten wortrefflih”, der Zadel: „fie 
verurfacht welche”. Dem Schweigfamen muß man fagen: 
„wenn du klug bit, fo bift du thöricht; wenn du thöricht 
bijt, fo bift du Hug”. Die Schweigfamfeit Toben, heißt die 
Geſprächigkeit tadeln und umgefehrt. Ein einziges inhaltfchweres 
Wort hat er gegen die Großmuth zu fagen: „fie ift eine 
poetifhe Zugendb!”*) Es find der DBeifpiele genug. Man 
wird fowohl in den Themata als in der Behandlung die 
Aehnlichkeit mit Bacon's Eſſays leicht erkennen. 

ALS allgemeinen Anhang zur Darftellungstunft giebt Ba— 
con einige Bemerkungen über Kritik und Pädagogik. Die 
Aufgabe der Kritik ift die Herausgabe und Beurtheilung der 
fefenswürdigen Schriftfteller; die Herausgabe bejteht in der 
Heritellung und Erklärung des Textes. Im der Pädagogik 
verweift Bacon, was manche befrembden wird, als Vorbild auf 
die Schulen der Jeſuiten, die e8 verftanden haben, den Un⸗ 
terriht in großen Anftalten zu organifiren; das Collegium 
(institutio collegiata) fei befjer als die Erziehung in der 
Familie und als der Unterricht in der gewöhnlichen Schule, 
denn das Zufammenleben der jungen Leute unter ſich wede 
die Nacheiferung und der beftändige Verkehr mit den Lehrern 
die Beſcheidenheit; aus Rüdficht auf die verfchiedenen Bega— 


*) De augm. VI, 3. Op. p. 167—182. 





376 


bungen müſſe der Unterricht gründlich und langſam fortichreiten 
und dürfe nicht treibbausartig werden; bei der genauen Kennt: 
niß der Zöglinge Tönne fi im Einzelnen die Erziehung nad 
den Anlagen richten und dadurch der Natur der Indivibuali- 
täten gerecht werden. Mit ganz befonderer Anerfennung hebt 
Bacon hervor, daß die Yefuiten eine Kunft, die als Gewerbe 
übelberufen, als Uebung vortrefflich fei, die Schaufpielkunft 
(actio theatralis) in ihren Schulen pädagogifch zu verwerthen 
und dadurch eine Ausbildung der Förperlichen Beredſamkeit, 
der Ausiprache, des Gedächtniſſes u. ſ. f. zu erzielen wiſſen, 
welche die gewöhnliche Erziehung zum Nachtheile der Zöglinge 
ganz vernadhläffigt. *) 





—— 


*) De augm. VI, 3. Op. p. 188—84. 





Dreigehntes Kapitel. 
Eittenlehre, 





. 1. 
Aufgabe der Sittenlehre. 


Die Ethik ift der Logik nebengeordnet. Wie diefe den 
richtigen Verſtandesgebrauch, fo foll jene den richtigen Willens- 
gebrauch lehren und hat darum zwei in ihrer Aufgabe ent- 
haltene Tragen zu löſen: worin befteht das Willensobject oder 
der zu erreichende Zwed? Wie wird er erreicht, auf welchem 
Wege und durch welche Mittel? Die‘ erfte Frage betrifft das 
Gute, gleihfam das Mufterbild (exemplar), weldes der 
Wille zu verwirflicden hat, die zweite die dazu nöthige Aus- 
bildung des Willens, die fittliche Geiftescultur, die Behand- 
Yung und gleichjam Bewirthſchaftung des pfychiichen Bodens, 
auf dem das Gute wachen und gedeihen fol: darum nennt 
Bacon biefen zweiten Theil feiner Sittenlehre „georgica animi“. 
Es ift weit leichter, fittliche Ideale und Mufterbilder aufftellen 
al8 fie verwirklichen und aus der menſchlichen Natur hervor- 
gehen laſſen; die bisherige Ethik hat fi die Sache leicht ge- 
macht und weit mehr in der Lehre von dem fittlihen Muftern 
als in der von der fittlihen Bildung geleiftet, fie Hat Talli- 
graphifche Vorfchriften gezeigt, aber nicht gelehrt, wie man 


v 





378 


zum Schreiben die Feder führt, fie bat Aeneiden gedichtet, aber 
die Georgica fehlen, und fo hat die frühere Philofophie viel- 
mehr eine rhetorifche als eine natürliche Sittenlehre ausgebil- 
det. Hier ift der Hauptmangel. Die bisherige Sittenlehre 
ijt unpraftiih. Die Sittenlehre praftifh zu machen, ift die 
Aufgabe, deren Löſung Bacon vermißt, und daher die Forderung, 
die er ftellt.*) Freilich wird dieſe praftifche Sittenlehre bei 
weitem nicht jo glänzend und erhaben ausjehen, als die früheren 
Moralſyſteme mit ihren hochfliegenden Betradytungen über das 
höchfte Gut und die höchfte Sücfeligfeit, aber fie wird „um 
fo viel nügliher und dem menfchlichen Leben näher fein ale 
diefe. Denn fie will ſich auf die Materien des menfchlichen 
Handelns jelbft einlaffen uud diefe mit bdemfelben Interefie 
durchdringen als die Phyſik die Stoffe der Körper. Er wolle 
hier nicht feinen Wig leuchten laffen, jagt Bacon, fondern nur 
das Wohl der Menfchheit im Auge haben; man müfje das 
Erhabene mit dem Nütlichen verbinden, wie Virgil neben ben 
Thaten des Aeneas auch die Lehren des Aderbaus befchrieben ; 
die rechte Sittenlehre müſſe mit Demofthenes fagen können: 
„Denn ihr thut, was ich euch vathe, fo werdet ihr nicht bios 
mich den Redner loben, fordern euch felbft, denn euer Zuftand 
wird fi) bald zum Beſſern wenden.” 


I. 
Die Lehre vom Guten. 


1. Grade des Guten. 
Was nun zunächt die Lehre vom Guten betrifft, fo tft 
wohl zu unterfcheiden, in welchem Sinne der Begriff gelten 


— 





*) De augm. VII, 1. Op. p. 186. 





379 


ſoll, ob einfach oder vergleichungsweife (bonum simplex und 
bonum comparationis), ob es fi) um die Arten oder Grade 
des Guten handelt? Die Alten haben diefe Arten auseinanber- 
gefegt, und darin beftand ihre ethijche Hauptleiftung; fie haben 
fich mit dev Frage nad) dem höchſten Gut außerordentlich viel 
befchäftigt, und darin bejtand in ihrer Ethik der Hauptitreit. 
Diefem Streit hat das ChriftentHum ein Ende gemacht, es 
hat das höchſte Gut aus dem Dieffeits ins Ienfeits, aus der 
PHilofophie in die Religion verwiefen, wir haben in diefer 
Rüdiiht nur zu glauben und zu hoffen; das Gute, womit 
die philoſophiſche Sittenlehre ſich befchäftigt, ift eingefchränft 
auf das dieffeitige Leben und darf feine höhere Geltung be- 
anfpruchen als die relative menjchlicher Werke. *) 


2. Arten des Guten. 


Das Gute in Rüdfiht auf das irdiſche Menfchenleben 
zerfällt in zwei Arten, von deren richtiger Unterfcheidung fo- 
wohl die Löfung ftreitiger Tragen als die Grundridhtung der 
Sittenlehre abhängt. Da alles Gute relativ ift, fo muß man 
den Maßftab Tennen, nad welchem, und das Lebensgebiet, für 
welches die Beitimmung deffelben gilt: ob es gilt blos für 
den Einzelnen oder für die menfchliche Gemeinfchaft. Das 
Gute im relativen Sinn ift das Nüßliche; die beiden Arten find 
das Einzelmwohl und das Geſammtwohl (bonum indivi- 
duale oder suitatis und bonum communionis). Das Einzel- 
wohl geht auf den individwellen Genuß, das Gefammt- 
wohl auf die fociale Pflicht. Nach der Werthichäkung 
diefer beiden Arten, je nachdem ſie ausfällt, vichtet fich die 


*) De augm. VII, 1. Op. p. 187. g 





380 


Unterordnung der einen unter die andere, und von bier aus 
entfcheibet fich der Charakter der Ethik. Da die Beftimmung 
des Guten mit dem Lebenszweck zuſammenfällt, der felbft aus 
den Bebürfniffen und dem Umfange der verfchiedenen Lebens» 
gebiete hervorgeht, jo giebt uns jene Artunterfcheidung zugleich 
die Einficht in die Wurzeln oder Quellen des Guten: ob es 
aus dem Einzelintereffe oder aus gemeinnüßigen Intereſſen 
entipringt, ob es im leßten Grunde egoiftisch motivirt ift oder 
nidt. Daß die bisherige Sittenlehre in dieſe Triebfedern bes 
Guten und Böfen nit gründlich genug eingedrungen fet, 
rügt Bacon als einen ihrer Grundfehler.*) 

Die Natur felbft zeigt den richtigen Weg, denn fie geht 
überall auf die Erhaltung ber Gattung und des Ganzen, bie 
hriftlihe Religion lehrt ihn, denn fie fordert die Hingebung 
und Aufopferung des Einzelnen für die Zwecke der Menſchheit; 
die Alten dagegen haben in ihrer Sittenlehre denfelben gründ— 
lich verfehlt, denn in ihren Streitigfelten über das höchſte Gut 
fragen fie nicht: was ift beffer und werthvoller, der individuelle 
Genuß oder die fociale Pflicht? fondern: welcher individuelle 
Genuß ift der größte? Welche Art der perjönlichen Selbft- 
befriedigung iſt die vollfommenfte? Dahin war in allen jenen 
Streitfragen über die menſchliche Glückſeligkeit, die zwiſchen 
Sofratss und den Sophiften, den Cynikern und Eyrenailern, 
den Stoikern und Epikuräern, den Dogmatikern und Step- 
tifern geführt wurden, der Compaß ihrer Ethik gerichtet: was 
befjer fei, ob das theoretifche ober praftifche Leben, Tugend 
oder Glückſeligkeit, die Glückſeligkeit der Gemüthsruhe ober 
der bewegten Sinnesluft u. f.f.? Und am Ende famen fie 


— | — —— — — — 


*) De augm. VII, 1. Op. p. 187 Big. 








381 


alfe darin überein, daß je tfolirter das Individuum fer, je 
unabhängiger und abgefonderter von der Welt, je weniger in 
deren Getriebe verflochten, um jo wohler müffe es fich fühlen. 
Das war der Punkt, auf den fte alle zielten. Nur deshalb 
wurde das theoretifche Leben höher geſchätzt als das praftifche, 
denn die Philofophie, wie einer der erften Philoſophen zu einem 
Könige ſegte, verhalte fi zur Welt, wie die Zufchauer zu 
den olympifchen Spielen. Es ift genußreiher und bequemer 
die Wettlimpfe zu betrachten als felbit daran theilzimehmen. 
Ye mehr man fid) von der Welt abfondert und außer Berührung 
mit ihr hält, um fo beforgter, zarter, empfindlicher wird das 
Gefühl für die eigene Würde, mit einem fo dünnhäutigen Ehr- 
gefühl, das ſich überall rigt, läßt fi in der wirklichen Welt 
nichts ausrichten, während die fittliche Tüchtigkeit abhärtet 
und eine Art militärifcher Ehre ſowohl fordert als ausbildet, 
die dichter und fefter gewebt ift.*) 

In ber Ethik überhaupt hebt Bacon die praftifche Seite 
hervor, die Lehre von der Charaklterbildung; in der Lehre 
vom Guten insbefondere läßt er ben Begriff der focialen 
Pflicht als den wichtigſten erfcheinen. Eine folche Hervor- 
hebung bedeutet bei Bacon allemal eine nothwendige, bisher 
ungelöfte Aufgabe. 





4. 


3. Dad Einzelwohl. 


i Das Einzelwohl umfaßt die perſonlichen (vom Gemein⸗ 
wohl unabhängigen) Lebenszwecke, die Befriedigung der indi- 


) „— e tela crassiore minimeque tam tenui, ut quidvis 
illud vellicare et lacerare possit.“ De augm. VII, 1. Op. p. 1%. 


382 


viduellen Bedürfniffe und Begierden. Nun begehrt jedes In- 
dividuum von Natur dreierlei: es ftrebt ſich zu erhalten, zu 
vervolffommnen, zu vervielfachen (fortzupflanzen).. Da das 
leßtere dur; Erzeugung geichieht, fp bezeichnet Bacon die Er- 
füllung diefer Begierde als „bonum activum” und uuter- 
Icheidet davon die Befriedigung der beiden anderen, die nur 
anf den gegebenen Zuftand des Individuums gerichtet find, 
als „bonum passivum” (was der Selbfterhaltung dient, ift 
„ponum conservativum“, was ben eigenen Lebenszuftand er- 
höht und fteigert, „bonum perfectivum‘). Sittlich handeln 
ift beffer als fittliche Ideale im Kopfe haben und das Gute 
blos betrachten, in der Betrachtung des Guten ift die Rich— 
tung auf das Gemeinwohl beſſer als die auf das eigene Beſte, 
in der letzteren Richtung ift e8 beſſer, fich zu dem eigenen 
Wohl activ verhalten als paffiv. Das paffive Verhalten fucht 
nur das Angenehme, den bloßen Genuß, das Wohlleben, und 
alle darauf bezüglichen Meinungsverſchiedenheiten bewegen fid) 
um die Frage: wie man anı beiten lebt, ob dazu der Gleid- 
muth oder die Sinnesluft, der ruhige Genuß oder der bewegte 
u. ſ. f. touglicher fei? Im diefer Richtung, fo meint Bacon, 
ging die Moralphilofophie der Alten. Sie ift falſch. Activ 
fein ijt in jedem Sinne werthvoller als ſich paffiv verhalten; 
e8 ift ein höherer Grad der Selbftbefriedigung, fich in Werfen 
betätigen als in Genüffen; der Genuß ift vergänglich, „die 
Werke folgen uns nad”. Wer blos genießen will, bleibt 
beim Alten, wer ſich fortpflanzen und verpielfältigen will, 
strebt nach Neuem. Indeſſen ift diefe active Selbjtbefriedigung 
wohl zu unterfcheiden von der Wirkfamfeit fürs gemeine Beſte, 
denn man kann aus Thatendurſt diefem zuwiderhandeln, wie 








383 


e8 3.3. im monftrofen, weltzerjtörenden Ehrgeiz geſchieht, 
jener „gigantea animi conditio“. *) 


4. Das Geſammtwohl. 


Die ſocialen Pflichten unterſcheidet Bacon in allgemeine 
und beſondere (officia generalia und respectiva), jene ſind 
bedingt durch die Natur der menſchlichen Gattung, dieſe durch 
die beſonderen menſchlichen Verhältniſſe, die letzteren umfaſſen 
die Pflichten des Berufs, des Standes, der Familie, Frennd⸗ 
ſchaft, Collegialität, Nachbarſchaft u.f.f. Bacon verhält ſich 
hier nur andentend, nicht ausführeud. Andem er die Berufs— 
und Standespflichten hervorhebt, ftreift er fchon das Gebiet 
der Bolitif und fagt Hier dem Könige, der ein pedantifches 
Bud) über den. Regentenberuf gejchrieben, die gefuchteften 
Schmeideleien, wobei er in Betreff der nothwenbdigen Ein- 
Ichränfungen der königlichen Gewalt gerade die Weisheit und 
Sefinnungen rühmt, welche Jakob nicht Hatte. Sehr dharal- 
teriftifch ift, was Bacon auf diefem Gebiete der Sittenlehre 
vermißt. Weber die politifchen Pflichten und Tugenden iſt 
viel geredet, bei weitem weniger find die entgegengefebten Laſter 
erfannt, die gerade hier auf den verborgenen Pfaden des“ 
Staatslebens in Schlangenwindungen alle Moral zu umgehen 
und aus der Täuſchung eine gefährliche Kunft zu machen wiffen. 
Man muß diefe Schlangenkfünfte, die „malae artes“, fehr 
genau kennen, um ihr Gift zu vermeiden und ihre Klugheit 
fih auzueiguen, damit das Wort: „klug wie die Schlangen 
und ohne Falſch wie die Tauben” richtig erfüllt werde. Die 
ſociale Pflichtenlehre fagt nur, was die Menfchen thun follen; 


*) De augm. VII, 2. Op. p. 191—19. 





384 


die Lehre von den entgegengefeßten Laftern fagt, was fie wirf- 
fh thun. Die verderblichen und mannigfaltigen Künfte der 
Täufhung find die Gefahr, der man nur entgeht, wenn man 
ihr ſcharf ins Geficht fieht. Hier gilt, fagt Bacon vortreff- 
(ih, die Fabel vom Bafilisfen, der durch den Blick tödtet 
und getödtet wird; alles fommt darauf an, wer den Andern 
zuerft erkennt: trifft uns zuerft der Blick des Baſilisken, To 
find wir verloren, umgekehrt tödten wir ihn. Daher ift Mac- 
chiavelli zu preifen, der in feinem Buch vom Fürften diefen 
Baſilisken fo vollkommen befchrieben und getroffen Hat. Bacon 
verlangt von der Sittenlehre, daß fie den ſocialen Pflichten 
(befonderer Art) gegenüber die böfen und geheimen Künfte der 
Politif in einem „tractatus de interioribus rerum“ enthüffe 
und diefem Thema eine fehr ernftbafte Satyre (satyra seria) 
widme.*) Unwillfürlih find wir bei diefer Stelle an die 
Worte des Ihafefpearifchen Richard erinnert, der feine Meifter- 
Schaft gerade in den Künften rühmt, für deren Schilderung 
Bacon ein Kapitel der Sittenlehre fordert: 


Ih will mehr Schiffer als die Nir erfäufen, 
Mehr Gaffer tödten ala der Bafilisk, 

Ih will den Redner gut wie Neftor fpielen, 
Berfchmigter täufchen als Ulyß gekonnt, 

Und Sinon gleich ein zweites Troja nehmen, 
Ich leide Karben dem Chamäleon, 

Berwandle mehr wie Brotens mich und nehme 
Den mörderifhen Macchiavell in Fehr'.**y 


*) De augm. VII, 2. Op. p. 194—%. 
**) Bol. meine Schrift „Shakeſpeare's Charatterentwidiung 
Richard's III.” (Heidelberg 1868), S. 86. 


385 


III. 
Die Sittenenitur. 


1. Das ſittliche und leibliche Wohl. 

Das Gute im praftifchen Sinne find die gemeinnügigen 
Zwede, die nicht blos theoretifch abgehandelt und gerühmt, 
fondern erfüllt und ins Wert gefett fein wollen. Hier findet 
Bacon die zweite und wirhtigfte Aufgabe der Sittenlehre: fie 
folf die menschliche Seele tüchtig machen zum gemeinnügi- - 
gen Handeln. Diefe Tüchtigkeit ift ächte Tugend, und es 
ift Sache der Ethik, die Tugenden nicht blos zu befchreiben, 
fondern zu erzeugen. Das wollte auch Ariftoteles, er bat es 
gefordert, aber nicht geleiftet,; das Feld der eigentlichen ethiſchen 
Seelforge liegt unbebaut, und fo lange man nicht verſteht, 
Sitten und fittliche Charaktere zu bilden, bleibt die Lehre vom 
Guten eine Bildſäule ohne LXeben.*) 

Das Wohl der Seele, wie Bacon im Anhange zu diefem 
zweiten Theil feiner Sittenlehre erörtert, vergleicht ſich dem 
leiblichen Wohl und unterliegt ähnlichen Bedingungen. Wie 
die Somatologie Gefundheit, Schönheit, Kraft und Genuß 
des Körpers zu bedenten hat, jo foll die Ethil als Seelforge 
gerichtet fein auf die Gefundheit des Geiſtes, die Schönheit 
der Sitten, die Stärke ber Thatkraft und jene Lebensheiterkeit 
und Frifche, Die das Gegentheil ftoifcher Melancholie und Stumpf- 
heit iſt. Wenn alle diefe vier Bedingungen zufammen unb 
auf gleiche Weife erfüllt find, fo ift eine fittlihe VBolllommen- 
heit erreicht, die freilich nur in den feltenften Fällen gelingt. ”) 

*) De augm. VII, 38. Op. p. 197. 


®*) (hend. VII, 3. (Additamentum.) Op. p. 204- 206. 
Silber, Bacon, 25 


386 


2. Die fittlihe Geſundheit. 


Die vorzüglichfte unter jenen vier Bedingungen ift die 
Sefundheit. Die Seele ift gefund, wenn fie tüchtig und 
gewöhnt ift zu gemeinnüßigem Handeln. Für die Gefundheit 
forgen, heißt fie vor Störungen bewahren und aus denfelben 
wiederherftellen.. Es verhält fi) darin mit der geiftigen Ge⸗ 
fundheit, wie mit der leiblichen. Um ihre Aufgabe zu erfüllen, 
muß die Medicin die Beichaffenheit des Körpers (Conftitution), 
- die Natur der Krankheit und die richtigen Heilmittel kennen; 
an dem Vorbilde der Medicin orientirt fi die Ethif am beften 
über ihre eigenen Aufgaben: der Leibesverfaffung entfpricht 
die Gemüthsbefchaffenheit oder Gemüthsart, den Krankheiten, 
welche die Harmonie des Körpers ftören, entjprechen die Ge⸗ 
müthsbewegungen, welche die Seele verftimmen und trüben, 
den förperlichen Heilmitteln entfprechen die ethifchen. Darum 
hat die Ethik als Seelforge die dreifache Aufgabe der Einſicht 
in die Gemüthsarten oder Charaktere, in die Gemüthsbewe⸗ 
gungen oder Affecte und in die Heilmittel. Ohne eine genane 
Kenntniß der menſchlichen Charaktere und Affecte, die ſich zur 
Seele verhalten, wie der Sturm zum Meer*), ift eine richtige 
Anwendung moraliſcher Heil- und Bildungsmittel, d.h. über- 
haupt moralifhe Bildung nit möglih. Die menschlichen 
Charaktere und Afferte find gegeben, die moralifchen Bildungs⸗ 
mittel find zu finden. Nur in diefer Rückſicht ift die Ethik 
erfinderiih ; was die menſchliche Natur felbjt betrifft, fo 
kann und foll fie nicht Erfindungen machen, fondern blos Er- 
fahrungen. Ihre Erfahrung ift wirkliche Menſchen— 


— 





*) De augm. VI, 3. Op. p. 199. 








387 


fenntniß, das Studium der Charaktere und Leidenſchaften; 
ihre Erfindung find die Mittel der fittlihen Eultur. So hält 
fi die baconiſche Sittenlehre völlig im Geifte der baconifchen 
Philofophie: Erfindung gegründet auf Erfahrung, praftifche 
Menfchenbildung gegründet auf praktiihe Menſchenkenntniß. 
Diefe legtere ift das Fundament aller Sittenfehre.*) 

Es giebt Feine Moral aus allgemeinen Regeln. Weder 
fönnen wir die Menſchen mit Einem Schlage moralifc machen 
durch die rhetorifche Ankündigung und das wortreiche Lobpreiſen 
der Tugend, noch jeden auf diefelbe Weife. Der Sittenlehrer, 
muß die pfychiſchen Eigenthümlichleiten der Menfchen ebenſo 
forgfältig unterfuchen, als der Arzt die körperlichen. Es giebt 
in der Ethik fo wenig als in der Medicin eine Banacee. Der 
Landwirth prüft die verfchiedenen Befchaffenheiten des Bodens, 
denn es ift unmöglich, auf jedem jedes zu pflanzen, der Arzt 
die verfchiedenen Eonftitutionen des menfchlichen Körpers, die 
jo mannigfaltig und zahlreich find als die Individuen, ber 
Ethifer die verfchiedenen Gemüthsbefchaffenheiten, die jo viel- 
fältig find als die körperlichen Conftitutionen. Eben diefe 
Grundlage praftifcher Menſchenkenntniß vermißt Bacon in der 
bisherigen Sittenlehre, die aus abftracten Grundfägen und 
für abftracte Dienfchen gemacht war und in der Anwendung 
ebenfo charlataniſtiſch ausfällt, als eine Medicin, die allen 
Kranken diefelbe Arznei verſchreibt. So wenig die Phyſik 
Natur machen oder die Elementarftoffe der Körper verändern 
fann, fo wenig Tann die Ethik die Menfchen aus anderm 
Stoffe machen, als fie gemadt find. Die Bhyfit fordert Na- 
turfenntniß, die Ethik Menſchenkenntniß; die Phyſik fucht die 


— — — — — 


*) De augm. VII, 3. Op. p. 197 fig. 


25* 





388 


Mittel, um auf Grund ihrer Naturfenntniß nene Erfindungen 
zu machen und das äußere Wohl der Menſchen zu befördern, 
die Ethik ſucht die Mittel, um auf Grund der Mienjchenlennt- 
niß die Sittencultur zu befördern und die Liebe zu gemein- 
nügigem Handeln. 


| 3. Charattere. 


Die menfchlichen Charaktere bilden fich (nach dem Goethe’- 
ihen Ausiprud) „im Strome der Welt”, unter dem Drange 
des eigenen Naturells und den äußeren Einflüffen des Scdid- 

"sale, fo mannigfaltig diefe find; fie werden daher beffer in 
der Welt und im Leben als in Büchern ftudirt, die gewöhn- 
liche Lebenserfahrung befigt mehr Menfchenkenntnig als die 
gelehrte Literatur, und man wird finden, bemerkt Bacon, daß 
in dieſer Rüdficht die gemeinen Reden der Menfchen klüger 
find als die meiſten Bücher. Will man aus Büchern Den: 
fchenfenntniß gewinnen, jo gewähren die philoſophiſchen Schrif- 
ten bie wenigfte Ausbeute, dagegen die reichite ſolche Dar⸗ 
ftelinngen, die uns das große Schaufpiel der Welt und der 
darin wirffamen Charaktere nach dem Leben vorführen im ge- 
ihichtlihen oder poetifhen Abbild. Man halte fich deshalb 
an die Dichter, namentlich die dramatifchen, und befonders an 
die beſſeren Gejchichtsfchreiber, die uns die Charaktere nicht 
in Lobreden und losgelöft von dem Grunde ihrer Zeit, fon- 
dern mitten auf der Weltbühne und eingewebt in den Gang ber 
Begebenheiten fchildern. Unter den alten ‚nennt Bacon den 
Livius und Tacitus, unter den neueren Commines und Guic- 
ciardini und findet, daß die Hiftorifchen Charakterbilder eines 
Scipio und Cato, eines Tiberius, Claudius und Nero, eines 
Ludwig XI., Ferdinand von Spanien u, ſ. f. fehr Tehrreidhe 





389 N 


Beiträge zu jener Menfchenkenntniß liefern, deren die Sitten- 
fehre bedarf. Auch die Briefe und Berichte der Gefandten 
und fürftlichen Räthe, die bisweilen vwortreffliche Charakterge⸗ 
mälde enthalten, können der Ethik gute ‘Dienfte leiften. Das 
alles find Materialien, welche die Ethik in ihrer Weife und zu 
ihren Zmeden verarbeiten fol. Aus dem reichen Schaf ihrer 
menfchenfundigen Welterfahrung, angeſammelt aus dem Leben 
felbft, aus Gefchichtsfchreibern und Dichtern, aus diefer Fülle 
individueller Charafterbilder, wird fie leicht gewiſſe Charafter- 
grundriffe und Typen (imaginum lineae) entwerfen können, 
welche die menſchliche Natur, wie fie in Wahrheit ift, ethiſch 
anſchaulich machen.*) 


4. Affecte. 


Die Sittencultur würde eine leichte Arbeit haben, wenn 
ihr nicht auf Schritt und Tritt die menfchlichen Begierden 
und Leidenfchaften im Wege ftänden. Das find menfchliche 
Naturmächte, denen man, wie der Natur überhaupt, nur bei- 
fommen fann, wenn man fie einfieht. Darym fordert Bacon 
eine Naturgefhichte der Affecte und findet diefe Lehre, 
ohne welche e8 Feine wahre Menſchenkenntniß giebt, in der 
bisherigen Philofophie theils gar nicht bearbeitet, theils fehr 
vernadjläffigt; Ariftoteles hat in feiner Rhetorik viel Scharf- 
ſinniges über die Art und Erregung der Affecte gejagt, die 
Stoifer Haben fich in mandherlei Definitionen verfucht, man 
hat aud) Abhandlungen über einzelne Affecte gefchrieben, aber 
fie find weder in ihrem natürlichen Zufammenhange nod) anı 
richtigen Ort, nämlich in der Ethik, behandelt worden. Diefe 


*) De augm. VII, 3. Op. p. 108 fg. 


, 30 


von Bacon geforderte Aufgabe einer Naturgeſchichte der Affecte 
in ethifcher Abficht Hat von den folgenden Bhilofophen Feiner 
tiefer und gründlicher gelöft als Spinoza.*) Bacon verlangt, 
daß fie nad) dem Leben geichildert werben, wie fie entftehen 
und wachjen, wie fie erregt, gefteigert, gemäßigt und bemeiftert 
werden, wie man fie fängt, den Affect durch den Affect, wie 
auf der Jagd Thiere durch Thiere, gegenfeitig einjchränft wie 
im Staat Partei durh Partei, die einen durch die andern 
regiert, zuleßt duch Hoffnung und Furdt alle anderen be- 
herricht und ſich auf diefe praftifche Einficht in die Natur der 
Affecte die Regierungskunſt und Politik gründet. Durch die 
Afferte werden die Charaktere beivegt. Man kann dieſe nicht 
Ihildern und treffen ohne jene, daher weiß Bacon auch zum 
Studium der menfchlihen Leidenjchaften die Ethik auf Feine 
befjere Quelle zu verweifen als auf die Geſchichtsſchreiber und 
Dichter. Er hätte ftatt alfer einen einzigen nennen follen, 
der in feinen dramatifchen Werken das vollendete, reichſte, un- 
erichöpfliche Abbild menjchlicher Charaktere und Leidenschaften 
entfaltet Hat: feinen Landsmann und Zeitgenofjen Shakeſpeare. 
So wie Baron den Menſchen von Seiten der Ethif erkannt 
wiffen will, fo hat ihn Shakeſpeare gedichtet. **) 


9. Bildung. 


Um nun die praktiſche Aufgabe der Sittenlehre zu Löfen, 
muß man die Affecte zu zähmen und in Organe bes gemein: 
nügigen Handelns umzubilden wiffen. Dazu giebt es ber 
Hülfsmittel viele, ſämmtlich aus der Natur der Verhältniſſe 


*) Bol. Meine Geſchichte der neuern Philofophie, Bd. I, 2. Abth. 
(2. Aufl. 1865), Cap. XVIII, ©. 347—50. 
*®) De augm. VII, 3. Op. p. 199 fig. 





391 


geſchöpft, aus den natürlichen Neigungen des Individuums, 
den geſelligen Einflüſſen, der intellectuellen Erziehung u. ſ. f. 
In dem Uebergewicht einzelner Leidenſchaften liegt die Gefahr, 
daher ijt das Gleichgewicht der Affecte die zu erzeugende Dis- 
pofition. Eine berrfchende Leidenfchaft läßt fich nicht gewalt- 
ſam ausrotten, fondern nur allmälig bewältigen, auf natür- 
lihem Wege, man muß die ihr entgegengefettte Neigung be- 
fördern und mit allen möglichen Mitteln verjtärken, bis fie 
gleihfam alpari fteht. So kann man die Seele gerade machen, 
wie einen Frummen Stab, den man vorfidtig und allmälig 
biegt. Die Gewöhnung ift ber Weg, den bie ſittliche Er- 
ziehung zu nehmen hat; er führt von der erften Natur zur 
zweiten, von der rohen zur gebildeten und ift in feinen Rich— 
tungen jo verfhieden als die Anlagen und Neigungen der 
Menſchen. Um eine Fähigkeit in Fertigleit zu verwandeln, 
nimmt die Bildung den Weg, den die erfte Natur bezeichnet, 
fie geht in der Richtung des Talents; um das Xafter zu ver- 
hüten, zu dem eine übermäßige Leidenjchaft Hinneigt, nimmt 
die Bildung den Ausgangspunkt ihres Weges von der ent- 
gegengejegten Neigung. Es giebt eine natürliche Neigung, die 
auf den Endzwed des Lebens felbft geht und beftimmt ift, alle 
übrigen zu beherrichen: der Sinn für die Gemeinſchaft, bie 
Hingebung an das Ganze, die Liebe, in ber das höchſte Na- 
turgefeß übereinftimmt mit dem höchften Geſetz des chriftlichen 
Glaubens. Sie ift der einzige Affeet, der die Seele erweitert, 
der einzige, der fein Uebermaß hat und darum das Streben 
nad) dem Höchften erlaubt und fordert. Das Streben nad 
der Macht und Weisheit Gottes hat den Fall erzeugt, aber 
wenn wir Gottes Liebe und Güte gleichlommen wollen, fo 
werden wir ihm ähnlich. 


392 


In der Lehre von den focialen Pflichten streift die baco- 
niſche Sittenlehre ſchon das Gebiet der Politik, indem fie 
auf die Liebe als die höchſte aller Neigungen und Pflichten 
hinweift, berührt fie das Gebiet der Religion. 

Die Summe diefer Ethik Tiegt in dem Satz, der das 
Gepräge der ganzen baconifchen Philofophie trägt: Menfchen- 
bildung gegründet auf Menichenkenntniß, die auf einer Er- 
fehrung beruht, welche felbft aus den lauterſten und tiefiten 
Duellen gefehöpft if. Die Träume- der Ethik, jagt Bacon, 
follen durch das Thor von Horn, nit dur das von Elfen- 
bein fommen.*) 


*) De augm. VII, 3. Op. p. 200—206. 


Ich gebe als Anhang folgendes Schema ber baconifchen 
Ethik: 
Sittenlehre. 
Das Gute. | Die fittlige Bildung, 


 Menfhen- | Mengen 
Arten Grade keuntniß —** 


Gemeinwohl al⸗ 
Einzelwohl dociale Pflichten) char⸗ Affecte 


paffiv | allg. 





activ befond. 




















Vierzehnles Kapitel. 
Geſellſchaftslehre. 


Die Anthropologie hatte Bacon eingetheilt in die Lehre 
von der menſchlichen Natur und die von der menſchlichen Ge⸗ 
ſellſchaft; jene verzweigt ſich in die verſchiedenen Gebiete des 
körperlichen und geiſtigen Menſchenlebens, dieſe hat es zu thun 
mit dem bürgerlichen Verkehr, einer äußerſt verwickelten, da- 
her in Grundfäße ſchwer auflöslihen Materie. Und zwar 
find es Schwierigkeiten doppelter Art, denen die Auseinander- 
fegung der „seientia civilis“ unterliegt, denn zu der compli- 
cirten Natur der bitrgerlichen Gefellichaft kommt die geheinte 
und verborgene Natur der Staatskunft; jene erjchwert die 
wiffenfchaftliche, diefe die offene Behandlung der Hierher gehöri- 
gen Gegenftände. Die Regeln der Regierungskunft feien Ar- 
cana, die vor aller Welt zu erörtern am wenigften dem cer- 
laubt jet, der fie übe. Was daher diefen Theil der Gefell- 
ſchaftswiſſenſchaft betrifft, fagt Bacon, indem er ſich an den 
König richtet, fo zieme es ihm, dem hochgeftellten Staatsmann, 
ſich in Schweigen zu Hüllen, er habe in feinem Abriß der 
Künſte eine vergeffen, die er jest an feinem eigenen Beifpiele 
zeigen wolle, die Kunft des Schweigens, die Cicero für einen 
Theil der Beredfamfeit Halte; er werde hier das Beifpiel des 
lepteren befolgen, der in einem feiner Briefe an den Atticug 


304 


ſchreibt: „An diefer Stelle Habe ic) etwas von deiner Bered- 
ſamkeit angenommen, denn ich habe geſchwiegen.“*) 

Unter den vorangegangenen anthropologiſchen Wiffenfchaf- 
ten fteht der Politif am nächften die Ethik, mit der Bacon 
jene vergleicht. Das fittliche Regiment habe es mit dem Einzel- 
nen und deſſen Gefinnung zu thun, das politifche mit der 
Maffe und deren Handlungsweije; daher fei das Amt der 
Ethik fchwieriger als das der Bolitif; denn die Bewegungen 
und Veränderungen der Maſſe feien langfamer und regelmäßi- 
ger als die Einzelmer, die ihre Richtung ſchnell und plötzlich 
ändern können; eine Heerde Schafe, wie Cato von den Römern 
zu fagen pflegte, fei leichter zu treiben als eines für ſich; end» 
ih fei das Ziel der politiihen Sorgfalt leichter zu erreichen 
als das der ethifchen, da unter dem politifchen Geſichtspunkt 
nur Uebereinftimmung der Handlungen mit dem Gejeg, unter 
dem ethifchen ‚dagegen Webereinftimmung ber Gefinnung mit 
der Pflicht, dort „„bonitas exterua”, hier „bonitas interna“ 
gefordert werde. Dder, wie diefen Unterſchied Kant ausgedrüdt 
hat: die Politik verlange blos die Legalität der Handlungen, 
die Ethik deren Moralität.**) 

Wird nun das bürgerliche Zufammenlchen fo gefaßt, daß 
bon jeder ſyſtematiſchen oder principiellen Behandlung cbenfo 
abgefeben wird als von der Mafgebung ethifcher Zwede, fo 


. —— - — — —— 


*) De augm. Lib. VIII, 1. Op. p. 205. Dieſes Buch ſeiner Eis 
cyllopädie hat Bacon mit dem vollen Bewußtſein feiner politiſchen Würde 
gefhrieben, und da er an einer Stelle ausdrücklich jagt, daß ev feit 
vier Jahren das höchſte Staatsauit beleide, feit 18 Jahren dem Könige 





diene, jo fällt (jeinen Worten gemäß) die Abfaffung in das Jahr 1621, 


alfo unmittelbar vor feinen Sturz. Bgl. cp. 3. Op. p. 286. 
**) Ebend. VII, 1. Op. p. 206. 


395 


fonnte Bacon nichts anderes übrig behalten als cine aphoriftifche 
Betrachtungsweiſe, gerichtet auf die äußeren Intereffen der 
menſchlichen Coeriftenz und gefchöpft aus feinem Schage men- 
ſchenkundiger Welterfahrung. ‘Das der „scientia civilis“ gewibd- 
mete Buch feiner Enchklopädie fällt ganz in die Sphäre und 
Richtung feiner Eſſays, und es finden fich, mit der Samm⸗ 
luug ber Teßteren verglichen, in jedem feiner Theile Parallel: 
ſtücke. 

Die drei Theile nämlich, in welche Bacon feine focial- 
politiihen Betrachtungen zerfallen läßt, find dem gefelligen 
Verkehr oder Umgang, den Gefchäften und der Rechtsordnung 
oder Regierung gewidmet. Der gejellige Umgang ſchützt vor 
Einſamkeit, der Gefchäftsverkehr gewährt Hülfe und Unter⸗ 
ftügung, die Öffentliche Gcredhtigfeit in der Hand der Regierung 
fichert uns gegen Unrecht. Die Wohlthaten der bürgerlichen 
Coexiſtenz bejtehen daher in der Gefelligfeit, in der gegen- 
feitigen Förderung und im Nechtsihug. Wie nun der Um—⸗ 
gang, ber Gefchäftsverfchr, der Staat einzurichten ſei, damit 
jener dreifahe Nuten ficher erreicht werde, das ift die eigent> 
liche Aufgabe der baconifchen „scientia civilis“, die fich dem— 
nach befchräuft auf eine Reihe von Anmeifungen oder Regeln 
zur Klugheit im Umgang, in Gejchäften, in der Negierung.*) 

Die homiletifche Klugheit (prudentia in conversando) 
befteht in dem höflichen und einnehmenden Betragen, in den 
ficheren und maßvollen Anftand, gleich entfernt von anmaßens 
der und unterwürfiger Art, von roher Natürlichkeit und theatra> 
liſcher Ziererei, vollkommen beaufſichtigt und geregelt, ohne 
gekünſtelt zu ſein, in Haltung und Geberde, in Mienenſpiel 


— — — — — — 


*) De augm. VIII, 1. Op. p. 200. 


3% 


und Rede; das Benehmen im gejelligen Verkehr gleiche einem 
bequemen und wohleingerichteten Kleide, das nirgends zu eng 
und "überall fo drapirt ſei, daß es die guten Eigenſchaften 
unſerer Natur hervorhebe und die Mängel verberge. *) 

Die Gefchäftsflugheit (prudentia in negotiando), die den 
Gelehrten gewöhnlich abgeht und deren Theorie Bacon unter 
den bisherigen Wiffenfchaften vermißt, hat zweierlei zu beden- 
fen: 1) wie man andere bei den mannigfachen und zerftreuten 
Anläffen der Brivatgefchäfte des Lebens (occasiones sparsae) 
am beften berathe, und 2) wie man fein eigenes Glück her- 
ftelle und die Nebensziele, die man verfolgt, am ficherften er- 
reihe. Die erfte Kunft, andere gut zu berathen, nennt Bacon 
sapere, die zweite, fich felbft gut zu berathen, sapere sibi;**) 
man Tann die eine haben ohne die andere, die ächte Lebens- 
Hugheit ſoll beide vereinigen. 

Um die Dentweife darzulegen, aus der bei allen mög- _ 
lichen Gelegenheiten die beften und klügſten Rathichläge für 
andere gefchöpft werden, hat Bacon beifpielsweife 34 falomo- 
nifhe Sprüche genommen, die er Parabeln nennt und jedes- 
mal fo erläutert, daß fie unmittelbar auf Fälle des täglichen 
Lebens angewendet und nutzbar gemacht werden, wie 3.9. der 
Sat, daß das Ende der Rede beffer fei als der Anfang, daß 
der Weg der Faulen durd ‘Dornen gehe u. f. f.***) 

Indeffen fordert die praftifche Lebensflugheit, daß man 
nicht blos fremde Geſchäfte wohl berathen, fondern namentlich 


*) De augn. VIII, 1. Op. p. 206—208. gl. Sermoncs fideles 
Nr. LVIIL, de civili conversatione. Op. p. 1240 fig. 
**) De augm. VIII, 2. Op. p. 221. 
***) Ebend. VIII, 2. Op. p. 209—20 = Sermones fideles etc. 
(Lugd. Bat. 1614) Nr. LIX. 














397 


die eigenen Angelegenheiten gedeihlich führen und gleichſam der 
Baumeiſter oder, um mit dem Sprüchwort und Bacon zu 
reden, „der Schmidt ſeines Glücks“ werden könne. Dazu 
gehört als die weſentlichſte aller Bedingungen Menſchenkennt⸗ 
niß, eine richtige und unverblendete Schägung fowohl feiner 
jelbft al8 der Menfchen, mit denen man lebt, denn darin be- 
ſteht das Material, aus dem jeder fein Glück zu geftalten 
bat, und ohne Kenntniß des Baumaterials wird niemand ein 
Baumeiftr. Dan muß, fagt Bacon, fi) das Fenfter des 
Momus verfchaffen, um in die verborgenften Schlupfwinkel 
der menfchlihen Herzen zu fehen, und zu dieſer Einficht feien 
eine Menge feiner und forgfältiger Beobachtungen nothmwendig, 
da man einerfeit8 das menfchliche Thun und Treiben von dem 
äußeren Schein, den es in Miene, Wort und Werk annimmt, 
bis in den innerften Kern der Gemüthsbefchaffenheit und Mo- 
tive zu verfolgen, andererfeits ben Leumund zu beachten Habe, 
indem man die Einflüffe, die ihn beftimmen, wohl unterfcheidet. 
Denn mande Eigenthümlichleiten werden am fchärfiten von 
Freunden, andere von Feinden, andere von Hausgenoſſen u. ſ. f. 
wahrgenommen. Am beiten erfenne man die Menfchen aus 
einer tiefen Beobachtung ihrer Charaktere und Abfichten, nur 
müſſe man, um fich vor Zäufchungen zu fchüten, die leteren 
in der Regel nicht zu großartig und zu hoch faffen, denn es 
"pflege uns mit den Abfichten Anderer wie mit deren Ver—⸗ 
mögensdumjtänden zu gehen, gewöhnlich werden fie überſchätzt 
und man finde Tleinere Summen als man erwartet. 

Über auch die richtigfte Kenntniß anderer wird zur Grün: 
dung des eigenen Glücks demjenigen nicht viel helfen, der fich 
ſelbſt falfch beirtheilt und durd) Zrugbilder verblendet. PViel- 
mehr ift alle Menſchenkenntniß auf ächte Selbſtkenntniß gegründet 


398 


und ohne diefe nicht möglich; wer ſich nicht in das eigene 
Innere das Momnsfenfter geöffnet hat, für den ift es blind 
nach außen. Unter jener Selbſtkenntniß aber, die den richtigen 
Lebensweg erleuchtet, verjtcht Bacon weder bie folratifche 
Speculation über die Menfchennatur im Allgemeinen, noch das 
Beäugeln individueller Abfonderlichkeiten, denn mit folchen 
Arten der Selbſtſchätzung macht man feine Laufbahn, fondern 
er verlangt die Selbjterfenntniß im Spiegel des Zeitafters. Se- 
der ijt das Kind feiner Zeit, daher die Selbfterfenntniß, wie 
jede Wahrheit, die Tochter der Zeit. Wir finden Bacon aud 
hier, wo er die Selbjtbetradjtung an den richtigen Ort rüdt, 
in völliger und feiner Webereinftimmung mit ber Richtung 
feiner ganzen Philofophie. Zeitgemäß denfen heißt ihm philo- 
fophiren; ſich felbt im Spiegel der Zeit betrachten heißt ihm 
fich erfennen. Wer über die Zeit, in der er Tebt, im Dunkeln 
bleibt oder ſich Trugbildern hingiebt, verfennt fich felbft und 
vergreift fih von vornherein in feinen Zielen. ‘Daher ift bie 
richtige Wahl der Lebensart, des Berufs, der Freunde, das 
Seltendinachen des eigenen Werthes auf dem ihm gemäßen 
Gebiet, der Eintritt in den erfolgreichen Wettftreit, in die 
richtige Mitbewerbung, die haushälteriiche Verwaltung ber 
eigenen Tugenden und Mängel, mit einem Wort die gefammte 
Einrihtung und Ordnung des Lebens bedingt durch die richtige 
Werthſchätzung der Dinge, durch jene Mare Erfenntniß der 
Zeitgrößen (die eigene Natur und deren Vermögen miteinge- 
rechnet), weldhe Bacon eine „mathematica vera animi“ 
nennt.*) Und hier gelte die Grundregel: daß man die eigenen 


*) De augm. VII, 2. Op.p. 220—36 = Sermones fideles etc. 
(Lugd. Bat. 1644) Nr. LX (faber fortunae). 


399 


Mittel und Fähigkeiten wohl erwäge, ſich nicht Kräfte zutraue, 
die man nicht hat, die vorhandenen nicht überſchätze und alle 
Anftrengungen darauf richte, diefe Mittel zu vermehren. 
Denn nicht das Geld, fondern die Geifteskräfte find die Nerven 
des Glücks; das Glück ift die Frucht hartnäckiger Arbeit, nicht 
blinder Schidfalsgunft: darum foll man der Schmidt des 
Glücks fein, nicht der zudringliche Freier. | 

Die eigentliche Regierungskunft übergeht Bacon mit jenem 
ausdrudsvollen Schweigen, das er dem Staatsmann zur Pflicht 
macht und womit er fich felbft als einen Träger der Stants- 
geheimnifje ankündigt. Nur um die Stelle nicht ganz leer zu 
faffen, will er zwei nad) außen gelegene Punkte zwar nicht 
ausführlich erörtern, aber durch Andeutungen darauf Hinweifen. 
Der erite betrifft die Macht des Staats, der zweite die Form 
der öffentlichen Gefeßgebung, auf ber die bürgerlihe Rechts⸗ 
ordnung beruht. Wie jedes lebendige Wefen, ftrebt der Staat 
nad) Erhaltung und Vermehrung feines Dafeins, die Ber: 
mehrung bejteht in der Entfaltung feiner Kräfte nad) innen, 
in der Erweiterung feiner Grenzen nad) außen. Das find 
drei Aufgaben der Staatskunft, von denen Bacon hier nur 
die dritte in Angriff nimmt: „die Erweiterung der Grenzen 
des Reihe”. Er meint die Kunft, deren fi Themiſtokles 
rühmte, als er bei einem Gaftmahl aufgefordert wurde, die 
Laute zu fpielen: „Spielen kann ich nicht”, fagte Themiftofles, 
„aber ich Tann aus einer Kleinen Stadt eine große machen.” 
Das ſei die Kunſt, fügt Bacon Hinzu, die fih in der Um— 
gebung der Könige höchft felten finde, denn die Hofleute feien 
in der Regel zum Tändeln geſchickter als zum Herrſchen und 
befjere Muſikanten als Staatsmänner. Er felbft, indem er 
auf die Trage, wie man ein Reich vergrößere, fich einläßt, 





400 


hat das Beifpiel der Römer und Mackhiavelli vor fih, von 
dem er ſchon früher bemerkte, daß er die Gefchichte wieder 
politiih gedacht und dargeftellt habe. Im Uebrigen fchreibt 
Bacon als englifher Staatsmann, der, wie man fieht, die 
Größe und das Wahsthum des eigenen Vaterlandes dicht vor 
Augen hat; er fordert die Kriegstüchtigfeit der Bürger, die 
ökonomiſchen Bedingungen, welche die Bevölkerung Fräftig und 
ſtark machen, die Befreiung und Hebung des Bauernftandes, 
die Organifation der Wehrfraft in einem ftehenden SHeere, 
Volfszuftände, bie ihrer ganzen Einrichtung nach ſicher find 
vor inneren Kriegen, dagegen ſtets gerüftet zu äußeren, jedem 
Feinde gewachſen, bei jeder rechtmäßigen Gelegenheit zur 
Kriegsführung bereit; der Bürgerkrieg gleiche der Tieberhite, 
der auswärtige dagegen der Wärme, die aus der Bewegung 
hervorgehe und der Gefundheit diene; vor allem aber müſſe 
die Herrfchaft zur See erzielt und bewahrt werben, denn fie 
allein führe zur Weltherrfchaft und fei gleichjam „monarchiae 
epitome“, Hier berührt er den Lebensnerv der Machtftellung 
Englands. „Um den Gipfel der Herrfchaft zu erreichen“, fagt 
Bacon, „iſt heutzutage umd zumal in Europa die Seemacht, 
die jet unferem Großbritannien zu Theil geworden ift, von 
der größten Bedeutung, einmal weil die meijten Reiche Eu- 
ropas nit einfach binnenländifch find, fondern zum größten 
Theil von Meer umgeben, dann weil die Schäte und Reich— 
thümer beider Indien derjenigen Macht zufallen, die das Meer 
beherrſcht.“*) 


*) De augm. VIII, 3. Op. p. 237—40 (exemplum tractatus de 
proferendis finibus imperii) = Serm. fideles XXIX (de proferendis 
finib. imp.). Op. p. 1186 - 93. 














Sünfjehnies Kapitel. 


Die baconifche Philoſophie in ihrem Verhältniß zur Religion, 





I. 
Bacon's Stelung zur Religion. 
1. Treunung von Religion und Philofophie, 

Das letzte der Bücher de augmentis ift ber geoffenbarten 
Theologie gewidmet. Wir Haben dafjelbe bereits vorweg— 
genommen und feinen Inhalt in einem früheren Abfchnitte dar- 
geitellt, wo unfere Aufgabe war, die Stellung der Theologie 
überhaupt in dem baconifchen Grundriß der Wiſſenſchaften zu 
fenyzeichnen.*) Auf diefe Vorausfegung ftüßen wir die gegen 
wärtige Betradtung, die das Verhältniß der baconifchen Lehre 
zur Religion näher beleuchten ſoll. 

Es giebt nad) Bacon eine doppelte Theologie, die ge- 
offenbarte jenjeit8 aller philofophifchen Erkenntuiß, die natür- 
liche innerhalb derfelben; es giebt eine Erfenntniß Gottes aus 
natürlichen Urfachen, eine Gewißheit des Daſeins einer welt- 
fhaffenden und ordnenden Intelligenz, gegründet blos auf die 
Betrachtung der natürliden Ordnungen der Dinge Diefer 
Glaube an Gott ift wiffenfchaftlich nothwendig, der ihm wider- 
fprechende Unglaube oder Atheismus ift wiſſenſchaftlich unmög⸗ 
lich. „Es iſt leichter“, ſagt Bacon, „an die abenteuerlichſten 





*) S. oben S. 322- 26. 
Fiſcher, Bacon, 26 


402 


Fabeln des Korans, des Talmuds und der Legende zu glauben, 
als zu glauben, daß die Welt ohne Verftand gemacht fei. 
Darum bat Gott zur Widerlegung des Atheismus Feine Wun- 
. der gethan, weil zu diefem Zwed feine geiehmäßigen Natur: 
werfe hinreichen.“*) 

Es ift alfo die natürliche Theologie im 1 Sinne Bacon’8 
nichts anderes als der Glaube an den göttlichen Verſtand in 
der Welt, an die Offenbarung Gottes in bem geregelten Lauf 
der Natur; fie überfchreitet nicht den Horizont der natürlichen 
Urſachen und erkennt daher nichts von Gottes übernatürlichen 
Weſen, von feinen Ratbichlüffen zum Heile des Menfchen, 
nichts von der Religion, deren Duelle jenfeits der Natur liegt, 
nichts von dem Reich der Gnade, deffen Duelle in der Religion 
gefurcht werden muß. Die Religion beruht auf der übernatür- 
lihen Offenbarung Gottes, die den Inhalt der geoffenbarten 
Theologie ausmacht. Die natürliche Theologie gehört zur 
Philofophie, die geoffenbarte zur Religion. Da nun bie 
Grenze der natürlihen Urfachen zugleich die Grenze des menfch- 
lichen Verftandes bildet, fo ift zwifchen Bhilofophie und Reli- 
gion eine unüberfteigliche Scheidewand. Die natürliche Theo⸗ 
logie ift Fein vermittelndes Bindeglied, fondern hält fich dieffeits 
auf dem Gebiete der Philofophie. Es ift bei Bacon gewiß, 
daß fie die Religion nicht unterftüßt; es ift zweifelhaft, in- 
wieweit fie felbft von der Philofophie unterftütt wird, denn 
ed finden fih Stellen, wo von der natürlichen Theologie als 
einer der Bhilofophie fremden Sache geredet wird. Es fteht 
alfo zweierlei feft: 1) die Religion, welche allein diefen Namen 
verdient, gründet fich nicht auf eine natürliche Erkenntniß, es 


*) Sermones fideles, XVI. De atheismo. Op. p. 1165. 











403 


giebt in biefem Sinne feine natürliche Religion. 2) von ben 
Religionswahrheiten ift eine wiſſenſchaftliche Erfeuntniß un⸗ 
möglich, es giebt in diefem Sinne feine Religionsphilofophie. *) 
Um aus der Philofophie in die Religion, ans dem Reiche der 
Natur in das der Offenbarung zu gelangen, müffen wir aus 
dem Boote der Wiffenfchaft, worin wir die alte umb neue 
Welt umfegelt haben, in das Schiff der Kirche treten und hier 
die göttlichen Dffenbarungen fo pofitiv annehmen, wie fie ge- 
geben werben.**) So befteht zwifchen Religion und Philofo- 
phie eine Trennung, bie jeden Wechſelverkehr ausfchliekt: 
Philoſophie innerhalb ber Religion ift Unglaube, Religion 
innerhalb der Bhilofophie ift Phantafterei. Es Tann auf dem 
baconiſchen Standpunfte der religidfe Glaube durch die menfch- 
fiche Vernunft weder ergriffen noch gepräft werden. Er duldet 
feinerlei Vernunftkritik; er verlangt bie blinde Annahme der 
göttlichen Dffenbarungsftatute. Uebernatürlich in ihrem Ur⸗ 
fprunge, find diefe Offenbarungen undurchdringliche Myſterien 
für die menfchliche Vernunft. Der Widerſpruch unferes Willens 
entkräftet nicht die Verbindlichkeit der göttlichen Gebote, ebenfo 
wenig entlräftet ber Widerſpruch unferer Vernunft die Glaub⸗ 
würdigfeit der göttlichen Offenbarungen. Vielmehr befräftigt 
gerade diefer Wiberfprud ihre höhere göttliche Abkunft, viel- 
mehr müfjen wir die göttlichen Dffenbarungen um fo eher an⸗ 
nehmen, je weniger fie unferer Vernunft einleuchten. Je un⸗ 
gereimter fie find, deſto glaubwürdiger, „je vernunftwidriger 


*) Theologie und Religion ift bei Bacon gleichbedeutend. Er nennt 
deshalb die natürliche Theologie auch natürliche Religion. Um die Zwei⸗ 
deutigleit der Ausdrüde zu vermeiden, werden wir das Wort Religion 
nur im Sinne der geoffenbarten Theologie brauchen. 

**) De augm. scient,, Lib. IX. 
26 * 





404 


das göttliche Myfterium iſt“, Iautet der baconifhe Kanon, 
„um fo mehr muß e8 zur Ehre Gottes geglaubt werben”. *) 
Das PVernunftwidrige im menſchlichen Sinne, weit entfernt, 
eine negative Glaubensinſtanz zu fein, ift vielmehr eine pofi- 
tive, ein Kriterium der Glaubenswahrbeit; nicht obgleich, ſon⸗ 
dern weil fie der menfchlichen Vernunft zuwiberläuft, foll die 
göttliche Offenbarung geglaubt werden. Der religiöfe Glaube 
ſoll nicht Hinter der Wiffenfchaft, fondern jenfeits derjelben 
ftehen auf einem ganz andern Grunde; er joll unbedingt, ohne 
alle Bernunftgründe, ohne alle logiſche Hülfsconftructionen, 
daher fo gut als blind fein. Alfo auch im Gebiete der Theo- 
logie iſt Bacon durchweg antifholaftifh. Die Scholaftil war 
eine fpeculative Theologie, eine verftandesmäßige Beweisführung 
der Glaubensfäte, ein logiſches Bollwerk der Kirche. Dieſes 
Bollwerk zerftört Bacon im Intereffe der Philofophie und 
Religion, die PBhilofophie ſoll es nicht aufbauen, die Theo⸗ 
fogie ſoll fi nicht mit ſolchen Mitteln befeftigen; indem er 
beide trennt, zerftört er den fcholaftifchen Geift, der beide 
vereinigt oder vermifcht Hatte. Vielmehr fcheint Bacon zu dem 
voricholaftifchen Glaubensprincipe zurüdzulehren und ben Wahl- 
ſpruch Tertullian’® zu erneuern: „Credo quia absurdum.“ 
„Chriſtus, der Sohn Gottes“, hatte Tertullian gefagt, „iſt 
geftorben, das glaube ih, denn es ift vernunftwibrig; er ift 
begraben worden und wieder "auferftanden von den Todten, 
das ift gewiß, denn es ift unmöglich.” Aber zwiſchen Ter⸗ 
tullian und Bacon liegen die Syſteme der Scholaftif, beide 
unterfcheiden ſich wie ihre Zeitalter; dem englifchen Philofo- 
phen erſcheint die menschliche Vernunft nicht fo ohnmächtig ale 


*) De augm. scient, Lib. IX, cp. 1. Op. p. 258. 








405 


dem lateinifchen Kirchenvater; derfelbe Ausspruch ift ein anderer 
im Munde eines Reformators der Wiffenfchaften, ein anderer 
in dem eines Lehrers der altchriftlichen Kirche. Was Bacon 
im legten feiner enchllopädifchen Bücher erflärt, hat offenbar 
einen andern Sinn, als derfelbe Sa Tertullian's in ber 
Schrift „de carne Christi”. Bacon hat Hinter fih die 
„dignitas scientiarum‘, die er mit fo vielem Eifer verthei⸗ 
digt, mit fo vielen Schäten vermehrt hat; diefe dignitas 
scientiarum fehlt in der Anerkennung Tertullian’s, vielmehr 
wird von ihm nur deren Gegentheil anerkannt, der Unwerth 
der Wiffenfchaften nnd die Ohnmacht der menſchlichen Vernunft. 
Der Sat Tertullian’s ift einfach, der baconiſche doppelfinnig. 
Ein Intereffe haben fie gemein: fie wollen keinen raifonniren- 
den Glauben, Feine Bermifhung von Glauben und Vernunft, 
Religion und Philofophie, Offenbarung und Natur; daher 
müſſen fie den vollen Gegenfat beider behaupten und damit 
den Satz, daß die Bernunftwidrigleit in der Religion die 
Glaubwürdigkeit vermehrte. Es giebt in dem Verhältni von 
Glaube und Vernunft nur drei Fälle, von denen einer allein 
den Glanbenspuriften zulommt: entweder der Glaube entfpricht 
oder wibderfpricht der Vernunft, er widerjpricht derfelben ent- 
weder mit oder ohne ihre Erlaubnik. Der erfte Fall Heißt: 
ich glanbe, weil es vernünftig ift; hier ift der Glaube Ver: 
nunftdogma, denn er wird von der Vernunft beglaubigt. Der 
zweite Heißt: ich glaube, obgleich es vernünftig ift; hier ift 
der Glaube Vernunftconceffion, denn er wird von der Ver⸗ 
nunft eingeräumt und gleihfam erlaubt, bie Vernunft thut 
hier ein Uebriges am Glauben, fie entſchließt fich zum Glau⸗ 
ben mit ſchwerem Herzen, fie fagt: „Ich glaube, Herr! hilf 
meinem Unglauben!“ Auf diefem Standpunkt würde es der 


406 


Glaube viel Lieber fehen, wenn feine Süße vernünftig wären, 
er würde fie dann für fo viel glaubwürdiger halten. Endlich 
der dritte Fall lautet: ich glaube, weil es unvernänftig ift; 
hier kündigt der Glaube der Vernunft nicht blos den Gehor- 
fam, fondern auch jeden Vertrag, er ergreift ihr gegenüber 
die Contrapofition und erlaubt ihr gar feine Einrede. Wenn 
man mit Zertulltan und Bacon den Glauben der Vernunft 
entgegenfett und die Vernunftwidrigkeit zum pofitiven Glau⸗ 
bensfriterium macht, fo bleibt nur diefer dritte Tall als der 
einzig mögliche übrig. Der Bernunft und Philofophie gegen- 
über kann der Glaubenspurismus Teine andere Formel finden. 
Freilich ift auch diefe Formel gegen ihren Willen mit der Ver⸗ 
nunft verfekt, und darin beiteht der Wiberfpruch, der ihre 
innere Unmöglichkeit ausmacht. Sie ift Raifonnement, fie be 
gründet den Glauben, zwar durd das Gegentheil der Ber- 
nunft, aber gleichviel, fie begründet: fie fann das quia 
nicht loswerden, fte ift felbft Logik, indem fie alle Logik aus- 
ſchließt! Indeſſen wollen wir den guten Willen für die That 
nehmen und fragen, ob das credo quia absurdum von Bacon 
ebenjo gut gemeint ijt al8 von Zertullian. 

Zertullien hatte mit feinem Bekenntniß nur ein einziges 
Ziel vor Augen: die Reinheit des Glaubens; er wollte ber 
Wiſſenſchaft feine Wohlthat erweifen, deun fie galt ihm nichts, 
fein Sat war einfach und eindeutig. ‘Dagegen Bacon wollte 
mit feiner Trennung von Glaube und Wiffenfchaft beide von 
einander unabhängig machen, er wollte beide vor der Ver—⸗ 
miſchung bewahren, er bezwedte die Unabhängigkeit der Wiſſen⸗ 
jhaft nicht weniger als die ber Religion. Wir müffen unfere 
Behauptung fteigern: Bacon wollte die Unabhängigkeit des 
Glaubens, weil er die der Wiffenfhaft im Sinne hatte; er 








407 


handelte mehr im Intereffe der Wiffenfchaft als in dem bes 
Glaubens, feine Erklärung war doppelfinnig und zweidentig, 
fie Tann zum Bortheile beider, fie muß mehr zum Vortheile 
der Wiffenfhaft ansgelegt werden. Die Wiffenfchaft war fein 
Schatz, und bei feinem Schatze war fein Herz. Nannte er 
nicht felbft die auf bie Wiffenfchaft gegründete Herrſchaft des 
Menihen das Himmelreih, welches er auffchließen wollte? 
Sein Intereffe für Glaube und Wiffenfchaft war getheilt, es 
hatte zwei Seiten, und wenn auf einer von beiden ein Ueber⸗ 
gewicht ftattfand, fo lag es ohne Zweifel auf der wiffenfchaft- 
lihen. In der That war hier ein folches Uebergewidt. Wer 
diefen wiffensdurftigen Geift Tennen gelernt hat, wird nicht 
zweifeln, daß fein wahres und unwilffürliches Intereffe allein 
der Wiffenfchaft zufiel; ihr widmete er den beiten Theil feines 
Lebens, während der andere nicht der Religion, fondern den 
Stantsgefchäften gehörte. Seiner Neigung nad galt ihm der 
Glaube fo viel als dem Tertullion die Wiffenfchaft; er war 
jo wenig ein theologifcher Geift als Tertullian ein phyſikaliſcher. 
Wie verhielt fi) alfo Bacon jelbft zur Religion bei dieſer 
Doppelſeitigkeit feines Standpunktes? 

In der Auflöſung dieſer ſchwierigen und vielumſtrittenen 
Frage nehmen wir Bacon's philoſophiſche Denkweiſe zur Richt⸗ 
ſchnur und wollen zuſehen, ob ſie mit ſeiner perſönlichen Ge⸗ 
ſinnung ganz übereinſtimmt? Es giebt drei Fälle, welche die 
möglichen Verhältniſſe der Philoſophie zur Religion auseinan⸗ 
derſetzen. Die Philoſophie ſoll die Religion erklären, indem 
fie dieſelbe durchdringt, das iſt ihre erſte und natürliche Auf- 
gabe; wenn ſie dieſelbe zu löſen nicht vermag, ſo bleibt ihr 
nichts übrig, als von der Religion einfach zu behaupten, daß 
ſie unbegreiflich ſei, und hier find zwei Wege möglich: ent- 


408 

weder muß die Philofophie das unbegreifliche Object ganz ver⸗ 
einen oder anerkennen, entweber volllommen umftoßen ober 
vollfommen unangetaftet laſſen. Das thut die mwifjenjchaftliche 
Erklärung nie, fie ift jedesmal zugleich Rechtfertigung und 
Kritik. | | 

Die baconifche Philofophie ift unfähig, die Religion zu 
erklären; fie konnte weder die fchaffende Phautaſie der Kunſt, 
noch das Wefen des menſchlichen Geiftes begreifen; ihr fehlen 
alfe Organe, um der Religion beizulommen, dieſem Zuſam⸗ 
menhange zwifchen dem göttlichen und menfchlichen Geifte. 
Religion ift in. allen Fällen ein Verhältniß, deſſen Seiten 
Gott und Menſchengeiſt find. Wie kann ein Verhältuiß be- 
griffen werden, deffen Seiten man nicht begreift? Wie kaun 
eine Philoſophie, die nur mit den Mitteln der experinentellen 
Erfahrung erkennen will, den Geift ergründen, fei es in der 
göttlichen oder menſchlichen Natur? Die baconifche Philoſo⸗ 
phie begreift ſelbſt an dieſem Punkte ihre Schranke, fie ift 
ſich deutlich bewußt, daß innerhalb ihrer Verfaſſung Geiſt, 
Gott, Religion unergründliche Objecte ſind; dieſe deutliche und 
ausgeſprochene Einſicht beweiſt, daß ſich die bloße Erfahrungs⸗ 
philoſophie in ihrem Urheber ſelbſt richtig erkanute und ihre 
Grenzen einzuhalten wußte. Sie hatte zu wählen zwiſchen 
der Verneinung und Anerkennung der Religion; welche Seite 
fie aud ergreift, fie muß die ergriffene ohne alle Bedingungen 
annehmen; fie muß die Religion, jo wie fie ift, en bloc ent- 
weder verwerfen oder bejtehen laſſen. In diefer nothwendigen 
Alternative befindet ſich die baconifche Philofophie aus unver- 
meiblihen Gründen. Sie entfcheidet ſich ihrem wiffenfchaft- 
lichen Charakter gemäß für die unbedingte Anerfennung. Aber 
es ift ſchwer, wenn nicht überhaupt unmöglich, in einer jolchen 








409 


Entiheibung jedes Schwanken zu vermeiden und in einem fol- 
hen Entweder — Oder auf einer Seite allein unbeweglich ftill 
zu ftehen, namentlich für eine fo bewegliche Philoſophie als 
die baconische. Einmal in jenes Dilemma zwiſchen unbebingte 
Bejahung und unbedingte Verneinung der Religion geftellt, 
geräth fie unwillkürlich in eine gewiſſe pendularifche Bewegung, 
die von dem pofitiven Haltpunft der Anerkennung, welden 
Bacon ergreift, nicht felten der verneinenden Richtung zuftrebt. 
Die Widerfprühe, welde man in Bacon’s Stellung zur Reli⸗ 
gion wahrnimmt, find nichts Anderes als Bewegungen inner- 
halb jenes Dilemmas, als unwillkürliche Schwankungen in 
einer an fi amphibofifchen Lage. Prüfen wir genau Bacon’s 
"Stellung zur Religion, fo erkennen wir wohl den Widerſpruch, 
worin fie befangen war: die baconifhe Philofophie anerkannte 
und bejahte das pofitive Glaubensſyſtem, während fie felbft 
in einer abweichenden und anßerreligiöfen Richtung ihren eige- 
nen Weg ging; fie hielt den Verneinungstrieb zurüd, aber fie 
fonnte ihn nicht ganz unterdrüden. Man muß alfo fragen: 
warum äußerte bie baconifche Philojophie ihren Widerftand 
gegen die Religion nicht ohne allen Rückhalt, wie die meiften 
ihrer Nachfolger wirklich gethan haben? Warum ergriff fie 
die Seite der Anerkennung, die fie ohne inneres Widerftreben, 
ohne offene Widerfprüce kaum feithalten konnte? Sie wäre 
in der negativen Stellung feiter und mehr fie felbft gewefen: 
warum wählte fie die pofitive? Die erfte und gemwöhnfiche 
Antwort ift, daß Bacon ans perfönlichen Rückſichten dem Ans 
fehen der Religion nachgab, daß er unter einer fcheinbaren 
Anerkennung den antireligiöfen Charakter feiner Philofophie 
verbarg, daß mit einem Worte feine Stellung gegenüber der 
Neligion Hnpokritifch war. Die erfte Antwort -ift nicht immer 


410 


die befte, fie ift in diefem Ball die ſchlimmſte, dic man geben 
faım, und zugleich die unverftändigfte. Es wäre doch in die⸗ 
fem Falle der Mühe werth, erſt die wiffenfchaftlihe Erklärung 
der Sache zu verfuchen, bevor man nngefchent die moralifche 
Berurtheilung der Perfon ausipridt. Und Eines liegt auf der 
Hand: wenn Bacon die Anerkennung der Religion heuchelte, 
fo war er einer ber ungeſchickteſten und einfältigften Heuchler; 
denn was fein Dedmantel verhülfen follte, die abweichende 
Denkweiſe feiner Philofophie, trat an fo vielen Stellen offen 
hervor. Die Heuchelei beweiſt einen unehrlichen Mann, die 
ungefchiette Heuchelei einen Thoren. Wenn man mit Bacon’s 
Charakter die eine Vorftellung vereinigen kann, wie will man 
mit feinem Geifte die andere vereinigen? 


2. Die theoretiſchen Gefihtäpnntte. 


Er hätte die Religion verneinen follen, weil er fie nit 
erflären fonnte? So hätte er aus denfelben Gründen ben 
menschlichen Geift und die Eriftenz Gottes verneinen mäffen, 
deun er ſelbſt befannte, daß feine Philofophie unvermögend 
jet, fie zu erklären; jo hätte er ans denjelben Gründen bie 
Metaphyſik und die natürliche Theologie verneinen müſſen, 
denn fie paffen beide nicht im den ftreng phyſikaliſchen Geift 
feiner Philofophie. Wenn Bacon innerhalb der phyſikaliſchen 
Erflärung der Dinge nichts von zwedthätigen Kräften, nichts 
von Geiſt und Gott wiffen wollte, mußte er fie deshalb ver- 
neinen? Wenn er diefe phyfifalifch nicht zu erflärenden Mächte 
dennoch bejahte, war feine Bejahung Heuchelei? Wenn fie 
e8 nicht war, warum follte e8 feine Anerkennung der Reli- 
gion fein? 





411 


Und in der That fand Bacon in ſeiner natürlichen, wenn 
auch nicht phyſikaliſchen, Welterklärung Gründe genug, um 
das Dafein Gottes anzuerkennen. Er entdeckte hier Endurſachen, 
die er nicht phyſikaliſch beweiſen und brauchen, aber ebenfo 
wenig aus empirischen Gründen leugnen konnte. Die Phyfit 
erflärt die Dinge als Effecte blind wirkender Kräfte, fie kennt 
nur die Geſetze mechanifcher Eaufalität, aber leugnen kam fie 
nicht, daß fich in diefen Wirkungen zugleich eine zwedmäßige 
Anordnung kundgiebt. Sie überläßt der Metaphyſik, für die 
zweckmäßigen Wirkungen die zwecithätigen Kräfte aufzufuchen; 
fie überläßt der natürlichen Theologie, diefe zweckthätigen 
Kräfte auf eine intelligente Urkraft als die weltichaffende zurüd- 
zuführen. Bacon bat fich wiederholt darüber erklärt, daß in 
feinen Augen eine völlig mechaniſche und atomiftifche Natur- 
philofophie, wie die Syfteıne des Leucipp, Demokrit und Epi- 
fur, eine natürliche Theologie nicht blos zulaffe, fondern ver- 
lange und mehr als jede andere Philojophie befeftige. ‘Der 
Atomismus leugnet die Zwedurfachen in der Naturerklärung, 
er leugnet nicht die Zwecke in der Natur, er muß in der Na- 
tur jelbft Ordnungen anerkennen, die ſich unmöglich aus den 
zufälligen Bewegungen zahllojer Atome herleiten laſſen. Um 
fo viel mehr ift er genöthigt, einen intelligenten Welturheber 
anzuerlennen, der jene Ordnungen bildet. Diefe Annahme 
erfcheint dem Verſtande Bacon's fo nothiwendig, daß er Lieber 
allen mögliden Aberglauben bejahen, als fie verneinen will. 
„Gerade jene philofophifhe Schule des Leucipp, Demokrit 
und Epifur, die vor andern des Atheisınus befchuldigt wird, 
giebt näher betrachtet den klarſten Beweis für die Religion, 
Denn es ift immer noch wahrfcheinlicher, daß die vier ver- 
änderlichen Elemente und ein fünftes unveränderliches Wefen, 


412 


die don Ewigkeit her genau zufammenhängen, feines Gottes 
bedürfen, als daß die zahllofen Atome und Keime, die ohne 
Ordnung umberirren, diefe Ordnung und Schönheit des Welt: 
alle ohne einen göttlichen Baumeiſter haben hervorbringen 
können.“ *) 

So führt die natürliche Welterflärung ſelbſt (durch bie 
Metaphyfit zur natürlichen Theologie und damit) zur Ent- 
dedung einer göttlichen Macht, die nicht gedacht werden kann 
ohne Verſtand und Wille. Im der Natur offenbart fich die 
göttliche Macht, in den Statuten der Religion der göttliche 
Wille. Und zwar handelt diefer Wille allmächtig, d. h. aus 
bloßer grundlofer Willfür. Ueberſteigt nun die natürliche 
Offenbarung der göttlichen Macht die erflärende Menfchenver- 
numft, um wie viel unbegreiflicher find die Anordnungen und 
Statute der göttlichen Wilffür, um wie viel unerflärlicher alfo 
die Religion! Iſt fie darum weniger anerlennenswerth ? 
Wenn die Naturphilofophie die göttlihe Macht anzuerkennen 
ſich genöthigt fieht, wird fie wagen, ben göttlichen Willen in 
der Religion zu verneinen? So wenig in Gott ein Wider: 
ſpruch ftattfinden Tann zwiſchen Macht und Wille, jo unmög⸗ 
lich erfcheint in Bacon's Augen ein Misverhältnig zwifchen 
Religion und BHilofophie.**) Wenigftens die Naturphilofo- 
phie jet den Menfchen nicht in Widerfprud mit den gött- 
lichen Dffenbarungen. „Es war nicht die Naturwiffenfchaft, 
fondern die Moral, das Wiffen von Guten und Böfen, wo» 
durch die Menfchen aus dem PBaradiefe vertrieben wurden.“*) 


*) Serm. fid., XVI. De atheismo. Op. p. 1165. 
**) Nov. Org. I, 89. Op. p. 307. 
***) Praef. Nov. Org. Op. p. 275. 











413 


Ih will damit nur bewiejen haben, daß Bacon's theo- 
retifche Geſichtspunkte ihn nicht Hinderten, die Religion anzus 
erkennen; ich werde weiter zeigen, daß feine praktiſchen Ge- 
fihtspunfte ihn Hinderten, die Religion zu verneinen oder auch 
nur zu befämpfen. So wird von beiden Seiten feine Stelfung 
zur Religion genau in die Lage gerüdt, worin wir fie finden. 


3. Die praftiihen Gefihtäpuntte. 


Dan jete den Ball, welcher nicht der thatfächliche ift, 
dag fih Bacon der Religion feindlich gegenübergeftellt und die 
natürlihe Wahrheit zum Kriterium der religiöfen gemacht 
hätte: was wäre die Folge geweien? Offenbar ein Kampf 
mit der Religion, ein Kampf um Dogmen, d. 5. in Bacon’s 
Augen ein Kampf um Worte: eine jener unnügen Disputationen, 
die feit Sahrhunderten den menſchlichen Geift verödet und der 
gefunden Weltbetrachtung entfremdet haben. Statt die Wilfen- 
haften zu vermehren, hätte Bacon die Religionsftreitigfeiten 
vermehrt und das wiffenfchaftliche Elend felbft mit einem neuen 
Beitrage bereichert. Wer diefen Geift kennen gelernt hat, der 
weiß, wie fehr gerade er allen Disputationen der Art abge- 
neigt war, wie feine ganze Natur in jeder Weife inftinctiv 
dem Wortgezänt wibderftrebte. Diefer eine Grund reicht hin, 
Bacon's Stellung zur Religion zu erflären und zu vechtferti- 
gen. Er wollte um feinen Preis ein Religionszänker fein, 
darum mußte er um jeden Preis der Religion gegenüber eine 
friedfertige Haltung annehmen; er hatte zu wählen zwifchen 
dem Glauben sans phrase und den Phrafen der Glaubens- 
ftreitigleiten.. Daß er jenen vorzog, ift deshalb feine Heuchelei, 
weil er in allem Ernft und aus allen Gründen diefe vermei- 
ben wollte. Wir urtheilen aus dem Geifte Bacon’s: in dieſem 


414 


folgte die Notwendigkeit feiner friedfertigen Neligionsftellung 
aus der Unmöglichkeit ihres Gegentheils. Das fcheinen ſich 
diejenigen gar nicht überlegt zu haben, die mit dem Vorwurfe 
der Heuchelei gleich bei der Hand find. Bacon wollte bie 
Grenzftreitigfeiten zwifchen Glaube und Wiſſenſchaft vermeiden, 
nicht blos weil fie ihm mislich und unbequem waren, fondern 
vor Allem deshalb, weil er von foldhen Streitigkeiten gar 
feinen Nugen, gar feinen praftifhen Erfolg abſah. Seine 
ganze Denkweiſe ging darauf aus, der Wiffenfchaft allen un⸗ 
nügen Streit zu erfparen, um die Zeit, die damit verloren 
wurde, fruditbarern und befjern Unterfuchungen zu gewinnen. 
Diefen Zwed zu erreichen, nahm Bacon feinen Anftand, etwas 
von dem formellen Anfehen der Philojophie zu opfern; defto 
ungeftörter konnte fie ihre wirkliche Herrſchaft befeftigen und 
ausbreiten. Schon diefe eine Rüdficht genügt, um Bacon’s 
Verfahren gegen den Vorwurf der Verftellung oder Heuchelei 
zu ſchützen. Er war einmal der ſyſtematiſche Denker nicht, 
mit dem man rechten darf, wenn er feinen Grundfäben etwas 
vergiebt; außerdem waren Bacon's theoretiſche Grundfäge, 
wenigftens in feinem eigenen Verſtande, gegen die Religion 
nicht ausſchließend; zugleih Hatte er ben ausgefprochenen 
Grundfag, in allen Fällen praktiſch zu fein, unter allen Um- 
ftänden den Nutzen der Wilfenfchaft im Auge zu haben, und 
im Intereffe der Wiſſenſchaft jchien es ihm zweckdienlicher, 
mit der Religion Frieden zu halten, als Krieg zu führen. 
Das war eine Klugheit, die ihm Teine Heuchelei Koftete, die 
Schonung nad der einen Seite war in der That eine Sicher> 
heit nad) der andern, und biefe Sicherheit war nöthig. Je 
weniger die Philofophie, die Bacon reformiren und vor Allem 
brauchbar machen wollte, in das Gebiet der Theologie eingriff, 











415 


je behutfamer fie fi) abgrenzte, um jo weniger hatte fie von 
dort eine feindliche Intervention zu fürchten, um fo mehr Zeit 
gewann fte für ihre eigene ungeftörte Fortbildung. In diefer 
Rückſicht behandelte Bacon das Verhältniß der Wiſſenſchaft 
zur Theologie al8 eine auswärtige Angelegenheit mit praktischer 
Umſicht, mit politifhem Tacte, mit mehr Klugheit als Kühn- 
heit; die unfchuldige und untergeordnete Haltung, welche er 
der Religion gegenüber annahm, war fein Dedimantel feines 
Unglaubens, fondern ein Schugmittel für feine Philoſophie. 
Und gefeßt nun den unmöglihen Ball, daß Bacon bie 
Religion verneint, befämpft, eine neue Religionsftreitigfeit be⸗ 
gonnen hätte: was wäre der praftifche Erfolg gewefen, wenn 
fie überhaupt einen gehabt hätte? Die Stiftung einer neuen 
Religionspartei, einer Secte, welche die Kirchenfpaltung ver- 
mehrt Hätte! Und Bacon hätte der Mann fein follen, der 
auf einen folchen praftifchen Erfolg Hinarbeitete? Ein abge- 
fagter Feind des Sectengeiftes, wie Bacon war, hätte er den 
Sectengeift befördern follen? Nicht einmal in der Philofophie 
wollte Bacon eine Schule ftiften, und in der Religion hätte 
er eine Secte geftiftet? Mean Tann ihm doch wahrlidy feinen 
Borwurf daraus machen, daß er mit widerwärtigen Mitteln 
einen widerwärtigen Zwed nicht verfolgte. Die widerwärtigen 
Mittel waren die dogmatiihen Wortftreitigfeiten, der wider: 
wärtige Zwed die Religionsfecte.e Um der Wiffenfchaft willen 
(ag ihm ber Friede am Herzen. Er fand gerade deshalb feine 
Epoche günftig für die Wiffenfchaft, weil nad) langen Spal- 
tungen und Kriegen der Augenblick des Friedens wiedergefom- 
men war und damit die Werke des Friedens, wozu Kunft und 
Wiffenfchaft vor Allem gehören, eine nene Aera und eine neue 
Blüte hoffen Fonnten. Um des Friedens willen entjchied ſich 


416 


Bacon unbedingt für die Einigkeit in Religion und Kirche 
unb wurde deren Wortführer in feinen Eſſahs. „Da bie 
Religion ein jo vorzügliches Band der menschlichen Gefellichaft 
ift, fo muß fie durch die geziemenden Bande wahrer Einig- 
feit und Xiebe vereinigt‘ bleiben. NReligionsitreitigleiten find 
Uebel, von denen die Heiden nichts mußten.” „Ein Vortheil 
der kirchlichen Einigkeit ift der Friede, der eine zahllofe Reihe 
von Wohlthaten in fich begreift.”*) Um den Frieden zu er: 
halten, bejahte Bacon die kirchliche Einigkeit, gegründet auf 
die Statute der Religion, und er mwenigftens Tonnte nie ver- 
ſuchen, diefe Einigkeit durdy einen Angriff zu gefährden. Für 
ihn galt der Ausfprudy, der vollkommen feine Stellung bezeid)- 
net: „Wer nicht wider uns ift, der ift mit uns!“**) 

Und gefegt nun, Bacon hätte mit den widerwärtigen 
Mitteln religiöfer Controverfen den widerwärtigen Zweck aus- 
geführt und eine neue Religionsfecte geftiftet, was wäre die 
Folge geweien? Ein neuer eifriger Sectengeift, d. 5. ein neuer 
Tanatismus, der natürlich diefem Denker auf das äußerſte 
widerftreben mußte. Fanatismus ift blinder Neligionseifer, 
und diefer erſchier in Bacon's Augen als die giftige Aus- 
artung der Religion, als ein Ausfag, dem er offen und mit 
Kühnheit den Grundfag der Toleranz entgegentelite. 


4, Die politifchen Gefidhtäpnntte. 


Wenn Bacon im Intereſſe des Friedens allen Religions- 
ftreitigleiten aus dem Wege ging und von fih aus feinen 
Schritt unternahm, um die firhlihe Einigkeit zu ftören, fo 


*) Serm. fidel., III. De unitate ecclesiae. Op. p. 1142. 
+) hend. Op. p. 1148. 








417 


mußte er natürlich auch von Seiten der Religion und Kirche 
diefelbe Friedensgefinnung verlangen. ‘Denn was hilft e8, bie 
Kirche friedlich anerkennen, wenn fie felbft den Krieg will? 
Hier fest Bacon dem Anfehen der Religion und der Firchlichen 
Macht die beftimmte, nicht zu Überfchreitende Grenze, er will 
in der Kirche felbft den Geift der Friedensſtörung unterbrückt 
und gehemmt wiffen. Innerhalb ber Kirche entfpringt bie 
Friedensftörung aus dem blinden Neligionseifer, denn dieſer 
ift immer geneigt zu gewaltfamen Ausbrüchen; feine praftifche 
Form ift ber Fanatismus der Propaganda, feine theoretifche 
Form ift der Aberglaube; in beiden Formen fett Bacon dem 
blinden Religionseifer Gewalten entgegen, die ihn hemmen 
und zurüctreiben. Die praltiihe Gewalt gegenüber der fana- 
tiihen Propaganda, die wir füglich die Tirchliche Eroberungs- 
luſt oder Herrſchſucht nennen, befteht in der weltlihen Macht, 
im Staat und in der Politik; die theoretifche gegenüber dem 
Aberglauben beiteht in der Wiffenfchaft und befonders in ber 
Naturphilofophie. Der Aberglaube ift der innere Grund des 
religiöfen Fanatismus, welcher jelbft den Grund der Religions- 
friege bildet; diefe foll der Staat, jenen die Wiffenfchaft ver- 
hindern. Es ijt nah Bacon eine faljhe Neligionseinigfeit, 
die fi) auf Aberglauben gründet, denn der Aberglaube ift 
Unwiſſenheit, geiftiges ‘Dunfel, und „im Dunkeln find alle 
Farben gleich“. Und ebenfo faljch ift die Kirchliche Einigkeit, 
die fi mit gewaltfamen Mitteln auszubreiten ſucht und in 
den Religionsfriegen jene furchtbaren Gräuel entfefjelt, die 
von jeher die Gemüther mit Recht der Kirche entfremdet haben. 
Um fie zu verhindern, ftellt Bacon die Kirche unter die welt⸗ 
fihe Obrigkeit, fie darf niemals den bürgerlichen Frieden 
ftören und die Staatsgewalt, welche die menſchlich höchſte ift, 
Fiſcher, Bacon. | 97 


418 


angreifen; fie darf nie das Schwert Mohammeb’s führen. 
‚Mit einem Worte: Bacon entwaffnet die Kirche im Namen 
des Staats. Wenn die Religion den Staat befümpft, „io 
heißt das nichts Anderes, als eine Tafel des Geſetzes an der 
andern zertrümmern und bie Menfchen fo ausſchließlich als 
Chriften betrachten, daß man darüber zu vergeſſen jcheint, es 
ſeien Menſchen. Der Dichter Lucrez, da er fi das Opfer 
der Iphigenia vergegenwärtigte, vief aus: «Solhe Abſcheu⸗ 
fichleiten Tonnte fie eingeben, die Neligion!» Und was 
würde er erft gefagt haben, wenn ihm die parifer Bluthochzeit 
und die Pulververfhwörung in England befannt gewejen wäre? 
Gewiß, er würde ein fiebenfach größerer Epikuräer und Atheift 
geworben fein, al8 er wirflih war.“*) 

Der fanatifhen Ausbreitung der Religion fett der Staat 
in feiner Gewalt einen feiten Damm entgegen. “Diefe ftrenge 
Zucht und Aufſicht des Staats ift vor Allen deshalb nöthig, 
damit die Religion nicht die Brandfadel der politifchen Revo⸗ 
Iution entzünde, Auf diefe Gefahr, die feinem Zeitalter nahe 
lag, macht Bacon befonders aufmerkſam. Es ift Teicht zu 
fürdten, daß die Religion durch ihre Verwandtſchaft mit dem 
Fanatismus, der Fanatismus durch feine Verwandtichaft oder, 
befjer gejagt, durch feine Webereinftimmung mit der Roheit 
den Pöbel entfeffelt und alle felbftfüchtigen Intereffen, die ſich 
damit verbinden, unter den Waffen der Religion gegen den 
Staat ins Feld führt. So entjtehen die religiöfen Bürger⸗ 
friege, das furchtbarfte aller politifchen Uebel. Sft- innerhalb 
der Kirche eine Reform nöthig, fo foll fie nicht durch das 
Bolf von unten herauf, fondern durch den Staat gemacht wer- 


*) Ebend. Op. p. 1144. 








419 


den. So ridtet ſich Bacon's Stellung zur Religion vollkom⸗ 
men nad dem Vorbilde der engliſchen Reformation, wie es 
das Zeitalter Elifabeth’8 ausgeprägt Hatte. „Es fieht einem 
Ungeheuer glei, wenn man das weltliche Schwert im Intereffe 
der Religion dem Bolt in die Hände giebt. Die Wiedertäufer 
und dergleichen rafende Fanatiker mögen fi) das merken. Die 
Gottesläfterung des Teufels; «Ich will hinauffteigen und dem - 
Höchften gleich werden», ift groß; aber noch größer wäre jene, 
wenn Gott jemand fagen Tieße: «Ich will hinabfteigen und dem 
Fürften der Finfternig gleich werden.» Und was ift es anders, 
wenn die Sache der Religion fo tief herabfteigt, daß fie fich 
zu Grauſamkeiten und verruchten Verbrechen hinreißen läßt: 
Regenten zu morden, Völker auszurotten, Reiche zu zerftören? 
Das heißt doch wohl den heiligen Geift nidht in der Geftalt 
einer Taube, fondern eines Geierd oder eines Raben herab- 
fteigen laſſen und auf das Schiff der Kirche das Banier der 
Räuber und Mörder auffteden. Es ift daher recht und dem 
Bebürfniß der Zeit noch befonders angemeffen, daß die Kirche 
durch Lehren und Beichlüffe, die Fürften durch ihre Gewalt 
und im Bunde damit alfe religidfen und moralifchen Schrif- 
ten als friedensverfündigende Herolde den veligidfen Fanatis- 
mus und alle Lehren, die ihn begünftigen, in den Abgrund ver- 
dammen und auf ewige Zeiten vertilgen.” 

Damit ift Bacon’s Stellung zur Religion von ihm feldft 
auf das deutlichite bezeichnet. Er führt den Stab des Herolds, 
der den Waffenftilfftand verfündigt, er will den Frieden: darum 
erflärt er von fich aus die unbedingte Anerkennung der geof- 
fenbarten (und vom Staate angenommenen) Religion; darum 
verlangt er von Seiten der Kirche diefelbe Friedensftellung, 
fie fol aufhören, eine weltliche Herrſchaft zu führen, und diefe 

27* 





420 


dem Staat allein überlaffen, fie ſoll ſich aller Zwangsmittel 
begeben, wodurch fie die Gewiſſen unterdrüdt und den Frieden 
ftört. Jeder Gewiffenszwang, den die Kirche verjucht, verräth 
unzweidentig ihre Abſicht auf weltlihe Herrſchaft. „Um die 
volle Wahrheit zu jagen”, fo fchließt Bacon feinen Verſuch 
über bie Einheit der Kirche, „erflären wir mit dem gelehr- 
ten und weifen Kirchenvater: diejenigen, welche zum Gewiſſens⸗ 
zwang rathen, foll man anfehen al® Leute, die unter diefer 
Lehre nur ihre eigenen Leidenfchaften verbergen und- ihr eigenes 
Intereffe damit zu befördern fuchen.“*) 


1. 

Aberglaube und Frömmigkeit. | 

Was demnach Bacon unbedingt anerkennt, ift die frieden- 
ftiftenbe und friedfertige Religion, die allein von Gott kommt; 
was er unbedingt verwirft, ift bie friedenftörende und verfin- 
jterte Religion, die fih auf den menſchlichen Aberglauben 
gründet. Die geofjenbarte Religion widerfpricht der menjd- 
lichen Vernunft, aber nie dem menſchlichen Wohle Diejer 
Geſichtspunkt des praktifchen Nutzens war in Bacon fo feft 
gewurzelt, daß er ihn ſogar zum Maßſtabe des göttlichen Wil- 
lens machte. So rüdfihtsvoll und unterwürfig er fich gegen 
die geoffenbarte pofitive Neligion zeigt, fo rüdfichtslos und 
tritifch verführt er mit dem Aberglauben, gegen deſſen gemein- 
ſchädliche Folgen er die weltlihe Staatsmacht als Polizei und 
theoretiich die Wiffenichaft als Heilmittel aufbietet. Daher 
fagt er von der Naturphilofophte: „‚fie fei die ficherfte Medicin 
des Aberglaubens und die treuefte Dienerin der Religion“. **) 


*“&bend. Op. p. 1145. 
**) Nov. Org. I, 89. 





421 


Der Aberglaube iſt in Bacon's Augen die Überfpannte, 
entartete, im Grunde felbftfüchtige Religion, die ihm weit 
ſchlimmer erjcheint als die ausgeariste Philoſophie. Die Aus 
artung der Philofophie ift der Unglaube oder Atheismus. 
Bacon widerlegt ihn durch die natürliche Theologie, diefe fteht 
dem Unglauben gegenüber, wie die geoffenbarte Theologie dem 
Aberglauben. Wäre nun Teine andere Wahl möglich als zwi» 
fchen Atheismus und Aberglauben, fo wilrbe ſich Bacon un⸗ 
bedingt für ben Atheismus erklären, weil er diefen für weniger 
gefährlich hält als jenen. Sowohl theoretifch als praftifch ger 
nommen, erjcheint ihm der Aberglaube verberblicher, denn theo⸗ 
- retifch ift er eine unwürdige Vorftellung Gottes, von bem er 
fih ein Gbtzenbild macht, und praftifch tft er gemeinſchädlich, 
weil er die Unfittlichleit und den Fanatismus begänftigt, alfo 
in der menſchlichen Gefellichaft ein friedenftörendes Gift ver- 
breitet. Der Atheismus hat Feine Vorftellung von Gott, bas 
ift beffer als eine ungereimte und dem Wefen Gottes wider 
‚fprechende Vorſtellung; es ift beffer, meint Bacon, das Dafein 
Gottes bahingeftellt fein Laffen oder verneinen, als bafjelbe 
duch die unmürbdigften Vorftellungen entehren; dies thnt der 
Aberglaube: „er ift in Wahrheit ein Pasquill auf das gött⸗ 
liche Weſen“. Plutarch babe ganz Recht, wenn er jagt: 
wollte in der That lieber, die Leute glaubten, daB es nie einen 
Plutarch gegeben habe, als daß fie glaubten, es habe einen 
Plutarch gegeben, ber feine nengeborenen Kinder immer ver- 
ichlungen habe, wie die Dichter von Saturn erzählen.“) Der 


9 Serm. fid.; XVII. De superstitione. Op. p. 1166. Hier if 
eine Brobe jener Widerfprliche, deren man fehr viele in Bacon’s Schrif- 
ten finden Tann, wenn man will. Vorher fagte Bacon: Tieber Aber- 
glauben als Aiheiemus! Jetzt fagt er: lieber Atheismus als Aberglau- 





422 


Aberglaube tyrannifirt die Menfchen, entzweit fie und verdirbt 
alle gefunden Geiftesfräfte. Das thut der Atheisnus ebenfo 
wenig: „er läßt die gejunde Vernunft, die fittlichen Gefeke, 
das Streben nad gutem Auf beitehen, er untergräbt den bür- 
gerlichen Frieden nicht, fondern macht die Menſchen vorfichtig 
und auf ihr Intereſſe und ihre Sicherheit bedacht. So Tann 
er auch ohne Religion eine gewiſſe Sittlichleit hervorbringen, 
und es gab freigeiftige Zeitalter, welche glüdlih und ruhig 
waren, wie das römifche unter Augustus”. ‘Dagegen der Aber- 
glaube führt zu politifchen Verirrungen. „Hier fpielt das 
Bolt den Meifter, die Weifen müffen den Thoren gehorchen, 
die allgemeine Drdnung der Dinge wird umgelehrt, da alle 
praftifchen Vernunftgründe aufgehört haben zu gelten.”*) Und 
fieht man anf die Gründe des Aberglaubens,- fo find es „an⸗ 
genehme und den Sinnen ſchmeichelnde Ceremonien und Kirchen- 
gebräudhe, pharifäifche Heiligkeit, überfpannter Traditionsglaube, 
hierarchiſche Kunftgriffe, welche die Geiftlichen zur Befriedigung 
ihres eigenen Ehr⸗ und Geldgeizes fpielen faffen, zu große Be⸗ 
gänftigung jener fogenannten guten und frommen Abfichten, 
welde den Neuerungen und den felbftgemachten Gulten bie 
Thüre öffnen, anthropomorphiiche Vorftellungen aller Art und 


ben! Mit dem erflen Ausſpruch beginnt er ‚feinen Berfud) gegen den 
Atheismus, mit dem andern feinen Berfucd gegen den Aberglauben. 
Welchen von beiden 309 Bacon in ber That dem andern vor? Man 
erwäge die Gründe, welche er beiden entgegenfett: er hat offenbar mehr 
Gründe und flärkere gegen ben Aberglauben als gegen den Atheismus. 
Damit ift der Wiberfprud), der in feinen Worten erifirt, in feinem 
Geiſte gelöft, er eriftirt nur nod für den oberflächlichen Leer. Ich 
möchte den Schriftfieller klennen, ber für einen ſolchen Lefer Leine Wider- 
ſpruche hat, 
*) Serm. fid. XVII. De superstitione. Op. p. 1167. 


423 


endlich barbarifhe Zeiten” Mean Laffe fi nicht täuſchen 
durch die Achnlichkeit des Aberglaubens mit der Religion; ge- 
rabe dieſe Achnlichfeit macht ihn um fo viel häßlicher, „er 
verhält fih zur Religion, wie der Affe zum Menſchen“. 
„Ebenſo wenig“, ſetzt Bacon befonnen Binzu, „foll man fi) 
durch Furcht vor dem Aberglauben zu voreiligen Reformen 
binreißen lafjen. Bei Reformen in der Religion. muß man, 
wie bei der Reinigung des Körpers, mit Vorſicht zu Werke 
gehen und nicht die gefunden Theile zugleich mit den verdor- 
benen wegfchaffen; dies nämlich. ift gewöhnlich der Fall, wenn 
Reformationen vom Haufen geleitet werden.‘ *) 

Der Aberglaube, tyrannifch und felbftfüchtig, wie er ift, 
haft feine Gegner und bezeichnet jeden, der ihm wiberfpricht, 
‚ mit dem Namen eines Atheilten. Man muß darum fehr vor- 
fihtig mit diefem Namen umgehen. Atheismus ift Gottlofig- 
feit; der wahre Atheismus ift die praftifche Gottloſigkeit, welche 
unter dem Schein der Religion die felbftfüchtigen Intereſſen 
begünftigt und dem Eigennutze dient, die theoretiiche Gott⸗ 
lofigkeit, der fpeculative Atheismus, ift überhaupt ſehr felten. 
„Die wahren Atheiften, deren Anzahl groß ift, find die Heuch⸗ 
ler, die das Heilige beftändig im Munde führen und bie Ge- 
bräude mitmachen, ohne daß Herz und Sinn etwas davon 
weiß, ſodaß fie zulett mit dem Brandmal auf der Stirn ba- 
ftehen.“ **) 

Bacon's religiöfer Charakter fteht im Einklange mit feiner 
Philoſophie. Wir können aud über diefen verborgenjten Punkt 
(denn die eigene religiöſe Gefinnung tft eine Angelegenheit,des 


*) Ebend. Op. p- 1169. 
*%) Serm. fid. XVI. De atheismo. Op. p. 1166 fig. 


424 


Herzens) ein beftimmtes Urtheil füllen. Er war dem Aber- 
glauben, als ber verunftalteten Religion des menschlichen Wahns, 
gründlich abgeneigt und befämpfte ihn von fi) aus durch bie 
wiftenfchaftliche, namentlich naturphiloſophiſche Aufllärung; er 
fette dem Atheismus wiſſenſchaftliche Gründe entgegen, ohne 
Erbitterung. Die geoffenbarte Religion nnd bie darauf ge⸗ 
gründete Kirche erfannte Bacon an aus Gründen, welche feine 
theoretifchen Gefichtspunkte nicht hinderten, welche feine praf- 
tiſchen und politiſchen Gefichtöpunfte verlangten. Er wollte 
die geoffenbarte Religion wie die Naturwiſſenſchaft gereinigt 
wiffen von allen menfchlichen Idolen, in diefem Bunte dachte 
Bacon antikatholiſch als ein echter Nachkomme bes reforma- 
torifchen Zeitalters; er wollte fie angenommen wiflen ohne 
logiſche Beweisform, In diefem Punkte dachte er antiſcholaſtiſch 
als der Begründer einer neuen Philoſophie. Dieſe Bhilofo- 
phie hatte Feine Gründe, die den Säten der geoffenbarten 
Religion zu Beweiſen dienen konnten, und Bacon war der 
Kopf, um diefes Nichtlönnen feiner Bhilofophie zu begreifen. 
Was fie der Neligion allein bieten konnte, war bie unbebingte 
formelle Anerkennung. Ich gebe zu, daß Bacon's perfönliche 
Stellung am Hofe Jakob's J., feine Rückſichten für den König, 
für die Zeitverhältniffe überhaupt und mancherlei Nebenmotive 
den Ausdrud diefer Anerkennung fehr begünitigt und oft ver- 
ftärkt haben. Einer formellen Anerkennung wird es leicht, in 
allen Zonarten zu reden. Und Bacon rebete bisweilen auch 
die Sprache der Frömmigkeit. Was er in der Religion be 
fümpfte, war bie menfchliche Autorität; was er unbedingt an- 
erkennen wollte, war die göttliche. Freilich läßt ſich dagegen 
fragen, in welchen Punkt Bacon das entfcheidende Kennzeichen 
der göttlichen Autorität feßte? Wenn fih Bacon dieſe Frage 











425 


anfwarf, fo mußte er ſie mit der Bibel beantworten und 
darüber mit feinen phyfilalifden Begriffen in mande Wider: 
fprüche gerathen. Aber die Frage der biblifhen Autorität 
nicht eruftlich zu unterfuchen, gehört zum religiöfen Charakter 
feines Zeitalters. Die formelle Anerlennung, welche Bacon 
der geoffenbarten Religion widmete, fchließt die innere Auer⸗ 
tennung nicht aus; ich fage nicht, daß fie biejelbe beweiſt. 
Aber gewiß ift, daß ein Geiſt wie der feinige zu weit und 
umfafjend war für eine Aufflärung, bie alles fchlechtweg ver⸗ 
neint, was fie nit im Stande iſt zu erflären; er überließ 
eine ſolche Aufflärung den Spätern, die enger und barım 
ſyſtematiſcher denken konnten als er. Indeſſen war die innere 
Anertenmung, vwelde dieſer von wifjenfchaftlihen und prafti- 
ſchen Weltintereſſen erfüllte Kopf für die Religion übrig be- 
hielt, weder eine eifrige noch tiefe Gemüthsbewegung. Sie 
war fühl wie alle feine Neigungen. Bacon’s Glaube beruhte 
auf einem unterbrüdten Zweifel und behielt an dieſem ein 
fortwährendes Gegengewicht. Sein eigentliches Intereffe Lebte 
in der Welt, in der Natur und Erfahrung; der religiöfe Glaube 
wer und wurde nie der Schag ſeines Herzens; dazu fehlte 
ihm das einfache und Tindlihe Gemüth, das eigentliche Glau⸗ 
bensgefüß. Er war wie überall fo auch in der Religion vom 
Zweifel ausgegangen; wenn die Schrift über bie chriftlichen 
Paradoren, die nach feinem Tode erfchien, ihm wirklich ange- 
hört, fo beweift fie feine religiöſe Stepfis.*) Er» kannte bie 
Antinomien zwifchen den religidfen Dffenbarungen und ber 
menfchlihen Vernunft, bevor er fie dur einen Machtſpruch 
befeitigte. ‘Durch negative Urtheile läßt ſich Bacon's religiöfe 


*) Christian paradoxes. 1645. 


426 

Gefiunung am ficherften beftimmen; fie war nicht Heuchelei, 
denn bie Anerkennung war ihm ernft, fie war auch nicht Fröm⸗ 
migfeit, denn bie Weltinterefien lagen ihm mehr am Herzen, 
und es fehlte ihın von Natur alles, was in der Religion die 
Natur, um nicht zu jagen das Genie, ausmadjt: die naive 
Slaubensempfänglichleit und das kindliche Glaubensbedürfniß. 
Denen wir uns feine religidfe Gefinnung dem Unglauben 
näher als dem Aberglauben und gleichweit entfernt von Fröm⸗ 
migfeit und Heuchelei, fo treffen wir fie an ihrem richtigen 
Orte, in einer fühlen Mitte, welche wenigftens fehr nahe an 
Gleichgültigkeit oder Glaubensindifferenz grenzte, wenn fie nicht 
wirklich im Imdifferenzpunfte ſtand. Gemüthli betrachtet, 
koſtete ihm die Anerkennung, welde er der Religion zolite, 
nichts, nicht einmal eine Verſtellung. Seine Glaubensanſich⸗ 
ten kamen nicht aus der Fülle des Herzens, ſondern waren 
eine wohlüberlegte und wohlbegründete Haltung; ſie waren 
nicht Maske, ſondern zeitgemäßes Coftüm, welches ihm natür⸗ 
lich ſtand, aber ſie berührten ihn nicht tiefer. 








Sechzehnles Kapilel. 
Baron und Joſeph de Maiſtre. 





Aeußerlich aufgefaßt und einſeitig beurtheilt zu werden iſt 
das ſehr begreifliche Schickſal aller Philoſophen. Einſeitige 
Urtheile, von einem ſcharfſinnigen Kopfe gebildet, ſind immer 
beachtenswerth, denn ſie ſehen von der Eigenthümlichkeit des 
Philoſophen ein Merkmal vor allen, und weil ſie dieſes be⸗ 
ſonders hervorheben, machen ſie es beſonders ſichtbar. Was 
nun Bacon's religiöſen Standpunkt betrifft, fo iſt es in ber 
That ein intereffantes und lehrreiches Schaufpiel, die darauf 
bezüglichen Urtheile zu hören. Indem fie einen Standpunkt 
einfeitig auffoffen, ber in feiner Natur boppelfeitig war, fo 
müſſen fie einander auf das härtefte widerſprechen. Alle mög- 
lichen, einander entgegengejetten Urtheile, die über Bacon's 
Verhältniß zur Neligton benkbarer Weite gefällt werden konn⸗ 
ten, find wirklich darüber gefällt worden. Sie zeigen, welche 
Gegenfäte Bacon felbft in fich vereinigte. Mit ihm verglichen, 
find fie einfeitig; unter fich verglichen, bilden dieſe Urtheile ein 
Exemplar von Antinomien. In Englands Öffentlicher Mei⸗ 
nung gilt Bacon gewöhnlich als ein echt kirchlich Sefinnter; 
das wird in Deutichland von den Gelehrten, die das Thema 
berüßrt haben, ftark bezweifelt, in Frankreich fo geleugnet, daß 


428 


fie vielmehr das äußerte Gegentheil veligiössfirchlicher Gefin- 
nung in Bacon behaupten. Aber auch in Frankreich, wo man 
ſich mit Bacon ungleich mehr befchäftigt hat als in Deutfch- 
land, find völlig entgegengefeßte Stimmen laut geworden, deren 
Beifpiele wir vorübergehend vergleichen wollen. 

Ih muß zuvor bemerken, daß die von Bacon eingeführte 
Trennung zwiſchen geoffenbarter Religion und menjchlicher 
Vernunft bei den verichiebenften Geiftern Eingang fand und 
völlig entgegengefeßten Interefjen zum Ausdrud diente. Dieſe 
baconiiche Formel wurde begierig ergriffen von den Einen zum 
Schutze des Glaubens, von den Andern zum Schube des Un- 
glanbens. So unterfcheiden fih in biefem Punkte das ſieb⸗ 
zehnte und achtzehnte Jahrhundert. Wo fih in biefem die 
fortgefchrittene Aufflärnng noch der baconifhen Eohcorbiens 
formel bedient, da gefchieht es im entſchieden antiveligidfen In⸗ 
tereffe: fte ift der Neligion gegenüber zu einer blos formellen 
Anerkennung geworden, von der man behaupten kann, daß fie 
die innere ausfchließt, vielmehr deren Gegentheil verbirgt. 
In diefer Form erſcheint das baconifche Glaubensprincip bei 
Eonbillac, der die baconifche Philofophie auf die Spige eines 
ausichließenden und vollendeten Senfualismus ftellte. Dagegen 
im ftebzehnten Sahrhundert finden wir in Frankreich diefelbe 
Trennung von Glaube und Vernunft zu Ounften bes Glaubens. 
Aber innerhalb diefer pofitiven Glaubensſtellung ift wiederum 
ein Gegenſatz möglich; denn es kommt an auf bie Gründe, 
aus welchen man die Vernunft ber geoffenbarten Yeligion 
opfert, ob es die Frömmigkeit thut oder der Zweifel. Die 
Frömmigkeit Tann das Imtereffe haben, fi in bie göttlichen 
Dffenbarungen zu verfenten, unbehindert und unbeirrt durch 
menfchliche Weisheit, Die fleptithe Vernunft kann das In⸗ 





429 


terefie haben, die Sinoten des Zweifels mit dem Schwerte des 
Glaubens zu zerfchneiden, weniger um das ert des Glau⸗ 
bens zu fchärfen, als um der Vernunft ? tadht zu nehmen, 
ſelbſt ihre Zweifel zu löfen, d. h. um „ıe Vernunft als folche 
im Zweifel zu laffen. Die Vernunft wird dem Glauben ges 
opfert, nachdem fie deſſen Widerfprüdhe von allen Seiten be- 
trachtet und mit fleptiihem Scharffinn analyfirt hat. ‘Diefer 
Triumph des Glaubens Über die Vernunft ift im Grunde der 
Sieg des Steptifers; können nämlich nur fo die Zweifel ge 
löſt werden, fo find fie in der That unlösbar, und damit hat 
ber Steptiter fein Spiel gewonnen. Woran er in Wahrheit 
glaubt, das ift die unfichere und ungewiffe Menfchenvernunft, 
das ift fein Glaubensintereſſe: der Unglaube an die Vernunft 
wahrheit, den er überjekt in den blinden Glauben an die Wahr- 
heit der göttlichen Offenbarung. ‘Diefe beiden innerlich fo ver- 
„Ihiebenen Glaubensinterefjen, das religiöfe und das ffeptifche, 
ftügen fi auf die baconifhe Trennung von Religion und 
Philoſophie. Zwei der größten und intereffanteften Geifter 
des fiebzehnten Jahrhunderts behaupten jene Trennung zu, 
Gunften des Glaubens, aber fo, daß ihre Glaubensinterefien 
einander zuwibderlaufen, ein Yanfenift und ein Slkeptiker: 
Blaiſe Pascal ift der eine, Pierre Bayle der andere. 
Nachdem die baconifche Glaubensformel auf fo einfeitigen 
Standpunkten erfihienen, bier dem Glauben, dort dem Unglau⸗ 
ben zugefallen war, kann e8 uns nicht Wunder nehmen, daß 
man Bacon’s religidfen Standpunkt felbit in ähnlicher Weiſe ein- 
feitig auffaßte, daß ihn die Einen durdy Pascal, die Andern durd) 
Bayle, die Dritten durch Eondillec vorftellten und erklärten. 
„Er war entschieden ungläubig”, fo urtheilen Eondillac und 
jeine Schule, die Encyflopädiften und deren Epigonen, Mallet, 


430 


der Biograph Bacon’s, Cabanis, fein Panegyrifer, Lafalle, 
fein Ueberfeger, der geradezu erklärt, Bacon fei im Herzen 
ein volffommener Atheift geweſen und in feiner äußern Anz 
erfennung der Religion nichts als ein Heuchler,und Höfling.*) 
Alle diefe Leute, die zu einer Geiftesfamilie gehören, fehen in 
Bacon ihren Stammoater und beurtheilen ihn nad der Fa⸗ 
milienanalogie als einen ihres Gleichen. Indeſſen hören wir 
auf der andern Seite die entgegengefeßte Stimme: „er war 
entichieden gläubig und devot”, fo urtheilt de Luc, der Inter: 
pret der baconifchen Philofophie, gegen welchen Lafalle den 
Unglauben Bacon's vertheidigt. An de Luc fchließt fich der 
Abbe Emery mit feiner apologetifhen Schrift über Bacon’s 
ChriftentHum (derſelbe, der Leibniz’ Gedanken über Religion 
und Moral erläutert hat.**) 

Alle diefe Auffaffungen find einfeitig und viel zu vag, 
um Bacon's Geift zu erfchöpfen. Aber fie haben jede einen 
gewifjfen Berührungspuntt mit ihm gemein und treffen ihr Ziel 
in biefem einen Punkte, der freilih das Centrum nicht ift. 
Am nächſten verwandt mit Bacon find (unter den Bezeichneten) 
Condillac und feine Anhänger, die ſich zu ihm verhalten, wie 
etwa bei ung die Wolfianer zu Leibniz. Die Freidenker wie 
die Gläubigen haben Bacon für den Ihrigen erklärt, indem fie 
ausſchließlich die ihnen zugewendete Seite des Philofophen 
jehen. Was an Bacon dem Glauben ähnlich fieht, halten die 
Freidenker für nidhtigen Schein, bloße Maske, gefliffentliche 
Heuchelei; Laſalle, der fich ſelbſt „Vacons Kammerdiener“ 


*) Cabanis, Rapport du physique et du moral de lPhomme. 
Lasalle, CEuvres de Bacon. Preface gen£rale, p. 44. 

*) De Luc, Precis de la philosophie de Bacon. Emery, 
Christianisme de Bacon. 














431 


nennt, jpricht ungefcheut, wie ein Kammerbdiener, von dieſer 
partie honteuse ſeines Herrn. Was in Bacon dem Unglauben 
ähnlich fieht, nehmen feine gläubigen Bewunderer für unbe- 
deutende Aeußerungen ober für Irrthümer, die Bacon jelbit 
eingefehen und mit der Zeit abgelegt habe. „Die LXobeser- 
hebungen, welche die Feinde der hriftlichen Religion auf Bacon 
häufen“, jagt der Abbe Emery, „haben uns beinahe deſſen 
Glauben verbädtig gemacht. Aber wie freudig überraschte uns 
fein religiöfes Gefühl und feine frommen Ausfprüde!” So 
hat Bacon unter den Ungläubigen wie Gläubigen feine Apo- 
fogeten gefunden, oder, um moderner zu reden, bie Advocaten, 
die für ihn plaidirn. Es fehlt, um die Gruppe zu fchließen, 
der Bolemiler, der advocatus diaboli, den wir Bacon gegen- 
über nur in einer gewiſſen Elaffe von Menſchen fuchen können, 
nämlich allein unter den Fanatikern; und Hier findet fich wirk- 
li diefer advocatus diaboli, er fommt wie gerufen, in der 
Perſon des Grafen Joſeph de Maiftre, durch den die fran- 
zöfifche Literatur in der Gruppe ihrer auf Bacon bezüglichen 
Schriften die Lüde der Polemik zu erfüllen wenigftens den 
beften Willen gehabt bat. Unter dem Titel „Prüfung der 
baconifchen Bhilofophie” hat Maiftre in zwei Bänden nicht 
die Belämpfung, ſondern die Vernichtung Bacon’s verfucht.*) 
Er Hat infofern das Recht zu einer radicalen Polemik, weil 
fein Standpunkt den radicalen Gegenfag zu dem baconifchen 
bildet. Nichts wiberjtrebte dem toleranten und phyſikaliſchen 
Denter jo jehr als der religiöfe Fanatismus; Maiſtre iſt ein 
Fanatiker. Keinem Firchlichen Standpunkte war Bacon feind- 

*) Examen de la philosophie de Bacon, oü l'on traite differen- 


teg questions de la philosophie rationelle. (Euvr. posthume du comte 
Joseph de Maistre. 2Vols. Paris et Lyon, 1836. 





432 


licher entgegengejekt als dem katholiſchen; unfere Leſer wer- 
den bemerkt haben, daß Bacon vom Katholicismus die Züge 
entlehnte, womit er den Aberglauben jchilderte; Maiftre ift 
nicht blos Katholik in ultramontanem Verſtande, fondern 
ein jeſuitiſch gefinnter Katholik. Keinem wiflenjchaftlichen 
Standpunkte widerftrebte Bacon entjchiebener als dem jcho- 
faftifchen, der die Theologie des Mittelalters ausgemacht 
hatte; Maiftre ift ein künſtlicher Scholaſtiker, da er ein 
natürlicher vermöge feines Zeitalters nicht fein Tann, er ift 
Romantiler, einer von Denen, die durch eine politiiche Re⸗ 
itauration mit den Einrichtungen des Mittelalters künſtliche 
Belebungsverfuche anftellen. Er nimmt alfo feinen Geſichts⸗ 
punkt jenfeits ber baconifchen Philofophie auf einer Bildungs- 
ftufe, die Bacon Hinter fich hat; das ift für die Polemik des 
Srafen de Maiftre eine unglückliche Stellung, fie fieht ihr Ob⸗ 
ject nur von hinten und fie beurtheilt Bacon, wie fie ihn 
fteht. Vergleichen wir beide, fo find ihre Standpunkte ent- 
gegengefett, nicht ihr Zeitalter. Bacon's Gegenjat zur Scho- 
laſtik war natürlich, nothwendig und entſchieden; Maiſtre's 
Gegenſatz zu Bacon iſt künſtlich, gemacht, ſchwankend, und weil 
er der entſchiedenſte ſein will, ſo wird er im höchſten Grade 
heftig, ungerecht, unſinnig. Das verdirbt und vergiftet von 
vornherein den Kreuzzug, welchen der franzöſiſche Romantiker 
des neunzehnten Sahrhunderts gegen den engliichen Philofophen 
des fiebzehnten predigt. 

Was de Maiftre an der baconifchen Philofophie am we⸗ 
nigften vertragen fan, ift die Trennung zwifchen Bhilofopbie 
und Religion, Wiffenfhaft und Theologie, welche Bacon ein- 
führte; was ihn am meiften in der baconifchen Philofophie 
empört, ijt die Herrfchaft der Naturphilofophie und Phyfit, der 





433 


untergeordnete Rang, der den moraliſchen und politifchen Wiffen- 
{haften übrig gelaffen wird. ‚Den Naturwiſſenſchaften gehört 
der zweite Plaß; der Vorfig gebührt mit Recht der Theologie, 
Moral, Politik. Jedes Volt, welches diefe Rangordnung 
nit forgfältig einhält, befindet fi im Zuftande des Ver⸗ 
falls.”*) Dem Romantiker ſchweben die Kirchenväter und 
Scholaftiker vor, die im Intereffe und zum Beſten der Kirche 
philofophirten. Er behauptet gegen Bacon eine ähnliche Ein- 
beit zwiſchen Religion und Philofophie, aber er läßt fich hin⸗ 
reißen, diefe Einheit durch Gründe zu vertheidigen, welche nicht 
der Scholaftit, fondern der Aufklärung angehören. Man traut 
feinen Augen kaum, wenn ein de Maiftre fir die Ueberein- 
ftimmung zwiſchen Offenbarung und Vernunft Argumente vor- 
bringt, die Leffing gebraudt Hat. Er ſpricht von dem erzie 
hungsmäßigen Gange der göttlihen Offenbarungen, ihrem 
natürlichen Verhältniß zur Faſſungskraft des menfchlichen Ver⸗ 
ftandes: wie jede Offenbarung eigentlich nichts fei als eine 
zeitiger mitgetheilte Wahrheit, eine pädagogiſch geleitete Auf- 
Härung.**) Was ein de Maiftre allein durch die Autorität 
der Kirche vertheidigen follte, vertheibigt ex aus rationelfen 
Gründen, die ihm eine außerfichliche Auftlärung an die Hand 
giebt. Indem der moderne Diplomat gegen Bacon die Partei 
der Schofaftil ergreift, wird er ein Romantiler; indem ex fie 


*) Examen de la phil. de Bacon, tom. II, chap. II, p. 260. 

”), „Die Offenbarung wäre nichtig, wenn niht nad 
der göttliden Belehrung die menfhlide Bernunft im 
Stande wäre, fi felbft die geoffenbarten Wahrheiten zu 
beweifen: wiedie mathbematifhen oderalleanbern menſch⸗ 
lihen Lehren erfi dann ale wahr und gültigerfannt find, 
wenn die Bernunft fie geprüft und wahr befunden hat.” 
®.D, ©. 22. 

Fiſcher, Bacon. 28 





434 


vertheidigt und ihren Abvocaten macht, wirb er ein Sophiſt 
und verfällt dem Scidfale aller feiner Partei- und Geiftes- 
genoffen. Geſtiltzt auf die gejchichtliche Autorität, welche die 
Gewalt für fid) Hat, Fünnen diefe Leute triumphiren; geftätt 
auf Vernunftgrände, opfern fie charakterlos ihre Grundfäte 
und müſſen fo unterliegen, daß fie dem Feinde freiwillig ihre 
Waffen ausliefern. Webrigens ift Bacon keineswegs das aus⸗ 
ſchließliche Ziel für die Polemik de Maiſtre's. In ihm will 
er ein ganzes Geſchlecht, ein ganzes Zeitalter vernichten: das 
achtzehnte Jahrhundert mit den Trägern der franzöfiichen Auf- 
Härung. Jeder Schlag, den Bacon von ben Bänden de 
Maiſtre's empfängt, fol zugleich Eonbillac und die Euchllopü⸗ 
biften treffen. Maiftre's Buch gegen Bacon ift eine Kriegs⸗ 
erflärung der franzöfifchen Romantik des neunzehnten Jahr⸗ 
hundert gegen die franzöfifhe Aufflärung des achtzehnten: 
„Bacon war das Idol des achtzehnten Jahrhunderts, er war ber 
Großvater Eondillac’s, er muß nad feinen Ablömmlingen, nad) 
feinen geiftigen Wahlverwandtſchaften beurtgeilt werden, und 
biefe find Hobhes, Locke, Voltaire, Helvetins, Condillac, Dide⸗ 
rot, d'Alembert u.f.f. Bacon hat die Grundfäge der Ench- 
Hopädiften gemacht, diefe haben Bacon's Ruhm verbreitet und 
ihn auf den Thron der Bhilofophie erhoben. Er war der 
Urheber jener „Theomiſie“, die ben Geiſt bes achtzehnten Jahr⸗ 
hunderts erfüllt hat.“*) 

Dies ift nah Maiſtre Bacon's gefchichtliche Bedeutung; 
fie ift umleugbar eine große und mweitreihende. Um fo mehr 
liegt dem Gegner der Aufklärung daran, diefen Charakter auf 
feinen wahren Werth zurüdzuführen, da fih von ihm ein 


*) Tom. II, p. 27, 18, vgl. chap. VIL 








435 


feindliches Iahrhundert herleitet. Wir fuhen aus den langen 
Tiraden bie harakteriftifchen Züge zufammen, um unjern Leſern 
zu zeigen, wie fih Bacon in dem Kopfe de Muiftre’s abbildet. 
Es tft eine menſchenunahnliche Caricatur, die nicht ihren Ge⸗ 
genſtand abſcheulich, ſondern ihren Urheber lächerlich macht. 
Der Fanatismus verwüſtet jedes Talent, ſogar das Talent, 
die Dinge zu verzerren, er vertilgt die letzte Spur natürlichet 
Aehnlichkeit, weil er ſelbſt mit der Natur nichts mehr gemein 
hat. 

Maiſtre ſchätzt vor allem fein Object nach dem römiſch⸗ 
katholiſchen Geſichtspunkt, welchen er ben chriftlich - veligtöfen 
nennt. Wie erfcheint ihm Bacon unter dieſem Geſichtspunkt? 
Er war, wofür ihn bit Enchflopäbiften erflärten, ein Un⸗ 
oliubiger, „ein Gottlofer”, fagt de Maiftre, „ein entfchiedener 
Atheift”. Aber er Bat doch dem Glauben das Wort gerebet 
und denſelben in feiner Machtvollkommenheit unbedingt aner⸗ 
kannt? „Um fo fchlimmer“, fagt de Maiftre, „er war alfo 
zugleich ein vollendeter Heuchler.”*) Hier kommt ihm Lafalle 
ſehr zu ftatten, der auch feinen Herrn und Meifter, wie er 
Bacon nennt, für einen Athelften unter hypokritiſcher Maste 
erflärte. Wo aber find für de Maiftre die Kriterien von 
Bacon's Unglauben und Heuchelei? Hier ift eine köſtliche 
Brobe, wie fein de Maiftre diefe Kriterien aufzufpliven weiß; 
einem folden Spürorgen konnte freilich Niemand entgehen. 
Bacon fagt im 29. Aph. des zweiten Buches feines Drganons: 
„man müffe ach die ungewöhnlichen Naturerfcheitungen, die 
Misgeburten, u. f. f. beobachten und fammeln, aber mit Vor⸗ 
fiht, und für befonders verdächtig müffe man diejenigen hal- 


*) Tom. II, p. 13, 18 nnd viele a. St. 
28* 


436 


ten, deren Erzählungen von irgend welchem religidjen Urfprunge 
feien, wie die Prodigien beim Livins.”*) Diefen Sat nimmt 
Maiftre gefangen, bier muß ihm Bacon feinen Atheismus und 
feine Heuchelei in einem Athemzuge befenuen. Die angeführte 
Stelle redet von ungehenerlichen Raturphänomenen, das find 
nit Wunder, jondern Monftra, wie fie Bacon auch nennt; 
was diefe betrifft, will er den veligiöfen Erzählungen, 
welche es auch feien, nicht unbedingt geglaubt willen. Halt! 
ruft de Maiftre, das ift eine Blasphemie! Bacon meint hier 
das Ehriftenthum, er läftert die heilige Religion, er ift ein 
Undrift, ein Atheift! Aber Bacon fett Hinzu: „wie z. B. die 
Wundererzählungen bes Livius“, er citirt noch weiter die Leute 
der Magie und die alchymiſtiſchen Schriftiteller, feine Seele 
denkt nicht an die hriftlichen Wunder, die gar nicht umter bie 
betreffende Kategorie fallen! „Seht!“ ruft de Maiftre, „den 
Heuchler, er meint das Chriſtenthum und citirt den Livins! 
Seht, wie ſich der geſchickte Komödiant augenblicklich zu decken 
weiß, indem er ben Livins vorfchiebt! Ich muß ihm das 
Wort der Frau von Sevigne zurufen: «Schöne Maste, ich Tenne 
bBih»! Er hat gefagt: «man foll, was die Monſtra betrifft, 
den religidfen Erzählungen nicht unbedingt glauben, welche es 
auch feien.» Das Wort ift gefchrieben, es fteht da: welche 
es auch fein! Er meint alle, alfo auch die chriftlichen.”**) 
Weil Bacon bie Glaubwürdigkeit der Monſtra bezweifelt, 
befonders in den Erzählungen religiöfen Urſprungs, darım 
gilt er in den Augen de Maiftre’s für einen Unchriften; weil er 
fih dabei an den Livius hält, für einen Heuchler. 





*) Nov. Org. II, 29. 
“*) Jos. de Maistre, tom. Il, p. 317, 318, Anm. 2. 





437 


Und was ift Bacon in der Wilfenfchaft nah dem Ur⸗ 
theile defien, der ihn foeben in der Religion als einen Gott⸗ 
lofen und Heuchler entlarvt hat? „Er predigt”, jagt de 
Maiftre, „die Wiſſenſchaft, wie feine Kirche das Chriftenthum 
— ohne Miſſion!““) Der Graf de Maiftre erlaube uns, 
bei diefem Ausſpruche mit der Frau von Sevigne ihm zu 
fügen: „Maste, wir kennen bih!” Was er m Bacon be- 
kämpft, tft nicht blo8 der Großvater Condillac's, das Idol 
des achtzehnten Jahrhunderts, der Philofoph, fondern — ber 
Proteftant! ‘Daß ein Proteftant, ein Glied der abtrünnigen 
Kirche, der Mutterkirche den Dienft der Philoſophie gelünbigt, 
die Hegemonie der Wiffenfchaften übernommen und dem Pro- 
teftantisnıns zugeführt bat, dieſe unbequeme Thatſache fällt 
dem Fanatiler des Katholicismus, dem romantiſchen Schola> 
ftiler, dem ‘Diplomaten der NReftauration zur Laſt umd er 
möchte diefen Stein feines Anftoßes wegräumen. Bacon Hatte 
zur Reformation der Wiffenichaften ebenfo wenig Beruf als 
der Proteftantismus zur Reformation der. Kirche: das heißt 
in de Maiſtre's Sprache, er hatte keinen; das heißt in der 
unfrigen, er hatte einen ebenfo großen, und für biefen großen 
Beruf zeugen uns bie drei Iahrhumderte, weldye ber Prote⸗ 
ſtantismus beftanden und gewirkt bat. Bacon war nad dem 
Urtheile de Maiſtre's Kein wiffenfchaftliches Genie. Warum? 
Weil er jelbft Leine Entdeckungen gemacht, fonbern nur über 
die Kunft, Entdedlungen zu machen, gefchrieben hat, weil er 
der Theoretifer diefer Kunſt war.“) Das heißt, dem Aefthe- 
tiler vorwerfen, daß er fein Künftler if. Wenn man von 


*) @bend. tom. I, p. 83. 
**, Tom, I, chap. IL 


438 


ben Dbijecten nur fagen will, was fie nicht find, fo kann man 
viel über fie reden; die Zahl folder muendlichen Urtheile, 
wie fie die Logik neunt, ift ſelbſt unendlih, die Logik follte 
die Beifpiele folder unendlichen Urtheile, die eigentlich leine 
find, aus unferu Kritikern ſchöpfen. Was endlich war Bacon, 
wenn er ein wiftenichaftliches Genie fo wenig war, als ein 
Aeſthetiker Künftler? Er war, entfcheidet de Maiftre, ein belle: 
triſtiſcher Schriftfteller der leichtfertigften und roheften Art, 
ohne eine Spur von Driginolität, deun feine Sprache wim⸗ 
met von — Ballicismen!”) Seine Liebe zu den Wiſſenſchaf⸗ 
ten war eine unglüdliche, zengungsunfähige Liebe: die Verliebt⸗ 
heit eines Eunuchen!**) Seine fogenannte Philoſophie ift ein 
geiftlofer Materialismus, ſchwankend und haltungslos in feinem 
Ausdruck, frivol in feiner Geſinnung und voller Irrthum in 
allen feinen Behauptungen. Auch nicht ein Fünkchen Wahr: 
beit will de Maiſtre in Bacon aneriennen, er verſichert ihn 
wiederholt feiner tiefften Beratung. Man fieht, daß man es 
mit einem Raſenden zu thun hat, der fich mit jedem Worte 
mehr in die befinnungslofe und barum lächerliche Wuth hin⸗ 
einzebet und unter bem Namen Bacon’ eine Vogelfcheuche 
mishandelt, die fein eigenes ungefchicdtes Werl ift, — wenn 
man Güte, wie folgende, lieft: „Der Geſammteindruck Bacon's, 
der mir nad) forgfältiger Prüfung übrig bleibt, tft ein durch⸗ 
gängiges Mistrauen und darum eine vollkommene Beratung; 
id verachte ihn in jeder Beziehnng, jowohl wenn er Ja, als 
wenn er Nein jagt.” ‚Bacon irrt, wenn er behauptet; er irrt, 
wenn ex verneint; er irrt, wenn ex zweifelt; er irrt mit einen 


*, Tom. I, p. 97. 
*+), Tom. I, p. 365. 








‘489 


Worte überall, wo es Menfchen möglich ift zu irren.‘ *) 
Und der Grund dieſer durchgängig falſchen und verberblichen 
Philoſophie war fo eitel und verädtiich als fie ſelbſt. Es 
war nichts als die Nenerungsſucht, „die Krankheit des Neolo- 
gismns“**), die Bacon und bie geſammte neuere Philofophie 
in England, Frankreich und Deutſchland verführt bat: es war 
lediglich die Sucht, dem Alten zu wiberfprechen, bie allen fo» 
genannten Shftemen der nenern Bhilofophie ihr eintägiges 
Dafein und den Urhebern berjelben die Tagesberühmtheit ver⸗ 
liehen hat, welche der Graf be Maiſtre mit dem Hauche feines 
Munbes vernichtet. Sein unwilliger Blick teifft nicht ohne 
VBedauern auch den größten und ſchwierigſten Denker ber neuern 
Philofophie, unfern Landsmann Immanuel Sant, in ber Reihe 
ber Neologen. Es ift ergäglih, einen Kant vor bem Richter⸗ 
ftuhle eines de Maiftre zu finden, unb noch ergützlicher, das 
Urtheil zu hören, welches dem größten der Phtlofophen von 
biefem befangenften der Richter gefprodden wird. Kant hätte 
nah der Meinung be Maiſtre's ein Philofoph fein Tönnen, 
wenn er kein Charlatan gewefen wäre. Die unübertreffliche 
Stelle lautet: „Wem Kant einfältigen Sinnes einem Plato, 
Descartes, Malebranche nachgegangen wäre, fo würde bie 
Welt Tängft nicht mehr von Lode reden, und Frankreich hätte 
ſich vielleicht Thon eines Befjern belehrt hinfichtlich feines trau- 
rigen und lächerlichen Condillac. Statt deffen überließ fi 
Kant jener unfeligen NRenerungsfuht, die Niemand etwas zu 
verdanken haben will. Er redete wie ein dunkles Orakel. Er 
wollte nichts wie andere gewöhnliche Menſchen Tagen, fondern 


*, Tom. II, p. 326, 863. 
*) Tom. II, p. 364. 


440 

erfand ſich eine eigene Sprache, und nicht genug, daß er uns 
zumuthete, deutfch zu lernen (in der Xhat, diefe Zumuthung 
war ſchon ziemlich ſtark!), wollte er uns fogar nöthigen, den 
Kant zu lernen. Was ift die Folge geweien? inter feinen 
Landsleuten hat er eine flüchtige Gührung erregt, einen künſt⸗ 
lichen Enthuſiasmus, eine fcholaftiiche Erſchütterung, die ihre 
Grenze allemal am rechten Ufer des Rheins gefunden, und 
ſobald die Dolmetfher Kant’s ſich über diefe Grenze hinaus⸗ 
wagten, um vor den Franzofen das fchöne Zeug auszukramen, 
haben fich diefe nie enthalten können zu Lachen.‘ *) 

Ich beſorge ernftlich, daß dem Grafen de Maiftre bei den 
Landsleuten Bacon’8 und Kant's etwas Aehnliches begegnen 
wird, und zwar werben wir über ihn aus ganz andern Grün- 
ben lachen als die Yranzofen über Sant, nicht auf unfere 
Koften, fondern auf die feinigen. 


*) Tom. I, p. 12, 18. Ueber 3. de Maiſtre's politiſch⸗literariſche 
Stellung vgl. Gervinus' „‚Gefchichte des neunzehnten Jahrhunderts‘, 
8.1, ©. 379 fg; Bd. V, ©. 73. 








Siebzehnles Kapitel. 
Bacon und Bayle. Die religiöſe Anfllärnug. 





Wir haben gefehen, welcheriet Motive Bacon’s religiöfen 
Standpunkt bewegen und eine Richtung beichreiben laſſen, 
bie aus dem Zuſammenwirken verfchiedener Kräfte erkannt fein 
will und falſch beurtheilt wird, wenn man fie aus einer Duelle 
allein ableitet, fei e8 bes Glaubens oder bes Unglaubens. 
Mit der Erfahrungsphilofophie, die Bacon begründet, find 
auch die Bedingungen zu einer Geftalt religiöfer Aufflärung 
gegeben, deren Grundzüge Bacon ebenfalls vorbildet. Seine 
natürliche Theologie enthält ſchon den Keim zu dem fpätern 
Deismus feiner Landsleute, der gegen bie pofitine Religion 
eine Tritifche und im Fortgange abgewendete und feindliche 
Stellung einnimmt. Zwar wollte Bacon dem Offenbarungs- 
glauben von Seiten der Philofophie eine Anerkennung einge- 
räumt haben, die alle Vernunftkritik ausfchließt, er hatte bie 
blinde Unterwerfung ber Vernunft unter den Glauben gefor- 
dert, aber ‚zugleich die freie Bewegung der Wiſſenſchaft in 
ihrem eigenen Gebiet gegen die Eingriffe der Religion ver- 
theidigt und die Macht des Staates über die Kirche fiir noth- 
wendig erklärt. Die Kirche ſoll anerkannt fein, aber nit 
herrſchen, Bacon verlangte die Vernichtung der Glaubens- 


442 


herrſchaft, die Geltung der Glaubenstoleranz, und welche 
Stellungen auch die Aufflärung in England und Frankreich 
gegenüber der gefhichtlichen Religion eingenommen hat, fie hat 
in jeder gegen die Glaubensherrichaft geeifert und die Glau⸗ 
benstoleranz gefordert. Nicht Hobbes, fondern Bacon ift ber 
Erfte geweien, der das Schwert der Kirche aus den Händen 
der Priefter in die des Staats gelegt wiffen wollte, und fchon 
vor Rode hatte er den Grundfag der Duldung ausgeſprochen 
und im Intereffe der Wiffenichaft erhoben. 

Aber aus dem baconifchen Standpunkte läßt fih neben 
dent Deismus unb ber Toleranz auch ber entſchtedene Unglaube 
ableiten, welcher in England und namentlich in Frankreich ber 
baconifchen Philoſophie nachfolgt. Der Unglaube, ber bie 
religidje Vorftellungswetje überhaupt verneint und abwirft, ift 
jtets im Gefolge einer materialiftifchen Denlart, und in Bacon 
jelbft ift diefe Hinmeigung zum Materialismus fo bemerkbar 
als erflärlich, fie iſt nur verdeckt und gleichſam überbaut durch 
bie Metapäyfit, auf welche fich die natürliche Theologie, biefer 
Anfat zum Deismus, gründet; fein Geift lebte in der phyſi⸗ 
kaliſchen Betrachtung der Dinge, die er grunbiäglich auf ben 
Weg der mechanischen, atomiftifchen, materialiftiſchen Erklä⸗ 
rung verweift; wenn er wählen ſoll zwifchen Aberglauben und 
Atheismus, fo wählt er ben letztern aus allen möglichen Grün- 
ben. Der Zettpuntt wird kommen, wo die Philofephie ihre 
formelle Anertenmung ber pofitiven Religion fallen Täßt. und 
ihre naturaliftiſche Denkweiſe dergeftalt auebreitet, daß Meta⸗ 
phyſik und natürliche Theologie jede Art der Geltung verlie⸗ 
ven. Dann wird der Atheismus nicht blos dem Aberglauben 
porgezogen werben, fonbern offen an bie Stelle ber Religion 
felbft treten. 





443 


Bergleihen wir Religion und Philoſophie im Sinne 
Bacon's, fo fpringt ihre Unverträglihleit in die Augen: Re⸗ 
ligion iſt ihm göttliche (übernatärliche) Offenbarung, Philo⸗ 
Sophie Erklärung der Natur; ber Grund der Offenbarung ift 
die göttliche Wilflär, die gar keine Nothwendigkeit hat, bas 
Naturgeſetz der Dinge die mechaniſche Notibwenbigleit, welche 
alle Zweckthätigleit, um fo mehr jede Willlür ausfchließt: bie 
Bhilofophie weiß nichts von Willkür, die Neligion nichts von 
Nothwendigkeit. Konnte Bacon einmal für bie Neligien lei» 
nen andern Grund ausfindig machen, als die göttliche Willlür, 
fo Hatte er Recht, ihre Unbegreiflichkeit an bie Spike zu ſtel⸗ 
In; konnte Die Vernunft, wenn fle bie Religion unterfucht, 
bier nur Widerſprüche auffinden, welche aufzulöfen ſie ſchlechter⸗ 
dings unvermögend war, ſo hatte Bacon Recht, dieſen ziel⸗ 
loſen Streitigkeiten, diefem unfruchtbaren Hin⸗ und Herreden 
zwiſchen Gründen und Gegengründen dadurch ein Ende zu 
machen, daß er der Vernunft jede Einrede verbot und ihr die 
unbedingte Auerkennung ber göttlihen Glaubentdecrete zur 
Pflicht machte. Man muß nur deutlich begreifen, auf welcher 
Bildungefiufe innerhalb der baconifchen Philefopbie die menfd)- 
liche Bernunft fteßt, welchen Werth ie der Religion auf der 
einen und fich felbft auf ber andern Seite zuerkennt. Die 
Religion gilt ihr ala ein pefitives Glaubensſyftem, zufammen- 
geſetzt aus göttlichen Statuten, weiche die Willfir ober Gottes 
grundfofer Rathſchluß angeordnet hat. Und was gilt die Ver⸗ 
nunft fi ſelbft? In allen natürlichen Dingen ift fie Erfah⸗ 
zung, in alfen übernatürlichen Dingen härt mit der Erfahrung 
auch bie Vernunft und alles wohlbegründete Schließen auf, 
fie wird jenfeits der Erfahrung gänzlich haltungslos und 
ergeht ſich Hier in leeren Steeitfragen, in unfruchtbaren und 





444 


endlofen Wortgefehhten, der Natur gegenüber wird die menfch- 
liche Bernunft zur erfahrungsmäßigen Wiſſenſchaft, ber Res 
ligion gegenüber zum Raifonnenr, zum animal disputax; in 
der Religion herrſcht gebieteriſch die göttliche Willkür, in ber 
" Religionsphilofophte herrſcht mit ihren leeren BVorftellungen 
die menfhlihe Willlür. So fieht Bacon die Sache, fo ftehen 
bier Religion und Vernunft einander gegenüber; wenn er alfo 
der Religion die Vernunft unterwirft, fo heißt bas fo viel als 
der göttlichen Willkür gegenüber die mewichliche zum Schwei- 
gen bringen. Und vorausgefekt einmal, daß die Werthe auf 
beiden Seiten ſich fo verhalten, wie konnte er anders zwifchen 
beiden entfcheiden? Die Vernunft fchließt, jeder Vernunft: 
ſchluß verlangt einen Oberſatz, eine Regel, ein Geſetz; bie 
Geſetze der Natur müſſen wir finden, denn fie find in ben 
Dingen verborgen; die Geſetze der Religion müſſen wir an- 
nehmen, denn fie find von Gott offenbart. Es ift der Ver⸗ 
nunft erlaubt, aus dieſen Gefeken zu fchließen, aber nicht bie 
jelben zu verändern oder zu prüfen, fie find die ewig feften 
Regeln, weldhe von der Vernunft gebraucht, aber nicht ge- 
macht werden. Welche Geltung Bacon diefer Art eines fecun- 
dbären Vernunftgebrauchs in religidfen Dingen einräumte, fagte 
er in einem fehr charakteriftifchen Bilde: es follte fih nad 
feiner Meinung mit der Religion verhalten wie mit einem 
Spiel, man dürfe die Geltung der Spielregeln nicht beanftan- 
den oder umftoßen, wenn man mitipielen wolle, wohl aber 
dürfe man diefe Regeln vernunftgemäß anwenden, benutzen 
und ‚feine Schlüffe darnach einrichten. Die Neligion fei ein 
Spiel, deſſen Regeln die göttliche Willkür feftgeftellt und durch 
Offenbarung den Menſchen mitgetheilt habe; wer fi an ihr 
betheilige, müſſe ihre Regeln einfach annehmen wie fte ge 





445 


geben jeien, und die eigene Vernunft feit an deren Richtſchnur 
binden. *) 

Diefe Vergleihung der Glaubensſtatute mit Spielregeln 
war von Bacon naiv gemeint, aber im Grunde frivol und 
für die Ehrwürdigkeit des Glaubens keineswegs zuträglich; 
man verfuchte fehr bald, auf dem Schachbret fo zu fpielen, 
dag die menfchliche Vernunft der Religion matt!” zurufen 
fonnte. Die Religion mit einem Spiele vergleichen, hieß in 
der That, die Religion aufs Spiel ſetzen, und die Philofophie, 
die von Bacon ausging, Überredete ſich ſchon nad) wenigen 
Zügen, ihr Spiel gewonnen zu haben. Wie auf dem baco- 
niſchen Standpunkte Religion und Vernunft gefaßt und gegen- 
einander geftellt waren, fo bilden fie einen natürlichen Wiber- 
ftreit, der zwar durch ein Machtgebot niedergehalten, durch 
eine formelle Anerkennung befeitigt, aber keineswegs verbehlt 
wurde. Die formelle Anerkennung ftüßte fih zum großen 
Theil auf praktifche Gefichtspunkte, politifche Rückſichten, fub- 
jective Gründe, die nicht aus der Philofophie ſelbſt hervor⸗ 
gingen; es waren Nothftügen, die fehr bald fallen mußten, 
mit ihnen fällt die baconifche Slaubensftellung, das Band 
jerreißt, welches Religion und Vernunft zufammengehalten 
hatte, fie trennen ſich und ihr innerer Gegenſatz tritt hervor 
in der Antipathie unverträglider Dentweifen. Das ift das 
Thema, das fi) in der Fortpflanzung der baconifchen Philo« 
fophie weiter und ſchärfer ausbildet: entweder muß die Philo- 
fopbie an fi) oder am Glauben verzweifeln, entweder verliert 
die menfchliche Vernunft oder die pofitive Religion ihre Glaub⸗ 


*) S. obn’Bud I, Cap. IX, ©. 324 fig. Bgl. Cap. XV, ©. 
402—410. De augm. scient, Lib. IX. Op. p. 260. 


446 


| 

würbigfeit, entweber Tehrt die Vernunft fich ſteptiſch gegen fich 
felbft oder ungläubig gegen die Religion. Bon den beiden 
Mächten fteht nur eine noch feit. Die Fertigkeit ber geoffen- 
harten Religion erfchfittert die Grundlagen der Philoſophie, 
den Glauben an die Sicherheit der menfchlichen Vernunft; bie 
Sicherheit der letztern erſchüttert das Anfehen ber poſitiven 
Religion, und zwar bildet die Stepfis, die noch auf einen 
Augenblid den blinden Glauben unterftüßt, den Uebergang 
zum Unglauben: diefen Durchgangspunkt im Fortgange der 
baconifchen Philofophie bezeichnet Pierre Bayle, er tft das 
Mittelglieb zwiſchen Bacon und der franzöfifchen Aufklärung, 
er fteht im Wendepunkt des fiebzehnten und achtzehmten Jahr⸗ 
hunderts. 

Bahle macht, wie Bacon, die Vernunftwidrigkeit zum 
Bejahungégrunde des Glanbens; er betrachtet, wie jener, den 
Wiberfpruch zwiichen Religten und Vernunft als unlösber, 
weil er ebenfalls die Duelle der Neligton in ber göttlichen 
Willkür, bie Duelle ber menſchlichen Vernunft in natürlichen 
Geſetzen findet. Die abfolute Willlür eines unbebingten We⸗ 
ſens und die natürlich bedingten Erkenntnißkräfte des Menſchen 
erlauben keinen Vergleich, ſtehen in keinem Vernunftverhältniß, 
und am wenigſten konnen die Acte der göttlichen Willkür von 
dem menfchlichen Geifte begriffen werden; fie verlangen blinden 
. Glauben ımb blinden Gehorfam. Jeder Verfuch einer Ber- 
nuuftkritik der pofitiven Glaubensmaterien kann nur die Wiber- 
fprüche beider Har machen: gerade barin befteht Bahle's ori- 
gineffe und merlwürdige That, daß er diefe Widerſprüche 
erleuchtet und allen Scharffinn aufwendet, den Proceß zwifchen 
Slaube und Vernunft zu articuliven und fo durchzuführen, 
daß er offen zw Tage liegt; er läßt die Vernunftwidrigkeit 











447 


des Glaubens, die Bacon einfach behauptet hatte, Punkt für 
Bunkt auftreten ſowohl in theoretiicher als praltiſcher Hinficht. 
Er wird, was Baron nicht war, ein Kritiker des Glaubens. 
Die Frömmigkeit erfcheint auf praktiſchem Gebiet als Hetlig- 
feit, anf theoretifchem als Anerkennung der geoffenbarten Heils⸗ 
wahrheit. Bon der Heiligkeit zeigte Bayle, daß fie die Probe 
ber natürlichen Moral nicht aushalte, von deu geoffenbarten 
Slaubensobjecten, daß deren Anerlennung mit der menjchlichen 
Bernunft ftreite. Seine Glaubensteitit verfuhr in baconiſcher 
Weile: fie bewies den Widerſpruch zwiſchen Heiligkeit und 
Moral, Offenbarung und Vernunft, indem fie denjelben an 
beftimmten Fällen hervorhob und alfo auf dem Wege ber 
Induction darftellte; durch negative Iuftanzen wiberlegte er bie 
Mebereinftimmung, welde zwifchen Religion und Bhilofophie 
gelten follte.e Daß der heilige Charakter nicht zugleich ber 
fittliche fei nach den Bernunftbegriffen der natürlichen Moral, 
zeigte er an dem Leben bibliſcher Berfonen, wie 3. B. des 
Könige David*); daß bie pofitine Glaubenslehre nicht zu- 
gleich Vernunftlehre fei und niemals werden Tönne, zeigte er 
an dem Dogma von der Erlöfung durch die Önadenwahl 
Gottes, von dem Sündenfall des Menfhen nad göttlichen 
Rathſchluß. Der menfchlihe Sändenfall war für Bahle bie 
negative Inſtanz gegen alle rationale Theologie. Wie diefe 
auch die Sünde nach göttlichen Rathſchluß erklären mag, jebem 
ihrer Ausſprüche und Wendungen widerftreitet ein Vernunft 
fat. Die Thatjache des Sündenfalls mit dem Deere mora⸗ 
fifcher Uebel, welche nachfolgen, erſcheint ihm ſchlechterdings 
unerklärlich. Entweder iſt der Menſch nicht frei, dam iſt 


*) Dictionnaire historique et critique. Art. David. 


448 


feine Handlung nit Sünde, oder er ift frei, bann hat er 
feine Freiheit von Gott; entweder wollte Gott die Sünde, was 
feiner Heiligkeit widerftreitet, oder er wollte fie nit, fondern 
verbielt fich dagegen zulaffend, d. h. er hinderte nicht, daß fie 
geſchah; entweder alfo wollte fie Gott nicht hindern, fo war 
er nicht gut, oder er konnte fie beim beften Willen nicht hin⸗ 
dern, fo war er nicht allmädtig. Bon allen Seiten fieht fi 
die Vernunft in ein Labyrinth von Widerfprüchen eingefchlofs 
jen, fobalb fie den Sündenfall, das moralifche Uebel in der 
Welt, zu erflären ſucht. Ohne Sünde feine Erlöfung, ohıe 
Erlbſung keine chriftliche Religion, deren geoffenbarte Glaubens⸗ 
wahrheiten daher undurchdringlich find für die menfchliche 
Bernunft. Durch die philoſophiſchen Sätze, neunzehn an der 
Zahl, welche Bahyle den fieben theologiſchen entgegenftellt, will 
er bie Unverträglichleit beiber, die Unmöglichkeit einer ratio- 
nalen oder natärlihen Theologie bewiefen haben. Das Er: 
gebniß feiner Glaubenskritik ift der nicht zu Löfende Wider⸗ 
ſpruch zwiſchen Offenbarung und Vernunft. Aber damit will 
Bayle nicht dem Anfehen der Offenbarung, fondern der Ver⸗ 
numft den all bereiten, Die Vernunft foll fih der Religion 
unterwerfen, fie ſoll blind glauben und aus allen Wider⸗ 
ſprüchen, welche fie ſcharfſinnig entdeckt Hat, nur ihre eigene 
Nichtigkeit, ihre Ohnmacht eingefehen haben, die Religion zu 
erklären und durch Vernunftgründe zu beweifen; nicht ber 
veligidfe, fonbern der philoſophiſche Skepticismus ift das Ziel 
womit Bayle feine Unterfuchungen jchließt: ihm gilt der Zwei⸗ 
fel, womit die Vernunft fich felbft zurüdzieht und befcheidet, 
als die wahrhaft chriftliche Phifofophie.*) Praktifch meinte 


*) Dict. hist. et crit. Art. Pyrrhon. 











449 


e8 Bahyle gewiß ehrlich mit feiner Entfcheidung, er wollte ale 
ein guter Calviniſt gelten und blieb, um als folder leben zu 
fünnen, gegen feine Neigungen in einem freiwilligen Exil; 
auch entſprach die Philofophie, welche in der Sfepfis endet 
und beharrt, feiner Geifteseigenthümlichkeit, die bei ihrer ench- 
Hopädifchen Ausbreitung, bei ihrem Intereſſe für die Hifto- 
riſche Mannichfaltigfeit, bei ihrer vorzugsweife kritiſchen Stim- 
mung fein bindendes Syſtem vertrug. Aber eben diefe Friti- 
Ihe Neigung, die Bahle mit einer jehr ausgedehnten Gelehr- 
ſamkeit verband, Tieß nicht zu, daß in ihm das religidfe 
Glaubensintereſſe ein wirkliches Herzensbebürfniß ausmachte. 
Seine Eonfeffton war ihm werth, aber das Glauben felbft 
lag nicht ‚in feiner Gemüthsverfaffung und vertrug fi) noch 
weniger mit der Art feiner Bildung. Nachdem er fein friti- 
ches Gelüfte befriedigt, feine Zweifel ausgelaffen, die Wider- 
ſprüche aufgedeckt und verdeutlicht Hatte, welche die Philofophie 
gegen die Glaubensſätze einwendet, wurde es ihm leicht, von 
der Unterwerfung der Vernunft unter den Glauben zu veden. 
Seine Vernunft Hatte ihr letztes Wort geſprochen, das Tette 
Wort war der Widerfpruch zwiſchen Glaube und Vernunft: 
die Vernunftwidrigfeit des Glaubens. Mehr wußte Bahle 
fefbft nicht. Er konnte den Widerſpruch nicht Töfen, ſondern 
nur auffinden und Hinftellen, diefer Widerſpruch war ihm 
ernft, fein Geift bewegte ſich mit raſtloſer Behendigkeit zwifchen 
Religion und Philofophie, wie zwifhen den jpeculativen Sy⸗ 
ftemen; er felbft war der lebendig geworbene Widerfpruch 
zwifchen Glaube und Vernunft, der leibhaftige Widerſpruchs⸗ 
geift, der, ohne fih untreu zu werden, alle Einwände gegen 
den Glauben mit einem Schlage in Widerfprüche gegen bie 


Bernunft verwandeln fonnte, ja jogar, um fich treu zu bleiben, 
Fiſcher, Bacon. . 29 


450 


verwandeln mußte. So allein wird YBayle richtig veritanden, 
und fo verftanden darf er weder ernjthaft gläubig noch ernit- 
haft ungläubig genannt werden: er war durchgängig ſleptiſch, 
er blieb auch in der Religion ein Steptiler, und wenn er hier 
feiner fein wollte, fo war er es gegen feinen Willen, er konnte 
nicht andere, Was ihm allein feftftand, war die Unmöglich⸗ 
feit, jene Zweifel zu loͤſen, welche die Vernunft in die Glau⸗ 
bensfragen einführt, dieſe Unmöglichkeit nannte er blinden 
Glauben; aber ein Glaube, der aus der Ohnmacht entfteht, 
welcher Art fie auch fei, wird mit feinem Urfprunge Eines 
gemein haben: er wird ſchwach fein. Die Schwäde der Ver⸗ 
nunft macht den Glauben nicht ftark, den fie begründet oder 
einräumt; der Zweifel an der Vernunft macht umfern Glauben 
an bie geoffenbarten Wahrheiten nicht ſicher. Es gibt einen 
Glauben, der durch fich felbft ftark genug ift, um Bernunft 
und Wiffenfchaft nicht zu bedürfen, und der niemals nach ihren 
Zweifeln und Einwänden frägt; diefer bebürfnißlofe, urfprüng- 
liche, Tindlihe Glaube iſt feiner felbft gewiß, mag ihn die 
Vernunft bejahen oder verneinen; ihn kümmert es nicht, was 
die Vernunft dazu fagt, ob fie ihn mit einem „weil“ begrün- 
det oder mit einem „obgleich“ einräumt. Zu diefen Glüd- 
lichen gehörte Bayle nicht, fein Geift war fo reich, fo man- 
nichfaltig, fo zerftreut, daß er unmöglich einfach genug werben 
fonnte, um in das Himmelreich des Glaubens einzugehen. 
Der Glaube Tann ftark und lebendig fein, wenn auch die Ber- 


| nunft ſchwach ift, aber durch bie Schwäche der Vernunft kann 


er nicht ftark werden. In Bayle’s Glaube ſteckt der Zweifel 
als Erbtheil, er ift eine Geburt der zweifelnden Vernunft, ba- 
ber werden die Gläubigen wohl thun, wenn fie einen folchen 
Bundesgenoffen wie Bahle vorfihtig vermeiden. Der Glaube, 





451 


welchen die Steptifer aus der Philoſophie der Religion an- 
bieten, ift ein Danaergefchenf, welches die Religion beſſer ab- 
lehnt; Bayle's Glauben in das Chrijtenthun aufnehmen, 
bieße in der That, das hölzerne Pferd nad Troja bringen, 
und man wirb fehen, was über Naht aus biefen Glauben 
hervorgeht: nichts als zerftürende Zweifel! Nachdem Bayle 
den Glauben Fritifch zerſetzt und aufgelöft hat, Tann er ihn fo- 
wenig ins Leben zurüdrufen, als der Anatom im Stande ift, 
aus dem zerftücdten Organismus wieder einen lebendigen Kör⸗ 
per zu machen, oder es müßte mit Hülfe der Medea gefchehen, 
ih) weiß nicht duch weldhe Zauberei. Mit einem Worte: 
Bayles Glaube ift nichts als der veränderte Ausdrud bes 
- Zweifels, und die Unmöglichkeit, worauf er ſich gründet, ift 
in ihm felbft eine Unfähigkeit, die er beim beften Willen nicht 
in eine Fähigkeit verwandeln konnte, auch nicht in die Fähig⸗ 
feit zu glauben. Verglichen mit Bacon, verlangt zwar Bayle 
aus denfelben Gründen diefelbe Unterordnung der Vernunft 
unter den Glauben, aber das Bewußtfein, womit die Vernunft 
diefe ihre Unterthänigfeit ausſpricht, ift in beiden ein ſehr 
verfchiedenes; fie kennen beide den Widerſpruch zwifchen Reli⸗ 
gion und Philoſophie, aber Bacon fett ſich darüber Hinmweg, 
während fi) Bayle hineinbegiebt und den Abgrund zwifchen 
Glaube und Bernunft mit geometrifher Genauigkeit ausmißt, 
er weiß von dem Widerfpruche beider weit mehr zu fagen als 
Bacon, in demſelben Grade ift das Bewußtſein, womit fi) 
Bayle dem Glauben unterwirft, weniger naiv und eher ge 
neigt, ironifch zu werben. Bacon wollte der Religion nicht 
widersprechen, Bayle widerfpradh ihr wirklich; jener hielt zu- 
rüd, was er dagegen hätte vorbringen können, diefer nahm 
zurüd, was er dagegen vorgebradht Hatte, er widerrief feine 
29* 














452 

Oppoſition, freiwillig und aufrichtig, aber fie war bereits fer- 
tig und ausgemacht, er Konnte fie wohl ungültig, aber nicht 
ungefchehen machen, er konnte die ausgefprochenen Zweifel 
nicht vergeſſen, diefe fcharfen Züge auf der Tafel feines Gei- 
ftes nicht mehr auslöfchen und mit aller Gewalt nicht glau-= 
bensftart werden, nachden er einmal gegen den Glauben feinen 
Scharfſinn Hatte Tpielen lafjen. Daß Bahle zuletzt fein wollte, 
wozu er ſich felbit die Möglichkeit genommen Hatte, diejer 
innere Widerſpruch legt in fein Glaubensbefenntniß einen iro⸗ 
nischen Zug; nicht den Glauben, fondern fich jelbit ironifirt 
Bahle, indem er die Waffen der Philofophie ftredt. Und daß 
fein Glaubensbekenntniß aufrichtig gemeint war, dadurch wird 
diefe Selbftironie keineswegs aufgehoben, fondern vielmehr 
verftärft, indem fie verfeinert wird. In diefer Beziehung ur- 
theilt Feuerbach fehr richtig: „Der Stepticismus war für Bayle 
eine Hiftorifche Nothwendigkeit; er war die Konceffion, die er 
denn Glauben machte; er mußte der Vernunft ihre Tugenden 
als Fehler anrechnen. Das Bewußtſein der Stärke der Ver⸗ 
nunft ſprach ſich ironisch demüthig unter dem Namen ihrer 
Schwäde aus.” *) 

Man Tann in Wahrheit den Glauben nicht feindfeliger 
verneinen, als wenn man ihn auf folche Weife und aus folchen 
Gründen bejaht, nämlich durch feinen Widerſpruch gegen die 
Vernunft. Was bleibt der Wiſſenſchaft übrig, wein ihr jede 
Möglichkeit genommen wird, fih durch Vernunftgründe den 
Glauben anzueignen, von fi) aus einen Weg zu finden, der 
in die Religion eimmindet? So wie Bacon und Bahle Glaube 


*) Bierre Bayle. Gin Beitr. zur Geſch. der Philoſophie und 
Menichheit, von 2. Feuerbach. Sämmtl. Werte, Bd. VII, S. 220. - 








453 


und Bernunft einander entgegenftellen, bleibt dieſer nichts 
übrig als entweder die unbebingte Anerkennung oder die un- 
bedingte Berwerfung des Glaubens, es bleibt ihr nichts übrig 
als die völlige Verzichtleiftung entweder auf fi) oder auf die 
Religion. Eines ift unmöglich: daß die Vernunft wirklich 
blind glaube. Wenn fie nicht überhaupt blind ift, jo Tann fie 
gewiffen Dingen gegenüber nicht blind werden. Und weder 
Bacon noch Bahle Fonnten den ernftlihen Willen haben, die 
Bernunft blind zu machen, fie, die ſich beide fo ſehr darum 
bemühten, ihr die Augen zu öffnen. Alſo mit dem blinden 
Glauben, den beide verlangen, kann e8 zulegt Feine andere 
Bewandtniß haben, als daß die Vernunft der Neligion gegen- 
über, da fie nicht blind ift, fich blind ftellt, daß fie die Blinde 
ipielt. So führt die baconifche Philofophie in ihrem Fort⸗ 
gange nicht zum Glauben, fondern zum Sceinglauben, zu 
einer äußern Anerkennung, hinter der fich entweder die eigene 
Ueberlegenheit am fo ficherer fühlt oder eine kalte Gleichgültig— 
feit verborgen hält. Diefer Scheinglaube ift entweder Ironie 
ober Indifferenz, wenn er nicht Heuchelei ift. Will aber die 
Wiſſenſchaft eine folcdhe Hohfe und unwürdige Form nidjt ev- 
tragen, fo kann fie auf baconifcher Grundlage der pofitiven 
Religion gegenüber nur noch den Standpunkt der vollen Ver: 
‚werfung ergreifen. Unter demfelben Kriterium als ihr die 
Dffenbarung vorgeftellt und übergeordnet worden, verneint fic 
jet das pofitive Glaubensſyſtem; aus dem fcheinbaren Be— 
jahungsgrunde des Glaubens macht fie jegt deſſen ernftlichen 
und durdgreifenden Verneinungsgrund; unter dev Führung 
Bacon’8 und Bahle's wird die Aufklärung, wenn fie nicht 
ironisch, gleichgültig oder heuchlerifch fein will, vor aller Welt 
vollfommen ungläubig, die Religion wird in ihren Augen ein 





454 


Truggebilde, entweder Aberglaube oder Scheinglaube. Weber: 
zeugt davon, daß fie felbft heucheln müffe, um den Glauben 
an göttlihe Offenbarungen zu befennen, ift diefe Aufklärung 
ebenfo überzeugt, daß alle heucheln und geheuchelt haben, die 
jemals ſolche Dffenbarungen glaubten; wie fie felbit den 
Glauben, wenn fie ihn nicht offen verwirft, nur als Schein 
vor ſich herträgt, fo meint fie, fei zu allen Zeiten derſelbe 
nichts als Schein geweſen. Da dem Scheinglauben alle wah⸗ 
ren Gründe fehlen, fo erklärt man ihn aus nichtigen Grüns ' 
den, aus felbftfüchtigen und eigennüßigen. Wie diefe Aufflä- 
rung jelbft nur um äußerer Zwecke willen jenen Glauben an- 
nehmen könnte, jo meint fie, fei er ſtets nur um äußerer 
Zwede willen, nur ans weltlihen Abfihten bekannt worden. 
So verwandelt ſich im Geifte der baconifchen Aufklärung die 
geoffenbarte oder gefchichtliche Aeligion in ein Gebilde des 
menſchlichen Wahns, ihre Erflärungsgründe in ein Spiel felbft- 
füchtiger Zriebfedern, die ganze Geſchichte der Religion in einen 
Pragmatismus von „Aberglauben, Heuchelei und BPriefter- 
betrug”, mit einem Worte, in eine Srankheitsgefchichte des 
menſchlichen Geiftes. In biefer Stimmung gegenüber der 
Religion findet fich die Aufllärung des vorigen Sahrhunderts 
in England und befonders in Frankreich, fie hat fih in allen 
jenen Rollen vernehmen Taffen, welche Bacon und Bayle zwar 
nicht vorſchrieben, aber als die einzig möglichen übrig ließen: 
da ſie den blinden Glauben nicht annehmen konnte und in 
ihrer Denkweiſe keine Anlage zur Religion fand, ſo hat ſie 
mit dieſer ihr Spiel getrieben, fie bald mit überlegener Ironie, 
bald mit vornehmer Gleichgültigkeit behandelt und unter Um⸗ 
ftänden wohl auch geheuchelt. Wollte fie einmal in ihrer 
Weiſe ehrlich und kritiſch verfahren, jo behandelte fie die 


455 


pofitive Religion jo verächtlich als möglich und erklärte dic- 
jelbe der Art, daß nichts übrig blieb als „Aberglaube, Heu- 
helei und hierarchiſche Kunftgriffe‘; fie verwandelte, was als 
göttlihe Dffenbarung galt und geglaubt wurde, in ein Spiel 
menfhliher Willfür. Ihre Erklärungen der gejchichtlichen 
Religion waren ebenfo negativ als oberflächlich und feicht, fie 
fonnten nicht anders fein unter dem von Bacon und Bayle 
gegebenen Kanon, daß die Vernunftwidrigfeit der göttlichen 
Offenbarung deren Glaubwürdigkeit befräftige. Diefe Formel 
war doppelfeitig: die pofitive Seite enthüllte fih in Bacon 
und Bahle, die negative Kehrfeite in Bolingbrofe und Vol- 
taire.*) Hatte Bacon gefagt: „Je vernunftwidriger das gött- 
liche Myſterinm ift, um fo mehr muß es zur Ehre Gottes 
geglaubt werden‘, jo fagten jene: „um fo mehr muß man es 
zur Ehre der menfchlichen Bernunft verwerfen“. Im dem 
Lichte diefer Aufklärung erſcheint jener baconifche Ausſpruch, 
der die Glaubensfäge mit den Spielregeln verglich, verhäng- 
nißvoller und bedeutfamer, als er gemeint war. Bolingbrofe 
und Boltaire mit ihrem ganzen Gefolge dachten fich wirklich 
die Religion als ein Spiel, deffen Regeln unter den Scheine 
göttliher Offenbarungen die menfchlihe Willkür ſelbſtſüchtig 
erfunden habe, und fie erflärten die Religion, wie fie diefelbe 
vorftellten. Die Religion fo erfläven, hieß damals die Welt 
über die Religion aufffären. 

So fteht das Verhältniß zwifchen der pofitiven Religion 
und der baconiſchen Aufklärung. Es ift nur der Ausdrud 


*) Voltaire, Examen important de Milord Bolingbroke. (Euvr. 
compl., tom. 41. Remarques critiques sur leg pensees de Pascal, 
ton. 40, p. 395. 


456 


diefes Verhältniſſes, den wir barftellen. Wie fi eine Philo- 
fophie zur Religion verhält, daraus läßt fih ihre Denkart 
erfeunen: auf welcher Höhe fie fteht, wie weit ihr Geſichtskreis 
reiht, wie tief fie eindringt in die Natur der Dinge, vor 
Allem in die menjhlihe Natur. Wenn die Religion der 
Zräger ift des gefchichtlichen Lebens im Großen und bie Philo- 
fophie der Träger der wiffenfchaftlihen Bildung im Ganzen, 
fo darf man den Satz ausfprechen: wie ſich die Philofophie 
zur Religion verhält, fo verhält fie fich zur Geſchichte; ift fie 
unfähig, die Religion zu erklären, fo ift jie ohne Zweifel zur 
Geſchichtserklärung überhaupt nicht gemacht, fie wird nie die 
fremde Gemüthsverfaſſung und deren Triebfedern begreifen 
und immer das fremde Zeitalter nad der Analogie ihres 
eigenen beurteilen und meiftern, und das iſt ebenfo falſch, 
als wenn die Dinge in der Natur, wie Bacon zu fagen 
pflegte, nicht „ex analogia mundi”, fonbern „ex analogia 
hominis“ betrachtet werden. Die Philoſophie ift unfähig, die 
Religion zu erklären, wenn fie diefelbe entweder als Aberglaube 
verneint oder aus Triebfedern abkeitet, die alles find, nur nicht 
religiöfer Natur. So urtheilte die englifch- franzöfifche Auf- 
Härung in ihren freieften Köpfen, ihre Denkweiſe war von 
Natur ungeſchichtlich oder gefhichtswidrig; fie war in ihrem 
Urfprunge daranf angelegt, Religion und Philoſophie, Offen- 
bavung und Natur, Glaube und Vernunft zu trennen und 
innerlih zu entzweien. ‘Die Trennung, welche Bacon und 
Bayle in diefem Bunkte vollzogen, war in der That eine 
innere, vollftändige Entzweiung, die bald auch zu der ent- 
fpredhenden äußern Entzweinng führen mußte. Die Religion 
als Mittelpunkt des gefchichtlichen Lebens lag für die baconi- 
sche Denkweiſe jenfeits der Vernunft; jo ftand diefe Vernunft 


457 


ſelbſt jenfeits der Geſchichte, fie war in ihren Begriffen ebenfo 
ungefhichtlih, als ihr die Religion in ihren Dffenbarungen 
unvernünftig erfhien. Die Religion erſchien ihr nur theo- 
logiſch, fie felbft war nur naturaliftifh. Und wie die Reli⸗ 
gion, fo war die Geſchichte überhaupt für diefe Philofophie 
bas Ding an fi, die Grenze ihres PVerftandes; jene Grenze, 
welche Bacon und Bahle zwiſchen Religion und Philofophie 
aufgerichtet hatten, bildet in Wahrheit die Grenze ihrer Philo- 
fophie und ihrer Vernunft gegenüber der Geſchichte. Und es 
iſt Har, warum der baconifche Berftand diefe Grenze haben 
mußte, fein Zwed ift die nüglihe Weltkenntniß, das utilifti- 
sche Wiffen, feine wiffenfchaftlihe Methode die experimentelle 
Erfahrung; verglichen mit jenem Zwed muß die Religion als 
ein gleichgültiges Ding, vewglichen mit diefer Methode als ein 
itrationales erfcheinen. Die realiftifche Philofophie war ſchon 
in ihrem Urheber der Religion fremd und abgewendet, diefe 
fremde Denkweiſe wurde in Bacon's Nachfolgern eine feind- 
liche, deren innerfter Grund von Seiten der Philofophie Tein 
anderer war, als die Unfähigkeit, gefhichtlich zu denken. 
Anders urtheilte aus andern Geſichtspunkten die deutſche 
Aufklärung, die ſchon in ihrem Urfprunge auf eine Vereini- 
gung von Offenbarung und Natur, Glaube und Vernunft 
Bedacht nahm. Hier fteht unfer Leibniz im Gegenſatz zu 
Bacon und Bahle; diefen feinen Standpunkt zu vertheidigen 
und auszuführen, fchrieb er die Theodicee; gewiß war diefes 
Buch nicht das tieffte und erihöpfende Zeugniß feiner Philo- 
fophie, welde bis zu diefem Augenblide nur von wenigen 
richtig erfannt ift, aber es hatte feinen guten Grund, daß Die 
Theodicee die populärjte feiner Schriften und ein Leſebuch des 
gebildeten Europa wurde, fie war direct gegen Bayle gerichtet, 


458 


eine Confeſſion des deutfchen Geiſtes gegenüber dem englifch- 
franzöfifhen. Was Bayle als die negative Inftanz gegen alle 
ReligionspHilofophie, gegen allen Vernunftglauben hingeſtellt 
hatte, den menſchlichen Sündenfall, das Uebel in der Welt, 
fuchte Leibniz zu erflären, feine Theodicee war die einzige Er» 
klärung, womit damals die Philofophie der Religion die Hand 
reichte. Mit diefer Vereinigung war es Leibniz auch in feinen 
tiefften Begriffen ernft; er Hatte die Idee einer Vernunft- 
religion, welche ſich dem pofitiven Offenbarungsglauben nicht 
entgegenfette, fondern denjelben fi aneignen und in gewiffer 
Weife reguliven wollte. Aber hatte Bacon nicht auch diefen 
Gedanken einer „natürlichen Religion oder Theologie?” Nur 
dein Namen, nicht dem Weſen nah. Was Bacon natürlidye 
Religion nannte, war die Vorftellung Gottes, getrübt durch 
das Medium der Dinge, die Erfenntnig vom Dafein Gottes, 
geſchöpft aus ber Beobachtung einer zwedmäßig geordneten 
Natur, ein bedenkliher Schlußſatz, gezogen aus bedenflichen 
Prämiffen! Und alle Bedenken diefer Art bei Seite geſetzt, fo 
war die natürliche Religion, wie Bacon fie nahm, eine Bes 
trachtungsart des menschlichen PVerftandes, ein Stüd Philo- 
ſophie, aber Teinerlei göttliche Offenbarung, wie Leibniz fie 
anſah. Ihm galt der Begriff Gottes als eine Urthatfache in 
unferer Seele, als eine dem menſchlichen Geift angeborene 
Idee, die unmittelbar von Gott felbft Herrührte; daher war, 
was er natürliche Religion nannte, die natürliche Offenbarung 
Gottes im menſchlichen Geift, die mit den gefchichtlichen Offen⸗ 
barungen unmöglid im Widerftreit fein Tonnte, oder Gott 
ſelbſt Hätte fi widerfproden. Darum machte Leibniz in ge- 
wiffer Weife die natürliche Religion zum Kriterium der ger 





459 


offenbarten, ev wurde dev pofitive Kritiker des Glaubens, wie 
Bayle der negative. Was der menfchlihen Vernunft in ber 
pofitiven Religion widerſprach, follte nicht geglaubt, was fie 
überftieg, follte anerkannt werben; er unterfchied zwifchen dem 
Uebervernünftigen, wie er es nannte, und dem Widervernünf- 
tigen: eine im Geiſte feiner Philofophie keineswegs leere und 
unbegründete Unterfheidung. Bacon und Bahle Tonnten fie 
nicht machen, fie feßten das Mebervernünftige gleich dem Wider: 
vernünftigen und machten diefes zum Kennzeichen der Glau⸗ 
bensobjecte, weil fie alle geoffenbarte oder pofitive Religion 
aus der göttlichen Willkür ableiteten, die ohne jede beftimmende 
Nothwendigkeit, alfo grundlos oder vernunftwidrig handelt. 
Ganz anders dachte Leibniz, Er rechnete mit ber göttlichen 
Weisheit, und das war bei ihm fein bloßes Wort für eine 
erbauliche, im Uebrigen unverftändliche Eigenfchaft, fondern 
die Sekung eines Verftandes, dem die Vorftellung der ftufen- 
mäßig entwidelten Welt mit ber größten Deutlichleit ihrem 
ganzen Umfange nad inwohnt, Darin lag ſchon die Aufgabe, 
die pofitiven Religionen als gefchichtliche Entwiclungsftufen zu 
denen, alfo vernunftgemäß zu begründen, womit ber Streit 
zwifchen Vernunft und Offenbarung auf den Weg der Aus- 
ſöhnung einging. Aber bevor diefes Ziel herbortrat, fam es 
auch innerhalb der deutfchen Aufllärung zu einer Entgegen- 
ſtellung der natürlichen und pofitiven Religion, es folgte auch 
hier eine Phaſe der Aufklärung, die in jenen Gegenſatz gerieth 
und ihn fo ermithaft geltend machte, dag alle Wahrheit nur 
auf der einen Seite fi finden follte und deren völliges Gegen- 
theil nur auf der andern. Solange die natürliche Religion 
als die einzig mögliche und wahre galt, wie es bie wolfifche 


460 


Berjtandesaufflärung forderte, mußte der pofitive Offenbarungs- 
glaube als eine Scheinreligion angefehen werden, die ſich bei 
näherer Beleuchtung in ein Getriebe lauter weltlicher und felbft- 
ſüchtiger Meotive auflöfte. Aber die religiöfe Natur eines ge- 
fchichtlich gewordenen und befeftigten Glaubens läßt fi nicht 
vor dem Richterſtuhl der gewöhnlichen Logik nad dem Satze 
bes Widerſpruchs ausmachen, dev nach dem Schema: „ent 
weder wahr oder falfch” urtheilt, fondern eine ſolche Glaubens⸗ 
art will aus ihrem Urfprunge, aus den Bedingungen und der 
Sulturverfaffung ihres Zeitalters erfaßt und verjtanden fein. 
Mit dem eigenen Zeitalter und deſſen Denkweiſe verglichen, 
erfcheint die pofitive Religion nicht als Gegenfaß, fondern als 
Element und Grundlage diefer menſchlichen Bildungeftufe. 
Nun war die deutihe Aufffärung ihrer ganzen Anlage nad) 
dazu berufen, gefchichtlich zu denken, fie zeigte diefe Anlage 
ſchon in Leibniz, fie Löfte und entwidelte diefelbe in Windel- 
mann, Leffing und Herder, nachdem fie zuvor in Reimarus 
den Gegenfag zwifchen Vernunft und Offenbarung zum vollen 
Austrag gebracht hatte. Und .vor allen war es Leffing, der 
den gefchichtlichen Verſtand der deutfchen Aufflärung frei machte 
und in feiner „Erziehung des Menſchengeſchlechts“ den Gang 
der pofitiven oder geoffenbarten Religionen aus der Natur ber 
menfchlichen Entwicklung rechtfertigte. 

Wie Leibniz unter feinen Zeitgenoffen zu YBayle ftand, 
ähnlich ftand Leffing unter den feinigen zu Voltaire, und wie 
fi, jener von Lode und Bayle, biefer von Voltaire unter 
fcheibet, fo unterfcheidet fich die deutiche Aufflärung von der 
englifch- franzöfifchen. Ihre Grundlagen waren ſo verſchieden 
als die Völfer. Die von Bacon begründete Bhilofophie be⸗ 


461 


freite den natürlichen Berftand, gab ihn unter die Nichtichnur 
der Erfahrung, die auf die Äußere Natur der ‘Dinge gerichtet 
war und diefe um fo gründlicher zu erfaffen meinte, je völ- 
liger fie babei von der geiftigen Natur des Menfchen abſah. 
Unter diefem Geſichtspunkte mußte der Fortgang von ber 
Naturgefchichte zur Menſchengeſchichte unerleuchtet bleiben, die 
ganze Erfahrung war nad) baconifher Methode grundfäglich 
fo eingerichtet, daß fie die Brüde zur Menfchengefchichte Hinter 
ſich abgebroden Hatte und in den Gefichtöfreis, den ſie be- 
ſchrieb, blos die Naturgefchichte einfaßte. Das neue Organon 
war nicht darauf angelegt, die Weltgefchichte zu umfaffen und 
deren beide Reiche, Natur und Menjchheit, aus dem Grund 
gedanken einer gemeinfamen Weltentwidlung abzubilden. 
Diefer Grundgedanke trug die Teibnizifche Philofophie, bie 
im bewußten Gegenfat zu Bacon und Descartes die Natur 
nach menjchlicher Analogie vorjtellte als ein Stufenreih von 
Bildungen, das auf die Menfchheit und deren Entwidlung 
zuftrebt. Die Natur, wie fie Leibniz betrachtet, präformirt die 
Eulturgefchichte, indem fie den Menjchen organifirt, darum 
ift hier die Naturphilojophie Schon in ihrem Urfprunge darauf 
. ‚angelegt, Gefhichtsphilofophie zu werden. Eben dieje Anlage 
fehlt der baconifchen Lehre und muß ihr fehlen. Man wende 
mir dagegen weder Bacon's vortrefflicde Vorſchriften zur Ge- 
ſchichtsſchreibung noch feine eigenen Geſchichtswerke ein, denn 
ih rede jest nicht von feinen Weflerionen und Beichäf- 
tigungen, fondern von der grundſätzlichen Einrichtung feiner 
Philoſophie und der darin angelegten Weltanſchauung. Die- 
fer Weltanfhauung fehlte die philofophifche Vorftellung ber 
Weltgefchichte, das geichichtsphilofophifche Denken, ber ge- 





462 


ſchichtliche Verſtand. Und Buckle Hat in dem Eingange fei- 
nes befannten Werks ganz richtig bemerkt, daß Bacon wohl 
über Gefchichte gefchrieben, fie aber nit als ein Haupt- 
object genommen und offenbar lange nicht fo viel Nach—⸗ 
denfen auf fie verwandt Habe, als auf andere Gegen- 
ftänbe. 





Adıtzehnies Kapitel. 


Die baconifche Philoſophie in ihrem Verhältiß zur Ge: 
ihichte und Gegenwart. Bacon und Macanlay, 





- Es iſt zur Charakteriftil der baconischen Lehre wichtig, 
daß wir den eben bezeichneten Mangel näher verfolgen, denn 
ihre Vergleichung mit der Aufgabe der Gefchichtserflärung läßt . 
deutlich erkennen, daß ihr zur Löſung derfelben die Grund- 
bedingungen fehlen und wo Bacon felbjt Hand an die Sadıe 
legt, er mit feiner eigenen Methode in Widerftreit geräth. 

Wenn die Erfahrungsphilojophie fo weit reichen foll, als 
das Gebiet der wirklichen Thatſachen, fo erjtredt fich ihre 
Aufgabe ohne Zweifel auch auf das Gebiet der culturgefchicht- 
lichen ‘Dinge, die als Werke des menſchlichen Geiftes und be- 
dingt ftets durch die Grundlage religiöſer Gefittung nur erflärt 
werden Tönnen, wenn man diefen ihren Urfprung, die Natnr 
bes Geiftes und der Religion zu erleucdhten weiß. Bacon hat 
beides unerforfchlich und dem Lichte feiner Philofophie unzu- 
gänglich gefunden, offenbar ftößt er Hier an die Schranke fei- 
ner realiftiihen Denlart, indem er im Umfange berfelben die 
Nothwendigkeit einer Aufgabe anerkennt und zugleich das Un⸗ 
vermögen, fie wirklich aufzulöfen, einſieht; er hat die Forde⸗ 





464 


rung, die geſchichtlichen Erſcheinungen auch der geiſtigen Natur 
zu erklären, geſtellt, durch Vorſchriften, die nicht ſachgemüßer 
ſein konnten, verdeutlicht, aber keineswegs erfüllt; ſo oft er 
das geſchichtliche Gebiet betrat, hat ſich Bacon weniger erklä⸗ 
rend als beſchreibend verhalten, und wo er ſich an geſchicht⸗ 
lichen Objecten erklärend verſuchte, da waren diefe Verſuche 
nicht blos mit der geſchichtlichen, ſondern auch mit ſeiner eige⸗ 
nen Erklärungsmethode im augenſcheinlichen Widerſpruch. Dieſe 
hatte den richtigen Grundſatz, in der Auslegung nicht die 
Dinge nach uns, ſondern uns nach der Natur der Dinge zu 
richten, daher auch die menſchlich-hiſtoriſchen Erſcheinungen mit 
ihrem eigenen Maße zu meifen und aus ihrem Zeitalter heraus 
zu beurtheilen. Aber von diefem Grundfaß, den er fo drin- 
gend empfahl, befolgte Bacon in feinen eigenen gefchichtlichen 
Erklärungen das Gegentheil, er beurtheilte die frühern Phi⸗ 
loſophen, insbefondere Plato und Ariftoteles nicht nach ihrem 
eigenen Zeitalter, jondern lediglich fo, daß er fie mit feinen 
Begriffen verglih: was diefen zu entſprechen jchien, wurde 
bejaht; was widerfprad, wurde verneint und als Verkehrtheit 
verworfen. Er machte feine Philofophie zum Maße aller 
übrigen, er beurtheilte und erklärte die gefchichtlihen Erfchei- 
nungen der Wiffenfchaft lediglich nach diefer Analogie, die 
nicht fubjectiver fein Tonnte; ebenfo erklärte er „die Weisheit 
der Alten”, er fehte von den alten Mythen voraus, fie feien 
Barabeln, von diefen PBarabeln feßte er voraus, daß fie ge- 
wiffe natürliche und moralifhe Wahrheiten finnbildlich dar- 
jteliten, denen er feine eigenen moralifchen und phyſikaliſchen 
Begriffe unterfhob, fo follte die Fabel vom Eros mit Demo- 
krit's Naturphilofophie und diefe mit der feinigen übereinftim- 
men. Was aber find diefe VBorausfegungen anders als eine 





465 


Reihe von „Verſtandesanticipationen“, die an Willkürlichkeit 
mit einander wetieifern? Solche Anticipationen machte derjelbe 
Bacon, der dod an die Spite feiner Erflärungsmethode den 
Sat geftellt hatte: Teine „anticipatio mentis“, jondern nur 
„interpretatio naturae”, völlig vorurtheilsfreie und natur- 
gemäße Auslegung der Dinge! Darf von diefem Grundfaß 
irgend eine Ausnahme gelten? Wenn eine, warum wachen 
die Mythen bei Bacon felbft eine folche Ausnahme? Er erflärt 
fie durch vorgefaßte Begriffe, durch Anticipationen der will 
fürlichjten Art. Seine Erklärung verwandelt diefe Dichtungen 
in Gemeinpläte und begreift nichts von ihrer lebendigen Eigen- 
thümlichleit, nichts von ihrem gefchichtlichen Urſprung, nichts 
von ihrem poetifchen und nationalen Charakter. Aus der 
Porfie wird durch diefe allegoriſche Erklärung Profa, aus der 
griechifchen Dichtungsweife eine ungriechifche Denkweife. Außer- 
dem ift jede allegorifche Erklärung als ſolche teleologijch, denn 
fie jieht und erflärt von ihrem Dbjecte nichts als den didak⸗ 
tifchen Zwed, die Tendenz, welche fie feldft entweder unterlegt 
oder herausnimmt; jede Fabel hat ihre Moral, fie ijt ein 
Zweckproduct und will als ſolches erklärt fein, aber Bacon 
verwarf ja in der methodifchen oder ftreng wiſſenſchaftlichen 
Erftärungsweife alle Teleologie: warum erklärte er die Dich: 
tungen der Alten nur teleologiih? warum fah er in den My— 
then nur Fabeln? oder beſſer gefagt, warum machte er aus 
den Mythen Fabeln durch eine fehr naturwidrige und gewalt- 
ſame Erklärung, indem er ihnen Zwede unterſchob, die fie 
augenfcheinfich nicht hatten? Warum überhaupt galt ihm dic 
Allegorie als die höchſte aller Dichtungsarten? Die Allegorie 
ift ein proſaiſches Zwedproduct, das poetiſche Werk ift ein 
Genieproduct. Das geniale, dichterifche Schaffen ift dem 
Fifcher, Bacon. 30 


466 


natürlichen am nächften verwandt, die Werke ber Natur wollte 
Bacon ausdrücklich nicht durd) zwecthätige Kräfte erklärt wif- 
ſen, und doch follten nach ihm einer veflectirten Zwedthätigfeit 
die höchiten Werke der Poefie gelingen? Man fieht, wie 
naturlos und naturwidrig ſeinen eigenen Begriffen nad) Ba- 
con das Wefen der Poefie auffapte, wie wenig er deren natür- 
lihe Duelle erkannte. Die fchaffende Phantafic begriff er 
nicht, die Iyrifche Poeſie galt ihm als gar Feine und die alle- 
gorifche als die höchfte.*) 

Der bezeichnete Widerſpruch Tiegt deutlich am Tage. 
Bacon’ geihichtlihe Erklärungen und Urtheile widerſprechen 
der von ihm felbft eingeführten wiſſenſchaftlichen Erklärungs⸗ 
methode; dieje will die Thatfachen der Wirklichkeit aus ihren 
Urſachen begreifen, aber jie begreift nicht die Duelle der Poeſie, 
des Bewußtſeins, der Religion; fie verlangt eine Erklärung 
der Dinge ohne alle fubjective Vorurtheile, ohne alle menſch— 
fihe Analogien, aber Bacon's gefhichtlihe Erklärungen und 
Urtheile ftehen unter dem ausſchließenden Maßſtabe feiner 
Philoſophie. So erklärt er die Dichtungen und fo beurtheilt 
er die Syfteme der Vergangenheit. Soll man fagen, daß er 
diefe Widerſprüche hätte vermeiden, daß er feine wifjenfchaft- 
liche Methode auf die gefchichtlichen Objecte mit größerer 
Treue und mit mehr Erfolg hätte anwenden können, daß er 
nur durch einen zufälligen Mangel Hinter feinen eigenen Grund: 
fügen zurüdblieb? Dies wäre ebenfo voreilig als unrichtig 
geurtheilt. Vielmehr müfjen wir fagen, daß die baconifche 
Methode felbft zur Gefchichtserflärung nicht ausreicht, daß fie 
der geihichtlihen Realität nicht gleichfommt, daß fie grund- 


+, Bgl. oben Bud) IT, Kap. VII, ©. 269—83. 


467 


fätlih Begriffe ausfchließt, welche gefchichtlichen Kräften ent- 
ſprechen; daß Bacon im Grunde feine Methode bejaht, indem 
er ſcheinbar ihren oberften Borichriften zumwiderhandelt. Seine 
Methode ift berechnet auf die Natur, die fich vom Geifte fo- 
weit al8 möglich unterfcheidet, auf die geiftlofe, mechanische, 
blind wirkende Natur, auf die Natur, die man durd) das Er- 
periment zwingen Tann, ihre Gefete zu offenbaren, die ſich 
durch Hebel und Schrauben ihre Geheinmiffe abgewinnen läßt; 
diefe Methode will nichts fein als benfende Erfahrung, fie 
vereinigt Verſtand und finnlihe Wahrnehmung und fchließt 
grundfäklich die Phantafie aus von der Betrachtung der Dinge. 
Was aber durch Phantafie gemacht ift, kann das ohne Phan- 
tafie erklärt werden? Kann eine Erklärung, die ſich grundſätz⸗ 
lich aller Phantafie entfchlägt, noch paſſen auf Poefie und 
Kunft? Sie möge Mafchinen erflären, aber nicht Dichtungen. 
Kann ohne Phantafie die Religion, ohne Religion die Ge⸗ 
ſchichte erklärt werden? Läßt fich die Geſchichte, der Tebendige 
Menſchengeiſt beikommen durch Experimente? Durch welches 
Erperiment entdeckt ſich die bildende Kraft in den Dichtungen 
Homer's, in den Statuen des Phidias? 

Die baconiſche Methode ſelbſt iſt in gleichem Grade 
naturgemäß und geſchichtswidrig. Wo die Natur ihre Schranke 
hat gegenüber dem Geiſt, eben da liegt die Schranke der baco- 
nifchen Methode, ich fage nicht des baconifchen Geiſtes. Ba— 
con's gefchichtswidrige Urtheile find darum feiner Methode 
gemäß, diefe verlangt einmal für immer, daß feine andern 
Wahrheiten beftehen, als welche die Erfahrung in der Natur 
und im menfchlichen Leben beftätigt, jie verwirft einfach alle 
Philoſophie, welche diefe Erfahrungswahrheiten verfennt, fie 
will gefunden haben, daß in der älteften Zeit eine der Dich— 

30 * 


A468 


tung verſchwiſterte Philoſophie diefen Erfahrungswahrheiten 
am mnächften ftand, und näher als alle \pätern Syſteme; fie 
jet in ihrem Intereſſe voraus, dag der älteften Weisheit und 
der älteften Dichtung nichts Anderes zu Grunde Tiege, als die 
ihr gefälligen Erfahrungswahrheiten; diefe müſſen jich in den 
Mythen finden, die Erklärung derfelben muß unter diefem 
Geſichtspunkte geſchehen. Es ift alfo die baconifche Methode 
ſelbſt, welde der Gejhichtserflärung im Wege fteht. Sowe- 
nig die Natur, wie Bacon biefelbe begreift, den menfchlichen 
Geiſt ans ſich erzeugen kann, fowenig hat Bacon's metho- 
diſche Naturerklärung die Anlage, Geihichtserflärung zu wer- 
den, Wir unterfcheiden hier genau zwifchen Gefchichtserklärung 
und Geichichtsforfhung; jene erklärt und begreift die That 
ſachen, welche diefe auffucht, Feftftelft und befchreibt; fie unter- 
ſcheiden fich beide nad) baconifchen Begriffen wie Beichreibung 
und Erklärung, wie Hiftorie und Wiffenfchaftl. Nur von der 
Geſchichtswiſſenſchaft will ic) behauptet haben, daß die baco- 
nifhe Methode der pafjende Schlüſſel nit frei. Der Ge- 
Ihichtsforfchung dient fie, wie der Naturforihung, als ge- 
dichter Wegweifer, als einzig mögliche Handhabe, die That- 
jahen aufzufinden und zu conftatiren. Das Erſte ift überall 
die quaestio facti; Thatfachen können überall, ob jie der Nas 
tur oder der Gejichichte angehören, nur auf baconifhenm Wege 
gefunden werden; um jie zu finden, bedarf der Geſchichts⸗ 
forfcder, wie der Naturforjcher, der eigenen Erfahrung und 
Beobachtung, er muß feine Thatfahen aus felbftgepräften 
Quellen fchöpfen; um diefe Thatfachen zu fichten, muß er eine 
vergleichende Quellenkritik üben, die nicht ftattfinden Tarın ohne 
eine forgfältige Abwägung der pofitiven und negativen Inftan- 
zen, die ſich mit ähnlichen Mitteln verkürzen und befchleunigen 


469 


läßt, als Bacon im feinen Organon dem Naturforfcher an: 
deutet. Das Finden des Thatſächlichen ift in allen Fällen das 
Reſultat eines richtigen Suchens, und eben dieſes hat Bacon 
für alle Fälle formulirt; die gefhichtlichen Thatſachen entdeden 
ſich, wie die natürlichen, nur durch richtige Erfahrung, und 
deren Logik hat Bacon für alle Fälle gezeigt. Ein Anderes 
aber iſt Naturerklärung, ein Anderes Geſchichtserklärung; 
beide unterſcheiden ſich wie ihre Objecte, Natur und Geiſt, 
und hier hat Bacon ſelbſt, deſſen Verſtand größer war als 
feine Methode, eingeräumt, daß die leßtere nicht im Stande 
fei, den Geift zu erklären. Die Natur stellt ihn nur That: 
ſachen gegenüber, die Geſchichte ftellt feinen Begriffen andere 
Begriffe und Borftellungsweifen entgegen, weldye Bacon ver- 
neinen muß, um die feinigen zur Geltung zu bringen. Die 
geſchichtlich gewordenen Begriffe erfcheinen ihm als „idola 
theatri”, diefen Idolen gegenüber verwandelt ſich feine Mie- 
thode und feine Philofophie in cine „anticipatio mentis”. 
Die Ungältigkeit aller frühern Syſteme wird in Bacon zum 
Geſchichtsvorurtheil, und an diefes Vorurtheil knüpfen fid) 
feine gefhichtlihen Erklärungen und Urtheile. Er deukt nur 
an die Gegenwart und die Zukunft, die ex bereichern und von 
dev Vergangenheit losreißen will; darum verneint er die Vers 
gangenheit, aber die Vergangenheit ift die Gefchichte. 

So begreiflih und groß diefe Denkweiſe in Bacon er- 
iheint, der zu einer Reformation der Wiſſenſchaft berufen 
war, fo befremblih und weniger groß will es uns fcheinen, 
wenn in unfern Tagen ein bedeutender Gefchichtsichreiber die 
baconifche Denkweiſe unbedingt befennt und mit einer con 
feffionellen Einfeitigfeit hervorhebt, die ihren Urheber ſelbſt 
fremd war. Es befremdet uns, heute eine Denkweiſe feitge- 





470 


halten zu fehen mit dem ausſchließenden Charakter, der vor 
drittehalb Jahrhunderten nöthig war, um die Epoche zu machen, 
welche in den Bedingungen der Zeit lag, fie feitgehalten zu 
fehen von einem Hiftorifer, der mehr als jeder Andere den 
Unterjchied der Zeiten fühlen und Vor Allem den gefchicht- 
tihen Gefihtspunft gegen den phyſikaliſchen aufrechthalten, 
wenigften® die Grenze beider nicht überfehen follte, die Bacon 
jelbit beachtet hat. Indeffen Macaulay redet „der praftifchen 
Philojophie‘, die er mit Bacon's Namen bezeichnet, unbedingt 
das Wort gegen die „theoretiſche“; er wiederholt in dieſer 
Rückſicht die baconifche Kritik des Alterthums, indem er fic 
fteigert. Auf dieſen Punkt hat Macaulay allen feinen Nach⸗ 
drud gelegt: auf die praftifhe Philofophie gegenüber der 
theoretifchen, er drüdt die Wagſchale der erften mit allen mög- 
lihen Gewichten fo herab, daß die Wagfchale der andern in 
die Luft fliegt und alles Gewicht verliert. Macaulay verbin- 
det die praftifchen Intereffen, wie er fie nennt, ebenfo rück⸗ 
haltslos und folidarifch mit der baconifhen Philofophie, als 
ihr de Maiſtre die religiöjen Intereſſen entgegenjeßte; in dem 
Verhältniſſe beider zu Bacon fpiegelt ſich treffend der Gegen: 
ſatz des englifchen Utiliſten und des franzöfifchen Romantikers. 
Unter ſich verglichen, find die beiderfeitigen Schäkungswerthe 
Bacon's fehr verfchieden, und im Falle dev Wahl Tann fein 
Zweifel fein, welchen wir vorziehen; aber verglichen mit dem 
Gegenftand felbft, find beide unrichtig und übertrieben im belle- 
triſtiſchen Stil, der nicht gemacht ift, die Wahrheit zu treffen. 
Aus dem Philofophen Bacon möchte Maiftre den Satan der 
Bhilofophie machen, Macaulay deren Gott; ſolche Uebertrei- 
bungen mögen NRomanlefer unterhalten, belehren Tünnen fie 
feinen. Mit de Maiftre haben wir gerechnet; Macaulay 


41. 


gegenüber find zwei Fragen zu erörtern: wie fteht es mit 
jenem Gegenfag zwijchen „praktiſcher und theoretifcher Philo: 
ſophie“, den er fortwährend im Munde führt, und was hat 
feine praktische Philofophie mit Bacon zu jchaffen? 
Macaulay enticheidet über das Schidfal der Philofophie 
mit einer fchnelffertigen Formel, die, wie viele ihres Gleichen, 
durch Worte blendet, hinter denen nichts ift, Worte, die immer 
unflarer und leerer werden, je näher man fie unterfudht. Er 
jagt: die Philofophie foll un des Menſchen willen da fein, 
nicht umgelehrt der Menſch für die Philofophie, im erften 
Fall ift fie praftifh, im zweiten theoretifch; jene wird von 
ihm bejaht, diefe verneint; von der einen Tann er nicht groß 
genug, von der andern nicht verächtlich genug reden. Praktiſch 
im Sinne Macaulay’s ift die baconifche Philofophie, theore- 
tifeh die vorbaconifche, insbejondere die antife. Diefen Gegen 
ſatz treibt er auf die Spitze und läßt uns den übertriebenen 
nicht in nackter Geſtalt, ſondern in bildlicher Verkleidung ſehen, 
in wohlberechneten Figuren, ſodaß immer das impoſante oder 
reizende Bild bie praktiſche Philoſophie und das widerwärtige 
die theoretiſche ausdrückt; mit dieſem Spiel gewinnt er die 
Menge, die nach den Bildern greift, wie die Kinder. Aus 
der praktiſchen Philoſophie macht Macaulay (weniger ſein 
Princip als) feine Pointe und aus der theoretiſchen feine Ziel: 
icheibe. Dadurch bekommt der Gegenfat etwas von drama- 
tiſchem Reiz, von energijcher Spannung, die fi) unwillfürlic) 
dem Lefer mittheilt, diefer vergißt darüber ganz die wifjen- 
chaftlihe Frage, und wenn der Schriftfteller außerdem Bilder 
und Metaphern nicht fpart, womit er die PBhantafie feiner 
Lefer zu ergößen weiß, jo ift er ihrem Verſtande nichts mehr 
Ihuldig, jedes feiner Worte gilt für einen Treffer, für einen 





. 412 


Apfelſchuß. Wer mit einiger Schnelligkeit, mit einigem dra- 
matiſchen Effect Grundfäge in Pointen, Begriffe in Metaphern 
zu verwandeln weiß, der kann auf Koſten der ſchlichten Wahr- 
heit unglaubliche Triumphe feiern; wir erleben es oft genug, 
bag unter folchen Kormen jeder Unfinn fein Glück madt und 
felbft das verfehrtefte Zeug nicht ſicher ift vor der öffentlichen 
Verehrung. Ein Gran Wahrheit wird durch lecrre Wortfünfte 
jo aufgeblafen, daß er in den Augen der Menge, die nad) dem 
Scheine urtheilt, Centner überwiegt. Was will es heißen, 
wenn Macaulay jagt: die Philofophie ſoll für den Menſchen 
ſein, nicht der Menſch für die Philoſophie? Wenn er die 
theoretiſche deshalb verneint, weil ſie ſich zum Zweck, den 
Menſchen zu ihrem Mittel mache, und die praktiſche deshalb 
bejaht, weil ſie ſich zum Mittel mache und den Menſchen zum 
Zweck? Wenn nach ihm die praktiſche Philoſophie ſich zur 
theoretiſchen verhält, wie Werke zu Worten, wie Früchte zu 
Dornen, wie eine Heerſtraße, die weiterführt, zu einer Tret⸗ 
mühle, wo man ſich immer auf demſelben Flecke herumdreht? 
Bei ſolchen blendenden Reden fällt mir allemal das ſokratiſche 
Wort ein: „Geſagt ſind ſie wohl, ob ſie auch gut und richtig 
geſagt ſind?“ Nah Macaulay zu urtheilen im ſtrengen Ver- 
ftand feiner Worte, fo war niemals in der Welt eine Philo- 
Sophie praftifch, denn es Hat nie eine gegeben, die blos aus 
jogenannten praftifchen und nicht zugleich philofophifchen Inter: 
eifen entitanden wäre, ebenfo wenig war je in der Welt eine 
Philoſophie theoretifch, denn es hat nie eine gegeben, die nicht 
ein menfchliches Bedürfniß, alfo ein praktiſches Intereſſe zu 
ihrer Triebfeder gehabt hätte. Man fieht, wohin das dreifte 
Wortfpiel führt, es beſtimmt die theoretiſche und praktiſche 
Philoſophie fo, daR die Erklärung auf fein einziges Beiſpiel 





413 


der Philofophie paßt. Die Antithefe ift vollkommen nichte- 
fagend. Laffen wir die Antithefe und bleiben bei der näch—⸗ 
ternen und verftändlihen Meinung: daß aller Werth der 
Theorie von ihrer Brauchbarfeit abhängt, von ihrem praf- 
tifehen Einfluß aufs menſchliche Leben, von dem Nuten, den 
wir daraus löſen. Der Nuten allein foll über den Werth 
der Theorie entſcheiden, es möge fein, aber wer entfcheibet 
über den Nutzen? Nützlich ſei alles, was zur Befriedigung 
menschlicher Bebürfniffe dient, entweder als Object oder als 
Mittel; aber wer entjeheidet über unjere Bedürfniſſe? Wir 
ftellen uns ganz auf Macaulay’s Gefichtspunkt und ſtimmen 
ihm bei: die Bhilofophie foll praktifch fein, fie fol dem Men- 
hen dienen, feine Bedlirfniffe befriedigen oder zu deren Be⸗ 
friedigung Helfen; wenn fie es nicht thut, fo fei fie unnüß 
und darım nichtig. Wenn es mim in der Menſchennatur Be⸗ 
dürfniſſe giebt, die gebieterifch Befriedigung fordern, die nicht 
befriedigt uns das Leben zur Qual machen: ift nicht praftifch, 
was dieſe Bedürfniſſe befriedigt? Wenn darunter einige der 
Art find, daß fie ſchlechterdings nur durch Erfenntniß, affo 
durch theoretiſche Betrachtung befriedigt werden Können: iſt 
diefe Theorie nicht nützlich, muß fie es nicht fein, ſelbſt in den 
Augen des ausgemachteften Utlliften? Über es Tünnte Teicht 
fein, daß in der menfchlichen Natur mehr Bedürfniffe Liegen, 
als der Utifift fi einbildet und Wort Haben will, daß alle 
menfchlichen Bebürfniffe fi) nicht mit dem Bischen begnügen, 
das ihnen der Utiliſt zur Befriedigung anbietet; es Tönnte 
fein, daß dem Utiliſten, was er theoretiſche Philofophie nennt, 
nur darum unnütz und unfruchtbar fcheint, weil feine Begriffe 
vom Menfchen zu eng, zu wenig fruchtbar find. Wie man 
fich den Menſchen vorfiellt, darauf kommt hier alles au, fo 


474 


beurteilt man feine Bedürfniffe, und je nachdem diefe enger 
oder weiter gefaßt werben, fo beurtheilt man den Nuten ber 
Wiſſenſchaft und den Werth der Philofophie. Aber es ift eine 
gewagte und eigentlich unziemlihe Sade, von vornherein zu 
befehlen: ihr dürft nur fo viel Bedürfniffe haben, darum 
braudt ihr auch nur fo viel Philofophie! Ein leicht gewonue- 
nes Spiel! Aehnlich machen es heut zu Zage unfere Mode⸗ 
peffimiften, die Recht haben, wenn wir fo gefällig jein und 
alles als Miſere und eitel Elend empfinden wollen, was auf 
ihrem Papier unter der Ueberſchrift: „Unluſt“ figurivt. Wenn 
ih Macaulay's Beifpielen trauen darf, fo find feine Vorſtel⸗ 
ungen von der menjchlichen Natur nicht fehr ergiebig. „Wenn 
wir genöthigt wären”, fagt Macaulay, „zwiſchen dem erften 
Schuhmacher und Seneca, dem Berfaffer der drei Bücher über 
den Zorn, unfere Wahl zu treffen, fo würden. wir und für 
den Schuhmacher erflären. Der Zorn mag ſchlimmer fein als 
die Näffe. Aber Schuhe haben Millionen gegen Näffe ge= 
(hüßt, und wir zweifeln, ob Seneca jemals einen Zornigen 
befänftigt hat.“ Ich würde mir nicht den Seneca zur Ziel— 
icheibe nehmen, um die theoretifche Bhilofophie zu treffen, noch 
weniger, die Miacaulay dem Seneca vorzieht, zu Bundes⸗ 
genoffen machen, um die Theoretifer in die Flucht zu fchlagen. 
Mit folden Hülfstruppen wäre es möglid. In der That, 
Macaulay wirft in die Wagſchale, die er ſchwer machen wilt, 
noch ganz andere Dinge als das Eifen des Brennus! In⸗ 
deffen follte ex nicht zweifeln, fondern wiffen, ob die Betrach⸗ 
tungen eines Philofophen (und wenn es ſelbſt Sencca wäre) 
wirklich nichts gegen die Leidenfchaften vermögen, ob fie bie 
menſchliche Seele nicht gleihmüthiger und gegen die Todes⸗ 
furcht ftärker machen können, als fie ohne diefelben fein würde; 





475 


Aber um dem Beifpiel das Beifpiel entgegenzufegen, fo fennt 
die Welt einen Philofophen, weit tieffinniger al8 Seneca und 
in Macaulahy's Augen ebenfalls ein unpraftifcher Denker, in 
welchem die Macht der Theorie fo viel größer war als bie 
Macht der Natur und das gemeine Bebürfniß: feine Geban- 
fen allein waren e8, Die den Sokrates heiter machten, als 
er den Giftbecher trank! Giebt es unter allen Uebeln ein ſchlim⸗ 
meres als die Zodesfurdt, das fchredliche Abbild des Todes 
in unferer Seele? Und das Mittel gegen diefes fchlinmfte 
der phyſiſchen Uebel wäre nicht praftifch im höchſten Sinn? 
Es gibt freilich fehr Viele, die den Tod lieber los fein möd)- 
ten als die Zodesfurdt, die lieber in diefem Wall ihr Leben 
verlängern, als in allen Fällen fo geräftet fein wollen, daß 
fie dem Tode kalt und Beiter ins Angeficht fehen können. 
Diefe alle würden den Sokrates für praftifcher halten, wenn 
er den Rath des Kriton befolgt und aus bem Gefängniffe 
Athens geflohen wäre, um altersſchwach in Böotien oder fonft 
wo zu fterben; dem Sokrates felbft fchien es praftifcher, in 
dem Gefängniffe zu bleiben und als ber erfte Zeuge der 
Geiftesfreiheit von den Höhen feiner Theorie emporzufteigen 
zu den Göttern. So entjcheidet in allen Fällen über den 
praktifchen Werth einer Handlung oder eines Gedaulens das 
eigene Bedürfniß und über dieſes die Natur der menfchlichen 
Seele. So verichieden die Individuen und die Zeitalter, fo 
verfchieden find in beiden die Bedürfniſſe. Macaulay macht 
ein beftimmtes Geſchlecht menjchlicher Bebürfniffe, dic des ge- 
wöhnlichen Lebens, zum Maßſtabe der Wifjenfchaft, darum 
verneint er die theoretifche und verengt die praftifche Philo⸗ 
ſophie. Dieſe entfpriht fo wenig ihm felbft als der Natur 
des menſchlichen Geiftes; hätte Macaulay nicht mehr Bcdürf- 





476 


niffe und höhere, als weiche feine praftifcdhe Philojophie be- 
friedigt, fo wäre er nicht ein bedeutender Gefchichtfchreiber, 
fondern eher von denen einer geworden, die er dem Seneca 
vorzieht. Seine praktiſche Philofophie verhält fi zum menſch⸗ 
lichen Geift, wie ein enger Schuh zu den Füßen, fie drüdt, 
und ein drüdender Schuh ift ein böſes Schugmittel gegen bie 
Näffe! 

Man erleichtert das menschliche Leben nicht, wein man 
die Wiffenfchaft einſchränkt. Der Verfuch fie zu dämmen, fo 
gut er. gemeint, fo wohlthätig ſelbſt er für den Augenblick fein 
mag, ift allemal ein Verſuch, den Wiffenstrieb ſelbſt in der 
menſchlichen Seele zu zerjtören, und gelingen auf die Dauer 
kann der erſte Verſuch nur unter der Worausfekung des ge- 
lungenen zweiten. Solange fid) das Bedürfniß zu wiffen in 
unſerm Innern vegt, folange müſſen wir, um dieſes Bebürf- 
niß zu Stillen, in diefer rein praktiſchen Abficht, nach Erkennt— 
niß in allen Dingen, ftreben, auch in folchen, deren Erklärung 
nichts beitvägt zur äußern Wohlfahrt, die feinen andern Nutzen 
ftiftet al8 die geiftige Klarheit, die fie erringt. Solange 
Keligion, Kunft, Wiffenfchaft thatfächlich cexiftiren als eine 
geiftige Schöpfung neben der phufifchen, und dieſe ideale Welt 
wird nicht eher aufhören als die materielle, folange wird es 
dem Menfchen Bedürfniß fein, fi auf diefe Dinge zıı richten, 
neben dem Abbilde der Natur ein Abbild jener idealen Welt 
in fi darzuftellen, d. 5. mit andern Worten, er wirb durd) 
ein inneres Bedürfniß praktifch gendthigt, feinen Geift theore- 
tif auszubilden. Das haben die Alten in ihrem Sinne ge= 
than, das Mittelalter in dem feinigen, wir thun e8 in dem 
unfrigen. Es ijt wahr, die Theorien ber Alten taugen nicht 
mehr fir unfere Bedürfniffe, ſowenig als die der Scholaftifer, 


477 


denn unfere Welt ift eine andere geworden und mit ihr unfer 
Sinn. Aber deshalb jene Theorien unbedingt verwerfen, das 
heißt den Sinn verkennen, der ihnen als Bedürfniß zu Grunde 
lag, das heißt das Altertum mit fremden Geifte beurtheilen 
oder über deſſen Theorien eine nicht zutreffende und deshalb 
unfruchtbare Theorie aufftellen, die unter die Hirngeſpinnſte 
zählt: dieſe ungefchichtliche Dentweife war Bacon's Mangel, 
den Macaulay theilt. Ju Bacon's Augen waren die Theorien 
des claffiihen Alterthums Idole, diefe baconifche Theorie vom 
Alterthum ift ein Idol in den unfrigen; ihm erſchienen die 
Syfteme des Blato und Ariftoteles als „idola theatri”, uns 
erfcheinen gerade diefe Anfichten Bacon's als „idola specus‘ 
und „fori“, als perfönliche und nationale Vorurtheile. Ba⸗ 
con hat hier den Geift der Gefchichte jo ſehr verfehlt, als die 
Alten nad) feiner Meinung je die Geſetze der Natur verfehlt 
haben. 

Aber die Theorie überhaupt, nicht blos die der Ver⸗ 
gangenheit, fondern die ganze in Betrachtung aufgehende 
Beiftesart verwerfen, weil fie nicht unmittelbar auf das praf- 
tifhe Leben einwirft, das iſt nicht blos eine Verblendung 
gegen die Geſchichte, ſondern gegen den Menfchen und die 
Bedürfniſſe der Humanität, das heißt einen Trieb in Men⸗ 
chen überjehen, der zu den Bedingungen unferer Natur ge- 
hört: diefe naturwidrige Denkweife ift der Mangel Macaulay's, 
den Bacon nicht theilt. Bacon dachte zu groß von dem pral- 
tiſchen Menſchengeiſte, un den theovetifchen zu verkleinern oder 
zu verengen, er wollte jenen zur Weltherrichaft führen, darımı 
mußte er diefen zur Welterfenntniß erheben; er wußte wohl, 
dag unfere Macht in unferm Wiffen befteht, darum wollte er, 
um mit feinen Worten zu reden, im menfchlichen Geift einen 


478 


Tempel gründen nad dem Muſter der Welt. Nah ihm follte 
die Wiffenfchaft ein Abbild der wirklichen Welt fein, das er 
nicht ausführen Fonnte, das er aber gewiß im Laufe der Jahr⸗ 
hunderte ausgeführt wiffen wollte; an diefem Abbilde follte 
nah Bacon's Abficht nichts fehlen, auch nicht das Mindefte, 
denn Alles was da ift, dachte Bacon, Hat ein Recht gewußt 
zu werden, und der Menſch hat ein Intereffe, Altes zu wiſſen. 
Ihm ſchwebte die Wiffenfchaft vor wie ein Kunftwerf, beffen 
Boliitändigkeit ihm Selbftzwed war; fein großer Geift fah, 
daß die vollftändigfte Wiſſenſchaft auch die vollftändigfte Herr: 
haft begründe, daß die Lücke in der Wiffenfchaft die Ohn⸗ 
macht im Leben fei. In Bacon’8 Augen erfcheint die Theorie 
als ein Tempel, aufgeführt im menfchlichen Geifte nach dem 
Muster der Welt; in den Augen Macaulay's als ein beque- 
med Wohnhaus nad) den Bedürfniffen des praftifchen Lebens! 
Dem Letztern genügt c8, die Wiffenfchaft fo weit auszubauen, 
daß wir mit unfern fieben Sachen ſchnell ins Trockne kommen 
und vor Allem gegen bie Näffe geſchützt find. Die Herrlid)- 
feit de8 Baus und ferne Vollftändigfeit nach dem Vorbilde der 
Welt ift ihm unnüßes Nebenwert, überflüffiger und fchädlicher 
Luxus. So bürgerfid) Mein dachte Bacon nit. Ihm war 
es mit der Wiffenfchaft Ernft im großen Sinn, er verwarf 
nur die Theorien, welche feiner Anficht nach die wahre ver- 
berben. Was ihm als falfches Abbild der Welt erfchien, warf 
er weg als Grundriß, wonach man Sahrhunderte lang nichts 
gebaut Hatte als Luftſchlöſſer; unter diefen Grundriffen fand 
er in der älteften Zeit einige, die zwar nicht Abbilder, wohl 
aber, wie es ihm ſchien, Sinnbilder der Welt waren, und er 
juchte fie in feiner Weife zu entrüthſeln. Macaulay ift Hier 
erjtaunt, bis zu welchem krankhaften Grade fid) in Bacon das 





479 


Talent für Analogien verftieg, aber den Zufammenhang diefes 
Talents mit Bacon’8 Methode fieht er nicht ein; er fieht nicht, 
dag Bacon gerade hierdurch die Hülfsmittel fuchte, den Be⸗ 
dürfniffen der Theorie weiter zu folgen, als feine Methode 
erlaubte, um ben Tempel der Wiffenfchaft weiter und höher 
hinauf zu bauen, als feine Inſtrumente zureichten. Macaulay 
verkleinert Bacon, inden er ihn großmadhen und über alle 
Andern Hinwegheben will. Hätte er Bacon's Geift jo begrif- 
fen, wie diejer die Welt, fo hätte er anders entweder von 
Bacon oder von der Theorie geurtheilt. Sein Irrthum iſt, 
daß er ein Gefchichtsporurtheil Bacon's zu einem Gefeß der 
Bhilojophie machen will, daß cr dieſes Geſchichtsvorurtheil 
wiederholt und fteigert, als 0b es Heute noch jo gerecht, noch 
fo begreiflich wäre als damals. Bacon's Geſchichtsvorurtheile 
erflären ſich aus der Bildungsſtufe feines Zeitalters, recht⸗ 
fertigen fi) vor Allem aus feiner eigenen geſchichtlichen Stel- 
lung; er ſollte die Wiffenfchaft umbilden und dem neuen Geijte, 
der vor ihm fchon auf Kirchlichem Gebiete durchgebrochen war, 
jest auf dem wiffenfhaftlichen die Bahnen öffnen und anwei- 
jen; darum mußte er die Theorien der Vergangenheit von fid) 
ftoßen. Die Begründer des Neuen find felten die beiten Er- 
klärer des Alten, fie können es nicht fein, denn das Alte ftcht 
ihnen al8 ein Fremdes gegenüber, welches fie den Beruf haben, 
ans ber Anerkennung der Menfchen zu verdrängen. Erft fpä- 
ter kehrt das Vernichtete ala ein zu Erflärendes in den menjch- 
lihen Geſichtskreis zurüd, und dann ift der Zeitpunft gefom- 
men, ihm wahrhaft gerecht zu werden. Dieſe Gerechtigkeit 
liegt nicht in der Aufgabe reformatorifcher Geifter. Wenn 
man wiſſen will, welcher gefchichtlihe Werth der antifen und 
ſcholaſtiſchen Philofophie gebührt, mug man nicht Bacon und 





—— — —— — .__ __ 


nr 


480 


Descartes fragen, und der größte Reformator, den die Philo— 
jopbie gehabt Hat, Immanuel Kant, vermodte unter allen am 
wenigften, ihre Vergangenheit zu erklären, er ſah und zielte 
nur auf die eine verwundbare Stelle, diefe traf er, und alles 
Uebrige fümmerte ihn wenig. Gerade diefer fchroffe und dic- 
tatoriſche Charakter, der unter feinem Geſichtspunkte Jahr⸗ 
hunderte der Wiffenfchaft zufammenfaßt und verwirft, unter- 
jtügte fowohl in Bacon als in Kant das Krneuerungswerf 
der Philoſophie. Man wende uns nicht Leibniz eim, der troß 
feines veformatorifchen Berufs doch fo eifrig beftrebt geweſen 
jet, dem Alten in jeder Rüdficht gerecht zu werben, feine Stel- 
fung war eine ganz andere al8 die Bacon's und Kant’s; er 
hatte nicht wie jene einen neuen Geift zu fchaffen, Sondern 
einen fchon vorhandenen neuen Geift, der von Bacon und 
Descartes ausgegangen war, zu veformiren; diefen wollte er 
von feiner infeitigleit befreien, von feinen ausfchließenden 
und fpröden Verhältniß zum Alterthum und zur Scholaftif, 
und fo wurde in ihm die neue Lehre unwillkürlich eine Wieder: 
herftellung der alten; feine Reformation war zugleid eine 
„Rehabilitation“. 

Was in Bacon's inne richtig und zeitgemäß wear, ift 
es heute nicht mehr; er durfte die Bhilofophie der VBergangen- 
heit für unpraktifch erklären und diefes fummarifche Urtgeil 
dadurch befräftigen, daß er die Philofophie der Zukunft machte; 
aber es iſt ebenfo unrichtig als zeitwidrig, wenn man heute 
Bacon's UÜrtheil über das Alterthum noch fefthalten und unter 
den Anfehen feiner Philofophie aller Theorie den Krieg ertlä- 
ren will. Cine folde Erklärung ift in jedem Sinn, was fie 
in feinem fein möchte, eine unpraktiſche Theorie. Bacon's 
Philoſophie ſelbſt war, wie e8 in der Natur jeder Philoſophie 





481 


fiegt, nichts Anderes als Theorie: fie war die Theorie des 
erfinderifchen Geiftes. Große Erfindungen bat Bacon feine 
gemacht, er war weit weniger erfinderifh als Leibniz, der 
deutfche Metaphyſiker. Wenn man Erfindungen machen „prabk⸗ 
tiſche Philofophie‘ nennt, fo war Bacon ein bloßer Theore- 
tifer, jo war feine Philofophie nichts als die Theorie ber 
„praktiſchen Philofophie”. Bacon wollte die Theorie nicht 
einſchränken, fondern verjüngen und ihr einen größern Ge⸗ 
fihtöfreis geben, als fie je vor ihm gehabt Hatte. Ich weiß 
nicht, mit welchen Augen man Bacon’8 Schriften gelefen haben 
muß, wenn man ihren Geift in einem engern Sinn auslegt; 
neben der männlichen Kraft, die fich zu großen Thaten berufen 
und tüchtig weiß, athmen diefe Schriften den unwiderftehlichen 
Seift der Jugend und des Genies, in dem Neues erwadt ift, 
das fi in feiner Kraft fühlt und diefes Selbftgefühl überall 
offen und ungeſchminkt ausfpriht. Der nüchterne Gedanke 
redet hier nicht felten die Sprache der Phantafie, und die ge- 
meinnüßige, praktiſche Aufgabe, die er verfolgt, erfcheint in 
feiner Darftellung oft wie ein jugenblihes Ideal, das ſich 
gern durch bedeutende Bilder und große Beiſpiele fteigert. 
Was uns insbejondere hier fo mächtig und eigenthümlich an⸗ 
zieht, daß wir nicht blos mit Bacon denken, ſondern ganz mit 
ihm fühlen können, das iſt neben dem Gewichte ſeiner neuen 
Ideen der erwachte leidenſchaftliche Wiſſensdurſt, der ihn fort⸗ 
reißt und alle ſeine Entwürfe durchdringt, dem er zwar immer 
mit beſonnenem Verſtande vorhält, daß er ſich zähmen, zurück⸗ 
halten, nicht überſtürzen ſolle, dem er aber niemals befiehlt, 
zu erlöſchen oder mit Wenigem ſatt zu fein. Nein! Der 
Trank, den Bacon haben will, ift aus zabllofen Trauben 
gepreßt, freilih nur aus foldhen, bie reif und gezeitigt, gekel⸗ 
Fiſcher, Bacon. öl 


482 


tert, gereinigt und geklärt find. Der Bacon, welder uns aus 
feinen Schriften entgegentritt, Tennt keine Grenze des Willens, 
foweit die Welt reicht, fein ne ultra, feine Säulen des 
Hercules für den menfchlichen Geift, das find nicht unfere, 
fondern feine eigenen Worte, er Hätte fonft nicht feine Bücher 
über den Werth und die Vermehrung der Wiffenfihaften ge- 
ſchrieben. Diefe Schrift beweift am beſten, wie weit in Ba⸗ 
con’8 Geift die Theorie reichte, daß er fie nicht befchränfen 
und eindämmen, fondern erneuern und bis an die Grenzen 
bes Univerfums ausdehnen wollte Sein praftifcher Maßſtab 
war nicht der bürgerliche, fondern der menfchlihe Nuten, zu 
dem das Willen als folches gehört. In dem zweiten Bud 
jenes Werts fagt Bacon, indem er ben König anrebet: „Eurer 
Majeſtät geziemt es, nicht blos Ihr Iahrhundert zu erleuchten, 
fonbern auch darauf Ihre Sorgfalt zu erftreden, was aller 
Nachwelt, fogar der Ewigkeit Stand hält. Und in diefer 
Rückſicht gibt es nichts, das werthvoller und herrlicher wäre, 
als die Vereblung der Welt durch die Vermehrung der Wiffen- 
haften. Wie lange follen denn noch die paar Schriftiteller 
wie die Säulen bes Hercules vor uns daftehen und uns hin- 
dern, weiter in Reiche ber Erkenntniß vorzubringen ? 

Diefer Bacon ift nicht der Macaulay’s, der feinen Bacon 
zu einer SHerculesfäule für die Wiffenfchaft machen möchte. 
Darin Tiegt der Unterfchieb beider. Wenn man wie Bacon 
den praftifhen Nutzen im Großen denkt und nicht nach Indi- 
biduen, fondern nach dem Zuftande der Welt berechnet, fo er- 
weitert ſich von jelbft die Theorie, und der mienfchliche Wiffens- 
trieb hat nicht zu fürdten, dag ihm von einem folchen praf- 
tischen Gefichtspunkte aus jemals eine willfürlihe Schranke 
gefegt werde. Bacon's ächter Geift ift auch für unfere Zeit 





483 


ein wohlthätiges Vorbild, Nachdem in der rein theoretifchen 
Arbeit eine Art Ebbe eingetreten, regt fich lebendiger wieder 
der Trieb zu gemeinnütiger Zhätigfeit und Bildung, die 
Philofophie ſucht von neuem die eracten Wiffenfchaften und die 
Erfahrung, fie richtet ihren Wilfenstrieb wieder auf die leben⸗ 
digen Objecte der Natur und Geſchichte; die eracten Wifjen- 
ſchaften ſuchen das öffentliche Leben, um erfinberifch oder be⸗ 
Iehrend und aufllärend darauf einzuwirken; die phyjſikaliſchen 
Wiffenfchaften befruchten bie Induftrie, die hiſtoriſchen befruch⸗ 
ten die Politik; überall zeigt ſich auf Seiten der wiſſenſchaft⸗ 
lihen Beichäftigungen das Streben, gemeinnügig und gemein- 
verſtändlich zu werden. Die wiffenfchaftlichen Fächer wetteifern 
untereinander, der öffentlichen Bildung ihre Beiträge zu Tie- 
fern und den praftifchen Intereffen zu dienen. Welche von 
allen das Meifte beiträgt, hat für die gemeinnübige Eultur 
den größten Werth, und diefer gehört ohne Zweifel den phy⸗ 
ſikaliſchen Wiffenfchaften, befonders denjenigen, die durch ihre 
Entdeckungen den erfinderiihen Geift gefteigert und vermodt 
haben, dem bürgerlichen Leben durch neue Mittel des Verkehrs 
und der Induſtrie eine ganz neue Geftalt zu geben. Es ift 
hier, wo ber Geift Bacon's in unverfennbaren und mächtigen 
Spuren auf ber Gegenwart ruht. Aber die ganze wiljen- 
ſchaftliche Betriebſamkeit unferer Tage ftrömt dem baconiſchen 
Geifte zu, und wir begreifen, daß die Auguren der Zeit diejen 
Namen wieder mit größerm Nachdrucke hervorheben. Auch 
ſoll fich niemand einbilden, gegen jene Strömung einen Damm 
aufwerfen zu können, ber mächtiger wäre als fie; nur ſoll 
auch niemand aus ber Strömung einen Damm maden und 
den Geift Bacon's in eine Herculesſäule verfteinern wollen. 
Weit entfernt, uns von dem Borbilde Bacon’s abzuwenden, 
31* 





484 


jegen wir vielmehr bem falfchen das wahre entgegen: der Geiſt 
Bacon's möge ber Gegenwart vorfchweben, aber jo groß wie 
er war, nicht in einem entftellten und verkleinerten Nachbilde, 
wie uns ber berühmte englifche Gefchichtichreiber in feiner ra⸗ 
dirten Zeichnung anbietet; Bacon's Gegenjag zur Theorie war 
ein geſchichtlicher im doppelten Sinn, er ging gegen eine ge⸗ 
chichtliche Theorie, die vergangen war, er entfprang aus einer 
gefchichtlichen Stellung, die fich erheben und den Wendepunkt 
zwifchen Bergangenheit und Zukunft entfcheiden follte. Diefer 
Gegenſatz war ein relativer, man ſoll ihn nicht in einen abfo- 
Iuten verwandeln, nicht auf uns und alle Zeiten anmwenben 
wollen, was nur für ein gewiſſes Zeitalter gelten konnte. Was 
in Bacon felbft ein Idol war, wenn auch ein unvermeibliches, 
darf für uns nicht zur Wahrheit gemacht werden, oder man 
verwandelt das Licht des baconifchen Geiftes in ein verführe- 
rifches Irrlicht, dem heute niemand weniger al8 Bacon felbit 
folgen würde. Auch zeigt fih an Macaulay, wie wenig in 
ihm felbft der Gegenjat begründet ift, welchen er unter Ba⸗ 
con’s Namen feil bietet. Denn alles Andere bei Seite gefekt, 
fo zeigt fchon die Nedeweife, daß bei ihm Spiel ift, was bei 
jenem Ernft war; Bacon hatte jenen Gegenfag zum Altertfum 
und zu dem, was er theoretifhe Philofophie nennt, in ſich 
erlebt und empfunden, biefer Widerftand lag in den Bedin- 
gungen feines geiftigen Dafeins; ganz anders erſcheint ſchon 
in feinem Ausdruck derjelbe Gegenſatz bei Macaulay: als eine 
fünftliche Antithefe, die fi aus einem Schlagwort ins andere 
mit behender Gefchieflichfeit verwandelt; fo redet nicht bie ein- 
fache Empfindung der Sache, fondern bie fünftliche Nachahmung. 
Macaulay in feiner Schrift über Bacon verhält fich zu diefem 
jelbft, wie eine rhetorifche Figur zu einem natürlichen Charakter. 





485 


Das endgültige Urtheil hat die Geſchichte felbft gefälft, 
und diefe gefchichtliche Thatſache ift die letzte negative Inftanz, 
die wir Macaulay entgegenfegen. Bacon's Philofophie ift 
nicht das Ende der Theorien, fondern der Anfangspunft neuer 
gewefen, die in England unb Frankreich nothwendig daraus 
hervorgingen und deren feine in dem Sinne praktiich war, als 
Macaulay verlangt. Hobbes war Bacon’d Nachfolger, fein 
Staatsidenl ift dem platonifchen in allen Punkten entgegen- 
gefeßt, aber einen Punkt hat es mit ihm gemein: es ift eine 
ebenfo unpraftiiche Theorie. Macaulay aber nennt Hobbes 
„den fchärfften und kraftvollſten der menſchlichen Geifter”. 
War alfo Hobbes ein praftiiher Philofoph, wo bleibt Mac- 
aulay’s Politit? War aber Hobbes kein praftifcher Philofoph, 
wo bleibt Macaulay's BPhilofophie, welche dem Xheoretifer 
Hobbes Huldigt? 





Henngehntes Kapitel. 
Liebig gegen Bacon. 





J. 
Die Streitſache. 
1. Liebig's Angriff. 

Wir haben ſchon früher*) eines polemiſchen Verſuches 
gedacht, der aus der jüngften Vergangenheit herrührt, in der 
leidenschaftlihen und haftigen Abſicht, Bacon's Anfehen von 
Grund aus zu zerftören, mit dem Grafen de Maiftre wett 
eifert, ähnlich wie diefer fanatifch gegen den englifchen Philo- 
fophen entbrennt, nur daß der Wind, der die Flamme jagt, 
von anderswoher bläft. Maiftre haßte und verfolgte in Bacon 
den Gründer einer dem kirchlichen, insbefondere dem römiſch⸗ 
Tatholifhen Glauben abgewendeten Aufklärung, einen Uebel⸗ 
thäter an der Religion, einen der einflußreichiten und darum 
verabfcheuungswürdigften, welche die nachreformatorifche Zeit 
gehabt hat; Herr von Kiebig, der beutfche Chemiker berühmten 
Namens, beffen Verluft die Welt feit Kurzem zu beflagen hat, 
haßt und verfolgt in Bacon einen der fehlimmften Webelthäter 








*) ©. oben Bud I, Cap. III, ©. 38. 





487 


an der Naturwiffenihaft, von deifen thatfächlihen Einfluß er 
felbit offenbar nicht weiß, ob er ihn gelten laſſen, beiahen oder 
verneinen fol, denn er thut beides: erft werden wir von ihm 
belehrt, daß von den neuern Bhilofophen Teiner einen Einfluß 
auf die Naturforihung ausgeübt Habe, ausgenommen Bacon, 
mit dem es ſich ganz anders verhalte, „fein Name glänzt noch 
nad) drei Iahrhundegten als Teuchtender Stern’, wogegen an 
einer andern Stelle gefagt wird: „es ſei bemerfenswerth, daß 
fein Name anderthalb Iahrhunderte lang in den Werken feiner 
Landsleute fo gut wie verfhollen war”. Die Frage nad dem 
factifchen Einfluß Bacon's betrifft eine gefchichtliche Thatſache, 
aus deren Unkunde dem berühmten Chemiler fein Vorwurf 
erwächſt, nur hätte er billigerweife aus dem Stoff biefer Un- 
Funde nicht Urtheile machen follen, die fi) in derfelben Sache 
verhalten wie Ia und Nein. Wie es nun aud mit jenem 
Einfluß, den Bacon auf die Welt geübt, ftehen möge, jeden- 
falls war oder ift derfelbe nach der Meinung des jüngften 
Gegners vollfommen unberechtigt und der verberblichiten Art. 
Dieter Punkt, Bacon’s wiffenschaftliche Bedeutung, tft Liebig's 
eigentliche Zielichetbe, er beabfichtigt eine Rettung im umge⸗ 
fehrten Stil, er findet die Welt über Bacon’3 Bedeutung in 
der Ärgften Verblendung, in dem ausgemachteſten Vorurtheil 
befangen und erweift ihr die Wohlthat, fie von diefem Irr⸗ 
thum zu befreien. Aber auch diefes Ziel fladert vor feinen 
Augen und er ſieht zwei Geftalten vor ſich. „Nichts Tann 
gewiffer fein”, jagt Liebig, „als daß einem fo fcharfblidenden 
Mann wie Bacon die geiftige Bewegung in feiner Zeit nicht 
entgehen konnte, obwohl er ihre eigentliche Richtung richt be⸗ 
griff, und er befaß das volle Talent und die Ausdauer, um 
fie zu feinem perſönlichen Nuten auszubenten.” Was fah der 


488 


fo fcharfblidende Mann von der geiftigen Bewegung feiner 
Zeit, wenn er deren Richtung nicht fah? „Die Natur, die 
ihn fo reich mit ihren ſchönſten Gaben ausgejtattet hatte, hatte 
ihm den Sinn für die Wahrheit und Wahrbaftigfeit verfagt.‘ 
Ganz davon abzufehen, daß nach diefer Aeußerung der Sinn 
für Wahrheit nicht zu den fehönften Gaben zu gehören fcheint, 
findet Liebig in Bacon's Eſſays „ugverwerflihe Docu- 
mente feines feinen Geiftes und Scharffinns, fowie feiner 
tiefen Kenntniß und richtigen Beurtheilung menjchlicher Ver⸗ 
bältniffe und Zuftände”. Auf dem Gebiete der Menfchen- 
fenntniß, wo die Wahrheit zu fagen Teineswegs eine leichte 
und harmloſe Sade ift, Hatte und zeigte Bacon einen Wahr- 
heitsfinn, den Liebig ſelbſt rühmend hervorhebt, alfo die Ratırr 
nicht, wie jener meint, ihm verfagt hatte; wird diefer Sinn 
auf einem andern Gebiete von dem Gegner vermikt, fo kann 
er dieſen Mangel nicht mehr als Naturfehler, fondern nur 
noch als Bildungsfehler anjehen, womit gerade die Spike ſei⸗ 
nes Urtheils über Bacon abbridt. „Mit Shafefpeare und 
Bacon beginnt eine neue Literatur”, jagt Liebig, und derſelbe 
Mann, der auf diefe Weife unmittelbar neben den größten 
Dichter der neuen Zeit an deren Spite geftellt wird, Toll nad 
demfelben Kritifer nichts als „ein Tafchenfpieler”, „ein frecher 
unwiſſender Dilettant“ gewefen fein, deſſen Hauptwerk weiter 
nichts enthalte als „abgedroſchene triviale Wahrheiten‘? 
Daraus mache ſich einen Vers, wer es vermag. Es iſt 
ergötzlich zu ſehen, wie Herr von Liebig, indem er Bacon's 
Bedeutung völlig entwerthen will, ſich ſelbſt fortwährend im 
Wege ſteht und von den Vorurtheilen, wie er ſie nennt, die 
zu Gunſten Bacon's die Welt eingenommen haben, ſelbſt viel 
zu ſehr angeſteckt iſt, um die Welt von dieſem epidemiſchen 





489 


Irrthum zu heilen. Daß Bacon ein bloßer Charlatan war, 
ift Liebig's Entdedung; daß er einer der begabteften, geift- 
vollſten, einflußreichiten Männer gewefen, hört er andere fagen 
und Hat nichts entgegenzufegen, er fagt es auch und macht 
jeßt aus zwei nnverträglichen Dingen, feiner Entdedung und 
feinem Borurtheil, einen Reim, der Teiner ift. Glücklicherweiſe 
bört er von andern auch verfihern, daß Bacon ein fchlechter 
Menih war, ein Charakter „von bobenlos nichtswürbiger 
Gefinnung“, erflärt es doc ſelbſt der berühmte Macaulay, 
der Bewunderer bes Bhilofophen Bacon; das Tommt dem 
Gegner wie gerufen, er wird mit eigener Spürkraft dieſe mo- 
raliſche Entdedung jelbit, wir werden fehen wie, zu machen 
wiffen, und jett ijt der Reim fertig, denn die Niederträchtig- 
feit bes Charakters kann ja die begabtefte Natur herunter- . 
bringen bis zu einem elenden Charlaten. Wenn man biefes 
Bild mit der nöthigen tugendhaften Entrüftung der Welt vor- 
hält, jo müßte e8 fonderbar zugehen, wenn die Welt nicht mit 
ber nöthigen tugendhaften Enträftung, die fie fo gern empfin- 
det, in Aufruhr gerathen und die Bildfänlen Bacon’s über 
den Haufen werfen ſollte. „Sch bin fo wenig ein Freund 
oder Feind Bacon's“, fagt Herr von Liebig mit unerfchütter- 
lich gleichgültiger Strenge, „ale ih ein Freund oder Feind 
des Schwefels bin”, und nachdem er mit diefem treffenden 
Bergleich Bacon unter feine Objecte aufgenommen, ift es nicht 
feine Schuld, fondern eine Eigenichaft diefes Dinges, welches 
Bacon heißt, wenn es Schwefelgeruch um fidh verbreitet. 


2. Riebig und Gigwart. 


Es ift zehn Jahre Her, daß Liebig’s Schrift „Ueber Francis 
Bacon von Berulam und die Methode der Naturforichung“ 


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4% 


eriähien, dur den Namen des Themas und des DVerfaffers 
Auffehen mahte, Stimmen für und wider hervorrief und 
namentlich einen Titerarifchen auf Bacon’ Bedeutung bezüg- 
fihen Streit veranlaßte, den von philofophifcher Seite C. Sig- 
wart aufnahm und fortführte; er begann mit dem Artikel: 
„Ein Philofoph und ein Naturforfcher Über Franz Bacon von 
Verulam“, worin er den Gegenfaß zwifchen meiner Beurthei⸗ 
fung Bacon’s (in der erften Auflage diefes Buchs) und Lie- 
big’8 Schrift prüfend darlegte, mit ebenfo anerfennenswerther 
Unparteifichleit als Sachkenntniß dazu Stellung nahm, bie 
Frage erörterte und zu dem Ergebniß gebradht wurbe, daß 
Liebig in der Hauptfadde die wahre Bedeutung Bacon’s nicht 
erlannt, dagegen fo weit Recht habe, als er die Illuſion einer 
baconifhen Methode zerftört.*) Wenn Sigwart einen wejent- 
lihen Mangel Bacon’s darin fehen will, daß diefer zwar bie 
Aufgabe einer inductiven Logik gejtellt, aber nicht gelöft Habe, 
wenn er binzufügt, daß diefe Aufgabe bis heute noch nicht ge- 
löſt fei, daß eine Logik fehle, die ſich zu den naturwifienfchaft- 
lichen Geiftesoperationen, zu der Erzeugung und Bildung der 
Begriffe verhalte, wie die ariftotelifche Logik zu ber Bildung 


*) Weber Francis Bacon von Berulam u. f. w. Bon Juſtus 
von Liebig (Münden 1865). Mit Beziehung auf die obigen Anflh- 
rungen vgl. S. 1 und 54, ©. 38, 46. 57. 

Dagegen Sigwart: „Ein Philoſoph und ein Naturforfcher Über 
Fr. Bacon von Verulam“, Preuß. Jahrb. (1868), Bd. XII, Heft 2, 
©. 33 —129. Dagegen Liebig’ Replif, Allg. Zeitg. Beil. 1863. Rr. 
vom 2., 3., 6., 7. November. Sigwart's Duplik: „Noch ein Wort über 
Fr. Bacon dv. Verulam. ine Entgegnung“, Preuß. Iahrb. (1864), 
Bd. XI, Heft 1, ©. 79-89. Liebig's Triplil: „Noch ein Wort über 
Fr. Bacon dv. Berulam”, Allg. Zeitg., Beil. 1864 (4.—7. März). Da- 
gegen Sigwart: „Eine Berichtigung in Betreff Bacons“, Allg. Zeitg., 
Beil. 1864 (30. März). 





491 


der Urtheile und Schlüffe, fo anerkenne ich vollfommen, wie 
begründet und richtig dieſe Torderung ift; an dem Tage, mo 
fie erfüllt und ein folches Werk gelungen fein wird, — nenne 
man es „Logik der Erfahrungswifjenichaften” oder „Kritik der 
naturforfchenden Bernunft”, ein Werk, das ohne die wirkliche 
Theorie der Empfindungen und die darauf gegründete Kritik 
der Sinne gar nicht ausgemacht werden kann, — wird bie 
Bhilofophie einen ihrer größten Fortſchritte vollendet Haben, 
Dann wirb jeber, dev e8 heute noch nicht einfieht, vollfommten 
begreifen, daß Bacon zu der Löfung diefer Aufgabe mit feiner 
Methode Teineswegs einen verfehlten oder vergeblichen Schritt 
gethan Hat; denn Einiges von dem, was zur indnctiven Denk⸗ 
art und Forſchung gehört, hat Bacon fo Heil erleuchtet, wie 
feiner vor und nah ihm. Wenn daher Sigwart am Ende 
feiner Duplik, indem er mit Liebig abrechnet, alle feine Ent- 
gegnungen aufrechtbält und Hinzufügt, „wenn ich einen Vor⸗ 
wurf verdiene, fo ift es der, daß ich (in Betreff der Methode) 
zu viel zugegeben‘*), fo bin ich wirklich diefer Meinung. 


I. 
Kiebigs Einwärfe. 
1. Neue Beweife gegen Vacon's Gefinnung. 


Da in der Polemik des Herrn von Liebig Bacon's Mo⸗ 
ral eine jehr wichtige Rolle fpielt und aus dem völligen fitt- 
lichen linwerth feines Charakters der ebenjo große wiſſen 
ſchaftliche Unwerth feiner Leiftungen hergeleitet wird, fo müſſen 


*) Breuß. Jahrb., Bd. XIU, ©. 85. 


492 


wir das Verfahren, welches der Gegner in diefem Punkte bes 
folgt Bat, etwas näher ins Auge faffen. Bacon's Charafter- 
fhwächen Tiegen fo deutlich zu Tage, fie find in diefem Werke 
ſelbſt fo umftändlich erörtert worden, daß unfere Lefer mit 
dem geſchichtlichen Thatbeftande ganz vertraut find; es ift einem 
fittlihen Rigoriften, ber. fi) in der eigenen Rechtichaffenheit 
wohlfühlt, fehr Leicht gemacht, unbefümmert um den Charakter 
und die Schuld des Zeitalters, in dem Bacon lebte, den Stab 
über den Dann Ichonungslos zu brechen, der durch fein Un⸗ 
glück und den tiefen Fall die Sünden, die er mit Zaufenden 
feiner Art theilt, noch nicht fchwer genug gebüßt hat. Sein 
fhlimmfter Fehler war die Liebe zum Tand, zu ben Gütern 
und Sceinwerthen der Welt. Wer von diefen Eitelfeiten und 
Gelüften ganz frei ift, habe das Recht ihn zu fteinigen. Aber 
ih rede jekt von dem eigenthümlichen Verfahren, das Herr 
von Liebig einfchlägt, um ben gefchichtlichen Beweis zu führen, 
daß Bacon ein Menſch „von bodenlos nichtswürdiger Gefin- 
nung“ war. Er hat befanntlih in feiner „Historia vitae et 
mortis” eine Mafrobiotil zu geben verſucht, deren wiſſenſchaft⸗ 
lichen Unwerth wir ſchon kennen gelernt*), aber Herr von Lies 
big hat in dieſem Buche die Duelle entdeckt, woraus ſich gegen 
Bacon's Charakter eine Menge der ftärkiten Beweisgründe 
ergeben. Die Schrift zeige überall die Induftrie des Höflings, 
der ſich nach den Sitten und Riebhabereien des Hoflebens richte 
und folche Lebensregeln erfinne, die nad) dem Geſchmacke des 
Hofes find. Dean muß fi wundern, biefe Erfindungen ge⸗ 
macht zu fehen in einem Zeitpunkt, wo Bacon bereit8 vom 
Hofe verbannt war ohne Ausfiht der Rückkehr. Unter den 


*) Bol. oben Bud I, Cap. XI, ©. 34850, 


493 


Mitteln zur Lebensverlängerung wird neben anderen Vor—⸗ 
fchriften, die unter Umftänden auch Ausfchweifungen erlauben, 
pythagoreiſche Lebensart, ftrengfte Enthaltfamfeit, Hungercuren, 
rauhe Kleidung u. f. f. empfohlen. „Der Inhalt des Buchs“, 
fagt Liebig, „ift wie darauf berechnet, die Neigungen einiger 
Perjonen zu den Schwelgereien der Tafel und anderen Ge 
füften zu rechtfertigen.” Unter den Zeichen ber Langlebigkeit 
werben von Bacon Symptome angeführt, die Liebig als ebenfo 
viele wohlberechnete Schmeicheleien deutet, denn die vornehmen 
Leute hören gern, daß fie langlebig ausfehen; bei dem einen 
Symptom (e8 betrifft die Befchaffenheit der Haare). habe Ba⸗ 
con „wahrfcheinlich” an den König, bei dem zweiten „wahr- 
ſcheinlich“ an den Prinzen von Wales, bei dem dritten „wahr- 
ſcheinlich“ an den Günftling gedacht: das find drei Wahr- 
ſcheinlichkeiten, die ebenfo viele Unwahrſcheinlichkeiten find, 
denn es fehlt jede Spur eines Beweifes. Weil Bacon unter 
feinen diätetifchen Vorſchriften Fleiſchbrühe zum Frühſtück, 
Alvepillen vor dem Mittageffen und Glühwein beim Abend- 
effen empfiehlt, jo entdedt Liebig, man lerne aus Bacon’s 
‚Bud, daß der König „höchft wahrſcheinlich“ alle diefe Mittel 
brauchte, alfo er ſchließt aus Bacon’s. Worten ohne jede Spur 
eines Beweiſes auf die Diät bes Königs und löſt daraus die 
Entvedung, daß Bacon feine Vorjchriften nad der Diät des 
Königs eingerichtet habe. Endlich „zieht er in Betracht, daß 
diefes Buch höchſt wahrjcheinlich gegen Harvey, ben Leibarzt 
bes Königs, ben diefer ſehr Tiebte und gegen beifen Rath⸗ 
ſchläge gerichtet war, gegen den größten Arzt feit Hyppofrates, 
den Entdecker des Blutumlaufs” u. ſ. f. Laſſen wir den 
Hippofrates, deifen Name Liebig aus Achtung vor den Griechen 
mit einem y grec außitattet, fo war Bacon nach der Wahr 





494 


fcheinlichleitstheorie diefes Gegners ein fonberbarer Schmeich⸗ 
ler: er, ein Laie, vom Hofe verbannt, erfinnt, um bem Könige 
zu fchmeicheln, ärztliche Vorfchriften in feindfeligfter Abficht 
gegen den Leibarzt, den der König fehr Tiebt, in ber 
Nähe des Königs! War das nicht der geradefte Weg, bem 
König zu erzürnen, und das unfehlbarfte Mittel, ſich zu bla» 
miren? Ohne jede Spur eines Beweiſes Hat Liebig jo viele 
„Wahrſcheinlichkeiten“ erfonnen, von denen bie lekte „bie 
höchſte Wahrfcheinlichkeit” fein foll und in der That nach ſei⸗ 
nen eigenen Worten die allerhöchſte Unwahrfcheinlichkeit ift. 
Und von einer folden ganz aus der Luft gegriffenen und völ⸗ 
lig verfehlten Wahrjcheinlichleit macht. er wörtlich folgenden 
Schluß: „Wenn man fie in Betracht zieht, fo wird man in 
das größte Erjtaunen verfegt über die bodenlos nichtswärdige 
Gefinnung, die es (da8 Bud Bacon's) veranlafte.”*) 


2. Reue Art, Bacon zu überſetzen. 


Bacon Hatte nicht nöthig, dem Könige indirect zu ſchmei⸗ 
deln, und Liebig Hatte noch weniger nöthig, nach folchen in⸗ 
directen und verborgenen Schmeicheleien eine fo unglückliche 
Jagd anzuitellen, da fi in Bacon’s Schriften Stellen genug 
finden, wo er dem Könige offen, direct und mehr als billig 
geſchmeichelt Hat. Werfe den Stein auf ihn, wer nie einem 
Fürſten Schmeicheleien gefagt, und zwar in einer Zeit, wo fie 
weniger an der Tagesordnung find, weniger zur Hoffitte ge 
hören, als zu Bacon’s Zeiten! Um zu beweifen, welcher „nie 
drige Schmeichler” Bacon war, führt Liebig aus dem Ein- 


*), Weber Fr. Bacon dv. Berulam u. ſ. f., S. 41 - 44. Bol. 
Sigwart, Preuß. Jahrb, Bd. XIII, ©. 81 —83. 





495 


gange der Schrift über den Werth und die Vermehrung der 
Wiffenfchaften eine Stelle an, worin Bacon, der fein Wert 
dem Könige widmet, diefem die Pflege der Wiſſenſchaften ans 
Herz legt als des Königs eigene Sache und bei diefer Ver⸗ 
anlaffung die Gelehrſamkeit des Iebteren über die Maßen 
erhebt. Daß ein König und zwar ein geborner eine folche 
Fülle von Gelehrſamkeit befige, fet faft ein Wunder. Das ift 
die Stelle, in welder Bacon feine Verwunderung ausdrüdt, 
daß ein geborener König ein fo gelehrter Mann fei, Um 
Bacon's übertriebene Schmeicheleien zu beweifen, würde ich 
diefe Stelle zulett angeführt haben und fajt ebenfo wenig als 
daß er dem Könige zu gefallen gegen deffen geliebten Leibarzt 
eine mebicinifche Polemik geſchrieben. Jakob hielt die gebore- 
nen Könige für Ebenbilder der Gottheit. War es eine befon- 
dere Schmeichelet, diefem Könige zu fagen, daß eine Tugend, 
die Bacon aufs allerhöchſte preift, bei geborenen Königen fich 
jelten finde? Noch dazu hat Herr von Liebig die unglücklich 
gewählte Stelle falſch angeführt und unrichtig überſetzt, er 
giebt unter dem Text feiner Schrift den lateinischen Sag fo 
wieber, daß er brei Fehler enthält, die wohl nicht alle Druck⸗ 
fehler find. Bacon hat von der Gelehrjamkeit des Königs 
gefagt „prope abest a miraculo”, d. 5. fie ift nahezu ein 
Wunder; Liebig läßt ihn fagen „probe abest a miraculo” 
und überfeßt mit gefperrter Schrift: „fie tft in der That 
ein Wunder“, Nach feiner Ueberfegung Heißt probe „in ber 
That” und abest a miraculo „fie ift ein Wunder“. *) 
Misverftändnifie diefer Art find Herrn von Liebig noch 
mehrere begegnet an Stellen, wo fie weit mehr zu bedeuten 


*) Weber Fr. Bacon v. Berulam m. ſ. f, S. 41. 


496 


haben als Bier. So macht er Bacon den fhlimmften Vor⸗ 
wurf, ber ihn in feiner ganzen naturwiſſenſchaftlichen Blöße 
zeigen foll, daraus, daß diefer die Wärme zwar als Bewegung 
erflärt, aber die nähere Beſtimmung der Erpanfion ausdrüd- 
Tih von der Bewegung, in welder die Wärme beftehe, aus⸗ 
gefchloffen Habe. Nun Hat Bacon die Erpanfion ausdrücklich 
in den Bewegungsbegriff der Wärme eingejchloffen, wie in 

jeder Darjtellung feiner Lehre, fie fet noch fo oberflächlich, zu 
Iefen ift. Woher biefes Mißverftändnig? Aus einer Stelle, 
in welcher Bacon, um an dem Beifpiele der Wärme feine 
Erclufionsmethode zu zeigen, erklärt, aus der Natur der Wärme 
fei die Örtliche ober ausdehnende Bewegung auszufchließen 
„secundum totum“, d. 5. im Ganzen, in Rüdficht auf das 
Ganze, auf die Maffe, fie fei anszufchließen als fortfchreitende 
Bewegung, als Maffenbewegung, da, wie er fpäter erklärt, 
fie Molecularbewegung (‚per particulas minores corporis“) 
ſei. Was ift zu tadeln? Daß Herr von Liebig Bacon fagen 
läßt, was er nie gejagt hat: „über Bord die ausdehnenbe 
Bewegung!) Daß er die nähere Beitimmung, auf die alles 
ankommt, „secundum totum” einfad) ignorirt. Er Hat es 
nicht mit Abfiht gethan, denn in der deutfchen Weberfekung, 
worin er den Sat gelefen, fteht nichts von dem ‚„secundum 
totum“, weil diefe Hinzufügung der Ueberſetzer auch nicht 
veritanden und darum für beffer gefunden hat, fie zu ver- 
jhweigen. Aber nachdem Sigwart Herrn von Liebig auf diefe 
gröbliche Unterlaffung aufmerffam gemacht, hätte biefer durch 
blinde Rechthaberei die Sache nicht verjchlimmern und fagen 
follen, im englifhen Text ftehe „in the whole” und das be- 


*) Ueber fr. Bacon v. Berulam u. f. f., S. 24, 





497 


deute „im Einzelnen oder in der Mehrzahl der Fälle”, was 
es nicht bedeutet und am allerwenigften an der fraglichen 
Stelle, wo biefe Bedeutung völliger Unfinn wäre Außerdem 
ift „secundum totum“ nit bie Weberfegung von „in the 
whole”, fondern umgelehrt. Seit wann aber Heißt „secundum 
totum“, wie e8 Herr von Liebig erflärt haben will, „Im Ein- 
zelnen ober in der Mehrzahl der Fälle‘? *) 


3. Bacon's Dileitantenrubm. 


Ich bin der Tegte, der Hexen von Liebig einen Vorwurf 
daraus macht, daß er das Latein nicht oder nur fehr mangel- 
haft versteht, dern ein folder Mangel thut einem fo berühm- 
ten und um bie Welt fo hochverbienten Naturforfcher feinen 
Eintrag. Nur ift er vermðge diefes Mangels nicht gerade 
berufen, Bacon's Werke zu richten, und er hätte nicht mit der 
fediten Sachunkenntaiß behaupten follen, daß in der Auslegung 
der baconiſchen Schriften der englifhe Tert zu Grunde gelegt 
werden müffe, weil Bacon keines feiner Werke Inteinifch ge⸗ 
fchrieben babe, da er doch fein Hauptwerk felbft in biefer 
Sprade verfaßt und zwölfmal umgefchrieben hat. Daß Bacon 
fih in feinen Werfen nur der Landesſprache bedient Habe, 
wünfcht Herr von Liebig aus zwei Gründen: einmal weil num 
jenes „in the whole” als Grundtert feitfteht, das irgend ein 
erbärmlicher Vieberfeger mit „secundum totum“ wiebergegeben, 
dann weil es fi. für den Dilettanten Bacon ſchickt, nur in 
der Landessprache geichrieben und eben dadurch bei dem großen 
Daufen der Dilettanten jenen Beifall erworben zu haben, auf 


*) Bgl. Sigwart, Preuß. Iahrb., Bd. XI, S. 98 fig.; 3b. XII, 
S. 83 flg. 
Fiſcher, Bacon. 32 


498 


dem allein nad) Liebig der Ruhm beruht, den ihm feine Werfe 
brachten. *) j 

Daß Herr von Liebig fein Lateiner war, ift für feinen 
Ruhm, wie gejagt, die gleichgältigfte Sadje der Welt. Daf 
er aber in diefem Punkte den Kenner fpielt und Bacon von 
oben herunter anfieht, weil’er als Dilettant nicht in der 
Sprade der gelehrten Welt, fondern in der Landessprache ge- 
jhrieben habe, um Dilettantenruhm zu erwerben, das verräth 
eine Unkenntniß der Sache und eine noch ſchlimmere Eitefleit 
der Berfon, die man fehr hart beurtheilen müßte, wollte man 
diefelbe Eile an ihn anlegen, womit er Bacon nicht etwa mißt, 
fondern — prügelt. 


4. Das Urtheil Über Bacon's Methode, 


Was demnach Herr von Liebig Über Bacon’ gefchicht- 
fihen Einfluß, perfönliche Bedeutung, fittlihen Charakter und 
bilettantifche Schriftftellerei gejagt hat, ift fo widerſpruchsvoll, 
fo unbegründet oder geradezu falih, daß dieſe Teineswegs 
nebenfählichen, fondern von ihm felbft ſehr nachdrücklich her- 
borgehobenen Theile feiner Bolemik ihr Ziel gänzlich verfehlen 
und erfolglos zu Boden fallen. Bei alledem könnte er immer 
noch ins Schwarze getroffen haben, wenn er im Hauptpunfte 
Recht behalten und wirklich den Schein einer baconifchen Me⸗ 
thode zerftört haben folite. 

Bevor der Beifall gelten darf, den er gerade für biefen 
vermeintlihen Triumph von vielen geerntet, muß zuerft gefragt 
werden: wie hat Liebig die baconifche Methode verftanden? 
Eben diefe Frage, die doch vor allem zu unterfuchen war, ift 


*) Ueber Fr. Bacon v. Verulam u. f. f., S. 34 fig. 





499 


bet den Verhandlungen für und wider am wenigiten erhoben 
und fo gut wie gar nicht erörtert worden. Sonft würbe man 
gefunden Haben, daß diefer ftärfite Theil feiner Bolemil, wenn 
der Beifall die Stärke ausmacht, ber ſchwächſte von allen ift 
und bie baconifche Methode bei diefer Gelegenheit nicht bloß 
durch ein Misverftändniß, fondern durch eine beifpiellos ver- 
fehrte Auffaffung entftellt worden. Was Liebig für die baco- 
niſche Methode anfieht, ift ein Unding; was er ihr entgegen- 
fest, ift die baconifche Methode. Hier folgt der Beweis. 

Es heißt: „Um Bacon's Inductionsproceß richtig zu ver- 
ftehen, ift es vielleicht nüglich feine Theorie der Inftanzen zu 
entwideln, ‚die er bei feinen Unterfuhungen in Anwendung 
bringt.” Beiläufig: Bacon's Imbuction befteht in der Be⸗ 
obachtung und kritiſchen DVergleihung der Fälle oder That—⸗ 
fachen (Inftanzen). Um die Induction zu verftehen, ift es 
daher nicht ‚‚vielleicht nützlich“, ſondern einfach nothwendig zu 
wiffen, was die Inftanzen bedeuten. Was bedeuten fie nad) 
Liebig? Er fagt wörtlid: „Bacon ftellt fi) nämlich vor, 
daß in jeder Inftanz, für ſich betraditet, nur ein 
Stüd von dem Geſetz erkennbar fei, verhällt und 
verborgen burd andere Dinge; daß es demnach bei der 
einen Inftanz ber Beobachtung oder dem Verſtande näher Tiege 
als bei einer anderen. Man müfje darum fo viel als möglich 
Inftanzen beifammen haben und diejenigen zu unterfcheiden 
wiffen, welche gleihfam Handgreiflih das Geſetz erkennen 
ließen.“ *) 

Ich fage, daß nie in der Welt Bacon verfehrter aufgefaßt 


*) Weber Er. Bacon v. Verulam u. |. f., ©. 23. 
32* 


500 


worden ift, denn e8 giebt nichts Verlehrteres als das vollkommen 
Sinnloſe. Er foll gedacht haben, daß man ein Naturgejek 
ftüctweife zufammenlefen müffe, wie der Vater der Meden den 
Abſyrtus, daß man in diefer Erfcheinung ein Stüd, in ber 
andern ein zweites finde, etwa in dem Ball des einen Körpers 
den Fallraum, in dem eines anderen die Fallzeit erkeme, und 
fo allmälig das Geſetz wie eine Summe aus ihren Bolten 
zufammenaddire? ‘Daher fordere Bacon die Beobachtung vie- 
fer Fälle. Und aus diefem Ungedanken, der nie in eines 
Menſchen Kopf gelommen ift, foll er gefchloffen haben: „daß 
e8 (das Gefet) demnach bei der einen Iuftanz dem Berftande 
näher Tiege als bei einer anderen?” Wie denn? Weil „in 
jeder Inftanz, für fi) betrachtet, nur ein Stüd von dem Ges 
feß erkennbar fei”, darum foll „es (das ganze Gefet) bei ber 
einen Inftanz dem Verftande näher Tiegen als bei einer an⸗ 
deren?” Etwa deshalb, weil aus der einen Inftanz ein größes 
res Stüd von dem Geſetz erfenubar ift? 

Wäre die angeführte Stelle in Liebig's Schrift bie ein- 
zige, die den fraglichen Punkt betrifft, fo würde ich zweifeln, 
ob er wirffih Bacon den volllommenen Unſinn zugetraut Hat, 
daß in einer Erſcheinung nur ein Stüd des Gefekes erfenn- 
bar, nur ein Theil der Bedingungen, aus denen die Erſchei⸗ 
nung folgt, enthalten fein foll; aber e8 kann über biefe Mei- 
nung Liebig's kein Zweifel beftehen, da er an einer anderen 
Stelle die einfache, jedem Kinde einleuchtende Wahrheit Bacon 
entgegenfeßt als eine Einficht, die jemem gefehlt habe. ‚Ein 
jeder, der fich einigermaßen mit der Natur vertraut gemacht 
hat, weiß, daß eine jede Naturerfcheinung, ein jeder Vorgang 
in der Natur für ſich, das ganze Geſetz oder alle Geſetze, 
durch die fie entitehen, ganz und ungetheilt in ſich ein 





501 


fchließt.”*) Man braucht gar nicht mit der Natur vertraut 
zu fein, um zu wiffen, was nur Bacon nad Liebig nicht ge» 
wußt haben foll: daß jede Erfcheinung aus den Bedingungen 
folgt, aus denen fie allein folgen Tann, und daß fie nicht folgt, 
wenn diefe Bedingungen nicht oder nur theilweife vorhanden 
find. Das ift fo einleuchtend, als der Sat A=A. Wenn 
die nothiwendigen Bedingungen ebenfo fiher, als fie da find, 
auch erkennbar wären, fo hätte die Naturforſchung ein Leichtes 
Geſchäft; weil aber zu den wefentlihen Bedingungen nod 
anderweitige Umftände binzutreten und dieſer Unterſchied des 
Nothwendigen und Accidentellen unferer Wahrnehmung Teines- 
wegs ohne weiteres einleuchtet, darum wirb aus dem leichten 
Geſchäft eine fchwierige Aufgabe, deren Löfung die kritifche 
Beobachtung und Vergleichung vieler Thatfachen fordert. Das 
war Bacon's einfache und unverlennbare Lehre, der Liebig 
Folgendes entgegenftellt: „Die wahre Methode geht demnach 
nicht, wie Bacon will, von vielen Füllen, fondern von einem 
einzelnen aus, iſt diefer erflärt, fo find damit alfe analogen 
Fälle erklärt.“ Als ob die Analogie etwas anderes wäre, als 
die Einficht in die wefentliche Aehnlichkeit vieler Fälle, ge 
gründet auf deren VBergleihung! Als ob man von vielen 
Füllen zugleich ausgehen könnte, während doch die baconifche 
Methode von der Wahrnehmung eines Tolles zu der anderer 
fortzugehen verlangt! „Unfere Methode”, jagt Liebig weiter, 
‚ft die alte ariftoteliihe Methode, nur mit fehr viel mehr 
Kunft und Erfahrung ausgeftattet.” Was ift die baconifche 
Methode anderes? Was Hat Bacon an Ariftoteles weiter 
getadelt, al8 daß feiner Erfahrung die Kunft und Methobe 


*) Weber Er. Bacon v. Berulam n. ſ. f., ©. 47. 


502 


fehle? Liebig aber tadelt Bacon, daß diefer, weil ihm die 
„Stüde des Geſetzes“ im Kopfe ſpuken, die erft aus vielen 
Dingen zufammenzulejen feien, darum die Beobachtung vieler 
Fälle für nothwendig Halte. Was er ihm entgegenfeßt, wird 
daher, fo vermuthen wir aus der Logik des Gegentheils, die 
Beobachtung eines Falles fein. Indeſſen er fagt: „Wir 
unterfuhhen das Einzelne und zwar jedes Einzelne, wir gehen 
vom Eriten zum Zweiten über, wenn wir von dem Erften das 
Defentliche begriffen haben.” Als ob das „Weſentliche“ nicht 
ein Vergleihungsbegriff wäre, den man nur bilden kann durch 
Bergleihung, d. h. nachdem man vom Erften zum Zweiten und 
Dritten fortgegangen ift! „Wir fehließen nicht von dem Ein- 
zelnen, was wir Tennen, auf das Allgemeine, was wir nicht 
fennen, fondern wir finden in ber Erforfhung vieler Ein- 
zelnen bas, was ihnen gemeinfam ift.”* Nun frage id: 
was bat Bacon anderes gelehrt? Verhalten ſich diefe Worte 
Liebig's zu den Vorfchriften Bacon's nicht wie ein fchwacher 
und verwifchter Abklatſch zu dem Original, deffen Züge groß 
und deutlich ausgeprägt find? Erft Hat Liebig die Methode 
Bacon's bis zum Unfinn entjtellt, dann fett er ihr mit un⸗ 
fiherer Hand entgegen, was Bacon mit ber fidherften ent- 
worfen. 


5. Unterſchied zwilden Liebig und Bacon. 


Was der menfchliche Geift in der Vorſtellung und Er- 
kenntniß der Dinge, in deren intellectueller und praftifcher 
Dearbeitung tut und zu thun hat, das zu durchſchauen, ins 
Bewußtſein zu erheben, in eine deutliche und beftimmte For⸗ 


*) Ueber Fr. Bacon v. Berulam u. ſ. f., ©. 47. 


503 


mel zu faſſen, ift eine ber höchſten und darum auch ſchwierig⸗ 
ften Aufgaben. An biefer Aufgabe fteht die Philofophie und 
ift noch lange niht am Ziel ihrer Arbeit. Aber unter denen, 
die fich dieſem Werke gewidmet und e8 um bie Weite eines 
Zeitalters geförbert Haben, behält Bacon feine Stelle und 
unerfchütterte Bedeutung. Er bat die Natur und den Werth 
ber auf Beobachtung und Experiment gegründeten Erfahrung, 
der auf folde Erfahrung gegründeten Erfindung fo hell und 
nachhaltig erleuchtet, er hat diefe Aufgaben bergeftalt in ben 
Mittelpuntt ber Bhilofophie gerüdt, daß die Nachwelt bei 
allen großen in dieſer Richtung fortwirkenden Impulſen fich 
nach ihm umfieht. Das ift eine Thatfache, die Feine Kritik un- 
geſchehen macht, Teine wegredet, mit der darum jede zu rechnen 
bat. Wer Bacon fo beurtheilt, daß er es mit Liebig unbe⸗ 
greiflich finden muß, wie die Welt dieſem Manne jemals das 
Anfehen eines bahnbrechenden Geiftes babe zufchreiben können, 
hat die Probe in der Hand, daß feine Rechnung falfch ift. Lie⸗ 
big bat Bacon auf einem Wege geſucht, wo er ihn nothwendig 
verfehlen mußte; er ftieß fih an bie praftifchen Landwirthe, 
die er gegen feine agricultucchemifchen Entdeckungen voller 
Vorurtheile fand, befonders in England, er fpürte nad) dem 
Urſitz des Viebels und entdedte „das Meufterbild der in Eng⸗ 
land unter den Dileitanten in der Wiffenfhaft üblichen Ex⸗ 
perimentirmethoden und Schlußweiſen in Bacon’s silva sil- 
varum“.*) Hier ein baconifches Experiment mit brennendem 
Spiritus, Hier eines mit rothem Klee aus der Zeitfchrift der 
koniglichen Aderbaugefellihaft von England: die Weberein- 
ftimmung ift ſchlagend, und der wiffenfchaftlihe Uebelthäter, 


*) Weber Fr. Bacon v. Berulam u. f. f., Vorrede, S. V. 


504 


der die Welt ein paar Jahrhunderte lang in die Irre geführt 
hat, ift endlich) ertappt und buchſtäblich in flagranti. Jetzt 
wird Bacon betrachtet, wie er Hinter der Spiritusflamme aus- 
fieht, jest muß die „silva silvarum“, die gefchrieben wurde, 
als fein wiſſenſchaftlicher Ruhm feititand, und die man niemals 
unter feine erleuchtenden Schriften gezählt Hat, als das Haupt- 
und Grundbuch der baconiſchen Philoſophie gelten, was fie 
weber in Bacon's Angen noch in denen der Welt je war; 
jeßt wird der Proceß, den Liebig gegen Bacon anftrengt, auf 
die Frage gerichtet: was hat Bacon in Erperimenten und 
Erfindungen geleiftet? Und da Hier das Ergebniß zu feinen 
Ungunften ausfällt, fo wird der Stab über ihn gebrochen, und 
die Welt ſoll endlich eine Täuſchung losgeworden fein, in der 
fie nie war, denn fo oft fte auf Bacon zurüdgeblidt hat — 
ih meine die Welt, die wirklich umter feinem Einfluffe geftan- 
den hat und fteht, — hat fie allemal das neue Drganon vor 
fi) gefehen, und nie die „silva silvarum“. Und wenn heut 
zu Zage die englifhen Landwirtbe noch nach Bacon's Vorbild 
erperimentiren, fo ift e8 nicht feine Schuld, fondern die ihrige, 
daß fie nach drittehalb Jahrhunderten nicht weiter gekommen 
find. Hätte Bacon die Werke der Naturforfhung und Erfin- 
dung ebenfo praltiſch zu fördern gewußt, als er den Werth 
und die Bedentung beider theoretifch zu erleuchten vermocht 
hat, jo würde er Bedingungen vereinigt haben, die fi in dem⸗ 
jelben Kopf höchſt felten zufanmenfinden und kaum fo, daß fie 
fih gegenfeitig befruchten. Man kann in den Werten der 
Entdedung und Erfindung ein Meifter fein, ohne alle Fähig⸗ 
feit darüber zu philofophiren, und man Tann über den Werth 
und bie Bedeutung beider vortrefflich philofophiren, ohne das 





605 


Mindefte darin zu leiften. Das Beiſpiel eines ſolchen Philo- 
fophen möge Bacon fein, das Beiſpiel eines ſolchen Natur- 
forichers ift Liebig, der nie weniger in feinem Element iſt, 
als wenn er fih anſchickt, über Entdedung und Erfindung zu 
philofophiren. Man höre über bdiefes Thema Bacon -und 
man fühlt in jedem Wort feine Stärke, man höre Liebig, um 
zu erfahren, wie ſich das Gegentheil ausnimmt. „Die Erfin- 
dung ift Gegenftand der Kunft, ber der Wiffenfchaft ift die 
Erkenntniß; die erftere findet oder erfindet die Thatfachen, die - 
andere erklärt fie, die Tünftlerifchen Ideen wurzeln in der 
Phantafie, die wilfenfhaftlihen im Verſtande. Der Erfinder 
iſt der Mann, der den Bortichritt macht, er erzeugt einen 
neuen oder er ergänzt einen vorhandenen Gedanken, fobaß er 
jegt wirkfam oder der Verwirklihung fähig ift, was er vor⸗ 
ber nicht war, fein Fuß überfchreitet den betretenen Pfad, er 
weiß nicht, wohin er tritt, und von Zaufenden erreicht viel- 
leicht nur einer fein Ziel; er weiß nicht, woher ihm ber Ge⸗ 
danke kommt, noch vermag er fi Nechenfchaft zu geben über 
fein Thun. Erft nach ihm kommt der Mann der Wiffen- 
haft und nimmt Befik von feinem neuen Erwerb, die Wiſſen⸗ 
haft mißt und wägt und zählt ben Gewinn, fodaß ber 
Erfinder und jedermann jett bewußt wird, was man hat; fie 
lihtet das Dunkle und macht das Trübe Har, fie ebnet den 
Weg für den nachkommenden Erfinder u. f. f.”*) 

Sollte man glauben, daß diefe Säte von einem Manne 
herrühren, der das Genie und ben Ruhm des Erfinders ges 
habt bat? Säge, in benen ein Wort bas andere verdunkelt 


*) Weber Fr. Bacon v. Berulam u. |. f., S. 46. 





506 


und wonah niemand weiß, was Crfindung fein foll, ob 
tappen, finden oder erfinden? Hätte Bacon auf diefe Art 
über die Natur und den Werth der Erfahrung, Entdedung, 
Erfindung geredet, fo würde feine Bbhilofophie in der Welt 
feine Leuchte geworden und fo unberühmt geblieben fein, als 
ihr jüngfter Gegner fie machen möchte. 








Drittes Vuch. 
Bacon's Nachfolger. 


— ———— —— 


Erfies Kapilel. 
Die Fortbildung der baconiſchen Philoſophie. 





J. 
Die baconifche Philoſophie als Empirismus. 


In den folgenden Abjchnitten, welche den Epilog dieſes 
Werkes bilden, will ich die gefchichtliche Tragweite der baco- 
nifchen Lehre darthun und zeigen, wie weit man von bier aus 
die neuen Gebiete der Bhilofophie überfchaut, die Bacon's 
geiftige Nachkommen angebaut haben. Es ift nur eine Aus- 
fiht, die ich meinen Lefern biete, Teine Reife. Da man Ba⸗ 
con's epochemachende Bedeutung und feinen fortwirkenden Ein⸗ 
fluß von manden Seiten in Zweifel gezogen, ja fogar verneint 
hat, wie wir noch eben am DBeifpiele Liebig's gejehen, fo 
werde ich die fon entwidelten Gegengründe nicht beffer unter: 
ftägen Tönnen als durch den gefchichtlich geführten Beweis, daß 
Bacon ben Entwiclungsgang der neuern Erfahrungsphilofophie 
beherriht, daß die Stufen und Wendepunlte der letzteren in 
feiner Lehre entweder unmittelbar oder mittelbar angelegt find. 

Sowenig im gewöhnlichen Sinn von einem baconifchen 
Syſtem geredet werben kann, fowenig giebt e8 ftreng genom⸗ 





510 


men eine baconifhe Schule. Syſteme leben fich aus, denn bie 
Formen find wandelbar, aber eine nothwendige in ber menfch- 
fihen Natur begründete Geiftesrihtung ift ungerftörbar. Se 
näher eine Bhilofophie dem Leben felbft fteht, je mehr ihre 
Begriffe Bebürfniffen entſprechen, um fo weniger fyftematifch 
wird wahrſcheinlich eine ſolche lebensvolle Philoſophie fein, 
aber um ſo nachhaltiger und dauernder iſt ihre Geltung. Es 
iſt unmöglich, aus der menſchlichen Wiſſenſchaft die Erfahrung, 
aus der Erfahrung das Experiment, die Vergleichung der Fälle, 
die Bedeutung der negativen Inſtanzen, den Gebrauch der 
prärogativen zu vertreiben; es iſt unmöglich, dem menſchlichen 
Leben die Bildung und Güter zu entfremden, welche das 
erfahrungsmäßige Wiffen einträgt, die Naturforſchung und bie 
Erfindung; und wenn dies alles unmöglich iſt, fo fteht die 
baconifche Philoſophie feſt und gilt ihrer Richtung nach für 
alle Zeiten. 

Aber eine andere Frage ift, ob alles menfchlihe Wiffen 
blos in ber finnlichen Erfahrung befteht, ob aus dieſem Prin- 
cip alle erfahrungsmäßigen Erkenntnißaufgaben wirklich geföft 
und die Thatfache ber Erfahrung felbft erklärt werben Tann. 
Ein anderes ift Erfahrungen machen, ein anderes die Erfah. 
rung zum Princip machen: das Erſte ift Empirie, das Zweite 
Empirismus Kmpirie ift Erfahrung als geiftige Lebens⸗ 
fülle, al8 erworbener Vorftellungsreihthum, Empirismus tft 
Erfahrung als Grundſatz, den man haben und babei an wirk⸗ 
lichen Erfahrungen fehr arm fein kann. Welterfahrung be 
reichert die Wifjenfchaft immer und erweitert fie ins Unermeß⸗ 
lie, in dem Antrieb dazu Tiegt Bacon's pofitive .und dauernde 
Wirkung; diefe bloße von ber finnlichen Weltlenntniß genährte 
Erfahrung befriedigt nicht alle Erkenntnißbedürfniſſe der menfch- 








511 


lihen Natur, aber fie fteht auch feinem im Wege; dagegen bie 
Erfahrungsphilofophie widerſetzt ſich ausdrücklich jeber fpecu- 
lativen Regung, die fih in dem Stoffe der Welterfahrung 
nicht befriedigt; fie ſchwächt oder verneint das wiffenfchaftliche 
Intereffe an jedem Object, das nicht im Geftchtsfreife der 
emptrifchen Boritellung liegt. Der Empirismus enthält einen 
Srundfaß, der ohne weiteres gilt, und eine Schranke, über 
welche das menfchliche Wiffen nicht hinausgehen foll: er ift in 
der erſten Rüdficht dogmatiſch, in der zweiten ausfchließend 
and beſchränkt. Und doch wollte Bacon, indem er die Er- 
fenntniß ganz an die Richtſchnur der Erfahrung legte, Teinen 
Grundſatz bulden, der Allgemeingültigleit beanſprucht, und Feine 
Schranke, die als Herculesſäule auftritt. | 

Es foll nur durch Erfahrung gewußt werden: das ift 
das erite Ariom der baconifchen Philoſophie. Wird dieſes 
Ariom auch durch Erfahrung gewußt und durch welche? Welche 
Erfahrung macht den Erfahrungsgrundfag ? Welche verbürgt 
ihn? Wir beurtheilen die Erfahrungsphilofophie blos durch 
ihre eigene Marime, wir unterwerfen das Anſehen derfelben 
lauter baconifchen ragen, und wenn bei der fortfchreitenden 
Begründung am Ende die Unmöglichkeit einleuchten follte, die 
Erkenntniß auf Grund der bloßen Erfahrung zu rechtfertigen, 
fo wird in diefem Fortgange ein Punkt fommen, wo fidh der 
Empirismus nothgedrungen in Stepticismus verwandelt. 


11. 
Entwicklungsgang des Empirismus. 


Der von Bacon begründete Empirismus beherricht eine 
Richtung der neuern Bhilofophie vollkommen und entwickelt in 


512 


feiner gefchichtlichen Fortbildung alle in ihm enthaltenen Fra⸗ 
gen, eine nach der andern, in naturgemäßer Ordnung. Es 
läßt fi vorausfehen, daß auf diefem Wege die Erfahrungs: 
philofophie, indem fie fih in das Maß der Grundfäge fügt, 
mit jedem Schritt enger und ausfchließender, zugleich folge- 
richtiger und ſyſtematiſcher ausfallen wird. Ihre Charakter 
züge, die mit jedem logiſchen Fortfchritt fchärfer und deutlicher 
hervortreten, find in der baconifchen Lehre ſämmtlich angelegt 
und vorgezeichnet. 

In der That tft die Neihenfolge der Fragen fo einfach 
disponirt, daß ihre gejchichtliche Auseinanderfeßung feine andere 
fein Tonnte, als fie war. Alles Erkennen ijt Erfahrung: auf 
diefem Satze fteht die baconifhe Philofophie. Alſo ift die 
Erfahrungswiffenichaft, d. 5. nach Bacon die Naturwiffenfchaft, 
die Grundlage aller Wiffenfchaften, alfo die Natur der Grund, 
ans dem alle Erfcheinungen folgen, alle daher abgeleitet werden 
müſſen. Nennen wir diefen Standpunft Naturalismus, fo 
wird die Ausbildung deffelben der nächfte Schritt fein, den der 
Empirismus thut, in baconifchem Geift, in Bacon's Spuren, 
aber weit rüdfichtslofer und darum folgerichtiger, als Bacon 
wollte oder wagte. 

Alle Erkenntniß ift Erfahrung: fo lehrt Bacon. Soll 
diefer oberfte Sat des Empirismus tiefer begründet werden, 
fo Heißt die nächte Frage: was ift Erfahrung? Welches find 
die Bedingungen, aus denen fie folgt? Die Antwort lautet: 
alle Erfahrung ift finnlihe Wahrnehmung oder Senfnalität, 
diefe daher der Grund aller Erkenntniß. Die Ausbildung 
diefes durch den Empirismus gebotenen und vorbereiteten 
Standpunkts ift der Senfualismus. 

Nehmen wir den Senfualismus zum Ausgangspunft, fo 





513 


gefchieht von hier aus der Fortgang in zwei Richtungen, die 
einander wiberjtreiten, gleichwohl in der fenjualiftifchen Er- 
fenntnißtheorie ihren gemeinfamen Urſprung haben. 

Die neue Frage heißt: was ift Wahrnehmung? Oder da 
alles Wahrnehmen in einem Pereipiren von Eindrüden in une 
beiteht, woher kommen biefe Eindrüde? Setzen wir, biefe 
Eindrüde in uns find Vorftellungen oder Ideen, die als folche 
geiftigen Urfprungs und geiftiger Natur fein müſſen, jo lautet 
die Erklärung, alle Erkenntniß⸗ oder Wahrnehmungsobjecte 
find Ideen, es giebt daher nichts als Geifter und Ideen: der 
Standpunkt des Idealismus, der geraden Weges aus dem 
Senfualismus hervorgeht. Sekten wir dagegen, jene Eindrücke 
oder Impreifionen find Bewegungserfcheinungen, die als folche 
fürperlihen Urfprungs und Förperlicher Natur fein müfjen, fo 
lautet die Erklärung, alle Wahrnehmung ift Sinnesempfin- 
dung, alle Empfindung ift ein Erregungszuftand körperlicher 
Drgane, e8 giebt nur Materie und Bewegung: der Standpunft 
des Materialismus. 

Wenn aber die Elemente aller Erfenntnig bloß Eindrüde 
find, gleichviel ob diefe Eindrüde Ideen oder Impreffionen, 
‚ob fie Vorſtellungs⸗ oder Bewegungsacte, ob fie geiftiger oder 
förperlicher Natur find: wo bleibt die Möglichkeit einer ob- 
jectiven und nothwendigen Erfenntniß, einer objectiven, da 
jene Eindrüde lediglich in das Gebiet der fubjectiven menſch— 
fihen Natur fallen, gleichviel ob fie geiftiger oder Leiblicher 
Art find, einer nothwendigen, da in jenen Eindrüden nichts 
liegt, das fie in einleuchtender und allgemein gültiger Weiſe 
verbindet? Daher wirb die Erfahrungsphilofophie, nachdem 
fie alle ihre Mittel dargelegt und berechnet hat, zu dem Er- 


gebniß kommen müſſen, daß mit diefen Mitteln die Bedin⸗ 
Fiſcher, Bacon. 33 








514 


gungen zu einer wirklichen Erfenntniß nicht gedeckt werden 
können, daß es daher eine folche Erfenntniß nicht giebt: fie 
nimmt den Standpunkt des Stepticismus, mit dem bie 
Entwidlung des Empirismus endet. ‘Der Entwidlungsgang 
führt von Bacon zu David Hume durd die Standpunkte des 
Naturalismus, Senfualismus, Idealismus und Materialismus: 
den Naturalismus auf baconifcher Grundlage vertritt Thomas 
Hobbes, den Senfualismus John Rode, den Idealismus George 
Berkeley, den Materialisınus die franzöfifhe Aufflärung, die 
in Voltaire von Rode ausgeht, in Condillac fi den Ma- 
terialisnıug zuwendet, in Helvetius, Diderot, La Mettrie fort- 
Ichreitet und in dem „systeme de la nature” die ünßerfte 
Grenze erreicht. Dieſe franzöſiſche Philofophie ſtammt von 
Lode und ift ein Nebenzweig an bem großen Baum des Em- 
pirismus, der in Bacon wurzelt, in Hume gipfelt, und deſſen 
Hauptäfte Hobbes, Rode und Berkeley find. 

In der Dentweife des Empirismus find gewiffe Grund» 
züge enthalten, die gleich in Bacon hervortreten und fid in 
feinen Nachfolgern wie ein Familientypus erhalten. Die Er=- 
fahrungsphilofophie kann als wirkliche Dinge nur die wahr- 
nehmbaren d. 5. einzelnen Objecte gelten laſſen und erflärt 
die Gattungen oder Allgemeinbegriffe für bloße Abftracta, die 
nicht Vorftellungen der Dinge, fondern Zeichen für Vorſtel⸗ 
lungen find, wie die Namen oder Worte Zeichen für Abftracte, 
die darum die Dbjecte auch nicht erkennbar, fondern nur mit- 
theilbar machen. Diefe Erfahrungsphilofophen denken in Rüd- 
fiht der Gattungen nominaliftifch, wie bie Scholaftifer, die 
ihnen vorausgehen, aber fie find antiſcholaſtiſch, da ſich 
ihr Intereffe von den Glaubensobjecten abwendet und auf die 
natürliche Erkenntniß der finnlihen Dinge richtet; fie machen 





515 


aus diefer Richtung den Grundzug bes neuphiloſophiſchen 
Realismus im ausdrüdfichen Gegenfag zu dem fcholaftifchen 
Realismus, zu Plato und Ariftoteles, zu der gefanmten 
Sormalphilofophie, und in demfelben Maß, als fie die Gat- 
tungen, die Formen, die Zwecke als Idole und veraltete Irr⸗ 
thümer anfehen, müffen fie die teleofogifche Erklärungsweiſe 
verwerfen und die mechanifche zur Geltung bringen. Die 
Elemente aller wirklichen Objecte find die Einzelvorftellungen 
und Einzeldinge, aus deren Verbindung und Zufammenfegung 
allds Weitere abgeleitet fein will; daher nimmt die Erfahrungs- 
philofophie die Richtung der atomiftifchen Denkweiſe in 
dem Bewußtfein ihrer VBerwandtfchaft mit Demofrit. Werden 
die wirklichen Objecte oder die finnlihen Dinge gleichgefet 
den Körpern, die unabhängig von der Vorſtellung als Dinge 
an fich gelten, fo fällt der Atomismus mit dem Materialismus 
zufammen. 

Wir werden bier in gebrängter und deutlicher Kürze die- 
jenigen Hauptzüge der Crfahrungsphilofophie hervorheben, 
welche die baconifche Lehre fortbilden, fei e8 daß fie Forde⸗ 
rungen erfüllen, die Bacon geftellt, oder Unterfucdjungen aus» 
führen, die er angeregt hat, ich meine folche Forderungen und 
Aufgaben, welche unmittelbar die philofophifchen Grundfäße 
ſelbſt betreffen. Auf diefe ihre baconifche Herkunft richtet fich 
unfere befondere Aufmerkfamfeit aus zwei Gründen: einmal 
weil man diefe Genealogie zu wenig beachtet und die Yort- 
bildner ber Erfahrungsphilofophie zu fehr als felbftändige und 
eigenthümliche Denker angefehen bat, was fie Bacon gegenüber 
nicht oder in weit geringerem Maße find, als man glaubt, 
man bat verlannt, daß Bacon die Duelle des neuphilofophi- 


ſchen Realismus ift und zwifchen ihn und die Fortbildner eine 
33% 


516 


Waſſerſcheide gefett, die ihre Zeitalter trennt; dann weil Die 
jpäteren Entwidlungsformen der Erfahrungsphilojophie felbft 
nicht beffer begriffen und gewürdigt werben können, al® wenn 
man fie aus ihrem natürlichen Urfprunge, aus ihrem gefchicht- 
lichen Entftehungsgrunde herleitet und gleichfam mit der Wur- 
zel aus der baconifchen Lehre herauszieht. Bacon felbft, wo 
er von der Lehrmethode handelt, macht einmal bie treffenbe 
Bemerkung, daß die Objecte am beften gelehrt werben, wenn 
man den Lernenden ihre Wurzeln bloßlege. *) 


*) De augm. Lib. VI, cp. 2. Op. p. 152. 





Bweiles Kapitel, 


Der Naturalismus: Thomas Hobbes. A. Das Berhältniß 
von Natur und Staat, 


I. 
Hobbes, Aufgabe nnd Beitalter. 


Alle Erkenntniß fol ſich nach Bacon auf die reine Er⸗ 
fahrung gründen und dieſe auf den natürlichen Verſtand, deſ⸗ 
fen Objecte die ſinnlichen Dinge find. Daher iſt die Erfah- 
rungserfenntniß gleich) der Naturwiſſenſchaft. Die Natur- 
wiffenichaft, Hatte Bacon mit großem Nachdrucke gejagt, tft 
feine Hülfswiffenfchaft, Fein Webergang, feine Brücke (ponti- 
sternium) zu Anderem, fondern ‚die große Mutter aller 
Wiffenfchaften”, auf ihrer Grundlage follen fi) nicht blos 
die phyſikaliſchen Fächer erneuen, wie Aftronomie, Optik, 
Muſik, nicht blos die mechanischen Künfte und fogar die Me⸗ 
dicin, fondern, was manche noch mehr wundern wird, aud) die 
humaniftifchen Wiffenfchaften, wie Moral, Bolitit, Logik. 
„Es ift fein Wunder, daß die Wiffenfchaften nicht wachen, da 
fie entwurzelt find.” Und an einer andern Stelle fagt er: 
„Sch muß wiederholen, was ich ſchon oben erflärt habe, daß 








518 


man die Naturwiſſenſchaft auf die einzelnen Wifjenfchaften an- 
wenden und dieſe auf jene dergeftalt zurüdführen müffe, daß 
fein Riß und Feine Zerftüdelung in der Erfenntniß entfteht, 
Sonst ift auf feinen Fortſchritt zu Hoffen.” *) 

Die Naturwiffenfchaft foll das Fundament aller Wiffen- 
Ihaften, auch der moralifchen fein, diefe Forderung hatte Ba- 
con unumwunden geftellt, wie er fie nach der Anlage feiner 
Philoſophie ftellen mußte, aber er felbft hatte dicfer Forderung 
feineswegs Genüge geleiftet, er hatte fie in der Moral nır 
andeutungsweife, in der Politik nicht .erfüllt und die Religion 
von ihrer Erfüllung direct ausgefchloffen. Weber die Politik 
wollte er fehweigen, die Religion follte nad) ihm nichte mit 
der natürlichen Erfenntniß zu thun Haben: hier ift innerhalb 
der baconischen Philofophie eine offen gelaſſene Lücke und des⸗ 
halb die nächte zu Löfende Aufgabe. Wenn die Philofophie 
an den Bunkten ftehen bleiben will, wo Bacon aus Gründen, 
die wir ſehr genau kennen gelernt haben, nicht weiter gehen 
mochte, fo entfteht jener Riß in unferer Erfenutuiß, den er 
jelbft für einen verzweifelten Zuftgnd anfah. 

Die Aufgabe ift einleuchtend: die moralifhen Wiſſen⸗ 
haften follen der Naturwiffenfchaft gehorchen, die moralifche 
Welt foll aus Naturgefegen erklärt, auf den natürlichen Zu- 
ftand des Menfchen gegründet und daraus hergeleitet werben. 
Die Doppelfrage Heißt demnach: was ift dev menfchlihe Natur: 
zuſtand? Wie folgt aus ihm die moralifche Ordnung? Oder 
in baconifche Ausdrüde gefaßt: wie folgt aus dem menschlichen 
„status naturalis” der „status civilis”? Es Handelt ſich 


*) Nov. Org. Lib. I, 88. 107. Op. p. 300. 313—14. ©. oben 
Bud U, Cap. VI, ©. 248 fig. 





519 


um die rein naturaliftifche Begründung der fittlidhen Welt, um 
diefen Standpunkt des Naturalismus, der aus dem Empiris- 
mus folgeridhtig hervorgeht. 

Diefe Aufgabe ergreift und Löft Thomas KHobbes, Ba⸗ 
con’s unmittelbarer Nachfolger und Schüler. Er war im Jahr 
der Armada geboren und hat den Meifter um mehr als ein 
halbes Jahrhundert überlebt (152&8—1679); Bacon's Zeitalter 
war das der Elifabeth und des erften Stuart, es fällt zu- 
fammen mit Englands nationalem Auffhwung unter dem 
Scepter ber großen Königin, mit dem Abfall von der natio- 
nalen Politik und den parlamentarifhen Kämpfen unter Jalob, 
welche die Staatsumwälzung vorbereiten; Hobbes erlebt bie 
Erſchütterungen, die Bacon kommen fah, die Rebellion, den 
Sturz des Thrones, die Errichtung der Republik, die Wieder- 
berftellung der Stuarts. Ein Iahrhundert englifcher Geſchichte 
liegt zwifchen dem Untergange der Armada und der Vertrei⸗ 
bung des legten Stuart; dort fiegt die religiöfe Freiheit Eng- 
fands und mit ihr die politifhe, bier die politifche Freiheit 
und mit ihr die religiöfe, dort die zur Nationalſache gewor- 
dene Neformation, bier die „Revolution; zwiſchen beiden 
Epochen die „Rebellion, die Republik, die Neftauration. Die 
drei größten Philofophen, die England im Laufe jenes Jahr⸗ 
hunderts gehabt Hat, find die Söhne diefer Zeitalter gewefen 
und ihre Lehren verhalten fich, wie ihre Epochen. Bacon ent- 
Spricht der Reformation, Locke der Revolution, Hobbes, zwifchen 
beide geftellt, in die Zeiten der Rebellion und Reſtauration, 
hat feine Aufgabe jo gefaßt, daß er beiden Rechnung trägt 
und fich die Frage aufwirft: wie muß der Staat beicdaffen 
jein, um dem Ungeheuer der Rebellion, das ihn verſchlingt, 
ben Fuß dergeftalt auf den Naden zu fegen, daß es ſich nicht 


520 


mehr rührt? Ungeheuer will durch Ungeheuer vertilgt oder 
beherricht fein, der Drache durd den Leviathan. Um die 
Drachenſaat des Kriegs, von der Natur ausgebrütet, zu ver- 
nichten, werde der Staat ein Leviathan! Bacon hatte fo oft 
und nachdrücklich erklärt, e8 fei dev Zweck des Staats, in fei- 
nem Gebiet den Frieden zu begründen und zu fichern; dieſen 
Zwed will Hobbes auf unfehlbare Art erreicht fehen, daher 
ſoll nad) ihm der Staat alle Macht haben, er foll in feinem 
Gebiet allmädhtig fein, ein „fterblicher Gott”, er foll e8 fein 
nicht im Wiberftreit, fondern im Einklang mit dem Natur- 
gefeß. Auf diefen Punkt richtet ſich Hobbes’ Aufgabe und 
Lehre. *) 


11. 
Löſung der Aufgabe. 


1. Die Grundlage. 


Die Löſung geſchieht in jener nominaliftifch- atomiftifchen 
Denfweife, die Bacon's philofophifche Geiftesart Tennzeichnete 


*) Die Hauptfragen, mit denen ſich Hobbes’ Werke befchäftigen, 
gehen auf die menſchliche Natur und die bürgerliche Gemeinfchaft, feine 
beiden erſten Schriften, engliſch geſchrieben, nur wenigen mitgetheilt, 
nod dor dem Ausbruch des Bürgerkriegs verfaßt, find dieſen Lnter- 
fuhungen gewidmet: „On human nature” und „De corpore politico”. 
In bie Zeit von 1610—1653, während deren er im Auslande weilte, 
fallen die Schriften: „De cive”, 1642; „Leviathan sive de materia, 
forma et potestate civitatis ecclesiasticae et civilis“, 1651 (englifch), 
1670 (fateinifh). Nach feiner Rückkehr erfchienen die beiden Schriften: 
„De corpore“ (1655) und „De homine” (1658). Der Leviathan ift 
fein Hauptwert. Wir werden unfere Darfichung um fo kürzer faffen 
dürfen, als Hobbes felbft feine Weitläufigkeit durch die Rüdficht auf be- 
fangene und vorurtheilsvolle Lefer entjchuldigt (Cap. 47, p. 326; Tat. 
Ausg., Amfterdam 1670). 








521 


und fi in Hobbes mit ihrer ganzen Schärfe dergeftalt aus- 
prägt, daß fte im Unterfchiede von Bacon die Form eines 
Syftems annimmt und ausbildet. Nicht aus einer pedan- 
tiichen Neigung, fondern weil e8 die Aufgabe, die Hobbes ge- 
feßt war, fo mit fich brachte; er folfte die fittliche Welt ihrem 
ganzen Umfange nad aus der Natur des Staates ableiten und 
diefen felbft vein naturaliftifch begründen: daher war ihm die 
Form der Begründung, der Weg der Deduction, die „ſynthe⸗ 
tifche oder compofitive Methode“, wie er felbft fie nennt, vor- 
gefchrieben, und indem er diefe Erfenntnißart nach dem Vor— 
bilde der Geometrie für die Philofophie in Anfpruch nahm, 
hielt er die letztere ausdrücklich dem bloßen Empirismus ent- 
gegen. Hier ift die Differenz zwifchen Hobbes und Bacon, 
bie, ich wieberhole es, keineswegs den einen vom andern trennt, 
fondern in der gemeinfamen von Bacon beherrichten Sphäre 
enthalten ift und aus der Aufgabe folgt, die durch Bacon be- 
ftimmt war. | 
Ein Syſtem von Folgerungen fordert eine Principienlehre, 
auf die es ſich gründet, eine Art Metaphyſik oder „philosophia 
prima”, die das Lehrgebäude trägt. Hobbes muß dieje For- 
derung an ſich felbft ftellen und, fo fehr fie dem Empirismus 
zu widerftreiten fcheint, mit den Mitteln deſſelben erfüllen. 
Das ift der ihm vorgezeichnete Weg, den er genau einhält. 
Wie ift aus dem Erkenntnißſtoff, den der Empirismus ale 
alleinigen zuläßt, eine Erfenntniß aus Principien möglich? 
Ein Syftem ift ein Inbegriff allgemeiner Wahrheiten, die 
durch den Zufammenhang von Grund und Folge, durch Be— 
weife und Schlüffe verfnäpft find; die Elemente eines Syſtems 
find daher wahre Säge, deren Beſitz Wiffenfhaft und deren 
umfaffender Beſitz Weisheit genannt wird; die Klemente der 


522 


Säge (Urtheile) find Worte, welche felbft nichts anderes find 
al8 Zeichen (Noten oder Marken) für Vorftellungen, gemacht 
und erfunden, um bie leßteren ſowohl zu behalten als mitzu- 
theilen. Entweder laffen ſich diefe Zeichen miteinander ver- 
binden oder nicht, entweder find fie vereinbar oder unvereinbar: 
im erſten Ball ift der Sag, der die Verbindung ausmacht, 
wahr, im andern abjurd. Alles Begründen und Folgern ift 
daher nichts anderes als ein Verbinden und Trennen von 
Sätzen, bie felbit lediglich im Verbinden und Trennen bon 
Worten beftehen, im Addiren und Subtrahiren diefer Zeichen 
oder Marken. Beweiſen Heißt Schlüffe addiren, fchließen beißt 
Urtheile addiren, urtheilen Heißt Worte addiren. „Die Ber- 
ftändigen”, fagt Hobbes, „brauchen die Worte als Rechen⸗ 
pfennige, die Thoren als wirklihe Münze, deren Bild und 
Ueberfchrift fie verehren, es fei nun diefes Bild Ariftoteles, 
Cicero oder der Heilige Thomas. Daher befteht nach Hobbes 
alfer Erlenntnißftoff, den wir vermöge des Räfonnements 
ſyſtematiſch ordnen, in Worten, die gleich Rechenpfennigen find, 
das Räſonnement felbjt im Addiren und Subtrahiven diefer 
Zeichen d. 5. im Rechnen, daher die dharakteriftifhe Er- 
Härung: „Denten ift Rechnen.” Diefes Rechnungsver⸗ 
mögen, nämlich die Fähigkeit, die Vorftellungszeichen unter- 
einander zu verbinden, ift die Vernunft, die den Menſchen vom 
Thier unterfcheidet; das Thier hat Verftand d. h. die Fähig- 
feit ein Wort zu verftehen oder mit dem Wort als Zeichen 
eine Borftellung zu verbinden, aber es kann die Vorftellungs- 
zeichen nicht untereinander verknüpfen, d. h. es Tann nicht den⸗ 
fen. Die Wiffenfchaft ift an die Sprade, an die Geltung ber 
Worte gebunden, kraft deren es allein möglich ift, gemeingül- 
tige Säge zu bilden und daraus ein Shftem von Folgerungen 





523 


zu entwideln, das einer Grundlage bedarf, auf die es fid 
ftügt. Diefe Grundlage bejteht in den Elementarſätzen, das 
find diejenigen Worterflärungen oder Definitionen, die nach dem 
Beifpiele der Geometrie einen bündigen Zufammenhang von 
Folgefägen ermöglichen und fordern. Die Einfiht in jene 
Grundfäge aller Wiffenjchaften giebt die Fundamentafphilo- 
ſophie (philosophia prima), die in Hobbes’ Lehre den meta- 
phyſiſchen Zug ausmadt. 

Nicht in ernfthaftem Gegenfat zum Empirismus. Das 
Material find Worte, die Vorftellungen bezeichnen und darum 
vorausſetzen. Was durch das Wort zum Ausdrud fommt, find 
veralfgemeinerte Borftellungen, fogenannte Gattungsbegriffe, 
die auf feine andere Art feftgehalten, aufbewahrt, verfnüpft 
werden können, fie leben nur vermöge der Worte und in ihnen: 
hier ift Hobbes’ nominaliftifche Denkweife, von der die Art 
der metaphyſiſchen abhängt. 

Berallgemeinerte Vorftellungen feßen Einzelvorſtellungen 
voraus, aus denen fie hervorgehen, fie find nichts anderes als 
deren Lleberbleibfel, daher ärmer, ſchwächer, umdeutlicher als 
diefe und in demfelben Maße einander ähnlicher. Nennen wir 
die Einzelvorftellung Wahrnehmung und deren zurüdgebliebene 
Spuren oder Nachwirkungen Erinnerung (Gedächtniß), fo find 
jene Sattungsvorftellungen verblaßte Erinnerungsbilder, deren’ 
Fortdauer und Mittheilung an die (Erfindung der) Sprade 
gefnüpft ift, und deren Originale unfere Wahrnehmungen oder 
Sinnesempfindungen find. Diefe Empfindungen find Vorgänge 
in unferen Lörperlicen Organen, fie find das Product zweier 
Factoren, hervorgerufen dur den Eindrud von außen und 
beftimmt durch die eigenthümliche Gegenwirkung oder Reaction 
von innen. Die Urfahe des Eindruds ift Bewegung, die 











624 


Folge der Reaction ift Empfindung; der Eindrud ober die 
Bewegung wird vermöge unferer Sinnesthätigkeit in Berception 
oder Empfindung umgewandelt, daher ift die letztere fein Ab- 
bild der Bewegung, keine Erfenntniß ihrer Urſache, denn es 
giebt keine Achnlichkeit zwifchen unferer Empfindungsart und 
der Bewegung, bie fie verurfadt. 

Es giebt demnad für den gefammten wiſſenſchaftlich zu 
ordnenden Vorftellungsftoff Feine andere Duelle als die im 
Gedächtniß behaltene Wahrnehmung d. h. Erfahrung: hier ift 
Hobbes’ Empirismus. Es giebt für die Wahrnehmung feine 
andere Duelle als unfere Sinnesthätigfeit und Empfindung: 
hier ift Hobbes’ Senfualismus. Es giebt für die Empfin- 
dung feine andere äußere Urfache als die Eindrüde der Körper 
auf unferen Körper d. h. die Bewegung: hier ift Hobbes 
Materialismus. 

Unfer Erfenntnißftoff ift gebunden an die Sinneswahr- 
nehmung als feine Quelle, unfere Erfenntnißweife ift gebunden 
an bie Bedingungen der Sprade und Abftraction (veralige- 
meinernde Imagination), die zulett von allen äußeren Dingen 
nichts übrig läßt als das abftracte Außereinander, die Vor⸗ 
jtellung des Raums, und von allen Bewegungserfcheinungen 
nichts übrig läßt als das abftracte Nacheinander, die Vorſtel⸗ 
lung der Succeffion oder Zeit; Raum und Zeit find demnach 
nit Dinge oder Eigenfchaften der Dinge, fondern bloße Bor: 
ftellungsarten, wie alles Abftracte, Formen unferer Einbildung, 
der Rahmen unferes Weltbildes. Daher giebt es Feine ande: 
ren Erfenntnißobjecte al Dinge im Raum und beren Ber: 
änderungen d. 5. Körper und Bewegungen, und es giebt nur 
zwei Arten der Körper: folche, die uns gegeben find, und 
folche, die wir machen, natürliche und künſtliche Körper. Unter 





525 


den Teßteren ift der größte der Menfch im Großen, der gefell- 
ſchaftliche Körper, der Staat. Der Staat ift unfer Werf, wir 
begründen und machen ihn, daher giebt es vom Staat eine 
der Geometrie ähnliche demonftrative Wilfenjchaft, die Hobbes 
in feinen Berfuchen „de corpore politico“ und „de cive” 
entworfen und in feinem „Leviathan“ ausgeführt Hat. 


2. Natur und Staat. 


Der Staat iſt nichts Urfprüngliches, er ift nicht gegeben, 
fondern gemacht; gegeben ift die Natur, der Menfch im Natur- 
zuftande, aus ihm ſoll der Staat hervorgehen als ein menſch— 
liches Product auf eine nothwendige und naturgemäße Weife, 
das ift die‘ Aufgabe: der status naturalis als der er- 
zeugende Grund des status civilis! 

Zunädft find beide Zuftände einander entgegengefeßt, der 
Staat enthält, was der Naturzuftand vollkommen ausfchliekt, 
das menjchliche Gemeinweſen; er ift politifch, der Naturzuftand 
atomiftifh, hier begehrt jeder Traft des Naturtriebes die Er- 
haltung und Förderung feines Dafeins, feine Macht ift fein 
Recht, er braucht und erweitert fie, fo weit er Tann, er gilt 
ſich alles, die anderen gelten ihm nichts. Daraus folgt „der 
Krieg aller gegen alle”, der gefährlichite aller Zuftände, der 
jeden Einzelnen in den Grundbedingungen feines Daſeins be- 
droht, denn jeder fieht in dem anderen den Wolf, der ihn 
frißt, um nicht gefreffen zu werden: „homo homini lupus“. 
Sp wiberftreitet aufs äußerste der Naturzuftand aller dem 
Naturtriebe jedes Einzelnen: diejer fordert die Selbſterhaltung, 
die jener bedroht, die Selbfterhaltung verlangt die Sicherung 
und Sicherheit des ‘Dafeins, die der Naturzuftand aufhebt. 
Darum fordert das Naturgefe jelbft, daß der Naturzuftand 





526 


aufhöre, daß er völlig aufhöre, damit jedem das Dafein völlig . 
gefihert werde. Das Naturgebot fagt: „befämpft euch nicht 
länger, fondern vertragt euch, jeder mit alfen, um feines eige- 
nen Beten willen, fuche jeder feine Sicherheit!” Es giebt 
nur einen einzigen Weg, diefes Geſetz zu erfüllen: der völlige 
und freiwillige Austritt aus dem Sriegszuftande, womit jeder 
Einzelne auf feine bis dahin gültigen Naturrechte verzichtet, 
womit alfe diefe ihre Rechte auf eine britte Gewalt übertragen. 
Das einzige Mittel ift eine ſolche „renuntiatio“, die zugleich 
„translatio“ ift; fie ift allfeitig, denn fie wird von jedem ge- 
fordert, fie ift wecjfelfeitig, denn jeder begiebt ſich aller bis- 
herigen Rechte nur unter der Bedingung, daß die andern daf- 
felbe thun: diefe wechfelfeitige Rechtsübertragung ft der Ber- 
trag*), der den Naturzuftand aufhebt nnd die Geſellſchaft 
gründet, er ift durch das Naturgefeg geboten und darum fo 
nothwendig als diefes. Was aus diefem Grundgeſetz folgt, 
hat naturgefegliche Geltung und Kraft, der Inbegriff diefer 
Folgerungen ift nad) Hobbes „bie einzig wahre Sittenlehre“. 


3. Die abfolute Staatsgewalt. 


Der Naturzuftand, der im „bellum omnium contra 
omnes” beftand, foll gründlich aufgehoben fein und fir im— 
mer. Daher muß die Nehtsübertragung für unwiderruflich, 

Geſellſchaftsvertrag für unumſtößlich gelten, er bedeutet in 

Politik, was die Grundfäge in den Wiſſenſchaften; einem 

undſatz zu wiberfpredjen ift Unfinn, ebenfo ift e8 Unfinn 
Unrecht dazu, jenen Bundamentalvertrag in Frage zu ftel- 





*) Translatio juris mutug contractus dicitur. Ley. I, cp. 15, 
38. 





527 


fen, der das Chaos des menfchlichen Naturzuftandes einmal 
für immer beendet und die menschliche Geſellſchaft einmal für 
immer begründet bat. Soll diefer friedliche und geordnete 
Zuftand unerfchütterlich feftftehen, fo muß in Folge des Ver⸗ 
trages eine Gewalt errichtet werben, die alle Macht und alles 
Recht in fich vereinigt, die unbedingt herrfcht, der die Einzel- 
nen unbedingt gehordheu. Dieſe Gewalt ift der Herrfcher, der 
Souverän, der Staat, in dem alfe vereinigt find, wie vorher 
im Naturzuftande alle getrennt waren; diefe Vereinigung aller 
ift die Gefellfchaft, da8 Gemeinweſen, das Boll. Staat, 
Souverän, Volk find daher nad) Hobbes identifche Begriffe. 
Dem Staate gegenüber giebt e8 nur Unterthanen, er allein 
herrſcht, er allein ift frei, die andern gehorchen, fie müſſen 
thun, was die Geſetze befehlen, ihre Freiheit, fagt Hobbes, 
befteht nur in dem, was die Gefege nicht verbieten. Der An- 
fang des Staats ift das Ende der Anarchie. 

Die Staatsgewalt ift abjolut, fie ift es in jeber Form. 
Diefe Gewalt theilen oder befchränfen heißt fie in Frage ftel- 
len oder die Gefahr des Naturzuftandes erneuern. Welches 
and) die bejondere Verfaffung bes Staats fein möge, in jeder 
ift die Möglichkeit, die Grundlage des Staats zu erjchüttern, 
von Rechtswegen abfolut ausgefchloffen. Es giebt Fein Recht 
zur Revolution, die Anerkennung eines folhen Rechts wäre 
die Verneinung des oberftien Grundfages aller Politil, ebenfo 
nnfinnig als wenn man in ber Geometrie den Raum verneinen 
wollte Darf aber die Staatsordnung in feiner Weife er- 
fhüttert oder gar aufgelöft werden, fo folgt, daß bie be=- 
ftehende Ordnung der öffentlichen Dinge allemal die recht⸗ 
mäßige ift und Hobbes' abjolutiftifche Denkweiſe folgerichtig 
ebenfo antirevolutionär als confervativ ausfällt. 





528 


Der „status naturalis” und „status ceivilis” verhalten 
ih, nad) Hobbes, wie Chaos und Welt, jede Anarchie ift 
Rückfall ins Chaos, jede Revolution ift Sturz in Anardie, 
darum ift nur die abfolute Staatsgewalt im uneingejchränften 
Sinne des Worts im Stande, das alte Chaos zu bündigen 
und feine Rückkehr zu verhüten. Erſt kraft diejer Gewalt 
giebt e8 einen Öffentlichen Willen, ein Gejeß; erſt dem Geſetz 
gegenüber find gefegwidrige Handlungen oder Verbrechen mög- 
ih, erft im Staat giebt e8 Recht und Unredt. 

Je nachdem die Staatsgewalt ausgeübt wird durch Alfe 
(Stimmenmehrheit), Wenige oder Einen, ift die Staatsform 
demofratifch, ariftofratifch oder monarchiſch. Unter allen Um- 
ftänden ift der beftehende Staat der rechtmäßige, die abfolute 
Stoatsgewalt die richtige, weil fie allein die Selbfterhaftung 
des Staats verbürgt und fichert; je einiger und centralifirter 
diefe Gewalt ift, um fo beffer für den Staatszwed, um fo 
zwedmäßiger die Staateform. Darum ift die monardifche 
Staatsform die zwedmäßigfte, weil der Staatseinheit am beiten 
entfpricht die Einheit des Herrſchers. So kommt Hobbes dazu, 
aus dem Naturgefeg das abfolute Königthum zu begründen, 
das Volt ift die geordnete oder vereinigte Menge, diefe ift das 
bürgerliche Gemeinwefen oder der Staat, der Staat tft bie 
abfolute Staatsgewalt, der Souverän, der König. ‘Der König 
ift der Staat, er ift das Voll, er vereinigt in ſich alle bürger- 
fihe Macht, es ift daher Logifc unmöglich, daß fi) das Volk 
gegen den König empöre, da niemand gegen fi felbjt auf- 
ftehen Tann. In dem Staat, den Hobbes für den normalen 
erflärt, gilt im buchftäblichen Sinn das Wort, das der gewal- 
tigfte Monarch jener Zeit im Munde geführt hat: „der Staat 
bin ich!“ 





529 


Das abjolute Königthum auf Grund des Naturgeſetzes 
ift das Thema und die Summe diefer Stantslehre. Das 
Naturgeſetz ift das gegebene, unabänderfiche, aller menfchlichen 
Willkür entrücte und darüber erhabene, nad) Hobbes gleich- 
bedeutend mit dem göttlichen Geſetz. Dieſes Geſetz gelte der 
religiöfen Vorftellung für den Willen Gottes, fo fällt die 
natwraliftifche Begründung der monarchiſchen Stantsgewalt mit 
der religiöfen zufammen und wir haben „das abfolute König- 
thum von Gottes Gnaden“ vor uns, die Theorie der Stuarts, 
der Hobbes das Wort redet. Hier ift die Wendung, mit der 
Hobbes’ Staatslehre in die Zeitftrömung eingeht, welche aus 
den Stürmen der Rebellion die Wiederherftellung des Künig- 
thums ſucht. Diefes praftiihe Ziel feiner Theorie hatte 
Hobbes wohl im Auge. Seten wir die abfolute Stantsgewalt 
als die richtige und die monarchiſche Staatsform als die be- 
jtehende, deren Umfturz die Anarchie herbeiführt, fo vereinigen 
fih für Hobbes alle Gründe der Theorie und Erfahrung, um 
die abjolute Monarchie doctrinär zu begründen. 

Jede andere Stantsverfaffung vermindert bie Sicherheit 
des Staats, ebenfo jede andere Staatslehre. Nirgends find 
die Irrthümer gefährlicher, als auf diefem Gebiet, da ſie hier 
die Öffentliche Sicherheit bedrohen und unmittelbar gemein- 
Ihädlihh werden. Der monarchiſchen Staatsform gegenüber 
liegt die republifanifche, der abfoluten Stantsgewalt gegenüber 
fiegt die befchränfte, fei e8 dag man die Staatsgewalt einem 
höheren Geſetz unterordnet oder ihr eine andere Gewalt neben- 
ordnet, daß man ihr echte irgendwelcher Art auf Seite ber 
Unterthanen gegenüberftellt ober endlich die Stantsgewalt felbft 


theilt und zerfplittert. Ueber dem Könige giebt es fein Staats» 
Fiſcher, Bacon. 34 


530 


gefet, denn er ift der Staat; neben oder unabhängig von jei- 
ner weltlicden Gewalt oder gar über derfelben keine geiftliche, 
denn als Staat vereinigt er alle Gewalten in ji; ihm gegen- 
über giebt es keine Rechte der Unterthanen, denn in der Staate- 
gewalt find alle Rechte vereinigt, und in ihr felbft giebt es 
feine Theilung ober Trennung der Gewalten, denn fie ift einig 
und untheilbar. Der König ift der Staat, er vepräfentirt das 
Volk, er allein; es ift daher Yinfinn, daß ihm gegemüber das 
Volk repräfentirt fein foll in einer gefeßgebenden VBerfamm- 
fung, die eine befondere Gewalt für fich ausmadt. Bon hier 
aus verwirft Hobbes alle widerftreitenden Vorſtellungsweiſen 
als gefährliche Irrthümer, insbefondere die republikaniſche 
Staatslehre, die Lehre vom Rechte der Unterthanen, von der 
Trennung der weltlichen und geiftlichen Gewalt, von Staat 
und Kirche, von der Trennung der Staatsgewalten felbft, von 
ber repräfentativen Staatsform oder die conftitutionelle Staats⸗ 
lehre; er bekämpft die Theorien des Alterthums wie des 
Mittelalters und wird befämpft von denen der neuen Zeit. 
Dem Alterthum gegenüber ift Hobbes Naturalift in der Be 
gründung des Staats und abfoluter Monardift in Betreff ber 
Verfaffung, dem Mittelalter gegenüber ift er der entfchiedenfte 
Gegner der feudalen und hierarchifchen Ordnung, des Lehns- 
weiens, der Adels» und Priefterherrichaft, der neuen Zeit 
gegenüber ift er politifcher Abfolutift. Die Vertheidiger der 
Hierardie, insbefondere die Sefuiten, bekämpfen in ihm ben 
atheiftiihen Politiker; die Vertheidiger der vepräfentativen 
Staatsform, insbefondere Montesguien und Kant, den abfolu- 
tiftifchen, fie ſetzen die bürgerliche Freiheit in die Trennung 
der Staatsgewalten, während Hobbes jede Trennung der Art 





531 


als ftaatsgefährlich anfieht, jede Einſchränkung der monarchi⸗ 
ſchen Gewalt als revolutionär. 

Als die Vertreter der republilanifchen Stantsfehre, die 
ih auf den Sat gründet, das Ganze fei früher als die Theile, 
der Staat ein fittlicher Organismus, deſſen Glieder die Ein- 
zelnen find, gelten ihm die Philofophen des Alterthums, bie 
er aus politifchen Gründen noch Heftiger haft, als Bacon aus 
logiſchen und phyſikaliſchen; wie diefer das ariftoteliiche Or⸗ 
ganon, fo bekämpft Hobbes die ariftotelifche Politik, beide 
werfen auf Ariftoteles die Schuld der ärgften Uebel, die fie 
fennen, Bacon macht ihn verantwortfih für das Elend der 
Wiſſenſchaften und die unfruchtbare Wortweisheit der englifchen 
Univerfitäten, Hobbes für das Elend des Staats, den Umfturz 
der öffentlichen Ordnung, den englifchen Bürgerfrieg und die 
Hinrichtung des Königs, er will die vepublifanifchen Schrift: 
fteller der Griechen und Nömer aus der Erziehung verbannt 
ſehen, wie Plato den Homer, benn fie verberben bie richtige 
Dentweife und erzeugen „bie Krankheit der Tyrannenſcheu, bie 
der Wafferfchen gleich fer“. 

Was die naturaliftifche Begründung des Staats betrifft, 
jo giebt es nad Hobbes zwei Philofophen, die fih in Rück⸗ 
fiht fowol der Uebereinſtimmung als der Differenz mit ihm 
vergleichen: Spinoza und Rouſſean. Alle drei ftimmen darin 
überein, daß fie den Staat auf den Vertrag gründen, den fie 
ans dem Naturzuftande herleiten, daß fie bie Stantsgewalt 
als eine in fich einige und untheilbare faffen, Dagegen find fie 
nicht ebenfo einverjtanden in der Art, wie fie bie rechtsgüftige 
Staatsform beftimmen und den Naturzuſtand ſelbſt anfehen. 
Während Hobbes den Zweck der abſoluten Staatsgewalt in 

34* 








532 


der monarchiſchen Form am beiten, weil am ficheriten, erfüllt 
findet, erklären fid) Spinoza und Rouſſeau für die republi⸗ 
kaniſche Berfaffung, jener mit Vorliebe für die Ariftofratie, 
diefer für die Demokratie. Während Hobbes und Spinoza 
den menschlichen Naturzuftand als Krieg aller gegen alle be- 
trachten, ift Rouſſeau ganz anderer Meinung; nad ihm find 
die Menihen von Natur nicht Teinde, fondern Brüder, ber 
Naturzuftand nit ein wildes Chaos ftreitender Kräfte, ſon⸗ 
dern ein Paradies friedlicher und glücklicher Geſchöpfe, ex ift 
nicht barbarifch, ſondern idylliſch, ein Zuftand, den der bürger- 
liche Vertrag nicht vernichten, fondern fo viel als möglich 
erhalten fol. „Die Menſchen“, ſagt Rouffeau, „verfchenten 
fih bei Hobbes umfonft und fliehen aus dem Naturzuftande 
in den Staat, wie die griechiichen Helden in die Höhle des 
Cyklopen.“ Rouſſeau's Staat verhält fi zu dem von Hobbes, 
wie die mütterliche Natur zu dem furchtbaren Leviathan. Die 
Berwandtichaft zwiſchen Hobbes und Spinoza ift größer und 
geht tiefer al die beider mit Rouſſeau, und wenn wir bie 
Philofophen, die von Bacon und dem Empirismus berfommen, 
mit der entgegengefeßten Richtung des Nationalismus, die 
Descartes einführt, vergleihen, fo ift keiner, der fich mit 
Spinoza in eine fo einleuchtende Parallele ftellen läßt, als 
Hobbes. *) 

Die eine Hälfte der Aufgabe ift gelöft. Im Naturs 
zuftande bedroht jeder die Sicherheit des anderen, die im 
bürgerlichen Zuſtande jeder dem anderen gewährt; dort heißt 


*) Bgl. Rousseau, Contrat social, liv. I, ch. 2—6. Ueber Spi- 
noza's Stantslehre und deren Berhältnig zu Hobbes vgl. meine „Ge 
ſchichte der neuen Philoſophie“, Bd. 1, Abth. 2, 2. Aufl., Cap. XIV, 
©. 3% fig. 











533 


e8: „homo homini lupus“, hier: „homo homini Deus“, 
Der Staat ift naturaliftifch begründet, alles andere, was zur 
ſittlichen Menfchenwelt gehört, muß politiih begründet wer- 
den. Es handelt fih um die politifhe Begründung der 
Moral und Religion: das ift die zweite Hälfte der Auf- 
gabe. 


Drittes Kapifel. 
B. Das Berhältuiß von Staat und Kirde, 


I. 
Aufgabe. 


Die Staatsgewalt ift abfolut, fie begreift alle Gewalt in 
fi, nicht blos die weltliche, auch die Firchliche, die ſich auf 
die Religion gründet. Giebt es eine vom Staat unabhängige 
Gewalt, fo ift die ganze Staatsgewalt fraglich und die Duelle 
nicht feſt verfchloffen, aus der die Anarchie hervorbricht. Nach⸗ 
dem Hobbes den Staat aus dem Naturgeſetz hergeleitet, muß 
er Kirche und Religion auf den Staat gründen und der poli- 
tiſchen Gewalt völlig unterwerfen. Hier Hat es Hobbes mit 
zwei Gegnern zu thun, die einander felbft auf das heftigſte 
wiberjtveiten, deren jeder auf feine Art die Trennung zwifchen 
Staat und Religion, alfo die Unabhängigkeit der letzieren zum 
Ziel hat; die Einen wollen die Unabhängigkeit der religiöſen 
Gemeinde, die Anderen (nicht blos die Unabhängigkeit, fondern) 
die Herrfchaft der Kirche, die abjolute Kirchenherrichaft in der 
Form der Hierarchie und des Papftthums, den kirchlichen Staat 
über dem weltlichen: dort die engliſchen Puritaner und In⸗ 
dependenten, die mit Hülfe der entfeffelten Religion die könig⸗ 





535 


liche Staatsgewalt geftürzt haben, hier die Sefuiten als bie 
Vorkämpfer der römischen Hierarchie, insbefondere der Car⸗ 
dinal Bellarnin, gegen deſſen Bücher von der Vertheidigung 
ber päpftlichen Macht Hobbes einige Abfchnitte feines Leviathan 
richtet. 

Hobbes wird feine Aufgabe fo Töfen, daß die Löfung mit 
feinen politifchen Grundſätzen und Abfichten völlig überein- 
ſtimmt, er wird vom Naturzuftande ausgehen und zu einem 
Ergebniß Tommen, bas für die Religion Feine andere Form 
zufäßt, als die einer Stantseinrichtung, einer foldhen, beren 
muſtergültiges Beispiel fich in der englifhen Staatsliche fin- 
bet. Seine Religionslehre ift Hochlirchenpofitil. Wir haben 
gefehen, auf welchem Wege er von der Natur zum Königthum 
von Gottes Gnaden gelangt. Welcher Weg führt von der 
Natur zur engliſchen Hochkirche? 

Eine Hauptjchwierigfeit ift fchon aus dem Wege geräumt. 
Iſt überhaupt alle menſchliche Gemeinſchaft als geſetzmäßige 
Vereinigung nur möglich durch den Staat und in ihm, ſo 
folgt von ſelbſt, daß auch die Religion als gemeinfamer 
Glaube und gemeinfame Gottesverehrung auf rein politiſchem 
Grunde ruht. Giebt es ein Bolt nur als Staat, jo gilt daf- 
felbe auch von der Bolfsreligion. Jede Vollsreligion ift eine 
Staatseinrichtung. Die Frage nad) der wahren Religion fällt 
bier zufammen mit der Trage nad) der rechtmäßigen, nach der 
öffentlich fanctionirten, nad) der beftehenden, welche die chrijt- 
liche iſt. Daher zieht fih der Kern ber ganzen Aufgabe in 
die Frage zufammen: in welder Form paßt bie chriftliche 
Volksreligion in ben Staat, b. 5. in diejenige politifche Ord⸗ 
nung, welche den öffentlichen Frieden fihert? Die religiöfe 
Trage erſcheint unter dem Standpunkt der Staatsraifon. 


536 


I. 
Löſung. 


1. Die natürliche Religion, 


Der natürlide Zuftand der Menſchen fchließt jede Ge- 
meinſchaft aus, hier herrſchen ungebunden und vereinzelt die 
rohen Begierden; was jeder Einzelne für fi begehrt, das 
iheint ihm gut und das Gegentheil böſe. Gut oder böfe, 
nütlich oder ſchädlich find die Dinge nur, fofern fie begehrt 
oder geflohen werden; an fi find die Dinge, wie Hobbes 
jagt, weder gut noch böfe, weder ſchön noch häßlich. Verſteht 
man unter fittlich oder moralifch Werthe von allgemeiner Gel: 
tung, fo find folche im Naturzuftande nicht möglich, es giebt 
feine natürliche Moral, Teine natürliche Sittenlehre, deun es 
giebt im Naturzuftande Feine gemeinfame Schägung, feine ge- 
meinfamen oder objectiv gültigen Werthe, weil e8 bier über- 
haupt feine Gemeinfchaft giebt. Diefe macht erft ber Staat, 
erft feine Gefee beftimmen, was allen gut oder jchäblic) ift, 
erſt jeßt giebt e8 Gemeinnütliches und Gemeinfchäbliches, ge- 
rechte und ungeredhte Handlungen, Gutes nnd Böſes: der 
maßgebende Unterſchied ift gefegmäßig und gefehwidrig, es 
giebt für die fittliche Werthichäkgung fein anderes Maß als 
das Öffentliche Geſetz, Moralität ift Legalität. „Das öffentliche 
Geſetz“, jagt Hobbes, „ift das einzige Gewiſſen des Bürgers”. 
Es wird fich nad) Hobbes mit der * Religion us verhalten 
als mit der Moral. 

Der natürlihe Menſch folgt feiner Begierde und Ein- 
fiht. Zufolge feiner Begierde haft er, was ihm fchabet, be= 
fümpft und verfolgt er, was er haft; was er nicht befämpfen 





537 


fann, davor fürdtet er fi, er bekämpft die erreichbaren 
Mächte, die ihn bedrohen, cr fürchtet die unerreichbaren, die 
übermädhtigen Naturgewalten, die ihm dämoniſch ericheinen, 
al8 höhere Wejen feiner Art, die jeder nad) der Art und 
Kraft feiner Einbildung phantaſtiſch geftaltet. So entfteht aus 
der Furcht, die von der Unwiſſenheit genährt wird, eine Re⸗ 
ligion in der Form des Götterglaubens, eine natürliche und 
individuelle Religion, die fo viele Arten hat, als Einbildungs- 
hräfte zur Vergütterung der Naturmächte vorhanden find. *) 
Diefe Naturreligion entfteht aus der Furcht, eine andere ent- 
jteht aus der Einfiht, aus dem natürlichen Erfenntnißtriebe, 
der in den Erfcheinungen Wirkungen fieht, die Urfachen auf- 
ſucht, in der Kette der Urjachen fortichreitet und zuletzt eine 
höchſte Welturjache fordert. So entfteht aus der natürlichen 
Einfiht und Neflerion der Glaube an ein Höchftes, über alle 
menſchliche Borftellungskraft erbabenes, darum unerforfchliches 
Weſen. Beide Religionsarten, bie polptheiftifhe und mono⸗ 
theiſtiſche, entitehen aus natürlichen und individuellen Beweg⸗ 
gründen, jene aus der Furcht, diefe aus dem Nachdenken. Da 
e8 aber von ber erften und ewigen Urſache der Welt eine 
pofitive Vorſtellung nicht giebt, fo ift ein folder auf Nad- 
benfen gegrünbeter Glaube an Gott nur die Grenze des Den- 
fens, aber nicht der Inhalt einer Religion. 

Die pofitive Religion im Naturzuftande ift Dämonen- 
glaube, die Dämonen find die Phantafiegebilde der Furcht, 
die aus der Unwiffenheit hervorgeht; die Unkenntniß der natür- 
lichen Urſachen ift die Einbildung übernatürlicher oder dämo⸗ 
nifcher Mächte. Wie bei Epikur die Götter in den Zwilchen- 


*) Leviathan, I, cp. 12, p. 56. 


538 


räumen ber Welt, fo eriftirt- bei Hobbes die Neligion in ben 
Zroifchenräumen der Phyſik. Im Naturzuftande hat jeber feine 
eigene Religion im Gegenfab zu den anderen. Was ihm 
Nugen bringt, ift gut, was dem anderen nügt, ift ſchlecht, 
denn jeder andere ift fein Feind: fo verhielt es ſich mit der 
Moral im Naturzuftande. Ebenfo befämpfen ſich die religiöfen 
Vorftellungen: jeder Hält die felnigen für bie wahren, feine 
Dämonen find Götter, die des anderen Gdken, fein Dämonen: 
glaube ift Religion, der des anderen Aberglaube.*) Im Natur: 
zuftande giebt es fein Kennzeichen, welches die Religion vom 
Aberglauben unterfcheibet, fowenig es ein Kennzeichen giebt 
zur Unterfcheidung von Gut und Böſe. Diele Unterfcheibung 
macht der Staat durch das Geſetz: die legale Handlungsweiſe 
ift gut, die illegale böfe; Religion iſt die legale Gottesver⸗ 
ehrung, die illegale tft Aberglaube. Im Naturzuftande war 
alles böfe, was mir fchabet, alles Aberglaube, was nicht mein 
Glaube ift; dagegen im Staat gilt als Religion bie öffent- 
liche durch die Geſetzgebung Iegitimirte Gottesverehrung, jede 
andere gilt als Aberglaube, den daher Hobbes fürmlich befinirt 
al8 „die Furcht vor ſolchen unfichtbaren Mächten, die feine 
Öffentliche Geltung haben“.**) 


2. Die Etantöreligion ober Kirche. 


Im Naturzuftande giebt es Feine gültige Moral und feine 
gültige Religion, daher weder Sitten- noch Religionslehre, 


*) Leviathan, I, cp. 11, p- 54. 

**) Metus potentiarum invisibilium, sive fictae illae sint, sive 
ab historiig acceptae sint publice, religio est; si publice acceptae 
non sint, superstitio. Lev., I, cp. 6, p. 28. 





539 


beide find exft im Staat möglich, denn erft durch die Staats- 
gefete weiß man, was fittlich und glaubwürdig if. Die Ge- 
meinfchaft der Gläubigen ift Kirche, im Naturzuftande giebt 
e8 Teine Kirche, es giebt keine Gemeinfchaft außer im Staat; 
daher ift der Stant Kirche, die chriftliche Kirche ift der Staat, 
beiten Untertanen Chriften find, d. i, der Staat, der ben 
chriſtlichen Glauben fanctionirt hat, d. i. der Souverän, 
welcher befiehlt, den hriftlichen Glauben zu belennen. 

Run Fönnte es fcheinen, als -ob bei Hobbes die Geltung 
der Öffentlichen Religion gänzlich abhinge von der Laune der 
fouveränen Willkür und es dem Fürſten ebenfo gut gefallen 
fönnte, das Chriftenthum zu verbieten, als zu befehlen. Auch 
hat Hobbes diefen Fall wie ein cafuiftifhes Problem aufge- 
worfen und fi damit geholfen, daß er die innere Glaubens⸗ 
überzengung von dem äußeren Belenntniß trennt, jene fei der 
Staatsgewalt unzugänglich und darum frei, diefes eime bloße 
Geſetzeserfüllung, die der Unterthan zu leiften, nicht zu ver- 
autworten babe, 

Indeſſen fteht die ganze Trage in der Luft und Bat Feine 
praktiſche Bedeutung. In Wirklichkeit ift das Chriftenthum 
gefichert, nicht blos weil es bie beftehende und anerkannte 
Religion, jondern weil das wohlverftandene Chriftenthum un- 
ter den beftehenden Religionen die einzige ift, die ber Levia- 
than vertragen kann. Wenn diefer „fterblihe Gott” eine 
Religion machen follte, die volllommen für ihn paßt, fo 
fönnte es nur eine foldhe fein, die ausdrücklich lehrt, daß ihr 
Reich nicht von diefer Welt ift, daß alle Herrſchaft in biejer 
Welt dem Staate allein gebührt, e8 müßte der Glaube an 
ein künftiges Reich Gottes fein, wozu die Religion die Vor—⸗ 
bereitung trifft und den Weg zeigt. Eben bies war der 





540 


Glaube, den Jeſus lehrte. Wir werden das Reich Gottes 
nad dem Tode erwerben, wenn wir im Leben Gottes Gebote 
erfüllt haben; Gottes Gebote find die Naturgefege, aus denen 
der Staat in feiner abfoluten Machtvollkommenheit hervor⸗ 
geht und damit die Lnterthanenpflicht des unbedingten poli- 
tifhen Gehorfams. Eine Religion, welche das Bürgerthum 
im Tünftigen Reiche Gottes abhängig macht von der Erfüllung 
der Unterthanenpflicht im gegenwärtigen Staat, ift für den 
Leviathan wie beftellt. Diefer Staat und diefe Religion find 
für einander, die letztere iſt gefchaffen, die Staatsreligion zu 
fein, welche der Leviathan braudt; es bleibt daher nur der 
Deweis übrig, daß das Chriftentbum in Wahrheit dieſe 
Religion ift. 


3. Die chriſtliche Kirche, 


Eine öffentliche (organiftrte) Religion Tann überhaupt 
nur auf zwei Wegen zu Stande kommen: durch menfchliche 
oder durch göttliche Geſetzgebung, alle menſchliche Geſetzgebung 
iſt politifch, die göttliche ift geoffenbart, jene geht auf den 
weltlichen oder bürgerlichen Staat, diefe auf das Reich Gottes, 
dort gilt die Religion als Staatsmittel, um den menschlichen 
Geſetzen das Anfehen göttliher Gebote zu verſchaffen, damit 
fie für Heilig gehalten und defto eifriger befolgt werben; bier 
gilt die Religion als Gottesherrfchaft oder Theokratie. Im 
weltlichen oder bürgerlihen Staat bildet die Religion einen 
Beitandtheil des Staates, in der Theolratie ber Staat einen 
Beſtandtheil der Religion, dort ift die Religion dem Staat 
untergeordnet, hier verhält es ſich umgelehrt. Die heibnifchen 
Religionen waren politifcher Natur, die geoffenbarte Religion, 
insbejondere die biblifhe, ift theofratifh. Die Träger diefer 








541 


Offenbarung find Abraham, Moſes, Jeſus. Die jüdtjche 
Theokratie ging unter im weltlichen Königthum, fie follte 
wiederhergeftellt werden durch den Meiflas, fo haben es die 
Propheten verkündet. Diefer Meiftas ift Jeſus, deffen Wert 
und Aufgabe die Reſtauration der Theokratie war, die Grün- 
dung eines meſſianiſchen Reichs, defjen Herrlichkeit beginnen 
wird, wann er wiederlommt, mit dem Tage des Gerichte. 
Während der Zeit von feiner Himmelfahrt bis zu feiner 
Wiederlunft, d. 5. bis zur allgemeinen Auferftehung oder bie 
zum Ende diefer Welt, will er nicht Herrfchen, fondern nur 
ehren durch den Mund der Apoftel und ihrer Nachfolger 
(der Biſchofe), der Inhalt der Lehre ift die Predigt vom 
fünftigen Reich, von Jeſus als dem gegenwärtigen Erldfer 
und künftigen König, von Jeſus als dem Meſſias, Turzgefagt 
von Jeſus Ehriftus. Die religidfe Wirkſamleit, welche die 
Lehre bezwect, ift unfere Wieberverfühnung mit Gott, wo- 
durch wir vorbereitet werden auf das Tünftige Weich, die 
Wiederverfühnung ift die „Reſtauration des Bundes”, Die 
Vorbereitung iſt „unſere Regeneration”. Sie befteht darin, 
dag wir Gottes Willen thun, feine Gebote halten, die mit 
dem Naturgeſetz, darum mit dem Staatsgejeg oder dem Wil- 
len des Königs zufammenfallen, daß wir gute Untertbanen 
find im politifchen Sinn. So lange diefe Welt fteht, jollen 
die Könige berrfchen, dann kommt das Königreich des Meſ⸗ 
fing; in dieſer Welt kann der Glaube an Jeſus Chriftus 
zum berrfchenden Glauben, d. 5. zur dffentlichen Religion, 
zur Glaubensgemeinfchaft oder Kirche nur dadurch werden, 
daß ihn die Könige fanctioniven, daher kann es in dieſer 
Welt feine andere chriftliche Kirche geben, als die Stants- 
ober Landeskirche, deren Oberhaupt. der König iſt Traft 


542 


göttlichen Rechts (jure divino), deren Biſchöfe Iehren im 
Auftrage des Königs oder im Namen Sr. Majeftät (jure 
eivii). So läßt Hobbes den dhriftlihen Glauben in die 
Form ber englifhen Hochkirche eingehen als die einzige, 
welche in biefer Welt ihm adäquat ift, d. 5. als die einzige, 
die in die Stantsordnung bes Leviathan volllommen paßt. 

Die Kirche im Unterſchiede vom Staat herricht nicht, 
fondern gehorcht: es giebt nach göttlichem Necht Feine Kirchen⸗ 
berrichaft. Die Kirche, die mit dem Staat zufammenfältt, 
fann nicht Weltlirche fein, fonbern nur Staats⸗ oder Landes: 
kirche: es giebt nach göttlichen Recht keine Tatholifche Kirche, 
kein Pabſtthum. Der Pabſt beanſprucht ſeine Herrſchaft als 
Stellvertreter Chriſti, aber es fehlen alle Bedingungen, um 
dieſem Anſpruch Rechtskraft zu geben: er hat dazu nicht die 
Vollmacht Chriſti, und wenn der Pabſt eine ſolche Vollmacht 
hätte, ſo würde ſie nicht für dieſe Welt gelten, ſondern erſt 
für das künftige Reich, aber im künftigen Reich iſt der Stell⸗ 
vertreter Chriſti nicht der Pabſt, ſondern Petrus. Darum hat 
der Pabſt gar keine Stelle. 

Iſt nun die chriſtliche Religion unter denen, welche die 
Geltung göttlicher Offenbarung beanſpruchen, die letzte und 
darum beſtehende, ſo iſt der chriſtliche Staat im Sime von 
Hobbes der Souverän, der kraft ſeiner Machtvollkommenheit 
dieſe Religion zur Landeskirche macht und dadurch ihren 
Öffentlichen Beſtand ſichert. Dieſe Kirche könnte nur gefährdet 
werden durch eine neue Offenbarung Gottes, aber eine ſolche 
Gefahr iſt nicht zu fürchten, denn jede Offenbarung Gottes 
iſt ein Wunder, jede neue Offenbarung müßte ein Wunder 
ſein, welches erlebt wird und der bereits gegebenen Offen⸗ 
barung d. h. der beſtehenden Religion nicht widerſtreitet. 





543 


Wunder werben nicht mehr erlebt, darum tft eine neue Offen- 
barung nicht zu erwarten, fondern es bleibt bei der vorhan- 
denen, geichichtlich gegebenen, deren Urkunden die Bibel ent» 
hält. Die Geltung der geoffenbarten d. 5. der chriftlichen 
Religion fällt daher zufammen mit dem Tanonifchen Anfehen 
der heiligen Schrift, verordnet durch die Staatsgewalt. Der 
Wille des Souveräns macht aus der Glaubensregel das 
Slaubensgefeß, aus dem Tanonifchen Anfehen die kanoniſche 
Autorität, die Öffentlich gilt und alle zur unbedingten Aner- 
fennung verpflichtet. So fällt der Glaube zufammen mit 
dent politifchen Gehorſam. Es foll was die Gefeke vor- 
fchreiben geglaubt werden aus Linterthanenpfliht. Es giebt 
dem Geje gegenüber kein Gewiffen, auch fein religiöfes. 
Damit wird die Innenſeite des Glaubens tonlos, es fällt 
gegenüber der Glaubens» und Schriftautorität, welche der 
Staat macht, gar kein Gewicht auf die Seite der perjünlidhen 
Üeberzeugung, die fi) auf ihre Heils⸗ oder Vernunftbedürf⸗ 
niffe beruft. Damit ift auch die Vernunftlritit von dem Ge- 
biete des autorifirten Glaubens ausgefchloffen. „Die gött- 
lichen Geheimniſſe“, fagt Hobbes, „find wie die Pillen, die 
nicht gefaut, fondern ganz heruntergefchludt werden müſſen“.*) 
Das Bild ift fprechend. Bacon verglich die Glaubensſätze mit 
Spielregeln, Hobbes mit Pillen; die Spielregeln muß man 
befolgen, wenn man mitfpielen will, und kann fich berfelben 
jo geſchickt als möglich bedienen, die Pillen muß man nehmen 


— — — — 


*) Mysteria antem, ut pillulae — si deglutiantur integrae, 
sanant; mansae autem plerumque revomuntur. Lev., IV, cp. XXXIH, 
p. 113. 





a 





544 


um der Gefundheit willen, und es giebt nur eine Art des 
Gebrauchs: das einfahe Schlucken. Beide -mebiatifiren die 
Religion duch die Politik; das ift das Thema, das Baron 
angedeutet und gelegentlich in feinen Effays behandelt, Hobbes 
dagegen zu feiner Aufgabe gemadt und ſyſtematiſch durdh- 
geführt Hat. 














Vierles Kapitel. 


Der Senſualismus: John Locke. A. Die Wahrnehmung 
. amd deren Objecte. Die Elementarvorftellungen. 





I. 
kLocke's Aufgabe und Beitalter. 


Daß alle menſchliche Erkenntniß nur durch Erfahrung 
möglich ſei, diefen Sat Hatte Bacon zur Grundlage und 
Richtſchnur feiner Lehren genommen. Wie muß die Erfahrung 
befchaffen fein, um durch wirkliche Einfiht in die Vorgänge 
der Natur zur Erfindung zu führen? Wie kommt die Erfah⸗ 
rung zur Erfindung? In diefer Trage lag das Thema bes 
neuen Organons, ber Kern des baconifchen Problems. Im 
Hintergrunde erhebt fih die Frage; wie iſt die Erfahrung 
ſelbſt möglih? Wie kommen wir zur Erfahrung? Bacon hatte 
in der finnlihen Wahrnehmung und dem natürlichen Verftande 
die Bedingungen gefehen, aus deren richtiger Function die 
Erfahrung hervorgeht, diefe Bedingungen felbit Hatte er nicht 
näher unterfucht. Jetzt muß aus der Leiftung auf die Kraft 
zurückgeſchloſſen und dieſe aus jener erkannt werden. Wenn 
alle Erkenntniß, deren der menſchliche Geiſt allein fähig iſt, 

Fiſcher, Bacon. 35 


546 


in der Erfahrung befteht, worin befteht demgemuß die Fahigkeit 
oder Natur des menſchlichen Geiſtes? 

Dieſe Frageſtellung liegt, wie man ſieht, ganz in der 
Richtung der baconiſchen Lehre und iſt durch dieſelbe jo bes 
ftimmt, daß fie in den Vordergrund rüden .muß. Sie läßt 
fi) durch baconiſche Vorſchriften noch genauer faffen. Der 
Begründer des Empirismus hatte oft und nachdrüdlich erflärt, 
daß fich der menfchliche Verftand, um richtig zu denen, aller 
vorgefaßten Begriffe vollkommen entjchlagen müſſe, er hatte 
von diejen abzulegenden Begriffen nicht einen ausgenommen; 
alfo giebt es nad ihm Leinen Begriff, deifen der menfchliche 
Verſtand ſich nicht entäußern könnte, keinen feſtgewurzelten, 
von der Natur unſeres Verſtandes unabtrennbaren, unſerem 
Geiſte angeborenen Begriff. Sollen alle Begriffe erſt durch 
Erfahrung gewonnen werden, ſo iſt vor aller Erfahrung der 
menſchliche Geiſt ohne alle Begriffe, ohne allen poſitiven In- 
halt. Diefer Schluß ift durch Bacon’s Erklärungen nicht 
blos gefordert, fondern bereits gemacht, ſogar wörtlid. Nach 
Bacon’8 eigenen Worten fol fich der menſchliche Berftand 
alle Begriffe aus dem Kopf fchlagen, er foll fih volllommen 
reinigen, leeren, zurüdverfegen in feine urfprüngliche, natür- 
fiche, kindliche Verfaffung. Bacon felbft nennt diefen fo ge⸗ 
reinigten Berftand „intellectus abrasus“, und vergleicht ihn 
mit einer Tenne, die gereinigt, geebnet, gefegt werben müſſe: 
in diefer Arbeit beftand die negative Aufgabe feiner Philofophie, 
das erſte Buch feines Organons beichäftigte fih ausdrücklich 
mit der SHerftellung diefer „expurgata, abrasa, aequata 
mentis arena”. Wenn alfo Bacon nichts Unmögliches for- 
dert, fo ift der menfchliche Geift von Natur gleich einer leeren 
Tafel, einem unbeſchriebenen Blatt. 








547 


Diefer baconifche Schlußſatz ift der Bunft, von dem Locke 
ausgeht; die Bedingung, unter der Bacon's Forderungen fte- 
hen, enthält fchon die Aufgabe und Richtſchnur für Locke's 
Unterfuhung: die Nichteriftenz angeborener Ideen, Er- 
fahrung ift erworbene Erkenntniß, angeborene Ideen find nicht 
erworbene, fondern urfprüngliche oder angeftammte Erkenntniß; 
daher muß die Erfahrungsphilofophie das Dafein angeborener 
Ideen völlig verneinen, dies hat fie in Bacon gethan, deſſen 
Lehre von den Idolen ſich in dem Sage fummirt: „es giebt 
feine angeborenen Ideen.” Das tft der Sat, auf den ſich Locke 
gründet, Hier ift der Zuſammenhang beider, Locke's Ab⸗ 
hängigfeit von Bacon. Seine Lehre bildet einen Ring, der. in 
die Kette der baconifchen Grundgedanken eingreift. 

Dadurch ift der ganze Charakter der locke'ſchen Unter⸗ 
fuchungen angelegt und beftimmt. Alle Erkenntniß ift Erfah⸗ 
rung, diefe felbft ift nur möglich dur Wahrnehmung: der 
Empirismus bejtimmt ſich näher al8 Senfualismus. Alle 
Bildung und Erfüllung des Geiftes, da e8 von Natur feine 
giebt, muß alfmälig entftehen, und da aus der urfprünglichen 
Leerheit nichts entjtehen Tann, fo bildet fich der menfchliche 
Geiſt unter äußern Einflüffen, durch fortgefettten Verkehr mit 
ber Welt; die Erfenntniß entjteht aus Bedingungen, deren 
Stoff oder Material außer ihr Tiegt und unabhängig von ihr 
gegeben ift durch die Natur der Dinge. Sie entfteht aus der 
Nichterkenntniß. Die Entftehungsweife der menſchlichen Er- 
fenntniß ift daher bei Rode nidjt generatio ab ovo, was fie 
bei Leibniz fein wollte, fondern generatio aequivoca. Es 
giebt feine natürliche Erfenntniß im Sinne einer urſprünglich 
gegebenen, fondern nur eine natürliche Geſchichte der menjd- 


lichen Erkenntniß im Sinne einer allmälig gewordenen . 
35* 


548 


Diefe darzuthun ift die eigentliche Aufgabe der Tode’fchen 
Philoſophie: fie befchreibt die Naturgefhichte des menſch— 
lichen Berftandes, nachdem fie bewiejen, daß die Natur des 
Berftandes ohne Gefchichte d. 5. ohne Verkehr mit der Welt, 
ohne Erfahrung und Erziehung, vollkommen Leer ift. 

In der Faffung diefer Aufgabe erfennen wir nicht blos 
feine Abkunft von Bacon, fondern auch feine VBerwandtichaft 
mit Hobbes. Diefer lehrt die natürliche Entftehung des Staats, 
Rode die der Erfenntniß, beide im Sinne der generatio aequi- 
voca: Hobbes erklärt den Staat aus Bedingungen, die nicht 
Staat, nit einmal dem Staat analog, vielmehr deffen voll- 
kommenes Gegentheil find; Locke erklärt die Erkenntniß aus 
Bedingungen, die nit Erfenntniß find, auch nicht diefelbe 
präformiren, fondern fid) zu ihr verhalten, wie das Leere zum 
Bollen. Hobbes nimmt zu feinem Ausgangspunfte den Natur- 
zuftand des Menſchen, Lode den bes menfchlichen Geiftes: 
diefer status naturalis ift bei beiden, dort verglichen mit dem 
Staat, hier verglichen mit der Erfenntniß, gleich einer tabula 
ra88. 

An Locke's Namen Mmüpft fi) der wichtigfte Streit, den 
die neuere Philofophie Über die angeborenen Ideen geführt hat: 
Bacon und Locke Haben fie verneint, Descartes und Leibniz 
haben fie vertheidigt, LXode gegen Descartes, Leibniz gegen 
2ode, diefer fteht in der Entwicklung ber Streitfrage über die 
angeborenen Ideen zwifhen Descartes und Leibniz, jenen be- 
Tämpfend, von diefem befämpft. Das Studium der Schriften 
Descartes’ hatte feinen philofophifchen Geift, den der fcholafti- 
ſche Unterricht in Oxford Leer gelaffen, geweckt und durch den 
erregten Gegenſatz in die Richtung Bacon's geführt, in welde 
feine naturwiſſenſchaftlichen und medicinifhen Studien ein 





549 


ftimmten. Dann gab eine wiederholte Beobachtung den An- 
ftoß zu dem Werk, das ihn in der reifften Kraft feiner Jahre 
dauernd befchäftigte und zum Philofophen feines Zeitalters 
machte. Er hatte in Oxford öfter ftreitige Erörterungen ge- 
Iehrter Freunde mitangehört und dabei erfahren, wie der ganze 
Streit weniger in den Vorftellungen als in den Worten be> 
gründet und ſolchen unfruchtbaren Wortftrettereten, die das 
Gebiet der BHilofophie bevölfern, nur dadurd ein Ende zu 
feßen fei, daß man den Urfprung der Worte aus den Vor⸗ 
ftellungen und den Urfprung der Vorftellungen felbjt auf das 
genauefte unterfuche. Das Willen ift an Lirtheile und Säge, 
diefe an Worte, diefe an Vorſtellungen gebunden. So jah 
Lode eine analytifche Unterfuhung vor fi, die in eine 
Reihe von Fragen zerlegt werben mußte, deren erfte und fun- 
damentale auf den Urſprung unjerer VBorftellungen gerichtet 
war. Das Werk, das aus diefer Arbeit hervorging, war fein 
„Verſuch über den menschlichen Verftand” in vier Büchern, 
von denen die beiden erjten die Natur der Vorftellungen, das 
dritte die der Worte, das letzte die der Erkenntniß darthun 
follte; der erfte Plan des Werks fällt in das Jahr 1670, die 
Vollendung in das Jahr 1687, die Veröffentlichung in das 
Yahr 1690, Kurz vorher war ein Auszug in franzöfifcher 
Sprade, überfegt von Le Elerc, in der Bibliotheque uni- 
verselle erjchienen. Als Locke die Idee zu diefem Werk faßte, 
war er 38 Jahr alt, er war 57 als er es veröffentlichte; 
ebenfo alt war Sant, als er feine Vernunftkritik herausgab. 
In Locke's Lebenszeit (29. Augujt 1632 bis 28. Detober 
1704) laſſen ſich drei Abfchnitte unterfcheiden. Die erften 
32 Jahr (1632—1664) umfaffen feine Kindheit in Wrington, 
die Schulzeit in Weftminfter, den Studiengang in Oxford, er . 


550 


wird Baccalaurens (1651) und Magijter (1658), wendet ſich 
von ben Scholaftilern zu ‘Descartes, dem entgegen er bie ba- 
conifche Richtung ergreift, und von der alademijchen Gelehr⸗ 
ſamkeit zu naturwiſſenſchaftlichen und namentlich mebdicinifchen 
Studien, die er mit Eifer und Erfolg betreibt. Den folgenden 
Abſchnitt bilden die funfzehn Jahr von 1664— 1689. Nadh 
einem Turzen Aufenthalt in Berlin (1664), wohin er den 
engliihen Geſandten William Swan als Legationsfecretär be- 
gleitet, Tehrt er nach Oxford zurüd, lebt feinen phyſikaliſchen 
Studien und macht bier, zunächft als ärztlicher Nathgeber, die 
für fein Leben einflußreihe Bekanntſchaft des Lord Anthony 
Aſhley (1666). Bald wird er der Freund des Haufes, ber 
vertraute Rathgeber der Familie, der Erzieher des Sohnes, 
dem er die Gattin wählt, fpäter des Enfels, der als Berfaffer 
der „characteristics“ ſich unter den philoſophiſchen Schön- 
geiftern Englands berühmt gemacht Hat. ‘Durch fein Verhält⸗ 
niß zu Lord Afhley kam Locke wiederholt zu ftaatsmännifchen 
Aufgaben und Aemtern. Bald nad dem Antritt feiner Re⸗ 
gierung hatte Karl IL die nordamerifanifche Provinz Karolina 
acht englifchen Lords gefchenkt, darunter war Aſhley. Locke 
erhielt den Auftrag, die Verfaffung zu entwerfen, er that es 
und nahm in feinen Entwurf, den die Lords beftätigten (1669), 
ſolche Grundſätze religiöjfer Toleranz auf, wonach die Religion 
nicht eine Sache des Staats, ſondern Iediglich der Gemeinden 
fein follte, deren Belenntniß und Eultus im weiteften Umfange 
deiftifcher Borftellungsweife der, Staat zu dulden und anzu 
erfennen die Pfliht Habe. Hier wurde jene Trennung bon 
Staat und Kirche grundfätlich ausgefprochen, die ſich Nord- 
amerifa zu eigen gemacht Bat. Im Jahr 1672 wurde Afhley 
Graf Shaftesbury und Großlanzler von England, im Jahr 





— Z m 


551 


1679 Premierminifter, beidemal erhielt Locke ein Secretariat, 
beidemal dauerte feine Amtsführung jo kurz als die des Gra- 
fen, der fehr bald mit der Hofpartei zerfiel und zulekt nach 
einer Verhaftung ſich in England nicht mehr ficher fühlte Er 
ging nad) Holland (1682), wohin Locke ihn begleitete; bier 
ftarb Shaftesbury ſchon im folgenden Jahre. Im diefen zwei⸗ 
ten Lebensabſchnitt Locke's fallen feine Reiſen nach Frankreich, 
auf der erften begleitete er den Grafen Northumberland (1668), 
auf der zweiten, die er um feiner Gefundheit willen ins füb- 
fihe Trantreih unternahm (1675), lernte er in Montpellier 
Herbert den nahmaligen Grafen Pembroke fennen, dem er 
fpäter fein Hauptwerk gewidmet bat. Die lebten funfzehn 
Lebensjahre (1689— 1704) find für feinen philofophifchen 
Ruhm die wichtigiten, es ift die Zeit der Ernte; jetzt empfängt 
die völfig gereiften Früchte feiner Arbeiten das durch eine 
große politifche Krifis zur Aufnahme diefes Philofophen gründ- 
li vorbereitete und gereifte England. In den eriten fünf 
Jahren dieſes letzten Abjchnittes veröffentlicht Locke feine Werke, 
in dem folgenden Luſtrum (1695 — 1700) bekleidet er im 
Minifterium des Handels und der Colonien noch einmal ein 
Staatsamt, bis feine ſchwache Geſundheit das Klima Londons 
nicht mehr verträgt; die legten fünf Iahre lebt er größtentheils 
in freier und gaftlicher Muße in der Grafſchaft Eifer zu Ontes 
im Haufe des Ritters Maſham, beifen Frau, eine Tochter 
des Philoſophen Eudworth, nad) Locke's Grundſätzen ihre Kin- 
der erzog und die Zeugin feines Todes war. 

Locke's philofophiiche That füllt zufammen mit einer ber 
wichtigften Epochen Englands, dem Sturze Jakob's II, dieſes 


- Testen und ſchlechteſten Königs aus dem Hanfe Stuart, das 


auf dem Throne Englands in keinem feiner Herrfcher eine ein- 


552 


zige wirkliche Regententugend bewieſen; unter Karl II. Hatte 
die Frivolität geherrfcht, unter feinem Bruder Jakob IL, dem 
noch gefunfenen Enfel Jakob's I. (was viel fagen will), wagte 
die Digotterie und der Despotismus in der unfähtgften Form 
den letzten Verſuch gegen England, ber durch die jämmerliche 
Perſon des Königs und den Widerftand der Nation gänzlich 
fcheiterte. Wilhelm von Oranien im Bunde mit dem eng⸗ 
fifchen Volt brachte den Sieg ber politifchen und religiöſen 
Freiheit und empfing die Krone, die nach zweimaliger feiger 
Flucht des letzten Stuart (December 1688) das Parlament 
den 22. Januar 1689 für erledigt erflärt hatte Diefer Act 
vollzieht die „englifche Revolution”, ein Iahrhundert vor der 
franzöfifhen. Ein Jahr vor dem Ausbrud der Krifis hatte 
Locke fein Hauptwerk vollendet, ein Jahr nach jener Umwand- 
fung, die in England das conftitutionelle Königthum neu be- 
gründet und feftftellt, wurde e8 veröffentlicht. ‘Die Widmung 
ift vom 24. Mai 1689. Es bildet einen wejentlichen Beitand- 
theil der dur den Namen Wilhelm’s III. bezeichneten Epoche, 
es verhält fich zur englifhen Revolution, wie Kant's Vernunft 
kritik zur frangdfifchen. Locke's Perſon und Denkweiſe ftimmt 
ganz in das Zeitalter Wilhelm’s III, er Hatte feit 1682 in 
Holland gelebt, von Jakob II. verfolgt, fälfchlicherweife auf- 
rührerifcher Handlungen verdächtigt, durch die geforderte Aus- 
Tieferung in feiner perfünlichen Sicherheit dergeitalt bedroht, 
daß er in Holland felbft fich verbergen mußte; nad, der Ent- 
thronung Jakob's war er mit dem Geſchwader, das die Brin- 
zeffin von Dranien nad) England führte, in fein Vaterland 
zurüdgefehrt (Februar 1689). Nah ber Herausgabe des 
Hauptwerks folgt in einer Reihe von Schriften die Anwendung 
feiner Lehre auf Politik, Religion, Erziehung. Seine beiden 














555 


Abhandlungen über Regierung, feine nationalöfonomifchen Be- 
tradhtungen über Münzwefen, den Bebürfniffen und Fragen 
der Zeit entjprechend, erjchienen 1691, die Gedanken über 
Erziehung 1693, die Schrift über die Vernunftmäßigleit des 
Chriftentbums 1695; mit diefem Werk und dem Verſuch über 
den menfchlihen Verſtand hängen genau feine Briefe über 
Toleranz zufammen, von denen der erjte (1685 gefchrieben) 
1689 in Inteinifcher Sprache erfcheint, der zweite 1690, der 
dritte 1692, der lebte durch feinen Tod unterbrochen wird. 
Der erite diefer Briefe war an Limborch, einen Freund Lode’s, 
Profefjor der Theologie bei den Remonftranten in Amfterdbam, 
gerichtet, den Locke, wie fich felbft, auf dem Zitel der Schrift 
durch Initialen bezeichnet hatte; die des Verfaſſers bedeuten: 
„Sohn Locke aus England, Freund des Friedens, Feind der 
Verfolgung.” Der Hauptgegner der XToleranzbriefe, gegen 
beffen wiederholte Angriffe Locke die drei legten ſchrieb, war 
Jonas Proaft, ein Theologe in Orford; der andere theologifche 
Gegner, der feine Schrift über das Chriftentgum als einen 
Stützpunkt des Deismus befämpfte, war Stillingfleet, Bifchof 
von Worcefter. In Holland hatte ‘Descartes feine philofophi- 
Ihe Einfiedelei gefunden, Spinoza feine Heimat gehabt, bevor 
Rode bier ein Aſyl fuchte, er war in demfelben Jahr mit 
Spinoza geboren, er kam fünf Jahr nach deffen Tode nad) 
Holland und vollendete hier jein Hauptwerk sehn Jahr nachdem 
Spinoza’s Hauptwerk erjchienen.*) ‘ 


*) Locke's Werke find: Anessay concerning human understanding 
in foor books. London 16%. 

Two treatises on government. Some considerations of the 
consequences of lowering the interest and raising the value of money, 
in a letter sent to a member of parliament. 1691. 


554 


II. 
Köfung der Aufgabe. 


1. Uriprung der Vorftellungen. 


Daß alle Erkenntniß blos in der Erfahrung beftehe und 
aus ihr folge, hatte der Empirismus in Bacon erklärt und 
damit jeden Anfprud) auf eine nicht dur Erfahrung erwor- 
bene, jondern urfprüngliche, der menfchlichen Seele angeftamumte 
Erkenntniß verworfen: die Annahme fogenannter angeborener 
Ideen oder Grundfüge. In diefem Punkte den baconifchen 
Empirismus gegen Descartes zu rechtfertigen ift Locke's erſte 
Aufgabe. Es giebt Feinerlei angeborene Grundfäge, weder 
theoretifche, noch praltifche, noch veligiöfe, es giebt Feine im 
Urbefig der Seele vorhandene natürliche Erkenntniß, Moral, 
Religion. „Woher der geſammte Stoff der Vernunft und Er⸗ 
fenntniß ftammt? ‘Darauf antworte ih mit einem Worte: aus 
der Erfahrung; in ihr ift unfere ganze Erkenntniß gegrün- 
bet, aus ihr folgt fie als ihrem letzten Grunde.‘ *) 

Verſteht man unter angeborenen Wahrheiten die natür- 
liche Fähigkeit, ſolche Einfichten zu gewinnen, fo ift darüber 
fein Streit, aber die Fähigkeit zu erwerben ift noch nicht der 


Some thoughts concerning education. 1693. 

The reasonableness of christianity, as delivered in the scrip- 
tures. 1695. 

Epistola de tolerantia ad clarissimum virum T. A. R. P. T. 
O. L. A. (theologiae apud remonstrantes professorem, tyrannidis 
osorem, Limburgium Amstelodamensem) scripta a. P. A. P. O. J. 
L. A. (Pacis amico, persecutionis osore Joanne Lockio Anglo). 1689. 

Second letter for toleration. 1690. Third letter. 1691. 

The works of John Locke in three volumes. fol. London 1714. 

*) Ess. II, ch. 1, $. 2. 


555 


Erwerb, man Tann daher unter angeborenen Wahrheiten nur 
verftehen, daß gewiſſe Sätze, feien es Erfenntnißprincipien 
oder fittlihe Regeln, von Natur dem menfchlichen Verſtande 
inwohnen. Nun kann „im Verſtande fein‘ nichts anderes 
bedeuten als „verftanden fein“ oder im Lichte des Bewußtſeins 
liegen, weshalb angeborene Wahrheiten jedem menfchlichen 
Berftande auf gleiche Weile einleuchtend fein müſſen. Dieſe 
Folgerung wird an ber Erfahrung zu Schanden, fie fcheitert 
ar fo vielen negativen Inſtanzen. Was man als angeborene 
Wahrheiten anzuführen pflegt, wie 3. B. den Sat des Wider- 
ſpruchs, ift in feiner Allgemeinheit nur den wenigften befannt 
und einleuchtend. Was alfo macht eine Wahrheit zur ange- 
borenen? Die allgemeine Zuftimmung! Aber e8 giebt thatjäc- 
lich Feine folche Webereinftimmung, und wenn fie wäre, könnte 
fie durch allmäligen Vernunftgebraud) zu Stande gefommen 
fein, alfo auf einem Wege, der nicht für, fondern gegen das 
Angeborenfein Zeugniß ablegt. Auf diefem Wege werden alle 
Wahrheiten gefunden. Sollen angeborene Wahrheiten die⸗ 
jenigen fein, die durch Vernunftgebraud ſei es mit der Zeit 
oder fofort entdeckt werden, fo müßte es Legionen folder 
Wahrheiten geben, was niemand behauptet. Man wird doc) 
nicht meinen, daß ein Kind zu der Einficht, daß füß nicht bit- 
ter und gelb nicht roth ift, erſt dadurch Tommt, daß es den 
Sat des Widerfpruchs auf diefe Vorftellungen anwendet. Sind 
alfo die fogenannten angeborenen Wahrheiten nicht vor ihrer 
Erfenntniß, diefe aber In allen Fällen, wo fie überhaupt ein- 
tritt, fo viel fpäter als die einzelnen Vorftellungen, fo find 
entweder alle Vorftellungen angeboren oder Teine.*) Das gilt 


*) Esg. I, ch. 2, 8. 1—18. 





556 


von den Grundfäken des Erfennens fo gut als von denen des 
Handelns. Auch die fittlihen Kegeln find Feine angeborenen 
Normen, fondern Broducte der Bildung und Erziehung, wir 
bringen nicht das Gewiffen mit auf die Welt und in ihm 
ausgeprägt die Vorftellungen von Recht und Unrecht, fondern 
diefe VBorftellungen entftehen und bilden fich, wie alle übrigen, 
und damit entfteht, was wir Gewiffen nennen. Es ift nichts 
anderes, jagt Node, al8 „unfere eigene Meinung von der mo- 
raliihen Richtigkeit oder Verkehrtheit unferer Handlungen.‘ *) 

Wir Haben einen Vorrath von VBorftellungen: das ift die 


zu erklärende Thatſache. Bon diefer Vorftellungswelt ift uns 


nichts angeboren, fondern alles entftanden und erworben: biefe 
negative Einficht giebt der Erklärung die Richtſchnur. Wir 
haben in uns nur die Fähigkeit, Vorſtellungen zu empfangen 
und zu bilden, wir können keine ſchaffen, ſondern ſind in aller 
Vorſtellungsbildung angewieſen auf das gegebene (nicht ange⸗ 
borene, ſondern empfangene) Material. Wir verhalten uns 
zunächſt nur empfangend oder wahrnehmend, in dieſer Wahr⸗ 
nehmung liegt die Quelle aller Erfahrung, aller Erkenntniß. 
Was wir wahrnehmen ohne irgendwelche willkürliche Zuthat, 
das bildet die erſten, nicht weiter aufzulöſenden, darum ein⸗ 
fachſten Beſtandtheile oder Elemente unſerer Vorſtellungswelt. 

Daß es keine angeborenen Ideen giebt, die Beweisführung 
dieſes Satzes bildet die negative Grundlage der locke'ſchen 
Lehre; die poſitive Grundlage derſelben iſt die Lehre von den 
Elementarvorſtellungen. Die Seele iſt wie ein „weißes un⸗ 
beſchriebenes Blatt“, das die Schriftzeichen nicht in ſich trägt, 
ſondern von der Hand des Schreibenden empfängt, „ſie gleicht“, 


*) Ess. I, ch. 3, 8. 8. 


m m 





557 


jagt Zode, „einem dunkeln Raum, der durd) einige Deffnungen 
Bilder von außen aufnimmt und die Kraft hat, fie in fich 
feſtzuhalten.““) Ohne Bild zu reden: es giebt nur eine 
Duelle, ans ber unfere Vorftellungen kommen, die Wahrneh- 
mung, beren unmittelbare Dbjecte in Rüdficht aller übrigen 
Borftellungen die erften und darum einfachften find. 


2. Senjation und Reflerion. Die Elementarvorftellungen. 


Nun wird unfer Wahrnehmungsvermögen erregt durch 
Borgänge in und außer uns, welche letztere, ba fie unfere 
Sinnesorgane afficiren und durch die Nerven in das Gehirn, 
„dieſes Audienzzimmer der Seele‘ **), geleitet werden, wo fie 
die Wahrnehmung empfängt, finnliche Vorgänge heißen. Dem: 
nach unterjcheidet fich unfere Wahrnehmung in äußere (finn- 
liche) und innere oder „Senfation und NReflerion“, durd) 
jene nehmen wir wahr, was von außen auf unfere Sinne ein- 
wirkt, durch dieſe, was in uns felbjt gefchieht. Mit diejer 
Unterfheidung wird nichts weiter erklärt, fondern nur die 
Thatfache, in der unſere Wahrnehmung befteht, ausgedrückt 
und beichrieben. Dan fieht Leicht, daß wir in uns nur wahr- 
nehmen können was gefchieht, und daß alles innere Gefchehen 
dur Empfindungen veranlakt wird; wir müffen etwas empfin- 
den, um etwas zu begehren, um eine Vorjtellung vom Be⸗ 
gehren felbft zu haben; ohne die Senfation würde es niemals 
zu Objeeten fommen, welche die Reflexion vorftellt. 

Alle Elementarvorftellungen oder einfache Ideen find dem⸗ 
nad) die unmittelbaren Dbjecte entweder blos der Senfation 





— 


*) Ess. II, ch. 1, 8. 2 und II, ch. 11, 8. 17. 
**) Ess. I, ch. 3, $. 1, „the minds presence-room“. 


558 


ober blos der Reflerion oder beider. Da nım die finnlidhen 
Wahrnehmungsobjecte fih an die verjchiedenen Sinne verthei- 
Ien, jo müffen innerhalb der Senfation ſolche Vorftellimgen, 
die blos durh einen Sinn wahrgenommen werden Fünnen, 
von folhen unterfchieden werben, die (nicht blos einem, fon- 
bern) mehreren angehören. Demnach zerfallen ſämmtliche 
Elementarvorftellungen in folgende vier Klaffen: fie find die 
unmittelbaren Objecte 1) blos der Senfation vermöge eines 
Sinnes, 2) blos der Senfation vermöge mehr als eines Sin- 
nes, 3) blos der Reflerion, 4) fowol der Senfation als der 
Reflerton.*) | 
Die Voritellungen des Lichts und der Farben find nur 
durch das Geſicht, die der Laute und Töne nur durch das 
Gehör, die des Süßen, Bittern, Sauern u. |. f. blos durch 
den Geihmad, die der Düfte nur durch den Geruch, die bes 
Kalten, Warmen, Harten, Weichen, Glatten, Rauben u. |. f. 
blos durch das Gefühl möglich. Das find die Fälle und Bei⸗ 
fpiele der erften Art. Unter den Elementarvorftellungen dieſer 
Klaffe hebt Rode eine befonders hervor: die der Solibität 
(Undurddringlichkeit), wahrnehmbar nur durch das Gefühl 
oder den Zaftfinn; das Object diefer Wahrnehmung ift der 
Körper, fofern er den Raum erfüllt und jedem Angriff Wider- 
ftand leiſtet, womit der Unterfchied der fürperlichen von der 
blos räumlichen Ausdehnung einleuchtet, die Descartes verneint 
hatte. **) | 
- Die Vorftellungen des Raumes, der räumlichen Ausdeh⸗ 
nung und Veränderung, der Figur, Bewegung und Ruhe find 


— — 





*) Ess. II, ch. 3, 8. 1. 
**) Ess. II, ch. 4. 





559 


wahrnehmbar ſowol durch den Gefichts- als durch den Taft- 
finn, daher Fülle und Beifpiele der zweiten Klaffe. Unfere: 
eigene Thätigkeit ift vorftellend und begehrend, denfend und 
verlangend, Beritand und Wille. Das Behalten, Unterfcheiden, 
Begründen, Urtheilen, Wiffen, Zweifeln, Glauben find Arten 
des Denkens. Dieſe Vorftellungen find unmittelbare Objecte 
der Reflerion und bezeichnen die dritte Klaffe der einfachen 
Ioeen.*) | 

Die Vorftellungen der Luft und Unluft, der Eriftenz, 
Einheit und Kraft find unmittelbare Objecte ſowol der Sen- 
jation als Reflexion. Was wir wahrnehmen, fei es von außen 
oder innen, ftellen wir als wirklich vorhanden vor, als Eines, 
jede Veränderung als Wirkung oder Aeußerung einer Kraft; 
jede Veränderung, e8 feien die Vorgänge der Bewegung außer 
uns oder der Vorftellungen in uns, enthält die Unterſchiede 
der Succeffion d. 5. die Vorftellung der Zeit, die demnad) 
ein unmittelbares Object (einfache Idee) fowol der äußeren 
als inneren Wahrnehmung ausmacht, hauptjächlich der inneren, 
da ja auch die Bewegung oder äußere Veränderung in einer 
Succeffion von Vorftellungen befteht.**) 

Wir heben aus dem Neid) der Elementarvorftellungen drei 
als bejonders wichtig hervor: die Vorftellungen des Körpers, 
des Raumes, der Zeit; die des Körpers (Solidität) fällt blos 
in die Senfation, in das Gebiet eines Sinnes, des Tait- 
finns; die des Raumes füllt blos in die Senfation, in’ das 
Gebiet mehrerer Sinne, des Gefihts- und Taſtſinns; die 
der Zeit fältt in das Gebiet der Senfation und Reflerion, 


*) Ess. II, ch. 5 und 6. 
**) Ess. II, ch. 7, 8. 9. gl. über die Zeit U, ch. 14, 8. 6. 


560 


vornehmlich in das der Teßteren, fofern diejelbe alle Vorſtel⸗ 
(ungen, auch die finnlichen, als innere Vorgänge umfaßt. 

Damit bat Locke das Fundament feiner Lehre gelegt. Er 
hat durch Analyfe die Elementarvorftelungen aufgefunden, die 
fi) zu unferer gefammten Zorftellungswelt und Erkenntniß 
verhalten, wie das Alphabet zur Sprache, wie die Grundzahlen 
zum Rechnen und die geometrifchen Elemente zur Mathematif. 
Man zeige mir, jagt er, ein Vorftellungselement, das aus 
einer anderen Duelle ftammt als der Wahrnehmung, der 
äußern und Innern, man zeige mir unter allen übrigen Vor⸗ 
ftellungen eine, die nicht aus jenen Vorftellungselementen 
beftebt.*) ‘ 

Unfere gefammte Vorjtellungswelt zerfällt demnach in 
zwei große Klaſſen: Clementarvoritellungen und componirte 
Borjtellungen, einfache (simple ideas) und zufammengejeßte 
(complex ideas), Wir wiffen, welches die einfachen find. 
Welcher Art find die zufammengefegten? Wie werden fie ge 
bildet, da fie durch die bloße Wahrnehmung nicht gebildet 
"werben? 


3. Die primären und fecnndären Qualitäten. 


Indeffen muß zuvor die Geltung oder der Erfenntnißwerth 
der einfachen Vorftellungen näher beftimmt werden. Wie ver- 
halten fi) unfere unmittelbaren Wahrnehmungsobjecte zu den 
wirklichen Objecten, zu den unabhängig von unferer Wahr- 
nehmung eriftirenden Dingen? Da wir uns zu den einfachen 
Borjtellungen nicht fchaffend, fondern blos empfangend oder 
paſſiv verhalten, fo hat jede derjelben in unferer Wahrneh⸗ 


*) Ess. II, ch. 7, 8. 10. 





561 


mung den Charakter des Gegebenen und Pofitiven, gleichviel 
ob wir Wärme oder Kälte fühlen, Schatten oder Licht fehen, 
wir ftellen etwas Beftimmtes vor, das die Wirkung einer 
Thätigfeit, die Aeußerung einer Kraft fein muß, Dieſe Kraft 
gehört den von unſerer Wahrnehmung unterfchiedenen und 
unabhängigen Objecten, fie ift die Eigenſchaft der “Dinge. 
Alfo wird gefragt: wie verhalten fich unfere einfachen Vorftel- 
lungen zu ben Eigenfchaften der Dinge? *) 

Da innerhalb der Neflerion das unmittelbare Object un- 
ſerer Wahrnehmung wir felbft find in dem beitimmten Aus- 
druck unferer Thätigfeit, fo ift Har, daß wir bier unſere eige- 
nen Kraftäußerungen oder Eigenjchaften unmittelbar vorftellen, 
Die obige Frage betrifft daher näher das Verhältniß unferer 
einfachen Vorftellungen zu den Dingen außer uns d. b. un⸗ 
ferer Senfationen zu den Körpern und deren Eigenſchaften. 
Die Frage ift: ob unfere Senfationen die Eigenfchaften der 
Körper vorftellen, wie fie jind, oder nicht? Anders ausgedrüdt: 
ob unfere finnlichen Vorftellungen den Eigenfchaften der Kör- 
per Ähnlich, ob fie deren Abbilder find oder nicht? 

Unterfcheiden wir mit Lode zwei Arten körperlicher Eigen- 
haften: foldhe, die den Körpern unter allen Umftänden zu⸗ 
fommen und von beren Dafein unabtrennbar find, und folce, 
welde die Körper nur unter gewilfen Umständen und bezie- 
bungsweife haben als Wirkungen, die ein Körper auf einen 
andern ausübt oder von einem andern empfängt. Jene nennt 
Rode „primäre Qualitäten“, biefe „fecundäre”. Es 
fiegt in der Natur der Körper, dab fie den Raum erfüllen, 
alfo Raumgröße und Solidität haben, theilbare "und bewegbare 


*) Ess. II, ch. 8, 8. 1—5. 
Fiſcher, Bacon. 36 


562 


Maſſen find, daher Ausdehnung und Solidität, Bewegung und 
Ruhe, Figur und Zahl die urjprünglichen oder primären 
Eigenfchaften der Körper ausmachen. Dieſe igenfchaften 
werden von und vermöge ber Senjation entweder blos durch 
das Gefühl, wie die Solidität, oder durch Geſichts⸗ und Taft- 
finn, wie Ausdehnung, Geftalt, Bewegung, vorgeftellt; dieſe 
Borftellungen find den wirklihen Eigenfchaften der Körper 
ähnlich und vermöge berfelben ift uns die Körperliche Natur 
erfennbar. Dagegen alle übrigen Senfationen, wie Farben 
und Töne, Geruhs- und Gefhmadebefchaffenheiten, Wärme 
und Kälte, Härte und Weichheit u. ſ. f., find Wirkungen ber 
Körper auf die Sinnesorgane unferer Wahrnehmung, fub- 
jective Empfindungszuftände, die mit der Natur oder Wirfungs- 
weife der Körper felbft feine Aehnlichkeit haben. Diefe Wir- 
fungsweife ift eine Art Bewegung. Welche Aehnlichkeit hat 
unfere Licht», Farben-, Zonempfindung u. f. f. mit der Be- 
wegungsart, die fie verurfacht, ohne daß wir fie wahrnehmen? 
Diefe Senfationen find daher fecundäre Qualitäten, die Locke 
wieder in zwei Arten unterfcheidet, je nachdem die Vorſtellung 
einer ſolchen Eigenfchaft unmittelbar oder durch die Einwir- 
fung eines Körpers auf einen andern bewirkt wird, wie wenn 
Sonnenlicht das Wachs bleicht oder Feuer das Blei flüſſig 
macht; die erfte der ſecundären Qualitäten nennt Locke „un- 
mittelbar wahrnehmbar”, die zweite „mittelbar wahrnehm- 
bar“, *) 

Es giebt demnach drei Arten der Vorftellung körperlicher 
Eigenschaften: 1) die unmittelbare Vorjtellung primärer Qua— 


*) Ess. If, ch. 8, $. 8—10. 8. 26, „secondary qualities imme- 
diately perceivable“ und „sec. qual. mediately perceivable“., 





563 


Titäten, 2) die unmittelbare Vorftellung fecundärer Qualitäten, 
3) die mittelbare Vorftellung fecundärer Qualitäten, Vermöge 
der erjten Art ftellen wir vor, was die Körper in Wahrheit 
find, gleichviel ob wir fie wahrnehmen oder nicht, vermöge der 
zweiten, was fie in Rüdficht auf unfere Wahrnehmung find 
und ohne diefelbe nicht find, vermöge der dritten, wie fie auf: 
einander wirfen. Die primären Qualitäten find die wahren 
Eigenfhaften ber Körper, die ſecundären Qualitäten erfter 
Art find die finnlihen Eigenſchaften, die der zweiten find 
die Kräfte Die BVorftellung der wahren Eigenfchaften ift 
und gilt als den Körpern ähnlich, die ber finnlichen ift den 
Körpern nicht ähnlich, aber gilt dafür, wir bilden uns ein, 
die Körper feien gelb, voth, ſüß, fauer, hart, weih u. ſ. f., 
die der Kraftwirkungen eines Körpers anf den andern ift den 
betreffenden Körpern weder ähnlich nod gilt fie dafür, denn 
niemand glaubt, daß flüffiges Blei eine Achnlichkeit mit dem 
Teuer oder gebleichtes Wachs eine Aehnlichkeit mit der Sonne 
hat.*) 

Sind nun alle Qualitäten Wirkungen der Körper, deren 
Wirfungsweife allein in den verfchiedenen Arten der Bewegung 
befteht, bedingt durch Geſtalt, Mafje und Maffentheifchen, fo 
müffen ans diefen primären Qualitäten die fecundären abge- 
leitet werden, es giebt daher zur Erflärung der Phänomene 
der Körperwelt feine andere Erflärungsart als die mathema- 
tisch-merhanifche.**) Hier finden wir Locke in Uebereinftimmung 
mit Newton, feinem großen Zeitgenoffen und Landsmann. 

Wir können ſchon hier aus der lode’jchen Lehre ein wich— 


*) Ess. II, ch. 8, 8. 23. 24. 
**) Ess. II, ch. 8, 8. 13, 


86 * 


[4 





564 


tiges Ergebniß vorwegnehmen: alle unjere Erfenntnigobjecte 
find Wahrnehmungsobjecte oder Vorftellungen, deren Elemente 
die einfachen Vorftellungen, rüdfihtlih der Körperwelt die 
Senfationen find; daher giebt es überhaupt eine Erkenntniß 
nur der Eigenfchaften, nicht der Subftanz der Dinge, nur ihrer 
Erfdeinungen, nicht ihres Weſens. Es giebt in diefem Sinn 
feine Metaphyſik.“) | 


— — m — — 


*) Zur Ueberſicht der locke'ſchen Lehre von ben Elementarvorfei- 
lungen diene folgendes Schema: 





1. 
Elementarvorſtellnungen (einfache Ideen) 
Wahrnehmung 
Senſation Reflexion 
Durch arben n Sim: Dur mehrere Sinne: | Denten und Wollen 
$ne Raum 
ðeruch Ausdehnung 
Seihmad er 
— Gerüßt Zed hung 

Solidität Rube 


Senfation und Reflerion 
Ten — > — 
Fur und Schmerz, Eriftenz, Einheit, Kraft, Zeit. 
2, 





Einfache Borftellungen der Senſation 
Dualitäten der Körper 





primäre fecundäre 
Solidität unmittelbare mittelbare _ 
Ausdehnung finnliche Kräfte. 
—— Beſchaffenheiten 


Bewegung and 
Ruhe 


fünfles Kapitel. 


B. Der Berftand und deffen Objecte. Die zufammen- 
gelegten Vorſtellungen. 


— — — 


J. 
Die Stufen der Wahrnehmung. 


Wir kennen die Grundporftellungen, die Elemente aller 
übrigen been, die Tode zuſammengeſetzt oder compler nennt, 
wie jene einfah. Zu den einfachen Vorftellungen verhalten 
wir uns blos empfangend oder paffiv, zu den zufammen- 
gefesten dagegen bildend oder activ. Wo ift dazu die Bedin⸗ 
gung? We ift das vorftellungbildendbe oder componirende Ver⸗ 
mögen, da e8 die bloße Wahrnehmung nicht tft und wir durch 
fein anderes Vermögen BVorftellungen erhalten können als blos 
durch die Wahrnehmung? Was in unferem Verſtande ift, 
fommt aus der Wahrnehmung, aber wie kommt bie Wahr- 
nehmung ſelbſt zu Verſtande? Das ift die Frage, die der 
Lehre von den zufammengefetten VBorftellungen nothwendig 
borausgeht. Es muß gezeigt werden, daß die Bedingungen, 
die zum Verſtehen nöthig find, aus der Wahrnehmung folgen, 
daß diefe die erfte Stufe des Wilfens bildet, von der fein 


566 


Sprung, fondern ein naturgemäß abgeftufter Weg weiterführt. 
Es ift gewiß, daß in der Wahrnehmung fi) das thierifche 
Leben von der übrigen Natur unterfcheidet, daß die menſchliche 
Wahrnehmung in ihrem Fortgange eine Stufe erreicht, wo fie 
die thierifche Hinter fich zurüdläßt und deren Horizont über- 
ſchreitet. Locke's Unterfuhung handelt nur von der menfd- 
Lihen Wahrnehmung. *) 


1, Gedächtniß. 


Die Wahrnehmung kann ihre VBorftellungen nicht fchaffen, 
darum auch nicht zeritören.**) Die VBorftellungen kommen 
und gehen, fie vergehen zeitlich, aber fie werden nicht zerftört 
im Sinne der Vernichtung, fie dauern in der Wahrnehmung 
fort d. 5. fie werden behalten, fei e8 daß der gegenwärtige 
Eindrud durch Betrachtung feitgehalten oder der vergangene 
Eindrud durch Gedächtniß wieder vergegenwärtigt wird. Es 
bedarf außer oder neben der Wahrnehmung keines befonderen 
Behaltungspermögens, die Wahrnehmung felbft ift, da fie feine 
der empfangenen Vorftellungen zerftören Tann, erhaltend und 
darum behaltend. Das Gedächtniß ift nichts anderes als bie 
Wahrnehmung vergangener Vorftellungen, fie ift deren Wieder: 
vergegenwärtigung, Wiederholung, Reproduction. Natürlich 
werden nicht alle Borftellungen in derfelben Stärke behalten, 
ber int Gedächtniß wiederholte Eindrud ift nie fo ſtark, als 
der erfte unmittelbar empfangene. Mit den Gradunterſchieden 
der ſchwächeren und ftärferen Erinnerung find zahllofe Ab- 
ftufungen gegeben; wir erleben eine Menge Borftellungen, bie 


*) Ess. II, ch. 9. 
**) Ess. II, ch. 12, 8. 1. 


567 


fih mit der Zeit völlig verdunkeln und nie wieder hervor- 
treten, fie find geftorben und Tiegen in der Seele begraben. 
Es geht, fagt Lode finnig, mit den Vorftellungen unferer 
Kindheit, wie oft mit unferen Kindern: fie fterben vor uns. 
Die menſchliche Seele hat auch ihre Gräber, bier und da 
fteht noch ein verwittertes Denkmal, aber die Inſchrift ift nicht 
mehr zu lefen. Je öfter und beftändiger diefelben Eindrücke 
wiederkehren, fei e8 durch Uebung oder Erfahrung, um fo 
fefter und unvergeklicher werden fie dem Gedächtniß eingeprägt 
und bleiben in ihm ftet8 gegenwärtig. Das ift im eminenten 
Grade der Fall mit unferer Vorftellung der Körperwelt, bie 
wir ſtets haben, namentlich was die conftanten oder primären 
Eigenſchaften der Körper betrifft. *) 

Das Gedächtniß ift die Wahrnehmung gleichſam als zwei- 
tes Geficht, „zweite Wahrnehmung (secondary perception)”, 
wie Lode treffend jagt, weniger paffiv als die erfte, die un- 
willfürlich empfängt, während das Gedächtniß ſchon freiwillig 
handelt, fo oft die Seele ſich gewiſſe Vorftellungen zurücknfen 
will. Darum ift im Gedächtniß mehr pfychiiche Selbftthätig- 
feit enthalten und frei geworben, als in ber bloßen Wahr- 
nehmung; es ift ſchon Geiftesgegenwart, deren höchſter Grab 
fein Bergefjen wirklich bewußter Vorftellungen kennt. Pascal 
fol bis zum Verfall feines Körpers diefe höchſte Gedächtniß⸗ 
jtärfe gehabt haben; das äußerfte Gegentheil davon ift die 
Stupidität, bei der der Gedächtnißproceß fo langſam vor ſich 
geht, daß es zu einer eigentlichen Wiederbelebung der Vorftel- 
lungen nicht kommt.**) 


*) Ess, UI, ch. 10, $. 1—6. 
**) Ess. II, ch, 10, $: 7—9. 





568 


2. Urtheil. 


Bermöge des Gedächtniſſes erweitert fih die Wahrneh- 
mung zu einem Vorrath von Borftellungen, bie leicht inein- 
ander fließen und fich verwirren, daher nur dann wahrgenom- 
men werden können, wenn man fie forgfältig und genau unter- 
Scheibe‘. Das einzige Mittel gegen die Verworrenheit ift die 
Klarheit und Verdentlihung. Daher führt die Wahrnehmung, 
nachdem fie zum Gedächtniß erweitert ift, nothwendig zur 
Unterfheidtung und DVergleihung der Vorftellungen. Die 
ſcharfe Unterfcheidung iſt das Urtheil (judgment), die ſchnelle 
und fpielende Vergleihung tft der Wit (wit), jenes erleuchtet 
die Unterfchiede, diefer die Aehnlichkeiten, wobei er fich wenig 
um die Unterfchiede und die wirfliden Verhältnijfe ber Vor⸗ 
ftellungen d. 5. um die Wahrheit bes Urtheils kümmert. „Er 
befteht in etwas”, fagt Locke, „das fi mit jener nicht ganz 
verträgt.” *) 


3. Beritand, 


Die Objecte der Wahrnehmung find jetzt nicht mehr bloße 
Vorſtellungen, fondern BVorftellungsunterfchiede und Verhält⸗ 
niffe, verglichene Vorftellungen, die ſich nur feithalten laſſen, 
wenn man fie bezeichnet d. h. benennt. Die menfchliche Wahr- 
nehmung, um fich als Gedächtniß und Urtheil (als bewahrende 
und vergleihende Wahrnehmung) zu erhalten, bedarf der Er- 
findung der Zeichen durch articulirte Laute, der Wortzeichen, 
der Sprade. Diefe Erfindung felbft fteht unter einer noth- 
wendigen Bedingung. Es ift unmöglich, für jebe einzelne 


*) Ess. I, ch. 11, 8.2. 3. 














569 


Vorſtellung ein bejonderes Wortzeichen zu bilden, es ift daher 
nothwendig, mit einem Wort viele Vorftellungen zu bezeich- 
nen, aus vielen Vorftellungen eine zu bilden, deren Zeichen 
das Wort tft; es ift Furzgefagt nothwendig, die Vorftellungen 
zu verallgemeinern, was nur möglich ift dur Abftraction. 
Die Worte find Zeichen der abftracten Vorftellungen, die, ab- 
geftuft in Gattungen und Arten, die Borftellungsmaffen ordnen 
und beberrichen. Worte wollen nicht blos gehört und nad 
genhmt, fondern verftanden werden; ohne da8 Vermögen der 
abftracten Vorftellungen, ohne diefes Denkvermögen im engern 
Sinn werben fie nicht veritanden: diefes Vermögen ift der Ber- 
ftand. In ihm wird das Wahrnehmen zum Berftehen und 
Erkennen und überfchreitet damit die Grenze, welche die menſch⸗ 
lihe Wahrnehmung von der thierifchen trennt. ‚Das Ber- 
mögen ber Abftraction unb ber Begriffe (general ideas)“, 
jagt Lode, „fett den vollkommenen Unterſchied zwiſchen Menſch 
und Thier und ift ein Vorzug, den die thieriichen Vermögen 
auf Leine Weife erreichen.” Die Thiere ſprechen nicht, es fehlt 
ihnen nicht an den Organen, fondern am Verftande, an dem- 
jenigen Verſtehen, das bedingt ift durch die felbftthätige Be⸗ 
griffsbildung; felbft wenn fie menfchliche Worte nachahmen 
oder in einem engbegrenzten Fall zu verftehen ſcheinen, fehlt 
diefes durch Begriff und Wort, durch Urtheil und Satz ver- 
mittelte Verſtändniß. Locke bezeichnet diefen Unterfchied als 
eine Kluft (vast a distance), wodurch Thier und Menſch 
gänzlich getrennt find (wholly separated. *) 

Wir find bei den zufammengefeßten Vorftellungen, die ber 
Berjtand macht, das Vermögen ber logiſchen Kombination, 


— 


*) Ess. II, ch. 11, 8. 6—11. 


570 


deffen äußerfter Mangel den Charakter des Idioten und def» 
fen bleibende Verfehrtheit den des Verrückten ausmadht.*) 


1. 
Die zufammengefehten vorſtellungen. 


Die Berbindungsart der PVorftellungen ift Vereinigung 
und Beziehung. Da alle einfachen VBorftellungen Beſchaffen⸗ 
heiten find, fo ift die erfte Vereinigungsform die Vorftellung 
der Bejchaffenheit überhaupt d. h. eines Gegenftandes, der 
nicht für fich befteht, fondern einem andern zukommt und def- 
ſen Erfcheinungsart ausmacht. Locke nennt die Erjcheinungs- 
arten Modi (modes) und deren nähere Beitimmungen Modi: 
ficationen. Sobald aber einmal der Begriff der Beichaffenheit 
(Accidenzen, Affeetionen, Attribute) gedacht wird, fo ift dadurch 
auch der Begriff des Dinges und der Wefenbeit (Subitanz) 
gefordert, die Vorſtellung für fich beftehender Objecte im 
Unterfchiede von den nicht für ſich beftehenden, ſondern blos 
anhängenden. Die Bereinigung der Vorftellungen bat daher 
die beiden Formen der Modi und der Subftanzen. 

Es giebt demnach drei Arten zufammengefeßter Vorftel- 
lungen: Modi, Subftanzen und Relationen; fie werden 
nicht durch die Einwirkungen der Dinge auf unfere Wahrneh- 
mung gegeben, fondern durch den Verſtand aus den einfachen 
Borftellungen gemacht, fie find nicht Vorftellungen, fondern 
Vorftellungsarten oder Denkweifen. 


*) Ess. II, ch. 11, $. 12. 








571 


1. Die Modi. 


Die Modi find zufammengefett aus einfachen Vorftellun- 
gen (Beichaffenheiten), in die fie als ihre Elemente müffen 
aufgelöft werden können. Entweder find diefe Elemente gleich⸗ 
artig oder verſchieden. Die Zufammenfegung gleichartiger 
Slementarvorftellungen giebt den Begriff der „einfadhen 
Modi (simple modes)”, die der verfchiedenen giebt den Be⸗ 
griff der ‚„gemifchten (mixed modes)“. Wir handeln zu⸗ 
nächſt von den einfachen. 


1. Einfahe Senfationsvorftellungen waren die Sinnes⸗ 
empfindungen, wie Farben, Töne u. ſ. f.; einfache Reflexions⸗ 
vorftellungen die Phänomene des inneren Geſchehens, unſere 
Dentthätigkeit; einfache Wahrnehmungsobjecte ſowol der Sen- 
fation als Reflerion waren die Affecte von Luft und Schmerz. 
Die Compofition der Farben- oder Tonempfindungen tft ein 
Beifpiel einfaher Modi, ebenfo die verfchiedenen Arten und 
Grade fowol der Bewegung als bes Denkens, ebenfo die ver: 
ſchiedenen Arten der Affecte, die nur das Thema von Luft 
und Unluft varliren. Die Urſachen von Luft und Unluft 
nennen wir Güter und Uebel, die dadurch erregten Affecte 
Liebe und Haß, Freude und Trauer, Hoffnung und Furcht 
u. ſ. f. Wo Lode von den Modificationen des Denkens redet 
und aus den Zuftänden der Verdunfelung, in denen wir gar 
feiner Dentthätigfeit uns bewußt find, den Schluß zieht, daß 
die Seele nicht immer denke und ihr Wefen daher nicht im 
Denten beftehe, bemerfe ich den Gegenſatz zwifchen ihm und 
Leibniz; wo er von den Affecten und Leidenfchaften Handelt 


562 


Maſſen find, daher Ausdehnung und Solidität, Bewegung und 
Ruhe, Figur und Zahl die urjprünglichen oder primären 
Eigenschaften der Körper ausmachen. Dieſe Eigenfchaften 
werden von uns vermöge der Senjation entweder blos durch 
das Gefühl, wie bie Solidität, oder durch Gefichte- und Tafte 
finn, wie Ausdehnung, Geftalt, Bewegung, vorgeftellt; diefe 
Borftellungen find ben wirklichen Eigenfchaften der Körper 
ähnlich und vermöge berjelben ift uns die körperliche Natur 
erfennbar. Dagegen alle übrigen Senfationen, wie Farben 
und Töne, Geruchs- und Gefchmadsbeichaffenheiten, Wärme 
und Kälte, Härte und Weichheit u. ſ. f., find Wirkungen der 
Körper auf die Sinnesorgane unferer Wahrnehmung, fub- 
jective Empfindungszuftände, die mit der Natur oder Wirkungs⸗ 
weiſe der Körper ſelbſt Feine Aehnlichkeit haben, Dieſe Wir- 
fungsweife ift eine Art Bewegung. Welche Aehnlichkeit Hat 
unfere Licht», Barben-, Zonempfindung u. f. f. mit der Be: 
wegungsart, die fie verurfacht, ohne bak wir fie wahrnehmen? 
Diefe Senfationen find daher fecundäre Qualitäten, die Locke 
wieder in zwei Arten umterfcheidet, je nachdem die Vorftellung 
einer ſolchen Cigenfchaft unmittelbar oder durch die Einwir- 
fung eines Körpers auf einen andern bewirkt wird, wie wenn 
Sonnenlicht das Wachs bleicht oder Feuer das Blei flüſſig 
macht; die erfte der fecundären Qualitäten nennt Rode „un- 
mittelbar wahrnehmbar”, die zweite „mittelbar wahrnehm- 
bar”, *) 

Es giebt demnach drei Arten der Vorftellung körperlicher 
Eigenſchaften: 1) die unmittelbare Vorftellung primärer Qua— 


*) Ess. II, ch. 8, $. 8—10. 8. 26, „secondary qualities imme- 
diately perceivable‘“ und „sec. qual. mediately perceivable‘. 














563 


fitäten, 2) die unmittelbare Vorftellung fecundärer Qualitäten, 
3) die mittelbare Vorftellung fecundärer Qualitäten. Vermöge 
der erften Art ftellen wir vor, was die Körper in Wahrheit 
find, gleichviel ob wir fie wahrnehmen oder nicht, vermöge ber 
zweiten, was fie in Rüdficht auf unfere Wahrnehmung find 
und ohne diefelbe nicht find, vermöge der dritten, wie fie auf- 
einander wirken. Die primären Qualitäten find die wahren 
Eigenfhaften der Körper, die ſecundären Qualitäten erfter 
Art find die finnlihen Eigenfhaften, die der zweiten find 
die Kräfte. Die Borftellung der wahren Eigenfchaften ift 
und gilt als den Körpern ähnlich, die der finnlichen iſt den 
Körpern nit ähnlich, aber gilt dafür, wir bilden uns ein, 
die Körper feien gelb, voth, füß, fauer, hart, weih u. ſ. f., 
die der Kraftwirkungen eines Körpers auf den andern ift den 
betreffenden Körpern weder ähnlich nod gilt fie dafür, denn 
niemand glaubt, daß flüffiges Blei eine Achnlichkeit mit dem 
Teuer oder gebleichtes Wachs eine Aehnlichkeit mit der Sonne 
hat. *) | | 
Sind nun alle Qualitäten Wirkungen der Körper, deren 
Wirkungsweife allein in den verfchiedenen Arten der Bewegung 
befteht, bedingt durch Geftalt, Maffe und Maffentheifchen, fo 
müffen ans diefen primären Dualitäten die fecrundären abge- 
leitet werden, es giebt daher zur Erllärung der Phänomene 
der Körperwelt feine andere Erflärungsart als die mathema- 
tifch-mechanifche.**) Hier finden wir Rode in Vebereinftimmung 
mit Newton, feinem großen Zeitgenoffen und Landsmann. 
Wir können ſchon hier aus der locke'ſchen Lehre ein wich— 


*) Ess. II, ch. 8, 8. 23. 24. 
*+) Bas. II, ch. 8, 8. 18. 


36* 


564 


tiges Ergebniß vorwegnehmen: alle unſere Erfenntnigobjecte 


find Wahrnehmungsobjecte oder Vorftellungen, deren Elemente 
die einfachen Vorftellungen, rüdfichtlih der Körperwelt die 
Senfationen find; daher giebt es überhaupt eine Erkenntniß 
nur der Eigenſchaften, nicht der Subftanz der Dinge, nur ihrer 
Erfdeinungen, nicht ihres Weſens. Es giebt in diefem Sinn 
feine Metaphyſik.*) 


· — — 





*) Zur Ueberſicht der locke'ſchen Lehre von den Elementarvorfic- 
[ungen diene folgendes Schema: 





1. 
Elementarvorftelluugen (einfache Ibeen) 
Bahrnehmung 
Senfation Keflerion 
Durd an Sinn: Durch mehrere Sinne: | Denten und Bollen 

— Ausdehnung 

Geſchmack a 
— Gerüßt Bewegung 
Solidität Ruhe 


Senſation und Reflexion 
. — N — — — — 
Luft und Schmerz, Eriftenz, Einheit, Kraft, Zeit. 
2. 


Eiufache Borftellungen der Senfatien 
Qualitäten der Körper 





primäre fecundäre 
Solidität unmittelbare | mittelbare 
Ausdehnung finnliche Kräfte. 
Figur Beſchaffenheiten 


Zahl 
Bewegung und 
Ruhe 


fünfles Rapilel. 


B. Der Berfland und deffen Objecte. Die aufammen- 
geſetzten Vorſtellungen. 


— — — — 


I. 
Die Stufen der Wahrnehmung. 


Wir kennen die Grundporftellungen, die Elemente aller 
übrigen Ideen, die Lode zuſammengeſetzt oder compler nennt, 
wie jene einfah. Zu den einfahen Vorftellungen verhalten 
wir uns blos empfangend oder paffiv, zu den zuſammen⸗ 
gefeßten dagegen bildend oder activ. Wo ift dazu die Bedin⸗ 
gung? We ift das vorftellungbildende ober componirende Ber- 
mögen, ba e8 die bloße Wahrnehmung nicht tft und wir durch 
fein anderes Vermögen Vorftellungen erhalten können als blos 
durch die Wahrnehmung? Was in unjerem Verftande ift, 
fommt aus der Wahrnehmung, aber wie kommt die Wahr- 
nehmung felbjt zu Verſtande? Das ift die Frage, die ber 
Lehre von den zufammengefegten Borftellungen nothwendig 
vorausgeht. Es muß gezeigt werben, daß die Bedingungen, 
die zum Berftehen nöthig find, aus der Wahrnehmung folgen, 
daß diefe bie erjte Stufe des Willens bildet, von der Fein 


566 


Sprung, fondern ein naturgemäß abgeftufter Weg weiterführt. 
Es ift gewiß, daß in der Wahrnehmung fich das thierifche 
Leben von der übrigen Natur unterjcheidet, daß die menfchliche 
Wahrnehmung in ihrem Fortgange eine Stufe erreicht, wo fie 
die thierifche Hinter fich zurückläßt und deren Horizont über- 
ſchreitet. Locke's Unterfuchung handelt nur von der menſch— 
lihen Wahrnehmung.*) 


1. Gedächtniß. 


Die Wahrnehmung kann ihre Vorftellungen nicht fchaffen, 
darum auc nicht zerftören.**) Die Vorftellungen kommen 
und gehen, fie vergehen zeitlich, aber fie werben nicht zerftört 
im Sinne der Vernichtung, fie dauern in der Wahrnehmung 
fort d. 5. fie werden behalten, fei es daß der gegenwärtige 
Eindrud duch Beratung feitgehalten oder der vergangene 
Eindrud durch Gedächtniß wieder vergegenmwärtigt wird. Es 
bedarf außer oder neben der Wahrnehmung feines bejonberen 
Behaltungsvermögens, die Wahrnehmung felbft ift, da fie feine 
der empfangenen Vorftellungen zerftören kann, erhaltend und 
darunı behaltend. Das Gedächtniß ift nichts anderes als bie 
Wahrnehmung vergangener VBorftellungen, fie ift deren Wieder: 
vergegenwärtigung, Wiederholung, Reproduction. Natürlich) 
werden nicht alle Vorftellungen in derſelben Stärke behalten, 
der im Gedächtniß wiederholte Eindrud iſt nie fo ftark, als 
der erite unmittelbar empfangene. Mit den Gradunterfchieben 
ber ſchwächeren und ftärleren Erinnerung find zahllofe Ab» 
ftufungen gegeben; wir erleben eine Menge Vorftellungen, die 


*) Ess. II, ch. 9. 
**) Ess, II, ch. 12, 8. 1. 








567 


fi mit der Zeit völlig verdunfeln und nie wieder hervor- 
treten, fie find geftorben und Tiegen in der Seele begraben. 
Es geht, jagt Lode finnig, mit den PVorftellungen unferer 
Kindheit, wie oft mit unferen Kindern: fie fterben vor uns. 
Die menſchliche Seele hat auch ihre Gräber, bier und ba 
jteht noch ein verwittertes Denkmal, aber die Infchrift ift nicht 
mehr zu lefen. Je öfter und beftändiger diefelben Eindrüde 
wiederfehren, fei e8 durch Uebung oder Erfahrung, um fo 
feiter und unvergeklicher werben fie dem Gedächtniß eingeprägt 
und bleiben in ihm ftetS gegenwärtig. ‘Das ift im eminenten 
Grade der Fall mit unferer Vorftellung der Körperwelt, die 
wir ftetS haben, namentlich was bie conftanten oder primären 
Eigenſchaften der Körper betrifft. *) 

Das Gedächtniß ift die Wahrnehmung gleichſam als zwei- 
tes Geficht, „zweite Wahrnehmung (secondary perception)”, 
wie Xode treffend jagt, weniger paffiv als die erfte, die un- 
willfürlich empfängt, während das Gedächtniß fchon freiwillig 
handelt, jo oft die Seele ſich gewiſſe Vorjtellungen zurücdrufen 
will. Darum ift im Gedächtniß mehr pfychiiche Selbitthätig- 
feit enthalten und frei geworben, als in der bloßen Wahr- 
nehmung; es ift ſchon Geiltesgegenwart, deren höchfter Grad 
fein Vergeſſen wirklich bewußter Borjtellungen kennt. Pascal 
joll bis zum Verfall feines Körpers diefe höchſte Gedächtniß⸗— 
jtärfe gehabt haben; das äußerfte Gegentheil davon ift die 
Stupibität, bei der ber Gedächtnißproceß fo langſam vor ſich 
geht, daß es zu einer eigentlichen Wiederbelebung der Vorftel- 
lungen wicht fommt.**) 


*) Ess. Lu, ch. 10, 8. 1—6. 
**) Ess. II, ch. 10, 8: 7—9. 





568 


2. Urtheil. 


Vermöge des Gedächtniſſes erweitert fih die Wahrneh- 
mung zu einem Vorrath von Vorftellungen, die leicht inein⸗ 
ander fließen und fich verwirren, daher nur dann wahrgenom⸗ 
men werden können, wenn man fie forgfältig und genau unter 
Scheibe‘. Das einzige Mittel gegen die Verworrenheit ift die 
Klarheit und Verdeutlihung. Daher führt die Wahrnehmung, 
nachdem fie zum Gedächtniß erweitert ift, nothwendig zur 
Unterfcheidung und DBergleihung der Vorftellungen. Die 
fharfe Unterfcheidung tft das Urtheil (judgment), die ſchnelle 
und fpielende Vergleihung ift der Wit (wit), jenes erleuchtet 
die Unterfchiede, diefer die Aehnlichkeiten, wobei er fich wenig 
um die Unterfhhiede und die wirklichen Verhältniffe der Vor⸗ 
ftellungen d. 5. um die Wahrheit bes Urteils kümmert. „Er 
befteht in etwas”, fagt Lode, „das ſich mit jener nicht ganz 
verträgt.“ *) 


3. Beritand. 


Die Dbjecte der Wahrnehmung find jet nicht mehr bloße 
Borftellungen, jondern PVorftellungsunterichiede und Verhält- 
niffe, verglichene Vorftellungen, die fid) nur feithalten Taffen, 
wenn man fie bezeichnet d. 5. benennt. Die menſchliche Wahr- 
nehmung, um ji als Gedächtniß und Urtheil (als bewahrenbe 
und vergleihende Wahrnehmung) zu erhalten, bedarf der Er- 
findung der Zeichen durch artieulirte Raute, der Wortzeichen, 
der Sprache. Diefe Erfindung feldft fteht unter einer noth- 
wendigen Bedingung. Es ift unmöglich, für jede einzelne 


*) Ess. DO, ch. 11, $. 2. 8. 








569 


Borftellung ein beſonderes Wortzeichen zu bilden, es ift daher 
nothwendig, mit einem Wort viele Vorftellungen zu bezeidh- 
nen, aus vielen Borftelungen eine zu bilden, deren Zeichen 
das Wort iſt; es ift Turzgefagt nothwendig, die Vorftellungen 
zu verallgemeinern, was nur möglich ift durch Abftraction. 
Die Worte find Zeichen der abftracten Vorftellungen, die, ab- 
geftuft in Gattungen und Arten, die Borftellungsmaffen ordnen 
und beherrichen. Worte wollen nicht blos gehört und nad)- 
geahmt, fondern verftanden werden; ohne das Vermögen ber 
abftracten Vorftellungen, ohne biefes Denktvermögen im engern 
Sinn werden jie nicht verftanden: dieſes Vermögen ift der Ver⸗ 
ftand. In ihm wird das Wahrnehmen zum VBerftehen und 
Erfennen und überfchreitet damit die Grenze, welche die menfd- 
fihe Wahrnehmung von der thierifchen trennt. ‚Das Ver— 
mögen der Abftraction und der Begriffe (general ideas)“, 
fagt Lode, „ſetzt den vollfommenen Unterfchied zwiſchen Menſch 
und Thier und ift ein Vorzug, den die thieriihen Vermögen 
auf Leine Weife erreichen.” Die Thiere fprechen nicht, es fehlt 
ihnen nicht an den Organen, fondern am Berftande, an dem: 
jenigen Verftehen, das bedingt tft durch die felbftthätige Be⸗ 
griffsbildung; felbft wenn fie menſchliche Worte nachahmen 
ober in einem engbegrenzten Tall zu verftehen ſcheinen, fehlt 
diefes durch Begriff und Wort, durch Urtheil und Sat ver- 
mittelte Verſtändniß. Locke bezeichnet diefen Linterfchied als 
eine Kluft (vast a distance), woburd Thier und Menſch 
gänzlich getrennt find (wholly separated.*) 

Wir find bei den zufammengejegten Vorftellungen, die der 
Beritand macht, das Vermögen der logiſchen Combination, 


*) Ess. II, ch. 11, 8. 6—11. 


570 


beifen äußerfter Mangel den Charakter des Idioten und def» 
fen bleibende Verfehrtheit den des Verrüdten ausmadht.*) 


1. 
Die zufammengefebten Vorflellungen. 


Die Verbindungsart der BVorftellungen ift Vereinigung 
und Beziehung. Da alle einfachen Vorſtellungen Beichaffen- 
heiten find, fo ijt die erjte Vereinigungsform die Vorftellung 
der Befchaffenheit überhaupt d. 5. eines Gegenftandes, der 
nicht für fich befteht, fondern einem andern zukommt und deſ⸗ 
fen Erfcheinungsart ausmacht. Locke nennt die Erſcheinungs⸗ 
arten Modi (modes) und deren nähere Beitimmungen Modi- 
ficationen. Sobald aber einmal der Begriff der Beichaffenheit 
(Accidenzen, Affectionen, Attribute) gedacht wird, fo ift dadurch 
auch der Begriff des Dinges und der Weſenheit (Subftanz) 
gefordert, die Vorſtellung für fich beftehender Objecte im 
Unterſchiede von den nicht für fich beftehenden, fondern blos 
anhängenden. Die Vereinigung der Borftellungen hat daher 
die beiden Yormen der Modi und der Subftanzen. 

Es giebt demnach drei Arten zufanmengefetter Vorftel- 
lungen: Modi, Subftanzen und Relationen; fie werden 
nicht durch die Einwirkungen der Dinge auf unfere Wahrneh- 
mung gegeben, fondern durch den Verſtand aus den einfachen 
Borftelungen gemacht, fie find nicht Vorftellungen, fondern 
Boritellungsarten oder Dentweifen. 


*) Ess. II, ch. 11, $. 12. 











571 


1, Die Modi. 


Die Modi find zufammengefett aus einfachen Vorftellun- 
gen (Beichaffenheiten), in die fie als ihre Elemente müfjen 
aufgelöft werben können. Entweder find diefe Elemente gleich- 
artig oder verfchieden. Die Zufammenfegung gleichartiger 
Elementarvorftellungen giebt den Begriff der „einfachen 
Modi (simple modes)“, die der verfchiedenen giebt den Be⸗ 
griff der „gemiſchten (mixed modes)“. Wir handeln zu- 
nächſt von den einfachen. 


1. Einfahe Senfationsvorftellungen waren die Sinnes- 
empfindungen, wie Farben, Töne u. |. f.; einfache Reflerions- 
vorftellungen die Phänomene des inneren Geſchehens, unſere 
Denkthätigkeit; einfache Wahrnehmungsobjecte fowol der Sen- 
fation als Reflerion waren die Affecte von Luft und Schmerz. 
Die Compofition der Farben⸗ oder Tonempfindungen ift ein 
Beifpiel einfacher Modi, ebenfo die verfchiebenen Arten und 
Grade fowol der Bewegung als des Denkens, ebenfo die ver- 
ichiebenen Arten der Affecte, die nur das Thema von Luft 
und Unluft variiren. Die Urſachen von Luſt und Unluſt 
nennen wir Güter und Uebel, die dadurch erregten Affecte 
Liebe und Haß, Freude und Trauer, Hoffnung und Furcht 
u. ſ. f. Wo Lode von den Modificationen des Denkens redet 
und aus den Zuftänden der Verbunfelung, in denen wir gar 
feiner Dentthätigfeit uns bewußt find, den Schluß zieht, daß 
die Seele nicht immer denke und ihr Wefen daher nicht im 
Denken beſtehe, bemerfe ich den Gegenfag zwifchen ihm und 
Leibniz; wo er von den Affecten und Leidenfchaften handelt 


572 


als einfachen Modis von Luft und Unluſt bemerfe ich bie 
Parallele zwifchen ihm und Spinoza.*) 
| 2. Unter den einfachen Vorftellungen wurden befonders 
hervorgehoben die Raum⸗ und Zeitempfindung, die Borftellung 
der Einheit und Kraft; das find auch die Themata derjenigen 
einfahen Modi, bie Locke hauptſächlich ausgeführt hat, am 
weitläufigften, aber feineswegs am klarſten das der Kraft; er 
hat in der zweiten Auflage feines Werks diefen wichtigen Ab- 
fchnitt in einigen Punkten verändert nnd berichtigt, ohne die 
Klarheit wejentlih zu fördern. 

Die einfachen Modi der Raumempfindung find die Modi- 
ficationen des Raums: Abftand, Dimenfion, Geftalt, 
Ort, Maßſtab, Erpanfion (fo nennt Rode die Ausdehnung 
des Raums im Unterfchted von der Ausdehnung des Stoffe, 
die er Ertenfion nennt). Da fih der Mafftab, gleichviel 
welche Dimenfion gemefjen wird und von welcher Größe das 
Map felbft ift, ins Endloje wiederholen und fortfegen läßt, 
fo giebt diefe Art einer Zufammenfegung ohne Ende den Be⸗ 
griff der Unermeplichleit.**) Da Lode im Gegenfaß zu 
Descartes Raum und Körper unterfcheidet und die bloße 
Raumvorftelung unter den einfachen Modis behandelt, fo ver- 
theidigt er gegen Descartes die Möglichkeit des Leeren Raums. 
Wenn diefe Möglichkeit dadurd widerlegt werden foll, daß ber 
leere Raum weder Subftanz noch Accidenz fein könne, fo find 
das leere Worte. Was ift Subjtanz? Dasjenige foll Sub- 
ftanz fein, wodurch ein anderes getragen wird, d. h. deutlich 
gefagt: der Elephant, auf dem die Erde ruht, oder die Schild⸗ 


*) Ess. II, ch. 18, $. 3. 4; ch. 19 unb 20. 
**) Ess. II, ch. 13, 8. 1—10, 


4 

















573 


tröte, die den Elephanten trägt, wie jener Inder fagte. Ueber 
den Elephanten lacht man, feßt man aber ftatt feiner das Wort 
„Subſtanz“, fo Hält man den Ausſpruch für Zieffinn. Und 
wird das gelehrte Lateinifche Wort in die vaterländijche Sprache 
übertragen, fo erfennt jeder, daß gar nichts gejagt ift.*) 

Die einfahen: Modi der Zeitempfindung find Folge, 
Dauer, Augenblid, Zeitmaß, deſſen unerfchöpfliche Wieder- 
holung die Vorftellung der (zeitlichen LUnermeßlichfeit oder) 
Ewigfeit giebt. Die Zeitempfindung ift gebunden an das 
innese Gefchehen, an ben Lauf unferer Vorftellungen, wonach 
allein wir die Zeitfolge empfinden und meſſen. Unſere Vor⸗ 
jtellungen wechſeln, die eine kommt, bie andere geht, Diele 
Wahrnehmung giebt uns die Vorftellung der Folge oder Suc- 
ceſſion; die Theile diefer Folge find unterjchteden, zwifchen der 
Borftelung A und B ift eine gewiffe Zeit verfloffen, die 
Wahrnehmung dieſes Zeitabftandes oder einer gewiſſen Zeit- 
länge giebt die Vorftellung der Dauer, die Heinfte wahrnehme 
bare Dauer, die Zeit einer einzigen Borftellung, giebt die 
Borftellung des Augenblids; wenn in gewiljen Zeitabftänden 
diefelben Vorftellungen regelmäßig wieberlehren, jo gewinnen 
wir die DVorftellung der regelmäßigen Zeitfolge, des Zeit- 
abjchnitts oder der Periode, die als Zeitmaß dient. Wenn 
dieſe periodifchen PVorftellungen den Staub der Sonne im 
Laufe des Tages oder Jahres bezeichnen, fo wird die Zeit Durch 
gewifie Bewegungserfcheinungen gemeſſen, nicht weil fie Be 
wegungen, fondern weil fie Borftellungen find. Locke dringt 
wiederholt darauf, dag unfere Vorftellungen und deren Folge 


*) Ess. II, ch. 13, 8. 19 und 20. 


574 


das unmittelbare, directe, alleinige Zeitmaß bilden und jedes 
andere von hier übertragen ift.*) 

Alte Wahrnehmungsobjecte find irgendwo und irgendwann, 
fie haben ihren Ort und ihre Zeit; in Raum ift alles zugleich, 
in der Zeit alles fucceffiv.**) 

Jede Borftellung ift eine, daher die Einheit die allge- 
meinfte aller Vorftellungen. Der einfache Modus diefer Vor⸗ 
ftellung ift ihre Wiederholung d. h. ihre Vermehrung, die 
Borftellung der Quantität oder Zahl. Das Zufammen- 
jegen von Einheiten gefchieht durch Zählen, das in jedem ge- 
gebenen Fall jo weit reicht, als die Zahlvorftellungen durd) 
Worte bezeichnet werden können, was mit der Bildungsitufe 
und den Bedürfniffen zufammenhängt. Alles Meſſen ift ein 
Zählen von Raum⸗ und Zeiteinheiten, die als Maße dienen. 
Alles Mefjen ift Zählen. Weil das Zählen ins Endlofe fort- 
gefegt werden kann, darum ift der Raum unermeßlich, die Zeit 
ewig, jede Größe ins Endlofe theilbar. Die Unbegrenztheit 
der Zahl giebt die Vorjtellung der Unendlichleit. Im diefer 
Unendlichkeit liegt der Grund, warım Raum und Zeit grenzen- 
los find. Die Unendlichkeit ift eine fortwährend: wachjende, 
nie vollendete, nie zu vollendende Vorſtellung, fie ift nicht 
pofitiv, nicht die Vorftellung eines gegebenen Objects, fondern 
einer nie zu erreihenden Grenze. Daher giebt e8 zwar eine 
Vorſtellung von der Unendlichkeit des Raums, aber feine vom 
unendlichen Raum, fowenig es eine Borftellung von der Ewig- 
feit giebt, denn es giebt Feine unendlich große Zahl.***) 

3. Jede Veränderung ift eine Wirkung, bie als folche 


*) Ess. II, ch. 14. Insbeſondere $. 32, ch. 15,.8. 9. 
**) Ess. II, ch. 15, 8. 5—8. $. 12. 
***) Ess, II, ch. 16. 17. 








575 


Wirkſamkeit, Thätigkeit, Kraft vorausjekt. Es giebt in der 
Körperwelt Feine Veränderung (Bewegung) ohne die Kraft, 
Wirkungen auszuüben und zu empfangen, ohne thätige und 
leidende Kraft, die ſich gegenjeitig bedingen. Ohne eine folche 
wechjelfeitige Beziehung der Körper ift die Kraft nicht vor- 
zuſtellen. Es giebt in der Körperwelt keine SKraftäußerung 
ohne Einwirkung von außen, Teine Bewegung, die nicht mit- 
getheilt wäre, feinen Körper als erjte bewegende Urjache, Teine 
ſchlechthin thätige oder hervorbringende Kraft. 

Die einfache Borjtellung der Kraft überhaupt ift ein un- 
mittelbares Wahrnehmungsobject fowol der Senfation als 
Reflexion. Die are Vorftellung der thätigen oder hervor⸗ 
“ dringenden Kraft ift ein Object blos der inneren Wahrneh- 
mung, denn nur in uns erleben wir Vorgänge, die unmittel- 
bar durch unfere eigene Xhätigleit erzeugt werden. Der 
Verſtand bildet Vorftellungen, der Wille bewegt den Körper. 
Daher fällt die Vorftellung der thätigen Kraft zufammen mit 
der unferer Geiftesfraft, der Kraft unferes Verftandes und 
Willens. Aber auch der PVerftand thut nichts ohne Willen, 
er muß zur Bildung und Ordnung feiner Vorftellungen, zur 
Erfenntnißthätigleit durch diefen bejtimmt und gerichtet werden. 
Daher ift unfer Wille die einzige thätige Kraft, die wir fen- 
nen. Es giebt nur zwei uns erkennbare Thätigfeiten: Denken 
und Bewegen, die einzige Kraft, die in beiden hervorbringend 
wirkt, ift der Wille.*) | 

Hier entfteht nun die alte und ſchwierige Streitfrage nad) 
der Freiheit des Willens, auf die man gar nicht eingehen 
kann, bevor man fie entwirrt und den Knäuel unverträglicher 


— —— 





*) Ess. II, ch. 21, 8. 1-6. 


ME. } 





576 


Borftellungen, in den fie verwidelt worden ijt, aufgelöjt Hat. 
Man kann überhaupt eine Kraft nur erfennen aus ihren Wir- 
fungen, aus ihrer Thätigkeit, nicht umgelehrt die Thätigkeit 
und Wirkungen aus der Kraft, fonft überfegt man jede Wir- 
fung in eine gleichnamige Kraft, wodurd gar nichts erklärt, 
fondern nur der Name geändert und ein Heer von Kräften 
als letzte Urjachen oder beſoudere Wefen aufgeführt und hypo⸗ 
ftafirt werben. Aus dem Vorgang der Verdauung, der Se: 
cretion u. f. f. wird eine Verdaunngsfraft, eine Secretions- 
fraft, aus den inneren Vorgängen der Erinnerung, Einbildung, 
Abjtraction, Erkenntniß, DBegehrung u. f. f. werden ebenfo 
viele gleichnamige Kräfte, die man weiß nicht wo ihre Her: 
berge haben.*) 

Nun befteht alle Willensthätigfeit im wollen, wählen, 
vorziehen, und alle dadurch beftimmten Handlungen find frei- 
willig; man kann etwas vorziehen, ohne es zu wünfchen, man 
kann freiwillig in einen Zuftend treten, der bie Freiheit aus⸗ 
jchließt, wie z.B. wenn man gern mit einem Andern die Ge⸗ 
fangenfchaft theilt, dann ift das Bleiben im Gefängniß frei- 
willig, aber nicht frei, denn die Möglichkeit des Gegentheils 
(nämlich des Nichtbleibens oder Fortgehens) ift ausgefchloffen, 
aber wir konnen etwas nicht wählen oder vorziehen ohne die 
Borftellung bes Befieren, d. h. ohne eine Prüfung und Weber: 
legung, welche bie Denkthätigfeit in ſich trägt. Daher ift das 
Wollen zugleich ein Act und eine Art des Dentens.**) 

Die Freiheit dagegen ift eine Machtfrage, fie bezieht fich 
nur auf unfer Können, fie betrifft nur die Handlungen, die 


—— — 





*) Ess. II, ch. 21, 8. 17—20. 
**) Ess. II, ch. 21, 8. 10 und 11. 8. 27. 30. 


577 


wir ebenſo gut thun als unterlaſſen können. „Unſere Vor- 
ſtellung der Freiheit“, ſagt Locke, „reicht ſo weit als die 
Macht, nicht weiter.*). Nun fällt die Macht mit dem Iu- 
begriff der Vermögen, mit der Natur eines Weſens zuſammen, 
und die Frage nach unſerer Freiheit muß daher ſo geſtellt 
werden: ob und inwieweit. der Menſch (die menschliche. Natur) 
frei ift ?**) 

. Bergleichen. wir nun. n.Bille ab Freiheit. als Bräfte, beren 
eine auf. das Wählen und Vorziehen, deren andere auf das 
Können. und. Handeln geht, fo. leuchtet ein, daß die gewöhn- 
liche. Frage. nach der Willensfreiheit entweder. ins Xeere oder 
ins Ungereimte. fällt; fie iſt entweder tautologifrh oder abjurd. 
Sofern. beide Kräfte find, .. ift jene. Frage gleichbedeutend mit 
ber: ob. die Kraft Kraft, die Freiheit frei, der Reichthum reich 
ift? Sofern. beihe.. verjehiebene Kräfte. find .(deum. ein. anderes 
ift Wählen, ein anderes Können), ift jene Trage. fo ungereimt, 
als ob .man fragen. wollte: ob die Ruhe beivegt, der Schlaf 
fchnell, die Tugend. vieredig. ijt?**r) . 

Die Freiheit ift Feine Eigenſchaft des Wollens, sondern 
ein Zuftand des Wefens, der menfchlichen Natur, der beftimm- 
ten menschlichen Individuen in Abficht auf gewiſſe Handlungen. 
Sofern nun das Wollen unter die menfhlichen Tchätigfeiten 
gehört, kann gefragt werden, ab die Willensthätigleit in das 
Gebiet unferer Freiheit d. h. derjenigen Handlungen fällt, die 
wir ebenfo gut thun als unterlaffen können? Erſt jet wird 
bie Frage nach der Willensfreiheit fo geftellt,. daß eine Antıport 


*) Ess. I, ch. 21, 8.10: „Our idea of liberty reaches as far 
as that power and no farther.“ 
**) Ess, II, ch. 21, $. 21. 
***) Ess. II, ch, 21, $. 16 und. 14. 
Fiſcher, Bacon. 37 








568 


2. Urtheil. 


Bermöge des Gedächtniſſes erweitert fi die Wahrneh- 
mung zu einem Vorrath von Vorftellungen, die leicht inein- 
ander fließen und fich verwirren, daher nur dann wahrgenom- 
men werden können, wenn man fie forgfältig und genau unter- 
ſcheide. Das einzige Mittel gegen die Verworrenheit ift die 
Klarheit und Verdeutlihung. Daher führt die Wahrnehmung, 
nachdem fie zum Gedächtniß erweitert ift, nothiwendig zur 
Unterfheidung und Vergleihung der DVorftellungen. Die 
fcharfe Unterfcheidung ift das Urtheil (judgment), die jchnelle 
und fpielende Vergleichung ift der Wit (wit), jenes erleuchtet 
die Unterfchiede, diefer die Aehnlichkeiten, wobei er fich wenig 
um die Unterſchiede und die wirklichen Verhältnijfe der Vor⸗ 
ftelfungen d. 5. um die Wahrheit des Urtheils kümmert. „Er 
befteht in etwas”, fagt Locke, „das ſich mit jener nicht ganz 
verträgt.“ *) Ä 


3. Verſtand. 


Die Objecte der Wahrnehmung find jest nicht mehr bloße 
Borftellungen, fondern Vorſtellungsunterſchiede und Verhält- 
niffe, verglichene Vorftellungen, die fi nur fejthalten Taffen, 
wenn man fie bezeichnet d. 5. benennt. Die menfchliche Wahr- 
nehmung, um fich als Gedächtniß und Urtheil (als bewahrende 
und vergleichende Wahrnehmung) zu erhalten, bedarf der Er- 
findung der Zeichen durch artieulirte Raute, der Wortzeichen, 
der Sprade. Diefe Erfindung felbft fteht unter einer noth- 
wendigen Bedingung, Es ift unmöglich, für jede einzelne 


*) Ess. I, ch. 11, 8. 2. 3. 











569 


Vorftellung ein befonderes Wortzeihen zu bilden, es ift daher 
nothwendig, mit einem Wort viele Vorftellungen zu bezeid)- 
nen, aus vielen Borftellungen eine zu bilden, deren Zeichen 
das Wort ift; es ift Furzgefagt nothwendig, die Vorftellungen 
zu verallgemeinern, was nur möglich ift durch Abftraction. 
Die Worte find Zeichen der abftracten Vorftellungen, die, ab- 
geftuft in Gattungen und Arten, die Vorſtellungsmaſſen ordnen 
und beherrſchen. Worte wollen nicht blos gehört und nad)- 
geahmt, fondern verftanden werden; ohne das Bermögen der 
abftracten Vorftellungen, ohne diejes Denkvermögen im engern 
Sinn werden fie nicht verftanden: dieſes Vermögen ift der Ver⸗ 
ftand. In ihm wird das Wahrnehmen zum Verftehen und 
Erkennen und überjchreitet damit die Grenze, welche die menſch⸗ 
liche Wahrnehmung von der thierifchen trennt. ‚Das Ber- 
mögen ber Abftraction und ber Begriffe (general ideas)“, 
jagt Lode, „fett den vollkommenen Unterfchied zwifchen Menſch 
und Thier und ift ein Vorzug, den die thierifchen Vermögen 
auf Feine Weife erreichen.” Die Thiere fprechen nicht, es fehlt 
ihnen nicht an den Organen, fondern am Verjtande, an dem⸗ 
jenigen Verſtehen, das bedingt tft durch die jelbftthätige Be⸗ 
griffsbilbung; felbft wenn fie menfchliche Worte nahahmen 
oder in einem engbegrenzten Ball zu verftehen ſcheinen, fehlt 
diefes durch Begriff und Wort, durch. Urtheil und Sa ver- 
mittefte Verftändniß. Node bezeichnet diefen Unterſchied als 
eine Kluft (vast a distance), wodurch Thier und Menſch 
gänzlich getrennt find (wholly separated.*) 

Wir find bei den zufammengefegten Borftellungen, bie der 
Berftand macht, das Vermögen der logifchen Kombination, 


*) Ess. DI, ch. 11, 8. 6—11. 





570 


deffen äußerfter Mangel den Charakter des Idioten und def- 
fen bleibende Verfehrtheit den des Verrüdten ausmadht.*) 


I. 
Die zufammengefehten Vorfiellungen. 


Die BVerbindungsart der Vorftellungen ift Vereinigung 
und Beziehung. Da alle einfachen Vorstellungen Beichaffen- 
heiten find, fo ift die erſte Vereinigungsform die Vorftellung 
der Beichaffenheit überhaupt d. h. eines Gegenftandes, der 
nicht für fich befteht, jondern einem andern zukommt und deſ⸗ 
jen Erſcheinungsart ausmacht. Locke nennt die Erſcheinungs⸗ 
arten Modi (modes) und deren nähere Beſtimmungen Modi⸗ 
ficationen. Sobald aber einmal der Begriff der Beſchaffenheit 
(Accidenzen, Affectionen, Attribute) gedacht wird, ſo iſt dadurch 
auch der Begriff des Dinges und der Weſenheit (Subſtanz) 
gefordert, die Vorſtellung für ſich beſtehender Objecte im 
Unterſchiede von den nicht für ſich beſtehenden, ſondern blos 
anhängenden. Die Vereinigung der Vorſtellungen hat daher 
die beiden Formen der Modi und der Subſtanzen. 

Es giebt demnach drei Arten zuſammengeſetzter Vorſtel⸗ 
lungen: Modi, Subſtanzen und Relationen; fie werden 
nicht dur die Einwirkungen der Dinge auf unfere Wahrneb- 
mung gegeben, fondern durch den Verſtand aus den einfachen 
Borftellungen gemacht, fie find nicht Vorftellungen, fondern 
Vorftellungsarten oder Denkweifen. 


*) Ess, II, ch. 11, $. 12. 








571 


1. Die Modi, 


Die Modi find zufammengefegt aus einfachen Vorjtellun- 
gen (Beichaffenheiten), in die fie als ihre Elemente müfjen 
aufgelöft werden können. Entweder find diefe Elemente gleich- 
artig oder verfchieden. Die Zufammenfegung gleichartiger 
Elementarvorftellungen giebt den Begriff der „einfachen 
Modi (simple modes)“, die der verſchiedenen giebt den Be⸗ 
griff der „gemifchten (mixed modes)“. Wir handeln zu⸗ 
nächſt von den einfachen. 


1. Einfache Senfationsvorftellungen waren die Sinnes- 
empfindungen, wie Farben, Töne u. ſ. f.; einfache Reflexions⸗ 
porftellungen die Phänomene des inneren Gefchehens, unfere 
Denkthätigkeit; einfache Wahrnehmungsobjecte fowol der Sen- 
fatton als Reflexion waren die Affecte von Luft und Schmerz. 
Die Compofition der Farben- oder Tonempfindungen ijt ein 
Beifpiel einfacher Modi, ebenjo die verfchiebenen Arten und 
Srade fowol der Bewegung als des ‘Denkens, ebenfo die ver- 
jchiedenen Arten der Affecte, die nur das Thema von Luft 
und Unluft vartiren. Die Urfaden von Luft und Unluſt 
nennen wir Güter unb Uebel, bie dadurch erregten Affecte 
Liebe und Haß, Freude und Trauer, Hoffnung und Furcht 
u. ſ. f. Wo Lode von den Modificationen bes Denkens redet 
und aus den Zuftänden der Verdunfelung, in denen wir gar 
feiner Dentthätigfeit uns bewußt find, den Schluß zieht, daß 
die Seele nit immer denke und ihr Wejen daher nicht im 
Denken bejtehe, bemerke ich den Gegenfag zwifchen ihm und 
Leibniz; wo er von den Afferten und Leidenfchaften handelt 








572 


als einfahen Modis von Luft und Unluſt bemerfe ich die 
Baralfele zwifchen ihm und Spinoza.*) 

2. Unter den einfachen Vorftelfungen wurden befonders 
hervorgehoben die Raum⸗ und Zeitempfindung, die Vorftellung 
der Einheit und Kraft; das find auch die Themata derjenigen 
einfachen Modi, die Tode hauptſächlich ausgeführt hat, amt 
weitläufigften, aber feineswegs am Harften das ber Kraft; er 
hat in der zweiten Auflage feines Werks diefen wichtigen Ab- 
fchnitt in einigen Punkten veränbert und berichtigt, ohne die 
Klarheit wefentlich zu fördern. 

Die einfachen Modi der Raumempfindung find die Modi- 
ficationen des Raums: Abſtand, Dimenfion, Geftalt, 
Drt, Maßftab, Erpanfion (jo nennt ode die Ausdehnung 
des Raums im Unterfchied von der Ausdehnung des Stoffe, 
die er Extenfion nennt). Da fih der Maßſtab, gleichviel 
welche Dimenfion gemefjen wird und von welder Größe das 
Map felbft ift, ins Endlofe wiederholen und fortfegen lüßt, 
fo giebt diefe Art einer Zufammenfegung ohne Ende den Be- 
griff der Unermeßlichkeit.“*) Da Lode im Gegenfak zu 
Descartes Raum umd Körper unterſcheidet und bie bloße 
Raumvorftellung unter den einfachen Modis behandelt, fo ver- 
theidigt er gegen Descartes die Möglichkeit des leeren Raums. 
Wenn diefe Möglichkeit dadurch widerlegt werden foll, daß der 
leere Raum weder Subftanz noch Accidenz fein Tönne, fo find 
das leere Worte. Was ift Subftanz? Dasjenige foll Sub- 
ftanz fein, wodurd ein anderes getragen wird, db. h. deutlich 
gefagt: der Elephant, auf dem die Erde ruht, oder die Schild: 


*) Ess, U, ch. 18, 8. 3. 4; ch. 19 und 20. 
**) Ess. II, ch. 13, 8. 1—10, 


( 

















573 


fröte, die den Elephanten trägt, wie jener Inder fagte. Ueber 
den Elephanten lacht man, ſetzt man aber ftatt feiner das Wort 
„Subſtanz“, fo Hält man den Ausſpruch für Zieffinn. Und 
wird das gelehrte Iateinifche Wort in die vaterländijche Sprache 
übertragen, fo erfennt jeder, daß gar nichts gejagt ift.”) 

Die einfachen: Modi der Zeitempfindung find Folge, 
Dauer, Augenblid, Zeitmaß, deifen unerjchöpfliche Wieber- 
holung die Vorftellung der (zeitlichen Unermeßlichkeit oder) 
Ewigkeit giebt. Die Zeitempfindung ift gebunden an das 
innese Gefchehen, an den Lauf unferer Vorftellungen, wonach 
allein wir die Zeitfolge empfinden und meſſen. Unfere Vor⸗ 
ftellungen wechfeln, die eine fommt, die andere geht, Diele 
Wahrnehmung giebt uns die Borftellung der Folge oder Suc- 
ceſſion; die Theile diefer Folge find unterfchieben, zwiſchen der 
Doritellung A und B ift eine geiwiffe Zeit verfloffen, die 
Wahrnehmung diefes Zeitabftandes oder einer gewiffen Seite 
länge giebt die Vorftellung der Dauer, die kleinſte wahrnehm⸗ 
bare Dauer, die Zeit einer einzigen Borftellung, giebt bie 
Borftellung des Augenblids; wenn in gewifjen Zeitabftänden 
diefelben Vorftellungen regelmäßig wiederlehren, fo gewinnen 
wir die Vorſtellung der regelmäßigen Zeitfolge, des Zeit- 
abſchnitts oder der Periode, die als Zeitmaß dient. Wenn 
diefe periodifhen Vorſtellungen den Staud der Sonne im 
Laufe des Tages oder Jahres bezeichnen, fo wird die Zeit durch 
gewiffe Dewegungserfcheinungen gemefien, nicht weil fie Be- 
wegungen, fondern weil fie Borftellungen find. Locke bringt 
wiederholt darauf, daß unfere Vorftellungen und deren Folge 


” Ess. II, ch. 13, 8. 19 und 20. 


— — 


574 


das unmittelbare, directe, alleinige Zeitmaß bilden und jedes 
andere von hier übertragen ift.*) 

Alle Wahrnehmungsobjecte find irgendwo und irgendwann, 
fie haben ihren Ort und ihre Zeit; in Raum ift alles zugleich, 
in der Zeit alles fucceffiv.**) 

Jede Borftellung ift eine, baher die Einheit die allge- 
meinte aller Borftellungen. Der einfache Modus diefer Vor—⸗ 
ftellung ift ihre Wiederholung d. 5. ihre Vermehrung, die 
Vorftelung der Quantität oder Zahl. Das Zufammen- 
fegen von Einheiten gefchieht durch Zählen, das in jedem ge- 
gebenen Fall fo weit reiht, als die Zahlvorjtellungen durch 
Worte bezeichnet werden können, was mit der Bildungsftufe 
und den Bedürfniffen zufammenhängt. Alles Meſſen ift ein 
Zählen von Raun- und Zeiteinheiten, die als Maße dienen. 
Alles Meſſen ift Zählen. Weil das Zählen ins Endlofe fort- 
gefet werden kann, darum ift der Raum unermeßlich, die Zeit 
ewig, jede Größe ins Endlofe theilbar. Die Unbegrenztheit 
der Zahl giebt die Vorftellung der Unendlichkeit. In diefer 
Unendlichkeit Liegt der Grund, warum Raum und Zeit grenzen- 
los find. Die Unendlichkeit ift eine fortwährend wachjende, 
nie vollendete, nie zu vollendende Vorftellung, fie ift nicht 
pofitiv, nicht die Vorftellung eines gegebenen Objects, ſondern 
einer nie zu erreihenden Grenze. Daher giebt e8 zwar eine 
Vorftellung von der Unendlichkeit bes Raums, aber feine vom 
unendlichen Raum, fowenig es eine VBorftellung von der Ewig- 
teit giebt, denn es giebt feine umendlich große Zahl.***) 

3. Jede Veränderung ift eine Wirkung, die als foldhe 


*) Ess. II, ch. 14. Insbeſondere $. 82, ch. 15, 8. 9. 
**) Ess. II, ch. 15, 8. 5—8. 8. 12, 
***) Ess. II, ch. 16. 17. 





575 


Wirkſamkeit, Thätigkeit, Kraft vorausſetzt. Es giebt in der 
Körperwelt keine Veränderung (Bewegung) ohne die Kraft, 
Wirhmgen auszuüben und zu empfangen, ohne thätige und 
feidende Kraft, die fich gegenfeitig bedingen. Ohne eine folche 
wechfelfeitige Beziehung der Körper ift die Kraft nidht vor- 
zuftellen. Es giebt in ber Körperwelt Feine Kraftäußerung 
ohne Einwirkung von außen, feine Bewegung, die nicht mit- 
getheilt wäre, keinen Körper als erfte bewegende Urfache, Feine 
ſchlechthin thätige oder hervorbringende Kraft. 

Die einfache Vorftellung der Kraft überhaupt ijt ein un- 
mittelbares Wahrnehmungsobject fowol der Senfation als 
Reflerion. Die Mare Vorftellung der thätigen oder hervor⸗ 
bringenden Kraft ift ein Object blos der inneren Wahrneh- 
mung, denn nur in uns erleben wir Vorgänge, die unmittel- 
bar durch unfere eigene Xhätigleit erzeugt werden. Der 
Verſtand bildet Vorftellungen, der Wille bewegt den Körper. 
Daher fällt die Vorftellung der thätigen Kraft zufammen mit 
der unferer Geiftesfraft, der Kraft unferes DVerftandes und 
Willene. Aber auch der Verftand thut nichts ohne Willen, 
er muß zur Bildung und Ordnung feiner Vorftellungen, zur 
Erkenntnißthätigkeit durch diefen bejtimmt und gerichtet werben. 
Daher ift unfer Wille die einzige thätige Kraft, die wir fen- 
nen. Es giebt nur zwei uns erkennbare Thätigkeiten: Denken 
und Bewegen, die einzige Kraft, die in beiden hervorbringend 
wirkt, ift der Wille.*) | 

Hier entfteht nun die alte und fchwierige Streitfrage nad) 
der Freiheit des Willens, auf die man gar nicht eingehen 
kann, bevor man fie entwirrt und den Knäuel unverträglicher 


— —— 





* Ess. II, ch. 21, 8. 1—5. 


576 


Borftellungen, in den fie verwidelt worden ift, aufgelöjt hat. 
Man kann überhaupt eine Kraft nur erfennen aus ihren Wir- 
fungen, aus ihrer Thätigkeit, wicht umgelehrt die Thätigkeit 
und Wirkungen aus der Kraft, fonft überſetzt man jede Wir- 
fung in eine gleichnamige Kraft, wodurch gar nichts erklärt, 
fondern nur der Name geändert und ein Heer von Kräften 
als letzte Urfachen oder befonbere Weſen aufgeführt und hypo⸗ 
ftafirt werden. Aus dem Vorgang ber Verdauung, der Se- 
eretion u. f. f. wird eine Berdauungsfraft, eine Secretions- 
kraft, aus den inneren Vorgängen der Erinnerung, Einbildung, 
Abftraction, Erkenntniß, Begehrung u. f. f. werden ebenfo 
viele gleichnamige Kräfte, die man weiß nicht wo ihre Her: 
berge haben. *) 

Nun beiteht alle Willensthätigfeit im wollen, wählen, 
vorziehen, und alle dadurch beftimmten Handlungen find frei- 
willig; man kann etwas vorziehen, ohne e8 zu wünjchen, man 
kann freiwillig in einen Zuftand treten, der die Freiheit aus⸗ 
fchließt, wie z.B. wenn man gern mit einem Andern die ©e- 
fangenfchaft theilt, dann ift das Bleiben im Gefängniß frei- 
willig, aber nicht frei, denn die Möglichkeit des Gegentheile 
(nämlich des Nichtbleibens oder Fortgehens) ift ausgeſchloſſen, 
aber wir konnen etwas nicht wählen oder vorziehen ohne die 
Borftellung des Befjeren, d. h. ohne eine Brüfung und Ueber⸗ 
legung, welche die Denkthätigkeit in fich trägt. Daher ift das 
Wollen zugleid ein Act und eine Art des Dentens.**) 

Die Freiheit dagegen ift eine Machtfrage, fie bezieht fich 
nur auf unfer Können, fie betrifft nur die Handlungen, die 


*) Ess. II, ch. 21, 8. 17—20. 
**) Ess. II, ch. 21, 8. 10 und 11. 8. 27. 30. 











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wir ebenſo gut thun als unterlaſſen können. „Unſere Vor- 
ſtellung der Freiheit“, ſagt Lacke, „reicht ſo weit als die 
Macht, nicht. weiter.*). Nun fällt die Macht mit dem Iu- 
begriff der. Bermögen, mit der. Natur eines Weſens zuſammen, 
und die. Frage. nad) unſerer Freiheit. muß daher ſo geftellt 
werden: ob. und inwieweit. der Menfch.. (die. menſchliche Natur) 
frei ift ?*”) 

. Vergleichen. wir nun. Wille und Freiheit als Krafte,h eren 
eine auf. das Wählen und. Vorziehen, deren andere. auf das 
Können. und Handeln geht, fo. leuchtet ein, daß die gemühn- 
liche. Frage nach der .Willensfreiheit entweder. ins Leere oder 
ins Ungereimte fällt; fie ift entweder tautologifch oder abſurd. 
Sofern. heibe_ Kräfte find, .. ift jene. Trage. .gleichhebeutend mit 
ber: ob die Kraft Kraft, hie Freiheit frei, der Reihthum. reich 
itt? Sofern beibe. verfchiedene Kräfte find (denn ein. anderes 
ift Wählen, ein anderes Können), ift jene Frage. fo ungereimt, 
als. ob man fragen. wollte: .ob die Ruhe bewegt, der Schlaf 
fchnell, die Tugend vieredig iſt?***) 

Die Freiheit ift Feine Eigenfehaft des Wollens, sondern 
ein Zuftand des Wefens, der menjhlichen Natur, der beftimm- 
ten menfchlichen Individuen in Abficht auf gewiſſe Handlungen. 
Sofern nun das Wollen unter die menfchlichen Thätigkeiten 
gehört, kann gefragt werden, ab die Willensthätigleit in das 
Gebiet unferer Freiheit d. H. derjenigen Handlungen fällt, die 
wir ebenſo gut thun als unterlaffen können? Erſt jet wird 
bie. Frage nach der Willensfreiheit fo geftelft,. daß eine Antwort 








*) Ess. II, ch. 21, 8.10: „Our idea of liberty reaches as far 
as that power and no farther.‘“ 
**) Ess, II, ch. 21, 8. 21. 
***) Ess. II, ch. 21, $. 16 und 14. 
Fiſcher, Bacon. 37 


% 


578 


möglich iſt. Sie lautet: können wir ebenfo gut wollen ale 
nicht wollen? Diefe Handlung wird gewollt d. 5. gewählt, 
jeder anderen vorgezogen, darum geſchieht fie, fie gefchieht alſo 
notäwendig und kann nicht ebenjo gut unterlaffen werben; fie 
mußte gefchehen, fie konnte nur dadurch gefchehen, daß fie ge- 
wollt wurde, daher konnte diefer Willensact nicht ebenfo gut 
unterbleiben. Die Trage nad der Willensfreiheit im obigen 
Sinn ift zu verneinen, nämlich die Stage nach der Freiheit 
des MWollens, fofern es im Wählen der Handlungen befteht. 
Und worin follte biefe Freiheit fonft noch beftehen? Etwa 
darin, daß ich mich wählend verhalte nicht zu der Handlung, 
fondern zu der Wahl, zum Willensact felbft, daß das Wollen 
zum Gegenftand des Wollens gemacht wird? ‘Dann braucden 
wir einen Willen, um den Willensact zu beftimmen, der felbit 
die Wahl oder den Willensact beſtimmt, aus bem die Hand⸗ 
fung hervorgeht. Diefer Proceß fett fi ins Endloſe fort 
und kommt, wie man fieht, vor lauter Wollen nicht zum Wil⸗ 
len. Bedeutet der Wille das Wählen der Handlungen, jo 
muß bie Frage nad der Willensfreiheit verneint werden; be 
deutet er bas Wählen des Wollens, jo giebt es gar feinen 
Willen, er Löft fih in Nichts auf und ebenfo die Frage nad) 
feiner Freiheit.*) 

Unfer Wille ift beftimmt, unfer Wollen motivirt. Wir 
wählen diejenige Handlung, die uns befriedigt, die unfer Be 
dürfniß ftillt, den Mangel aufhebt, den wir [hmerzlich empfin- 
den, der uns quält und peinigt; die Befreiung von dem pein- 


*) Ess. II, ch. 21, 8. 23—25: „A question, which, I think, 
needs no answer, and they who can make a question of it, must 
suppose one will to determine the acts of another and another to 
determine that and so on in infinitum.“ 





579 


fichften Mangel gewährt die größte Befriedigung, die wir am 
lebhafteften begehren und darum jeder anderen vorziehen: das 
ift die Handlung, die wir wollen. Daher ift der empfundene 
Mangel, der peinliche, unbehagliche, unbefriedigte Lebenszuftand, 
das Gefühl, welches Lode mit dem Worte „uneasiness” be- 
zeichnet, das durchgängige Motiv unferes Wollens, Wählens, 
Handelns. Durd die Natur und Art diefer Empfindung find 
die Objecte beftimmt, die wir begehren, und damit unfere 
Willensrichtung. Die größten Güter reizen und bewegen ung 
niht, wenn der Mangel derfelben uns nicht drüdt, diefer 
Mangel muß uns quälen, wie Hunger und Durſt, bevor wir 
fie ernfthaft begehren und wollen. Erjt wenn die Armuth uns 
ſchmerzt, begehren wir den Reichthum; erſt wenn das Armfein 
als größtes Elend empfunden wird, jagen wir dem Reichthum 
nad) als dem größten Gut. Solange der Mangel irdiſcher 
Güter unfer Unglüd ausmaht und deren Beſitz unfer höchftes 
Glück, mögen uns die Freuden des Himmels nod jo Herrlich) 
und deren Schilderung noch fo erbaulich erjcheinen, fie locken 
uns nicht und Lafjen den Willen unergriffen und unberührt. 
Wer nicht nah Reichthum Hungert und bürftet, ftrebt nicht 
nah Reichthum; wer nicht nad) Gerechtigkeit hungert und 
bürftet, ftrebt nicht nach Gerechtigkeit. Ob es zeitliche oder 
ewige Güter, ob e8 die kleinſten oder erhabenften find, begehrt 
und ergriffen werben fie nur, wenn uns ihr Mangel elend 
mad. *) 

Nun aber ift das Wählen zugleich ein Prüfen, welches 
die Folgen der Handlungen abwägt, bie Werthe ber Güter 
unterfcheidet, da8 Dauernde dem Vergänglichen, das Entfernte 


*) Esa. II, ch. 21, 8. 28—48. 
37* 


580 


dem. Nahen vorzieht,. das Beſſere einleuchtend macht, dadurch 
die Beweggründe. Läutert,. nicht. das. Gefühl. des Mangels. auf- 
hebt,..aber. bewirkt, daß uns. der Mangel geiftiger.. Güter und 
Befriedigungen peinlicher drückt als. bie tägliche Tleine Zebens- 
noth;: Urtheil und. Einficht ändern. .die Richtung. unferer Be 
gierben, hemmen die Teidenfchaftlihe und blinde Jagd . nad) 
ben nächſten und. gewöhnlichen Lebensgütern, _verhüten...die 
noreilige.. Wahl, . brechen die Gemalt der Leidenſchaften, fie 
macheu. den Willen einfichtsvoll, vorherfehend, vernünftig. und 
dadurch frei. Jede voreilige Wahl iſt Schuld, weil ſie ver—⸗ 
hütet werden kann, jede blinde Begierde Knechtſchaft, weil ſie 
beherrſcht werden kann. Der Wille iſt in der Wahl der 
Handlungen immer durch Beweggründe beſtimmt; er iſt frei, 
wenn diefe Beweggründe erleuchtet find durch die Einſicht des 
Beſſeren. „Wenn das. Unfreiheit iſt“, fagt Locke und eben- 
baffelbe Hat Leibniz gefagt, „fo ſind nur die Narren frei.” 
Unfere Handlungen folgen unſerer Wahl, diefe unferen mäch— 
tigften Begierden, e8 kommt alles darauf. an, ob.die Begierden 
der Einfiht folgen oder nicht, ob die vernünftigen Begierden 
mächtiger find als die vernunftlofen. „Wenn Ihnen .das 
Trinken lieber ift als das Sehen“, fagte. ein Arzt zu einem 
Augenkranken, „fo ift Wein für Sie das Beſte, im andern 
Fall ift er das Schlimmite.”*) 

4. Die einfachen BVorftellungen und. deren einfache Mobi 
geben unfere Originalvorftellungen (original ideas), als welche 
Locke folgende acht bezeichnet: im Gebiet der Senfation Aus— 
dehnung (extension), Solidität, Bewegbarfeit (mobility), im 
Gebiet der Neflerion die Kraft des Vorftellens und Handelns 


*) Ess. II, ch. 21, 8. 46— 71. Insbef. 8. 48— 54. 


581 


(perceptivity unb motivity), in beiden Gebieten Eriftenz, 
Dauer, Zahl. *) 

5. Durch die Verbindung verfchiedenartiger einfacher Vor⸗ 
ftellungen entftehen die fog. gemifchten Modi, deren Thema bie 
Grundeigenjhaften oder Thätigleiten (Denken und Bewegung) 
in den mannichfaltigften Meodificationen find. So ift z. B 
das Sprechen eine Thätigkeit, Die aus Denten und Bewegung 
befteht, Furcht und deren Gegentheil find Affecte, furchtlofes 
Sprechen oder Freimüthigfeit ein gemifchter Mobus, in wel- 
hem verjchiedene Vorjtellungen in einen Begriff zufammen- 
gefaßt find. Alle Thätigkeitsbegriffe find Beiſpiele ſolcher ge⸗ 
miſchten Mobi.**) 


2. Die Subſtanzen. 


In den Modi wird ein Inbegriff von Eigenſchaften vor⸗ 
geſtellt. Eigenſchaften beſtehen nicht für ſich, ſondern in einem 
Andern, dem fie zukommen, das fie trägt; fie find nicht „sine 
re substante”, fie bedürfen und fordern daher zu ihrer Er- 
gänzung den Begriff ber Subftanz, den ber Verftand aus den 
Eigenſchaften zufammenjegt, deren Verbindung oder Compler 
er wahrnimmt. Er macht daraus ein Ganzes, ein für fi 
beftehenbes, einzelnes Ding, wie Körper, Pflanze, Thier u. |. f.,. 
ein Inbegriff ſolcher Einzeldinge bildet die collective Vorſtel⸗ 
lung von Sammeldingen (collective ideas), wie Wald, Heerde, 
Welt u. f. f.***) 

Aus den Eigenfhaften, die wir vermöge der Senfation 
vorftellen, bilden wir den Begriff einer körperlichen Sub» 





*) Ess. II, ch. 21, 8. 73. 
**) Ess. II, ch. 22. 
***) Esg. IL, ch. 24. 





582 


ftanz, ans denen, bie wir in uns wahrnehmen umd aus der 
körperlichen Natur nicht ableiten können, den einer geiftigen 
Subitanz, endblih aus den Vorftellungen der Kraft und Dauer, 
des DVerftandes und Willens, indem wir fie ins Unendliche 
fteigern ober mit der Vorftellung der Unendlichkeit verbinden, 
den Begriff Gotte®. 

Nun reiht unfere Erkenntniß nur fo weit als unfere 
Borftellungen, deren unüberfteigliche Grenze die elementaren 
Wahrnehmungen find. Wahrnehmbar find nur Wirkungen, 
Kraftäußerungen, Eigenfchaften; die Dinge felbjt im Unter⸗ 
ſchiede von den Eigenſchaften find mithin nicht wahrnehmbar, 
nicht vorftellbar, nicht erfennbar. Die Subftanz ift daher ein 
Begriff ohne DVorftellung, eine Verftandesdichtung, bie ein 
unbelanntes und unerlennbares Etwas bezeichnet, das nicht 
befannter wird, ob wir es Körper oder Geiſt nennen. Was 
den geiftigen T’hätigleiten, den Erſcheinungen in uns, zu Grunde 
liegt, ift ebenfo bdunfel und darum ebenfo Mar als das Wefen 
des Körpers; es ift eine Täufchung zu meinen, baß bie körper⸗ 
liche Wirkungsweije einleuchtender fei als bie geiftige, daß die 
Bewegung duch ben Stoß begreifliher fei als durch ben 
Willen.*) 

Die Subitanz oder das Wefen der Dinge kennen wir nicht, 
weber der Geifter, noch der Körper, noch Gottes; es giebt 
feine Metaphyſik weder als Piychologie, noch als Kosmologie, 
noch als Theologie: Hier ift der Berührungspunkt zwifchen 
Tode und Kant, die Differenz zwifchen Locke und Bacon, ber 
die Metaphyſik in Rückſicht auf die Zwecke Hatte gelten lafjen 
und als Erforſchung der phyſikaliſchen Grundkräfte der Er- 


*) Ess. II, ch. 28, 8. 1—37. 


583 


fahrungsphilofophie zum Ziel gefeßt Hatte.*) Man ſieht deut- 
lich, wie auf dem Wege von Bacon zu Kant Locke einen noth- 
wenbigen Durchgangspunkt bildet. Die fenfualiftifch gerichtete 
Erfahrungsphilofophie ist ſchon Fritifch geſtimmt. 


3. Die Relationen. 

Unter den zahllofen Beziehungen, welche die mannichfel> 
tige Natur und Entftehungsweife der Vorftellungen mit ih 
bringt, Hat Locke befonders hingewieſen auf die Verknüpfung, 
wodurd wir den nothwendigen Zufammenhang ber Erſchei⸗ 
nungen vorjtellen, und auf die Vergleichung, welche die lieber: 
einfttimmung ober Nichtübereinftimmung derjelben erhellt. Ver: 
gleichen wir das Object mit fich felbft, jo giebt Die Ueberein⸗ 
ſtimmung (des Dinges mit fi) die Vorftellung der Identität; 
vergleichen wir die Objecte untereinander, fe eröffnen fich 
zahlloſe Vergleichungspunkte und Beziehungen. Hier Hat Locke 
eine Vergleihung hauptfächlig hervorgehoben: die ber menfdh- 
tihen Handlungen mit ihren Regeln, db. 5. diejenige Ueberein⸗ 
ftimmung oder NRichtübereinftimmung, die in der Borftellung 
der Geſetzmüßigkeit oder Geſetzwidrigkeit unferer Handlungen 
befteht. Die Identität bes menschlichen Bewußtſeins giebt den 
Degriff der Perfönlichleit oder bes Ich, die Uebereinftimmung 
der menſchlichen Handlungen mit ihren Regeln giebt den Be- 
griff der Moralität im weiteften Sinn. 

Das find die drei von Locke näher betrachteten Fülle der 
Relation: die Borjtellungen der Cauſalität, Identität 
(Berfönlicleit), Moralität. 

Er felbft nennt die Caufalität die umfaflendfte Beziehung, 


*) ©. oben Bud) II, Cap. II, ©. 180. 


584 


worin alfe wirklichen und möglichen Dinge begriffen find.*) 
Jede einfache Vorftellung und deren Veränderung erfcheint 
unmittelbar als eine Wirkung, die auf eine Urſache Hinweift; 
darum ift die Idee der Caufalität durch die einfachen Vor⸗ 
ftellungen bedingt und von diefen unabtrennbar. Daß Urſachen 
wirken, tft einleuchtend; wie fie wirken, ift bunfel.**) Bon 
dem Begriff der. Caufalität gilt nad) LXode, was von dem der 
Subſtanz nidt gilt: daß ihn die einfachen Vorftellungen ent- 
halten. Denn die Eigenfchaften find als ſolche nicht Subftan- 
zen, wohl aber Wirkungen. 

Jedes Object ift von allen übrigen zu unterfcheiden, es 
ift im Unterfchiede davon diefes ‘Ding, dieſes einzelne imdi- 
viduelle, denn alle Objecte find in Raum unb Zeit, es ift aber 
unmöglid, daß in demfelben Ort zwei verjchiedene Objecte in 
demfelben Zeitpunft find: daher find Raum und Zeit das 
„principium individuationis”.***) Das Individuum entfteht, 
vergeht, verändert fi, es bleibt in der Veränderung biejes 
von allen anderen verfchiedene, fich ſelbſt gleiche Individuum, 
es erhält- den Charakter feiner Identität. Was macht mitten 
in der Veränderung des Körpers, des lebendigen Körpers, der 
Pflanze, des Thieres, des Menſchen bie Identität jedes biefer 
Objecte? Locke durchläuft diefe Fragen und unterfucht befon- 
ders die leßte, die den Menfchen betrifft. Der Menſch ift 
vermöge bes Selbftbewußtfeins perfönlih, und die Identität 
der Perfon ijt bedingt dur die Einheit und Kontinuität des 
Bewußtfeins. Aber aus der Identität des Ich folgt Teines- 
wegs die Identität oder Einheit (Einfachheit) der Seele ale 


*) Ess. II, ch. 25, 8. 
**) Ess. II, ch. 26, 8. 
***) Ess, II, ch._27, 8. 


11. 
2. 
8. 


= 





585 


einer Subftanz; das Ich ift Fein Erfenntnißgrund der pſychi⸗ 
hen Subftanz. Die rationale Piychologie gründet fich auf 
den Sat, daß die Perſon Subjtanz fei; die Widerlegung die- 
ſes Satzes zeritört die Grundlage ber metaphyſiſchen Seelen- 
lehre und macht fie hinfällig, Wir bemerken, wie weit in 
diefem wichtigen Punkte Locke der kantiſchen Vernunftkritik 
vorgearbeitet hat. Die Perfon ift Einheit des Bewußtſeins, 
welches letztere nicht das Wefen betrifft, jondern blos die Vor⸗ 
ſtellungen. Es wäre denkbar, daß die Vorftellungen verſchie⸗ 
dener Subftanzen in der EContinuität eines Bewußtſeins zus 
fammengehalten werden, dann bilden dieje verjchiedenen Sub- 
ftanzen eine Perſon; ebenfo ift es denkbar, daR ein und 
daſſelbe Weſen in verfchiedenen, durch kein Band der Erinne- 
rung verknüpften, durch keine Continuität der Vorftellungen 
vereinigten Stadien des Bewußtfeins erſcheint, dann bildet 
eine Subftanz mehrere Perfonen, wie e8 in der Lehre von der 
Präeriftenz der Seele und der Seelenwanderung wirklich der 
Tall ift. Wenn jener englifche Bürgermeifter, den Locke Tannte, 
wirklich, wie ex ſich einbildete, Sofrates war, jo wären So— 
frates und der Mayor von Dueenborough ein und daſſelbe 
Weſen, aber Teineswegs eine Berjon.*) 

Es giebt drei Gefeße, welde die menschlichen Handlungen 
reguliren: das göttliche, bürgerliche und fittliche (im Sinn der 
Sitte oder Öffentlichen Meinung). In Vergleihung mit dieſen 
Regeln find die menſchlichen Handlungen entweder geſetzmäßig 
ober gefeßwidrig, gut oder fchlecht; in Nüdficht auf das erfte 
Gefeß ‚ find die fchlechten Handlungen fündhaft, in Rückſicht 
auf das zweite verbrederiih, in Rüdfiht auf das dritte 


*) Ess. II, ch. 27, 8. 1—6; 8. 6—29. Bei. 8.1417; 8. 28. 


586 


tadelnswerth oder fchändlich, die Vergleihung mit dem, was 
in der öffentlihen Schägung für gut oder ſchlecht gilt, giebt 
den Begriff bes Löblichen und feines Gegentheils, Täßt die 
Handlungen als würdig der Billigung oder Meisbilligung, 
als achtungswerth oder verächtlih, als fittlich oder unſittlich 
erfcheinen und macht fo den Begriff der Moralität tm engeren 
Sinn aus. Die moralifhen Beſchaffenheiten find daher Re⸗ 
lationsbegriffe, zuſammengeſetzt aus einfachen Vorftellungen, 
denn fie vergleichen Handlungen, deren Begriff unter die ge- 
mifchten Modi gehört, mit den Ideen des Guten und Boſen, 
die unter die einfachen Modi zählen. Gut und Uebel find Die 
Urfahen unserer Luſt und Unluft. Eine Handlung ift geſetz⸗ 
mäßig oder gut, wenn fie kraft des Geſetzes unfern Zuftand 
verbeffert, angenehme Empfindungen verurfacht d. h. belohnt 
wird; fie ift gefeßwidrig oder fchlecht, wenn fie kraft des Ge⸗ 
ſetzes unſern Zuftand verfchlimmert, unangenehme Empfindun⸗ 
gen verurfacht d. H. beftraft wird. Da ums die Gejekwibrig- 
feit einer Handlung ale ein Uebel oder etwas Böſes nur 
einleuchten Tann, fofern fie ftrafwürdig ift, fo folgt, daß jedes 
Gefeß mit der Vorftellung von Lohn und Strafe verbunden 
fein muß. Nur dadurd können Gefeke Motive werden, daf 
meine Handlungsweife mein Anfehen und meine Adtung in 
den Augen der Welt d. h. meinen öffentlihen Werth erhöht 
oder vermindert, diefe Vorjtellung iſt eines der ftärkften und 
wirkſamſten Motive des menfchlihen Willens. In fo vielen 
Fällen wollen wir uns der Strafe des göttlichen und bürger- 
lihen Geſetzes Tieber ansjegen, als der öffentlihen Verun⸗ 
glimpfung; mag 3. B. der Zweilampf als gottlos und ver- 
brecherifch gelten, folange bie öffentliche Meinung oder bie 
Standesfitte denfelben als eine tapfere und ehrenhafte That 








587 


anfieht, wird man fortfahren fih um der Ehre willen zu 
duelliren.*) 


Ich faffe zum Abſchluß diefes Kapitels die Lehre von den zufammen- 
geſetzten Vorftellungen in folgendes Schema zufammen: 





. Einfache Borftelfungen 
zuſammengeſetzte 
Modi Subkkanzen Relationen 

Ein ist Sei Eaufali- infti 

R Bin n- ade Oi air der au fe is | Webereinflimmung 
and, Mauer eito⸗ ä 

Ort, Kagenblid begrifie ee Zangee 

— vch Moralis- 
zmeblih eit tät. 
Jap . 
Unenblichleit 


Kraft 
thätige Kraft 
Wille, Freiheit 


*) Ess. II, ch. 28, 8. 3— 15. 





Sechsles Kapitel. 
C. Werth und Gebraud der Borftellungen num Worte. 





L 
Die Geltung der Vorfellungen. 
1. Klarheit. 


Zum erften mal hat Lode den durch den Empirismus 
geforderten Verſuch gemacht, durch eine Analyfe der Wahr- 
nehmung als der Duelle aller Erfahrung das Alphabet der 
menfchlichen Vorftellungen darzuthun, die Elementarvorftellun- 
gen und die Hauptarten ihrer Verbindung. Erft nachdem 
diefer Einblick gewonnen tft, läßt fich die Yrage nach dem 
Umfange und der Art der menfchlihen Erkenntniß ftellen. 
Nicht unmittelbar. Jede Wahrheit fordert 1) Uebereinftimmung 
der Menſchen in ihren Vorjtellungen, einen Vorftellungsper- 
ehr, einen Ideenaustauſch, der nur möglich ift durch die Zei- 
chen der Sprache, 2) Uebereinftimmung der Vorftellungen mit 
ihren Objecten, fonft haben die Vorftellungen keinen Erfennt- 
nißwerth. Die beiden ſchon vielfach berührten Vorfragen be- 
treffen daher die Geltung der Vorftellungen und die ber 
Worte. 





589 


. „Damit die Vorftellungen zur Erkenntniß gebraucht. werden 
können, find. zwei Bedingungen nöthig: Klarheit und Ob- 
jectipität... 

Zur. fihern Ausprägung der Borfteffung gehört glarheit 
(im engern Sinn), Deutlichkeit, Beſtimmtheit. Die. Vorſtel⸗ 
lung iſt klar, wenn fie wirklich percipirt und nicht ‚gehindert 
wird durch einen zu ſchwachen Eindruck oder eine zu geringe 
Ewpfünglichkeit, fie iſt deutlich, wenn fie von jedem andern 
Dbjert. unterſchieden werben kann, ſie iſt beftimmt, wenn alle 
in. ihr..enthaltenen oder zu ihr erforderlichen Merkmale. voll- 
ftändig.. vorhanden und mwohlgeordnet- find.. Das Gegentheil 
der Haren PVorftellung ift die dunkle, das der deutlichen und 
beftimanten. ift. die. verworrene... Wenn wir vom Leoparden nur 
fo. viele. Merkmale Mar. vorftellen, als. ee mit dem -Panther 
gewein bat, fo. können wir ‚den ‚Leoparden. vom Panther nicht 
unterſcheiden, unfere Borftellung tft undeutlih, ‚weil ſie nicht 
bollftändig ift; wenn wir vom Taufended zwar die Zahl, aber 
nicht. die. Figur. deutlich vorſtellen, ſo tft die Vorſtelung theils 
klax, theils verworren.*) 


2.Obijiettivität. 
Realitat, Angemefjenheit, Richtigkeit. 


Zur. Objectivität der Vorſtellung gehört: 1) daß -über- 
Haupt etwas. Wirfliches. vorgeftellt, 2) daß. diefes- wirkliche 
Object ‚nicht. defect .oder mangelhaft, fondern vollftändig und 
angemeflen ‚vorgeftellt wird, 3) daß die Vorftellung ihrem 
Driginale (dem Dinge, worauf ſie ſich bezieht) entjpricht und 
mit dbemfelben übereinftimmt. Die erſte Bedingung giebt den 


*) Ess. II, ch. 29. 


5% 


Charakter der Realität, die zweite den ber Angemefjenheit, bie 
dritte den der Wahrheit oder Richtigkeit; in der eriten Rüd- 
ficht unterfcheiden fi) die Vorftellungen als wirklide und 
himärifche (real and fantastical), in der zweiten als ad- 
äquate und inadäquate (adequate and inadequate), in ber 
dritten als wahre und faljche (true and false) oder beffer 
gejagt als richtige oder unrichtige (right or wrong). Diefe 
legte Unterfcheidung weist fchon auf das Gebiet der Erkenntniß, 
denn Wahrheit und Irrthum find nicht in den Vorftellungen, 
fondern in den Urtheilen enthalten, die Vorftellungen find 
nicht als foldhe wahr oder falſch, fondern als Prädicate der 
Dinge. *) | 

Aber das Wichtige ift, daR die obigen Unterfchetdungen 
nicht blos gemacht, fondern auf unjere Vorftellungsarten an- 
gewendet und deren Charakter und Geltung unter den bezeich⸗ 
neten Gefihtspunften geprüft werben. Wie verhält es fich mit 
der Realität, Angemefjenheit, Wahrheit oder Richtigkeit, mit 
einem Wost mit der Objectivität unferer einfachen und zuſam⸗ 
mengeſetzten Vorftellungen, der Modi, Subftanzen und Rela- 
tionen? 

Was die einfachen Vorftellungen und deren einfache Mobi 
betrifft, jo beantwortet ſich die Trage Leicht, fie ift dadurch be 
antwortet, daß jene bereits als ‚„Driginalvorftellungen‘ erkannt 
find. Die Elementarvorftellungen find als Wabrnehmungs- 
objecte unmittelbar einleuchtend, fie find Kar, reell, adäquat, 
und eine Täuſchung ift nicht möglih, fobald man den Unter 
fchied der primären und fecundären Qualitäten wohl beachtet.**) 

Die gemifchten Modi und Relationen find das Werk des 


— — 





*) Ess. II, ch. 30-32. **) Ess. II, ch. 30, 8. 2; ch. 31, 8.2. 














591 


menſchlichen Verftandes, in diefer Bildung befteht ihre Realität, 
fie find Bilder ohne Vorbilder, alſo Originale oder Urbilber 
(archetypes), die nur ſich ſelbſt vorftelfen und darum reelf 
und adäquat, Har und gültig find, fobald die Eigenfchaften, 
aus denen fie zuſammengeſetzt werden, ſich miteinander ver- 
tragen. Wie das Dreied, das wir aus räumlichen Elementen 
conftruiren, fo find die Begriffe des Muthes, der Gerechtig⸗ 
feit u. ſ. f, die wir aus gegebenen Elementarvorſtellungen 
zufammendenften, Originale in uns, und es kann in dieſem 
Fall nicht gefragt werden, ob dieſe Vorftellungen mit irgend- 
welchen Dingen übereinftimmen, fondern ob der Eine bdiefelbe 
Vorftellung 3. B. von der Geredhtigkeit hat als der Andere, 
ob mein Begriff dem Originale entipricht, das ich Im Andern 
vorausjege?*) 

Anders verhält es fih mit dem Begriff der Subftanz, 
durch den ein Ding entweder ald Träger oder als Inbegriff 
zufammenbeftehender Eigenfchaften vorgeftellt werden foll. In 
beiden Fällen ift die Subftanz ein Abbild ohne Vorbild, denn 
als das, was den Eigenfchaften zu Grunde liegt, ift das ‘Ding 
gänzlich unbelannt und als Totalität fämmtlicher Eigenschaften 
nie völlig bekannt, daber die Subitanz entweder als ein Be⸗ 
griff ohne Vorftellung ober als eine unvollftändige und man- 
gelhafte Vorftellung eine durchaus inadäquate Idee ift. Ber: 
binden wir aber in der Vorftellung eines Dinges Eigenfchaften, 
die in der Wirklichkeit fich nie beifammen finden, fo ift der 
Begriff der Subftanz chimäriſch, wie 3. B. die Vorftellung 
eines Centauren. **) 


— — 





*) Ess. II, ch. 30, 8. 4; ch. 31, 8. 3. 5. 14. 
**) Ess. II, ch. 31, $. 6. 8. 13; ch. 32, $. 18. 





592 


| 3. Afeciation., . 


6“ giebt in unferer Borftellungewelt natürliche Berwandt- 
ſchaften „.vermöge deren fish. gewiſſe Vorſtellungen leicht und 
unmillfitrlich.. zueinander gefellen.. Dieſe Verbindungsart ift 
die „Affociation”.. Nun. trifft. e8 fi. bei ‘jedem. Menſchen, 
daß ‚unter dem Einfluß der. Affecte,_ Gewohnheiten und Schick⸗ 
fole mancherlei höchſt ſeltſame umd.naturwidrige Vorftellung& 
verwandtfchaften gefchloffen werben, die ſo hartnäckig zuſammen⸗ 
hängen, daß Vernunft und Urtheil nichts dagegen vermögen. 
Jedes Individuum, fagt Locke, hat feine Narrheiten, er meint 
die fogenannten Idioſynkrafien, die .in zufällig veranlaßten, 
allmälig .befetigten, unüberwindlich gewordenen Affociationen 
gewiffer Vorftellungen ihren Grund haben follen.*), .. ..-.. 

II. 
u Die Geltung der Worte. 
1. Die rritiſche Frage. 

Die Mittheilung unferer Vorſtellungen gefchieht ‚durch die 
Sprache, fie fordert die Erfindung vernehmbarer ‚und verftänd- 
licher Zeichen (articulirter Laute), ohne welche ein Vorftellungs- 
verfehr nicht. oder nur in beſchränkteſtem Maße ftattfinden 
fönnte, Die Worte find unmittelbare Zeichen der Vorſtellun⸗ 
gen, nicht der ‘Dinge, fonft müßten befannte Worte auch be- 
fanııte Dinge, Wortkenntniß auch Sachkenntniß fein, Seder- 


mann erfennt leicht das Gegentheil. Die Worte - für. Zeichen 
der Dinge zu halten ift daher einer unferer Grundirrthümer, 


*) Ess. II, ch. 33. 








593 


eine der fchlimmften, der Erfenntniß und ihrem Fortſchritt 
ſchädlichſten Selbfttäufchungen. Sie find, genau zu reden, die 
Zeichen, womit der Sprechende feine Vorftellungen ausdrückt. 
Und da wir die Sprache als eine bereits erfundene und fort- 
gepflanzte empfangen, diejelbe nicht erft machen, fondern in 
fie Hineingeboren werben, fo lernen wir viele Worte früher 
fennen, al8 die Vorftellungen, die fie bezeichnen. Daher find 
befannte Worte nicht auch bekannte Vorftellungen.*) So un⸗ 
entbehrlich der Gebrauch der Worte zur Aufbewahrung, Mit- 
theilung, Erweiterung unferer Borftellungen ift**), fo leicht, 
vielfältig, ja unvermeidlich erjcheint deren misbräuchliche An- 
wendung; um fo nothwendiger ift die Sichtung, die den vidh- 
tigen vom falfchen Wortgebrauch unterfcheidet und Geltung und 
Werth der Worte aufflärt, die auf dem geiftigen Markte fo 
viel bedeuten als das Geld im Handel. Jede herkömmliche 
und falfche Geltung gehört zu den „idola fori“, die fchon 
Bacon erleuchtet hatte. Auch hier finden wir Locke in völliger 
Uebereinftimmung mit Bacon, 

Die Bebeutung der Worte find die Vorftellungen, ihr 
Zweck ift die Verftändlichkeit. Die erite Bedingung alles 
gegenfeitigen Verſtehens ift daher, daß man klar und einver- 
Itanden ift über die Bedeutung der Zeichen; fonft ftreitet man 
ins Endloje mit Worten, bei denen fich jeder etwas anderes 
dent. Diefe Erfahrung Hatte Tode an feinen Freunden in 
Drford wiederholt gemacht und daraus den Anlaß zu einer 
Unterfuhung geſchöpft, die ihn bis auf den Urfprung der Vor- 
ftellungen zurückführte. Schon die Thatſache, daß die Worte 
jo viele Uneinigkeit nicht blos möglih machen, fondern ver- 


*) Ess. III, ch. 5, $. 15. **) Ess. II, ch. 9, 8. 1. 
Fißcher, Bacon. 38 


594 


urfachen, beweift, welchen Antheil die Willkür an ihrer Erfin- 
dung und Geltung hat. 

Worte bedeuten Vorftellungen und bedürfen daher der 
Erklärung oder Definition. Einfache Vorftellungen oder Sin: 
nesempfindungen laſſen fich nicht definiven, es können mır 
folhe Worte erklärt werden, die zuſammengeſetzte Vorftellungen 
oder Begriffe bezeichnen. Nun war die Mittheilbarkeit der 
Borftellungen bedingt durch deren Verallgemeinerung vermöge 
der Abftraction; es find daher die allgemeinen Begriffe (ab- 
stract ideas), die durch erffärbare Worte bezeichnet werden.*) 
Demnach ift die kritifche Frage: was gelten die Worte als 
Zeichen der Gattungen und Arten? Die Bildung folder 
abftracter Vorftellungen und ihrer Wortzeichen iſt nach Lode 
„ein Runftgriff des Verftandes (an artifice of understanding)“, 
wodurch die Meittheilung außerordentlich erleichtert und die 
Dbjecte dergeftalt zufammengefaßt werden, daß wir fie wie im 
Compendium betrachten und von ihnen fprechen können „ale 
wären fie in Bündeln (as it were in bundles”**), 


2. Neal: und Nominalweien. 


Die Frage nad) der Geltung der Worte, fofern fie Be 
griffe (Gattungen und Arten) bezeichnen, betrifft den fachlichen 
Werth derfelben und muß deshalb aus dem Werth der Be 
griffe beurtheilt werden, fofern diefe die Natur oder das Weſen 
der Objecte ausdrüden. Wir verftehen aber unter dem Weſen 
der Objecte (essence) den Inbegriff und Grund ihrer Eigen- 
haften, d. i. diejenige Verfaffung, aus der die Eigenfchaften 


*) Ess. III, ch. 4, 8. 7—11; ch. 3, 8. 9—12. 
**) Ess. III, ch. 3, 8. 20; ch. 5, 8. 9. 








595 


folgen. ft das Object ein von unferer Vorftellung unab- 
hängiges Ding, ein Werk und eine Bildung der Natur, fo ift 
fein Wejen „real“; ift e8 dagegen blos unjere Vorftellung, 
ein Werk und eine Bildung des Verſtandes, jo ift fein Wefen 
im Begriff vollftändig befaßt, im Wort volllommen bezeichnet, 
daher „nominal“ (real essence und nominal essence). 
Wenn e8 einen Begriff gäbe, der dem Realwefen der Dinge 
auf den Grund fchen und dafjelbe vorftellen könnte, wie es 
ift, jo würde diefer Begriff und fein Zeichen völlig reale Gel- 
tung haben. Einen folchen Begriff giebt e8 nicht. Wenn es 
aber einen Begriff giebt, der diefe Rolle fpielen möchte, der 
das verborgene Realweſen der ‘Dinge vorzujtellen beanfprucht, 
jo hat ein folcher Begriff gar Feine reale, fondern blos nomi- 
nale Geltung. So verhält es fich mit dem Begriff und Wort 
der Subftanz, das mithin ein bloßes Nominalwefen bezeichnet. 

Die Natur bildet ihre Dbjecte auf eine von unferer Vor- 
ftellung unabhängige und uns verborgene Weiſe; darum fällt 
bier das Realweſen mit dem Begriff davon nicht zuſammen, 
der lebtere ift mithin blos nominal. Unfer Verftand bildet 
auch Objecte, indem er fie vorſtellt auf eine willkürliche und 
ihm erkennbare Weife, bei diefen Verftandesdingen fällt daher 
das Wefen mit dem Begriff, das Realweſen mit dem Nomi—⸗ 
nalmwejen zufammen; diefe Begriffe und ihre Zeichen haben 
zugleich reale und nominale Geltung: fo verhält es fi) mit 
den Modi und Relationen. Wir machen die mathematischen 
und moralifhen Vorftellungen, fie find, was fie find, und 
nichts weiter; in der Vorftellung des Dreiecks, wie in der des 
Muthes, der Dankbarkeit, der Gerechtigkeit u. |. f. füllt das 
Wefen mit dem Begriff vollftändig zufammen, und wo es 
nicht gefchieht, läßt fih) der Begriff berichtigen und ausbilden. 

38 *+ 


596 - 


Gewöhnlich Ternen wir hier das Wort früher Tennen als die 
Borftellung, die nachträglich entwidelt wird, *) 


3. Gattungen und Arten als Nominalweien. 


Die kritiſche Wortſchätzung unterfcheidet daher genau, um- 
ter welche Begriffsclaffe die Gattungen und Arten gehören, 
deren Zeichen die Worte find: ob fie Modi und Relationen 
voritellen oder Subftanzen. Im legtern Falle ift es keines⸗ 
wegs die Natur, welche Gattungen und Arten vorbildet, fon- 
dern es ift Tediglich der Verftand, der diefe Begriffe willtür- 
(ih bildet und fälſchlich für Abbilder oder Nachbilder Hält. 
Die Natur macht die Achnlichkeit der Dinge**), die dem Ber- 
ftande einleuchtet und ihn bewegt, Arten zu machen, deren 
logiſche Ordnung er für die Ordnung der Natur hält. Der 
fogifhe Begriff der Gattung und Art giebt fi für einen 
Inbegriff wefentliher Merkmale, aber in der Natur giebt es 
feine allgemeinen Dinge, fondern nur einzelne, in den einzelnen 
Dingen giebt e8 feinen Unterfchied wejentlicher und unmwefent- 
licher Merkmale, fie find, was fie find; alles was zu ihrem 
Beitande gehört, ift weſentlich.“**) So gut wir uns Arien 
vorſtellen können ohne alle Wahrnehmung, z. B. Geiſter 
höherer Ordnung (deren Daſein nach Locke höchſt wahrſchein⸗ 
lich iſt), ſo wenig iſt der Artbegriff überhaupt auf irgend⸗ 
welche Wahrnehmung gegründet.) Er iſt, wie die Subſtanz 
jelbit, ein Begriff ohne Vorftellung. Der Verſtand ift art- 
bildend, nicht die wahrnehmbare Natur. Wenn die Natur 


*) Ess. III, ch. 3, 8. 14—18; ch. 5, 8. 10—15. 
**) Ess, III, ch. 6, 8, 86. ***) Ess. III, ch. 6, 8. 4. 
+) Ess. III, ch. 6, $. 11 und 12. 


597 


Arten bildete, fo müßte fie nad) Begriffen und Zweden ver- 
fahren, was eine grobe Weife ift, die Natur zu anthropomor- 
phifiren, fo dürfte fie dieſe Zwede nicht duch Meisgeburten 
verfehlen, jo müßten die Misgeburten auch Arten fein, fo 
fönnte die Fortpflanzung nur Innerhalb derfelben Art ftatt- 
finden und Feine Baftardzeugung dürfte der Natur das Eon- 
cept verrüden, fo müßten die Typen fich unveränderlich erhal- 
ten, die Grenzen jeder Art feitgehalten werben, während in 
der Natur die Typen variabel und die Grenzen flüffig find:*) 
So hat Rode dur feine Unterfuhung des BVerftandes den 
Artbegriff aus Gründen befämpft, die fein Landsmann Dar- 
win, unfer Zeitgenofje, wiederholt und auf eine folche Fülle 
naturgejchichtlicher Thatfachen geitütt hat, daß diefer Begriff, 
wie er bisher gegolten, in der Naturwiffenfchaft das Feld 
räumt. 


4, Die Partikeln. 


Zur angemeffenen Bezeichnung der Gedanken, zum rich⸗ 
tigen Sprechen, zur treffenden Sakbildung und Verkettung 
der Säge dienen die fogenannten Formwörter (particles), 
deren Wichtigfeit Locke in dieſer Rückſicht ausdrücklich und mit 
feinem Sinne hervorhebt. Ohne folhe Wörter, wie Prä⸗ 
pofitionen, Conjunctionen u. f. f., ift der Gebankenausdrud 
höchſt unvollfommen; jede zu geringe Diftinction ihrer Be⸗ 
deutung, jede faljhe oder auh nur ungenaue Anwendung 
macht den Gedankenausdruck fchief oder finnlos.**) 


*) Ess. III, ch. 6, 8. 14—20; 8. 23—27. 
**) Ess. III, ch. 7. 


598 


Id. 
Der Gebrauch der Worie. 


1. Die Unvollkommenheit der Sprade. 


Die Worte überhaupt haben den Zwed, Vorftellungen 
auszubrüden und mitzutheilen, diefe Mittheilung zu erleichtern 
und zu beichleunigen, durch diefelbe den menſchlichen Vorſtel⸗ 
lungskreis zu erweitern d. 5. Kenntniffe zu verbreiten.*) Wenn 
fie diefen Zwed erfüllen, fo werden fie richtig gebraucht, da- 
gegen falfch, wenn fie ihn verfehlen. Iſt da8 Medium, wo: 
durch im geiftigen Verkehr die Vorftellungen aus- und ein 
gehen, trüb, fo trübt fich der menſchliche Vorftellungstreis, 
es ift daher zur Läuterung unferes Verftandes durchaus noth- 
wendig, daß man ben fehlerhaften Gebraud der Worte be 
merft und verhüte. Die Schuld Tiegt zum Xheil in der 
Sprade jelbft, in der Beichaffenheit und Unvollkommenheit 
ihrer Zeichen, zum Theil und zwar zum größten in den 
Sprechenden, welche die Worte unkritifch brauchen. 

Es ift natürlich, daß in den Begriffen, die der Verftand 
bildet und vorbildet, die VBorjtellungen der Einzelnen fehr ver: 
ſchieden und die Worte daher fehr vieldentig find. So hat 
jeder feine eigene Anficht von Ehre, Gerechtigkeit, Glaube, 
Religion, Kirche u. f. f., die Geſpräche über folche Dinge be- 
weifen, wie ſich jeder in feiner Vorftelung als Hausherr 
fühlt. Werden Bücher darüber gejchrieben, die öffentliches 
Anfehen erhalten, fo muß deren Sinn erllärt und die Erklä⸗ 
rungen müſſen wieder erflärt werden; die Commentare nament- 


*) Ess. III, ch. 10, $. 23— 25. 














599 


(ih der Gefegbücher nehmen kein Ende, da die Commentare 
felbft wieder der Commentare bedürfen. Es Tann nicht anders 
fein, denn die Vorftellungen, welde das Thema bilden, find 
willfürlihe Producte, und das Band zwifchen Wort und Vor⸗ 
ftellung ift ebenfo willfürlich. *) 


2. Der Misbrauch der Sprache. 


Diefe Schuld Tiegt in der Sprache, die andere Tiegt in 
den Sprechenden, die in ihrer Schätzung der Spradhe, in ihrem 
Gebraud der Worte ſich unkritifch verhalten. In der Schätung 
der Sprache, wenn fie meinen, daß die Worte Dinge bezeid)- 
nen oder daß mit dem Wort der Begriff feitfteht, als ob das 
Band zwifchen beiden nothwendig wäre. Bezeichnet das Wort 
„Stoff oder Materie“ etwas anderes als eine Vorftellung? 
Iſt etwa mit dem Wort „leben der Begriff des Lebens ſchon 
feſtgeſtellt?**) 

Will man verſtändlich ſprechen, ſo verbinde man das 
Wort mit der klaren und deutlichen Vorſtellung durch ein 
feſtes und dauernd gültiges Band. Wenn man eine dieſer 
Bedingungen nicht erfüllt, ſo hat man den Zweck der Sprache 
durch eigene Schuld verfehlt. Die Folge iſt Verwirrung. 
Die erſte Bedingung wird in der gröbſten Weiſe verletzt, wenn 
die Worte nicht blos Vorſtellungen, ſondern Dinge und zwar 
ſolche Dinge bezeichnen wollen, von denen es keine Vorſtellun⸗ 
gen giebt: das ſind die völlig ſinnloſen Worte, die in der 
Philoſophie ihr Weſen treiben, wie die platoniſche Weltſeele, 
die Kategorien und ſubſtantiellen Formen der Ariſtoteliker, die 


— —— — 


*) Ess, IH, ch. 9. **) Ess. II, ch. 10, 8. 15—17. 





600 


Atome der Epifureer, der horror vacui, die Gattungen, Arten, 
Zwede in der Natur u. f. f.*) Oder man macht Worte ohne 
beftimmte und klare Vorftellung, Worte, Hinter denen nichts 
ift, leere Worte; es ift al8 ob man den Titel eines Buchs 
fennt, aber auch blos den Titel, ohne jede Kenntniß des In- 
halts.**) Oder man giebt ftatt der Begriffe Bilder und 
macht Redekünſte täufchender Art (arts of fallace), die ben 
Verſtand Leer laſſen und die Phantafie verführen.***) Oder 
man fpielt mit dunkeln Worten, um den Schein des Tief- 
finne zu haben, und ftreitet darüber, um fich das Anfehen des 
Scharffinns zu geben, das find die unnüßen Subtilitäten, die 
Bollwerke der Scholaftifer, die das Leben in nichts gefördert, 
die Wiffenfchaft verödet, die Religion verbunfelt, den Unfinn 
befeftigt, den Fortfchritt gehemmt und die Geringihätung des 
natürlichen PVerftandes und der mechaniſchen Künfte bewirkt 
haben, durch die doc allein der Fortfchritt geſchah. Hier fin- 
den wir Locke in derfelben polemifchen Haltung gegen bas 
„munus professorium” als Bacon.) 

Alle die angeführten Fälle variiren ein Thema: den Mis- 
brauch der Sprade, wenn Worte in Umlauf gefett- werden 
ohne entfprechende Vorftellungen, leere Worte; der entgegen- 
geſetzte Misbrauch find Vorftellungen, denen das entfprechende 
Wort fehlt, das fie zufammenfaßt und mittheilbar macht, un- 
beftimmte und loſe Vorftellungen. Worte ohne Vorftellungen 
gleichen dem Titel ohne Bud, Vorftellungen ohne das bezeid;- 
nende Wort gleichen den lojen Druckbogen ohne Einband und 
Titel. Kann man feine Vorftellungen nicht benennen, fo iſt 


*) Ess. III, ch. 10, 8.14. **) Ese. III, ch. 10, 8.2 und $. 26. 
*®*) Ess. III, ch. 10, 8.34. +) Ess. II, ch. 10, 8. 6—10, 








601 


man genöthigt, endlofe Umfchreibungen zu machen, aus denen 
niemand Hug wird.*) 

Endlich der dritte Fall: man hat Vorstellungen und Worte, 
aber ohne feftes und ficheres Band, der Gebrauch der Worte 
ſchwankt, jet hat daſſelbe Wort diefe, jebt eine andere Be— 
deutung, oder dieſelbe Vorftelfung wird bald fo bald anders 
ausgedrüdt; das giebt ein Kauderwälſch (gibberish), das 
alles verwirrt. Ein ſolches Sprechen gleicht einem Handel, 
wo dieſelbe Waare unter verfchiedenen Namen gehen oder daf- 
felbe Geldſtück in verfchiedenen Werthen gelten foll, es gleicht 
einer Rechnung, in der die Ziffer 3 auch einmal die Zahl 8 
bedeutet. **) 

Der Misbraud) der Worte ift die Quelle aller Misver- 
ftändniffe und darum eine Haupturfache unferer Irrthümer. 
Die Einfiht in den Werth und richtigen Gebrauch der Worte 
verhütet den Irrthum und bahnt den Weg zur Wahrheit. 


*) Ess. III, ch. 10, $. 27 und 31. 
**) Ess. II, ch. 10, $. 5 und 31. 


Siebenles Kapitel. 
D. Die menſchliche Erkeuntniß. Beruunft und Glanbe. 


- u run 


J. 
Die Erkeuntniß. 
1. Arten, Grade, Umfang. 


Alle Erkenntnißobjecte find Vorftellungen. Was nicht vor- 
geftelit werben Tann, liegt jenfeits der Erfenntnißgrenze; bie 
Erkenntniß felbft ift aber nicht blos Vorftellung, fondern Ein- 
fiht in das Verhältniß der Vorftellungen, in deren Weberein- 
ftimmung oder Widerftreit (agreement and disagreement or 
repugnance),. Das tft das durchgängige Thema aller Er- 
fenntniß; daraus folgt die Beftimmung ihrer Arten, ihrer 
Grade und ihres Umfangs. 

Das Vorftellungsverhältnig hat vier Fälle: Identität und 
Verſchiedenheit, Beziehung, Coeriftenz oder nothwendige Ver⸗ 
fnüpfung und Realität. Die Unterfheidung zweier Farben 
erempfificirt den erſten Fall, die Gleichheit zweier Dreiedle den 
zweiten, die magnetiſche Eigenfchaft des Eifens den dritten, die 
Realität der Gottesidee den letzten.“) 





*) Ess. IV, ch. 1, 8. 1—7. 








603 


Wenn das Berhältnig der Vorftellungen unmittelbar ein- 
leuchtet (wie 3. B. der Unterfchied zwifchen Gelb und Blau), 
fo ift die Erkenntniß unmittelbar gewiß, anſchaulich oder in- 
tuitiv; wird das Verhältniß durch Zwifchenvorftellungen oder 
Mittelglieder erkannt, fo ift die Erfenntniß vermittelt, auf Be⸗ 
weife gegründet oder demonſtrativ, alle mittelbare Gewißheit 
hat ihr Princip in einer unmittelbaren, alle Beweiſe find zu- 
legt von unmittelbaren Einſichten abhängig, die demonftrative 
Erkenntniß gründet fi) daher auf intuitive. Alle fichere Er- 
fenntniß ift eines von beiden. Was fid) nicht entweder un- 
mittelbar anſchauen oder beweifen läßt, wird nicht eigentlich 
gewußt, fondern geglaubt, und hat nicht den Charakter der 
Gewißheit, fondern der Wahrfcheinlichkeit. Jede Erfenntniß, 
die nicht intuitiv, oder demonſtrativ ift, fällt in das Gebiet der 
Meinung oder des Glaubens (faith or opinion). Zwiſchen 
der ficheren Einfiht und der bloßen Meinung Tiegt bie Er- 

-Tenntniß der Dinge außer uns, die fih auf finnliche Vorſtel⸗ 
(ungen gründet: das fogenannte fenfitive Wiffen. Unfer eige- 
nes Dofein erfennen bir intuitiv, das Dafein Gottes demon- 
ftrativ, das Dafein der Körper jenfitiv.*) 

Die Borftellungsgrenze kann die Erfenntniß in feinem 
Fall überfchreiten. Die anjchaufiche Erkenntniß veicht nur fo 
weit als die unmittelbare .Vergleihung der Vorftellungen, die 
demonftrative nur jo weit als die verfnüpfende Kette der 
Mittelglieder. Es giebt Dinge, von denen wir gar feine Vor- 
stellungen haben und haben können, e8 giebt Objecte, die wir 
zwar vorftellen, aber jo mangelhaft und beſchränkt, daß fic fo 
gut als unbelannt bleiben. Unſere Vorftellungswelt veicht 


*) Ess. IV, ch. 2, 8. 1-14. 


604 


lange nicht fo weit als die wirkliche Welt, das Gebiet unferer 
Erkenntniß veicht Tange nicht fo weit als das unferer Vorſtel⸗ 
lungen. Daher ift das Feld unferes Nichtwiſſens bei weitem 
größer als das unſeres Wilfens. *) 

Es wäre thöricht zu meinen, daß die Welt aufhört, wo 
unſere Vorſtellungen oder unſere Beweiſe am Ende ſind; es 
giebt Objecte, deren Daſein und Beſchaffenheit wir nicht faſſen 
koͤnnen, zu denen wir uns verhalten, wie der Blinde zur Farbe 
oder der Blick des Maulwurfs zu dem des Adlers, wir dürfen 
unſere Geiſtesſpanne nicht für den Umfang des Univerſums 
balten.**) Wovon es keine Vorſtellungen giebt, davon giebt 
es auch Feine Erkenntniß, feine Beweiſe. Keine unſerer Vor⸗ 
ſtellungen trägt bis zur Subſtanz oder zum Weſen der Dinge, 
wir wiſſen nicht, was die Dinge, die wir Körper und Seele 
nennen, an ſich ſind, wir können weder die Denkunfähigkeit 
der Materie noch die Immaterialität der Seele beweiſen. Aber 
die Beweisbarkeit (Erkennbarkeit) einer Sache verneinen, heißt 
noch nicht deren Daſein in Abrede ſtellen; wenn die Im⸗ 
materialität der Seele für unbeweisbar erklärt wird, ſo gilt 
ſie darum nicht für unmöglich, ſo gilt das Gegentheil davon 
nicht etwa für bewieſen oder beweisbar, vielmehr gilt es für 
ebenſo unbeweisbar. Die großen Gegenſtände der Moral und 
Religion werden daher nicht erſchüttert, wenn die Unterſuchung 
des menſchlichen Verſtandes die Unzulänglichkeit gewiſſer Be⸗ 
weiſe ſowol für als wider darthut. An dieſer Stelle bemerken 
wir eine faſt wörtliche Parallele zwiſchen Locke und Kant.***) 

Aber auch innerhalb der engen Grenzen unſerer Vorſtel⸗ 


*) Ess. IV, ch. 3, 8. 1- 6; 8. 22. 
**) Ess. IV, ch. 3, 8. 23.  ***) Ess. IV, ch. 3, 8. 6. 








. 605 


(ungswelt find wir auf ein noch weit geringeres Maß der 
Erkenntniß beſchränkt, da entweder den Voritellungen, die wir 
haben, theils die Klarheit theils die nöthige Verknüpfung durch 
Mittelglieder fehlt; oder Vorftellungen, die wir haben könnten, 
fih nicht in unferem Beſitz finden, es fehlt nicht an der Fähig- 
feit, aber am Vorrath. Die großen Weltlörper find zu ent- 
fernt und jene Körpertheilchen, von deren Geftalt, Gruppirung, 
Bewegung die Erjcheinungen abhängen, find zu Hein, um. 
deutlihe Wahrnehmungsobjecte zu bilden. Wir find nicht im 
Stande, die Heinften Körpertheile zu erkennen, deren Wirkfam- 
feit und primäre Befchaffenheiten die Urſache aller jecundären 
Qualitäten ausmadhen; wir bleiben über dieſe Urfache, über 
die eigentliche Wirkfamfeit der Körper im Dunkeln. Bon an- 
dern Geiftern außer uns wiffen wir nichts, von den Körpern 
wenig. Aber felbjt wenn wir die Einficht Hätten, die ung 
fehlt, wen wir die körperlichen Urfachen 3. B. unferer Licht- 
und Farbenempfindung aus der Wirkfamfeit der Eleinften Theile 
zu erfennen vermödten, fo würde damit die Wirkung ſelbſt 
noch lange nicht erklärt fein. Die Urfache ift Bewegung, die 
Wirkung ift Empfindung; die Urſache ift mechanisch, die Wir⸗ 
fung fenfibel; das Mittelglied, wodurch Bewegung fi in 
Wahrnehmung oder Perception umwandelt, fehlt in unferer 
Vorſtellung. Hier liegt der Mangel in der befchränkten Natur 
unferer Vorftellungen; ein anderer felbftverfchuldeter Mangel 
liegt in der beſchränkten Bildung und Entwidlung derfelben. 
Da fehlen uns eine Menge Vorjtellungen, die wir Haben 
könnten, wir haben fie nicht erworben, wir haben uns mit 
Worten begnügt, mit Nechenpfennigen ftatt baarer Münze, und 
wenn wir die Marken einlöfen, die Worte mit Vorftellungen 
belegen wollen, finden wir den Beutel leer, e8 fehlt am Baaren. 


606 


Diefer mangelhafte Bildungszuftand trifft ganze Zeitalter, ins- 
befondere jene Art der fcholajtifchen und gelehrten Weltbildung, 
welche die Philoſophie feit Bacon mit fo vielem Nachdrucke 
befämpft: jene unfruchtbare und öde Büchergelehrſamkeit, die 
füh in dem „dichten Walde der Worte‘ dergeftalt verloren und 
verirrt Hatte, daß fie den Pfad der Erfahrung und Entdedung 
gar nicht mehr fah. Hätte man ftatt ber wirklichen Beobach⸗ 
tung des Himmels und der Erforfchung der Erde nur Bücher 
über Aftronomie und Geographie gelefen, nur über Hypotheſen 
geftritten und felbft Seereifen nur auf gut Glück unternom- 
men, jo würde man nie die Wege über den Aequator und um 
die Erde gefunden haben, und die Vorftellung der Antipoden 
wäre noch heute eine Kegerei. Wir hören Bacon reden! *) 


2. Traum und Wirklichkeit. 


Aber wie groß oder gering ber Umfang unferer Erfennt- 
niß auch fein möge, jedenfalls haben wir es in derfelben blos 
mit unjeren BVorftellungen zu thun. Unfere Erfenntnißobfecte 
find Erfcheinungen in une, Vorftellungen, was unfere Traum: 
bilder aud) find. Wie unterfcheidet fih nun das Erkenntniß⸗ 
object vom Traumbild? Jenes habe, fo heißt es, den Charakter 
der Wirklichkeit, diefes den der Einbildung! Aber wie unter- 
jheiden fih Traum und Wirklichkeit? Hier fteht Locke der- 
jelben Frage gegenüber, welche Descartes in fo tiefe Zweifel 
verftricdt hatte.**) Woran erkennen wir, daß wir im Wachen 
nicht auch träumen, daß die Welt, die wir vorftellen, und das 


*) Ess. IV, ch. 8, $. 24—30. gl. beſonders $. 30. 
**) Bol. meine Gefchichte der neuen Philofophie, Bd. 1, Abth. I. 
Zmeite Aufl., S. 309 figd. 


607 


Leben, das wir führen, nicht ebenfalls Traum iſt? Das 
unterf&heidende Kennzeichen Tiegt nach Xode darin, daß den 
Zraumvorftellungen zwei Merkmale fehlen, welche die Welt: 
vorftellungen Haben: die Realität der Empfindung und bie 
Objectivität der Borftellung d. h. die Uebereinftimmung der 
Begriffe mit den Objecten, die Uebereinftimmung, deren Er- 
fenntniß den Charakter der Wahrheit ausmadt. Es ift ein 
Unterfhied, ob die Senfationen von außen bewirkt oder von 
uns geträumt werden, ob wir 3. B. das gebrannt werben 
träumen oder wirklich erleben, ob wir heile Haut behalten 
. oder Brandiwunden haben. Hier macht die Wahrnehmung die 
Grenze zwifchen Zraum und Wirklichkeit. Wir bilden Be⸗ 
griffe, mathematifche und moraliſche, wodurd eine Reihe an- 
derer Borftellungen bedingt find, Begriffe, die fich zu einer 
Reihe anderer Borftellungen verhalten, wie die Urbilder zu 
den Abbildern, zwifchen denen LWebereinftimmung oder Wider- 
jtreit d. h. dasjenige Verhältniß ftattfindet, in deſſen Einſicht 
Erkenntniß und Wahrheit befteht. Diefer nothwendige Zu- 
jammenhang der Vorftellungen, diefe Wahrheit, die überall 
gilt, wo diefelben Vorftellungen gebildet werden, dieſe ob- 
jective oder allgemeine Gültigkeit der Vorftellungen fehlt den 
Traumbildern. Mathematik und Moral werben nicht erträumt. 
Hier macht die Erfenntniß die Grenze zwifhen Traum und 
Wirklichkeit. Wer diefe Grenzen nicht anerkennt, dieje Unter- 
ſchiede zwiſchen Traum und Wirklichkeit noch bezweifelt, der 
muß alles für Traum halten, auch den eigenen Zweifel, der 
damit aufhört, ein wirklicher Zweifel zu fein.*) 


*) Ess. IV, ch. 2, 8. 14; ch. 4, 8. 1—9; ch. 11, 8. 8. 


608 


3. Wahrheit und Grundſätze. 


Der Ausdruc der Borftellungen find die Worte, der Aus- 
drud der Mebereinftimmung oder Nichtübereinftimmung der 
Borftellungen die Säge. Wenn die Worte die Vorftellungen 
und die Verbindung der Worte das Verhältnif der Vorftel- 
lungen richtig bezeichnen, fo find die Säte wahr; wenn die 
Wahrheiten im ganzen Umfang der Vorftellungen gelten, fo 
find die Süße allgemeingültig, wenn die allgemeinen Süße 
dur fich felbft gewiß oder einleuchtend find, jo nennt man 
fie Grundfäge (Marimen oder Ariome). So wird aus . 
einer gegebenen Vorftellung A unmittelbar erfannt, daß fie ift, 
was fie ift: der Sat ber Identität A A; aus der unmittel- 
baren Vergleihung zweier verichiedener Vorftellungen A und B, 
daß A nicht B ift, daß unmöglid) etwas zugleih A und nicht 
A fein kann: der Sat des Widerſpruchs; aus der Vergleichung 
der Größen: daß gleiche Größen, um gleiche Größen vermehrt 
oder vermindert, gleich find, daß die ganze Größe gleich tft 
allen ihren Theilen, daß der Theil Heiner ift als das Ganze 
u. ſ. f. 

Die Schule lehrt, daß es in jeder Wiſſenſchaft einige 
ſolcher Grundſätze giebt, aus denen alle übrigen Sätze erkannt 
und abgeleitet werden. Dieſe Schulweisheit iſt falſch und irrt 
ſich in allen Bunkten, Es iſt falſch, daß es nur einige ſolcher 
Süße giebt, es giebt deren zahllofe; jo viele Vorſtellungen 
unmittelbar verglichen werden können, fo viele unmittelbar ein- 
leuchtende DVergleihungsfäge laſſen ſich aufitellen, fo viele 
felbftverftändliche Wahrheiten. Niemand hält die Süße, daß 
drei weniger ift als fünf, oder der Hügel höher ift als das 
Thal, für Ariome und doch find fie ebenfo unmittelbar gewiß 











609 


als der Sa, daß der Theil Heiner ift al8 das Ganze, oder 
daß A=A. 

Es ijt falfch, daß diefe Sätze die erften und oberften find, 
fie find es fowenig als die abftracten Begriffe früher find 
als die zufammengefeßten und diefe früher als die Elementar- 
porjtellungen, die Wahrnehmungen und Eindrüde; im Gegen- 
teil, fie find fpäter. Nachdem man an fo vielen Fällen jene 
jelbjtverftändfichen Wahrheiten fo oft erfahren Hat, bringt man 
fie auf ganz allgemeine und abjtracte Formeln. Noc nie hat 
jemand, daß drei weniger ift al8 fünf oder daß drei Finger 
feiner Hand nicht alle Finger find, darum eingefehen, weil er 
zubor wußte, daß der Theil Heiner ift als das Ganze. 

Es iſt darum falſch, daß diefe Sätze Grundſätze find, 
denn ſie begründen nichts; keine Wahrheit wird durch ſie ge— 
funden, fie tragen nichts bei weder zur Begründung noch Ver- 
mehrung der Wiffenfchaften, fie find weder Grundſätze noch 
Hülfsmittel. Oder meint man, daß Newton vermöge folcher 
Süße feine Entdedungen gemacht und das Syſtem feiner 
Naturphilofophie geichaffen habe? 

Alle diefe Säge find zur Auffindung neuer Wahrheiten 
unnütz und im Grunde leere Wortfpielereien (trifling pro- 
positions), denn fie variiren da8 Thema A = A. Vielmehr 
find fie wegen ihrer leeren Allgemeinheit fchädlich und können 
feicht fophiftiich gebraucht werden, um contradictorifche Sätze 
zu beweifen. Segt man mit Descartes das Weſen des Kör- 
pers blos in die Ausdehnung, fo folgt aus dem Axiom der 
Identität, daß es (da Körper und Raum identifch find) keinen 
leeren Raum giebt; jet man mit Locke die Grundeigenfchaften 
des Körpers in Ausdehnung und Solidität, jo folgt aus dem 


Ariom des Widerſpruchs, daß es (da Körper und Ausdehnung 
Fiſcher, Bacon. 9 


610 


nicht identifch find) eine Ausdehnung ohne Körper oder einen 
leeren Raum giebt. 

Daher beſchränkt fich der ganze Nuten folder Sätze, die 
zur Erfindung und Entdedung nicht das mindefte beitragen 
und eher verwirrend als fördernd wirken, auf die Anordnung 
gefundener Wahrheiten, auf deren Darftellung und Lehrform; 
man muß Wahrheiten, die man lehren will, in Reih und Glied 
jtellen, von gewiffen erften und oberften Sägen ausgehen und 
die anderen bdergeftalt folgen Taffen, daß fie durd ihre Ord⸗ 
nung der Verftand leicht faßt und das Gedächtniß leicht be- 
Hält. Auch mögen fie im Wortftreit dazu dienen, abjurde 
Behauptungen handgreiflich zu machen. *) 


4. Die Erfenntniß der Dinge. 


Unabhängig von unferen Vorftellungen ift das Dafein 
der Dinge felbft: der Geifter, Körper, Gottes. Da nun un⸗ 
ſere Erfenntnißobjecte unfere BVorftellungen find, die Dinge 
aber unabhängig von unſeren Vorftellungen nicht vorgeftellt 
werden können, wie kann uns deren ‘Dafein einleuchten? 

Bon den Geiftern ift ums nur das Dafein unferer eigenen 
denkenden Natur erkennbar, es ift unmittelbar gewiß, ein Ob⸗ 
ject intuitiver Erfenntniß, die jeden Zweifel ausfchließt. In 
diefer Anerkennung der Selbſtgewißheit nähert fi) Lode dem 
Grundgedanken Descartes’. **) 

Daß Dinge außer uns eriftiven, lehrt uns die fenfitive 
Erfenntniß nicht unmittelbar, ſondern durd einen Schluß, der 


*) Ess. IV, ch. 5—8. gl, damit ch. 12, 8. 1—3. 
**) Ess. IV, ch. 9, 8. 1—3. 








611 


unfere Senfationen begründet. Dieſe lebteren find der Er- 
kenntuiß⸗ oder Beweisgrund für das Dafein der Körper. Wir 
haben finnlihe Borftellungen, Sinnesempfindungen, Farben, 
Töne u. f. f. Diefe Empfindungen find in uns, aber wir 
erzeugen fie nicht, der Blindgeborene kann mit allem pfychifchen 
Vermögen die Farbenempfindung nicht hervorbringen, weil ihm 
das Sehorgan fehlt, aber auch das Auge, da es im Dunkeln 
feine Farbenempfindung hat, ift nicht deren erzeugender Grund. 
Weder unfere denkende Zhätigkeit noch unfere Törperlichen Or- 
gane können die Empfindungen bewirken, diefe find daher Wir- 
fungen, deren Urſache wir felbft auf feine Weife fein können. 
Was bleibt übrig als die Einfiht, daß diefe Empfindungen 
Eindrüde find, die von Dingen außer uns berrühren, daß es 
mithin ſolche Dinge giebt? In diefem Zeugniß unterjtüten fi) 
die Sinne gegenfeitig, das Feuer, das ich ſehe, ift zugleich das, 
welches mich wärmt, wenn ich ihm nah genug bin, das mid 
brennt, wenn ic) e8 berühre u. f. f. Dieſes Zeugniß der 
Sinne wird beftätigt durch das Gedächtniß, durch den Unter⸗ 
ihied der Sinnesempfindung und der Gedächtnißvorftellung, 
es ift ein Unterfchied, ob ich Dite und Kälte, Hunger und 
Durft wirflid empfinde oder mir diefe Empfindungszuftände 
im Gebächtniß vergegenwärtige; das Gedächtniß giebt die Vor⸗ 
jtellung ohne Eindrud; was alſo den Eindrud giebt, ift nicht 
die bloße Vorftellung, fondern etwas von diefer Unabhängiges, 
die Dinge außer und. Was diefe Dinge ihrer Subftanz nad) 
find, wifjen wir nicht, aber daß fie find, wiffen wir ficher 
vermöge der fenfitiven Erfenntniß. *) 


—. — — 


*) Ess. IV, ch. 11, 8. 4- 7. 
39* 


612 


5. Das Dafein Gottes, 


Es ift gewiß, daß wir find, daß wir etwas find, daß 
wir uns nicht felbft erzeugt Haben, daß unmöglich nichts die 
Urfadhe von etwas fein Tann, daß es eine Urfache der wirk- 
lichen Dinge geben muß, eine folche, die wirklich Urſache ift, 
nicht felbjt wieder Wirkung, alſo eine ewige Urfacdhe, die als 
Duelle aller Dinge auch Inbegriff aller Madt iſt. Es ift 
gewiß, daß wir denkender Natur find, daß die Urſache den- 
fender Naturen Teine blinde, fondern nur eine denfende oder 
geiftige Macht fein kann, ein ewiges denkendes Weſen (eternal 
cogitative being), diefes Weſen ift Gott. Daß er ift, erfen- 
nen wir aus den gegebenen Beweisgründen. mit voller Sicher⸗ 
heit, fogar, meint Locke, mit größerer Sicherheit al8 das ‘Da- 
fein der Dinge außer uns. Dieſes ift ein Object fenfitiver 
Erfenntniß, das Dafein Gottes ein Object demonftrativer, die 
einen höheren Grad der Gemißheit bezeichnet; der Beweis 
gründet ſich auf die Gewißheit umferes eigenen Dafeins, un- 
ferer denfenden Natur, auf die intuitive Selbfterfenntniß, die- 
fen höchften Grad der Gewißheit. Darum ift auch die Art 
der Beweisführung, da fie von einer umumftößlichen, unmittel- 
bar gewiffen Thatſache ausgeht, nicht ontologiſch, und Rode 
will fie von diefer ausdrücklich unterfchieden wiffen. ‘Der on» 
tologifche Beweis, den Rode wohl in der -cartefianifchen Form 
vor fi Hatte, nimmt zu feinem Ausgangspunft die Vorftel« 
lung des vollfommenften Wefens, die willkürlich zufammen- 
geſetzte Vorftellung einer Subftanz, die ein bloßes Nominal- 
wejen ausdrüdt.*) 








*) Ess. IV, ch. 10, 8. 1—7. 











613 


Locke gründet feinen Beweis auf Anfhauung und Wahr- 
nehmung, auf deren unmittelbare Thatfachen. Unfere Wahr- 
nehmungsobjecte machen uns nur zwei Arten wirffamer Na- 
turen erfenubar: dentende und bewegte (materielle, nicht den- 
fende), wir fehen in der Körperwelt nur mitgetheilte Bewegung 
und haben von einer erften bewegenden Urfache oder Kraft 
feine andere Vorjtelung als die unferes Willens, der unfere 
Glieder bewegt. Da die Materie fi) nicht ſelbſt erzeugen 
fann, jo ijt deren erjte Urſache ein fchaffendes Wefen, da die 
Bewegung der Körper mitgetheilter Art ift, jo muß deren erſte 
Urſache ein wollendes Wefen fein; da endlich aus nicht den- 
fenden Naturen niemals denfende hervorgehen können, fo ift 
die erfte Urfache der Tegtern ein denfendes Wefen. So folgt 
(nicht aus unferer willkürlichen Vorftellung eines volllommen⸗ 
ſten Weſens, fondern) aus unferer nothwendigen Weltvorftel- 
fung das Dafein einer ewigen, fchaffenden, wollenden und den⸗ 
fenden Urfache, das Dafein Gottes al8 eines ewigen Geiſtes 
oder als einer ewigen Weisheit.*) 

Nun läßt fi) der Einwurf machen, daß die Zragweite 
diefer Demonftration vom Dafein Gottes nur bis zum Dafein 
einer ewigen Urſache oder eines ewigen Wefens reiche, aber 
feineswegs ausmache, ob dieſes Wefen Materie oder Geilt, 
ob es im erjten Ball denfende oder nichtdentende Materie, ob 
endlich das ewige Weſen nicht zweifacher Art fei: Materie 
und Geiſt. Es Handelt fih, was die Faſſung der erften Ur- 
fache betrifft, um Dualismus oder Monismus, e8 handelt ſich 
im leßteren Ball um. Theismus oder Mlaterialismus, es han⸗ 
deft fih im Tegteren all um Hylozoismus oder Mechanismus. 


— 


*) Ess. IV, ch. 10, 8. 8—12. 





614 


Nun fucht Locke feinen Theismus dadurch ficher zu ftellen, daß 
er die Gegentheile des Hylozoismus, Mechanismus, Dualis- 
mus widerlegt. ‘Der Dualismus feßt den ewigen Geift neben 
den ewigen Stoff, weil er aus dem letteren das ‘Denen, die 
Entftehung geiftiger Naturen nicht erklären kann, er fett den 
ewigen Stoff neben den ewigen Geift, weil er die Schöpfung 
aus Nichts unbegreiflich findet, ala ob das Hervorbringen 
denkender Naturen oder willfürlicher Bewegung weniger uns 
begreiflich wäre. Entweder alfo ift die Seßung eines ewigen 
Stoffs eine überflüffige und zwedlofe Annahme oder eine folde 
Einſchränkung der fchöpferifchen Geiftesthätigfeit, daß diefe auf- 
hört zu gelten. ‘Der Mechanismus muß das Denfen und 
Borftellen entweder gänzlich verneinen, womit er die ficherfte 
aller Thatfachen umftößt, oder aus der materiellen Bewegung 
erflären, aus einer gewilfen Organifation materieller Bewe⸗ 
gungen oder aus einem gewifjen Syiteme bewegter Materie, 
was nichts anderes heißt als daß aus einer gewillen Ordnung 
oder Gruppirung der Stofftheildhen das Denken rejultirt. Wie 
das gefchehen fol, ift durch Feine Thatſache erleuchtet und - 
ſchlechterdings unvorftellbar. Es ift nicht vorzuftellen, wie 
durch eine räumliche Anordnung Förperlicher Theilchen jemals 
Perception zu Stande kommen ſoll. Endlich der Hylozoismus, 
die Annahme eines ewig bewegten, Tebendigen, denkenden Stoffe 
gilt entweder für alle Atome oder nur für eins: das erfte 
heißt den Stoff vergöttern (Polytheismus), das zweite ein 
Atom durd) eine völlig willfürlihe und grundlofe Hhpothefe 
privilegiren., *) 

So gilt der Theismus auf Grund der Beweiſe und auf 


*) Ess, IV, ch. 10, 8. 13 — 18. 





615 


Grund der Widerlegung aller gegentheiligen Vorftellungs- 
weisen. Aus diefer auf unfere Selbiterfenntnig und Welt- 
vorftellung gegründeten Gotteserfenntniß folgt die Einficht in 
unfere Abhängigkeit von Gott, in unfere Verpflichtung ihm 
. gegenüber, d. i. die Einfiht in unfer religiöſes Verhältniß. 
Diefe Einfiht macht das Thema der „natürlichen Reli— 
gion“, womit fich die Frage erhebt nah dem Verhältniß der 
natürlichen Religion zur geoffenbarten. *) 


* 1. 
Erkenntniß und Glaube. Vernunft und Offenbarung. 


Wir fahen fchon, daß bei Lode das Verhältniß von 
Philofophie und Neligion eine ganz andere Faſſung annehmen 
muß als wir bei Bacon gefunden. Dieſer ließ zwifchen ge- 
offenbarter und natürlicher Gotteserfenntniß eine unüberfteig- 
liche Kluft, einen unauflöslichen Gegenſatz beftehen, er grün- 
dete die natürliche Theologie auf die äußere Erfahrung und 
ließ das göttliche Licht blos durch das brechende und trübende 
Medium der Dinge in die menschliche Seele fallen; Locke da- 
gegen gründet die Gotteserfenntniß auf die innere Erfahrung, 
auf unfere Seldfterfenntniß, auf diefe Grundlage einer un- 
mittelbaren und höchften Gewißheit. Von Hier ans ändert fi 
die Lage der Religion gegenüber der Philofophie, es entjteht 
ein Fritifches Verhältniß zwiſchen Vernunft und Offenbarung, 
wodurd) fich der Theismus in Deismus verwandelt. Dieſer 
Punkt ift um feiner Bedeutung und Tragweite willen genau 
zu erleuchten. Es muß zunächſt der Glaubensort innerhalb 


*) Ess. IV, ch. 13, 8. 3. 





616 


der menfchlichen Vernunft, alſo diefe felbft vor allem näher 
bejtimmt werden. 


1. Wahrheit und Wahrſcheinlichkeit. 


Die Wahrheit reicht nur fo weit als die fichere Erfenut- 
niß, die fich im den drei Graben der intuitiven, demonftrativen, 
fenfitiven abftuft und innerhalb unferer Vorftellungswelt nur 
ein Kleines Gebiet umfaßt. Innerhalb diefes Gebietes ift alles 
hell erleuchtet; was außerhalb defjelben Liegt, ift darum nicht 
völlig dunkel, das Licht beginnt zu dämmern und das Zwies 
licht (twilight state) ftuft fi ab in einer Reihe von Graden 
bis zur völligen Nacht, wo die geiftige Sehkraft nichts mehr 
fieht, fie durchläuft die Grade der Wahrſcheinlichkeit, von 
der höchſten bis zur geringften. 

Die Wahrſcheinlichkeit (probability) ift der Schein der 
Wahrheit, die Wahrheit gleihfam aus der Ferne gefehen, je 
ferner das Erfenntnigobject, um fo undeutlicher der Schein, 
nm fo leichter die Täufhung Wir erkennen aus unmittels 
barer Einficht oder aus Gründen; wenn diefe Gründe, ohne 
völlig ficher zu fein, unfer Urtheil beſtimmen, jo halten wir 
etwas für wahr nit ohne Gründe, aber ohne vollgültige 
Gründe; fie reichen aus nicht zur vollen fachlichen Begrün- 
dung, fondern zur jubjectiven Gilltigkeit des Urtheils. Diefes 
Urtheil Hat den Charakter des Fürwahrhaltens (judgment) 
und feine Erfenntniß den der Wahrfcheinlichkeit. Die Annahme 
eines ſolchen Urtheils oder Sates ift nicht Einficht, fondern 
Slaube oder Meinung (faith or opinion*). 

Die nicht völlige Sicherheit befchreibt einen weiten Spiel- 








*) Ess. IV, ch. 14 und 15, 8. 1—3. 








617 
raum, fie Tann ber völligen Sicherheit fehr nah und fehr ent- 
fernt fein, biefe ihre Scala find die Grade der Wahrſchein⸗ 
lichkeit. Sie kann fi auf wahrnehmbare oder nicht wahr- 
nehmbare Dbjecte beziehen, auf Erfahrung gründen oder auf 
Vermuthung, auf eigene Erfahrung oder auf fremde d. h. auf 
Zeugniffe unmittelbarer ober überlieferter Art. So bin id) 
‚überzeugt von der Wahrheit-eines mathematifchen Sates, dej- 
fen Gründe ich einfehe, dem ich felbft zu beweifen vermag, aber 
zu einer mathematifchen Wahrheit, die mir ein Mathematiker 
mittheilt, verhalte ich mich glaubend, weil der Grund meines 
Vürmwahrhaltens in diefem Fall die Glaubwürbigleit meines 
Zeugen ift. Was ich felbit erfahre, weiß ich fiher; was mir 
ein Anderer aus feiner Erfahrung berichtet, glaube ich ficher, 
wenn es mit meiner Erfahrung übereinftimmt, und bezweifle 
e8, wenn es derſelben widerftreitet, der König von Siam hielt 
den holländiichen Gejandten für einen Lügner, als ihm biefer 
erzählte, daß in Holland im Winter die Flüſſe gefrieren.*) 
Bon der Gefchichte früherer Zeiten (wie von dem größten 
Theil der Begebenheiten der Mitwelt) wiffen wir nur durch 
fremde Zeugniffe, wir glauben hiftorifche Thatjachen auf Grund 
der Berichte oder Zeugniffe, die wir auf Grund eigener ober 
fremder Prüfung für glaubwürdig Halten; je urlundlicher des 
Zeugniß, um fo größer die Geltung, je weiter e8 durch Ueber- 
fieferung von der Thatſache ſelbſt oder deren wirklicher Be⸗ 
urfundung abfteht, um jo vorfichtiger muß die Prüfung ver- 
fahren. Ohne fremden Zeugniffen zu glauben, wäre das 
Gebiet unferes Wiffens das allerbefchränktefte, ohne eine Prü- 
fung der Glaubwürdigkeit jener Zeugniffe wäre das hiftorifche 


*) Ess. IV, ch. 15, 8. 4 und 5. 


618 


Wiſſen Teichtgläubig und werthlos. Wenn es fih aber um 
Dbjecte handelt, die wir überhaupt nicht wahrnehmen Tönnen, 
fo bietet uns zur Beurtheilung derjelben die Erfahrung keinerlei 
Zeugniß, fondern blos eine Richtſchnur; wir erfahren z. B., 
daß aus der Reibung Wärme entfteht, und urtheilen dem- 
gemäß, daß die Wärme felbft in. einer Bewegung unwahrnehm- 
barer Theilchen beftehe, oder wir bemerken in der Natur einen 
gewiflen Stufengang der Dinge und urtheilen demgemäß, daf 
fih diefer Stufengang auch jenfeits der menſchlichen Organi- 
fation fortſetze, d. h. wir urtheilen nad) Analogie, die Locke 
deshalb im Gebiet der nicht wahrnehmbaren Objecte „die 
große Richtſchnur der Wahrfcheinlichkeit (the great rule of 
probability)“ nennt. *) 

Aber es giebt einen Fall, in welchem Thatſachen und 
Zengniffe von Thatſachen die höchſte Glaubwürdigkeit mit 
Recht beanspruchen, obwohl fie mit unferer vorhandenen Er- 
fahrung, deren Zeugniffen und Richtſchnur Teineswegs überein- 
ftimmen. Diefe Thatſachen find die göttlihen Wunder und 
Dffenbarungen, diefe Zeugniffe die Offenbarungsurfunden, der 
Glaube daran ift ber pofitiv-religiöfe, der die Geltung 
nicht blos der Wahrjcheinlichkeit, fondern der höchiten Gewiß- 
heit für fih in Anfprud nimmt. Gilt das Dafein Gottes 
auf Grund der demonftrativen Erkenntniß, fo Tann auch die 
Möglichkeit göttliher Wunder und Offenbarungen nicht be- 
zweifelt werden, fo muß die wirkliche Offenbarung als abfolut 
wahr und der Glaube daran als völlig ficher und gegründet 
(a sure principle of assent and assurance) gelten. Dieſe 
Slaubensficherheit fteht unter der einen Vorausfegung: wenn 


*) Ess. IV, ch. 16, 8. 1—12. 








619 


etwas göttliche Dffenbarung ift! Ob aber die Offenbarung 
wirffih von Gott kommt, ift die Frage, die den Glauben 
präjudicirt und darum nicht vom Glauben zu beantworten ift, 
fondern von der Bernunft.*) 


2. Bernunft. 


Wäre unfere Erlenntniß nur intuitiv, fo wäre fie einge- 
ſchränkt auf das Gebiet der felbftverftändlichen Wahrheiten; 
die Erweiterung derfelben ift bedingt durch Begründung oder 
Demonftration; wäre diefe befchränft auf folche Gründe, die 
mit völliger Sicherheit einleuchten, fodag fremde Erfahrung 
und fremde Zeugniffe ganz ausgefchloffen blieben, fo würde 
unfer Erfenntnißgebiet nicht weit reichen, die große Erweite⸗ 
rung deffelben ift bedingt duch eine auf Wahrfcheinlichkeit 
gegründete Demonftration. Ufer ficheres Wiffen bebarf der 
Ergänzung durch das weniger fichere, durch das Fürwahrhalten 
und Glauben; die Kleine Provinz der Wahrheit adnectirt fich 
das weite und ausgedehnte Gebiet der MWahrfcheinlichkeit; das 
Erfenntnißvermögen aber, welches diefes gefammte Reich der 
menschlichen Erfenntniß im weiteiten Sinn umfaßt und be- 
herriht, ift die Vernunft (reason — knowledge and 
opinion **), 

Das eigentliche Vernunftgefchäft nach Locke ift daher das 
Erkennen durch Gründe, insbefondere die Erweiterung ber 
Erfenntniß durch Wahrfcheinlichkeitsgründe. Wenn nun ſämmt⸗ 
liche Erkenntnißgründe auf flaher Hand Tägen und gleiche 
Stärke und Sicherheit hätten, fo wäre die ganze Aufgabe der 
Bernunft, die Gründe in Reih und Glied zu ftellen und ſchluß⸗ 


*) Ess. IV, ch. 16, $. 13 und 14. **) Ess. IV, ch. 17, 8. 2. 


620 


gerecht zu ordnen; dann wäre der Sillogismus „das große 
Infteument der Vernunft“, wie die Schule Ichrt. Freilich 
würde auch dann die Art, wie die Schule e8 nadı dem Vor⸗ 
bilde des Ariftoteles lehrt, keineswegs die richtige fein, denn fie 
feßt an die Stelle des natürlichen Schließens das Tünftliche, 
fie macht die Richtigkeit und Fertigkeit im Schließen abhängig 
von gewiſſen Negeln und Figuren, von denen das natürliche 
Denken gar nicht abhängt, die felbft nicht richtig find, die dem 
natürlichen Schluß die Glieder ausrenfen und verfchieben, die 
natürliche Schlußfette durch einen unnüßen Schwall von Sätzen 
auseinanderziehen und verwirren, die fillogiftifchen Irrthümer 
und Zäufchungen fo wenig aufdeden, daß fie vielmehr diefen 
felbft ausgefeßt find und dienen, und im günftigften Fall fich 
zu dem natürlichen Denken verhalten wie das Augenglas zum 
Auge. Die Natur hat den menſchlichen Verſtand fo eingerichtet, 
daß er zunächſt nur Einzelvorftellungen hat, die er verfnüpft, 
durch die er feine Einfihten begründet. Im Widerfprud) da- 
mit lehrt die Schule, daß aus Barticularfägen nichts folgt, 
daß in jedem richtigen Schluß wenigftens einer der beiden 
Borderfäge die Form der Allgemeinheit haben müfjfe Der 
natürliche Verſtand fucht zur Verfnüpfung zweier Vorftellungen 
bie dritte, wodurd) die Verbindung vermittelt wird, den Meittel- 
begriff, deffen einzig richtige und natürliche Stelle darum in 
der Mitte jener beiden Vorftellungen ift; dagegen lehrt die 
Sillogiftik der Schule folhe Schlußfiguren, in denen der 
Mittelbegriff nicht die Mitte bildet, und um bie Verwirrung 
zu vollenden, macht fie aus jedem Schlußgliede einen Sab und 
betäubt dur den Schwall ihrer Worte. So ift die Fünftliche 
Sillogiſtik der Schule nicht das Abbild des natürlichen Den- 


621 


tens und Schließens, fondern deffen Cariegtur. Sie iſt 
Scholaſtik, die -fid in leeren Wortgefechten genugthut.*) 
Selbit wenn fie fehlerfrei wäre, würbe e8 fi) mit der 
Sillogiſtik verhalten, wie mit den Grundfägen, fie würde zur 
Begründung und Vermehrung des Wiffens nicht das Mindeſte 
beitragen, fondern blos zur Anordnung und Darftellung ber 
bereit8 erfannten Gründe nüglich fein. Aus der Sillogiſtik 
fällt kein Lichtjtrahl in die verborgenen Winkel der Natur. **) 
Darım ift der Sillogismus nicht „das große Inftru- 
ment der Vernunft”. Die Gründe, durch welche die Erfennt- 
niß gefchieht, find weder vorräthig noch von gleichem Gewicht; 
fie find aufzufinden und zu entdeden, abzumwägen und zu prü- 
fen. Darin bejteht die eigentliche und fchwierige Aufgabe der 
Bernunft; fie begründet, indem fie die Gründe auffucht und 
entdedt, ihre Sicherheit prüft, die fihern von den nicht fichern, 
die wahren von den wahrfcheinlichen unterfcheidet und den 
Grad der Wahrfcheinlichfeit forgfältig beftimmt. Ihr Gefchäft 
ift das der Entdedung und Kritil. Es ift ihr um die 
Begründung der Sache zu thun, nicht um das perfönliche 
Rechthaben, ihre Gründe gehen auf Ueberzeugung und Urtheil 
(„ad judicium”), nicht auf das Verdutzen der Leute. Es 
giebt drei Arten ſolcher Verdbukungsgründe, die in den Zän⸗ 
fereien ihre große Rolle fpielen, wo man gefiegt zu haben 
glaubt, wenn man den Gegner zum Schweigen bringt, ohne 
in der Sadıe felbft das Deindefte zu beweifen. Man pocht auf 
eine Autorität, welcher der Gegner kaum wagen wird zu wider- 
ſprechen: „‚Ariftoteles hat e8 gejagt!” (der Grund „ad vere- 


*) Ess. IV, ch. 17, $. 4 und 8. 
**) Ess. IV, ch. 17, 8.5 und 6. 


622 


cundiam“), oder man beruft fih auf das Unvermögen des 
Gegners, beffere Gründe vorzubringen (ber Grund „ad igno- 
rantiam‘), oder endlich) man treibt ihn aus feiner eigenen 
Meinung zu Folgerungen, die er nicht zugeben Tann oder will 
(der Grund „ad hominem”). Als ob durd) den Refpect, die 
Unwiffenheit oder den Irrthum des Andern etwas von meiner 
Behauptung bewiefen werden könnte! *) 


3. Glaube und Offenbarung. 


Wenn aber die Vernunft die Gründe zu finden und zu 
prüfen hat, fo Hat fie deren Werth und Glaubwürdigkeit zu 
beurtheilen und entfcheidet damit über die Grundlagen alles 
Glaubens, aud) des religiöfen. Sie verhält fi zum Glauben 
fritifh. Der Glaube Liegt nicht außerhalb der Vernunft, 
fondern innerhalb derfelben, fie umfaßt Erkennen und Glau- 
ben. Darum erflärt Lode: glaubwürdig ift, was mit der 
Bernunft übereinftimmt (according to reason), unglaubwürdig, 
was ihr widerftreitet (contrary to reason); was die Vernunft 
überfteigt (above reason) ift nicht vernunftwidrig, dahin ge⸗ 
hört die göttliche Offenbarung, fie ift abfolut glaubwürdig, 
wenn fie ift, d. 5. wenn ihr gefchichtliches Zeugniß glaub- 
würdig iſt. Hier find wir an der Fritifchen Stelle, bie un⸗ 
mittelbar die pofitive Religion felbft angeht. Wir erkennen 
hier den Gegenfat zwifchen Tode und Bacon, die in den 
Grundlagen der Erfenntniß einverftanden find, die Leberein- 
ftimmung zwiſchen Xode und Leibniz, die in den Grundlagen 
der Erfenntniß ſich widerftreiten.**) 


*) Ess. IV, ch. 17, 8. 19 —22. 
**) Ess. IV, ch. 17, $. 23. 24; ch. 18. 


623 


Der geihichtliche Dffenbarnngsglaube kann die menfchliche 
Bernunft nicht umgehen und muß daher die Probe ihrer Kris 
tit aushalten. Entweder wird die Offenbarung urfprünglid) 
d, 5. unmittelbar von Gott felbft oder durch Veberlieferung 
empfangen: im erften Fall, wenn fie völlig neue Vorftellungen 
eröffnet, Dinge, die nie ein menfchliches Auge gefehen, ein 
menschliches Ohr gehört, nod) je eines Menfchen Herz gefaßt 
hat, ist fie unmittheilbar und gefchichtlih nit zu propagiren. 
Die überlieferte Dffenbarung gefchieht durch die Zeichen der 
Sprache, die Feine andern Vorftellungen ausdrüden fünnen als 
folche, deren Elemente aus der Senfation und Reflexion kom⸗ 
men, fie kann daher Feine völlig neuen Vorftellungen geben 
und ift gebunden an bie Quellen unferer Erfenntniß, an bie 
Bedingungen unferer Vernunft, an dieſes natürliche Licht, 
welches Locke als „natürliche Offenbarung‘ bezeichnet.*) 

Der Gegenſatz von Vernunft und Offenbarung ift darum 
ebenfo ungültig als der von Vernunft und Glaube. Jeder 
Dffenbarungsglaube, der auf feine Vernunftwidrigkeit pocht, 
beruht auf Irrthum und Täuſchung, es fei Selbitbetrug oder 
berechnete Abficht, um Andere zu täuſchen. Nur aus blindem 
Slaubenseifer kann der Einfall kommen: „credo quia ab- 
surdum“; nur aus der berechneten Abficht, den blinden Glau- 
ben zu pflegen, damit die Menge in blindem Gehorjam be- 
barre, kann gefagt werden: „ihr dürft die Glaubensfäge nicht 
unterſuchen, fondern müßt fie ungelaut fchluden, wie die Pil- 
len.” Jenes tertullianifche Wort hatte Bacon gebraucht, um 
das Derhältniß von Vernunft und Offenbarung bequem aus- 
einanderzufeßen; den Dffenbarungsglauben in der Form der 


— — — nr ne 


*) Ess. IV, ch. 18, 8. 3—6; ch. 19, $. 4. 


en 


624 


Pillen Hatte Hobbes verorbnef, um die Religion zu einem 
Beitandtheil der blinden Unterthanenpflicht zu machen. ‘Das 
„eredo quia absurdum‘ nimmt Locke wie eine Art Religions- 
rappel (sally of zeal) und das Pillenrecept als eine Politik, 
die fich vor dem Denken fürchtet. Man fühlt fchon die freiere 
Luft, die in Religion und Politik Locke's philofophifche Lehre 
durchweht.*) 

Daß nun in Wirklichkeit die religiöfen Vorftellungen ohne 
alle Bernunftprüfung, daß in Glaubensfachen Irrthum und 
Täuſchung beftehen und fich fortpflanzen, hat in der Natur 
der menschlichen Verhältniſſe Gründe genug; die meiften 
Menfchen empfangen ihre Anfichten blos durch Tradition, fie 
find abhängig von ihrer Familie, ihren Freunden, ihrer Par- 
tei, und was fie ihren Glauben nennen, ift eine Yahne, unter 
der fie dienen, wie gemeine Soldaten.**) Um felbjt zu prü- 
fen, dazu haben die einen bei der Unwiffenheit, in ber fie 
leben, nicht die Fähigkeit, die andern bei den Gefchäften und 
Bergnügungen, in denen ihr Dafein aufgeht, nicht den guten 
Willen, das find die Weltleute, die Gott einen guten Mann 
fein laffen und während fie äußerlich fich fein und forgfältig 
nad) der neueften Mode Heiden, tragen fie ihren Glauben nad) 


der alten, in der fadenfcheinigen und geflidten Livree, die ber 


Zandfchneider gemacht hat.***) Winden doch felbft die Schul: 
gelehrten die veralteten Irrthümer der Wiſſenſchaften, die fie 
jahraus jahrein Ichren, fo bequem und einträglich, daß fie 
dem Geifte der Prüfung abgeneigt find:}) Es giebt auch 


folhe, welche die Vernunftbebürfniffe wohl empfinden, aber 


*) Ess. IV, ch. 18, $. 11 und ch. 20, $. 4. 
**) Ess. IV, ch. 20, 8. 17 und 18. ***) Ess. IV, ch. 20, 8. 6. 
+) Ess. IV, ch. 20, $. 11. 








62. 


um anderer Bortheile willen gewaltfam unterdrüden und nun 
um ſo heftiger gegen alle erboft find, die fich den gleichen 
Zwang nicht anthun wollen, weil fie die Wahrheit mehr lieben, 
als die gewöhnlichen Vortheile. Die Gewaltthat gegen fid) 
jelbit ſtimmt fie gewaltfam gegen andere. *) 

In allen diefen Fällen find die Intereffen, welche die 
Glanbensprüfung verhindern oder befämpfen, nicht religiös. 
Nun Fanıı der Fall eintreten, daß aus einem religiöfen Iutereffe, 
aus einer ermjthaft religiöfen Empfindung die Offenbarung 
gelten joll ohne alle Vernunftprüfung, indem man meint, die 
Heine Leuchte der menschlichen Vernunft inüſſe von ſelbſt aus- 
löfchen, wenn die Sonne der göttlichen Offenbarung aufgeht, 
man müſſe die Augen fchließen, um durch das Fernrohr nad) 
den Sternen zu fehen: das iſt der Zuftand einer religiöfen 
Ueberfpanntheit oder PVerirrung, die Lode mit dem Wort 
„entlusiasm‘ bezeichnet in jenem übeln Sinn ber Schwär- 
merei, in welchem fpäter fein Schüler der Graf Shaftesbury 
den Brief über den Enthuſiasmus fchrieb und als das befte 
Heilmittel dagegen den Humor empfahl, der ihn verfpottet. 
Wenn fich diefe religiöfen Schwärmer fir die Begnadigten 
und von Gott unmittelbar Erleuchteten halten, fo haben fie 
eine falfche Vorftellung von Gott, der nicht mit Günftlingen 
verkehrt; wenn fie fi) auf die Stärke ihres Glaubens, auf ihr 
inneres Licht berufen, fo ift das ein Irrlicht, denn e8 giebt in 
uns nur ein wahres Licht: das natürliche der Vernunft.**) 


*) Ess. IV, ch. 19, $. 2. **) Ess, IV, ch, 19, 8. 3—13. 


Fiſcher, Bacon, 40 








Achles Kapitel. 


Gefammtrefultat der Inde’fdhen LXehre und deren Anwendung 
anf Wiſſenſchaft, Religion, Staat, Erziehung. 





I. 
Das wiſſenſchaftliche Geſammtreſultat. 


1. Eintheilung der Wiſſenſchaften. 

Das Gebiet der menſchlichen Erkenntniß iſt ausgemeſſen 
und das Endergebniß faßt ſich leicht und einfach zuſammen. 

In Betreff ihrer Art theilt ſich die Erkenntniß in intui- 
tive und demonftrative, welche lettere durch fichere und wahr: 
fcheinlihe Gründe gefchieht und alle Grade der mittelbareu 
Gewißheit durchläuft. 

In Betreff ihrer Objecte hat fie zwei Hauptgebiete: Die 
Borftellungen und deren Zeichen; das Gebiet der Vorftellungen 
bezieht fich theil® auf die Natur der Dinge, theils auf die 
menſchlichen Lebenszwede. Daher unterjcheidet Locke drei 
Hauptwilfenfchaften: die der Dinge, die er im weiteften Sinn 
des Worte „Phyſik“ nennt, die praftifhe Philofophie oder 
Ethik, die Wiffenfhaft von den Zeihen (Semiotif), wozu 
die Logik gehört. *) 


*) Ess. IV, ch. 21. 


627 


Vergleichen wir beide Eintbeilungen, fo fällt unter bie 
intuitive Erfenntniß die pfychologifche Selbſterkenntniß, unter 
die demonjtrative, die durch fichere Gründe ftattfindet oder auf 
Borftellungen beruht, die wir felbft gemadt haben, die Ma— 
thematif und Moral, während ſich auf unfere unmittelbare 
Selbjterfenntniß die natürliche Theologie und Religion grün 
den; unter die demonftrative Erkenntniß durch Wahrjcheinlich- 
feitsgründe gehört die fenfitive Effenntnif, das gefammte Ge- 
biet der äußern Erfahrung, die Naturwiffenfchaft oder Phyſik 
im engern Sinn. 


2. Wiffenfchaftliche Aufgaben. Lode und Bacon. 


Die Naturwiffenfchaft ift an die äußern Sinne gewieſen, 
an die auf Wahrnehmung, Beobadjtung, Experiment gegrün- 
dete, durch Feine vorgefaßten Hypotheſen und Grundfäge be- 
irrte Erfahrung. Hier finden wir Rode ftets im Einverftänd- 
niß mit Bacon; wenn er den inductiven Gang der Erfahrung 
nicht näher zergliedert, fo Hat er es für unnöthig gehalten, 
weil er diefe Arbeit durch Bacon geleiftet ſah. Ganz wie 
diefer urtheilt Locke, daß die richtig geleitete (rightly directed) 
Erfahrung auf phyſikaliſchem Gebiet nicht zu gelehrter All⸗ 
wiffenheit, fondern zu nüglichen Kenntniffen und Erfindungen 
führe, daß Erfindungen wie die Buchdruckerkunſt und der 
Kompaß (er braucht die conftanten baconifchen Beifpiele und 
fügt. die Entdedung der Chinarinde Hinzu, die Bacon noch 
nicht Tannte) der Menjchheit größere Dienfte geleiftet haben, . 
als die Werfe der chriftlichen Xiebe, die Errichtung der Armen- 
häufer und Hospitäfer. *) 


*) Ess. IV, ch, 12, 8. 12. 
40 * 





628 


Er unterfcheidet fih von Bacon, indem er Mathematik, 
Moral und natürliche Theologie als demonftrative Erfenntniffe 
gelten Täßt und aus der Natur des menſchlichen PVerftandes 
als foldhe begründet. Was bie Mathematit und deren Ans 
wendung auf die Phyfit, die mathematifche Naturphilo- 
fophie, betrifft, jo blidt Xode voller Bewunderung auf 
Newton. In der Sittenlehre und Theologie (natürlichen Re— 
figion) eröffnet er die Aufgaben, welche die englifhe Moral- 
philofophie und den englifchen Deismus bewegen. 


3. Die pſychologiſche Frage. 
Condillac, Berkeley, Hume. 


Ueber die Natur der menschlichen Seele finden wir Locke's 
Anfihten in Schwankungen, die fein Standpunkt mit fich 
brachte. Die Thatfachen unferes eigenen Denkens und Wol- 
lens, unjere Vorftellungen und Begehrungen find unmittelbare 
Dbjecte der innern Wahrnehmung, das ‘Dafein derfelben ift 
intuitiv erkennbar. Nichts ift gewifjer, als daß wir denfender 
Natur find. Diefer Sat kommt den cartefianifhen jo nah 
und grenzt, wie es fcheint, fo dicht an den Sat: „wir find 
denfende Wefen, denkende Subftanzen“, daß Lode felbft an 
manden Stellen von der Immaterialität der Seele und der 
Unmöglichkeit des Gegentheils mit der größten Sicherheit 
vedet.*) Aber fein Standpunkt fordert die Unerfennbarfeit 
der Subftanz. Was die Seele an fi ift, bleibt unbelannt. 
Jetzt erfcheint ihre Immaterialität nicht mehr gewiß, fondern 
nur noch wahrſcheinlich.“*) Aber die Subſtanz ift völlig un— 


*) Ess. II, ch. 23, 8. 16.  **) Ess. II,.ch. 27, $. 25. 


629 


befannt und unerlennbar. Was die Dinge an fi find, Fällt | 


darum unter Teinen Grad der Wahrfcheinlichkeit. Und felbft 
die Wahrfcheinlichkeit eingeräumt, fo ift immer das Gegentheil 
noch möglid. Wir wiffen nicht, was die ‘Dinge, die wir we⸗ 
gen ihrer Wirkungsart Geifter oder Körper nennen, an ſich 
find; es ift daher möglich, daß durch göttlihe Allmacht (was 
ist bei Gott nicht möglich?) der Materie das Denken beigelegt 
und die Seele materieller Subitanz iſt. Sie ift vielleicht 
materiell.*) So wird die Immaterialität der Seele von Locke 
jest für gewiß erklärt, jest für unerkennbar, jegt für zweifel- 
haft. Nicht aus Laune, fein Standpunkt felbft blickt nach allen 
drei Seiten. Die innere Wahrnehmung fagt: „du biſt den- 
fend, nichts iſt gewiſſer!“ Die Kritif der Verftandesbegriffe 
fagt: „bie Subftanz ift ein Begriff ohne Vorſtellung, das 
Weſen der Dinge iſt unerkennbar, alſo auch das deinige!“ 
Der Senſualismus ſagt: „deine Seele iſt von Natur leer, 
wie ein unbeſchriebenes Blatt, ihre Vorſtellungen ſind Ein⸗ 
drücke, Eindrücke von außen!” Was iſt noch für ein Unter- 
ſchied zwiſchen einem eindrucksfähigen, von außen impreſſiona⸗ 
beln Dinge und einem materiellen? Womit Locke die leere 
Seele auch vergleichen mag, ob es eine Tafel, Papier, Wachs 
oder was ſonſt iſt, die Vergleichung muß materialiſtiſch ausfallen. 
Darüber entſtand ſein Streit mit dem Biſchof Stillingfleet, 
der Locke's Seelenlehre als eine grobe Ketzerei angriff, und 
es begreift ſich, wie Locke um dieſes Punktes willen für einen 
Materialiſten gelten konnte ſowohl bei einem Gegner wie 
Stillingfleet, als bei einem Anhänger wie Voltaire.“*) Auch 


*) Ess. IV, ch. 3, 8. 6. 
**) Voltaire, Lettres philos. Lettre sur M. Locke, 





630 


Samuel Clarke befämpft diefen Materialismus in Xode, deſſen 
Philoſophie er ſonſt aufs höchſte anerkennt. 

Locke's Theologie gründet ſich auf die Pfychologie, unfere 
demonftrative Gotteserkenntniß beruht auf unferer intuitiven 
Selbfterfenntniß. Wenn nun die Grundbeſtimmungen über die 
Natur der Seele zwifchen Spiritualismus, Stepticismus und 
Meaterialismus ſchwanken, fo ift zu fürdhten, daß der deiftifche 
Dberbau einftürzt. Er gründet fi) auf den Sag: „id; dene, 
ich bin denkend thätig.” ‘Der Sat Tann zwei Arten der Ge⸗ 
wißheit beanspruchen, die metaphufifche und empirifche, er kann 
als Ausſpruch der rationalen Piychologie oder blos der innern 
Wahrnehmung gelten wollen; im erſten Tall bedeutet er: „ich 
bin eine denkende Subjtanz, die Seele ift an fi) geiftiger 
Natur“, im zweiten: „ich befite die Eigenfchaft oder das Ver⸗ 
mögen zu denken“, wobei über die Subftanz, die ber Eigen- 
haft des Denkens zu Grunde Tiegt, gar nichts ausgefagt wird. 
Bei Tode gilt der Sat nur in der zweiten Bedeutung, die er 
für ausreichend anfehen kann, um feinen Deismus zu tragen. 

Der Sat von unferer denfenden Natur gelte alfo nicht 
als ein Ausspruch der Metaphyſik oder rationalen Pſychologie, 
die jo ungültig ift als der Begriff der Subjtanz, er gelte nur 
auf Grund ber inneren Wahrnehmung. Was gilt diefe felbit? 
Wenn die Seele leer ift wie ein unbefchriebenes Blatt, fo 
empfängt fie die VBorftellungen fünmtlich als äußere Eindrücke, 
d. h. durch äußere Wahrnehmung oder Senfation, die Neflerion 
hat das Nachſehen; was in uns gefchieht und von der Reflerion 
vorgeitellt wird, iſt durch die Senfation verurfacht, daher 
diefe das einzige Grundvermögen, die alleinige Quelle unferer 
Borftellungen. Es ift nicht einzufehen, was bie Neflerion als 
cin befonderes davon unabhängiges Vermögen nod) fol. Der 





631 


Senfualismus ift darum genöthigt, in der baconifch-Tode’fchen 
Kichtung weiter zu gehen und zu erklären, alle Erfenntniß fei 
Srfahrung d. 5. Wahrnehmung, diefe fei nichts als Senfation 
d. h. Wahrnehmung durch die Sinnesorgane. Dies der Sak 
des franzöfifhen Senfualismus, der in Condillee Hervortritt 
und fi in feinem weitern Verlauf dem Materialismus zu- 
wendet. 

Sind unfere Vorftellungen nur Senfationen, äußere Ein- 
drüde, welche die Körper außer uns verurfaden, fo find fie 
blos Veränderungen unferer Törperlichen Drgane d. h. Be- 
wegungen, von denen nach Locke's eigener Erklärung nie 
einzuſehen iſt, wie ſie jemals Perceptionen ſein oder werden 
können. Sind aber die Körper nicht die Urſachen unſerer 
Vorſtellungen, jo find dieſe auch nicht die Wirkungen ver Kör- 
per, alfo auch nicht deren Abbilder, auch nicht in Rüdficht der 
primären Qualitäten, fo find alle (nicht willfürlich gemachte) 
Borftellungen Originale d. 5. die wirklichen und alleinigen 
Erienntnißobjecte, die Dinge felbft. Der locke'ſche Senfualis- 
mus widerftrebt den Materialismus, er muß in diefem auti- 
materialiftifchen Charakter aufgefaßt und folgerichtig entwidelt 
werden: dies gejchieht durch den englifchen Idealismus, den 
-Berfeley entfcheidet. 

Wir finden in Locke's Lehre drei Tendenzen angelegt und 
regfam, die auch gelegentlich, wie 3. B. in den Urtheilen über 
die Natur der menschlichen Seele, alle drei zu Wort kommen, 
die ſämmtlich durch den Senfualismus bedingt find, und deren 
jede in der Fortbildung des leßteren fi) Luft gemacht und 
ihre eigenen Stimmführer gefunden hat: die materialiftifche 
Zendenz in Condillac und feinen Nachfolgern, die idealiftifche 
in Berleley, die jfeptifche in Hume. 





652 


4. Die metaphyſiſche Frage. 


Kant und Berbart. 


Vergleichen wir das negative Ergebniß der Lode’fchen 
Lehre, den Sak von ber Unmöglichkeit einer Erfenntniß des 
Weſens der Dinge (Metaphyfif) mit den fpäteren Philofophen, 
jo fpringt die Mebereinftimmung zwifchen Locke's Verſtandes— 
fritit und Kants Bernunftkritit in die Augen. Xode und 
Berkeley find die Vorftufen zu Hume; Tode, Berkeley und 
Hume die Vorftufen zu Kant. 

Die Frage des Senfualismus ging auf den Urfprung der 
Vorftellungen und führte darum nothwendig zu einer Unter: 
ſuchung über deren Geltung und Erkenntnißwerth, zu einer 
Kritik der Begriffe, die das gewöhnliche und erfahrungsmäßige 
Denken fortwährend braucht, wie Ding und Eigenfchaft, Sub: 
ftauz, Kraft, Urſache, Ich u. f. f. Gerade: die Kritik diefer 
Begriffe ift von Herbart zur Grundfrage aller PHilofophic 
und darum zur Aufgabe der Metaphyſik gemacht worden; ee 
ift daher nahegelegt und lehrreich, Locke und Herbart zu ver: 
gleichen und den Verfud über den menſchlichen Verftand aus 
dem Gefihtspunfte der herbart'ſchen Metaphyſik zu würdigen; 
dies ift durch Hartenftein, einen der erjten unter den Ver⸗ 
tretern diefer Metaphyſik, in einer Abhandlung, die Locke und 
Leibniz zufammıenftellt, fo geſchehen, daß er die locke'ſche Lehre 
treffend in ihren Hanptzügen dargeftellt, aber nicht richtig ge- 
würdigt hat. Er mißt fie mit herbart'ſchem Maß und findet, 
daß ihr Schwerpunkt in der Kritit jener Begriffe, darum ihr 
Hauptverbienft auf dem Gebiet der Metaphyſik zu fuchen fe; 
die Fritifche Frage nach der Geltung und dem Erkenntnißwerth 
der Begriffe fei ganz unabhängig von der Trage nad) ihrem 





633 


Urfprunge, jene ſei metaphyſiſch, diefe pfychologifch, und Locke's 
Bedeutung liege in der metaphufifchen Richtung. Daher fieht 
Hartenftein in Locke Tieber einen Vorläufer Herbart’8 als den 
Fortbildner Bacon's und will von einem „befonderen Einfluß‘ 
des lettern auf Locke überhaupt nichts wiſſen. Er vermißt 
bei diefem „rörterungen, die auf einen foldhen Einfluß 
Schließen Taffen”“. Mit Unredt. Wir find den Spuren dieſes 
mächtigen Einfluffes überall begegnet, die Stellen finden ſich 
haufenweife, wenn auch nicht ausdrücklich der Name Bacon 
dabeifteht. Hartenftein bemerkt, „es ſei für das Verhältniß 
beider geradezu entſcheidend“, daR die Induction bei Bacon 
zur Wahrheit, bei Lode dagegen nur zur Wahrfcheinlichkeit 
führe; das ift ein tonlefer Unterſchied, denn Bacon Tennt 
ftreng genommen feine andere Wahrheit als die annähernbe 
der Wahrſcheinlichkeit. Wenn endlich, was die Hauptſache ift, 
Hartenftein bei Locke die metaphhfifche Frage von der pſycho— 
logifchen getrennt fehen will, al8 ob hier unabhängig von der 
Herkunft der Begriffe etwas über deren Geltung und Werth 
ausgemacht werde, fo hat er den Standpunkt Locke's damit 
völlig verfchoben. Denn alles hängt bei Locke an der Frage 
nad) dem Urfprung der Vorftellungen, darin liegt bei ihm 
wie bei Kant der Fritifche Charakter der Unterfuchung, und 
was er weiter über den Erfenntnißwerth ber Begriffe aus- 
macht, ijt völlig bedingt durch die fenfuwaliftifche Theorie ihres 
Ursprungs. Die ganze Lehre von dem Begriff der Subftanz 
und feiner blos nominellen Geltung fteht unter der Einficht, 
daß diefer Begriff fein Datum enthält, das aus der Wahr- 
nehmung entfpringt, und ift daher eine einfache und directe 
Folge der Lehre vom Urfprung der Borftellungen. Weil 
Hartenftein die Analogie zwifchen Locke und Herbart größer 


634 


fehen wollte als fie ift, darum hat er die wirkliche Verwandt⸗ 
haft zwiſchen Lode und Bacon nit mehr gejehen; er rückt 
den englifchen Philofophen fo nahe an den deutjchen Meta— 
phufifer, daß er darüber die Herkunft des erften aus dem Ge- 
fihte verliert.*) 


11. 
Religionslehre. 
1. Gegenfat zwifchen Lode und Hobbes, Die Aufklärung. 


Wo fich Lode von Bacon unterfcheidet in der Begründung 
der demonftrativen Erfenntniß, auf dem Gebiete der Mathe- 
matif und Moral, in der Anwendung der dedunctiven Methode 
auf die moralifchen Wilfenfchaften im weiteften Sinn, da läßt 
er fih mit Hobbes vergleichen. Aber in der Art und Weile, 
wie Locke aus der Natur der imenfchlichen Erkenntniß den 
Glauben, die natürliche Neligion, das Verhältniß zwiſchen 
Vernunft und Offenbarung begründet, haben wir fchon feinen 
Unterfhied erfannt ſowol von Bacon al8 Hobbes. Bei ihm 
giebt es feinen blinden Dffenbarungsglauben wie bei Bacon, 
feinen Glauben als blinden Gehorfam, als Beftandtheil der 
Unterthanenpflit wie bei Hobbes. Der Glaube paffirt die 
Vernunftkritik: das bedeutet eine wichtige Krifis in der Fort- 
bildung der Erfahrungsphilofophie, den Durchbruch derjelben 
zur Aufflärung. Sind aber die religiöfen Weberzeugungen 
unabhängig von der Unterthanenpflicht, fo wird auch die letz⸗ 


*) Locke's Lehre von der menſchlichen Erkenntniß iu Vergleihung 
mit Leibniz Kritik derfelben, dargeftellt von G. Hartenftein. Abhdlg. 
der philol.-hiſt. Claſſe der königl. ſächſ. Geſellſchaft der Wiffenfchaften, 
Bd. IV, Nr. U, ©. 113—198. Bgl. bei. S. 145 und 189. 





635 


tere nicht mehr im unbedingten Gehorſam, in der völligen 
Unterwerfung, in ber gänzlichen Nechtsentäußerung beftehen 
fönnen, wie ber „Leviathan‘ fie forderte. Mit der Religions: 
lehre ändert fi) die Stantslehre. Hier gewinnen wir bie 
Ausfiht in den Gegenfag zwifchen Lode und Hobbes, die 
Lehren beider Philofophen verhalten fich zueinander, wie die 
englifche Revolution zum Abfolutismus der Stuarts und das 
freie Chriſtenthum zur englifchen Hochkirche. 


2. Bernunftmäßigleit des Chriftentbums. 


Lode vergleicht die natürliche Religion mit den Urkunden 
der chriſtlichen und findet den Kern der letzteren nicht in äuße- 
ren Begebenheiten, fondern in der Xehre, er findet den Kern 
der Lehre in dem Erlöfungsglauben, in dem Glauben an bie 
göttliche Sendung Iefu zum Zwed der Erlöfung, in der läu— 
teruden und rechtfertigenden Macht diefes Glaubens; wenn wir 
im Guten thun, was wir fünnen, fo wird uns der fortwirkende 
Geiſt Ehrifti beiftehen zu thun, was wir follen. Im diefer 
Einfachheit ift der riftliche Glaube der menſchlichen Vernunft 
einleuchtend und conforın, das ift das Grundthema der Tode’- 
hen Schrift „von der Bernunftmäßigfeit des Chriften- 
thums“. 

Die Summe des chriſtlichen Glaubens liegt in dem Satz: 
„Jeſus iſt Chriſtus“. So wollte auch Hobbes den Glaubens— 
inhalt gefaßt wiſſen. Aber bei ihm galt Chriſtus als König 
des künftigen meſſianiſchen Reichs, als ein Herrſcher, deſſen 
gegenwärtige Stellvertreter die weltlichen Könige ſind; bei 
Locke dagegen iſt Chriſtus der erlöſende ſittliche Geſetzgeber, 
der keinen weltlichen Stellvertreter hat, ſondern durch den hei⸗ 
ligen Geiſt in denen fortwirkt, die an ihn glauben. 








636 


3. Grundſatz der Toleranz. Trennung von Kirche und Staat. 


So gründet fi) bei Lode der chriſtliche Dffenbarungs- 
glaube auf die Einficht, daß fein Inhalt dem göttlichen Willen 
entfpriht, wie wir den letzteren aus Vernunftgründen borftel- 
len. Damit ift der Glaube auf eine Grundlage geftellt, die 
jeden Zwang ausschließt und unmöglich macht. Einfichten und 
Gründe laſſen fich nicht erzwingen, ber veligiöfe Glaube ift 
unerzwingbar, darum frei. Was man vernünftigerweife nicht 
fann, darf rechtlicherweife aud) nicht gefordert werden, daher 
giebt es Feine Macht, der in Rückſicht auf den Glauben ein 
Zwangsrecht zufteht, eine ſolche Macht hat weder der Staat 
noch die Kirche. Weil die Intoleranz in Wahrheit eine Un- 
möglichkeit ift, fo gilt die Toleranz als eine ſelbſtverſtändliche 
Pflicht, als ein Ariom, deffen Verlegung aller Vernunft umd 
allem Recht aufs äußerfte widerftreitet: das ift das Grund: 
thema der lode’ichen „Toleranzbriefe“. 

Die Stantsgefete reichen nur fo weit als die Staats: 
gewalt, welche die Anerkennung und Erfüllung der Geſetze zu 
erzwingen im Stande fein muß; darum dürfen die Glaubens: 
gebote niemals Staatsgejege und der Glaube Feine Staate- 
einrichtung fein. So folgt aus dein Grundfak der Toleranz 
die Nothiwendigfeit einer Trennung von Staat und Kirche, 
wobei unter Kirche nichts anders verftanden wird als Religions: 
genofjenfchaft; denn ift die Kirche felbft Staat, fo bedeutet bie 
Unabhängigkeit des kirchlichen Staats vom bürgerlichen foviel 
als die Eriftenz eines Gegenſtaates, der die Sicherheit des 
politifchen Semeinwefens bedroft. Die Trennung von Staat 
und Kirche, wie fie Xode fordert, bedeutet die Freiheit der 
veligiöfen Belemutniffe, deren gegenfeitige Duldung und Ans 


637 


erfennung; der Staat ſchützt jedes Bekenntniß, das dem bürger- 
lihen Eide zur Grundlage dienen kann, und erlaubt Teines, das 
die bürgerliche Sicherheit gefährdet, indem es 3. B. die Rechts- 
pflichten gegen Andersglänbige aufhebt. Auch die Neligions- 
genofjenfchaft darf Feinen Religionszwang ausüben, fie hat fein 
Recht zu richten und zu verfolgen, die duldfame Glaubens- 
gefinnung ift „evangeliſch“, die herrſch- und verfolgungsſüch— 
tige „papiſtiſch“. Der Grundſatz der Toleranz gilt unbedingt, 
ſowol von Seiten des Staates als der Kirche, er iſt eine 
ebenſo nothwendige politiſche Pflicht als religiöſe, denn cr be- 
trifft die Geltung eines unveräußerlichen Rechtes. 

In Uebereinftimmung mit Hobbes ift Locke ein Gegner 
der Kirchenherrichaft, im Widerftreit mit jenem ift er ein Geg- 
ner der Staatskirche. Im Hinblick auf die Firchlichen Zeit- 
verhältniffe Englands, insbefondere die Zeitfrage der „Com⸗ 
prehenfion“, die das Verhältniß der bifchöffichen Kirche zu 
den Diffenters betraf, war Locke „Iatitudinarifch” gefinnt und 
ihrieb ganz im Sinne Wilhelms III. für die freiere, zur 
Einigung geneigte Tirchliche Richtung. In feinem Verfaffungs- 
entwurf für Carolina, wo er nicht mit gegebenen Tirchlichen 
Berhältniffen zu rechnen, fondern freie Hand hatte und das 
Berhältnig von Religion und Staat gleichfam von vorn ein- 
richten Fonnte, brachte er den Grundſatz ber Zoleranz rein und 
folgeridhtig zur Geltung, er machte die Trennung von Staat 
und Kirche conftitutionell und ließ die Religion unter dem 
Schutze des Staates, aber unabhängig von deifen Gewalt in 
der Form freier Belenntniffe und Gemeinden exiftiren.*) 





*) Bol. Lechler, Geſchichte des engliſchen Deismus, S. 172 — 79. 


638 


III. 
Stantslehre. 


1. Naturzuftand und Vertrag. 


Locke's Staat ift Fein Leviathan. Hobbes mußte für den 
Staat eine fchranlenlofe Gewalt fordern, weil nur dadurd) 
jenes Chaos des Krieges aller gegen alle, das hier zufammen- 
fällt mit dem menfchlichen Naturzuftande, wirklich beendet und 
vernichtet werden konnte. Iſt der Naturzuftand ein foldher 
Krieg, jo giebt es feine andere Rettung, als den Vertrag, der 
eine abfolute Gewalt errichtet, die alle Einzelrechte völlig auf- 
hebt. Da num der Tode’ihe Staat diefer Leviathan nicht ift, 
fo wird auch der locke'ſche Naturzuſtand nicht jener Krieg fein 
können. Die Natur hat die Menfchen gleich gejchaffen als 
Weſen derfelben Gattung, fie bat, wie verfchieden die Indi⸗ 
viduen aud) fein mögen, Teines dem andern unterworfen, alfo 
einen Zuftand „ber Gleichheit und Breiheit” gefest, worin bie 
Menſchen brüderlih miteinander verkehren, während fie im 
Kriege fi) gegenfeitig befämpfen und zerftören. So find 
Natur: und Kriegszuftand bei Hobbes identifch, bei Tode ent- 
gegengefett und nur darin einander gleih, daß in beiden bie 
den Einzelnen übergeorbnete und überlegene Macht fehlt, die 
das Naturgefeß gegen gewaltfame Uebertretung und das natür- 
liche Recht gegen gewaltfame Angriffe fihert. Diefer Mangel 
fordert Abhülfe durch die Errichtung einer gemeinfameh Ge: 
walt, die das Recht unfehlbar zur Geltung bringt, gegründet 
auf einen Vertrag, der nur durch die freie Einwilligung der 
Contrahenten zu Stande kommen und deffen Zwed nicht die 





639 


Aufhebung, fondern nur die Erhaltung und Sicherung ber 
natürlichen Rechte fein Tann. 


2, Der Staat und die Stantögewalten. 


Die fo errichtete gemeinfame Gewalt ift die politifche oder 
der Staat, dur ihren Urfprung und Zwed von jeder an- 
“dern Gewalt genau unterfchieden. ‘Die väterliche Macht grün- 
det fich nicht auf Vertrag, fondern auf ein natürliches Ver⸗ 
hältniß, die bespotifche weder auf Vertrag noch auf Natur, 
Sondern auf gewaltfame Unterwerfung; der väterlihen Gewalt 
fteht gegenüber der Unmündige, der despotifchen der Sklave, 
der politifchen der freie Mann (Bürger). “Daher ift die poli= 
tifche Gewalt weder patriarchaliſch nod) despotifh, der Staat 
ift weder Familienherrfhaft noch Tyrannenherrſchaft. In Ro- 
bert Filmer befämpft Locke den Vertreter der patriarchalifchen 
Stantstheorie, in Hobbes den der despotifchen. 

Der Vertrag, auf dem allein die politifche Gewalt ruht, 
macht ans der Heerde ein Gemeinwefen oder einen Staat 
(commonwealth = civitas); in ihm herrſcht nicht der ein- 
zelne, fondern der gemeinfane oder Öffentliche Wille d. h. das 
Geſetz. Darum ift die höchſte politiihe Gewalt (supream 
power) die gefeßgebende, diefe ift der Souverän, die Art ihrer 
Verfaſſung unterfcheidet die Staatsform in Demokratie, Dli- 
garchie, Monarchie: im erften Ball herricht das Volk durch die 
Mehrheit, im zweiten eine Minderzahl, im dritten ein Ein- 
ziger, beftimmt entweder durch Erbfolge oder durch Wahl.*) 

Geſetze werden nicht fortwährend gegeben, wohl aber müf- 
fen die gegebenen unausgeſetzt in Kraft fein und ausgeführt 





*, Treatises of civil government. Book II, ch. X. 


640 


werden; daher braucht die gefeßgebende Gewalt nicht fort: 
während thätig zu fein, wohl aber bedarf der Staat ciner 
ausführenden Gewalt, die ftets fungirt, einer beftändigen 
Staatsleitung oder Erecutive, der die Führung der Staate- 
gefhäfte nad) außen und immen obliegt. Nach innen Hat fic 
die Gefeke auszuführen, das Gemeinweſen zu verwalten, gefeß- 
widrige Handlungen zu richten und zu ftrafen: das ift die 
Executive im engern Sinn, deren Thätigkeit adminiftrativ und 
richterlich ift; nach außen beforgt fie das Verhältniß zu an- 
deren Staaten. Da die Staaten gegenfeitig nicht unter ge- 
meinfamen Geſetzen ftehen, fo befinden fie fi im Natur: 
zuftande und können ſich feindfelig oder friedfid) zueinander 
verhalten, Kriege führen, Verträge eingehen, Bünduiſſe ſchließen. 
"ode nennt die Executive in Rückſicht auf die äußeren Staats- 
intereffen (jofern fie das Verhältniß zu anderen Staaten regu— 
lirt und ordnet) „füberative Gewalt (federative power)”; und 
unterfcheidet denmad) näher drei Staatsgewalten: die legis: 
lative, executive und föderative. 


3. Die Trennung der Staatsgewalten. 


Wie weit reicht die Staatsgewalt? Wie verhalten fid) 
zueinander die beiden Hauptgewalten, die gefetgebende und 
ansführende? Das find die zwei Sardinalfragen, die Lode im 
Gegenſatz zu Hobbes entfcheidet. 

1) Die Staatsgewalt ift nicht abfolut. Sie ift nicht 
Willfürherrfchaft, fondern Gefeßesherrfchaft, befchränft durch 
ihren Urfprung und ihren Zwed; ihr Zwed ift das Gemein- 
wohl, ihr Urfprung der Vertrag, der die natürlichen Rechte 
der Perfon, Leben, Eigenthum, Freiheit, nicht aufhebt, fondern 
fidert. Die Staatsgewalt ift an Geſetze gebunden, die fie 





641 


nicht willfürlich verändern, nicht dictatorifch durch Ausnahms⸗ 
gefeße ungilltig machen, nicht über die durch die unveräußer- 
lichen Rechte der Perſon geſetzte Schranke ausdehnen Tann. 
Diefe Gewalt hat ihren rechtmäßigen Träger; jede Willkür- 
herrſchaft ift Tyrannei, jede rechtswidrige Ergreifung der ge- 
fegmäßigen Gewalt Ujurpation. . 

2) Das Gefeß allein herrſcht. Die ausführende Gewalt 
fann daher der gefeßgebenden nie übergeordnet, fondern nur 
entweder nebengeordnet oder untergeordnet fein; in diefem Fall 
iſt fie durch die gefeßgebende Gewalt eingefeßt und deren DBe- 
amter, in jenem ift fie an der gefeßgebenden Gewalt betheiligt 
und bildet einen Factor derjelben, ohne deſſen Mitwirkung 
fein Geſetz zu Stande kommt, dann ift ihr perſönlicher Trä- 
ger nicht die höchſte Gewalt, fondern nur „die höchſte Per- 
fon’ im Staate, das conftitutionelle Oberhaupt, wie in Eng- 
fand der erbliche König, deſſen Prärogative Lediglih darin 
bejtehen, daß er gewilfe zum Gemeinwohl nothwendige Hand- 
lungen vollziehen barf, zu denen Feine andere Perfon ber 
rechtigt ift. 

3) Soll der Misbrauch der Staatsgewalt verhütet und 
die politifche Freiheit verbürgt werden, fo hängt alles davon 
ab, daß die beiden Hauptgewalten des Staates richtig gegen- 
einander gejtellt find. In derfelben Hand vereinigt, bilden 
bie Öffentlichen Gewalten einen Abjolutismus, mit dem fid) 
die Freiheit nicht verträgt. Daher ift ihr richtiges Verhält- 
niß die Trennung. ‘Die Tönigliche Gewalt ift nicht die ge- 
feßgebende, fie bildet einen Factor derfelben und ift felbft ab- 
hängig von den Geſetzen. 

Wenn der König die Geſetze verlegt, fei es daß er ſich 
eine Gewalt anmaßt, bie er nicht hat, oder die Gewalt, die 

Fiſcher, Bacon, 41 





» ı 


642 


er hat, misbraucht, fo handelt er verfafjungswidrig und zer⸗ 
ftört die Bedingungen, unter denen allein er das Oberhaupt 
des Staates ift und als folches gilt; dann hat er nicht al 
König gehandelt, fondern als Privatperfon und damit dat 
Necht auf den Gehorfam und die Treue der Unterthanen ver- 
loren; dann find die beiden Gewalten des Staates im Streit, 
gefetgebende und regierende, Boll und König, und da es in 
diefem Streit Teinen Richter auf Erden giebt, fo bleibt nichts 
übrig als „der Appell an den Himmel“. Darunter verfteht 
Locke die Erhebung des Volle zur Wiederherftellung des ge 
brochenen Rechts: das Recht der Revolution, die der ver 
faffungsbrüdige König verfchuldet, und Lode findet, daB zur 
Verhütung folder Verbrechen, die Revolutionen erzeugen, fein 
befieres Mittel exifttrt, als dieſes Recht. Selbft Barclay, 
der Advocat der geheiligten Macht der Könige, habe eimän- 
men müſſen, daß es Fälle gebe, in denen das Boll zum 
Widerftand berechtigt fei, nur müfje alles mit der ſchuldigen 
Ehrfurcht geichehen und dem heiligen Haupte dürfe fein Haar 
gefrümmt werden. Aber wie folle man fi, fragt Lode, ein 
ſolches Verfahren vorftellen: die Gewalt abwehren ohne Gr: 
walt, zufchlagen, aber mit Ehrfurdt (strike with reverence)? 
Das fei eine Art der Gegenwehr, auf die der Spott Juvenal's 
paſſe: der eine fchlägt und der Widerftand des andern befteht 
darin, daß er — geichlagen wird! Ubi tu pulsas, ego va 
pulo tantum!*) 

Man erkennt deutlich), welche Beiſpiele Locke vor fich fah, 
als er feine Abhandlung von ber Staatsgewalt fhrieb: der ver: 
foffungsbrüchige Herrfcher, den das Volk vertreibt, ift Jakob II., 


*) Treatises of civil government. Book II, ch. XIX, 234. 


643 


der conftitutionefle König, den das Boll einjekt, ift MWil- 
beim IIE, und Lode’s Stantslehre die Rechtfertigung der eng- 
liſchen Revolution von 1689. 

Seht ift der Gegenfat zwiſchen Hobbes und Locke in 
allen Punkten entwidelt und einleuchtend: völlig anders als 
dort verhalten fich hier Naturzuftand und Kriegszuftand, Staats- 
‚recht und Naturrecht, gefeßgebende und ansführende Gewalt, 
Staat und Kirche. 

Was das Verhältniß von Natur und Staat betrifft, ins- 
befondere die Faſſung des menjchlichen Naturzuftandes, fo ift 
3% 3 Rouffeau in feinem „Contrat social” dem Vor⸗ 
gange Locke's gefolgt. Was die Staatsverfaffung betrifft, 
insbejondere das Verhältniß der Stantsgewalten, fo. ift die 
Lehre von deren Trennung, wie fie Lode anfgeftellt und be- 
gründet hat, durch Montesquieu in feinem Werk „De l’es- 
prit des lois” fortgebildet und zum politifchen Freiheits dogma 
erhoben worden. Seitdem gilt der engliihe Staat in der 
Meinng der Welt als ein Mufter verfaffungsmäßiger 
Freiheit. 


IV. 
Erziehungslehre. 
1. Rode und Rofican. 


Schon Bacon hatte wiederholt und nachdrücklich darauf 
bingewiefen, daß die Erneuerung der Wiffenfhaft auch die 
der Erziehung jein müfje, daß man das Werk der Jugend⸗ 
bildung in die Hand nehmen, nicht wie ein berrenlofes Gut 


liegen laſſen und den Jeſuiten preisgeben folle, die mit fo 
41* 


644 


vielem Erfolge ſich fchon defjelben bemächtigt hätten; er dachte 
an den Fortfchritt der Wiffenfchaften im Großen und forderte 
darum die Drganifirung des Öffentlichen Unterrichtes durd 
den Staat, die Erziehungsfrage lag in feinem Geſichts⸗ 
freis, aber die Auflöfung derfelben und die nähere Beftim- 
mung der Erziehungsart überließ er der Zufunft.”) Man 
darf bei den Philofophen der neuen Zeit überhaupt das Be 
dürfniß nach pädagogifchen Reformen als eine perfünliche Lebens⸗ 
erfahrung betrachten, denn fie Hagen alle über die Unfrudt- 
barfeit der Schule, die fie an ſich felbft erlebt haben. In⸗ 
deffen Täßt ſich die Schule erft beffern, wenn die Aufgabe der 
Erziehung und deren Richtſchnur erkannt if. Und Hier ift 
Xode der erfte geweſen, der diefer Trage auf den Grund ging. 

Wie Lode durd feine Stantslehre Montesquieu wegwei— 
fend vorangeſchritten ift, fo verhält er fich ähnlich durch feine 
Erziehungslehre zu Rouſſeau, nur daß die Nachwelt unter 
dem vorherrſchenden Eindruck der franzöfifchen Schriftfteller 
die Herkunft derfelben von dem englifchen Philoſophen zu 
lange vergeffen und erſt der Hiftorifchen Belehrung bedinft 
hat, um auf Rode zurüdzubliden. Das gilt namentlich von 
Rouſſeau's pädagogifcher Dichtung in Rüdficht anf jene Schrift, 
die Locke eben fo befcheiden als richtig „einige Gedanken über 
Erziehung” nannte. Freilich Liegen zwifchen dem Tode’fchen 
Verſuch und Rouſſeau's „Emile“ faft fiebenzig Sahre, und 
nimmt man dazu, wie verfchieden die beiden Schriften find 
in Compofition und Schreibart, wie verihieden die beiden 
Zeitalter in ihrer Empfänglichkeit für den Gedanken einer 
neuen Erziehung, endlid wie Rouſſean felbft im Hinblid auf 


— 


*) ©. oben ©. 301 fig. 





645 


Locke weniger feine Herkunft als feinen Gegenfag bervorhebt, 
jo erklärt fi leicht, daß man zunächſt nicht aufgelegt war zu 
einer kritiſchen Vergleihung. Locke gab eine Sammlung guter 
Rathſchläge, gelegentlich niedergefchrieben, wenig ſyſtematiſch 
geordnet, für den Bater feines Zöglings beitimmt, für das 
Hans und den Brivatgebraudy berechnet, auf den Wunſch ei- 
niger Freunde veröffentlicht, in ihrer Wirkung auf die Kreife 
eınpfänglicher Familien beſchränkt. Nouffeau gab einen No- 
man, eine pädagogische Nebinfonade, die mitten in einer ver- 
dorbenen und der eigenen Bildung überfatten Welt den Ein- 
drud einer Rettung des Menſchengeſchlechts machen wollte 
und machte. 

Aber der Grundgedanke der Erziehungsreform gehört 
Locke und hängt mit den innerften Motiven feiner Lehre auf 
das genauefte zufammen. Dieſes Zuſammenhangs war fid) 
Locke völlig bewußt, und obwol ſich in feiner pädagogiſchen 
Gelegenheitsfchrift kaum eine Stelle findet, wo er die Ver⸗ 
bindungslinien mit feinem Hauptwerfe dergeftalt zieht, daß fie 
in die Augen fallen, bildet feine Erziehungslehre doch ein 
wohlgefügtes Glied feiner Philofophie. Unfere Aufgabe ift, 
fie als folches kenntlich zu machen und zu würdigen. 


2. Die Erziehung als Entwidinng. 


In den Örundlagen der locke'ſchen Lehre ift die Nicht- 
ſchnur der. menfchlichen Bildung vorgezeichnet. Alle Geiftesbil- 
dung entiteht und reift als eine Frucht der Erfahrung, die 
nur auf einem einzigen Wege zu Stande kommt, dem ber 
eigenen Wahrnehmung und Anſchauung; unfere Vorftellungs- 
zuftände haben ihren normalen Verlauf, worin fie ſich von 


646 


den einfachftern Elementen zu einer geordneten und reichen Vor⸗ 
ftelfungswelt entfalten, mit ihnen wachſen und Bilden ſich die 
Vorſtellungskräfte. Diefer Bildungsgang ift eine völlig natur: 
gemäße Entwidlung, in der nichts gefchteht, nichts refultirt, 
was nicht durch die eigene Erfahrung hindurchgegangen und 
in biefem Sinne perfönlich erlebt if. Daher läßt fich ber 
Grundgedanke der locke'ſchen Erziehungstehre kurz und treffend 
fo ausfpreden: die Erziehung werde Erfahrung, die Kunſt 
des Erziehers verwandele fi in die naturgemäße Entwicklung 
des Zöglings, fie fei nirgends Dreffur oder Abrichtung, fon- 
dern durchgängig Leitung, richtig geleitete Entwicklung! In 
diefem Sate liegt das Grundmotiv zur Reform, der Bruch 
mit aller fholaftifchen Erziehung, mit der Abrichtungsanftalt, 
mit der Schule als Bildungsfabrik; Hier ift dns Thema ge⸗ 
geben, das ſeitdem alle Erziehungsfyfteme von Bedeutung nicht 
verändert, nur interpretirt, ausgeführt umd in der Art der 
Ausführung berichtigt haben. 

Durch diejes ihr Thema iſt die Aufgabe der Erziehung 
auf drei Hauptpunkte gerichtet: das Subject, das Ziel und 
ben Gang ber Entwidlung. 


3. Die Entwidiung der Judividualität. Das fociale Ziel. 


Zur Entwidlung gegeben ift ein Individuum in feinem 

eigenthümlichen, durch Herkunft, Familie, Neigung, Fähigkeit, 
Gemüthsart beftimmten Naturell, welches bie Erziehung nicht 
ausrotten, noch ignoriren, ſondern forgfältig beachten und 
durch richtig geleitete Selbftthätigfeit bilden fol. So folgt 
ber zweite Sat, wodurch die Leitung einer taturgemäßen 
Entwielung näher beftimmt wird: die Erziehung entfprede 





647 


ber Individualität des Zöglings! Das Ziel und die reife 
Frucht der Entwidlung ift die männliche Wirkfamfeit im 
Dienft der Gefellichaft, die praftifhe und nütliche Weltbil- 
dung, dureh welche der ſociale Werth und die Öffentliche Werth- 
ſchätzung des Individuums bedingt find. Diefes Ziel der 
Brauchbarkeit und focialen Tüchtigfeit, die mit der Charalter- 
bildung Dand in Hand geht, foll die Erziehung vor Augen 
haben, daher lenke fie früh das Selbitgefühl des Zöglings in 
die Richtung des Ehrgefühls ohne dem kindlichen Alter Ab- 
bruch zu thun, fie ftrafe durch Beſchämung, felten und nur 
im all des Hartnädigiten Ungehorfams durch Schläge, fie 
belohne durch Lob und Anerkennung, die zu verdienen in dem 
Zöglinge felbft die unverhohlene Zriebfeder feiner Handlungs- 
weife fein fol. Man möge in dieſem Punkte Lode nicht mis- 
verftehen, als ob er aus dem Ehrgefühl des Zöglings nur 
einen KRunftgriff in der Hand des Erziehers machen wolle; 
das Spiel ift nicht verdedt, fondern offen und aufrichtig, es 
ift Tein Spiel, fondern Ernſt. Wer auf dem großen Schaus- 
plage der Welt focialen Werth durch gemeinnüßiges Handeln 
verdienen will, der muß die fociale Werthſchätzung begehren, 
der muß als Kind und Zögling das Lob ber Eltern und Lehrer 
ernfthaft umd eifrig eritrebt haben. Ohne diefe Triebfeder ift 
jenes Ziel weder zu fegen noch zu erreichen. Hat die Er⸗ 
ziehung das Ziel im Sinn, fo darf fie auch die darauf ge- 
richteten natürlichen Zriebfedern nicht außer Acht und Wirk⸗ 
fausfeit Iaflen.*) Gerade in diefem Punkte wendet fi) Rouſ⸗ 
jean mit Deftigleit gegen Lode; hier Liegt eine durchgängige 
Differenz beider. Wer wie Rouſſean Natur und Cultur in 


*) Some thoughts, 8. 56—61. 





648 


einen fchneidenden Contraſt ftellt, der wird aus Abſcheu vor 
der Geſellſchaft das fociale Ehrgefühl zu den verdorbenen Nei⸗ 
gungen zählen und in feinem Zögling nicht zu nähren, fon- 
dern vielmehr zu entkräften beftrebt fein. Anders aus an- 
dern Gefichtspunften urtheilte Locke. Da er jenen heillofen 
Sontraft nicht Tennt, fo mündet bei ihm der Weg der Er⸗ 
ziehung in die menfchliche Gefellfchaft als das Gebiet des ges 
meinnügigen Wirkens, während Rouſſeau feinem Emil bie 
Geſellſchaft und die große Welt zeigt, wie einft der junge 
Spartaner trunfene Heloten fehen follte. 


4. Die Privaterziehung und der Erzieher. 


Die Erziehung ift grundfalſch, wenn fie ftatt zu leiten 
dreffirt, ftatt den Individualitäten gerecht zu werden die Zög⸗ 
linge nad berfelben Schnur zieht, als Dbjecte, die zu der: 
felben Dreffur beftimmt find, wenn fie, ftatt praftifche Bil⸗ 
dung zu geben, unfruchtbare Gelehrſamkeit abrichtet. Im die- 
fer grundfalfchen Verfaffung findet ſich der Zuftand der Schule, 
der Öffentlichen, insbefondere gelehrten Erziehung. Daher for: 
dert Rode, um jene Uebel zu vermeiden, die von der Schule 
abgefonderte, häusliche und private Erziehung, die ihre Auf- 
gabe nur dann Löfen kann, wenn fie mit der menfchenkun- 
digen Einſicht in die Individualität des Zöglings und der 
welterfahrenen Abficht auf das praftifche Ziel die Weisheit 
und Gefchiclichkeit einer plans und ftufenmäßigen Leitung ver- 
bindet. Eine folde Erziehung muß in einer Danb Tiegen, 
fonft wird fie verpfufht. Daher ift die Individualität und 
Perjon des Erziehers von der größten Bedeutung, und es 
fommt alles darauf an, hier die richtige Wahl zu treffen, den 





649 


Mann zu finden, der dur den Umfang und Reichthum fei- 
ner Weltbildung, die Feinheit feiner Sitten, die ungelünftelte 
Beherrſchung alter Keidenfchaften feinem Zöglinge ein bejtän- 
diges Vorbild giebt und was diefer zu erftreben und zu wer- 
den hat, ihm nicht bloß lehrt, fondern in feiner ganzen Per⸗ 
fönlichleit gleihfam vorlebt. Solche Erzieher find felten, 
fie find in der That unbezahlbar und verdienen nicht nur den 
höchſten Preis, fondern bie hochne und aufrichtigſte Achtung 
der Eltern.*) 


5. Die Bedeutung des Spielend. 


Aus diefen Gefihtspunften folgen Teicht und einfach Locke's 
Erziehungsgrundfäge im einzelnen. An der Spite feiner Päda- 
gogik fteht ber Sat: „mens sana in corpore sano.” Den 
Zögling körperlich kräftig und tüchtig zu machen, benfelben 
in feiner Weife zu verweidhlichen und zu verzärteln, ift die 
erfte Bedingung und das Thema, womit Locke beginnt, und 
das er in einer Menge von Vorſchriften ausführt, deren einige, 
befonders was die Nahrungslehre betrifft, den heutigen Ein⸗ 
fichten wiberftreiten. **) 

Um die Individualität des Zöglings zu erkennen, muß 
der Erzieher die Bedingungen pflegen, unter denen fich bie 
- Eigenart des Kindes giebt, wie fie if. Das gefchieht in ber 
naivften Weife im Spiel. Es gehört zu ben Verdienften und 
pſychologiſchen Feinheiten der locke'ſchen Erziehungsiehre, daß 
fie den päbagogifhen Werth des Spielens erkannt und ge: 


*) Some thoughts, 8. 90. **) Ebend. $. 1-30. 


x 





650 


wärdigt hat, in Abſicht nicht blos auf den Erzieher, der den 
Zögling beobadtet, fondern auf die Bildung des letzteren felbft. 
Der Genuß des Spiebens Liegt in der zwanglojen Selbſithä⸗ 
tigkeit, daher das felbftgemachte Spielzeng einen weit größeren 
Genuß gewährt, als bie Fünftlich gefertigte Spielwanre. Hier 
lerne der Erzieher von der Natur des Kindes, er laffe ben 
Zögling fein Spielzeug ſelbſt machen und auf diefe Weiſe 
fpielend feine Selbftthätigleit üben und bilden, er gehe weiter 
und wende das Spiel an aud auf ben Unterricht, er ver- 
meide den unnatürlichen Zwang, der bem Kinde das Lernen 
zur Marter macht und dadurch von Grund aus verleibet, oft 
für da8 ganze Leben. Der Bücherzwang ift häufig der Tod des 
Lernens. Das Kind foll lernend fpielen, damit es fpielenb 
lerne, das Lernen foll ihm, wie das Spielen, Luft gewähren, 
auch das ernfte, arbeitsvolle Lernen. Daher wechſele Arbeit 
und Spiel, und lieber langweile fi das Kind, bis ihm das 
Lernen mie eine Wohlthat erfcheint, als daß es, an das Bud 
wie an eine Galeere gefchmicbet, das Lernen als die größte 
feiner Qualen verwänfdt. Die Pädagogik unferer Zeit ift 
diefen Weiſungen Locke's gefolgt, und bie Erziehung bat nichts 
dabei verloren, daß fih SKinderfchulen in Kindergärten vers 
wanbelt haben. *) 


6. Der Anihannngöunterricht und ber pädagogiſche Realismus. 


Ye anſchaulicher und brauchbarer die Unterrichtsobjecte 


find, um fo mehr beſchäftigen und feſſeln fie bie Selbſtthätig⸗ 
feit des Kindes, um fo Lieber wird gelernt. Hier vereinigt 


*) Some thoughts, $. 130. 





651 


ſich bie Rückſicht anf ben praltifchen Bildungszweck mit ber 
Räckſicht auf die natürlichen Neigungen des Zöglings, um in 
der locke'ſchen Erziehungslehre die Richtung amszuprägen, bie 
men gewöhnlich die realiftifhe nennt. Er verwirft den 
gelehrten Sprachunterricht und fordert ben praftifchen, bie 
Spraden follen gelernt werben durch Sprechen, zuerft fran⸗ 
zöſiſch, dann lateiniſch, das Griechiſche gehöre nicht in bie 
allgemeine Bildung, fondern in bie fpecififch gelehrte, der 
grammatifche Unterricht werde verbunden mit der Mutter- 
fprade. Der Anfchauungsunterricht beginne mit der Geo- 
graphie, dann folge Größenlehre, Arithmetit, Aftronomie, 
Geometrie, bie Aftronomie führe zu der Chronologie, zur 
Lehre von der Zeitordnung und Zeitrechnung, woran ſich na⸗ 
turgemäß der Gefhichtsunterricht knüpfe. Object ber praftifch- 
fittlichen Belehrung feien Moral, Naturrecht, vaterländifches 
Recht. Logik und Rhetorik tragen ihren naturgemäßen päda⸗ 
gogifchen Nuten nicht in der Disputirkunft, womit die vers 
altete Gelehrſamkeit Staat machte, fondern in der Darftellungs- 
funft, in der Ausübung der mündlihen und fchriftlichen Rede, 
wobei es gar nicht auf Schönrebnerei anlommt, ſondern auf 
den einfachen, richtigen, gewanbdten Ausdruck. Bon ben Kunft- 
fertigleiten find die äfthetifchen, mit Ausnahme des Zeichnens, 
in Locke's Augen pädagogijch werthlos, namentlich das Verſe⸗ 
maden und die Mufil, dagegen legt er großes Gewicht auf 
die gymnaſtiſchen und technifhen Künfte und fordert zur praf- 
tifhen Ausbildung, daß Gartenbau oder fonft ein Handwerk 
gelernt werde. Was das Reifen betrifft, fo erklärt er feinen 
Landsleuten, daß fie biefes Bildungsmittel gewöhnlich falfch 
anwenden, denn bie englifde Jugend an ber Hand des Men 
tor8 veife entweder zu früh oder zu fpät: zu fpät, wenn ber 


652 


Bildungszwed im Erlernen fremder Sprachen geſucht werbe, 
zu früh, wenn es fih um wirkliche Welterfahrung und die 
Einfiht in fremde Bildungszuſtände handele. 

Locke's Verſuch über Erziehung entfpricht feinem Verſuch 
über den menschlichen Verſtand. Dieſer lehrt den naturgefchicht- 
lihen Gang unferer Verftandesbildung, jener zeigt, wie biefe 
naturgemäße Geiftesentwidlung zu leiten unb durch richtige 
Leitung zu befördern ift. 


Nennles Kapitel. 
Die Kortbildung der locke'ſchen Lehre, 





J. 
Die ſenſualiſtiſchen Hauptprobleme. 


Die weitere Entwicklung der Erfahrungsphiloſophie iſt 
in der ſenſualiſtiſchen Faſſung angelegt und durch dieſelbe be⸗ 
ſtimmt, ſie ſteht unter Locke, wie der geſammte Empirismus 
unter Bacon. Daß alle Erkenntniß Erfahrung und zwar näher 
ſinnliche Erfahrung oder Wahrnehmung iſt, dieſe locke'ſche 
Grundlehre bildet die Vorausfegung, von der aus die folgen⸗ 
den Bhilofophen operiren, fie ift gleihfam das Schwungbret 
zum jedesmaligen Anlauf. Auch fehlt e8 nit an Aufgaben, 
welche die locke'ſche Lehre darbietet und in fich trägt, theils 
folde, die Rode felbft geftelit und an deren Löfung er ſchon 
die Hand gelegt, theils foldhe, die in der Grundlage feiner 
Philofophie enthalten find und deren Löfung den Standpunft, 
wie Locke ſelbſt ihn gefaßt hat, verändert. Jene wollen nur 
ergriffen und bearbeitet fein, denn fie liegen am Tage, diefe 
dagegen durch kritiſche Beurtheilung gefunden und entdedt 
werden, denn fie betreffen die eigenthümliche Art, wie Lode 
feine Lehre begründet. Dort bandelt es fih um die ſchon 


654 


geitellten Fragen der Religion und Moral, bier um das Fun- 
bament der Erfenntniß felbft; jene richten fi auf die Aus- 
bildung der locke'ſchen Lehre, biefe auf beren Fortbildung. 
Da die legteren die bewegenden Grundfragen find, fo ftehen 
fie im Vordergrund unferer Betrachtung. 

Es find drei Hauptpunkte, wodurch die eigenthümliche 
Faſſung und Lage des locke'ſchen Senfualismus beftimmt wird: 
fie betreffen die Wahrnehmungsvermögen, die Wahrnehmungs- 
objecte und beren Verhältniß. 


1. Die Wahrnehmnugävermögen. Senſation nnd Reflerion. 


Locke unterfchied zwei Wahrnehmungsvermögen, das äußere 
und innere, Senfation und Neflerion, die er einander neben- 
ordnete, als ob fie grundverfchteden und gleich urfprünglich 
wären, fie find nach Locke die beiden Quellen, wodurch wir 
unmittelbar Wahrnehmungsobjecte, elementare DVorftelungen 
ober „‚einfathe Ideen” percipiren. Seben wir nun mit Node, 
daß unfer Geiſt urfprünglich leer ift, wie eine „tabula rasa”, 
fo möge ihm — wir wollen diefen Punkt, der mit dem Sen- 
fualismus felbft zuſammenfällt, bier nicht unterſuchen — eine 
Empfänglichleit für äußere Einbrüde zugeſchrieben werben, aber 
in keinem alle eine dauon verſchiedene urfprüngliche und ur- 
eigene Thätigkeit, Die als folche wirkfam fein, Wirkungen haben 
müßte, alfo unmöglich den Geijt Leer laſſen könnte. Den 
Sat vom der leeren Geiftestafel feftgehalten, fo giebt e8 nur 
ein Wahrnehmungsvermögen, das äußere, die Senfation, die 
den Geiſt bevölkert und das Material liefert, welches die Ne 
flegion betrachtet, jo ift was Locke „Reflexion“ nennt, nur 
eine Entwidlungsform der Senfation. Laſſen wir dagegen 
den Geift felbftthätig fein aus ureigener Kraft, fo ift die Re⸗ 





655 


fierion Tein von dieſer Thätigkeit verſchiedenes Bermögen (mas 
ins Endlofe führen wärde), ſondern fällt mit ihrem Object 
zuſammen und verhält ſich deshalb zu ihren Wahrnehmungen 
ganz anders als die Senſation zu den ihrigen. Was die 
Reflexion wahrnimmt, thun wir ſelbſt; was die Senſation 
wahrnimmt, empfangen wir von außen als etwas Gegebenes 
und in diefen Sinn Objectives. Verſtehen wir baber mit 
Rode unter einfachen „Ideen“ bie gegebewen Vorſtellungs⸗ 
elemente, fo leuchtet ein, daß die Senfation bie einzige Quelle 
unferer Ideen ijt. Jedenfalls muß auf Grund biefer Be⸗ 
urtheilimg der lode’fchen Lehre gefragt werden: wie verhal- 
ten fih Senfation und Reflerion? Jedenfalls muß ge- 
antwortet werben: „die einzige Quelle der Ideen ift die Sem 
fation“, welcher Sat zwei Deöglichleiten offen läßt: entweder 
die Reflerion befteht als eine Wahrnehmungsart für fich, aber 
was fie wahrnimmt find nicht Ideen, ſondern ihre eigene 
Thätigkeit felbft, fie ift die Form unferer Selbſterkenntniß, 
oder fie ift nur eine Entwicklungsform der Senfation und 
diefe das einzige Grundvermögen bes Geiftes. Jedenfalls wirb 
der locke'ſche Standpunkt verändert und vereinfacht. 
Unterfuchen wir etwas näher die beiden Möglichkeiten, 
die der vereinfachte Senfualisnus offen Täßt. Die Senfation 
fei die einzige Duelle der Ideen, die Reflexion die Form un- 
ferer Selbftertenntniß; wir find uicht Vorftellungen, jondern 
vorftellende Weſen, die Borftellungen find unfere Objecte, fie 
find nur unſere Objecte, und wir können Teine anderen Ob- 
jecte haben als nur Vorftellungen. Wenn wir fie machen, 
ftab es bloße Ideen, die auch Leere Einbildungen fein können; 
wenn wir fie haben, ohne fie gemacht zu haben, find es 
Eindrüde oder wirkliche Objecte, die wir als Dinge bezeichnen. 


656 


Sind wir vorftellende Weſen ans felbftthätiger, ureigener Kraft, 
fo können and) unfere Eindrücke nur Vorftellungen fein, unwilf- 
kürliche Borftellungen, die, weil fie unwillkürlich find, nicht 
. wir felbft erzeugt haben, deren Urfadhe, weil fie Borftellun- 
gen find, nicht die Körper fein können, fondern ein geiftiges 
und fchöpferiich thätiges Weſen fein muß. Wir fehen einen 
Standpunkt vor uns, der die Senfation als die einzige Quelle 
der Ideen mit der Reflerion als der Selbftgewißheit vorftel- 
lender Weſen dergeftalt verbindet, daß er zu dem Sate führt: 
alles objective Sein ift gleich wahrgenommen worden, die 
alleinigen Träger der Wahrnehmungen find die Geifter, die 
alleinige Urfache derjelben Gott. Dielen Standpunft ent- 
widelt Berkeley. Bier erfcheint der folgerichtige und ver⸗ 
einfachte Senjualismus als „Idealismus oder Immateria⸗ 
lismus“.*) 

Die zweite Möglichkeit ſetzt die Senſation nicht blos als 
die einzige Quelle der Ideen, ſondern als das einzige Geiſtes⸗ 
vermögen überhaupt; e8 wird Ernft gemacht mit der „tabula 
rosa”, ber Geift hat fein anderes Vermögen als das der 
Empfindungsfähigteit durch die Sinne, die Ideen find Ein- 
drüde und zwar äußere, körperliche Einbrüde, die entweder 
im Duntel einer Seelenfubftenz, die nur noch zu dieſem 
myfſtiſchen Nothbehelf dient, in Perceptionen umgewandelt wer- 
ben, oder körperliche Eindrücke d. h. Bewegungen find und bfei« 
ben; baß diefe Bewegungen Empfindungen find oder werden, 
folgt aus den Eigenſchaften der organiſchen Materie, aus der 
Structur des Gehirns u. f. f. Hier erfcheint der vereinfachte 
und in feiner Art folgerichtige Senfualismus als Materialismus 


° *) Bol. die beiden folgenden Capitel. 





657 


im äußerften Gegenfaß zu Berkeley. Diefe Entwicklungs⸗ 
form des Senfualisinus bildet das Thema der franzöfiichen 
Philofophie des vorigen Jahrhunderts, die in directer Abfolge 
von Locke Eondillac einführt, indem er die Senfation zur 
Grundform alles geiftigen Verhaltens macht. Den Stand» 
punkt des anthropologifhen Materialismus ſetzt de la Met- 
trie, den des kosmologiſchen das „systeme de la nature”; 
der bewegtefte, geiſtvollſte und umfafjendfte Kopf diefer Denk⸗ 
weife, der den Materialismus nicht als Katechismus lehrt, 
fondern die Entwidlung deſſelben in fich erlebt und darftelit, 
ift Diderot. Als populäre Weltbildung erfcheint der fran- 
zöfifhe Senfualismus in der Enchklopäbie, die von Diderot 
und b’Alembert ausgeht. 


2. Die Wahrnehmungsobjecte. Primäre und ſecundäre Qualitäten. 


Unfere Wahrnehmungsobjecte find Erjcheinungsarten oder 
Eigenfchaften, deren Zräger (die Dinge felbit) wir nicht wahr- 
nehmen. Dies hatte Zode feftgeitellt und zwei Arten von Eigen- 
ihaften unterfchieden, urfprünglide und abgeleitete, primäre 
und fecundäre; jene follten zugleich finnlih und wirklich, zu- 
gleich Vorftellungen in uns und Eigenfchhaften der Dinge außer 
ung, mit einem Worte Abbilder fein, deren Originale die Be- 
Ihaffenheiten der Körper find, diefe dagegen blos finnliche 
Dualitäten, nur fubjective Empfindungsweifen ohne alle Achn- 
tichleit mit den Dingen. Doch Hatte Locke die Ableitung der 
fecundären Dualitäten aus den primären gefordert, was fo 
viel heißt als Empfindungen aus Bewegungen herleiten, eine 
Sade, die er felbft für unmöglich erklärte. Aber die Haupt- 
frage betrifft die Möglichkeit ber primären Duälitäten über- 

Fiſcher, Bacon. 42 


658 


haupt, die Wahrnehmbarkeit jener Grundeigenfchaften der Kör⸗ 
per, die, weil fie den Körpern als ſolchen zukommen, all- 
gemeine Eigenfhaften und, weil fie den Körpern an ſich zu- 
fommen, Eigenfhhaften der Dinge an fi db. 5. unwahr- 
nehmbare Eigenfchaften find. Wie lann das Allgemeine (Ab- 
ftracte) vorftellbar, das Vorftellbare allgemein (abjtract) fein? 
Wie kann wahrgenommen werben, was mabhängig von ber 
Wahrnehmung ben Dingen oder Körpern an ſich inwohnt? 
Jedenfalls muß gefragt werden: wie verhalten ſich die 
primären und fecundären Qualitäten? Eines ift un- 
möglih: daß es Wahrnehmungen giebt, die auch umabhängig 
von aller Wahrnehmung Eigenfchaften der Dinge an fidh find. 
Entweder find alle Wahrnehmungen fecundär im Sinne Locke's, 
d. 5. bloße Vogftellungen in uns, und es giebt überhaupt Feine 
„primäre Qualitäten”, oder alle Wahrnehmungen find nichte 
als Bewegungsphänomene der Körper und materielle Effecte. 
Die erfte diefer Folgerungen aus dem locke'ſchen Senfualie- 
mus zieht der berfeley’iche Idealismus, die zweite der fran- 
zöfifche Moaterialismus, nachdem Condillac von einer einzigen 
Wahrnehmung, der Idee der Solidität, behauptet hatte, daß 
fie nicht bloße Idee (fubjectiver Sinneseindrud), ſondern Eigen- 
ſchaft und Wirkung der Körper felbft ſei. (Bon diefem Punkt 
der Lehre Condillac's aus Tann man fich über die Lage bes 
Senfualismus, Idealismus, Materialismus innerhalb der Cr- 
fahrungsphilofophie leicht orientiren. Was Tode von ben pri- 
mären Qualitäten behauptet, gilt nur von der Solidität: fo 
lehrt Condillac. Was von allen Wahrnehmungen gilt, daß fie 
bloße Ideen find, gilt auch von der Solidität: fo [ehrt Ber: 
keley nad Lode und vor Condillac. Was von ber Solidität 
gilt, daR fie Eigenfhaft und Wirkung der Körper ſelbſt ift, 











659 


gilt von allen Wahrnehmungen: fo lehrt der franzöfiiche Ma⸗ 
terialismus. ) 


3. Subſtantialität und Caufalität der Dinge. 


Locke Hatte die Wahrnehmungsobjecte al8 Wirkungen an- 
gejehen, die wir empfangen, die als folche uns unmittelbar 
einleuchten und auf Urfachen bezogen werden müſſen, die un- 
abhängig von unferer Perception eriftiren und wirken. Da— 
her gilt bei ihm die Saufalität der Dinge als die äußere Be⸗ 
dingung unferer Wahrnehmung und als deren unmittelbares 
Object. Wir ertennen Wirkungen, beren Urfachen wir nie 
erkennen. Denn diefe Urfachen müßten Dinge oder Subftan- 
. zen fein, die Locke ſelbſt für unmwahrnehmbar, darum für un- 
erfennbar erklärt, deren Begriff ein bloßes Nominalwefen ift, 
ein Zeichen für X. So erfcheint bei Locke die Caufalität der 
Dinge zufammengefegt aus einer befannten Größe (Wirkung) 
und einer nicht blos unbelannten, fondern unerfennbaren (Ur- 
fache). Und doch foll ein ſolches Verhältnig einlenchten. Hier 
ift in Locke's Lehre eine unfichere, dunkle, widerſpruchsvolle 
Stelle. Es muß gefragt werden: wie verhält fi die 
Wahrnehmung zur Caufjalität? ebenfalls ift zu ant- 
worten, was fid) unmittelbar aus Locke felbjt ergiebt: dag 
von der Gaufalität der Dinge gelten müſſe, was von den 
Dingen felbft gilt; ijt die Vorjtelung des Dinges oder der 
Subftanz Feine Idee, die wir empfangen, fondern eine folche, 
die wir maden, fo wird es mit der Vorftellung der Urfache 
oder Caufalität offenbar diefelbe Bewandtniß haben. Iſt aber 
in den Dingen oder Wahrnehmungsobjecten felbit kein noth- 
wendiger Zufammenhang erkennbar, jo muß die jenjualiftifch 
bedingte Erfenntniß folgerichtig allen Anfpruch auf eine noth- 

42* 


660 


wendige und objective Geltung aufgeben und fi bejcheiden, 
nicht weiter zu reichen, al8 die Gleihfürmigkeit der fubjectiven 
Erfahrung. Damit wendet fi der Senfualisnus zum Step: 
ticismus, den Hume entfcheidet. 


II. 
Der Entwicklungsgang des Senſualismus. 
1. Die Staudpunkte. 


Wir fehen, wie in Locke's Lehre drei Hauptprobleme ent- 
halten find, wie fie auf ſenſualiſtiſcher Grundlage gelöft und 
dadurch die drei Hauptentwicdlungsformen des Senfualismus 
‚beftimmt werden: Idealismus, Materialismus, Step- 
ticismus. 

Die beiden erſten Richtungen bilden eine vollkommene 
und ausgeſprochene Antitheſe. Was die eine grundſätzlich be- 
jaht, muß die andere grundfäglih verneinen: das Dafein der 
Materie an fih. Der Idealismus führt zu dem Satz: „ee 
giebt nur Geifter und Ideen”, der Materialismus zu dem 
Sat: „es giebt nur Materie und Bewegung”. Im diefen 
Gegenſatz fpaltet fich der fenfualiftifche Grundgedanke, das bei- 
den gemeinfame Thema, daß die Elemente aller gegebenen Er: 
fenntnigobjecte Wahrnehmungen, Sinnesempfindungen, Ein- 
drüde find. Aber die Frage ift: was für Eindrüde? In 
der Beantwortung entzweit ſich die ſenſualiſtiſche Lehre: ent- 
weder find die Eindrüde blos geijtig oder blos körperlich, ent- 
weder nur Vorftellungen oder nur Bewegungen, entweder durch⸗ 
aus phänomenal oder durchaus materiell. 

Es giebt einen Punkt, in dem beide Richtungen unfrei- 
willig convergiren und in einer Folgerung zufammentreffen, 


661 


der fie gemeinfam unterliegen. Geſetzt daß uns nur Eindrüde 
oder Impreffionen gegeben find — gleichviel dur wen, ob 
durch Gott oder durch die Körper — fo Tann die Caufalität 
nur eins von beiden fein: entweder gegebene oder gemachte 
Borftellung, entweder Eindrud oder Einbildung, entweder Im⸗ 
preffion oder Imagination. Wenn fie das erfte nicht ift, fo 
ift fie das zweite; in dieſem Fall wird der Charakter einer 
nothwendigen Erkenntniß imaginär, d. 5. zu einem Schein, ben 
die Einbildung erzeugt, und der Senfualismus, indem er die 
jen Schein erkennt, giebt ſich als Stepticismus.*) 


2. Die Zeitfolge. 


In der Fortbildung der Lode’fchen Lehre war der erſte 
Standpunkt Berkeley’s Idealismus, der ſchon im Jahre 1710 
(ſechs Jahre nad) Locke's Tode) mit der Abhandlung ‚von 
den Principien der menſchlichen Erkenntniß“ öffentlich feft- 
ftand; der zweite war Hume’s Stepticismus, ber ſich in dem 
„Verſuch über die menjhlihe Natur” 1739 der Welt mit- 
teilte, aber faft unbefannt blieb und neun Jahre fpäter mit 
dem „Verſuch über den menfchlichen Verſtand“ fich populärer 
zu machen fuchte. Dann erft fam das eigentliche Zeitalter des 
franzöfifchen Materialismus, der in de la Mettrie mit ber 
Erflärung auftrat, daß ber Menſch eine bloße Maſchine jei 
(’'homme machine 1747) und in dem fogenannten Syſtem 
der Natur (1770) mit der mechanifchen Erklärung des Unt- 
verfums fein letztes Wort fprad. In die Zwifchenzeit fällt 
Diderot’8 philoſophiſche Entwidlung Das doctrinäre Mit 
telglied zwifchen dem lode’ihen Senfualismus und dem fran- 


*) Bol. damit oben S. 512-514. 


662 


zöfifhen Materialismus bildet Conbillac’8 lediglich auf die 
äußere Empfindung gegründete Erfenntnißlehre, die Abhand- 
fung von den Senfationen (Traite des sensations), die 1754 
erſchien. 

Wir haben es hier mit denjenigen Hauptformen des Em- 
pirismus zu thun, welde den Gang der Philofophie und 
deren Grundfragen beftimmen. Dies gilt nah Bacon von 
Hobbes und Rode, nad) Rode von Berkeley und Hume, deren 
Unterſuchungen in die fehmwierigften Broblene des Empirismus 
tief eindringen und das Thema deifelben innerhalb der Er- 
fenntnißlehre zu Ende führen. Die englifhe Philofophie von 
Bacon bis Hume bildet ein Continuum, weldyes das fiebzchnte 
Jahrhundert und die erfte Hälfte des achtzehnten umfaßt, dag 
der franzöfifche Senfualisnus nicht unterbricht, fondern dem 
er nachfolgt, inden er auf Rode zurüdigeht und von hier aus, 
wenig befünmert um Berkeley und Hume, jenen dogmatifchen 
Materialismus entwidelt, der als Weltaufflärung die zweite 
Hälfte des vorigen Iahrhunderts beherriht. Die franzöfifchen 
Philofophen diefer Zeit Haben fi in ihrem Materialismus 
ficher gefühlt gegen Berkeley, deffen Lehre Leicht zu verfpot- 
ten und mit einem frappanten Wort abzumaden war, fie fag- 
ten: „Der berfeley’fche Idealismus ift Wahnfinn, aber unter 
allen Syftemen am fchwerften zu widerlegen“, niemand Tonnte 
erwarten, daß fie mit der Widerlegung Ernft madten; fie 
haben fi in ihrem Dogmatismus durch Hume nicht ftören 
laſſen, deſſen fchwierige und eindringende Unterfuchungen fie 
faum kannten. Bevor wir die Fortbildung des englifhen Sen- 
fualismus in Berkeley und Hume näher verfolgen, wollen wir 
in der Kürze den Einfluß beftimmen, den er auf die fran- 
zöfifehe Philofophie des achtzehnten Jahrhunderts geübt. 








663 


3. Zeitalter und Charalter des Materialismus. 


Es ift nicht zu leugnen, daß Condillac's Senfualismus 
den Materialismus zur nothwendigen Folge hat, daß beide in 
Locke's Lehre angelegt und bergeftalt begründet find, daß fie 
ein beredhtigtes Thema durchführen. ‘Die lode’fche Lehre mußte 
vereinfacht werben, zu diefem Fortſchritt boten fi, wie wir 
gezeigt haben, zwei Wege, der eine von beiden ift offenbar 
der Moaterialismus. Aber die Iahreszahlen ſprechen. Das 
Biel, in welchem der Materialismus endet und an dem fein dog⸗ 
matifcher Charakter fdheitert, ift der Skepticismus. Und bie 
ſes Ziel hatte die englifche Philofophie nad Locke und Ber- 
feleyg ſchon in Hume erreicht, bevor der franzöſiſche Ma⸗ 
terialismus feine Entwicklung antrat. Condillac's Haupt- 
werk erſcheint ein halbes Jahrhundert nad) Locke's Tode und 
fünfzehn Jahre ſpäter als Hume's Hauptwerk. Niemals 
ift ein „post hoc’ fo wenig ein „propter hoc’ geweſen, als 
in diefer Zeitfolge des franzöfifchen Materialismus nach 
Hume. 

Betrachten wir dieſe chronologiſche Ordnung, ſo erſcheint 
die franzöſiſche Philoſophie des vorigen Jahrhunderts, ver⸗ 
glichen mit der engliſchen, die ihr vorausgeht, wie verfpätet, 
wie eine bloße Wiederholung und Vereinfachung der locke'ſchen 
Lehre, nachdem dieſe ihre Phaſen in England durchlaufen hat. 
Das würde ſo ſein, wenn der engliſche Senſualismus ihre ein⸗ 
zige Vorausſetzung wäre. So iſt es nicht, ſie hat auch in 
Frankreich ſelbſt ihre Vorausſetzungen, in der franzöſiſchen 
Originalphiloſophie des ſiebzehnten Jahrhunderts, in Descartes 
und Malebranche; Malebranche war Berkeley's älterer Zeitge⸗ 
noſſe, wir werden ſehen, wie nah beide ſich innerlich berührt 


664 
haben*), wie ihre Differenz in eben dem Punkte lag, den 
Berkeley an den Materialiften befämpfte, daß die Eriftenz der 
Materie an fich gelten fol, unabhängig von uns, den vorftel- 
enden Geiftern. Nicht blos ihre Vorausfehungen, aud) ihre 
Wurzeln haben die franzöfifhen Materialiften in dem carte- 
fianifhen Dualismus, der das fubitantielle Dafein der Kör— 
per außerhalb und unabhängig von unfern Borftellungen be— 
hanptet. Jeder Dualismus ftrebt zum Monismus. Um in 
diefem Fall den Monismus materialiftifch zu faffen, dazu be- 
durfte es nur der Erklärung, daß die menfchliche Seele dem 
menſchlichen Körper inwohnt und mit einem Organe deffelben 
borzugsweife commmmicirt, daß fie in diefem Organ ihren 
Sit Hat. Diefe Wendung nahm Descartes und gab damit 
feine Lehre der Folgerung preis, daß die Seele, die irgendwo 
fit, Tocaler, materieller, Förperlicher Natur ift, ein körper⸗ 
lies Drgan, ein Theil des Gehirns und außerdem nichts, 
daß ihre Functionen Gehirnacte find und außerdem nichts. 
Diefe Folgerung zog de la Mettrie. Wir fehen die Philo- 
fophie, die mit dem „cogito ergo sum“ beginnt, eine Rich: 
tung nehmen, die mit dem „l'homme machine“ enbet.**) 
Nannte fi) doch de Ta Mettrie felbft einen Cartefianer! Die 
Subftantialität der Materie und Körperwelt vorausgefeßt, bie 
Descartes lehrte, bedurfte es, um ben Moaterialismus in Fluß 
zu bringen, nur der Erklärung, daß der Geift von ſich aus 
Icer ift, daß alle Vorftellungen von außen fommen, alſo von 
unferer Törperlichen Natur abhängig und dur die äußern 


*) S. da8 folgende Kapitel. 
**) Meine Gejchichte ber neuern Philofophie, Bd. 1 (2. Aufl.), 
S. 52628, ©. 541 fig. 

















665 


Körper bedingt find. Diefe Wendung nahm der Empirismus 
in Lode, dem Condillac folgte. 

So iſt der franzöfifhe Materialismus aus ‘Descartes 
und Locke hervorgegangen; er ift in Rückſicht auf beide mo- 
niftifch, denn jeder von beiden war in feiner Weife ein Dua⸗ 
tft, Descartes in Betreff der Subftanzen, Locke in Betreff 
der Wahrnehmungsvermögen. Es giebt nicht zwei Subftan- 
zen, fonbern nur eine, diefe eine Subftanz ift Gott, erklärte 
Spinoza, indem er den Dualismus der Attribute, der Geifter 
(Ideen) und Körper noch feithielt. Diefer Gott ift bie Materie, 
fagen die Meaterialiften, nachdem fie von ‘Descartes gehört, 
wie die Seele mit dem Körper zufammenhängt, und von Lode 
gelernt haben, daß bie Ideen abhängig find von den Körpern. 
Es giebt nicht zwei Wahrnehmungsvermögen, fondern nur 
eines, diefes eine Vermögen ift die Senfation, erklärte Con 
dilfac auf Grund der locke'ſchen Lehre. 

Den cartefianifhen Monismus giebt Spinoza, die Ab» 
hängigfeit der Vorſtellungen von den Körpern fett der Sen- 
fuafismus in Lode-Condillac: das find die Factoren, deren 
Bereinigung das Wefen des franzöftichen Materialismus aus⸗ 
madt. Er ift das Product diefer Bactoren: fenfualiftifcher 
Spinozismus oder, was baffelbe heißt, materialiftifcher 
Bantheismus. Daß die franzöfifche Philofophie bes vorigen 
Sahrhunderts diefen Charakter in fich trägt, erſcheint in gro⸗ 
Ben und deutlihen Zügen ausgebildet in ihrem bedeutendften 
Denker, in Diderot, ber jene Factoren nicht blos in feiner 
Anfhauungsweife vereinigt, fondern in feinem philofophiichen 
Entwidlungsgange auch zeigt, wie er fie vereinigt. 

Man wird es jetzt verftändlich finden, daß die franzöfifche 
Philoſophie, die von Descartes und Malebranche herkommt 


666 


und vermöge dieſer Herkunft auch ihre eigene Aufgabe als 
Erbtheil mitbringt, nicht plößlic in das entgegengefegte Lager 
übergeht, ſondern allmälig, unter dem Zuſammenwirken vies 
ler Motive, fich dem Einfluffe und der Herrfchaft Locke's er- 
giebt, daß fie zur Loſung ihrer Aufgabe einen Senfualismus 
annimmt, der zweierlei ausfchließt: daß die Subftantialität 
der Materie und die reale Geltung der Caufalität verneint 
wird. Das erfte gefchieht durch Berkeley, das zweite burd) 
Hume. Beides wiberftreitet von Grund aus jener cartefianifchen 
und rationaliftifchen Denkweiſe, die ber franzöfifchen Philoſo⸗ 
phie den erfien Impuls gab, der in ihr fortwirft und mitbe- 
ſtimmend eingeht in den Materialismus. Wenn ich den letz⸗ 
tern früher „einen Nebenzweig an dem großen Baume bes 
Empirismus, der in Bacon wurzelt” genannt babe*), fo 
muß ich jet meinen Ausspruch dahin ergänzen, daß diefer 
Materialismus aud von franzöfifcher Familie ift und ein zwar 
unähnlicher, aber nicht unädhter Sohn der franzöfiihen Phi⸗ 
loſophie des fiebzehnten Jahrhunderts. Dieſe Genealogie er- 
Härt mit der Entftehung des Materialismus zugleich feinen 
Charakter: er ift dasjenige metaphufifche Syftem, welches Ras 
tionalismus und Senfualismus gemeinfam erzeugen. Wenn bie 
bogmatifche Denkweife ihre Grade hat, berem höchfter da erreicht 
ift, wo jede Rückſicht auf die Möglichkeit der Erkenntniß voll⸗ 
fommen verfchwindet, fo fteht das Syſtem der Materialiften auf 
diefem Gipfel des Dogmatismus, Daher darf man fich nicht wun⸗ 
dern, warum die Materialiften in ihrem Glauben an das Ding an 
fich, welches Materie heißt, und an die Realität des mechani- 
schen Cauſalzuſammenhangs, den fie Weltordnung nennen, uner- 


*) &. oben ©. 514. 


667 


fhütterlich find, unempfindlicd) gegen die Einwürfe Berfeley’s 
und Hume’s, die fie jo gut als gar nicht beachten. 

Anders verhalten fich diefe beiden Männer zu den Ma- 
terialiften, die Berkeley ausdrücklich und direct als feine Haupt- 
gegner bekämpft, deren dogmatifches Erkenutnißſyſtem Hume 
widerlegt. Da der franzöfifche Chorus der Materialiften fpä- 
ter auftritt, fo fünnte es fcheinen, daß jene beiden Stand- 
punkte verfrüht find. Aber fie hatten nicht nöthig, auf bie 
Franzofen zu warten. Der Materialismus ift fo alt wie bie 
Philoſophie, ex lebt in Demofrit, Epikur, Lucrez, bie fchon 
Bacon allen übrigen Philofophen vorzog, er war in die eng» 
liſche Philofophie felbft eingetreten mit Hobbes, der ja den 
Derfuch machte, den Empirismus in ein metaphhfiihes Sy⸗ 
ftem zu verwandeln, er ſchien dem Senfualismus fo nahe ge⸗ 
Iegt, daß man Locke bereits als Materialiften bekämpfte, dieje 
Dentweife verbreitete fi in England und durchdrang bie phi- 
Lofophifche Atmofphäre der Zeit. 





Behules Kapitel. 
Die engliſch-franzöſiſche Aufklärung. 





J. 
Der Deismus. 
1. Die engliſchen Deiſten. 


Wir können die Verbindungslinien zwiſchen dem engliſchen 
und franzöſiſchen Senſualismus, zwiſchen Locke und Condillac 
genau verfolgen und bemerken, wie die engliſche Denkweiſe 
allmälig in die franzöſiſche übergcht. Sie kommen einander 
von beiden Seiten ſo nah, daß ſie zum Verwechſeln ähnlich 
werden. Ich will hier nicht ins Einzelne gehen, ſondern mich 
nur gruppirend verhalten und die Standpunkte hervorheben, 
die den Uebergang vermitteln. 

Unter den Aufgaben, die Locke ſich und feiner Lehre ge— 
ſtellt, erfcheinen im Vordergrunde die Religions⸗ und Gitten- 
Iehre, der Deismus und die Moral, jener durch eine Reihe 
bon Argumenten gefihert und ſchon in ein kritiſches Verhält- 
niß zur pofitiven Neligion gebracht, diefe gefordert und an- 
gelegt. Die philofophifhe Entwidlung in Bacon, Herbert 
und Hobbes Hatte vorgearbeitet, ebenſo die kirchliche Ent- 
widlung Englands, die feit der Reformation unter Hein⸗ 
rip VIII und der Begründung der Hochlirche unter Elifabeth 











— — — — 


669 


bis zu dem Zeitalter, in welchem Locke hervortritt, eine Reihe 
gewaltiger Erſchütterungen erlebt in einer fortſchreitenden Ato⸗ 
miſirung der national⸗kirchlichen Glaubenseinheit. Das Grund⸗ 
thema iſt der Gegenſatz und Kampf zwiſchen der biſchöflichen 
Kirche und den Puritanern. „Kein Biſchof, kein König!“ 
hieß das Stichwort ber Stuarts; „kein König, kein Biſchof!“ 
der Gegenruf der kirchlichen Revolutionäre. Mit dem Könige 
fielen die Biſchöfe, an die Stelle der ariſtokratiſchen National⸗ 
kirche tritt die demokratiſche mit dem Siege ber Presbyteria⸗ 
ner (1643), aber die Auflöfung fchreitet fort, die Indepen⸗ 
denten erheben ſich unter Cromwell, fie wollen überhaupt feine 
Kirhe mehr, fondern die Unabhängigkeit der Gemeinde; die 
Leveller wollen feine Gemeinde mehr, welche bie Glieder be- 
herrſcht und ſich unterordnet, fondern die Freiheit des religid- 
fen Gewiſſens, der perfünlichen Erleuchtung, die volle religiöfe 
Unabhängigkeit des Einzelnen, womit der Stifter der Quäker 
in der Kirche von Nottingham dem Bibelprediger zurief: „Es 
ift nicht die Schrift, fondern der Geiſt!“ Die Reftauration, 
felbft frivol gefinnt, führt die biſchöfliche Kirche zurück, bes 
günftigt die Katholiken, verhöhnt und verfolgt die Buritaner 
und fcheitert zuletzt mit dem Verſuch einer Wiederherftellung 
des Katholicismus. ‘Das Zeitalter Wilhelm’s III. bedarf in 
feiner Tirchenpolitifchen Richtung der grundfäßliden To— 
leranz, und die Zeit ift gefommen, wo die perfönliche, auf 
Bernunfteinficht gegründete, von allen Fanatismus freie Ueber- 
zeugung das öffentlihe Wort ergreift in den Angelegenheiten 
der Religion. Es ift die Epoche Locke's“), die Blüthezeit des 
englifchen Deismus, die mit dem Ende des fiebzehnten Jahr⸗ 


*) Bgl. oben Seite 551 fig. 


670 


hunderts beginnt und das erſte Menſchenalter (in ihrer größ- 
ten Ausdehnung die erfte Hälfte) des achtzehnten umfaßt. *) 

Unmittelbar auf ode folgt der Hanptzug der Deiften 
von Toland, der ein „Chriſtenthum ohne alle Geheimnifje‘ 
{ehrt (1696 **), bis Tindal, deſſen „Chriſtenthum fo alt wie 
die Schöpfung‘ fein will (1730.**) Ein Jahr vor To— 
land's Schrift war Locke's „Vernunftmäßigkeit des Chrijten- 
thums“ erichienen, Toland fchritt in diefer Richtung weiter 
und verneinte das Webervernünftige, er gründete feine Re— 
ligionslehre ausdrücklich auf Locke's Erkenntnißlehre, und der 
erbitterte Kampf, bei er gegen fich hervorrief, entzüindete den 
Streit des Bifchofs Stillingfleet gegen Locke. 

Das Thena des englifchen Deismus läßt ſich kurz faſſen: 
e8 gilt die vollkommene Gleichmachung der rijtlichen und der 
natürlichen Religion durch die Zerftörung des pofitiven oder 
hiftorifchen Chriſtenthums. Dieſes gründet fi) auf die bibli- 
hen Urkunden, auf die Glaubwürdigkeit ihrer Thatſachen, die 
Urthatſache ift die Meifianität Ieju, bewiejen durch die Weif- 
fagungen des alten und die Wunder des neuen Teſtaments. 
Hier Liegen die kritiſchen Aufgaben des Deismus in Rüdficht 
auf die Geltung des Eirchlichen und bibliſchen Glaubens. 

Er muß ſich erſtens Luft und Raum ſchaffen, indem er 
das Recht der unbeſchränkten Slaubensprüfung, d. i. das Recht 
ber Denktfreiheit in feinem vollen Umfange vertheidigt und 
beanſprucht, das ihm entgegenſtehende und vermeintliche Recht 


u — 





*) Bol. Lechler, Geſchichte des engliſchen Deismus (1841), S. 58 fig. 
**) Sohn Toland (1676 — 1722). Christianity not mysterious. 
London 1696. 
***) Matthews Tindal (16561733). Christianity as old as the 
creation. London 1730. 





671 


der Hochkirche, die entſcheidende Glqubensautorität zu fein, 
als ein ungegründetes und erſchlichenes zurüdweilt; er muß 
zweitens die Grundlagen des biblifchen Chriftenthums erfchüt- 
tern: den Weiffagungsbeweis und den Wunderbeweis, 

Das erfte gefchieht durch Eollins in feiner „Abhand⸗ 
fung von der Denkfreiheit” (1713*), ſeitdem heißen die Dei⸗ 
ften „Freidenker“, in feinem Streit gegen die Glaubensauto- 
rität der biſchöflichen Kirche, die gerade in diefem Punkte fich 


auf einen unächten Zufag (mie kritiſch nachgewieſen wird) 


des zwanzigften ihrer Artikel beruft. 

Den Weiffagungsbeweis erfchüttert derfelbe Collins in 
feiner „Abhandlung von den Gründen der driftlichen Reli- 
gion“ (1724**), indem er Whifton widerlegt, ber in guten 
Glauben die Fiction gemacht hatte, das alte Teftament fei in 
den meffianifhen Stellen durch die Inden gefälicht; wenn wir 
das unverfälfchte hätten, fo würde ſich zeigen, daß die meſſia⸗ 
nifchen Weiffagungen in der Berfon Jeſu buchjtäblich erfüllt 
worden und der Weiffagungsbeweis felbft würde mit völliger 
Genauigkeit einleuchten. Er legte fogar Hand an die Sade 
und wollte das unverfälfchte Teftament wieder heritellen. Na- 
türlich mußte eine folhe Stütze bei der erjten kritiſchen Be⸗ 
rührung fallen, und wenn der Weiffagungsbeweis feine beifere 
Hatte, fo war es übel mit ihm beftellt. Ließ ſich aus dem 


*) Anthony Collins (1676—1729). A discourse of free-thinking. 
Zondon 1713. 

**) Der Streit war 1709 entitanden und wurde von Collins in 
den Sahren von 1709 — 13 in Fiugfchriften geführt. Seine letzte 
Schrift in diefer Frage erfcheint 1724 ale „An historical and critical 
essay on the 39 articles of the church of England‘. Eollins war 
mit Lode in deſſen letzten Lebensjahren vertraut befreundet. Vgl. Ledh- 
ler, Geſchichte des englifchen Deismus, ©. 217—30, 


672 


alten Teſtament, wie es ift, der buchftäbliche Weiffagungs- 
beweis nicht führen, fo blieb Feine andere Beweisart übrig 
als die allegorifche. Auf diefes gebrechlihe Fundament alfe- 
gorifcher und typifcher Deutung wurde von Collins der Weif- 
fagungsbeweis gejtellt, nachdem er Whifton gegenüber mit 
leichter Mühe Hatte zeigen Können, wie nichtig deſſen Fäl—⸗ 
Ihungshypothefe und wie unmöglid fein Wiederherftellungs- 
verfuch war. Collins legte die Kraft der gefammten apolo- 
getifchen Beweisführung in den Weiffagungsbeweis, der mit 
der Geltung der Allegorie fteht und fällt. Ob er fteht ober 
fällt, Tieß Collins unentſchieden, aber die Stellung, die er 
dem Weiffagungsbeweis gab, war fchon precär nad) feiner 
eigenen Erflärung.*) 

Wie fih Collins zu den Weiffagungen bes alten Tefta- 
ments verhält, ähnlich verhält ih Woolfton zu den Wun- 
dern des neuen. Er geht einen Schritt weiter und einen 
weniger weit. Die Wunder haben für ihn gar feine apolo- 
getifche Beweiskraft, fondern nur die Weiffagungen, es giebt 
überhaupt feinen Wunderbeweis, fondern nur einen Weif- 
fagungsbeweis; die Wunder haben für ihn Feine thatfächliche, 
fondern blos allegorifche Geltung, fie find nicht buchftäblich, 
fondern nur ſinnbildlich zu verftehen, Er ftimmt mit Collins 
überein, daß der apologetifche Beweis allein auf den Weif- 
fagungen beruhe, daß diefer Beweis durchaus allegorifch ge- 


*) William Whiſton (1667 — 1752). Die oben berlihrte Schrift 
erichien 1722: „An essay towards restoring the true text of the old 
testament and for vindicating the citations made thence in the 
N. T.“ 

Dagegen ſchrieb Collins die dritte feiner Hauptfchriften: „A dis- 
course of the grounds and reasons of the christian religion.” Lon- 
don 1724. 











— — — w— —_ — — — u u w- 


673 


führt werden müfje, aber er iſt von der Vollkraft des allegor 
rifhen Weiffagungsbeweifes, wie von der ſymboliſchen Be⸗ 
deutung der Wunder durhdrungen, während er die Wunder- 
facta kritiſch zerfet und in Unmöglichkeiten auflöft. Als Sym⸗ 
bole haben fie Sinn, als Thatſachen haben fie feinen. Man 
fieht, wie der englifhe Deismus an einen Punkt gekommen 
wer, wo in feinen Augen das ganze Anfehen bes hiftorifchen 
ChriftenthHums, d. h. die Frage, ob Jeſus in Wahrheit der 
geweiffagte Meſſias ift, an dem dünnen Faden der Allegorie 
hing, an der allegorifchen Geltung und Tragweite der Weif- 
fagungen, an biefem fchon zerriebenen Bande zwifchen dem 
alten und neuen Zeftament. Whiſton hatte die factifche Gel⸗ 
tung der Weiffagungen unter eine Hypotheſe geftellt, die voll« 
kommen binfällig war. Diefe Hypotheſe weggeräumt, bfieb 
nur noch der allegorifche Beweis, deifen Geltung Woolfton 
bejaht und Collins bezweifelt. Diefer befämpft Whifton’s 
Hypotheſe von der buchftäblichen Weilfagung, Woolſton bes 
ftreitet Collin’8 Zweifel an der Geltung ber allegorifchen. Ein 
ſolcher Zweifel erfcheint ihm als „Unglaube“ und der Buch⸗ 
ftabenglaube als „Abfall“. Er madt den „Schiedsrichter“ 
zwifchen beiden. *) | 

Was bleibt noch von dem Chriftenthum übrig, wenn durch 
Toland, Collins und Woolfton die Myſterien, Weiffagungen 


*), Thomas Woolfton (1669—1781). The moderator between 
an infidel and an apostate etc. London 1725. Seine fehe Dis 
curfe Über die Wunder des Erlöfere und die zwei Bertheidigungsfchrife 
ten fallen in die Sabre 1727 —80. Diefe Flugſchriften erregten unge- 
heures Auffehen, fle wurden vielfach aufgelegt und maſſenweiſe ver- 
Tauft; Voltaire, der gleichzeitig in England war, nennt die Zahl von 
30000 Exemplaren. Woolfton wurde zu hoher Geldbuße und Sefangen- 
ſchaft verurteilt, er ftarb im Gefängniß. Vgl. Lechler, S. 291 — 306. 

Bilder, Bacon. 43 


674 


und Wunder in Abrechnung Tonmen? Nichts als die rein 
natürliche Religion, die ungefchriebene im Herzen ber Men- 
fen, die fo alt ift wie die Welt, als der Glaube an das 
fittliche Vorbild und Leben Jeſu, als ein moraliſches, Bifto- 
rifch entwurzeltes Chriſtenthum im ausdrücklichen Gegenfak 
zum Judenthum, eine Urreligion, von der man ſich überreden 
möchte, daß fie auch das Urchriſtenthum war. Das find bie 
Ausläufer des Deismus in Zindal, Chubb*) und Morgan. **) 
Das iſt der Deismus, ber fein Ziel erreicht hat, nämlich den 
vollen Gegenfat zur pofitiven Religion, zum hiſtoriſchen 
Chriſtenthum, zur riftlichen Kirche. 


2. Bolingbrofe. 


Jetzt erſcheinen die pojttiven Religionen als Deprapatio- 
nen ber natürlichen Religion, die Aberglaube, Briefterbetrug, 
theologifche Speculation entftellt haben und zu deren Wieder- 
herſtellung fich das denfgläubige Zeitalter durch feine geläu- 
terten Einfichten für berufen hält. Solche Entftellungen find 
der heidnifche Götterglaube, dte ägyptiſche und jüdiſche Prie- 
fierrefigion, das dogmatifche und hierardjiihe Chriſtenthum. 
Meberzeugt von der Vollkommenheit und Höhe der eigenen 
Aufklärung, fieht die Zeitbildung auf die Vergangenheit von 


— — — — — 


*) Thomas Chubb (1697 — 1747). The true gospel of Jesus 
Christ. Lendon 1788. 

**) Thomas Morgan (F 1748). The moral philosopher. Vol. I. 
London 1737. Die Schrift ift ale Geſpräch zwifchen einem chriftlidyen 
Deiften und einem Judenchriſten gehalten und hat den Gegenfat beider 
zum Thema. Die oben erwähnte Illuſion tft in diefer Schrift fo ſtark, 
daß ihr zwei Größen, die einer dritten entgegengeſetzt find, als gleich 
erfcheinen, nämlich der Apoftel Paulus als ein Deift, weil er ein Feind 
bes Judenchriſtenthums war. 


— —- — — — — 


675 


oben herab, auf die dogmatiſch befangene Reformation, das 
barbariſche Mittelalter, das abergläubiſche Alterthum, die 
orientaliſchen Prieſterreligionen, den theologiſch⸗metaphyſiſchen 
Dunſt der griechiſchen Philoſophie u. ſ. f., fie fühlt fich als 
Meiſterſtück und Meifterin der Geſchichte. Wie die vorneh⸗ 
men Weltleute der Zeit von den niedern Ständen zu denken 
und reden gewöhnt find, ähnlich fchägt die ſenſnaliftiſche Auf⸗ 
klärung die religidfen Vollsgeifter. Mit dem vornehmen Ge- 
ſellſchaftsgefühl mifcht fi das vornehme Bildungsgefühl, zum 
Diftinguirtfein gehört das Aufgellärtjein, die Weltweisheit 
fteigt empor in die Höheren Schichten, fie wandert aus ben 
Studirzimmern in die Salons und geräth unter die Lords. 
In dem Weltton des Teichten und fpielenden Räfonnements, 
der geiftreichen Plauderei entwidelt fich eine gleich gewanbte 
und fpielende, dem Zeitalter gefällige Denkart, die mit dem 
Pedantismus der Sculgelehrfamteit alle Syitemmacherei fo 
gründlich veracdhtet, daß fie auch den ftrengen und folgeridh- 
tigen Zufammenhang, der bie Lehren verknüpft, keineswegs 
nahahmungswärbig finde. Ihr Grundton ift TTeptifch, wie 
e8 die Neigung der Weltmänner mit fich bringt und bas 
leichte durch keine Feſſel zu beengende Räſonnement fordert. 
Dieſe Aufflärung kann beides, den Deismus für bie ſchönfte 
Sade der Welt und nah Umständen für die jchlimmfte hal⸗ 
ten, die Vollsreligionen als Wahn und Priefterbetiug anfehen 
und doch als nothwendige Dinge empfehlen, die man nicht 
antaften bürfe. Das erfcheint unmöglich, wenn man aus Grund» 
fügen urtheilt, aber‘ fehr einleuchtend und richtig, fobalb die 
Intereſſen und Nüblichleitsrädfichten an die Stelle der 
Grundfäge treten. Es ift das Intereffe der aufgeflärten Lente, 
ih durch Wahnvorftellungen nicht betrügen und benebein zu 
43 * 


676 


laſſen, Tieber gar Teine Religion zu haben als eine abergläu- 
biſche; es ift das Intereffe der Staatsmänner, eine gehorſame 
Maſſe zu ziehen, wozu es fein befferes Mittel giebt, als die 
blindgläubigen pofitiven Religionen, die im Intereffe der phi- 
loſophiſchen Aufffärung höchſt verwerflih, dagegen im In— 
tereife der öffentlichen Ordnung höchſt ſchätzbar und erhaltungs- 
würdig erjcheinen. Jetzt werden die grundfäßlichen Freiden- 
fer gelegentlich als gefährliche Leute geftempelt, die man wie 
eine Art „Peſt“ zu verabfcheuen habe. So nannte fie Bo⸗ 
lingbrofe in feinem Brief an Swift (1724). Diefer 
Mann iſt der Typus der Aufflärung, die nicht nad Grund⸗ 
fügen geht, fondern nur nach Intereifen, und er felbft war, 
wie feine PBhilofophie, ein Chamäleon feiner Intereffen: als 
Philofoph fleptifcher Deift, als Politiker Toryſt, dann Jako⸗ 
bit, Siegelbewahrer in partibus unter dem Prätendenten in 
Frankreich, deffen Sache er verläßt, um nad) England zurüd- 
zufehren und gelegentlich das Zeitalter Georg's II. zu preifen. 
Er felbft nannte fih „einen Märtyrer der Barteien”. Von 
dent Zwede der Philofophie, die blos auf den Nuben der 
Menſchheit zu denken und „dem Experiment als ihrer Feuer- 
fünle” zu folgen Habe, fpricht er wie Bacon; von den Reli- 
gionen, als Werken ftantsfluger Gefegebung, wie Hobbes; 
von der durch Wahrnehmung begründeten Erkenntniß wie Lode; 
bon der durch äußere Stnnesempfindung begründeten Wahr- 
nehmung fon wie-Condillac. Diefer franzöftrende Lord macht 
den Uebergang von Lode zu Condillac. Die Metaphyſiker, 
wie Plato und Leibniz, Malebranche und Berkeley, gelten 
ihm als Wahn- und Afterphilofophen, ale unnüte Syftem- 
macher und Subtilitätenfrämer, als Sophiften, die in ber 
Philofophie Wolfen und Nebel machen, mit einem Wort, als 





677 


das äußerſte Gegentheil der nüßlichen Denker. Wenn man 
bie Nebel zerftreut, welche Metaphyſik und Theologie um bie 
Religionen der Welt verbreitet haben und in den politifchen 
Intereſſen deren wirkliche Triebfedern erfennt, jo wird man 
die Weltgefehichte mit neuen Augen und in ihrem wahren 
Lichte jehen, man wird fie richtig ftubiren und fchreiben, nicht 
Scholaftifch, fondern pragmatifch, nicht blos für Juriſten und 
Theologen, fondern für die gebildete Welt, in Abſicht auf 
praftiihe und nützliche Weltkenntniß, ohne allen gelehrten 
Ballaſt. Das war das Thema, das Bolingbrofe in feinen 
Briefen „über das Studium und den Nuten der Geſchichte“, 
die er in Frankreich fchrieb, ausführte, womit er der Zeit- 
aufflärung eine neue Perfpective eröffnete und eine Aufgabe 
zuführte, die in Srankreich ihren Meifter fand. (Ich verftehe 
unter diefer Aufgabe die Einführung der Geihichtichreibung in 
die Weltliteratur, unter der Meifterfhaft, die Voltaire aus⸗ 
übte, noch nicht die Kunft der wilfenfchaftlichen, fondern nur 
der amüſant belehrenden Gefchichtfchreibung). 

Gelten bie Intereffen für die Triebfebern des menfd- 
lihen Lebens, welche die Philofophie zu erkennen und ihnen 
zu dienen hat, fo meldet fi der menihlihe Egoismus als 
die Haupttriebfeder, und als Grundmotiv der Moral. Boling- 
broke ſprach e8 offen aus und erfcheint auch hier in dem Wende- 
punkt, der den franzöfifhen Senfualismus vom englifchen un- 
terfcheidet, auf der Stelle, wo aus diefem jener herporgeht.*) 


*) Henry St. John Lord Biscount Bolingbrolfe (1677 — 1751). 
Bon 1715 — 23 lebte er flüchtig in Frankreich auf feinem Landfitz in 
der Touraine, wo Boltaire ihn Tennen lernte. Die acht Briefe Aber 
Geſchichte erjchienen unvollftändig 1738, vollftändig 1752. Seine phi- 
loſophiſchen Werke erfchienen nad feinem Tode 1754 (5 Bde.). Am 


678 


3. Voltaire, 

Bolingbrofe’s Schüler, der feinen Vorgänger an Talent 
und Bedeutung weit überragt, ift Voltaire, dem die Auf- 
gabe zufiel, die locke'ſche Lehre in franzöfifche Zeitbildung und 
Mobephilofophie zu verwandeln. Mit ihm wird Frankreich 
die Heimat der europätihen Aufklärung bes 18. SIahr- 
hunderts. Er ift der unübertroffene Meifter jener vornehm- 
populären Aufflärungsphilofophie, die Bolingbrofe angab, die 
dem effectvollen und geiftreichen Näfonnement das ftrenge und 
folgerichtige opfert und deshalb in allen Farben der Freiben- 
kerei fchillert: er befennt den Deismus und verwirft den Op⸗ 
timismus, er vertheidigt den Peſſimismus und zugleich die 
Theobdicee, er bejaht die fittlichen Zwecke und verneint die 
Freiheit, er fordert die Vergeltung und Teugnet die Unfterb- 
lichkeit. In der Theologie tft er Dualift, denn die Materie 
muß eine Urfache, die Mafchine einen Baumeifter, die leben⸗ 
digen Körper einen Schöpfer, die Menfchen einen Gott haben, 
den fie fürchten; wenn. er nicht wäre, fo müßte man ihn er- 
finden ſchon im Intereffe bes Gemeinwohls; in ber Bhilofo- 
phie ift er Materialift, in der Erkenntnißlehre Senfualift, in 
der Moral wird er Determinift, denn unfere Vorftellungen find 
beſchränkt, und der Wille iſt an die Vorftellungen gebunden; 
er denkt über die menfchliche Erkenntniß und Freiheit wie Lode; 


wichtigſten find die beiden erften Eſſays, Briefe an Bope, betreffend 
1) „bie Natur, Ausdehnung und Realität der menſchlichen Erkenntniß“, 
2) „die XThorbeiten und Anmaßungen der Metaphyſiker““. Ueber Bo- 
Yingbrofe’8 Erkenntnißlehre vgl. Ess. I, Sect. I. 

Zu vgl. Lechler, Geſchichte des englifchen Deismus, &. 3I6—408. 
Scloffer, Geſchichte des 18. Jahrhunderts u. ſ. f. (3. Aufl.), ®b. 1, 
©. 450-—76. 





679 


fogar feine Zatre läßt er von ber „tabula rasa” fprechen, 
als ob fie den Verſuch Über den menfchlichen Verftand ftubirt 
hätte. In einem Punkte durchbricht Voltaire die Schranten 
und Ilufionen des englifchen Deismus, der auf die Gleich⸗ 
machung der natürlichen und chriftlichen Neligion ausgegan- 
gen und bei der Gleihung von Urreligion und Urchriſtenthum 
ftehen geblieben war. Boltaire!s Thema ift der Gegenfag 
zwiichen der natürlichen und offenbarungsgläubigen Religion, 
zwifchen Deismus und Chriftenthum, dem Deismus ohne 
Unfterblichfeitsglauben und dem pofitiven, biblifchen, kirchlichen 
Chriſtenthum in jeder Geftalt, der volle, umfafjende, erbit- 
texte Gegenfag. Diefen Kampf hat BVoltaire ‚geführt, am 
eifrigften in feinem Greifenalter, vorfichtig für feine Perſon, 
ſchonungslos in der Sache, feine delenda Carthago war bie 
Kirche, fein ceterum censeo, womit er gern feine vertrauten 
Driefe ſchloß: „scrasez Vinfäme!l” Kein Zweifel, daß bei 
aller LXeichtfertigfeit feiner Dentart Voltaire von dieſem Ge⸗ 
genfag ernfthaft und Teidenfchaftlich ergriffen war. Er Batte 
nicht die Frömmigkeit, aber den Affect des Deismus, ber ihn 
die Kirche in der Welt zerftören und feinem Gott in Ferney 
eine bauen hieß, als ob er ben Herrn der Welt mit ber In⸗ 
Schrift jener Dorflicde: „Deo erexit Voltaire” hätte ent- 
ſchädigen wollen. Man darf die Ehrlichkeit dieſer Affecte, 
die er der Welt mitzutheilen wußte, nicht bezweifeln, nur barf 
man bei Voltaire nicht Grundſätze und deren Folgerichtigkeit 
fuchen, die er ſowenig hatte als Bolingbrofe. Sein Haß gegen 
die hierarchifche Kirche hinderte ihn nicht, dem Papft eine Dich⸗ 
tung zu widmen und mit den Jeſuiten ſchön zu thun; ſeine Ber- 
achtung der Vollsmaffe, die er als Canaille anfah, und ber 
feine Aufflärung ausdrücklich nichts wollte zu fagen haben, hin⸗ 


680 


derte ihn nicht, die Vollsreligion auf Tod und Leben zu be- 
fämpfen, obwohl er fand, daß der Maffe dieje Religion wie 
angegofien jaß. Offenbar find die Leute, welde betrügen, 
flüger als die betrogenen, und die Eugen Leute den aufge 
Härten verwandter als die dummen. So hatte die voltaire'ſche 
Aufklärung eine ftille Sympathie für die Hugen Abbes, mit 
denen fich behaglich diniren und veden ließ, und die über das 
Spiel, das fie trieben, am Ende felbjt lachten. Im Grunde 
ift Voltaire's Deismus nur die Theodicee feines Materialis- 
‚mus, er brauchte einen Gott, der bie Körper fo einzurichten 
wußte, daß jenes befondere Ding, das man Geift oder Seele 
nennt, überflüffig war. „Ich Habe einen Mann gekannt“, fo 
ſchildert fih der fait Achtzigjährige in einem Briefe an die 
Marquiſe du Deffand, „ver feit überzeugt war, daß nad) dem 
Tode einer Biene ihr Summen nicht fortbauere. Er meinte 
mit Epikur und Lucrez, daß nichts Lächerlicher ſei, als ein 
unausgedehntes Weſen vorauszufegen, das ein ausgedehntes 
zegiere und no dazu fo ſchlecht. Er fügte Hinzu, es fei 
äußerjt ungereimt, Sterblihes mit Unfterblichem zu verbin- 
den. Er fagte, unfere Empfindungen feien eben fo ſchwer zu 
begreifen, wie unjere Gedanken, und es fei der Natur oder 
dem Urheber ber Natur nicht fehwerer, einem zweibeinigen 
Thiere Vorftellungen zu geben als einem Wurm Empfindung. 
Er ſagte, die Natur habe die Dinge fo eingerichtet, dag wir 
mit dem Kopfe denken, wie wir mit den Füßen gehen. Er 
verglih uns mit einem muſikaliſchen Infteument, das feinen 
Ton mehr giebt, wenn es zerbrochen iſt. Er behauptete, es 
fet augenfheinlih, daß der Menſch, wie alle andern Thiere, 
wie die Pflanzen und vielleicht alle andern Wefen der Welt 
überhaupt, gemacht fet, um zu fein und nicht mehr zu fein, 





- m u. we — — 


681 


Seine Meinung war, daß diefe Vorſtellungsweiſe über alle 
MWiderwärtigfeiten des Lebens tröfte, weil diefe vorgeblichen 
Widerwärtigfeiten unvermeidlich find; auch pflegte dieſer Mann, 
nachdem er fo alt geworden, wie Demokrit, wie diefer über 
altes zu lachen.” ‚Das tft“, ſagt Strauß treffend, „ver ächte 
uncoftümirte Voltaire, das die Mifhung von Peſſimismus, 
Stepticismus und Ironie, die das eigenthümliche Gepräge fei- 
nes Geiftes und Sinnes bildet.” Im Mebrigen find es die 
Intereffen und Nütlichfeitsrückfichten, nad) denen er bejaht und 
verneint. „Immer wieder diefer verwünfchte Nuten’, bemerkt 


Strauß, „um beffen willen es unferm Bhilofophen nicht 


darauf ankommt, allen feinen Vorausſetzungen zu widerſpre⸗ 
hen, feinen fchönen Ausführungen gegen die Eriftenz eines 
Seelenwefens, gegen bie Zweiheit der Subftanzen im Men⸗ 
chen ins Geſicht zu Schlagen.” *) 

Aber es find eben die Intereffen, welche feit Bolingbrofe 
die Aufflärung treiben, fie find deren Schwäche und Stärke, 
denn auch die Affecte und Leibenfchaften, der fchlagfertige und 
glänzende Wit, der gefuchte und erreichte Effect, die Vol⸗ 


*) Francois Marie Arouet (21. Nov. 1694 — 30, Mai 1778), 
genannt Voltaire (jeit 1718), lebt in England 1726 — 29, am Hofe 
Friedrich's II. 1750—53, in Ferney 1758—78. Seine philofophifchen 
Schriften fallen in die Zeit nad) der Rückkehr aus England, hauptſäch—⸗ 
lich in bie lettte Periode von Ferney. Die frühften find die Briefe über 
England oder philofophifche Briefe (1734) und der metaphufifche Zractat 
geichrieben 1735, erfchienen nad) Voltaire's Tode, Zu ben fpäteren gehören 
das philofophifche Wörterbuch (1764), der unwiffende Philofoph (1766), 
Alles in Gott, Commentar zu Malebrande (1770), das Princip der 
Thätigkeit (1772), das Gaftmahl beim Grafen Boulainvilliers (1767) 
und die theologifche Polemik, | 

Die hefte Darftellung giebt Dav. Fr. Strauß’ Voltaire, ſechs Bor- 


träge, 3. Aufl. 1872. Bol. ©. 250, ©. 22 fig. 


682 


taire's Meifterfchaft ausmachen, kommen ans dem lebhaften 
Gefühl, daß es fich, für oder wider, um die Intereſſen der Zeit 
und des Tages handelt. Die Witterung bat ſich geändert. 
Nach der nüchternen und trodenen Klarheit des locke'ſchen Son- 
nnenfcheins fammeln fi in ber franzöftichen Aufklärung bie 
Gewitterwollen, aus denen Voltaire’s Funken fprühen und zu⸗ 
legt im Weltfturm die Blitze der Revolution hervorbrechen. 


1. 
Die Moralphiloſophie.. 
1. Die englifgen Doraliften. 


In dem englifchen Deismus füllt die Neligion, nachdem 
fie thre geſchichtlichen Kinkleidungen abgelegt, völlig zuſam⸗ 
men mit der Moral, und bier vereinigen ſich die Wege ber 
englifchen Deiften und Moralphilofophen, die beide von Locke 
ausgehen. Diefer hatte die Aufgabe einer ſenſualiſtiſchen Sit- 
tenlehre geftellt und dazu zwei Ausgangspunfte geboten, ben 
einen in feiner Lehre vom menſchlichen Verftand und Willen, 
von der Erkenntniß und Freiheit, den andern in feiner Auf- 
faffung von dem rein natürlichen Verhältniß der Menfchen; 
jener Liegt innerhalb ber Geiftesentwidlung, diefer in dem 
menſchlichen Naturzuftande, der ihr vorausgeht; der erfte ent- 
deckt fich in unferer Einficht und Erkenntniß d. h. in gemachten 
Begriffen, der zweite in unferen Neigungen und Trieben d. 5. 
in natürlichen Empfindungen. Beide Standpunkte begründen 
eine natürlide Moral, aber der zweite ftimmt mit der fen- 
fualiftifchen Richtung beſſer überein, indem er die Sittenlehre 
von dem natürlichen Willensvernögen ausgehen läßt, wie 
Tode die Erfenntnißlehre von dem Wahrnehmungsvermögen. 





683 


ft der Wille determinirt durch die Vorftellungen, fo 
folgt das richtige Wollen und Handeln aus dem richtigen Er⸗ 
fennen, und alle Freiheit befteht darin, daß wir die richtige 
Einfiht der faljchen, die befjere der fchlechteren vorziehen. 
Das freie und fittliche Handeln tft das vernunftgemäße, das 
der richtigen Erlenntniß conforme; gute Handlungen find, prak⸗ 
tiich genommen, wahre Süße, ſchlechte und verlehrte das Ge- 
gentheil. Wenn wir Dinge und Menſchen fo behandeln, wie 
es bie richtige Einfiht in deren Natur und Verhältniß mit 
fih bringt, fo Handeln wir richtig und gut. So fällt das fitt- 
fiche Handeln zuſammen mit dem vernunft- und naturgemä⸗ 
Ben. Unſere höchſte Vernnnfteinfidht ift die Erkenntniß Got⸗ 
te8, aus der die Einficht in unjere Abhängigkeit von und un- 
fere Verpflichtung gegen Gott unmittelbar hervorgeht. Wir 
handeln im höchften und umfaffendften Sinne gut, wenn wir 
(diefer Erfenntnig gemäß handeln d. h.) die religiöfen Pflich⸗ 
ten erfüllen. So fällt die Moral zufammen mit ber natür- 
lihen Religion und wird als ſolche behandelt. Das ift der, 
Standpunkt, den Elarte und Wollafton vertreten.*) 

Lode Hatte ben menfchlichen Naturzuftand in einer Weife 
beftimmt, die Hobbes entgegengefekt war. Nach Hobbes find 
bie Deenfchen von Natur Feinde, beherrſcht allein durch ben 
Raturtrieb der Selbfterhaltung und Selbftliebe, ohne jedes 
Gegengewicht von innen heraus; nad) Locke find fie von Na⸗ 
tur Brüder, die mit der Selbftliebe aud) das Gefühl der na- 


*) Samuel Clarke (1675— 1729). A discourse concerning the 
being and attributes of God, the obligation of natural religion etc. 
London 17056. 

William Wollafton (1659—1724). The religion of nature, Lon⸗ 
don 1724. 





684 


türlihen Gleichheit und Zufammengehöriglett haben. Dort 
ift die wechfelfeitige Grundneigung Antipathie, hier Sympa- 
thie; dort giebt es nur eigennügige, hier auch wohlwollende 
und fociale Neigungen, uns eingeboren, nicht als Marime 
oder Grundfag, fondern als Zrieb und Inſtinct. Wie es 
zwei Wahrnehmungsvermögen giebt, Senfation und Reflexion, 
jo giebt es zwei Grundtriebe, Selbftliebe und Wohlwollen, 
Egoismus und Sympathie. Jeder iſt von Natur ein Indivi⸗ 
duum für fi und ein Glied ber großen Menſchenfamilie, 
jeder fühlt ji) als beides, daher die beiden Grunbrichtungen 
menfchliher Empfindung. Nichts ift gut als die Neigung, 
- al die Art umnferer Neigung, und ba wir zwei verichieben- 
artige Grundneigungen haben, welche die Natur in jedem an- 
gelegt und vereinigt hat und nur die Unnatur trennt, fo muß, 
was wir gut und fittlic) nennen, in der Vereinigung beider, 
in der richtigen Art diefer Vereinigung enthalten fein, nicht 
in einer künftlichen, exft durch Bildung erworbenen, fondern in 
einer unwillfürlichen, welche die menfchliche Natur felbit for⸗ 
bert und giebt. Wir haben einen natürlichen Sinn für die 
richtige Neigung: das ift der moralifche Sinn. Unwilllürlich 
billigen wir die wohlmwollenden, ebelmüthigen, uneigennügigen 
Regungen und verwerfen deren Gegentheil: das ift daS mora⸗ 
liſche Urtheil. Auf diefe der innern Wahrnehmung ummittel- 
bar einleuchtende Thatfache des moralifchen Gefühle gründet 
fih ver moralifhe Senfualismus in feinen beiden Ent- 
widlungsformen. Da die Herridhaft der Selbſtſucht ausge- 
Ichloffen ift, jo Tann die Vereinigung von Selbitliebe und 
Wohlwollen nur fo beftimmt werden, daß entweder beide har⸗ 
moniren und unjere Empfindungs- und Handlungsweife gleich- 
fan in deren richtiger Mitte jteht, oder das Wohlwollen herricht, 











685 
das unelgennüßige, unintereffirte Wohlwollen, die aufopferumgs- 
freudige Hingebung. Im erften Falle ift es die richtige Pro- 
portion unjerer Grundtriebe, die das fittlihe Maß ausmacht, 
das ebenfo unmittelbar gefällt als die ſchönen Verhältniffe der 
Körper und Töne, die Stttlichleit wird zur Schönheit des 
Empfindens und Handelns, zur fittlihen Anmuth und Grazte, 
der moralifhe Sinn ordnet ſich dem Afthetiichen Gefühl 
unter, das moralijche Urtheil dem Gefhmad; wogegen im 
zweiten alle erklärt wird, daß der natürliche und eigenthüm⸗ 
liche Charakter menfchlicher Tugend nicht Afthetifcher, ſondern 
rein moralifher Art ift. Beide Standpunkte berufen fih auf 
unfere elementare Empfindung, auf den angeborenen mora- 
lichen Sinn der menſchlichen Natur, auch der zweite will ſich 
jenfualiftiich erproben, durch die Erfahrung, daß von zwei 
wohlwollenden Handlungen, deren eine nicht ohne Selbſtliebe 
gefchteht, während die andere völlig uninterreifirt ift, dieſe 
legtere dem einfachen und natitrlihen Stun unmittelbar beffer 
gefällt. Den Standpunkt der äfthetifchen Moral entwidelt 
Shaftesbury und löft daraus jene heitere, in der eigenen 
Tugend und dem Genuß der Sympathie vollkommen glückliche 
Gemüthsverfaffung, die feinen Deismus beftimmt und ihm 
die Wahrheit der optimiftifchen Weltanficht ebenjo einleuchtend 
darthut, als die Unmwahrheit jeder abergläubiich befangenen, 
dur Fanatismus und Schwärmerei verbüfterten Neligion.*) 


*) Anthony Aſhley Cooper Lord Shaftesbury (1670 — 1713). 
Seine erfte Schrift Über Verbienft nud Zugend, die ſchon feinen Stand» 
punkt enthält, gab Toland herans (1699). Die Sammlung feiner Auf 
fätte find die berlihinten Characteristics of men, manners, opinions, 
times. 3 vol. 1711. 


686 


Die Sittenlehre auf Grund des rein moralifchen Gefühls giebt 
Hutchefon.*) Diefe ganze Entwidlung läuft Hobbes und 
feinem Materialismus zuwider. 


2. Manbdeville. 

Indeſſen wirkt ſchon das Gegengewicht. Es iſt Leicht, die 
ſocialen Neigungen der Menſchen auf deren Selbftliebe zurückzu⸗ 
führen, die Wohlfahrt der Geſellſchaft auf den Antagonismus der 
Intereſſen, dieſen auf den Eigennutz der Individuen. Jetzt gilt 
der Egoismus als die einzige Triebfeder der menſchlichen Natur 
und Geſellſchaft, auch iſt kein Grund darüber elegiſch zu klagen, 
im Gegentheil, es iſt gut, daß es ſo iſt, dieſe Triebfeder iſt 
als die natürlichſte auch die wohlthätigſte, denn ſie bringt die 
menſchlichen Kräfte in Bewegung und Wetteifer, während das 
ungemiſchte Wohlwollen, um keinem wehe zu thun, die Hände 
in den Schooß legt und verhungert. Bolingbroke nannte bie 
deiſtiſchen Freidenker eine Peſt der Geſellſchaft. Achnlich ver⸗ 
hält ſich Mandeville zu den Moraliſten, er findet fie ge⸗ 
meinfchädlih und fegt der Tugendlehre Shaftesbury’s feine 
„Bienenfabel” entgegen, die mit ben Laftern ber einzelnen 
das Gemeinweien floriren und durch die Ingenden aller ver- 
fümmern läßt. Hier ift der Mebergang zum franzöftfchen Sen- 
ſualismus auf dem Gebiete der Moral. Wenn wir von ber 
englifden zur franzöftfchen Aufffärung auf dem Wege der 
Deiſten fortfchreiten, fo treffen wir auf der Grenzlinie Bo-> 
(ingbrofe, einen Engländer, den fein Eril in Frankreich an⸗ 


*) Krancie Hutchefon (1694—1747). Inquiry into the original 
of our ideas of beauty and virtue, 1720. Essay on the nature of 
passions and affections, 1728. A system of moral philosophy. 2 vol. 


(op. post.). 








687 


fiedelt; wenn wir daffelbe Ziel im Wege der Moraliften fuchen, 
fo erfcheint Mandeville auf "der Grenze, ein (in Holland) ges 
borener Franzoſe, der fih in England einbürgert. Der nüchfte 
Schritt über ihn hinaus führt nah Frankreich.“) 


3, Helvetius. 


Die Senfation als Princip aller Erkenntniß, der Egois- 
mus als Princip aller Moral: diefe beiden Süße fordern fi 
gegenfeitig und tragen gemeinfam ben franzöfifhen Senſua⸗ 
lismus. 

Die Selbſtliebe macht die geſelligen Neigungen, die ſociale 
Welt und deren Wohlſtand, das völlig uneigennützige Wohl⸗ 
wollen macht nichts, es ift der Tod alles Wetteifers und damit 
der Tod aller Thätigleit überhaupt, eine Lebensverödung, ebenfo 
langweilig und unintereffant als unintereffirt. Es wird jet 
nicht fehwer fein zu zeigen, daß die Selbjtliebe auch die Spring» 
feder des Geiftes ift; fie ift das rührige und treibende, das 
immer rveizende und wirffame Brincip, das mit dem gefelligen 
aud) das geiftige Leben und dejjen Wohlftand erzeugt, fie 
macht nicht blos die Gefellichaft reich, Jondern auch die Indi- 
viduen geiftreih. Denn was ift der Geift anders als die 
Geſellſchaft unferer Vorftellungen? Wenn wir nur wenige 
Ideen und immer biefelben haben, fo ift das geiftige Leben 
arm, dürftig, langweilig, wir langweilen uns und andere. 
Das tft ein elender unerträglicher Zuftand, um fo peinlicher, 


*) Bernard de Mandenille, geb. 1670. The fable of the bees 
or private vices public benefits with an essay etc. London 1728, 
Die erfie Ausgabe, die fein Auffehen erregte, erſchien als eines Ge⸗ 
bicht auf einem Flugblatt 1714. 


688 


je energiſcher fi das Selbftgefühl regt und die Selbitliebe 
treibt. Hat diefe Weder ihre Spannkraft verloren, fo fteht 
das Räderwerk des Geiftes ſtill. Um fi nicht zu langwei- 
fen, ift das einzige Mittel, die Vorftellungen zu vermehren, 
neue zu erfinden, originelle zu machen, Einfälle zu haben, 
folhe, die uns und andere intereffiren. Wenn man nicht in« 
tereffirt ift, Tann man nicht iIntereffant fein. So tft es bie 
Selbftliebe, die uns nicht blos focial, fondern auch fpirituell 
macht, fie erzeugt den Effect, den die Franzoſen „esprit“ 
nennen und ben als folchen Helvetius der Welt erflärt Hat. 
Er Hatte damit wirklich, wie damals eine Franzöſin von ihm 
fagte, das Geheimniß feiner Zeit ausgefprodhen. Gleichzeitig 
mit Helvetins’ Schrift „vom Geift”, erfchten Eondillac’s „Ab⸗ 
“ Handlung von den Senfationen”. Wie Voltaire zu Boling- 
brofe fteht, ähnlich verhält fich Helvetius zu Mandeville.“) 
Wir ftehen am Ausgangspunfte des franzöfifchen Sen- 
ſualismus, der, wie ſchon gezeigt, in die Heerftraße der Ma⸗ 
terialiften einlentt. Hobbes lebt wieder auf gegen Locke. 


Il. 
3. 3. Rouſſean. 


Aber aud) in der franzöftfchen Aufflärung follte die Ge⸗ 
genwirfung nicht ausbleiben, die den moralifchen Senfualis- 
mus wieder erhob und an Voltaire, Helvetins, den En- 
chflopädiften und Holbachlanern rächte; fie fam von einem 
Manne, den bie Bewegung ber Philofophie auf feiner Lebens⸗ 


*) Claude Adrien Helvetins (1715 — 71). Sein Hauptwerk De 
P’esprit erſchien zu Paris 1754. 





689 


fahrt ergriffen, die ihn mit Eondillne und Diderot zuſammen⸗ 
geführt, dann iſolirt und vereinfamt Hatte, und denm mitten 
in dem materlaliftifchen Denken und Treiben bes Zeitalters 
wie eine Mifſion die Aufgabe zufiel, in Frankreich ber Idealift 
bes Senſualismus zu werben. Er wurde es dadurch auch für 
die Welt. Diefer Mann, einzig unb mivergleichlid) in feiner 
Ar, iſt J. J. Rouſſeau, der geborene Begner DVoltaire’s 
und der Materialiſten. Was Lode vom Natur und Staat, 
von der naturgemäßen Entwidlung und Erziehung des Men; 
fen, was der Deismus von ber Religion, fo alt wie Die 
Schöpfang, was bie Moralphilofophie von ber Tugend ber 
Sympathie als dem Grundzuge des Herzens gelehrt Hatten: 
das alles geftaltete fich in dem einfteblerifchen Ronſſeau zu 
Idealen, benen er tränmeriſch nachhing, bie er fich ausdichtete 
im ſchneidendem Contraſte zu der verirrten, von der Natur ab» 
gefallenen, durch Bildung verborbenen Welt, die er vor ſich 
ſah und ber er feine Naturideale, feine idylliſche Welt ver- 
fündete wie ba8 verlorene Paradies. Sein Wort, ergriffen 
und feurig wie feine von der Phantafte infpirirte Empfindung, 
Schneidend und ſcharf wie jener Eontraft, der ihn verbüfterte 
und hob, traf die Herzen ber Welt und zündete. Es hieße 
zu wenig fagen,. wenn man in Rouffeau nur einen Deiſten 
und Moralphiloſophen fehen wollte, der ben englifchen Sens 
jualismus gerade in den Punkten, worin die franzdfifche Auf⸗ 
Märung abgewichen war, wieder auffaßte unb zur Geltung 
brachte. Damit würde feine Eigenart, bie Neuheit und ber 
Zauber ſeiner Darftellung, feine Macht über das Zeitalter 
nicht erflärt fein. Er war ein Naturdichter, ben die Phi⸗ 
loſophie zu ſich vief, nicht einer jener lehrhaften Poeten, deren 
e8 in jenem Zeitalter viele gab, die ein phuoſoyniſches Theme‘ 
Fiſcher, Bacon. 





690 


in Verſen vortrugen; er war ein Dichter durch die Gewalt 
und Leidenfchaft feiner Empfindung, dur bie Urt, wie er 
die Natur genoß und entbehrte, wie er nach Freundſchaft und 
Liebe dürftete, als ob fie die tiefften Bedürfniſſe des menfchlichen 
Lebens und ihre Befriebigungen die Löſung des Welträthſels, 
als ob in der Seelenharmonie die Weltharmonie erfüllt wäre. 
„Todte Gruppen find wir, wenn wir haſſen, Götter, wenn 
wir liebend uns umfaffen, lechzen nach dem ſüßen Feſſel⸗ 
zwang”: dieſe Worte unferes Schiller (aus feiner von dem 
Genfer Philofophen ergriffenen Jugendzeit) fagen, wie NRonfe 
ſeau empfand und unter feinem Einflufje die Welt. Es giebt 
Empfindungen und Gemüthsbewegungen in der menschlichen 
Natur, welche die Theorie der Materialiften nicht verftehen 
kann und darum verneinen oder für illuſoriſch erklären muß 
und die doch find und fich nicht wegreden laſſen; biefe von 
ber materiafiftifchen Aufflärung der damaligen Welt unver- 
ftandene und verleugnete Menfchennatur brach in Rouſſeau 
durch und machte fi Luft mit empörter Gewalt wie nad 
einer langen Unterdrüdung, fte fam nicht aus dem Studirzim- 
mer in der Form der Abhandlung und Theorie, bie ihre Ar- 
gumente vorbringt, fondern wie ein neuer Glaube, deffen Teß- 
tes und unumftößliches Wort heißt: ic bin es felbftl Da⸗ 
her war auch Rouſſeau's letztes Wort er felbft, feine eigene 
Perſon, fein Leben, feine Selbftbefenntniffe, deren Glaube und 
Thema war: „fo wie ich hat noch niemand empfunden!“ Ich 
habe es Bier nicht mit einer Analyfe feiner Gemüthsverfaf- 
fung und feines Charakters zu thun, die eine der lehrreichſten 
und fchwierigften Aufgaben enthält und, ſoviel ich fehe, noch 
nicht geleiftet ift, fondern blos mit feinem Standpunkte. Es 
war in dem Manne, ben eine elende Erziehung und abentener- 





691 


liche Schickſale früh in die Irre getrieben Hatten, vieles ven 
Grund aus verdorben, e8 war viel Selbittäufchung in feinem 
perjönlihen Tugendgefühl, felbft in ber Scham, wemit er 
feine Sünden belannte. Aber feine Empfindung ber morali- 
fhen Natur war ächt und originell, fonft wäre er auch nie 
der gewaltige und weltbewegende Schrififteller geworben. Daß 
er die Natur kindlich empfindet, wie eine Mutter, an beren 
Herz er fi flüchtet, unter deren Schug er ſich wohl fühkt, 
wie ein Geretteter, wie ein Verfolgter im unnahbaren Aſyl, 
das macht den Grund auch feines Glaubens, der fih im „Be 
fenntniß des ſavoiſchen Geiftlichen” Religion nannte und ber 
Zeitaufflärung ebenſo thöricht als der Mutter Kirche frevel- 
haft und gefährlich erjcheinen mußte. Auch ift diefes DBe- 
fenntniß gegen die pofitive Religion wirkfamer geweien, als 
die ganze materialiftifche Aufklärung, weil es Gläubige machte. 
Die Kirche verträgt weit eher, daß man Gott Teugnet als 
dag man an ihn glaubt als den Vater der Welt, aber ber 
Kirche das Mutterreht auf den Menfchen beftreitet und es 
überträgt auf die Natur. Diefer Mutter die abtrünnigen Kin- - 
der zurüdzuführen, war der Grumdgebanfe feiner Erziehungs- 
lehre, die Rouſſeau in feinem „Emile“ wie einen Roman 
gab*), worin er fich als Erzieher erlebte, wie er fich in ber 
Bhantafie das Idyll vom Genfer See fhuf, worin er dus 
Glück der Liebe und Freundſchaft genoß, das ihm bie Wirf- 
fichleit verfügte. Aus den Menfchentindern ber Mutter Na- 
tur Bürger eines Staats zu machen, war die Aufgabe und 
der Grundgedanke feiner Staatslehre. Durch einen neuen 
Staat und eine neue Erziehung follte jener Gegenfat von Res 


— 


*) S. oben S. 633 -46. 
44 * 





tue umd Cultur wieder ausgeglichen und gelöft werben, den 
er anf bie Zagesorbnung gebradgt und mit deſſen greler Er⸗ 
Isuchtung er feine Laufbahn begonnen Hatte. Die Intereſſen, 
die in Rouſſeau ihren Wortführer gefunden, find erfüllt von 
Groll über die Welt, und weit mehr als bei den andern 
Schriftftellern ber Zeit, die von ben Intereſſen der Auf- 
Härung bewegt find, fühlt man in ber Feuerkraft jeiner 
Worte, was er felbft prophetifch vorausſah: daß das große 
Gewitter der Welt im Anzuge ift und nahe dem Ausbruch. *) 


*) Jean Iaques Rouffeau (28. Juni 1712— 4. Inli 1778). Seine 
Shientliche literariſche Wirkſamkeit fällt in die Jahre von 1750-62, de- 
von ift die fruchtbarfte Zeit, worin die brei Hauptwerfe verfaßt werden 
und erſcheinen, Rouffeau’s Aufenthalt in ber Hermttage und Montmorencn 
(1756—57—62). Seine glücklichſten Iugendjahre, die auch die philo- 
ſophiſchen Studien in fich begreifen, verlebt er in Chambery und dem 
benachbarten Les Charmettes (1732— 40). Die beiden erften Abhand- 
lungen waren Gelegenheitsichriften, veranlaßt durch Breisfragen der 
Alademie von Dijon Über den Einfluß ber Wiffenihaften uud Künfie 
auf die Bereblung der Sitten und liber die Urfachen der menſchlichen 
Ungleichheit. Die Aladentie hatte gefragt, ob die Miederherftellung der 
Biffeniaften und Künfte dazu beigetragen Babe, bie Sitten zu ver 
edeln? Rouſſean frug, ob ber Kortfihritt der Wifjenfchaften und Kitufte 
dazu beigetragen habe, die Sitten zu veredeln ober zu verderben? Die 
Schrift wurde mit dem Preife gekrönt (1751) und erregte das Aufjehen 
dee Welt. Die zweite (micht gekrönte) erſchien 1754. In der Ser- 
mitage fchrieb er „La nouvelle Héloise“, das Buch erfchien 1761 und 
machte eine ungeheure Wirkung, dann folgte der „Contrat social”, 
zwei Monate fpäter der „Emile” (1762), nach der Anficht Rouſſeau's 
fein. beſtes Buch. Die öffentlicgen Autoritäten waren anderer Meinung. 
Das Parlament decretirte einen Verhaftsbefehl gegen den Autor (9. Imi 
1762), der Erzbifhof von Paris fchleuderte dagegen einen Hirten- 
brief, die Genfer Behörden Tiefen die Schrift verbrennen. Vor feiner 
literarifchen Periode lagen die Wanderjahre des Irrfahrers (1727 — 
40), jet folgten die Wanderjahre des Flüchtlinge, verdliftert durch 
zunehmenden Argwohn, der in allen Verfolgungen Privatcoınplote fah. 
Er flüchtete aus dem Kanton Waadt (Moerdun) nad Neufchatel (Moi- 





693 


Ich Habe an dieſer Stelle die Gegenden der englifch-fran- 
zöfiichen Aufflärung, bie fih von Lode bis zu Rouſſeau ex- 
ftreden, nur muftern und den perfpectivifchen Anblick derfel- 
ben geben wollen und kehre jekt in den Entwidlungsgang 
des englifchen Senfualismus zurüd, um die Standpuntte aus- 
einanderzufeen, die er noch vor fich hat. 


tier8-Travers 1762-65), anf die Petersinſel im Bieler See, nad) Biel, 
zulegt nad England, wa ihm David Hume ein Afyl bereitete. Hier 
lebt er einige Monate zu Wooton in der Grafichaft Derby (1766). 
Nach weniger Zeit zerfällt er aus ungerechtem Verdacht mit Hume, er 
fehrt nad Frankreich zurück (Mat 1767), Iebt als Flüchtling unter frem- 
den Namen im Schloß Zrye, einer Befigung bes Prinzen Conti, feit 
1770 in Paris, die legten Monate in dem Girardin’fhen Schloß Er- 
menonville, wo er den 4, Salt 1778 firbt. In England beginnt er 
feine „Confessions‘ und vollendet fie vor feiner Rückkehr nach Paris 
(1770), fie reihen 5is zum Jahre 1765 und ſetzen fich fort in ben 
„BReveries du promeneur solitaire‘ und „Rousseau juge de Jean 
Jaques“. Gein Gemitth war völlig verbliftert, ſeine hänslidden Ber- 
hältniſſe elend zerrüttet, er hatte ben Einfall, fein letztes Selhſtbelennt⸗ 
niß auf dem Altar von Notre-Dame nieberzulegen. Daß er fich jelbft 
getödtet, it eine Sage, die Frau von Stall zehn Jahre nad feinem 
Tode aufgebradht hat. (Bgl. I. I. Roufſeau's Leben von Theober 
Bogt. Wien 1870). 


Elſtes Kapitel, 
George Berkeley. 





I. 
Berkeley's Stellung. 
1. Verhältniß zu Locke und Malebrauche. 


. Die Erfheinung Berkeley's unter den englifhen Philos 
faphen wird gewöhnlich unrichtig aufgefaßt; man iſt fo über- 
raſcht, mitten unter den ausgeprägten Realiften einen, wie es 
ſcheint, übertriebenen Idealiſten zu finden, daß man fi) ver⸗ 
fucht fühlt, ihm eine ganz andere philoſophiſche Stellung 
anzuweiſen, als er vermöge feiner gefchichtlichen Herkunft 
einnimmt. Selbft einer umferer bedeutendften Gefchichtfchrei- 
ber der neuern Philofophte glaubt dem Standpunkte Berke⸗ 
ley’8 nur dann gerecht werden zu Tünnen, wenn er ihn aus 
der Reihe der englifchen Philofophen unter die deutfchen Me⸗ 
taphyfiker verfet und mit Leibniz fo zufammenftellt, als ob 
er befien Vollendung wäre”) Indeſſen tft Berkeley nicht der 


”, 3. €. Erdmann’ Berfuch einer wiſſenſchaftlichen Darftellung der 
Geſchichte der nenen Philoſophie (Mb. 2, 2. Abth., S. 173 flg.) und 


695 


folgerichtige Leibniz, fondern der folgerichtige LXode; er ift, 
mit Locke verglichen, nicht weniger, fondern mehr fenfualiftifch. 
Und gerade darin entdeckt fi der dauernd wichtige und lehr⸗ 
reihe Charakter derjenigen Philofophie, die man als „berke⸗ 
ley' ſchen Idealismus” bezeichnet. Seine gefhichtlihe Stellung 
Tiegt zwiſchen Xode und Hume, feine gefchichtlichen Vorbe⸗ 
dingungen, unter deren Einwirkung fi) Berkeley's Stand- 
punkt ausgebildet hat, find Bacon und Locke, Descartes und 
Malebrandye; die Gegenfäke, bie er vorfindet und befämpft, 
erftreden fih von dem Deismus der englifchen Freidenker bis 
zu jener materialiftifchen und atheiftifchen Nichtung, deren An- 
fat Berkeley vor fih fah, deren Vollendung aber in der 
franzöfiihen Philoſophie des vorigen Sahrhunderts noch nicht 
in den Horizont feiner Schriften und kaum in den feines 
Zeitalters Fällt. 

Dhne Berkeley’ Stellung unter den Philoſophen, bie 
von Bacon und Rode herkommen, irgendwie zu beeinträchtigen 
ober zu verrüden, läßt fich feine Lehre mit Denkweiſen ver- 
gleichen, die in der entgegengejegten, durch Descartes beftimm- 
ten Reihe ihren Platz haben. Nur liegt ber nächſte Verglei⸗ 
Hungspunkt nicht zwifchen ihm und Leibniz, fondern zwiſchen 
ihm und Malebrandhe. Nicht blos verhält fi Berkeley 
ähnlich zu Locke, wie Malebranche zu Descartes, fondern es 
trifft fi, daß beiden daſſelbe Problem zufällt, daß beide die⸗ 
fes Problem in einer Weife löfen, bei welcher der Berührungs- 
punkt eben jo dharafteriftiich iſt als der Differenzpunkt. Ver⸗ 


Grundriß der Gefchichte der Philofophie (Bd. 2, S. 210—18). Die 
obige Bemerkung bezieht fih nur anf die Stellung, die im Entwid- 
{ungsgange der nenen Philoſophie Erdmann der berkeley'ſchen Lehre 
giebt, nicht auf die Art, wie er deren Berhältniß zu Lode erörtert. 


\ 


6% 


fiehen wir unter Weltauſchanung unfere Sinnenwelt d. 5. un⸗ 
jere Vorſtellung der Körper- ober Außenwelt, eine gemeinfame 
Boritellung, die wir nit willlärlih machen, ſondern unmwill- 
türfich Haben, fo mußte in der Entwidlung der carteftauifcgen 
Grundgedanken ein Standpunft Tommen, welcher erllärte: 
„biefe unfere Weltanſchauung ift nicht dur ung, fondern nur 
buch und in Gott möglich, wir fehen die Dinge in Gott“. 
Dies war der Kern der Lehre von Malebrandhe.”) Zu einem 
ähnlichen Refultat kommt Berkeley. Hier Liegt her Beruh⸗ 
rungspunkt beider. Aber die Art der Begründung iſt bei 
jedem eine ganz andere. Weil die Materie, deren Modifica⸗ 
tionen bie Körperwelt ausmacht, grumbverfchieben ift vom menſch⸗ 
fichen Geift als einer blos denkenden Natur, darum ift bie 
Idee der Materie pder Ausdehnung (auf welche die Borftel- 
fung der Körperwelt d. h. unfere Weltanfchauung ſich gründet) 
nur in und dur Gott möglich, darum fehen wir die Dinge 
in Gott. So denkt Malebrande, die Art feiner Begründung 
iſt ächt carteſtaniſch. Weil die Materie eine völlig abftracte 
und darum unmögliche Vorftellung ift, weil es unabhängig 
von unferen wirklichen Borftellungen d. h. Wahrnehmungen 
keine norftellbaren, wahrnehmbaren, wirklichen Dinge giebt und 
geben Tann, daram giebt e8 überhaupt Teine Dinge an fid 
außer uns, Teine Körper an ſich, Feine materiellen Subftan- 
zen, feine Materie als Ding an fih, darum iſt die Materie 
überhaupt unmoglich, die Körperwelt daher ohne Reſt iden- 
tiſch mit der Weltanſchauung d. 5. mit ber Vorftellungswelt, 
bie wir nicht gemacht haben, fondern uns eingeprägt finden 


%) Bgl. meine Geſchichte der neuen Philofophie, 2, Aufl. Bd. 1., 
2. Abth., S. 23—81. Insbeſ. S. 69—72, 


697 


(nicht durch die Materie, fondern) durch Gott. So denlt 
Bexkthey, er denkt Acht jenfualiftifeh unter den Voxausſetzun⸗ 
gen, bie Rode begründet Bat. Diez iſt der Differenzpweit 
zwifhen ihm und Malebranche, ex verneint, was dieſer be 
jaht: die Realität der Materie, unabhängig von unferer Vor⸗ 
ftellung! Malebranche ift zu diefer Bejahung genbthigt durch 
bie dualiſtiſchen Grumbfäge Descartes’, Berkeley ſieht ſich zu 
dieſer Verneinung genothigt durch die fenfnaliftifcgen Grund⸗ 
füge Locke's. Worin dieſe Nöthigung beſteht, das Band zwi⸗ 
ſchen dieſer Verneinung und der ſenſnaliſtiſchen Demfmeife: 
gerade darin liegt das Thema ber berkeley'ſchen Lehre und 
deren ibealiftiicher Charakter. 


2. Vorlänftr. Meeris und Collier, 


Aus dem Geſichtspunkt des menfchlichen Geiftes hat Ma⸗ 
lebranche das Dafein einer äußeren oder materiellen Welt 
weder verneint noch verneinen können. Stellen wir die Trage 
bagegen unter jenen theologifchen Geſichtspunkt, jo verhält 
Ah Gott zur Welt, wie die Idee der Ausdehnung zur wirt 
lichen Ausdehnung, welche beibe, genau befehen, ſich in nichts 
unterfcheiden, fo fällt die reale Körperwelt mit der göttlichen 
Boritellung der Körperwelt, qlſo auch mit der unjrigen (als 
welche in Gott tft) ohne Reſt zufammen, und e8 Tann daher 
von Malebranche's theologiihem Grundgebanten folgerichtig zu 
dent „Beweis von ber Nichteriftenz oder Unmöglichkeit ber 
äußern Welt‘ fortgefchritten werden. Auf biefem Wege ift 
Berkeley nit zu feinem Sag gefommen, wohl aber zwei 
feiner Landslente und älteren Zeitgenofien, bie als feine Vor⸗ 
gänger gelten dürfen, nicht als feine Vorbilder oder Führer: 
John Norris, der ſchon im Jahre 1701 ben „Verſuch zu 


698 


einer Theorie ber idealen oder intelligibein Welt” gab und 
dadurch Arthur Eollier anregte, ber feine auf Malebrande 
gegründete Lehre von der Unmöglichkeit einer äußern Welt 
ſchon 1703 feitgeftelft Hatte, fünf Sabre fpäter niederſchrieb 
umd nach fünf Jahren (1713) als „Clavis universalis” ober 
„Rene Unterfuhung der Wahrheit” in die Deffentlichleit 
brachte.“) In demfelben Yahre erſchien die letzte der grund- 
legenden Schriften Berkeley's, deſſen Unabhängigkeit von Col⸗ 
lier damit feſtſteht. Sein Ausgangspunkt iſt Locke, Collier's 
Ausgangspunkt iſt Malebranche. 


I. 


Lebeusumriß. 


George Berkeley, aus engliſchem Geſchlecht, iſt in der 
iriſchen Grafſchaft Kilkennh zu Kilcrin den 12. März 1684**) 
geboren und den 14. Januar 1753 zu Orforb geftorben. 
Seine erfte Periode umfaßt die Jahre von 1684— 1713 umd 
wird durch das Jahr 1700 in zwei Abfchnitte getheilt, "ber 
erite enthält die Erziehung im Elternhauſe und die Schuljahre 
in Kilfenny, ber zweite bie Studienzeit auf dem XTrinitäts- 
collegium zu Dublin ale Schüler (1700—1707) und als Ge 
noffe (Fellow). Hier lernte Berkeley aus ihren Schriften 


*) John Norris, Essay towards the theory of the ideal or in- 
telligible world. 2 vol., 1701. ! 

Arthur Collier, Clavis universalis or a new inquiry after truth, 
being a demonstration of the non-existence or impossibility of an 
external world. 1718. 

**) Nach Fraſer's Memoir of Berkeley (1864) ift Berkeley's Ge⸗ 
burtsiabr 1685. 


Rn 2 





699 


Bacon und Lode, Descartes und Malebranche Tennen und 
entwicelte die nach ihm genannte Lehre. Sie ftand feſt, als 
er Dublin verließ, um nach London zu gehen (1713). Er 
hatte bereits die beiden erften Dauptfchriften feiner Lehre ver- 
öffentlicht, den „Verſuch zu einer neuen Theorie vom Sehen“ 
(1709) und „bie Prineipien der menfchlichen Erkenntniß“ 
(1710); in London ließ er die dritte erfcheinen, feine „Dias 
loge zwiſchen Hylas und Philonons”*) (1713). 

Der zweite Lebensabjchnitt reiht von 1713 — 34. Im 
biefe Zeit fallen drei Reifen, die er von London aus unter- 
nahm, von benen er nad London zurückkehrte. Auf der er- 
ften begleitete ex als Secretär und Kaplan den englifchen Ge⸗ 
ſandten Graf Peterborough nach Frankreich, Italien und St- 
cilien (November 1713 — Auguft 1714); nachdem er zu Lon- 
bon eine fchwere Krankheit überftanden, begleitete er auf ei- 
ner zweiten Reife (1715—20) den Sohn eines trifchen Bi⸗ 
ſchofs ebenfalls nah Frankreih, Italien und Steilien. Im 
Baris lernte er Malebranche in feiner legten Krankheit ken⸗ 


‚ nen; die eingehende philojophifche Unterredung, welche beibe 


Männer hatten unb die den Differenzpunft ihrer Lehren be 
traf, foll ben bruftleidenden Malebranche zu heftig angeftrengt 
und feinen Tod (13. October 1715) beſchleunigt haben. Ita⸗ 
dien und Sicilien feflelten Berkeley's Intereffe, er hatte die 
Abficht eine Beſchreibung Siciliens zu geben und dazu Mas 
terialien gefammelt, die auf der Rückkehr verloren gingen. 
Seine lebte Reife galt der Ausführung einer civtlifatorifchen 


*) An essay towards a new theory of vision (1709). A trea- 
tise concerning the principle of human knowledge (1710). Three 
dialogues between Hylas and Philonous in opposition to sceptics 
and atheists (1718). 





700 


Zdee, der Errichtung non Mifftions- und Erziehungsanftalten 
auf den Bermudasinſeln, ein Project, das er lange gehest 
und ausführlich entworfen, wofür er Anhänger geworben, bie 
Theilnahme Georg's II. erregt und von Seiten des Mini—⸗ 
fterums das Verfprechen einer Geldunterftüßung erreicht Hatte. 
Sp ging er, eben nerheirathet, im September 1728 nad) 
Rhode⸗Island und wartete bier drei Bahre anf die veripro- 
chenen Mittel, bis ihm Walpole ſchrieb, daß er umfonft marke, 
hie Regierung Babe kein Gelb. Unverrichteter Sache Tehrte 
er 1732 ua London zurüd. Im biefem Jahre erfchienen 
feine Geſpräche gegen die Freibenler (Shaftesbury, Mande⸗ 
ville, Collius) unter dem Titel: „Aleiphron ober der ſchwache 
Philofoph “, eine Schrift, die das Intereffe der Königin Ru 
voline für Berkeley erneute und fo lebhaft befriebigte, daß 
duch ben Einfluß der Königin dem Verſaſſer das Bisthum 
Cloyne in Irland zu Theil wurde (März 1734). Bon 1785 
bis in den Sommer 1752 lebt er als Bifchof zu Cloyne, nicht 
als üppiger und mäßiger Pfründengenießer, fordern als ein 
treuer und eifriger Verwalter feiner geiftfichen Amtspflichten. 
In diefe letzte Lebensperiode fallen feine mathematiſchen Streit 
fchriften („Der Analyft” 1734) und zwei Abhandlungen übe 
die Heilkaft des Theerwaſſers (1744 und 1752). Seit dem 
Sult 1752 hatte ſich Berkeley nach Oxford zurildgezogen, wo 
fein zweiter Sohn ſtudirte, und bier ift er in der Mitte fer 
ner Familie den 14. Januar 1753 geftorben. 

Die beiden grundlegenden Schriften feiner Lehre find „die 
Principien“ und „die Dialoge“, jene ihrer Anlage nach fyite 
matiſch, diefe polemifch, denn es gilt die Widerlegung dei 
Materialiften und Skeptiker. 

Unter feinen Freunden waren Swift und Pope, bie in 


| 


701 


Berkeley den originellen Denker und den vortrefflichen Charak⸗ 
ter hochichäßten, fagte doc Pope von ihm: „Berkeley hatte 
jede Tugend unter dem Himmel.” Um von feinen Landslen- 
ten einen ber jängften zu nennen, den realiftifchen Geſchicht⸗ 
fchreiber ber Civiliſation Englands, dem niemand eine Vor⸗ 
eingenommenbheit für tdealiftifche Theorien zufchreiben wird, 
fo bemerkt Buckle gelegentlich, wie er das Zeitalter der Re 
ftauration ſchildert und anf Hobbes zu fprechen fommt, daß 
biefer fo fcharffinnige Dialektifer, diefer fo ausgezeichnet Klare 
Kopf unter den britifchen Philofophen nur Berkeley untergeorb- 
net war. Die berfeley’iche Lehre hat in ihrer Heimat noch 
heute Tebhafte Anhänger und Vertheidiger, unter denen fich 
mit befonderem Eifer T. Collyns Simon hervorthut*); fie 
ift in der deutſchen Philofophie feit Kant ein fortwirkendes 
Element, und die genaue und gründliche Vergleichung zwifchen 
dem engliſchen Shealiften und dem Begründer des Kritieismus 
gehört nad) dem Borgange Schopenhauer’s unter bie orienti⸗ 
renden Aufgaben, 


*) On the thinking substance in man (the anthropological Re 
wiew for May 1865). Berkeley’s doctrine on the nature of matter 
(the journal of speculative philosophy. Dec. 1869, p. 336—44). 


Bwölftes Kapitel. 
Berkeley's Idealismus, 





L 
Die Grundfrage der Einleitung. 
1. Lockes Widerſpruch. 


Der Punkt, in welchen Berkeley von Locke ausgeht und 
abweicht, Täßt fi fehr genau beftimmen und macht das eigent- 
liche Thema der Einleitung zu feiner Lehre. Lode hatte alle 
Erfenntnißobjecte für Wahrnehmungsobjecte, diefe für Aeuße⸗ 
rungen oder Eigenfchaften ber Dinge erklärt, die lektern in 
primäre und fecundäre Qualitäten unterfchieden und unter 
jenen die allgemeinen oder urfprünglichen Eigenſchaften ver- 
ftanden, weldhe den Körpern an ſich zufommen. Hier Liegt 
der fragliche Punkt. Giebt es unabhängig von unferer Vor⸗ 
ftelung Körper an ſich, unabhängig von unferer Sinnes- 
empfindung Eigenfhaften an jih? Die Frage fällt, wie 
man fteht, zufammen mit ber Setzung oder Verneinung ber 
Materie als eines von aller Vorftellung unabhängigen, außer- 
halb derſelben befindlichen, mit gewiffen Eigenfhaften begab- 
ten Stoffs. Die Trage generalifist ih. Die Vorftellung 


708 


einer folchen Materie ift die einer allgemeinen Subftanz und 
allgemeiner Eigenschaften, d. i. en fogenannter Gattungsbe⸗ 
griff, eine abſtracte Vorſtellung oder Idee. Wenn es nun 
überhaupt keine abſtracten Ideen giebt, ſo iſt die Vorſtellung 
der Materie, bie Lehre von ben „primären Qualitäten‘ hin⸗ 
fällig, denn fie verhält ſich zu der Geltung abftracter Ideen 
überhaupt, wie der befondere Ball zur Kategorie. Locke Hatte 
bie Geltung ber Sattungsbegriffe (in der Natur ber ‘Dinge) 
verneint, dagegen die Vorftellung allgemeiner Eigenfchaften, 
welche den Körpern an ſich zukommen, bejaht unb auf das 
nachdrücklichſte behauptet, er Hatte in die Bildung ber abftrac- 
ten Ideen den ganzen Unterjchied zwifhen Thier und Menſch 
gefekt, die wmüberfteigliche Kluft beider.*) Hier ftreitet bie 
Lehre Lode’s mit fich ſelbſt, hier iſt der Punkt, in dem Bew 
terley mit der Frage einfeßt: giebt es abftracte Ideen? 


2. Berleley’s Nominalismus. Die Humöglichleit abftracter Ideen, 


Der Senſualismus ift nominaliftifh gefinnt, wie ber 
Nomtnalismns in Rückſicht auf die natürliche Erkenntniß ber 
Dinge ſenſualiſtiſch. Unter den neuern Philoſophen ift bie 
nominaliftifche Denkweiſe einheimiſch, aber fie ift von keinem 
fo fehr in den Vordergrund aller philoſophiſchen Betrachtung 
gerückt, jo grundfäglich geltend gemacht worden als von Ber⸗ 
keley. Bei dem geordneten Gedankengange bes Philoſophirens ift 
es nicht gleichgültig, an welcher Stelle eine entſcheidende Anficht 
bervortritt. In Berkeley's Lehre Hat die Anſicht von ber 
Geltung der Sattungsbegriffe, von der Nichtigkeit der abftrac- 
ten Ideen bie erfte Stelle, fie fteht gefliffentlich an der Spike 


*) The Principles of human knowledge. Introduction, XI. 


704 


ber Unterfußung, fie beftimmt deren Richtung, fie introdncirt 
die Philoſophie. Berkeley fieht in der Geltung der „abftrao 
ten Ideen” den Grundirrthum aller bisherigen Philoſophie, 
den philofophiichen Aberglauben, bie Stnubwolfe, ven „Duft“, 
den die Schalen anfgewirbelt und zuletzt fo verdichtet haben, 
daß er die Dinge verbunfelt, den Borhang von Worten (cour- 
tain of words), der uns der Baum der Erkenntniß ver- 
halt. Diefe Wolle zu Lichten, diefen Vorhang wegzunchmen, 
it daher die erfte Aufgabe, die er fich ſetzt.“) 

Er ımterfcheibet genau zwiſchen „abftrarten” und „‚ell- 
gemeinen been‘ (abstract and general ideas) und will mit 
jenen nicht aud) diefe verneinen. Was er verneint, find „die 
abftracten allgemeinen Ideen (abstract general ideas)”; une 
ter abftracten been verfteht Berkeley die Vorftellung allge 
meiner Dinge und Cigenfchaften, wie 3. B. Menſch, Thier, 
Körper, Farbe u. ſ. f., die von allen übrigen Merkmalen 
völfig abgefonderten Vorftellungen. Es iſt fowenig möglich, 
Farbe im Allgemeinen oder Menſch im Allgemeinen d. 5. 
eine abitracte Farbe oder einen abitracten Menſchen vorzuftel- 
lea als ein allgemeines Dreieck, abgejehen von den Eigenſchaf⸗ 
ten, worin fih die Dreiede unterſcheiden, ein uübftractes 
Dreied ober ein Dreieck, welches weber rechtwinklig woch 
ſchiefwinllig iſt. Eine folde Figur ift ıivorftellbar, eine 
ſolche Vorftellung rein unmöglih. Dies gilt von allen Ab 
ſtraetionen, von allen abitracten allgemeinen Ideen. Man 
verſuche ernjihaft, eine Vorſtellung der Urt zu bilden, ud 
die Unmöglichkeit wirb fofort einleuchten. Kein natürlicher 
Menſch Bat abftracte Ideen, fie find Fictisnen der Schule, 


*, Principles. Introdection, IL XXIV. 


705 


fie find nicht blog Leer, nicht blos Zeichen, fie find nichts und 
weniger als nichts, denn fie find abſurd und baar unmög⸗ 
ih. Dies ift, was die gewöhnlichen Ipealiften gar nicht, 
die gewöhnlichen Materialiften und Senfualiften nicht grünb- 
ich genug eingefehen haben. Jene halten die abftracten Bes 
greiffe für Realitäten, biefe für Zeichen. Beides ift grund⸗ 
falſch, denn es ift grundfalfch, das Nichts für etwas, das Un- 
mögliche für möglich zu halten. Im diefem Irrthum war aud) 
Locke, der die abjtracten Vorftellungen für diejenigen anſah, 
deren Zeichen die Worte find, und ohne weldhe bie ſprachliche 
Bezeichnung der Vorftellungen nicht auszubilden fei. 


3. Die Geltung allgemeiner Ideen. Die Einzelvorftehumngen. 


Um biefen folgenfchweren Irrthum Locke's fogleich zu be 
rihtigen: die Worte find Zeichen (nicht abftracter, fondern) 
allgemeiner Vorſtellungen, welche ſelbſt Zeichen find für eine 
Reihe gleichartiger. Vorftellungen oder, was daffelbe heißt, die 
eine beitimmte Claſſe von Borftellungen repräfentiren. ‘Die 
allgemeinen Ideen find nicht abftract, fondern repräſentativ. 
Es giebt kein abftractes Dreieck, fondern nur einzelne Dreiede, 
die entweder recht⸗ ober ſchiefwinklig, entweber gleichfeitig oder 
ungleichjeitig find, deren Seiten unb Flächeninhalt ihre be- 


‚ ftimmte Größe Haben u. f. f., aber nichts hindert, daß diejes 


beftimmte ſpitzwinklige Dreieck mir alle diejenigen Eigenfchaf- 
ten eines Dreiecks erkennbar macht, die von ber Größe des 
einen Wintels, von der Gleichheit oder Ungleichheit der Sei- 
ten unabhängig find; in biefem alle repräfentirt mir die⸗ 
fe8 einzelne Dreied die Claſſe der Dreiede überhaupt, es 


wird dadurch „allgemein“, aber nit „abftract“, denn es 
Fiſcher, Bacon. 45 


706 


hört nicht auf, diefe einzelne genau beftimmte Figur zu 
fein. Es ift mir unmöglich, fagt Berkeley, eine Bewegung 
porzuftellen ohne einen Körper, der ſich bewegt mit diefer be 
ftimmten Geſchwindigkeit, in diefer beftimmten Richtung. Daj- 
felbe gilt von jeber abftracten Idee.“) 

Was man alfo von abftracten Ideen gefabelt, war Duft, 
der eine ſehr einfache Wahrheit unkenntlich gemacht. Es giebt 
feine abftracten, wohl aber allgemeine Vorftellungen: das find 
Einzelvorftellungen von repräfentativer Bedeutung, oder Ein- 
zelvorftellungen, fofern diefelben Zeichen für andere gleichar- 
tige Vorſtellungen find von größerem oder geringerem Umfang. 
Diefe Zeichen find es, welche die Sprade ausdrüdt. Ab⸗ 
ftracte Ideen find leere Worte, Worte ohne Vorftellungen; 
allgemeine Ideen find Zeichen für Vorftellungen und als Worte 
Zeichen diefer Zeichen. 

Es giebt daher im Grunde nur Einzelvorftellungen, 
b. 5. Anſchauungen oder Wahrnehmungen, deren Elemente die 
einzelnen Sinnesempfindungen find. Diefe Empfindungen find 
in uns, fie find Vorftellungsarten oder Perceptionen, nichts 
anderes. So befteht das Dafein von Licht und Farbe in der 
Licht» und Tarbenempfindung d. h. im Gefehenwerben, das 
Dafein des Tons in der Tonempfindung d. 5. im Gehört- 
werden, das Dajein der Wahrnehmungsobjecte überhaupt im 
Wahrgenommenwerden, und es muß in diefer Rückſicht der 
Sat gelten: esse = percipi. Alles obfective Sein (Objectfein) 
geht ohne Reſt auf in das Vorgeftelltfein; die Frage ift, ob 
das Eriftiren überhaupt d. 5. alle Realität ohne Reſt aufgeht 
in das objective Sein ? 





9 Prine., Introd,, X—XVO. 





707 


I. 


Die Wirklichkeit der Ideen. 
1. Die primären Eigenichaften als Ideen. 


Daß bie einfachen Wahmehmungsobjecte blos in uns find, 
hatte Zode von den „ſecundären Qualitäten“ bewiefen, von 
den „primären“ verneint. Ausdehnung und Figur, Bewegung 
und Ruhe, Zahl und Solidität follen zugleih in uns und 
außer uns fein; in uns als Berception, außer uns als Eigen- 
ſchaften der Körper an fi; jene Perceptionen gelten bei Locke 
als Abbilder, deren Originale dieſe Eigenfchaften der Dinge 
find. Bier Liegt zwifchen Lode und Berkeley ber zweite Dif- 
ferenzpunft, der durch ben erften bedingt ift. Giebt es keine 
abftracten Ideen, Teine Vorftellung allgemeiner Dinge und 
Eigenfchaften, fo giebt es auch Feine primären Qualitäten im 
Sinne Locke's, es giebt Feine abftracte Ausdehnung, Figur, 
Bewegung, Solibität u. ſ. f. Wir können die Ausdehnung 
nit vorftellen, abgefehen von Figur und Größe, die Be- 
wegung nicht, abgefehen von ber (größeren oder Feineren) Ge- 
ſchwindigkeit, die Solidität nicht, abgefehen von Härte und 
Weichheit, die Zahl nit, abgefehen von unferer combiniren- 
den und zufammenfaffenden Wahrnehmung. Alle diefe Vor- 
ftellungen Löfen fi auf in Relationen, die völlig fubjectiver 
Natur find, daher find die fogenannten primären Qualitäten 
entweder nichts oder dajjelbe, was Locke „ferundäre” genannt 
hatte. Es giebt nach Berkeley, um mit Lode zu reden, nur 
jecundäre Qualitäten d. h. keinerlei Eigenſchaften, die um- 

45 * 


708 


abhängig von der Wahrnehmung oder außerhalb derfelben 
als etwas Reales zu fegen find. *) 

Einen der fcheinbarften Einwürfe gegen diefen Sat Hatte 
Berkeley gleich in ſeiner erften Schrift, der „neuen Theorie 
vom Sehen’ widerlegt: die Thatfache nämlich, daß wir ent- 
fernte Dinge fehen, wodurd der augenjcheinliche Beweis ge- 
liefert fei, daß es Wahrnehmungsobjecte außerhalb der Wahr- 
nehmung gebe. Was wir durch die Gefichtswahrnehmung un⸗ 
mittelbar percipiren, find nit Entfernungen, fondern Farben, 
nicht Raumunterfchiede, ſondern Lichtunterfchiede, die Unter- 
fchtebe des Hellen und Dunkeln in ihren Abftufungen; ent⸗ 
fernte Objecte find nichts anderes als Tünftige Taſtempfindun⸗ 
gen, die wir in Folge beftimmter Handlungen (Bewegungen) 
nad Ablauf einer gewiſſen längeren oder Türzeren Zeit haben 
werden; bie Gefihtswahrnehmungen verhalten ſich zu dieſen 
Zaftempfindungen, wie das Zeichen zum Object. Berkeley 
will damit gezeigt haben: 1) daß entfernte Dbjecte nicht un- 
mittelbar in den Bereich der Gefihtswahrnehmung fallen, 2) 
nicht außerhalb der Wahrnehmung überhaupt Liegen, fie fallen 
in das Gebiet der taftenden Wahrnehmung. **) 

Rode Hatte von den Wahrnehmungsobjecten, die bloße 
Vorſtellungen find, die Claffe der urfprünglichen Eigenfchaften 
ausgenommen; Berkeley beweift, daß diefe Ausnahme nicht 
gilt. Condillac, der gleichfalls von Locke ausging und fpäter 
als Berkeley kam, um die entgegengefettte Richtung einzufüh- 


*) Three dialogues. I. Phil. Consequently the very same argu- 
ments, which you admitted as conclusive against the secondary qua- 
lities, are without any farther application of force against the 
primary. too. 

**) New theorie of vision, Sect. CXLVII, Princ. XLII—XLIV. 





- -—— — m u nr. — m -— — — 


709 


ren, wollte von jenen Objecten nur eine einzige Ausnahme 
machen, die Vorſtellung der Solidität. Berkeley hatte bewie⸗ 
fen, daß dieſe Ausnahme nicht gilt, denn man könne die So- 
lidität nicht vorftellen ohne die Linterfchiede des Harten und 
Weichen, die völlig in den Bereich der Taftempfindung fallen. 

Was mithin alle Eigenichaften ohne Ausnahme betrifft, fo 
geht ihr Dafein ohne Reſt auf in die Perception, fie find 
nichts als Wahrnehmungen ober Ideen. Wie verhält es fich 
aber mit den Dingen, welche die Träger diefer Eigenſchaften 
fein ſollen? Die Frage geht auf das Dafein der Subitanzen 
außer uns. Sind fle ober find fie nicht? 


2. Die Dinge ald Ideen. 


Was von fänmtlihen Eigenfhaften gilt, muß auch von 
ihrem Complex gelten, von der Zufammenfegung ſowohl gleidh- 
artiger als verfchiedenartiger Qualitäten, die wir als zuſam⸗ 
menbefindlih wahrnehmen, darum als befondere Complere 
d. 5. als Einzeldinge unterfcheiden und fpradhli als folche 
bezeichnen. Daher find die Dinge, fofern fie einen Inbegriff 
beſtimmter Eigenfchaften ausmachen, d. h. die einzelnen Dinge 
nichts als ein Inbegriff beftimmter Wahrnehmungen ober 
Ideen (collection of ideas) und fowenig außerhalb berfelben, 
als die Farbe außerhalb des Sehens, der Ton außerhalb bes 
Hörens u. S. f. ift, e8 müßte denn Farben außerhalb ber 
Farben und Töne außerhalb der Töne geben. 

Wenn wir daher die Dinge als foldhe von dem Com⸗ 
pler ihrer Eigenfchaften unterfhheiden und von Dingen an 
ſich fpreden, fo kann dies nur zweierlei bedeuten: entweder 
Dinge im Unterfchiede von den einzelnen Dingen oder einzelne 
Dinge im Unterfchtede von dem Complex ihrer Eigenfchaften. 





710: 


Dinge im Unterfchiede von ben einzelnen Dingen wären 
allgemeine Dinge, die ſowenig exiftiren als allgemeine Dreiecke, 
das find Undinge, abftracte Ideen, deren Nichtigkeit und Un- 
möglichleit im Ausgangspunkte der berfeley’fchen Lehre dar- 
gethan worden. Unter diefe Kategorie und mit ihr fällt auch 
der Begriff des abftracten Körpers, des Körpers tm Allge⸗ 
meinen d. i. der Begriff der Materie als eines Dinges 
an ſich. 

Es giebt nur Einzeldinge. Was find die Einzeldinge un- 
abhängig von dem Compler ihrer Eigenfchaften? Sie find, 
was übrigbleibt nach Abzug diefer Eigenfchaften, was der ei- 
ferne Ring tft nad) Abzug des Eifens. „Sch ſehe diefe Kirfche 
da“, fagt im dritten Gefpräh Philonous zu Hylas, „id 
fühle und fchmede fie, ich bin überzeugt, daß ſich ein Nichte 
weder fehen noch ſchmecken noch fühlen läßt, fte tft alfo wirk⸗ 
lich. Nach Abzug der Empfindungen der Weichheit, Feuchtig- 
feit, Röthe, Säure mit Süßigleit vermiſcht, giebt es feine 
Kirſche mehr, denn fte ift Fein von diefen Empfindungen ver- 
ſchiedenes Weſen. ine Kirfche, fage ich,. ift nichts anderes ale 
eine Zufammenfegung von finnlihen Eindrücden oder Ideen, 
die wir durch unfere verfchiedenen Sinne wahrnehmen.” Dafs 
jelbe gilt, ob das ‘Ding Apfel, Stein, Baum, Buch oder wie 
fonft heißt.*) 

Der Schluß leuchtet ein: die Dinge, abgejehen von ben 
einzelnen Dingen, find Undinge, bie Einzeldinge, abgejehen 
von dem Inbegriff ihrer Eigenfhaften, find nichts. Nun 
find die Eigenfchaften Wahrnehmungen oder Berceptionen. 
Daher ‚geht das Dafein der Dinge und deren Inbegriff als 


*) Dial. II, vgl. Principles, Sect. I. 





711 


Außen⸗ ober Korperwelt, das geſammte Weltgebäude, ohne 
Reſt auf in Perception, und ber Satz „esse=pereipi” gilt 
jet in feinem ganzen Umfange.*) 


3. Ideen und Geifter, 


Wir können demnach in keinerlei Weife von Dingen an 
fih ſprechen, fondern nur von Dingen, fofern fie Objecte find. 
Was die Objecte betrifft, jo find fie ſämmtlich und ohne Reft 
Wahrnehmungen oder Ideen. In diefer Rüdficht gilt ber 
Sat: „es giebt nur Ideen”. Ideen find Wahrnehmungs- 
objecte oder Percipirtes (Percipirbares), fie find als ſolche 
lediglich paſſiv und daher unmöglid ohne ein actives Weſen, 
das fie hervorbringt. Das Percipirende nennt Berkeley „Geiſt, 
Seele, Selbſt (mind, spirit, soul or myself)”; der Geiſt, 
fofern er percipirt d. h. vorftellt und erkennt, ift Verſtand 
(understanding), er ift Wille, fofern er die Vorftellungen 
erzeugt.**) Jetzt muß erklärt werden: „es giebt nur wahr- 
nehmende und wahrgenommene Weſen d. h. nur Geifter 
und Ideen” Das ift der Satz, der im Mittelpunkt des 
fogenannten berkeley'ſchen Idealismus fteht und deſſen Grund⸗ 
charakter ausmacht. Was man Ding oder Subftanz nennt 
als Träger der Eigenfchaften oder als das denfelden zu Grunde 
liegende Wefen, ift bei Berkeley der Träger der Wahrnehmun- 
gen (Ideen) d. h. deren Urfache und Subject. Daher fagt 
Berkeley, daß es Feine anderen Subftanzen giebt als percl- 
ptrende Weſen ober Geifter.***) Negativ ausgebrüdt: es giebt 
feine geiftlofen, materiellen, nichtdenlenden Subftanzen (un- 
thinking things. f) 

*) Principles. III. **) Ebendaf. II, XXVIL ***) Ebendaſ. VIL 
+) Ebendaf. IH. 


712 


Die Welt ift nad) Berkeley Geiftesproduct und Geiftes- 
object, fie ift durchaus phänomenal, fie ift Vorftellung ohne 
Reſt; er Hätte feine Anficht fo gut als Schopenhauer mit dem 
Worte: „die Welt als Vorftellung” bezeichnen künnen. 


4. Die Ideen als vermeintliche Abbilder der Dinge. 


Diefe tdealiftifche Weltanfchauung ericheint dem gewöhn⸗ 
lihen Bewußtfein, als ob fie verkehrte Welt ſpiele. Nichts, 
meint man, fei augenfcheinlicher und ſicherer als der Unter- 
ſchied zwifhen Dingen und Ideen, die ſich zu einander ver- 
halten, wie die Urfahen zu den Wirkungen, wie die Urbilder 
zu den Abbildern. Die Weltvorftellung in uns ſei das Bild 
der wirklichen, biefe außer uns befindliche Welt fei das Ori⸗ 
ginal. Wenn Berkeley jagt „außer uns“, jo muß man nidt 
blos an die eigenen werthen Berfonen denken, fondern an vor- 
ftellende Wejen überhaupt. „Außer uns’ bedeutet ſoviel als 
„nnabhängig von aller Vorftellung”. Der Glaube an Origi⸗ 
naldinge außer uns (tm dieſem Sinn) bildet den eigentlichen 
Kern der gewöhnlichen Weltanficht, den Berkeley zu zerftören 
fuht. Geſetzt nämlich, es gäbe folche Dinge an fih, außer 
ber Borftellung und unabhängig-von berfelben, fo werben fie 
eben deßhalb unvorftellbar, alfo auch unvergleichbar fein, denn 
jede Vergleichung fchließt in fi die Vorftellung des Ver—⸗ 
glihenen. Zwiſchen Belanntem unb linbelanntem giebt es 
feine Vergleihung, e8 giebt feine zwifchen meiner Vorſtellung 
und dem Dinge außerhalb derfelben, alfo ift es nicht mög- 
lich, daß mir die Aehnlichkeit beider einleuchtet, mithin kön⸗ 
nen jene Dinge außer uns, wenn fie find, nicht die Vorbil- 
der oder Driginale unferer Vorftellungen fein. Farbe Tann 
ih nur mit Farbe, Ton mit Ton, Wahrnehmbares mit Wahr- 


113 


nehmbarem vergleichen, niemals das Wahrgenommene mit 
dem Unwahrnehmbaren, das Borgeftellte mit dem Unvorftell- 
baren. Nicht blos daß zwifchen diefen beiden Gliedern die 
Aehnlichkeit uns nicht einleuchtet, noch jemals einleuchten 
fann; es exiftirt Feine, vielmehr exiftirt deren Gegentheil, fie 
find einander volllommen unähnlich, denn nichts kann unähn- 
(icher fein, al8 Wahrgenommenes und Unwahrnehmbares, 
Sinnlihes und NRichtfinnliches. Geſetzt alfo, es gäbe Dinge 
an fich, fo würde die Vergleichung zwifchen Dingen und Ideen 
nicht blos unmöglich, ihre Aehnlichkeit nicht blos unerkeunbar, 
ſondern ihre völlige Unähnlichkeit vielmehr vollkommen ge- 
wiß fein. Entweder hat die Achnlichkeit zwifchen Ding und 
Borftellung keinen Sinn oder das Ding an fi hat Feinen.*) 


5. Materialismus und Stepticismus. 


Es bliebe demnach von den Dingen außer und unab» 
bängig von aller Vorftellung nichts übrig als etwas allen vor- 
ftellenden und vorfjtellbaren Wefen abfolut Unähnliches, das 
man mit dem Worte „Materie“ bezeichnet. Der Glaube an 
Driginaldinge außer uns wird zum Glauben (da von einer 
Erkenntniß keine Rede fein kann) an materielle Dinge an fid, 
an das abjolute Dafein der Materie, zum materialiftifchen 
Glauben, der ſich für philofophiichen Realismus ausgiebt, die 
Borftellung von dem Dafein der Geiftestraft vollkommen ver- 
duntelt und den Atheismus wie Fatalismus zur nothwendigen 
Tolge Hat. Der Materialismus ift feine Erlenntniß der 
Dinge, fondern ein Worurtheil, das der menfchliche Geift 
hartnädig feithält und dadurh an den Tag legt, „eine wie 


*) Principles, VII. 


714 


große Anhänglichleit er hat für das ftupide gedantenlofe 
Etwas.” *) 

Beharrt man in dem Glauben an das Dafein jener 
Dinge an fi mit der Ueberzeugung, daß fie die Originale 
unferer VBorftellungen nicht fein können und ohne die Vorliebe 
für „das ftupide gedankenlofe Etwas‘, jo bleibt nichts übrig 
als die Einfiht in die Unmöglichkeit der Erkenntniß überhaupt, 
ober der fleptifhe Standpunft.**) 

Was daher der idealiftifchen Weltanficht entgegeniteht, ift 
das gewöhnliche Bewußtſein oder der vulgäre Realismus b. i. 
der Glaube an das Dafein äußerer Dinge, der entweder in 
Materialismus oder Steptictsmus endet. Und da der Ma- 
terialismus nur einer jehr geringen Weberlegung bedarf, um 
einzufehen, daß „Materie” nichts ift als ein Wort für ein 
unbelanntes und unerlanntes Etwas, fo tft die Verneinung 
des Idealismus nothwendig die (indirecte ober directe) Be⸗ 
jahung des Skepticismus. 


6. Nothwendigleit des Idealismus. Die Welt in Gott. 


Wir ftehen vor dem Sab: „entweder Idealismus oder 
Skepticismus“, aber wir find Teineswegs in der Lage, beliebig 
zn wählen. ‘Der Skepticismus bejaht das Daſein ber äußeren 
Dinge und verneint deren Vorftellbarkeit und Erkennbarleit. 


*) Principles, LXXV. It is a very extraordinary instance of 
the force of prejudice, and much to be lamented, that the mind 
of man retains so great a fondness against all the evidence of rea- 
son for a stupid thoughtless somewhat etc. 

**) Principles, LXXXVI— VII. But if they (sensations) are 
looked on as notes or images referred to things or archetypes 
existing without the mind, then we are involved all inscepticism. 


715 


Nun ift bereits dargethan, daß die Dinge nad) Abzug aller 
Borftellungen entweder nichts oder weniger als Nichts (ab⸗ 
ftracte Dinge oder Unbdinge) find. Daher lautet die Alter- 
native, wenn man ihr auf den Grund Teuchtet: „entweder 
Idealismus oder Nihilismus”. Entweder die Bejahung oder 
die DVerneinung der wirklichen Dinge. Entweder es giebt 
überhaupt Feine äußere, objective, wirkliche Welt, ober fie ift 
im Geiſt. Genau fo Spricht Berkeley feine Alternative aus, 
die demnach nicht zwifchen zwei Möglichkeiten fteht, fonbern 
zwifchen der Möglichkeit und ihrem Gegentheil, baber nur 
einen möglichen Standpunkt läßt, den der ibealiftifchen Welt- 
anficht.*) | 

Eriftiren beißt vorgeftellt werden d. h. im Geift fein. 
Vorgeſtellt werden heißt nicht durch mich, auch nicht durch 
uns vorgeftellt werden, denn wir, die menfchlichen Geifter, . 
gehören auch unter die Dinge, deren Kraft im Vorftellen, deren 
Dafein im Vorgeftelltwerben befteht. Die Welt wird vorge- 
ſtellt, au wenn ich fie nicht vorftelle, fie ift, auch wenn 
meine Perfon nicht ift; fie wird vorgeftellt in anderen Gei⸗ 
ftern, die wie ich unter die Bedingungen des zeitlichen Da⸗ 
feins fallen. Die Welt ift, auch wenn biefe anderen Geifter 
nicht find, d. H. fie ift in einem ewigen Geift oder in Gott. 
Hier ift der Punkt, in welchem Berkeley mit Malebrandhe 
übereinftimmt.**) 


*), Principles, VI. 

*) Es heißt von ben Dingen, deren Inbegriff die Welt ift: „They 
must either have no existence at all, or else subsist in the mind 
of some eternal spirit. Princ., VI. Bgl. ebendaf. LIT (auf Male 
branche bezüglich). Ebendaſ. XLVII. 


716 


7. Die Ideen ald Dinge. Berleley’s Realismus. 


Hieraus erhellt, daß die berfeley’iche Lehre fich nicht etwa 
zur realiftifchen Weltanficht in Gegenſatz, fondern an deren 
Stelle ſetzt; fie gift fih und will gelten als die wahrhaft 
realiftifche Weltanfiht, die fogenannten Originalbinge außer 
ben Ideen find nichts, fie find nicht Urbilder, fondern Wahn- 
bilder, leere Fictionen. Die Ideen find daher nicht Abbilder, 
fondern die Originale felbit, überhaupt nicht Bilder, fondern 
Dinge im Sinne der Wirklichkeit oder Realitäten. Spreden 
wir von unferen Ideen, fo verfteht fih von felbft, daß der 
Charakter der Realität nicht ſolchen Vorftellungen zufommt, 
die wir willfürlih machen, fondern nnr denen, die wir un- 
wilffürlih haben, die nicht duch uns, fondern in uns pro- 
ducirt werden, die uns als Weltanfchauung eingeprägt find. 
Unfere naturgemäßen ober ſinnlichen Vorftellungen find die 
Driginale, von denen die Bilder im Gedächtniß, der Imagi⸗ 
nation, dem Verſtande Spuren, Refte, Nahbilder, Abbilder 
find. Dean hat alfo nicht zu fürchten, daß unter Berkeley's 
Sefihtspuntt ‚Realitäten und „Chimären”, Dinge und 
Ideen, welche bloße PBhantafiegebilbe find, nicht mehr zu un- 
terfeheiden wären.*) 

As Nominalift jagt Berkeley: „die wirklichen Dinge 
find die einzelnen“; als Senfualift fagt er: „die wirklichen 
Einzeldinge find die wahrgenommenen”, und da nach Abzug 
aller Wahrnehmungen die Dinge gleich nichts find, fo muß 
er als folgerichtiger Senfualift den idealiftifchen Ausſpruch 
thun: „die Dinge find bloße BVorftellungen und nichts an- 





*) Principles, XXIX, XXX, XXXIH, XXXVI, LXXXI. 





717 


deres“, aber fie find nicht bloße Vorftellungen, die in unferer 
Phantafie wie Seifenblafen entftehen und vergehen, fondern 
nothwendige Vorftellungen, an denen unfere Willfür nichts 
macht und nichts ändert. Daher ber realiftiihe Sak, der 
den ibealiftifchen erflärt, indem er ihm ummwendet: „bie Wahr- 
nehmungen find die wirklihen Dinge”. Was das gewöhn- 
liche Bewußtſein „ Dinge” nennt, das nennt Berkeley „Ideen“; 
er verfteht darunter dem Inhalte nach diefelben Thatſachen, 
und es ändert an dem natürlichen Thatbeſtande unferer Vor⸗ 
ftellungswelt, an unferer factiſchen Weltanfchauung, an der 
Sinnenwelt oder an dem, was man bie Natur ber Dinge 
nennt, gar nichts, ob diefe Thatfahen als Dinge oder als 
Ideen bezeichnet werben. 

Nun könnte man fragen: warum fagt er nicht Tieber 
„Dinge“ Statt „Ideen“? Warum braudt er einen Ausdrud, 
‚der fo leicht fo vielen und groben Misverſtändniſſen ausgeſetzt 
ift? Er thut es, um gröbere Misverftändniffe zu verhindern, 
vielmehr Grundirrthümer aufzuheben, die das Fundament un- 
ferer Weltanfiht verkehren. PVerfteht man unter ‚Dingen “ 
etwas außer aller Borftellung, fo bezeichnet der Ausdruck 
das Gegentheil der wirklichen Dinge; verfteht man darunter 
Subſtanzen d. 5. felbftftändige und thätige Wefen, jo gilt der 
Ausdrud nur von den vorftellenden, nicht von den vorgeftell- 
ten Dingen, nur von den Geiftern, nicht von den Ideen: verfteht 
man darunter, was jedes einfache natürliche Bewußtfein in 
Wahrheit darunter verjteht, die Wahrnehmungsobjecte, fo giebt 
e8 keinen Ausdrud, der verjtändlicher und klarer den Charalter 
berjelben bezeichnet, als das Wort „Vorftellungen oder Ideen.“*) 


*) Principles, XXXIX. 


118 


Diefer Ausdrud in Berkeley's Munde ift keineswegs müßig 
oder gar eine Spielerei, fondern die kürzeſte und bedeutfame 
Formel, um zu erflären, daß die Thatſachen der Natur nicht 
jenſeits der Vorjtellung Tiegen, fondern Innerhalb ihres Reichs 
und ihrer Tragweite, daß es Fein Sein außer der Vorftellung 
giebt, daß unjere nothwendigen Vorftellungen nicht ein Schein 
wirfliher Dinge, fondern dieſe felbft find, „Du misverſtehſt 
mich“, jagt Philonous im dritten Gefpräch zu Oylas, „ich ver- 
wandle nicht die Dinge in Ideen, fondern vielmehr bie Ideen 
in Dinge. *) 


II. 
Die Einwürfe und deren Widerlegung. 


1. Chimären und Einneötäufcgungen. Berlelcy nnd Copernicus. 


Aus diefen Charakterzügen feiner Lehre erklärt fich Teicht 
ſowohl die Reihe der Einwürfe, die Berkeley felbft gegen ſich 
auftreten läßt, als die Art, wie er biejelben widerlegt. **) 
Die Hauptpunkte find ſchon erörtert. Daß der berfeley’fche 
Idealismus die Welt in eine Chimäre oder in eine Art Traum 
verwandfe und das Dafein der Dinge abhängig made von 
unferer Wahrnehmung, alfo von dem Dafein unjerer Berfo- 
nen, ift das viel variirte Thema ber Einwürfe. ‘Daß noth- 
wendige Vorftellungen feine Chimären, eine (allen Geiftern) 
gemeinfame Vorftellungswelt oder Weltvorftellung kein Traum, 


— — — — — 


*, I am not for changing things into ideas, but rather ideas 
into things etc, Dial II. The works etc. London 1820, vol. I, 
p. 201. 

*%, Principles, <XXVI—LXXXI—LXXXV. 


719 


daß diefe von aller menſchlichen Willkür unabhängige, nicht 
buch uns, fondern in uns gegebene Vorftellung Teineswegs 
an das flüchtige Dafein der menſchlichen Perfonen gebunden 
ift umd alfo keineswegs mit ihnen fteht und fällt, ift das oft 
widerbolte Thema berfeley’fcher Widerlegung. Wenn nad) 
Berkeley „exiftiren” fo viel heißt als „wahrgenommen wer- 
den” und aljo „nicht wahrgenommen werden” fo viel heißt als 
„nicht exiſtiren“: wie verhält es fi dann, muß man fragen, 
mit der Sonnenbewegung, die wir fehen, und mit ber Erd⸗ 
bewegung, die wir nicht fehen? Jene iſt nicht, diefe tft. 
Scheitert alfo nicht in ihren nächſten Folgerungen die berfe- 
ley'ſche Lehre an der copernicanifhen? Folgt nicht aus die⸗ 
fem Idealismus, daß jede unferer unwillkürlichen Sinnestäus- 
ſchungen, deren fo viele find, für wahr und wirklich zu hal- 
ten jet? Dieſe Einwürfe bat Berkeley nicht überjehen und 
konnte fie leicht in Zeugniffe für feine Lehre verwandeln. 
Daß unferer Wahrnehmung von ihrem Standpunft aus bie 
Erde als der Centrallörper erfcheint, um den fich die Sonne 
bewegt, ift eine wirkliche, unlengbare, wohlbegründete That⸗ 
ſache. Wenn nun ein aſtronomiſches Dogma behauptet, daß 
unabhängig von unferer Wahrnehmung die Erde wirffich die- 
fer Eentraflörper jei, den die Sonne umkreiſt, fo gilt dabei 
die Annahme, daß die Wahrnehmungsobjecte unabhängig von 
der Wahrnehmung eriftiren: eine Annahme, die Berkeley fo 
wenig berechtigt, daß er fie vielmehr von Grund aus ver- 
neint. Und wenn Eopernicus jenes aftronomijche Dogma ge- 
rade dur die Annahme widerlegt hat, daß vom Standpunkt 
ber Sonne aus betrachtet, die Erde als Planet erfcheine, fo 
ift ja feine große Reform der Aftronomie gerade badurd) bes 
gründet, daß er die Erde zum Wahrnehmungsobject macht 





720 


und als folches beurtheilt. Vergleichen wir jekt die aftrono⸗ 
miſchen Vorſtellungsweiſen mit der Grundlehre Berkeley's, fo 
leuchtet ein, daß das alte Syitem ihr widerftreitet und das 
eopernicanifhe mit ihr übereinftimmt.*) Unſere Wahrneb- 
mungen find wahr, jede an ihrem Ort, aber fie find nicht 
apboriftifch, fondern bilden einen Zufammenhang, eine Ord⸗ 
nung, die auch wahrgenommen fein will und ung nöthigt, die⸗ 
jen Zufammenhang zu ergründen und nicht bei dem einzelnen 
Eindrud ftehen zu bleiben, fonft hätten wir feine Voritellungs- 
welt, fondern ein Vorftellungshaos, Eben das ift die Auf- 
gabe der Wiffenfchaft, die Einficht zu gewinnen in den Text 
unferer Wahrnehmungen. 


2. Ter Schein des Abfurden. 


Die wohlfeilften Cinwürfe find auf ‚den gewöhnlichen 
Menfchenverftand immer die wirkfamften, und zu Einwürfen 
diefer Art bot Berkeley felbft durch feine Ausdrucksweiſe die 
leichtefte Handhabe, denn es war fehr leicht, den Schein des 
Paradoren, den Berkeley nicht fcheute, in ben des Abjurden 
zu verwandeln, fo gründlih er denſelben aud) abgewehrt 
hatte. Eigentlich find es nicht Einmwürfe zu nengen, jondern 
Späße, die man mit feiner Terminologie trieb. Er verftand 
unter Ideen Wahrnehmungsobjecte oder Dinge, wie vor ihm 
Locke, nah ihm Condillac unfere ſinnlichen Eindrüde „Ideen“ 
nannte; indeffen laffen fih unter Ideen auch allerhand Ein- 
fülle und Phantafiegebilde verftehen, wie es im gewöhnlichen 
Sprachgebrauch wirklich gefchieht. Will man nun, daß Ber⸗ 
feley, wo er „Ideen“ fagt und Wahrnehmungsobjecte oder 


*) Principles, LVIH. 


721 


Dinge meint, Einfälle oder Bhantafiegebilde gemeint haben 
fol, fo ift des Spaßes fein Ende. Das wirkliche euer und 
die Idee des Feuers! Das eine brennt und bas andere brennt 
nicht! Welcher Unterſchied, den Berkeley überjah, da er das 
wirkliche Feuer für eine Idee hielt! Sn der That glaubte 
Berkeley, daß das wirkliche Feuer fowenig unabhängig von 
ber Wahrnehmung erxiftire, als der wirkliche Schmerz unab- 
hängig von der Empfindung. Daß Speife und Trank Wahr- 
nehmungsobjecte find, iſt die felbftverftändlichite Sache von 
der Welt, aber daß wir nad) Berkeley Ideen efien und trin- 
fen, ift der ergöglichfte Unfinn.*) ‚Der gute Berkeley“, 
fherzte nach deſſen Genejung fein Arzt Arbuthnot, „hat die 
Idee eines hikigen Fiebers gehabt, und es war fehr fchwer, 
ihm die Idee der Gefundheit wiederbeizubringen.” Voltaire 
verftärkte diefe Sorte von Einwürfen durch das einfache Mit⸗ 
tel der Multiplication und lieferte in feinem philoſophiſchen 
Wörterbuch bei Gelegenheit des Artifels Körper” bem ber- 
feley’fchen Idealismus eine kurze und fiegreihe Schlacht. „Zehn⸗ 
taufend Kanonentugeln und zehntaufend getödtete Menſchen 
find nad Berkeley's Philoſophie zehntauſend Ideen.“ Wozu 
ber Aufwand? Voltaire würde Berkeley vollkommen wider⸗ 
legt Haben, wenn er an einer einzigen Kanonenkugel ge- 
zeigt hätte, was davon nicht wahrnehmbar oder Ding an fidh 
if. Ihm galt Lode als der Bhilofoph, dem er folgte, doch 
bat er ihn im Grunde fehr wenig verftanden, dba er denſelben 
in Berkeley fowenig wiedererlannt bat. Man darf das Ver⸗ 
halten zu Berkeley als eine Probe betrachten des richtigen 
Berhaltens zu Lode. Wer jenen volllommen misperfteht, 


*) Principles XXXVIH, XLI. 
Fiſcher, Bacon. 46 


122 


fann biefen nicht wohl veritanden haben. Freilih muß man 
es mit Voltaire nicht fo ernft nehmen, denn wißig und 
fleptifch, wie er war, fand er fich immer mehr aufgelegt, etwas 
fächerlich zu machen, als zu widerlegen. 

Berkeley hat den Spaßmachern das Richtige geantwortet. 
Sowenig feine philofophifche Anficht den Thatbeftand des ge» 
wöhnlichen Bewußtſeins veränbere, fondern blos erffäre, ſo⸗ 
wenig verändere feine philofophifche Ausdrucksweiſe den ge- 
wöhnlichen Sprachgebraug. Dan folle mit dem Philoſophen 
denfen und mit dem Volke reden; die Idealiften feiner Art 
dürfen von „Dingen“ fprechen, ebenfo gut als die Koperni- 
faner vom Aufgang und Untergang der Sonte.*) 


IV. 
Berkeley’s Erkenntnißlehre. 


1, Die Erkenntnißobjecte. Die Ordnung der Dinge, da3 Bud ber 
Belt. 

Aus Berkeley's Ideenlehre folgt feine Erfenntnißlehre. 
Die Erfenntnißobjecte find Gott, die Geifter, die Ideen umd 
deren Verhältniffe; der Inbegriff ber Geifter und Ideen iit 
die Welt, der Inbegriff der ſinnlichen Ideen oder Wahrneh- 
mungsobjecte ift die Natur. Sinnliche Ideen und natürliche 
Dinge find diefelben Objecte, die zwar unabhängig von der 
Vorſtellung nichts find, wohl aber eriftiren, auch wenn ich fic 
nicht vorftelle, denn ihre Vorftellung dauert fort in Geiftern 
außer mir; in diefer Rückſicht können die finnlichen Ideen 
auch „äußere Dinge” heißen und die Natur Außenwelt.**) 


*) Principles LI, vgl. XL. **) Principles XC. 





123 


Es giebt demnach Erkenntniß Gottes, der Geifter (Selbft- 
erkenntniß und Erkenntniß der Geifter außer uns), der Na- 
tur; die Naturwiſſenſchaft fällt zufammen mit der Erfenntniß 
der finnlichen Ideen (Körperwelt) und ift als ſolche Natur- 
philofophie und Mathematik. Auf dieſe letztere nament- 
lich richtet Berkeley kritiſch die Grundfäge-feigg: Ioeenlehre, 
Man muß fi folgende Hauptpunfte verfegenwärtigen, um 
Berkeley’s Folgerungen an diefer Stelle zu würdigen: 1) die 
Natur ift durchaus wahrnehmbar, e8 giebt in ihr nichts Un⸗ 
wahrnehmbares, Unvorjtellbares, nichts abjolut Verborgenes, 
daher Feine Naturmyſtik, Feine Lehre fogenannter verborgener 
Dnalitäten, 2) e8 giebt fein Ding an fi), Feine Materie, 
feine Körper an fi), daher verwirft er die Corpuscularphufik, 
die materialiftiiche Naturerflärung, aus deren Principien, näm- 
lih der Annahme einer Materie, in Wahrheit nicht ein ein⸗ 
ziges Phänomen wirklich erklärt werde, 3) es giebt keine ab- 
jtracten Ideen, fondern nur Wahrnehinungsobjecte, deren 
Daſein lediglich im Vorgeftelltwerden befteht, daher find dieſe 
Dbjecte zwar durchaus vorftellbar, aber auch völlig paſſiv, 
weder felbjtändige noch thätige Weſen, weder Subjtanzen noch 
Urſachen, e8 giebt demnach in der Natur felbft Feine 
GSanfalität und feinen Caufalzufammenhang Er 
verwirft daher grundfätli wie die materialiftifhe, fo die 
mechanische Erklärung der Dinge. Was wir als Naturpro- 
ducte vorftellen, find ihrer wirklichen Urſache nad) göttliche 
Willensproducte, Wirkungen eines jchöpferifchen, zweckthätigen 
Willens; was wir als Naturgefege wahrnehmen, find con« 
ftante und regelmäßige Wirkungen Gottes; der gefammte meche- 
nifhe Apparat der Dinge ift die Bedingung zu diefer Regel⸗ 
mäßigfeit und verhält ji) zu der gewollten Natur, zu der 

46* 





724 


Weltihöpfung, wie das Mittel zum Zweck. Daher fordert 
Berkeley als endgültige Richtſchnur zur Naturbetradhtung ftatt 
des Mechanismus die Teleologie, die Ergründung der Dinge 
nah Zweckurſachen oder göttlichen Abfichten. Unſere Wahr- 
nehmungsobjecte (die natürlichen Dinge) find geordnet, aber 
fie machen diefe Ordnung nicht ſelbſt aus eigener Caufalität, 
fowenig die einzelnen Buchſtaben felbft die Worte und die 
einzelnen Worte jelbft den Text des Buches machen. Den 
Text des Buches macht der Schriftfteller, den Text der Welt 
macht Gott. Wie fi die Buchſtaben zum Wort und die 
Worte zum Sinn verhalten, fo verhalten fi die natürlichen 
Dinge zu der Ordnung, die fie verfnüpft: nicht wie die Ur- 
ſache zur Wirkung, fondern wie das Zeichen zum Bezeid- 
neten. Berkeley Tiebt diefes Bild, und man fieht, daß es ihm 
vorfchwebt, auch wo er es nicht ausfpridht. Der Naturfor⸗ 
fcher ftudirt das Buch der Welt, während die gewöhnliche Er- 
fahrung fih die Worte zufammenbuchftabirt, ein paar Sätze 
lieſt und, wenn e8 hochkommt, ein paar Seiten. Es find diefel- 
ben Buchſtaben, diefelben Worte, biefelben Süße, aber wer 
das Kapitel gelefen hat, veriteht fie ganz anders als ber 
Buchſtabirer oder der Leſer, ber blättert oder der nur eine 
Seite umfaßt. Man ann auch wiffenfhaftlich auf verſchie⸗ 
dene Art den Text der Welt, wie den eines Buches Iefen. 
Der eine Tieft, um den Sinn bes Schriftftellers zu ergrim: 
den, der andere, um an Worten und Süßen grammatifche 
Beobachtungen zu machen. So unterfcheibet fih nah Ber 
teley die Natnrphilofophie von der gewöhnlichen Naturwiffen- 
faft.”) 


” Principles CVII—CIX. 





125 


2. Die mechanifche Naturerklärung. 


Die mechanische NRaturerflärung erfennt von den eigent- 
lichen Urſachen der Erfcheinungen nichts, fie erfennt nur die 
Gleichförmigkeit der Wirkungen. Daß irdifche Körper zur Erde 
fallen, fieht jeder; der Naturforfcher erklärt die Sache aus 
der Anziehungskraft der Erde, er fieht weiter und erfennt in 
Ebbe und Fluth diefelbe Erfcheinung, die er erflärt aus der 
Anziehungskraft des Mondes, er fieht weiter und erkennt in 
der Bewegung der Planeten diefelbe Eriheinung, die er er- 
klärt aus der Anziehungskraft der Sonne. Seht generalifirt 
er die Attraction und erklärt daraus im weiteften Umfange 
eine Reihe verfchiedener und analoger Bewegungserfcheinun- 
gen; die Gravitation gilt ihm als allgemeines Geſetz und follte 
gelten nur als eine Regel, die fi anf nichts gründet als die 
Analogie gewiffer Erfcheinungen, und bie nichts erflärt als 
die Gleihförmigfeit gewiffer Wirkungen, fie erklärt nicht die 
Urfadhe, fie bejchreibt nur ben Erfolg. Diefer Körper fällt 
zur Erde d. 5. er wird von ber Erbe angezogen db. 5. die 
Erbe zieht ihn an. Leiftet nun die Erflärung aus der Attracs 
tionskraft der Erde etwas anderes oder mehr als daß fie die 
Thatſache befchreibt, die im Falle des Körpers vor fich geht? 
Und die Theorie der allgemeinen Attraction umfaßt zwar mehr 
Erſcheinungen als die irdifche Körperwelt, aber dringt in ber 
Erflärung derjelben nicht tiefer. Es ift noch die Trage, ob 
diefelben Wirkungen, welche die Attraction erklären will, nicht 
beffer durch den Stoß erklärt werben können; es ift noch die 
Trage, ob es nicht Materien giebt, deren Xheile eine der 





126 


Attraction entgegengefegte Tendenz Haben, für welche daher 
das fogenannte Geſetz der Attraction nicht gilt.*) 

Die mechaniſche Erklärung der Natur erleuchtet die Regel— 
mäßigfeit der Erſcheinungen, die Gleichförmigkeit der Wir: 
fungen, die in der That ftattfindet, und fördert dadurch eine 
große Wahrheit zu Tage. Diefe Leiftung ift ihr Verdienſt, 
das an Newton’s berühmten Werke, den „mathematiſchen Prin- 
cipien der Naturphilofophie” mit Recht bewundert wird. **) 
Aber die eigentliche Urfache wird dadurch nicht erfanıt. New: 
ton’8 Grundbegriff eines abfoluten Raumes, einer abfoluten 
Zeit, einer abfoluten Bewegung wibderftreiten Berkeley's Grund: 
lehren, erſtens weil fie abftracte Ideen find, dann weil fie 
Dinge an fi) unabhängig von der Vorftellung fegen. Daſſelbe 
gilt von den mathematifhen Grundbegriffen, den arithmetifchen 
und geometrifhen Abftractionen, dem abftracten Begriff der 
Zahl und dem abftracten Begriff der Ausdehnung, der nach 
Berkeley einen der größten aller Widerfprüche in fich ſchließt, 
nämlich das PBaradoron der unendlichen Theilbarkeit d. i. die 
Borftelung umvorftellbarer Theile, die Vorftellung des Un— 
endlichlleinen, das, unendlich vervielfältigt, nicht der kleinſten 
gegebenen Ausdehnung gleihfommen foll. Bon diefem feinem 
Standpunkt aus, wonach die Vorftellbarfeit das Maß ver 
Realität ift, befänpfte Berkeley die Infinitefimalrehnung. Er 
hätte an diefer Stelle fehen follen, daß der Begriff der Größe 
mit feinem Begriff der Vorftellbarkeit ftreitet und alfo der 
legte zu eng gefaßt ift. Hier tritt der Tenfualiftifche Urfprung 
und Charakter des berfeley’fchen Idealismus deutlich zu Tage; 
Borftellbarkeit Fällt ihm zufammen mit Wahrnehmbarkeit, und 


*) Principles CHI-CVI. **) Ebendaſ. CX—CXIV. 





127 


da die finnlihen Eindrüde einzelne und discrete find, fo ver- 
neint er die Continuität der Größe. In der Unverträglid- 
keit feiner Lehre mit der Analyfis des Unendlichen entdedt fich 
die Schwäche feines Standpunfts, die nicht in dem Idealis⸗ 
mus, fondern in der blos fenfualiftifhen Grundlage deffelben 
enthalten ift, aber freilich macht eben diefe Grundlegung den 
Charakter des berkeley'ſchen Idealismus. *) 


3. Geifter und Gott, Die religiofe Bhilofophie (Theodicee). 


Unferer eigenen geiftigen Thätigfeit find wir unmittelbar 
gewiß durch innere Wahrnehmung (Neflexion), nicht durch 
Senfation; fowenig der Ton ſichtbar und die Farbe hörbar 
ift, fowenig ijt der Geift ſinnlich wahrnehmbar oder, was 
daſſelbe heißt, durch Ideen erkennbar, wohl aber können wir 
aus gewiſſen Ideen oder Wahrnehmungen auf das Daſein 
anderer Geiſter außer uns ſchließen. 

Wie wir den Künſtler aus ſeinem Werk erkennen, aber 
nicht in demſelben als Object vorfinden, fo erkennen wir 
Gott nit als ein Wahrnehmungsobject, nicht als eine Idee, 
deren feine ihn ſelbſt ausdrüdt, fondern aus feinem Wer, 
Sein Wert ift unfere gefammte Weltanſchauung. Je tiefer 
und umfaffender wir in das Wert des Künſtlers eindringen, 
um fo erfennbarer wird der Künftler felbit; je mehr wir im 
Geiſte des Künftlers Leben und denken, um fo tiefer erfaffen 
wir fein Werk. Aehnlich verhält es fich mit unferer Gottes- 
erfenntniß. Je zufammenhängender, georbneter, umfaſſender 
unfere Weltanfhauung ift, um fo erfennbarer wird ung die 
göttliche Wirkſamkeit; je mehr wir in Gott leben und denfen 


*) Princ. COXIV—CXVI, CXVIII—CXXU—CXXXIV. 


128 


d. 5. je mehr er uns innerlich gegenwärtig ift, um fo deut- 
licher erkennen wir ihn felbft im Univerfum. Die deutlichfte 
Offenbarung ift der göttliche Weltplan, nur erkennbar einer 
teleologifchen Betrachtung der Dinge, bie in ben Mängeln 
und Unvofffommenheiten der Welt Mittel zum Beten, Fügun⸗ 
gen der höchften Weisheit und Güte, wohlthätige Schatten in 
dem vollfommenften aller Gemälde erkennt. Die wahre Welt- 
betrachtung ift die Theodicee. Hier finden wir Berkeley 
in Webereinftimmung mit Leibniz. Hier ift diejenige Einheit 
der Religion und Philoſophie, die Berkeley erjtrebt, die er 
nicht blos den Materialiften, Atheiften und Steptifern ent- 
gegenhält, fondern auch den Deiften, Freidenlern und über- 
haupt allen Gegnern des pofitiven ChriftenthHums; diefe reli- 
gidfe Philofophte ift das Ziel feiner Lehre, das Berkeley ver- 
theidigt nicht blos mit religiöfem, auch mit biſchöflichem Eifer. 
Es ift nicht zu verkennen, daß auf diefer lebten Strede des 
Weges, der in die Religion und Kirche einmünbet, der fromme 
Mann fchneller Läuft als der Philofoph; er eilt, feinen Idea⸗ 
lismus, der auf dem Senfualismus ruht, unter das Dad 
der Kirche zu bringen; feine nominaliſtiſche Denkweiſe fucht 
dur den Senfualismus hindurch auf dem Wege des Idealis⸗ 
mus den altgläubigen Supranaturalismus und nähert fi) ge 
rade in dieſem Ziel den f&holaftifchen Nominaliften. Man kann 
unter dem Eindrude der berfeley’schen Philofophie die Vorftel- 
lung haben, als ob ein fcharffinniger ‘Denker ausgehe von Scotus 
und Occam, die Straße von Bacon und Locke durchwandern und 
auf einem originellen, felbitgefundenen Wege, der fi) mit Male: 
branche Treuzt, in die Nähe feiner Ausgangspunfte zurüdtehre.*) 


*) Prine. CXLVI—CLVI. 








nie eu ST en ri u 4 


129 


4, Das ſleptiſche Refultat. 


Es ift Teicht zu fehen, daß fich diefe ſenſualiſtiſche Grund⸗ 
legung und diefe fupranaturaliftiiche Vollendung der berkeley⸗ 
ſchen Lehre nicht miteinander vertragen, daß der unergrünb- 
liche Wille Gottes, als die alleinige Urfache alles Erkennbaren, 
unfere Erkenntniß unficher (fogar den conftanten Ordnungen 
der Natur gegenüber) und im letzten Grunde unmöglich) macht. 
Dies hat auch Berkeley felbft fi) nicht verborgen, er Hat 
ausdrücklich erklärt, daß wir wohl im Stande find, gewiſſe 
allgemeine Naturgeſetze oder Regeln des natürlichen Geſchehens 
zu erlennen und daraus gewiſſe Erfcheinungen Herzuleiten, 
daß wir aber feine berfelben „demonſtriren“ oder als noth- 
wendig erweifen können. „Denn alle Deductionen diefer Art 
hängen ab von der Annahme, daß der Urheber der Natur 
ftet8 gleichförmig handle, unter beftändiger Beobachtung der 
Regeln, die wir für Brincipien nehmen, und das können wir 
niemals einleuchtend erkennen.“*) 

Wir werben daher auf dem Punkte, wo Berkeley die 
Bhilofophie ftehen Täßt, entweder dem Unvermögen unjerer 
Erfenntniß aus dem Inhalte des Glaubens und der religiöfen 
Erleuhtung zu Hülfe kommen oder, wenn weiter philofophirt 
werden foll ohne Rückkehr in dns Aſyl des Glaubens, er- 
flären müffen, daß eine wahre und nothwendige Erkenntniß 
der Dinge aus fenfualiftifchen Mitteln nicht Hftritten werden 
könne. Das tft der Schritt vom Senfualismus zum Step- 
ticismus. 


*), Princ. CVII. 





Dreizehnles Kapitel. 
David Hume. 





I. 
Hnume's Anfgabe und Standpunkt. 
1. Die Vorgänger. 


Der Fortgang, den die Erfahrungsphilofophie nehmen 
mußte, war dur Bacon's Lehre vorgezeichnet, durch Hobbes 
eingehalten, durch Locke entfchieden; fie hatte nicht blos, wie 
e8 bei Bacon bier und da fcheinen kann und wie noch Heut- 
zutage viele den Empirismus verftehen, der Naturwiifenfchaft, 
nämlich der phyſikaliſchen Erforihung der Dinge nad em- 
pirifher Methode, einfad) das Feld zu räumen, fondern fie 
behielt die ihr eigenthümliche Aufgabe, die Erfahrung und 
deren Bedingungen in der menſchlichen Natur zu unterfuchen. 
Jener baconifhe Grundſatz, daß alle Erfenntniß in der Er- 
fahrung beftehe, mußte fi) in die Trage umwandeln: worin 
befteht die Erfahrung und Wahrnehmung felbft? In der 
Stellung diefer Trage lag fhon die Nothwendigkeit, die Un- 
terfuhung auf das ganze Gebiet der innern Menfchennatur 
auszubehnen und die experimentelle Methode, wie Bacon ge- 
fordert und Hobbes verfucht hatte, in die geiftigen Materien, 





131 


in die moralifhen Wiffenfchaften einzuführen, mit einem 
Worte die Erfenntnig der menfchlichen Natur zur eigentlichen 
Aufgabe der Philofophie zu machen. Mit völliger Klarheit 
über dieſes Thema Hatten bereit Locke und Berkeley ihre 
Aufgaben gefaßt. In diefe Richtung fah fih Hume geſtellt 
und erkannte im Hinbli auf feine Vorgänger jehr wohl, wie 
weit jie ihm vorgearbeitet Hatten; er nahm die Erforichung 
der menſchlichen Natur nad) erperimenteller Methode, wie er 
e8 gleich in der Bezeichnung feines erften und wichtigsten Wer- 
fe8 ausſprach, zur Hauptaufgabe feines Lebens; er wollte 
unfere geiftige Handlungsmweife im Erfennen und Wellen aus 
ihren rein natürlichen Triebfedern erklären, nicht unfer Thun 
ündern, fondern es durchſchauen und darüber Nechenfchaft 
geben, fo unverbiendet und nüchtern als möglih. Dazu trieb 
ihn, wie er felbft befennt, fowohl das perfünlich tiefe DBe- 
dürfniß, fi über das eigene Leben und Verhalten aufzuklären, 
als der Ehrgeiz die Welt zu belehren. Wie Bacon in Rüd: 
fiht auf die Erfenntniß der äußern Natur den Flug des 
Denfens widerrathen und der Philofophie ftatt der Fittiche 
Dlei und Gewicht angelegt hatte, jo wollte Hume die Er- 
fenntniß der innern Natnr betrieben fehen. Die Philofophen, 
meinte er, follen es nidht machen wie die Engel, die mit 
ihren Flügeln ihre Augen bedecken. Dem Spiritus der neuern 
ipeculativen Denker, wie Descartes, Malebranche und Leibniz, 
wollte Hume etwas vom englifchen Phlegma beimifchen, und 
davon Hatte er ein gutes Theil mehr al8 Bacon in feinem 
eigenen Naturell. 

Wir haben ſchon gezeigt, wohin der Weg der Erfahrungs- 
philofophie gerichtet ift. Unter dem Gefihtspunft einer rein 
ſenſualiſtiſchen Erfenntnißtheorie, wie fie Locke gegeben, müſſen 


- 132 


die Dinge an fih (Subftanzen) für unerlennbar gelten, ebenjo 
die Eigenfchaften, welche Dingen an fih zulommen, ebenſo 
jede Art eines in der Natur der Objecte begründeten Zuſam⸗ 
menhangs. Auch wiffen wir, wie Lode in allen diefen Punk⸗ 
ten die Bedenken, welche fein Standbpunft fordert, zwar em⸗ 
pfunden, aber denfelben Teineswegs volle Rechnung getragen 
hatte; er Hatte die Subftanz der Dinge für unerlennbar, aber 
das Dafein Gottes für demonftrabel, das Weſen der Körper 
für unbegreiflih, aber deren Cauſalität und Grundeigenſchaf⸗ 
ten für unmittelbar einleuchtend gehalten. Der Widerftreit, 
in den feine Lehre mit fich ſelbſt gerathen war, lag offen vor 
Augen. Berkeley erfannte die Mängel, befreite den Senfua- 
lismus von diefen Lode’ihen Halbheiten und kam zu der Fol⸗ 
gerung, "daß die Dinge an fi) wie deren Eigenfchaften nicht 
blos unerlennbar, ſondern ganz und gar nichtig, und die wirk⸗ 
lihen Objecte bloße BVorftellungen ohne alle eigene Caufalität 
fein. Was wir den natürlihen Zufammenhang ber Dinge 
nennen, diefe Ordnung unjerer Erfenntnißobjecte, ift nad) 
Berkeley Schöpfung, göttliche Willensthat, alfo die Wirkſam⸗ 
feit einer unergründlichen Urſache. Daher muß die fenfua- 
liſtiſche Erfahrungsphilofophie jede wirkliche Erkenntniß aus 
natürlichen Mitteln für unmöglich erklären, d. 5. fie muß 
fteptifch werden, wenn fie entſchloſſen ift, blos mit natür⸗ 
lihen Mitteln zu vechnen. 

Diefe Rechnung unternimmt Hume und zieht das Facit. 
Er knüpft fein Refultat unmittelbar an Lode und Berkeley, 
insbefondere an den letern, defjen Idealismus, wie Hume 
meint, nur Stepticismus bewirken könne; er nennt Berkeley's 
Lehre „die befte Anweifung zum Stepticismus” und jenen 
Tundamentaljak, von dem fie ausging, daß alle abftracten 





133 


Ideen ungereimt und nichtig feien, „eine der größten und 
wichtigften Entbedlungen, welche die Philofophie der jüngften 
Zeit gemadt habe”. 


2. Erfahrungsphilsiophie und Erfahrung. 


Ich will den Charakter des hume'ſchen Skepticismus gleich 
bier in feinen Grundzügen feitftellen. Es giebt gewiffe natär- 
Tiche Weberzeugungen, die das gemeine Leben auf Schritt und 
Tritt begleiten, die deshalb der philofophifdhe Zweifel wohl 
in einigen Köpfen momentan wankend mahen und erfchüttern, 
aber keinem auf die Dauer ausreden Tann. Die Ueberzeugung 
von bein Dafein der Dinge außer uns, von einem nothwen- 
digen Zufammenhang, welcher die Dinge, die Vorftellungen, 
die Dinge und Vorftellungen verknüpft, ift in dem natürlichen 
und einfachen Menfchenverftande umnvertilgbar. Seen wir 
nun einen Stepticismus, der mit allem Scarffinne beweift, 
dag jene Ueberzeugungen nicht blos unbegründet, fondern 
widerlegbar und vernunftwibrig find, fo ift die Folge einer 
ſolchen ſteptiſchen Anficht der ftärkfte Gegenfag zwifchen dem 
natürlichen Leben und der Vernunfteinficht, ein heilloſer Riß, 
wie es Scheint, zwifchen Leben und Denken. Cinen folchen 
Widerftreit hat auch Hume in fich erlebt und empfunden, er 
hat am Ende feiner philofophifchen Betrachtungen, als er die 
Grimdfeften der menfchlichen Lebensanfiht vom Zweifel hin⸗ 
weggerafft ſah, ähnliche Anmandlungen gehabt als Descartes 
im Anfange der feinigen, und man kann in dem Hauptwerke 
des englifchen Philofophen die Schlußabhandlung des erften 
Buchs nicht Tefen, ohne an die erften Meditationen Descartes’ 
auch in der Art des Selbſtgeſprächs erinnert zu werben. Hume 





1734 


endet die Unterfuchung über die menfchliche Erkenntnig ähnlich, 
wie Descartes die feinige beginnt. 

Indeffen ift Hume fein Mann der philofophifchen Me— 
lancholie. Der Riß ift da und muß geheilt werden. Wenn 
e8 die Vernunft nicht vermag, muß die Natur helfen. Dan 
unterwerfe fi alfo den natürlichen Meberzeugungen mit der 
Einfiht, daß fie grundfalfh find. Da ihnen gehordht werben 
muß und aus DBernunftgründen nicht gehorcht werben kann, 
jo gehorche man blind. Gerade diefe blinde Unterthänigfeit 
will als der vollkommenſte Ausdruc der ſkeptiſchen Denkart 
gelten, denn fie folgt aus der Einfiht in die Vernunftwidrig- 
feit jener natürlihen Grundfäge Ein merkwürdiger Zug die- 
jes Stepticismus! David Hume will zu dem Glauben, den 
die Natur uns aufnöthigt, ſich genau fo verhalten, wie 
Pierre Bayle zur Tirchlichen Glaubenslehre, er will unfere 
natürlichen und ‚gleihfam inftinctiven Weberzeugungen gelten 
lafjen nad) dem Satze: credo quia absurdum! 

Allein diefe Wendung, die bei Bayle den Schlußpuufi 
des Zweifels ausmacht, bildet bei Hume nur einen Durdy- 
gangspunkt. Es foll bei jenem Widerftreit zwifchen Leben 
und Denken nicht fein Bewenden haben, die philoſophiſche 
Einfiht joll uns weder dem Leben entfremden, noch im ge- 
wöhnlichen Schlendrian vergeffen oder im Genuß betäubt wer- 
den, jondern mit unjerm natürlichen Verhalten völlig über- 
einjtunmen. Das praftiihe Leben äußert in der engliſchen 
Philofophie überall feine Anziehungskraft und bejtimmt deren 
Neigung; war doc das Einverftändnig mit dem gewöhnlichen 
Demußtfein in der Bejahung der thatfählihen Wirklichkeit 

felbjt bei dem berfeley’ichen Idealismus die Probe der Rech⸗ 
nung! So behält Hume’s Skepticismus das praftifhe Men- 


135 


fhenleben in feinem gewohnten Lauf fortwährend in Sicht 
und nähert ſich demjelben bis auf einen Punkt, wy beide zu⸗ 
ſammentreffen. Wenn unſere natürlichen Ueberzeugungen phi⸗ 
loſophiſche Wahrheiten ſein wollen von abſoluter Geltung, ſo 
ſind ſie nichts als Wahn und Trug; wenn ſie dagegen nur 
ſein wollen, was ſie in Wirklichkeit ſind, menſchliches Für⸗ 
wahrhalten, menſchlicher Glaube, wie ihn der natürliche Gang 
unſerer Vorſtellungen unwillkürlich erzeugt, ſo haben ſie die 
relativ größte Geltung und find Grund und Stütze aller un- 
ferer Meberzeugungen. Die Bhilofophie hat feinen andern Wahr- 
heitsgrund als die gewöhnliche Xebensanficht: Hier ift der 
Punkt, in dem beide eins find. Die Philofophie durchſchaut 
diefen Wahrheitsgrund, fie erklärt die Entftehung jenes natür- 
lihen Glaubens, der alle menſchliche WMeberzeugung trägt: 
hier ift die eigenthümliche Aufgabe der Philofophie, die daher 
in ihrem Ergebniffe jo ausfällt, daß fie nad) der einen Seite 
der gewöhnlichen Weltanficht jede philofophifche Einbildung 
nimmt, nad der audern die ftärffte natürliche Berechtigung 
giebt, beides, indem fie darthut, wie aus den Bedingungen 
der menfchlihen Natur ein unwillfürliher Glaube hervor⸗ 
geht, ohne jede Tragkraft für eine abfolute oder endgültige 
Wahrheit, fähig dagegen und allein fähig, die menfchlichen 
Zebensanfichten zu begründen und zu leiten. 

Man erkennt in dieſem Doppelgefiht der hume'ſchen 
Lehre auf der einen Seite die ſkeptiſchen Züge, die jeden phi- 
fofophiihen Dogmatismus verneinen, auf der andern die 
naiven, welche die einfache und naturgemäße Lebensanſicht be- 
iahen. Bei dem Anblid diefer letzteren bemerfen wir eine 
gewiffe auch gegenfeitig empfundene Verwandtſchaft zwifchen 





736 


Hume und Rouſſeau, deren perfönliche Charaktere fonft völlig 
entgegengejekt waren. 

Um Hume's Aufgabe und Thema in bie einfachfte For⸗ 
mel zu faffen, fo will er den natürlichen oder unwilllürlichen 
Glauben, der aus dem Gange und Charakter unferer Vorſtel⸗ 
lungen nothwendig folgt, erflärt und darin das Ziel erreicht 
haben, da8 der Empirismus erftrebt: ich meine den Punkt, in 
welchem die Erfahrungsphilofophie zufammengeht mit der wirk⸗ 
lichen Xebenserfahrung und fid) zu diefer verhält, wie das 
Abbild zum Original. 


II. 
Keben und Ichriften.*) 


David Hume (Home) wurde als der zweite Sohn einer 
altſchottiſchen Familie gräflicher Herkunft den 26. April 1711 
zu Edinburgh geboren und von väterlider Seite früh ver- 
waift. Seine phlegmatifche und inbolente Gemüthsart ließ 
feine Begabung während der Unterrichtsjahre nicht bemerkbar 
hervortreten, und da er auf ein geringes Vermögen angewie⸗ 
fen war, jollte er durch einen praftiihen Beruf gewöhnlicher 
Art feinen Lebensunterhalt verdienen. Er verſuchte zuerſt die 
jwiftifhe, dann die faufmännifche Laufbahn, beides im Wider: 
ftreit mit feiner Neigung, die das Studium ber Dichter und 
Philoſophen allen übrigen Beichäftigungen vorzog. Um fid 
diefen geiftigen Bebürfniffen in voller Muße und Unabhängig- 


*) Life and correspondence of David Hume. By J. H. Bur- 
ton. 2 vol. Ebinburgb, 1846. . 


137 


feit (nach dem Maße feines Vermögens) widmen zu können, 
ging er von Briftol nad) Frankreich (1734) und lebte hier 
drei Jahre, eine kurze Zeit in Paris, dann in Rheims, die 
beiden legten Iahre zu La Fleche in Anjou, An diefem Ort, 
wo Descartes einft feine Schulbildung empfangen, fchrieb 
Hume fein Hauptwert: „Tractat über die menſchliche Na- 
tur”, als „Verſuch, die Methode der Erfahrungsphilo- 
fophie in die moralifhen Materien einzuführen”. Mit die- 
ſem Zeitpunkt endet fein erfter Lebensabſchnitt (1711 — 37). 

Nach der Rückkehr in fein Vaterland ließ er das um⸗ 
faffende und ſchwierige Werk (London, 1739 und 1740) erjchei- 
nen mit der ausgefprocdhenen Erwartung, daß es großes Auf- 
fehen machen und die heftigften Angriffe hervorrufen werde, 
Er täufchte fid) volllommen, das Buch blieb faſt unbeachtet, 
und Hume felbft erklärt in feiner Autobiographie, daß fein 
erſtes Wert todtgeboren und nicht einmal von theologijchen 
Eiferern befämpft worden fe. Es umfaßte in drei Büchern 
die Lehre von dem menfchlichen Verſtande, von den Xeiden- 
haften und von der Moral. *) 

Ein folher Miserfolg war einen Manne feiner Gemüths- 
art und Geiftesfraft wohl unangenehm, aber nicht nieder- 
tchlagend. Er beichloß nad einiger Zeit, das Werk umzuar⸗ 
beiten und feine Gedanken in der leichteren und gefälligeren 
Form der Eſſays von neuem in die Deffentlichleit zu bringen. 
Diefe Umarbeitung fällt in die mittlere Lebensperiode (1737 
— 52), in der die Efjays mit Ausnahme des letzten und fünf- 
ten erfchienen. **) 


*) A treatise of human nature being an attempt to introduce 

the experimental method of reasoning into moral subject. 3 vol. 

**) Der erfte Band erſchien 1741 unter dem Titel „Essays moral 
Fiſcher, Bacon, 47 





738 


Im Fruhjahr 1745 Hatte Hume umfenft gewünſcht, Die 
Profefſur der Moralpbilofophie in feiner VBaterftadt zu erbal- 
ten, es traten Hinderniffe in den Weg, die, wie es fcheint, 
von kirchlicher Seite kamen. Unmittelbar darauf übernahm 
er eine Privatftellung der mislichiten Art, unter ben wider: 
wärtigften Umftänben, er ging nad England, um (in Welde— 
halt bei St. Albans) bei einem verrüdten Lord, bem jungen 
Maranis von Anandale, dem letzten feines Geſchlechts, eine 
Art Geſellſchafter abzugeben. Diefes traurige Verhältniß, noch 
dazu durch allerhand Chicanen verleidet, dauerte ein Jahr 
(Aprit 1745—46). Nach einer kurzen Zurückgezogenheit trat 
er für die nädften Jahre als Secretär in die Dienfte des 
Generals Iames St. Clair, den er zuerft auf einer militäri- 
hen Expedition, die gegen bie franzöfiſchen Beſitzungen in 
Canada beftimmt war, aber mit einer Landung an der Küfte 
der Bretagne unverrichteter Sache ausging (September 1746), 
dann auf einer diplomatifhen Reife nad) Wien und Zurin 
begleitete. In Turin fhrieb er, zehn Jahre nach dem Haupt: 
werk, den zweiten Theil feiner Eſſahs, „Verſuche über den 
menfchlichen Verſtand“, die im folgenden Iahre erfhienen. Der 
dritte Effay, nad) Hume's Erklärung unter allen feinen Schrif- 
ten ohne Vergleich die beſte, enthielt die „Principien der Sit- 
tenlehre” (1751). Erſt mit den „politifhen Discurſen“, die 
er als den vierten Theil der Effays im folgenden Jahre 
herausgab, bob ſich fein Titerarifches Anfehen. Es war nad 
Hume’8 Zeugniß die einzige feiner Schriften, die gleich, wie 


and political”, der fünfte 1757 unter bem Titel „Four dissertations 
(the natural history of religion, of the passions, of tragedy, of the 
standard of taste)“. 


739 


fie erfchien, die Welt von fich reden machte. Schon das nächfte 
Jahr brachte eine franzöfifche Ueberfegung.*) 

Unter diefen glüädlidhen Vorzeichen beginnt ber letzte 
Lebensabſchnitt (1752— 76), in dem Hume eine amtfiche Lauf- 
bahn gewinnt, feine fhriftftellerifche Thätigkeit auf nene Ge- 
biete ausdehnt und den literarifchen Ruhm erntet, den er fo 
eifrig geſucht und fo lange entbehrt hatte. Noch gegen Ende 
des Jahres 1751 wäre er gern als Profeifor der Logik in 
Glasgow der Nachfolger feines Freundes Adam Smith ge 
worden, aber e8 war gut, daß die Sache fehlſchlug und auch 
biefe zweite Bewerbing um ein alademifches Lehramt auf 
ähnlihe Hinderniffe ftieß als die erfte. Denn bie neue Lauf- 
bahn, die er als Schriftfteller betreten follte, wurbe ihm da⸗ 
durch eröffnet, daß ihn die Yuriftenfacultät von Edinburgh 
zu ihrem Bibliothefar wählte. Die Wahl war nicht ohne 
Schwierigkeiten gewejen, da felbft bei diefer Gelegenheit bie 
Stihworte: „Deiſt, Skeptiker, Atheiftl” gegen ihn geltend 
gemadt wurden. So gering das Amt durch feine Einkünfte 
war, fo wurde es für Hume ungemein bedeutend und frucht- 
bar buch den Nuten, den er barans zog. Er fah eine der 
größten Bibliothelen Schottlands, einzig im juriſtiſchen Fach, 
ansgezeichnet und reichhaltig im biftortfchen, zur Verwaltung 
und zum freieften Gebrauch in feine Hand gegeben. Das 


*) Der zweite Band heißt: „Philosophical essays concerning 
human understanding’ (1748). Der jpätere Titel: „An inquiry con- 
cerning h. u." Die franzöfifche Ueberfegung von Merian erfheint zehn 
Jahre fpäter. Der britte Band: „An inquiry concerning the prin- 
ciples of morals (1751). Der vierte: „Political discourges “ 
(Edinb. 1752, Lond. 1753). 


47? 





740 


Studium der vaterländifchen Gefhhichte aus dem Duellenma- 
terial, das er vorfand, brachte ihn dazu, die Gefchichte Eng- 
lands zu ſchreiben. Zunächſt in Abficht auf die Gegenwart, 
bie man nicht beffer belehren könne, als wenn man zeige, aus 
welchen Hiftorifhen Bedingungen fie gefolgt ſei. In dieſer 
Rückſicht mußte ihm, wie er an Adam Smith fchrieb*), die 
Zeit der parlamentarifhen Kämpfe unter Jakob I als die 
wichtigste, intereffantefte und Iehrreichite der englifchen Ge- 
fchichte erfcheinen. So nahm Hume das Zeitalter, welches 
Bacon erlebt Hatte, zum nächften Object feiner Gefchichtsfchrei- 
bung: er ſchrieb die Gefchichte der Stuarts und ergänzte fein 
Wert allmälig zur Geſchichte Englands, die in den Jahren 
1754—62 in vier Abtheilungen erfhien.**) Auch bier Tam 
der Erfolg allmälig und war bei dem erjten Bande, der bie 
Geſchichte Jacob's I. und Karl's I. enthielt, fo gering, daß 
von dem Buch nur 45 Exemplare verfauft wurden. Mit 
dem Werke wuchs die Verbreitung und der Name des Autors, 
zugleich mit ihm vollendete ſich Hume's Literarifche Celebrität. Als 
er im Detober 1763 mit dem englifchen Gefandten Lorb Hert- 
ford, den er als Secretär begleitete, nach Paris kam, Tonnte 
er ſehen, daß er als einer der erften Schriftiteller Englands 
und der Welt galt, denn der Empfang, den er in allen ton- 
angebenden Kreifen fand, übertraf felbft feine kühnſten Er: 
wartungen. Die Marquiſe Bompabour und die Herzogin von 


*) Brief vom 24. September 1752, 

*#*) Der erfte Band brachte die Geſchichte der beiden erften Stuarts 
(1754), der zweite die der beiden letzten (1756), die folgenden zwei 
Bände enthielten die Gefhichte des Haufes Tudor (1759), die beiden 
fetten die ältefte Gefhichte von Cäfar bis Heinrih VII. (1762). 


741 


Choiſeul bewiefen ihm die größte Auszeichnung, die geiftreich- 
ften Frauen von Paris, wie die Geoffrin und du Deffand, 
bewarben fi) um feine Sreundfchaft, „die Damen riifen fi 
förmlich um den ungeſchlachten Schotten”, wie Grimm mit 
Verwunderung und nicht ohne Neid berichtet, und Hume felbit 
jchrieb bald nad feiner Antımft an Adam Smith, daß feine 
Gegenwart in den parifer Salons die der Herzöge, Marfchälfe 
und Gefandten verdunkle. Er lebte im Verkehr mit Buffon, 
Malesherbes, Diderot, d’Alembert, Helvetius, Holbach; fein 
vertrautefter Freund wurde d’Alembert, nächſt diefem Turgot. 
Kein Wunder, daß er fid) von allen Orten der Welt in Paris 
am wohlften fühlte und ungern nach England zurückkehrte 
(Januar 1766). Er war kurz vorher (Juli 1765) wirklicher 
Sefandtfhaftsjecretär geworben, und Lord Hertforb hätte als 
Statthalter von Irland Hume gern mit fih nah Dublin ge- 
nommen. SIndefjen blieb diefer in London und wurde im 
Sahre 1767 Unterftaatsfecretär für bie Angelegenheiten Schott- 
lands. Nach zwei Jahren kehrte er in feine Vaterftabt zurück 
(1769) und erfreute ſich jett als wohlhabender Mann noch 
jeh8 Jahre in ungefhwächter Kraft einer völlig ungeftörten 
Muße. 

Als Hume Frankreich verließ, führte er den verfolgten 
und verdüfterten Roufſeau, der ihm fchon feit Jahren durch 
die Gräfin Boufflers und den Marſchall Keith, feinen Lands⸗ 
mann, warm empfohlen war, mit ſich nach England und ver- 
fchaffte ihm hier eine Königliche Benflon und eine gaftliche, 
den Winfchen und ber Phantafie Rouffenu’s willlommene Zu⸗ 
fluht zu Wooton in Derbyfhire. Damals empfand diefer 
eine ſchwärmeriſche Freundſchaft und Dankbarkeit für Hume 
und nannte ihn nicht anders als „cher patron“. Da er 


742 


fchien in einer engliſchen Zeitung ein Brief an Rouffeau in 
Seftalt einer Einladung Friedrich's des Großen, der in wenig 
Zeilen mit der malitiöfeften Satyre die Eitelleiten Rouſſeau's 
dem Gelächter der Welt preisgab. Es war ein boshafter 
Scherz, den Walpole gemadht, aber nicht für die Deffentlicdh- 

feit beftimmt Hatte, und der, folange der verfolgte Dann 

unter Englands gaftlihem Schuß lebte, am wenigiten in Eng- 

land Hätte gedruckt werden follen. Rouſſeau's argwöhrifche 

Phantaſie ſah ein Eomplot, angezettelt durch die parifer Phi- 

Iofophen, die feine Feinde waren, d’Alembert und Voltaire an - 
der Spike. Wie hätte Hume, der Freund d’Alembert’s, nicht 

mitfhuldig fein follen? Jetzt erfchien ihm der „cher pa- 

tron” als das heimtückiſche Werkzeug feiner fchlimmften 

Feinde; er habe ihn nah England geführt, blos um ihn in 

England zu ruiniren. Ohne feinen Verdacht zu begründen, 

ohne ihn auch nur auf beftimmte Art zu äußern, ſchrieb er 

an Hume die förmlichſte Abfage (23. Suni 1766). So ent- 

ftand zwifchen beiden Männern jener häßliche Handel, der für 

einige Zeit das Intereſſe der ganzen Literarifchen Welt erregte 

und mit einer völligen Entfremdung auf beiden Seiten ab- 

ſchloß. Das letzte Wort, das Hume an Rouffeau fchrieb, ent- 

hielt eine bittere Wahrheit: „Da Sie ber ſchlimmſte Feind 

Ihrer eigenen Ruhe, Ihres Glückes und Ihrer Ehre find, fo 

kann ich nicht Überrafcht fein, daß Sie der meinige geworden.“ 

Man kann e8 Hume nicht verdenken, wenn er zuerft feine ge 

wohnte Kaltblätigkeit verlor mb in ben empörteften Aus: 

dräden von Rouſſeau ſprach; als die erbitterten Affecte ſich 

gelegt hatten, fchrieb er an A. Smith ebenfo witig als tref- 

fend: „Man kann Roufſeau für ein ens imaginationis hal: 

ten, aber ficherfich nicht für ein ens rationis.” 


143 


Ein Jahr vor Hume's Tode Tamen die erften Anfälle 
dyfenterifcher Uebel, die feinen Geift frei Liegen, aber feinen 
Körper mehr und mehr ſchwächten, deren tödtlichen Ausgang 
er gleich vorausjah und mit der ungetrübteften Seelenruhe er- 
wartete. „Ich möchte”, fagte er, „fo ſchnell fterben, als 
meine Feinde begehren, und fo fanft, als meine Freunde 
wünſchen.“ Diefer Wunſch erfüllte fih den 25. Auguft 
1776. *) j 

Nah feinem Tode erfhien feine Selbjtbiographie und 
„Die Geſpräche über die natürliche Religion‘ (1779), außer- 
dem eine Schrift von fraglicher Aechtheit über den Selbitmord 
und die Unjterblichfeit der Seele (1783). Die literarifche 
Frucht der erften Periode ift fein philofophifches Hauptwerk, 
die der zweiten die Eſſays, die ber letzten das große Ge— 
ſchichtswerk. 


Il. 


Das Hauptwerk und die Eflans. 


Dergleiht man den „Tractat über die menſchliche Na⸗ 
tur” mit den „philoſophiſchen Eſſays“, jo laſſen ſich bie 
Differenzen, die nicht blos den Umfang, auch die Tiefe ber 
Unterfuchung und deren Objecte felbft betreffen, aus dem Cha- 
rakter beider Schriften erflären: die erfte ift bas Werk bes 
fpeculativen Forſchers, die zweite das des populären Schrift 
ftellees. Was dort gründlich auseinandergejekt ift, davon 


*) Bericht des Dr. Blad und Dr. Eullen (ſ. Burton, Bd. 2, 
©. 515 flg.). 


144 


findet fich hier das Reſultat mehr erzählt al8 begründet, wie 
bie Lehre von Raum und Zeit; was dort in einigen für den 
Standpunkt Hume's höchſt lehrreichen und charakteriftifchen 
Abſchnitten ausführlich entwickelt wird, findet ſich hier über- 
gangen, wie die Unterfuchungen über den Urjprung unjerer 
Dorftellungen von ber Subjtanz, der Seele, den Ih. Dies 
find handgreiflihe Mängel, die den Effays zur Laſt fallen, 
und die Hume durd die Abficht auf den populären Erfolg . 
verſchuldet Hat. 

Indeſſen war diefe Abficht nicht das einzige Motiv der 
Umarbeitung, und man darf die Differenzen nicht überfehen, 
die zu Gunften ber zweiten Schrift ausfallen. In einer ges 
wiſſen Rückſicht verhält ſich Hume's Verjuch über den menſch⸗ 
lichen Verſtand zu ſeinem Hauptwerk ähnlich, wie Kant's 
„Prolegomena“ zur „Kritik der reinen Vernunft“. Das 
grundlegende Werk bedurfte einer Verdeutlichung nicht blos 
durch Verkürzung, auch durch die Art und den Gang der Un⸗ 
terſuchung. Als Hume's Hauptwerk erſchien, war er ſieben⸗ 
undzwanzig, Kant war dreißig Jahre älter, als er das fei- 
nige herausgab, das in einem weit höheren Grade aus⸗ 
gereift war als das feines Vorgängers. Denn unbeſchadet 
der Gründlichfeit, macht fi) bei Hume in der umftänblichen, 
oft weitfchweifigen Breite, in der Wiederholung, die immer 
wieder von vorn anfängt, eine gewiſſe Unreife nicht des Den- 
tens, aber der Darftellung fühlbar, die dem Erftlingswerf 
anhaftet und den Leſer ohne Nuten ermübet. Darum mußte 
Hume als der bedeutende Schriftiteller, der er war, das Be 
dürfniß einer Umarbeitung empfinden, auch ohne Sucht nad) 
Popularität. 





745 


Bergleiht man die Effays mit dem Xractat in den Ab- 
Ihnitten, wo fie einander parallel Taufen, fo wirb man in 
der fpäteren Schrift eine wohlthuende Vereinfachung bemer- 
fen, zu ber fih der Aufwand der erften wie eine Vor⸗ 
übung verhält. Da wir e8 bier hauptſächlich mit der Er- 
fenntnißlehre zu thun Haben, fo gilt die Vergleihung von 
dem erften Buche des Hauptwerls und dem zweiten Bande 
ber Eſſays. 


Pierzehntes Kapitel. 
Hume's Skepticismus. A. Stellung der Probleme. 





I. 
Die Vorftellungen und deren Urfprung. 


1. SImpreffionen und Ideen. 

Die Grundfrage ber Erfenntnißlehre betrifft nach Locke 
ben Urfprung unferer Vorftellungen, und es fteht nad) Ber: 
keley feft, daß unfere urſprünglichen Vorſtellungen ſämmtlich 
Wahrnehmungen oder Einzelvorſtellungen find. In dieſem 
Bunkte ift Hume mit feinen Vorgängern volllommen einver- 
ftanden und bejtimmt von hier aus bie Faſſung feines Problems. 
So verfchieden und mannichfaltig unfere Vorftellungen fein 
mögen, es giebt zwifchen den urfprünglichen und abgeleiteten, 
den einzelnen und allgemeinen, feinen anderen Unterfchied als 
ben des Grades, der größeren und geringeren Intenjität oder 
Stärke. Die Lebhafteften Vorftellungen find bie Eindrüde; 
alle übrigen, wie Bilder und Gedanken, find weniger lebhaft: 
jene nennt Hume „Impreſſionen“, biefe „Ideen“ (im engeren 
Sinne), die Ideen verhalten fi zu den Impreifionen, wie 
das Abgeleitete zum Urfprünglichen, wie die Abbilder zu den 
Urbildern, wie die Copie zum Original. Diefer Sag tft für 
Hume's ganze Lehre ebenfo fundamental, als für Berkeley ber 


147 


Sat von der Nichtigkeit und Abfurbität der abftracten Ideen. 
Eindrüde find gegeben, Ideen abgeleitet. Eine bee, welche 
es auch fei, erklären, heißt daher, den Eindruck barthun, von 
dem fie herrährt; wenn diefer Eindrud fehlt, fo ift diefe Idee 
unmöglich oder beruht, wenn wir fie haben, auf einer nad: 
zuweifenden Täuſchung: diefer Sag beftimmt Hume’s Nicht- 
ſchnur und entfcheidet in den wefentlichften Punkten die Stellung 
und Löſung der Frage. 


2. Glaube und Einbildung. 


Die Eindrüde find unter allen Borftellungen die lebhaf- 
teften und ftärfften, die fih unwillfürlih in uns ausprägen 
und darum eine Macht über ung haben, die wir ebenfo un- 
willkürlich anerkennen und fühlen. Diejes Gefühl nennt Hume 
Glauben. Es ift daher nicht die Ueberlegung, welche den 
Glauben macht, fondern das Gefühl, nicht der Inhalt oder 
Gegenſtand der Vorftellung, fondern die Vorftellungsart, d. 5. 
der Grad ihrer Stärke, die Gewalt, mit der fie wirft. Dieſe 
Gewalt allein macht eine Vorftellung zum Glaubensobject. Iſt 
fie nicht von Natur finnlih, fo muß fle verfinnlicht oder bie 
zu einem Grade der Lebhaftigfeit verftärkt werden, der für das 
Gemüth dem natürlichen Eindrude gleihlommt. Das ift das 
Geheimniß alles Glaubens, auch des religidfen, der in feinem 
Cultus zeigt, wie gut er fich auf diefes Geheimniß verfteht.”) 
Ein Glaubensobject erklären, wird daher bei Hume fo viel 
heißen als die Vorftellung darthun, die durch ihre Stärke das 
Gefühl bemeiftert und die unmwillfürliche Anerkennung erzivingt. 
Sollte Hume finden, daß alles menfchlidhe Fürwahrhalten auf 


+) Treat, B.I. P, 8, Sect. 8, gl. Phil. Ess. Sect. V. P. 2. 


148 


Glauben beruht, jo wird es die Aufgabe feiner Erfenntnißlehre 
fein, den Glauben darzuthun, der ſich zur Erfenntniß verhält, 
wie der Eindrud zur Idee, wie das Original zur Copie. Der 
Glaube trägt die Erkenntniß. Daher wird Hume’s Erfenntnif- 
Iehre in ihrem Grunde Glanbensiehre fein. 

Es kann Vorftellungen geben, die nur auf Grund ge- 
wiffer eingelebter Bildungszuftände mit einer folchen Unwider⸗ 
stehlichleit wirken, daß fie geglaubt werben; Vorftellungen 
diefer Art kommen nicht auf Rechnung der menſchlichen Natur 
als folder und find daher nicht das unmittelbare Object ber 
Hume'ſchen Unterfuhung, deren ganzes Thema ſich in bie 
Frage faſſen läßt: welches find die Vorjtellungen, die vermöge 
der menſchlichen Natur als folder Glaubensobjecte werben? 

Da fih nun die Erkenntniß zum Glauben verhält, wie 
das Abbild zum Original, dieſes PVerhältniß aber in der 
Aehnlichkeit befteht, fo läßt fi) vorausfehen, weldhes Ge- 
wicht Hume zur Erklärung der Erfenntniß auf die Aehnlichkeit 
der Vorftellungen legen wird. 

ge größer diefe Aehnlichkeit ift, um fo näher kommt das 
Bild dem Original, um jo mehr wirft die Vorftellung mit 
der Macht des Eindruds, um fo ftärfer ift ihre Wirkung, um 
fo glaubhafter fie ſelbſt. Man fieht fogleih, daß Teine Ver⸗ 
ſtandesthätigkeit, Teine Togifche Zergliederung, fondern allein 
die Einbildungstraft im Stande fein wird, einer Idee 
biefen Grab der Stärke und Lebhaftigfeit zu geben: daher läßt 
Hume den Glauben, der die Erkenntniß trägt, in der Ein 
bildungsfraft wurzeln. 

Ich habe diefe Sätze vorausgeichicdt, um auf die ein- 
fachſte Weife die Cardinalpunkte zu zeigen, worin fich die Unter: 
fuhung unferes Philofophen bewegt. Wir werden ſehen, wie 








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749 


bei ihm alle Erfenntniß auf einem Glauben beruht, den 
die Einbildung madt, die in ihrer Thätigkeit jelbft unterhalten 
und geleitet wird durch die Aehnlichkeit ber Vorftellungen. 


3. Senfation und Reflexion. Gedächtniß und Einbildung. 


Die Impreffionen unterjcheidet Hume, indem er die 
locke'ſche Ausdrucksweiſe braucht, in äußere und innere, Sen- 
fationen und Reflexionen, Sinneseindrüde und Gemüthsein- 
drücde, welche leßteren nichts anderes find, als die Yortdauer 
der Senfationen in der Gemüthsbewegung nad) den Affecten 
der Luft oder Unluft, die fie erregt haben. 

Die Senfationen nimmt er als elementare, der philo- 
fophifchen Unterfuchung gegebene, von der Phyfif und Anatomie 
näher aufzulöfende Thatfachen, fie gelten ihm als „angeborene 
Vorſtellungen“, ein Punkt, worüber Locke nicht präcis genug 
gehandelt habe. Alle natürlichen Eindrüde feien angeborene; da 
wir aber von unferen Eindrüden Teine Vorbegriffe haben, fo 
gebe e8 zwar angeborene Borftellungen, aber nicht angeborene 
Ideen.“) Hume's Thema befchränkt ſich daher auf die inneren 
Eindrüde oder Reflexionen, die Bilder der Sinneseindrüde, 
die um fo lebhafter find, je näher fie den finnlichen Originalen 
jtehen und in derfelben Verbindung aufbewahrt bleiben, in 
der fie erlebt wurden. Diefe Aufbewahrung ift das Ge⸗ 
dächtniß, wogegen bie Einbildungstraft jene finnliche Ver- 
bindung, die das Gedächtniß fefthält, auflöft und die Ordnung 
der Vorftellungen verändert, Das nächfte und darum ähnlichfte 
Abbild der Senfation it der Gedächtnißeindruck, das entferntere, 
darum weniger ähnliche und Iebhafte, ift die Imagination, die 


*) Treat. I. P. 1. Sect. 1. Bgt. Ess. Sect. IL. 


750 


fich zum Gedächtniß verhält, wie diefes zur Senfation: fie ift 
ein Abbild des Abbildes. 

Die Einbildungstraft ändert die Ordnung ber Bilder, 
fie ftiftet neue Verbindungen, fie componirt. Sie kann Bor- 
ftellungen bilden, die ſich in der Wirklichkeit nie Finden, aber 
fie kann nichts erfinnen, wozu die Theile oder Elemente nicht 
in Sinneseindrüden enthalten wären, fie Tann goldene Berge 
machen, aber nur aus Gold und Bergen. Se willfürlicher die 
Berbindung ift, welde die Einbildungskraft ftiftet, um jo 
entfernter find ihre Compofitionen von der Stärke des Ein- 
druds, fie find um fo lebhafter und wirkfamer, je unwilffür- 
fiher und gejegmäßiger fie ftattfinden, d. h. je natürlicher die 
Zufammengehörigfeit oder Verwandtfchaft ber Vorftellungen 
ist, welche die Einbildungskraft verknüpft. Diefe Art einer 
gefegmäßigen Verknüpfung, welche die Vorftellungen gleichſam 
gejellichaftlih ordnet, nennt Hume die „Affociation der 
Ideen“. Auf diefes Werk der unwillkürlich componirenden 
Einbildungstraft gründet fi nad) Hume Glaube und Erfennt- 
niß, auf die Einficht in die Geſetze der Affociation gründet 
fi) daher feine ganze Erfenntnißlehre. Es giebt in unferen 
Vorftellungen eine natirlihe Berwandtfchaft oder Zujfanımen- 
gehörigfeit, Traft deren fich diefelben mit größerer oder ge- 
ringerer Stärke gegenfeitig anziehen, und es ift zur Erklärung 
der Erlenntniß ebenfo wichtig, diefe pfychiichen Attractione- 
gejege zu entdeden, als zur Erflärung der Körperwelt die phy⸗ 
fifalifchen. Wir ftehen vor dem Kern des hume'ſchen Problems. 


4. Die Geſetze der Ideenaſſociation. 


Alle Beziehungen, nad) denen Vorſtellungen ſich unmwill: 
fürlich zu einander gejellen, will Hume auf drei Grund- 


751 


beftimmungen zurüdführen, wodurch fie erſchöpft und bie 
Regeln gegeben fein follen, wonad die Einbildungskraft ihre 
Objecte verfnüpft. Es befteht eine natürliche Anziehungstraft 
zwiichen Vorftellungen, die zu einander gehören, wie Portrait 
und Original; die räumlich und zeitlich gufammenhängen, durch 
Lage umd Folge, wie Zimmer und Haus, wie Tag und Nacht; 
die in einer nothwendigen Orbnung verknüpft find, wie Wunde 
und Schmerz, Borfahren und Nachkommen, Regierung und 
Unterthanen u. |. w. Das erfte Verhältniß ift Aehnlichkeit, 
das zweite Contiguität, das dritte Caufalität. Das find 
nad) Hume bie einzigen allgemeinen Gejete der Ideenaffociation 
ober der Attraction auf piychifchen Gebiet. *) 

Unter diefen drei Verhältniffen beanfprucht die Caujalität 
allein den Charakter der Nothwendigkeit. Es ift möglich, daß 
Boritellungen zufällig einander ähnlich find, zufällig in Raum 
und Zeit zufammentreffen; wenn fie fi) aber verhalten, wie 
Driginal und Gemälde, wie Haus und Zimmer, wie früher 
und Später, fo erjcheint das erfte Object als die Bebingung 
des zweiten, und fowohl die Aehnlichkeit als die Contiguität 
fallen unter den Charakter der Cauſalverknüpfung. Es giebt 
daher nur ein Geſetz nothwendiger Ideenaſſociation: das ber 
Caufalität. Wo Caufalzufammenbang ift, da ift Kette, in ber 
fih die Glieder berühren und einander folgen, da ift Conti⸗ 
guität und Priorität (Succeſfion).**) 

Da nun alle wirflihe Erkenntniß eine nothwendige Ver⸗ 
bindung von Borftellungen fein will, fo befteht fie in deren 
Caujalverfnüpfung und gründet fid) auf deren Eanfalverhältniß. 


*) Treat. I. P. 1. Sect.4. gl. Ess. Sect. II. 
*+) Treat. I. P. 3. Sect. 2. 





152 


Das Grundproblem der Erfenntnißlehre Tiegt demnach in der 
Frage: worauf gründet fich diefes Verhältnig? Wie entfteht 
die Vorftellung der Caufalität? Wie kommt die Einbildunge- 
kraft zu einer ſolchen Ideenaffociation, die den Charafter der 
Nothwendigkeit beanſprucht? Kaufalität ift nothwendige Eon- 
tiguität, nothwendige Succeffion. Contiguität und Succeffion 
find wahrnehmbar. Iſt ihre Nothwendigkeit auch wahr- 
nehmbar? Wenn fie es nicht ift, wie Tann fie erkennbar 
fein? Wie ift Erfenntniß möglih? Das ift der eigentliche 
Zielpuntt der Hume’fchen Unterfuchung, und die Auflöfung 
diefer fo geftellten Trage das Centrum feiner Lehre. 


I. 
Erkenntnißobjecte nnd Erkenntnißproblem. 
1. Dinge und Borftehlungen. 


Wir haben bisher nur von unferen Borftellungen und 
deren Verhältniffen geredet, nicht von den Dingen als Bor: 
ftellungsobjecten, nicht von dem Verhältniß zwifchen Dbjert 
und Vorſtellung. Die Erkenntniß beanfprucht nicht bloß den 
Charakter der Nothwendigfeit in Rüdficht auf die Verbindung 
ihrer Objecte, fondern aud) den der Realität in Rüdfiht auf 
deren Exiſtenz. Da nun alle Ideen Abbilder unferer Ein- 
drüde find und die Gemüthseindrüde auf ber inneren Wort- 
dauer ber Sinmeseindrüde beruhen, fo Heißt die Trage: wie 
verhalten fi) die Senfationen zu den Dingen, die Wahr- 
nehmungen zu den Objecten außerhalb und unabhängig von 
der Wahrnehmung? Diefe Trage füllt zufammen mit der 
nad) dem felbftändigen Dafein oder der Subftantialität ber 
Obiecte. 








753 


Wollte man mit dem gewöhnlichen Bewußtſein fagen, 
das Object verhalte fih zum Sinneseindrud, wie das Urbild 
zum Abbild, wie die Urfache zur Wirkung, fo würde man 
zwifhen Ding und Vorftellung ein Caufalverhältniß annehmen, 
um die Achnlichkeit beider zu erklären. Man würde dann 
erftens die Frage der Kaufalität präjudiciren und ein völlig 
dunkles und unerklärtes Verhältniß voransfegen, als ob es 
die ausgemachtefte Sache der Welt wäre, und man würde 
zweitens eine Achnlichkeit annehmen, ohne die Möglichkeit einer 
Bergleihung. Wir können Vorftellung mit Vorftellung ver- 
gleichen, aber nicht die Vorftellung mit einem Dinge außer- 
halb und unabhängig von der Vorftellung, mit einem Dinge, 
das wir nicht vorftellen; das hieße, wie ſchon Berkeley ges 
zeigt Hat, das Wahrnehmbare vergleichen mit dem Unwahr- 
nehmbaren, die Vorftellung mit dem Dinge an fid). 

Es giebt von Dingen an fih, von folden Dingen, bie 
unabhängig von aller Wahrnehmung eriftiven und die ver- 
borgenen Träger der Erfcheinungen ausmachen, feinen Ein- 
drud, alfo auch feine Idee. Daher ift die Vorftellung der 
Subftanz, der materiellen fo gut als der immateriellen, un- 
möglich, und wenn fie ift, fo befteht fie nicht Traft des Ein⸗ 
druds, fondern kraft der Einbildung, und beruht auf einer 
unwillkürlichen Blendung, die wir durchfchauen werden, fobald 
uns die Vorftellung der Kaufalität vollkommen einleuchtet. 

Unfere Einbrüde, urtheilt Hume, find dreifacder Art: primäre 
Dualitäten, fecundäre, und Affecte der Luft und Unluft. ‘Daß 
die leßteren blos in uns ftattfinden, wiſſe jeder und beitreite 
niemand; daß die ſecundären Qualitäten, wie Barben und 
Töne, Geruh und Geihmad, Wärme und Kälte, bloße 
Wahrnehmungen feien, laſſen die Philoſophen wenigjtens der 

Sifcher, Bacon. 48 


154 


neuen Zeit gelten und feien nur darüber uneins, ob bie pri- 
mären Qualitäten, nämlich Figur, Größe, Bewegung und 
Solidität, bloße Eindrüde oder auch Eigenfchaften ber Körper 
außer uns feien. Diefer Punkt allein fei fraglich, Berkeley 
habe verneint, was Locke bejabte, er babe es mit Recht ver- 
neint. Die Vorftelung der Bewegung fei die eines bewegten 
Körpers, der bewegte Körper fei etwas Ausgebehntes und 
Solides, die Ausdehnung nicht vorftellbar. ohne Farbe, bie 
Solidität nicht ohne Undurchdringlichkeit, d. 5. ohne unfere 
Fühlung des Widerftandes: daher bleibe von den fogenannten 
primären Dualitäten nichts übrig, das nicht ohne Reft in den 
Charakter der fecundären oder der bloßen Wahrnehmung aufs 
gehe. Aus unferen Eindrüden folge demnach gar nichts über 
bas Daſein äußerer Dinge. Unfere Sinneseindrüde machen 
uns die Eriftenz einer Körperwelt außer uns keineswegs ein- 
leuchtend, die Vernunft Tann fie nie demonftriren; wenn wir 
dennoch diefe Vorftellung haben und feit daran glauben, jo 
kann es nur die Einbildungsfraft fein, die einen folchen Glauben 
zu Stande bringt. Eriftiren heißt wahrgenommen werden, 
fagt Hume mit Berkeley. Ob ein Object exiftirt oder nicht, 
fann nie aus dem Inhalt der Vorftellung, fondern nur aus 
der Vorftellungsart ausgemacht werben, denn die Exiftenz ift 
fein Merkmal eines Begriffs, fondern ein Object, das wir 
wahrnehmen. So lehrt Hume vor Kant.*) 


2. Raum nud Zeit. 


Aus den Eindrüden folgt unmittelbar unfere Raum⸗ und 
Zeitvorftellung, aus den Senfationen bes Gefihts und Gefühle 


*) Treat. I. P. 4. Sect. 2 u. 4. 





155 


die Vorftellung des Raums, aus Senfation und Reflexion, 


d. h. aus den Wahrnehmungen der äußeren und inneren Ver⸗ 
änderungen, die der Zeit. So urtheilt Hume mit Locke. 

Da eriftiren fo viel Heißt als wahrgenommen werden, fo 
ift das Unwahrnehmbare nicht eriftent, und da es eine Vor⸗ 
ſtellung kleinſter Theile giebt, jo ift die unendliche Theilbar⸗ 
feit von Raum und Zeit eine leere Fiction, die zu der Hand» 
greiflihen Ungereimtheit führt, daß eine endliche Größe un- 
endlid) theilbar oder das Begrenzte unbegrenzt fein foll. Die 
Annahme der unendlichen Theilbarkeit ift die einer unvorſtell⸗ 
baren oder abjtracten Größe und fällt unter die Fiction der 
Sattungsbegriffe. So urtheilt Hume mit Berkeley. 

In ihrer Anfchaulichkeit Tiegt die Evidenz ber Größen- 
(ehre, die um fo vollfommener ift, je weniger die Größen⸗ 
Ihäßung und Vergleihung von der äußeren Sinneswahrneh- 
mung abhängt; daher ift die Erkenntniß der Zahlen einleudh- 
tender als die der Figuren und die Arithmetit und Algebra 
volffommener als die Geometrie. Diefen Unterfchieb zwifchen 
den mathematischen Wiflenfchaften, den Hume in feinem Haupt- 
wert hervorhob, hat er in den Eſſays nicht weiter beachtet. *) 


3. Die Borfiellimgöverhältniffe, 


Die erfennbaren Gegenftänbe find demnach die in unferem 
Gemüth gegenwärtigen Objecte (Vorftellungen), und unſere 
Erkenntniß bejteht in deren Verbindung; diefe letztere ift ent» 
weder Bereinigung oder Beziehung, Zufammenjegung oder 
Verhältniß, Compofition oder Relation. Die Zuſammen⸗ 


*) Treat, I. P. 2. Sect. 11.2. ®gl. ebendaſ. I. P. 8, Sect. 1. Ess. 
Sect. IV. 
48* 


756 


jegung vieler BVorftellungen giebt einen Sammel- oder Collectiv⸗ 
begriff, und wenn fie bis zur Einheit fortfchreitet und die 
vielen Borftellungen als ein einziges Object erfcheinen Täßt, 
fo entfteht der Begriff eines Dinges und feiner Eigenjchaften, 
einer Subftanz und ihrer Modi. Wir find diefem Begriff 
Schon begegnet und werben auf ihn zurückkommen. Vorläufig 
gilt er als leer. 

Es handelt fi zunächſt um die Vorftellungsverhältnifie 
und zwar um alle möglihen. Zu den drei befannten Grund- 
verhältniffen der Aehnlichkeit, Contiguität und Caufalität fügt 
Hume noch vier andere: verjchiedene Vorftellungen erfcheinen 
als diefelbe oder als entgegengejeßt, fie verhalten ſich im erften 
Fall, wie verjchiedene Formen von A, im zweiten wie A und 
Nicht A, jenes ift „Identität“, diefes „Widerſtreit“; dazu 
tommen das mathematifche Verhältniß der Größen und Zahlen 
und die Verfchiedenheit bei gleicher Qualität, d. h. das Per: 
hältniß ber Grabe. *) 

Nun ift die Frage, in welde das ganze Gewicht der 
hume’fchen Unterfuhung fällt: ob aus gegebenen VBorftellungen 
die obigen DVerhältniffe unmittelbar einleuchten oder nicht? 
Im erften Ball ift die Erfenntniß felbftverftändfich und bedarf 
feiner weiteren Frage, im zweiten ift fie e8 nicht umd die 
eigentliche Aufgabe beginnt. 


4. Das Erlenntnißproblem. 


Ob zwei gegebene Vorftellungen ähnlich, oder nicht ähnlich 
find, ob die eine ift, was die andere nicht ift, ob A Diefelbe 
Eigenſchaft ale B in höherem oder geringerem Grabe .bat, ob 


*) Treat. I. P. 1. Sect. 5. 





157 


ihre Größen glei oder ungleich, ihre Anzahl mehr oder 
weniger ift, Täßt fi aus bem gegebenen Vorftellungsma- 
terial erkennen, ohne irgend etwas binzuzufügen, ohne irgend 
wie über den Inhalt diefer Dbjecte Hinauszugehen. Die 
Verhältniffe ber Aehnlichkeit und des. Widerftreits, der Grade 
und Größen find mit den PVorftellungen felbft gegeben und 
ans deren bloßer Vergleihung erfennbar. Mit ber Möglich- 
feit einer folchen Erkenntniß hat e8 daher Leine Schwierigfeit. 
Sind die Borftellungen da, fo bedarf es nur der vergleichenden 
Unterfuhung zur Einfiht in ihre Verhältniffe; e8 bedarf nur 
der Analyfe des gegebenen Vorftellungsinhalts, um jene Vor- 
jtelungsverhältniffe logiſch und mathematifch zu erkennen. 

Anders dagegen fteht es in den drei übrigen Fällen. Ob 
Borftellungen, die als verjhhiebene gegeben find, in Wahrheit 
ein und baffelbe Dbject ausmachen, läßt fich durch feine Ver⸗ 
gleichung erkennen, denn ihre Identität ift eben nicht gegeben. 
Db A und B im Raum einander nah oder fern, in der Zeit 
früher oder fpäter find, ift durch Feine Vergleichung erkennbar, 
denn diefe Vorftellungen können diefelben bleiben, während 
ihre Raum⸗ und Zeitverhältniffe fih ändern. Und ebenfo 
wenig läßt fih dur eine nod fo genaue PVergleihung von 
A und B ausmaden, daß B nur ift, wenn A vorausgeht. 
Kurz gejagt: mit den Objecten, die wir vorftellen, ift auch 
deren Aehnlichkeit und Widerftreit, deren Grad» und Größen- 
verhältnig gegeben, dagegen ihre Identität, Contiguität und 
Caufalität Teineswegs gegeben. Alfo muß gefragt werben: 
wie entjteht die Vorftellung diefer Verhältniſſe? 

Die Frage läßt fich vereinfachen. Wenn aus verjchiedenen 
Vorftellungen, die uns gegeben find, ihre Identität nicht un⸗ 
mittelbar einleuchtet oder folgt, fo muß etwas Hinzulommen, 


758 


woraus fie folgt. Daffelbe gilt von der Eontiguität. Diefes 
Etwas enthält die Bedingung oder Urfache der fraglichen Vor⸗ 
ſtellung. So führen jene beiden Verhältniffe uns zurüd auf 
die Caufalität, denn fie gründen fich auf die Vorftellung der 
Urſache. Es wird gefragt: wie entfteht dieſe Vorftellung? 
Wir ftehen wieder vor Hume's Grundfrage: wie kommen 
wir zur Vorftellung der Caufalität? 

Die Bhilofophen haben fi die Antwort leicht gemacht 
und den Satz der Caufalität mit ein paar Worten bewiefen. 
Der Sat heißt: „jedes Ding muß feine Urfache haben”. Der 
Deweis heit: „das Gegentheil ift unmöglich, denn fonft müßte 
das Ding entweder aus nichts oder durch fich felbft fein“. 
Ein fhöner Beweis! Wenn das Ding feine Urfache Hätte, 
fo müßte entweder nichts oder es felbft feine Urfache fein! 
Das heißt vorausjeßen, daß überhaupt eine Urſache fein müſſe, 
und das eben ift, wonad) gefragt wird. Wäre der Satz der 
Caufalität fo widerſpruchslos wie der Sat A=A, fo müßte 
er durch bie Unmöglichkeit des Gegentheils erflärt, logiſch be- 
weisbar, a priori einleucdhtend fein. Er ift es nidt. Er ift 
fein Togifcher Sat und muß daher aus anderen als logifchen 
Gründen feine Geltung rechtfertigen.) 


*) Treat. I. P. 3. Sect. 3. 

Ih bemerke, daß bier in den Effays die Unterſuchung nicht bios 
einfacher gehalten ift, fondern von dem Hauptwerk auffallend abweicht. 
Statt der fieben Borftellungsverhältniffe, auf welche das Hauptwert 
übergeht, bleiben bie Efjays bei den drei urſprünglich feftgeftellten (Aehn⸗ 
lichkeit, Contiguität, Kaufalität); fie behalten diefe Faſſung bei, wogegen 
in ben Hauptwer! an bie Stelle der Aechnlichleit fpäter das Berhälmik 
der Identität gefegt wird. Diefe Differenz ift charakteriftiih. Denn mit 
der Frage der Identität hängt die nach der Subftanz, der Seele, dem 
Ich (perfönlihe Identität) genau zufammen, eine frage, die in dem 


159 


Hauptwerk gründlih unterſucht und zu der gleichen Löfung als das Cau⸗ 
falitätsproblem geführt wird, dagegen in den Effays unberührt bleibt. 

Damit Hume's Unterſuchungsfeld Üüberfichtiich erfcheine, gebe ich in 
dem folgenden Schema eine „Xopograpbie des inneren Sinns“, um 
einen Ausbrud des Philofophen felbft aus dem I. Abſchnitt feiner Eſſays 
zu brauchen. 





Borftellungen. 
Impreffionen Ideen 
Senfationen | Reflerionen | in gegebener |in veränderter 
Ordnung Ordnung 
. Raum Gedächtniß Einbildung 
Zeit Compoſition, Relation (Verhultniß) 
. Subflanz unmittelbar | nicht unmittelbar 


u einleuchtend: einleudtend: 
Modi Aehnlichkeit, Wis | Identität, Con⸗ 
derftzeit, Größe, | tiguität, Cau⸗ 
Grade. falität. 


Afloclation, 








Sunfiehntes Kapitel. 
Hume's Stepticiemnd. B. Löſung der Probleme. 





I. 
Die Idee der Canſalität. 
1. Die Eanfalität ald Grund der Erfahrung. 


Das durchgängige Thema aller Erkenntniß ift die Ueber: 
einftimmung oder Nichtübereinftimmung unjerer Vorftellungen; 
jede Erfenntniß, die ſich aus der bloßen Vergleichung der Bor 
ftellungen ergiebt, ift ſelbſtverſtändlich und gewiß; aus dieſer 
Bergleihung ergiebt fih, ob Vorſtellungen gleich oder um 
gleich find, ſowohl in qualitativer als quantitativer Hinfidt. 
Erlenntniffe diefer Art find die Einfichten der Logik und Ma 
thematik, die e8 mit der Vergleichung der Begriffe und Grk 
gen zu thun haben und unter dem Sate A = A ftehen 
Dagegen ift jede Erfenntniß, die aus der bloßen Vergleihung 
ber Borftellungen nicht unmittelbar einleuchtet, ungewiß und 
fraglich; das Thema der fraglichen Erkenntniß ift daher die 
Verbindung verfchiedener Borftellungen, deren nothwendige Ver⸗ 
bindung. Die logifche Vergleihung befteht in der Zerglie 
derung und Sichtung eines gegebenen Vorftellungsinhalts, alle 
auf eine folche Vergleihung gegründeten Stüge find analytiid, 


761 

wie die Urtheile der Logik und Mathematik. Diejenigen Vor- 
ftellungen, deren Verbindung durch Feine Logifche Vergleichung 
zu Stande kommt, find die Thatfachen unferer Wahrneh- 
mung; der fie verfnüpfende Sat iſt ſynthetiſch und, da 
‚feine Objecte duch die Wahrnehmung gegeben find, empi- 
rifh. Die empiriſchen Süße find das Thema der fraglichen 
Erkenntniß, die Erfahrung ſelbſt ift der Inhalt des eigent- 
lihen Erkenntnißproblems, fie ift unter allen Einfidhten am 
wenigften jelbftverftändlih, am fehwierigften zu erklären: fo 
verhält fih in Hume die Erfahrungsphilofophie zur Er⸗ 
fahrung. 

Die Erfahrungserfenntniß befteht in der nothwendigen 
“ Berfnüpfung der Thatfachen, ihre Formel Heißt: A ift die 
Urfahe von B. Wirkfame Urſache ift Kraft. Wo Caufalität 
ift, muß Kraft fein. Keine logiſche Vergleihung, feine Be⸗ 
griffsanalyfe erleuchtet diefen Begriff. Ich Tann von einen: 
Wahrnehmungsobject, z. B. dem Feuer, die deutlichfte Vor: 
ftellung haben, die genauefte Einficht in alle feine Merkmale; 
wenn ich nichts weiter Habe als diefe Vorftellung, jo weiß 
und erfahre ich nie, welche Wirkung das Feuer auf Holz 
oder andere Dinge ausübt, welche Kraft das Feuer ift oder 
hat. Aus der bloßen Vorſtellung einer Kugel, fie fei noch 
jo deutlich, erhellt nie, welche Bewegung diefe Kugel einer 
anderen mittheilen wird, mit der fie zufammenftößt. So ift 
es in allen Fällen. &8 giebt von der Urſache A auf die 
Wirkung B, oder von der Vorftellung A auf die Kraft A 
feinen logiſchen Schluß. Schlüffe find nur möglich durch 
Mittelbegriffe. Wo ift der Meittelbegriff zwifchen Urfache und 
Wirkung, zwifchen der Vorftellung eines Objects und deſſen 
Kraft? Sowenig als die Exiftenz ift die Kraft (Wirkfamteit) 





762 


ein Begriffsmerkmal, ſowenig als bie Eriftenz ift daher die 
Kraft logiſch ober a priori erkennbar. 

Nun gründet fi) auf die Vorftellung der Caufalität oder 
Kraft unfere gefanmte Erfahrungserkenntniß. Worauf gründet 
fi diefe Vorftelung? Die Quelle aller Vorftellungen find 
die Eindrüde. Welcher Eindrud ift die Duelle diefer Vor⸗ 
ſtellung? Welcher Eindrud ift das Original, deifen Abbild 
die Idee der Kraft ift? 


2. Die Quelle be Kraftbegrifid. 


Ein äußerer Eindrud Tann diefes Driginal nicht fein, 
fonft wäre die Kraft das Merkmal oder die Eigenfchaft einer 
finnlihen Vorftellung, was fie nicht if. Wir fehen Big 
und hören Donner, den Zuſammenhang beider Erjcheinungen 
fehen und hören wir nicht. Vielleicht, daß ein innerer Ein- 
druck die fragliche Vorftellung erflärt, daß fie entjpringt aus 
dem Gefühl unferer eigenen Kraft, unferes Willens, der Or- 
gane bewegt, Vorftellungen wedt, Leidenſchaften bemeiftert. 
Jetzt fühlen wir uns aufgelegt zu diefer Handlung, zu diefer 
Borftellung, auf diefe Abficht folgt die Vorftellung in unferer 
Seele, die Bewegung in unferm Körper. Aber es verhält 
fih mit den inneren Eindrüden ebenfo wie mit den äußeren. 
Der Erfolg erſcheint in unferer Vorftellung, nicht die Kraft, 
die ihn hervorruft; wir erfahren bie Wirkung, nicht das Wir⸗ 
fen, nicht die Urſache oder Kraft. So ift die Kraft weder 
durch ben Berftand noch durch die Wahrnehmung erlennbar, 
fie erfcheint vollfommen unbegreiflih. Darin Hatte der Occa⸗ 
fionalismus Net, der die Unbegreiflichleit des Cauſalzuſam⸗ 
menhangs zwiichen Seele und Körper einſah; dieſe Ein⸗ 
fiht ift zu erweitern: die Caufalität überhaupt ift unbegreif- 





763 


(ih.*) Es findet fich Feine Vorftellung, deren Merkmal die- 
fer Begriff wäre; es findet fi Tein Eindrud, weder ein 
äußerer noch ein innerer, von dem diefer Begriff herrühren 
könnte: er ift nicht a priori erkennbar, ebenfo wenig, wie es 
Scheint, a pofteriori. Woher ift er? 


3. Die Erfahrung als Grund der Canfalität. 


Wir ftehen in einem Dilemma. Da die Caufalität weder 
Bernunftbegriff noch Erfahrungsbegriff iſt, fo erfcheint dieſe 
Idee überhaupt unmöglich und mit ihr alle Erfahrung Es 
giebt zur Löſung nur einen einzigen Weg: die Borftellung 
der Urſache muß, wie alle Vorftellungen, von einem Eindrude 
herrühren; da diefer Eindrud nicht gegeben ift, jo muß er 
geworden d. h. aus gegebenen Emdrüden allmälig entitan- 
den fein. Wie ift das möglich? 

Dem Eindrude A folgt in unferer Wahrnehmung der 
Eindrud B, im diefer einmaligen Aufeinanderfolge find zwei 
Thatſachen verbunden, aber nicht verknüpft, verknüpft wären 
fie, wenn B bergeftalt an A gebunden wäre, daß es untrenn- 
bar mit ihm zufammenhinge. Noch nie hat ein Menſch ge- 
chloffen, daß immer gefchehen wird, was einmal geſchehen 
iſt. Aber fegen wir, daß jene Folge fi) wiederholt, daß 
dem Eindrude A, fo oft wir ihn haben, B folgt, fo wird 
aus der einmaligen Verbindung eine beharrlihe; wir gewöh- 
nen uns allmälig daran, von dem Eindrude A zu B üßer- 
zugehen, wenn ber erfte ftattfindet, den anderen zu erwarten, 
unwillfürlich zu erwarten, baß B auf A folgen wird, weil es 
ihm fo oft, bis jeßt immter gefolgt ift. Aus dem Webergang 


*) Ess. Sect. VO, P. 1. 


164 


von einer Vorftellung zur andern wirb durch fortgefekte Wieder- 
Holung derfelben Aufeinanderfolge ein gewohnter Uebergang. 
Was in einem Falle nur verbunden erſchien, ericheint in vielen 
ähnlichen Fällen verfnüpft, deshalb verknüpft, weil wir uns 
an die Verbindung gewöhnt haben. Diefe Gewohnheit be- 
fteht, wie alle Gewohnheit, in einer oft wiederholten Erfahrung, 
wir haben bie Aufeinanderfolge zweier Eindrüde oder That—⸗ 
fachen fo oft erlebt, daß fi unfere Einbildungsfraft zuletzt 
unwillkürlich beftimmt findet, unter dem einen Eindrud den 
anderen zu erwarten, von A zu B überzugehen. Wir finden 
uns unwilffürlich (zu etwas) beftimmt, d. 5. wir fühlen, 
jede Gewohnheit beruht auf einem Gefühl, diefes Gefühl ift 
auch Eindruck, Tein urfprünglich gegebener, fondern ein all- 
mälig gewordener: diefer Eindrud, dieſes Gefühl bil- 
det das Driginal, deffen Eopie die Idee der Cau— 
ſalität ift. Kraft diefes Gefühle kann ich nie beweifen, daß 
zwei Thatfachen an fich verknüpft find, fondern nur an ihren 
Zufammenhang glauben, ich erwarte durch ein unwillfürliches 
Gefühl, gleihjam inftinctmäßig, daß wenn die eine Thatſache 
fommt, die andere nicht ausbleiben wird: ich glaube an dieſe 
Folge. Diejer Glaube ift nicht demonftrativ, wie ein Ver⸗ 
nunftfhluß, aber er bewirkt unfere Erfahrungsfchlüffe und 
bildet den Grund aller empirifchen Sicherheit. *) 

So löſt Hume fein Problem: alle menfchliche Erfenntnig 
ift entweder demonſtrativ (wie die Mathematik) oder empirifch, 
alle empirifhe Erkenntniß befteht in der Caufalverfnüpfung 
von Thatſachen, der Begriff der Caufalität gründet fich auf 
einen Glauben, diefer Glaube auf ein Gefühl, dieſes Gefühl 


*) Ess. Sect. VII, P. 2. Bol. Sect. V, P. 1, 2. 





765 


auf eine Gewohnheit, weldhe felbft in nichts anderem befteht 
als in einer oft wiederholten Erfahrung. Unſere Wahrneh- 
mung giebt das Urtheil: erft A, dann B, die Succeffion ber 
Eindrücke, das post hoc, fie giebt nur dieſes. Die Erfah- 
rungserfenntniß behauptet: erſt A, darum B; fie macht aus 
dem „dann“ ein „darum”, aus dem „post hoc” ein 
„propter hoc”, aus der Succeſſion Caufalität. Das Mittel- 
glied zwifchen dem post hoc und propter hoc ift die Wieber- 
holung deffelben post hoc, derjelben Succeffion, d. h. der 
Kern der Eanfalität ift eine gewohnte Succeffion, es ift alfo 
die Gewohnheit und der darauf gegründete Glaube, welcher das 
„post hoc” in ein „propter hoc‘ verwandelt. 

Es giebt daher Teine Erkeuntniß, die objectiv und noth- 
wendig wäre: fie ift nicht objectiv, denn die Gegenftände un- 
ferer Erkenntniß find Tediglich unfere Vorftellungen; fie ift 
nicht nothiwendig, denn der Grund unferer Erkenntniß ift fein 
Ariom, fondern ein Glaube. Damit ift ber Stepticismus voll- 
jtändig ansgefprochen, der Zweifel an der Erfenntniß folgt 
aus der Einfiht, daß der Grund aller Erfenntniß blos im 
Glauben beſteht. Diefen Wendepunkt nennt Hume felbit 
„gemäßigten Stepticismus”, weil er am Xhatbeftande der 
menfchlichen Erfenntniß, ſoweit fie Erfahrung ijt, nichts 
ändern, fondern nur die Anficht darüber aufllären will, er 
will nur die Richtſchnur zeigen, der wir factifch in allen un- 
feren Einfihten folgen; er weiß fehr wohl, daß die Natur 
mächtiger ift als der Zweifel, daß die Menfchen niemals auf- 
hören werden Erfahrungen zu machen, Erlenntniffe darauf zu 
gründen und dieſe Erfenntniffe für feite Wahrheiten zu hal» 
ten, für Weberzeugungen, nad) denen fie handeln; er will den 
ächten Schatz der menschlichen Erkenntniß um nichts ärmer 





166 


und wertblojer machen, fondern uns nur über die Mittel be⸗ 
(ehren, womit wir den Schag erworben haben und den er: 
worbenen allein vermehren können.“) Er beleuchtet den wah- 
ren Grund unferer Erkenntniß und zerftört den eingebildeten; 
jenfeit8 der Erfahrung giebt es überhaupt Feine Erkenntniß, 
dieſſeits derfelben reiht unfere Erkenntniß nur fo weit als 
die Gewohnheit, innerhalb der Gewohnheit giebt es Teine letzte 
und vollfonmene, fondern nur annähernde und fubjectine Ge- 
wißheit, d. h. Wahrſcheinlichkeit. Die Gewohnkeit 
beweiſt nichts, fie glaubt nur, das Außergewöhnliche ift immer ein 
Mögliches, das Gewohnte nie ein Vewiefenes, denn es ift nie 
dergeftalt nothwendig, daß fein Gegentheil unmöglich) wäre. **) 

Giebt es Feine Erfenntniß jenfeits der Erfahrung, je 
‚giebt e8 feine Theologie, außer eine ſolche, die fi) auf über- 
natürliche Offenbarung gründe. Hume ift mit Bacon und 
Bayle derjelben Meinung, daß der religiöfe Glaube und die 
menſchliche Vernunft einander ausfchließen. Es giebt über- 
haupt Teine andere rationale oder demonftrative Wiſſenſchaft 
als die Mathematik, e8 giebt außer der Mathematik Teine an- 
dere menſchliche Erfenntnig als die gewohnheitsmäßige Erfah- 
rung. „Wenn wir”, fo fchlieft Hume feine philofophifchen 
Berfuche, „überzeugt von diefen Grundfägen, Bibliotheken 
durchfuchen wollten, welche Zerftörung müßten wir da nicht 
anrichten? Wenn wir 3. DB. ein Bud aus der Theologie 
oder Metaphyſik in die Hand nehmen, jo müßten wir fragen: 
enthält da8 Buch abftracte Unterfuchungen über Größe und 
Zahl? Nein! Oder Unterfuchungen der empirifhen Vernunft 
über Facta und eriftirende Dinge? Nein! Nun fo werft das 


*) Ess. Sect. XII, P. 2 (Schluß), P. 3. **) Ess. Sect. VI. 


167 


Buch ins Feuer, denn es kann nichts als Sophiftereien und 
Täufchungen enthalten! *) 


II. 
Die Idee der Subſtanz. 
1. Nichtigleit der bisherigen Lehre. Das Problem. 


Mit der Idee der Urfache oder Kraft, die in der Natur 
der Dinge wirken foll, unabhängig von unferen Vorftellun- 
gen, hängt die Idee des Trägers einer folden Kraft ober 
Wirkſamkeit genau zufammen, der Begriff eines Dinges, dem 
die Kraft inwohnt: dieſen Begriff bezeichnen wir mit. dem 
Worte Subftanz und verftehen darunter das felbftändige, von 
unferen Borftellungen unabhängige Dafein, das den Ericei- 
nungen zu Grunde liegt. Wir wiffen, wie in Anfehung die- 
ſes Begriffe Locke zwiſchen Stepticismus, Materialismus 
und Deismus geſchwankt, wie Berkeley die Subftantialität der 
Dinge außer uns völlig verneint, dagegen bie der Geifter 
ebenfo nachdrücklich behauptet hatte; wir find dem fraglichen 
Punkte bei Hume ſchon wiederholt begegnet und haben be- 
merkt, daß er für gut gefunden, die ganze darauf bezügliche 
Unterfuhung in feinen Eſſahs zu übergeben. Ob ihm für 
die populäre Schrift diefe Materie zu fchmwierig oder wegen 
ihres Zuſammenhangs mit den Glaubensfragen in Betreff 
Gottes und der menſchlichen Seele zu mislich erfchten, laſſen 
wir dahingeftellt. In feinem Hauptwerk Hat er die Frage 
nad) der Subjtantialität der Dinge für den „tiefiten Punkt 
ber Metaphyfil” und zugleich für den gelegenften erklärt, um 


*) Ess. Sect. XI, P. 3. 


168 


an bdiefer Stelle feine Grundanſchauung auseinanderzufegen 
und einen Abriß feines Syſtems zu geben.*) 

Zu der Frage nad) der Subftantialität ber Dinge über: 
haupt verhält fi) die nach dem felbjtändigen Dafein der 
Körper und Geifter, wie der befonbere Fall zur Kategorie, 
und von dem Dafein einer immateriellen Subſtanz oder Seele 
hängt es ab, ob von dem menjchlichen Selbftbewußtfein die 
„perfönliche Identität”, von dem menfchlichen Dafein Ber- 
ſönlichkeit gelten ſoll oder nicht. 

Die Entfcheidung aller diefer Fragen hat den Bbhilofo- 
phen bisher wenig Mühe verurfacht, fie haben die Hauptfrage 
mit einer Definition, die befonderen ragen über die Subs 
ftantialität ber Körper und Geifter mit einigen Teichtfertigen 
Beweifen für abgemacht gehalten. Die Definition war nichts— 
fagend, die Beweiſe falſch. Wenn die Metaphufifer fagen, 
die Subftanz fei dasjenige, was durch ſich felbft ift, fo geben 
fie eine leere Worterflärung, die auf alles paßt. Keine Defi⸗ 
nition enthält das Merkmal der Eriftenz; die Subftanz ift ſo⸗ 
wenig als die Gaujalität ein Vernunftbegriff. Wenn die 
Meatertaliften behaupten, alle Vorftellungen müſſen räumlich, 
Tocal, körperlich fein, fo haben fie Unrecht; e8 giebt pfiychifche 
Vorgänge, die nit local find, die Leidenfchaften, fagt Hume, 
find weder rechts noch links. Wenn ihre Gegner behaupten, 
feine Borftellung Tönne ausgedehnt oder räumlich fein, to 
haben fie Unredtt, denn Ausdehnung und Raum find felbit 
Borftellungen. Wenn diefe Gegner jagen, e8 müſſe eine den- 
fende oder immaterielle Subftanz geben, denn es fei unbegreif- 
(id), wie die Materie jemals Urſache des Denkens fein könne, 








*) Treat. I. P. 4. Sect. 2. 





769 


fo ift diefer Beweis völlig verfehlt, dem es ift ebenſo unbe- 
greiflich, wie die Materie jemals Urſache der Bewegung fein 
kann, denn es ift unbegreiflih, wie überhaupt etwas Urſache 
. fein kann. Wenn diefe Spiritualiften alle Vorftellungen aus 
‚einer vorftellenden Subftanz herleiten wollen, fo erklären fie 
ja die Vorftellungswelt für Modificationen einer Subftanz; 
folgerichtiger Weife müßten fie auch bie ganze Erfcheinungs- 
welt für Modificationen einer Subftanz erklären und bem 
Spinozismus in die Arme fallen, während fie mit der Theo⸗ 
logie fchönthun.*) . 

Jede Idee ftammt von einem Kindrud. ‘Da nun bie 
Idee der Subftanz ein Wefen bezeichnet, das, unabhängig 
von unferen Vorftellungen, den veränderlihen Ericheinungen 
zu Grunde Liegt, alfo ſelbſt beharrlih und unveränderlich ift, 
fo müßte e8 zur Erklärung diefer Idee einen Eindrud geben 
“(unabhängig von allen Eindrüden), ber beftändig derſelbe bleibt. 
Es giebt Teinen folchen Eindrud; es giebt fein Original, deſſen 
Abbild die Idee der Subftanz. fein könnte. Daher befteht 
diefe Vorjtellung, da wir fie haben, in einer unmwillfürlichen 
Täuſchung. Diefe Täuſchung ift zu erklären. 


2. Auflöfung. Die Iufion der Einbildung. 

Die Trage heißt: wie kommen wir zu ber Vorſtellung 
eines Dbject8, das in allen Veränderungen als daffelbe er- 
fcheint, zu diefer Vorftellung ber Identität eines Objects, 
die wir auf Grund unſerer Eindrüde nie haben und haben 
können? Die Eindrüde find verfchieden, das Object erfcheint 
im Wechfel beharrlih. Wie kann fi) aus dem Material fol- 


*) Treat. I. P. 4. Sect. 5. 
Fiſcher, Bacon, 49 


770 


her Eindrüde eine ſolche Vorftellung bilden? Offenbar nur 
dadurch, dag wir für ein und daffelbe nehmen, was in der 
That verfchieden ift, daß wir Einheit und Verſchiedenheit, 
Hentität und Succeffion verwechſeln: durch eine folde 
„Illuſion“, die ſich unwillkürlich vollzieht und darum ber 
Lebhaftigkeit und Stärke eines Eindruds gleihlommt. Die 
Simme können es nicht fein, welche dieſe Illuſion bewirken, 
denn fie geben uns die Folge verſchiedener Eindrüde; die Ver⸗ 
nunft kann e8 auch nicht fein, denn fie erfennt jene Verſchie 
denheit; e8 wird daher die Einbildungsfraft fein müſſen, aus 
ber die Täuſchung Hervorgeht, und die Affociation ber Vor⸗ 
ftellungen, wodurd fie zu Stande kommt. 

Ze unähnlicher die Vorftellungen find, um fo willfür 
licher tft die Verfnüpfung, um fo weniger wird fich bie Ein 
bildungstraft verfucht fühlen, fie für ein und daffelbe Objet 
zu nehmen. Setzen wir aber, die Vorstellungen ſeien einander 
jo ähnlich) wie Aı, Ar, As u. f. f., fo wird nad) den uns be 
fannten Attractionsgefegen eine unmilffürlihe Verknüpfung 
ftattfinden und eine natürliche Vorftellungsreihe entftehen; 
doch wird bei unterbrochenem Portgange von einem Gliede 
zum andern fich die Einbildungstraft nicht einen Augenblid 
über die Verfchiedenheit ihrer Vorftellungen täufchen. Ge 
f&hieht dagegen die Verknüpfung nicht blos unwillkürlich, fon 
dern auch ohne jede Unterbrehung, ohne allen Anftoß, alto 
auf die leichteſte Weife, jo merkt die Einbildungsfraft nicht 
mehr, daß fie von einer Vorftellung zu einer andern übergeht, 
fte wird die Verfchiedenheit der Vorftellungen nicht mehr ge 
wahr und bildet fi) daher ein oder glaubt, daß fie fort 
während mit einem und demfelben Objecte zu thun hat. Sie 
nimmt ihr eigenes Thun, weil fie es nicht merkt, für die 


111 


Natur der Vorftellung, fie nimmt den ftetigen Fortgang, den 
fie jelbjt madht von Aı zu As, As u. f. f., für das ftetige 
oder beftändige Dafein von A und kommt fo zu der Vorftel- 
fung eines continwirlichen Objects. Auf diefe Art verwechielt 
die Einbildung ſich mit dem Gegenftanbe: das ift und fo ent- 
jteht die Illufion, um bie es ſich handelt.*) 


3. Identität und Subſtautialität des Jch. 


Vermöge dieſer Illuſion ſieht die Einbildungskraft in 
verſchiedenen Vorſtellungen ein und daſſelbe Object und glaubt 
daher an deſſen Identität und Beſtändigkeit. Je weniger die 
Verſchiedenheit der Vorſtellungen und deren Succeſſion ge⸗ 
merkt wird, um ſo mehr wird die Identität und Beſtändigkeit 
des Objects gemerkt, um fo lebhafter und ftärfer wird dieſe 
Vorftellung, d. h. fie wird geglaubt. Aus der erften Illufion 
folgt nothwendig die zweite. Erfcheint das Object als identifch 
oder beftändig im Wechfel der Vorftellungen, fo muß es aud) 
gelten als unabhängig vom Wechjel der Vorftellungen, alfo 
von den Vorftellungen überhaupt. Glaube ich an bie Beſtän⸗ 
bigfeit eines Objects, fo kann ich nicht glauben, daß dieſes 
Object erft entfteht, wenn es in meinem Gemüth gegenwärtig 
ift, und vernichtet wird, wenn es aus meinem Gemüth ver- 
Ihwindet; ich muß glauben, daß es unabhängig von meinen 
Vorftellungen und außer mir eriftirt: der Glaube an die Iden⸗ 
tität der Objecte fordert den Glauben an deren Subftan- 
tiafität.**) 

Wenn bie Einbildung nicht merkt, daß fie aſſocirt, d. 6. 

*) Treat. I. P. 4. Sect. 2 und Sect. 6. **) Treat. I. P. 4. 


Sect. 2. 
49* 


772 


von einer Vorftellung zur andern fortgeht, fo erfcheinen die 
vielen Borftellungen als ein (identifches) Object; wenn fie 
nicht merkt, daß fie verknüpft oder componirt, daß jenes Ob⸗ 
ject ihr eigenes Wert ift oder ſich durch ihre Xhätigfeit 
bildet, fo erſcheint es als von außen gegeben: die Borftel- 
fung erſcheint als Ding, das Object al8 Subftanz. Ye 
gewohnter eine Thätigkeit ift, um fo weniger wird fie gemerkt. 
Se gewöhnlicher nnd -eingelebter daher bie Vorftellungen find, 
beren Berfnüpfung unfere Einbildungsfraft fortwährend be- 
ihäftigt, um fo weniger merkt diefe ihr Gejchäft, um fo mehr 
verftärft fih der Eindrud der Identität und Subftantialität 
der vorgeftellten DObjecte, und es entjteht kraft eines ſolchen 
Eindruds, der nicht ſtärker fein kann, der unerfchütterliche Glaube 
an da8 Dafein ber äußeren Körperwelt und bes eigenen Ich. 
Kein Wunder alfo, daß das gewöhnliche Bewußtſein dieſen 
Glauben bat, da es in buchſtäblichem Sinn auf den gewöhn- 
lichen Bewußtfein beruft. Es ift wiederum die Gewohn- 
heit, welche den Eindrud macht, deffen Bolge und Abbild die 
Idee der Subftanz ift. 

Wenn phyſiſche Körper in ihren Maffen fid) unmerflich 
verändern, jo merkt die Einbildungskraft nur die Identität, 
und die Körper erſcheinen ihr als diefelben Objecte. So vers 
hält es fich mit den Weltförpern. Selbft wenn ſich ein Körper 
in kurzer Zeit total verändert, aber diefe Veränderung eine 
völlig gewohnte und darum erwartete tft, fo fieht die Ein- 
bildungsfraft immer denfelben Körper. So verhält es fi 3.8. 
mit den Flüſſen. 

Wenn ein technifcher Körper immer demſelben Zweck dient, 
unter dem die Einbildungskraft ihn zu betrachten gewöhnt iſt, ſo 
bleibt der Eindruck deſſelben Objects, ſo ſehr auch die Theile 


113 


beijelben verändert werben, wie 3. B. bei einem ausgebefferten 
Schiff oder einer umgebauten Kirche. Wenn die Theile eines 
Körpers immer diefelben Zunctionen haben, bie ſich wechfelfeitig 
erhalten, fo wird die Veränderung der Theile nicht Kindern, 
daß fie als diefelben Objecte erfcheinen, wie es der Fall ift 
mit den organifchen Körpern. Und wie mit ber Identität ber 
Körper, ebenfo verhält es fih mit der perfönlichen Iden⸗ 
tität, diefer großen Frage, von der Hume die Philoſophie 
feines Zeitalters bewegt findet. *) 

Die Vorftellung eines beftändigen Objects ift nicht mög⸗ 
ih ohne bie eines beftänbigen Subjects. Dem Glauben an 
das felbjtändige Dafein einer Außenwelt, an eine Subftanz 
als Träger der äußeren Veränderungen correiponbirt ber 
Glaube an eine Subſtanz als Zräger der inneren, an eine 
boritellende Subftanz, an das Dafein der Seele oder des 
Ich.**) Es giebt von dem Ich Leinen Eindrud, alfo aud 
feine natürliche oder gegebene Vorftellung; die Borftellung, bie 
wir von dem eigenen Ich Haben, ift daher eine gemachte. 
Nun gilt die Seele als immaterielle oder denkende Subftanz, 
als Urſache der Vorftellungen, daher hat die Idee der Seele 
denfelben Urfprung als die Idee der Subftanz und Canfalis 
tät, fie ift durch die Einbildungsfraft gemacht d. h. erdichtet. 
In Wahrheit find wir eine Collection von Vorftellungen. 
Wäre diefe Collection ein ungeordneter Haufen, fo wäre die 
Vorftellung von einem Weſen (Ich), das fie in fich begreift, 
umfaßt, vereinigt, volllommen unmöglich, diefe Idee iſt alfo 
dadurch bedingt, daß die Collection der Vorftellungen in uns 
eine Ordnung, eine Kette, einen Zufammenhang bildet, den 


*) Treat. I, P. 4. Sect. 6. **) Ebendaſ. I. P. 4. Sect. 2. 


774 


die Einbildungskraft nach den uns befannten Geſetzen voll- 
zieht. Die Einbildungskraft (Affociation) ift das Band der 
Ideen; diefes Band, als Object vorgeftellt (perfonifteirt), heißt 
Seele oder Ih. Eswverhält fi daher mit dem Ich oder 
der Ipentität der Perfon, wie mit der Ibentität eines Staa- 
tes, der in Wahrheit eine Gefellfchaft wechjelnder Individuen 
" ansmadht, die nach derfelben Ordnung regiert werden. Die 
ee des Ich ift bedingt durch die Ordnung ober Fette der 
Borftellungen, in welcher die gegenwärtigen Glieder abhängen 
von den vergangenen oder im Gedächtniß aufbewahrten. Da⸗ 
her nennt Hume das Gedächtniß „die Hauptquelle der per- 
fönlichen Identität”. Sowenig. das Band unjerer Borftel- 
lungen ein reales, für fich beftehendes Weſen (Subjtanz) ift, 
fowenig ift e8 die Seele; fie ift, wie jenes imaginär d. 5. 
ein Product der Einbildung. Die perjönliche Identität ift 
eine geglaubte Vorftellung, die fo weit reicht, als fi der 
Baden des Gedächtniffes ausdehnen und in feinen Lücken er⸗ 
gänzen läßt.*) 


4. Einbildung und Vernunft. 


Die Einbildung kommt zu ber Vorftellung, daß es Ob⸗ 
jecte außer den Vorftellungen giebt, Dinge an fi), die durch 
einen nothwendigen Zuſammenhang verknüpft find; die Ver⸗ 
nunft durchſchaut das Thun der Einbildung und erklärt: es 
giebt al8 erkennbare Objecte nur PVorftellungen unb deren 
Affociation. Hier ift ein Widerftreit zwifchen Einbilbung und 
Bernunft. Die falfche Art der Löfung ift die dogmatifche 
Philofophie, die es mit beiden Parteien hält, beiden gleich 


*) Treat. I. P. 4. Sect. 6. 


775 


Necht giebt und eine Misgeburt aus beiden bildet: es giebt 
alfo Dinge und Vorftellungen, bie ſich verhalten, wie Urſache 
und Wirkung, wie Urbild und Abbild, und daraus erklärt 
fih die Erfenntniß der Dinge. Sehen nun die Leute ein, 
daß fi} daraus die Erfenntniß nicht erklärt, fo fuchen fie 
nach dem Unerfennbaren und wälzen den Stein des Sifyphus 
oder beruhigen ſich bei den „verborgenen Eigenſchaften der 
Dinge”, wie der Pöbel bei feiner Dummheit. Die richtige 
Art der Löfung ift die Vernunfteinfiht, daß es eine reale 
und nothwendige Erkenntniß der Dinge nicht giebt, fondern 
an das Dafein und den nothwendigen Zufammenhang ber 
Dinge nur geglaubt wird vermöge der Einbilbung: bas ift 
der Skepticismus, der das gewöhnliche Bewußtſein erklärt 
und damit rechtfertigt. *) 


II. 
Gewohnheit und Geſchichte. 


Die Gewohnheit ift bei Hume nicht blos der Erflärungs- . 
grund unferer empirischen Erfenntniß, fondern die große Füh⸗ 
rerin des menſchlichen Lebens überhaupt.**) Unſer Leben wie 
unfere Bildung find Refultate unferer Gewöhnungen, die all- 
mälig entftehen und nur allmälig verändert werden können. 
Die menihlihen Gewohnheiten und Sitten in ihren all 
mäligen und langfamen Metamorphofen find die gefchicht- 
lichen Bildungsprogeffe. Wer daher die Macht der Gewohn- 
heit und der Habituell gewordenen Sitte nicht verjteht, wird 
auch nicht im Stande fein, den geſchichtlichen Gang menſch⸗ 


*) Treat. I. P. 4. Sect. 2 und 3. **) Phil. Ess. Sect. V. P. 1. 





774 


die Einbildungskraft nach den uns befannten Geſetzen voll- 
zieht. Die Einbildungskraft (Affociation) ift das Band der 
Keen; diefes Band, als Object vorgeftellt (perfonificirt), heißt 
Seele ober Ih. Es Werhält fi daher mit dem Ich oder 
der Identität der Perſon, wie mit der Identität eines Stan- 
tes, ber in Wahrheit eine Geſellſchaft wechfelnder Individuen 
" ausmacht, die nach derfelben Drönung regiert werden. Die 
Idee des Ich ift bedingt durch die Ordnung oder Kette der 
Borftellungen, in welcher bie gegenwärtigen Glieder abhängen 
von den vergangenen oder im Gedächtniß aufbewahrten. Da⸗ 
ber nennt Hume das Gedächtniß „die Hauptquelle der per- 
fönlihen Identität“. Somenig. das Band unferer Vorſtel⸗ 
ungen ein reales, für fich beftehendes Weſen (Subftanz) ift, 
fowenig ift es die Seele; fie ift, wie jenes imaginär d. h. 
ein Product der Einbildung. ‘Die perjönliche Identität ijt 
eine geglaubte Vorftellung, die fo weit reicht, als fich der 
Baden des Gedächtniſſes ausdehnen und in feinen Lüden er- 
gänzen läßt.*) 


4. Einbildung und Vernunft. 


Die Einbildung kommt zu der Vorftellung, daß es Ob- 
jecte außer den Vorftellungen giebt, Dinge an fi, die durch 
einen nothwendigen Zufammenhang vernüpft find; die Ver⸗ 
nunft durchſchaut das Thun der Einbildung und erflärt: es 
giebt als erkennbare Objecte nur Vorftellungen und deren 
Affociation. Hier ift ein Widerftreit zwifchen Einbildung und 
Bernunft. Die falfche Art der Löfung ift die dogmatifche 
Philofophie, die e8 mit beiden Parteien Hält, beiden glei 


*) Treat. I. P. 4. Sect. 6. 





775 


Necht giebt und eine Misgeburt aus beiden bildet: es giebt 
aljo Dinge und Vorftellungen, die fich verhalten, wie Urſache 
und Wirkung, wie Urbild und Abbild, und daraus erklärt 
ih die Erkenntniß der Dinge. Sehen nun die Leute ein, 
daß fi) daraus die Erfenntniß nicht erklärt, fo fuchen fie 
nach dem Unerkennbaren und wälzen den Stein des Siſyphus 
oder beruhigen fi) bei den „verborgenen Eigenschaften ber 
Dinge‘, wie der Böbel bei feiner Dummheit. “Die richtige 
Art der Löſung ift die Vernunfteinfiht, daß es eine reale 
und nothwendige Erfenntniß der Dinge nicht giebt, fondern 
an das Dafein und den nothwendigen Zufammenhang der 
Dinge nur geglaubt wird vermöge der Einbildung: das ift 
der Sfepticismus, der das gewöhnliche Bewußtfein erklärt 
und damit rechtfertigt. *) 


IH. 
Gewohnheit und Geſchichte. 


Die Gewohnheit ift bei Hume nicht blos der Erflärungs- 
grund unferer empirischen Erfenntniß, fondern die große Füh⸗ 
rerin des menfchlichen Lebens überhaupt.**) Unſer Leben wie 
unfere Bildung find Refultate unferer Gewöhnungen, die all- 
mälig entftehen und nur allmälig verändert werden Tönnen. 
Die menfhlihen Gewohnheiten und Sitten in ihren all- 
mäligen und langfamen Metamorphofen find die geſchicht⸗ 
Tichen Bildungsprozeffe. Wer daher bie Macht der Gewohn⸗ 
heit und der Habituell gewordenen Sitte nicht verfteht, wird 
auch nicht im Stande fein, den gefchichtlichen Gang menſch⸗ 


*) Treat. I. P. 4. Sect. 2und 3. **) Phil. Ess. Sect. V.P. 1. 


776 


liſcher Dinge zu erflären. Jede plögliche Aufllärung, jede 
plößliche Stantsperänderung ift durchaus gefchichtswidrig; ſo⸗ 
wenig Glaube und Staat mit einem Schlage gemadjt wer 
ben, fowenig laffen ſich beide plöglich verändern. Unter ben 
Philofophen der englifch-franzöftichen Aufflärungszeit ift Da⸗ 
vid Hume der einzige, der nicht gejchichtswidrig dachte, weil 
er einfah, daß nicht Grundfäge und Theorien, fondern Ge⸗ 
wohnheiten das menfchliche Leben und beffen Glauben beherr- 
ſchen. Diefelde Anfhenungsweife, die ihn in der Philofophie 
zum Skeptiker werben Tieß, machte ihn zu einem menfchen- 
und ftaatsfundigen Geſchichtsſchreiber. WI man den Unter- 
ſchied deutlich vor Augen haben, der in diefem Punkte zwifchen 
unferem Skeptiker und der Aufllärungsmode bes Zeitalters 
befteht, fo vergleiche man Hume's Gefchichtsichreibung mit der 
Voltaire's. Nirgends aber tritt feine gefchichtliche Deufart 
beniertenswerther hervor, als gerabe an der Stelle, wo in 
der Zeitphilojophie ein volllommen gefchichtswidriges Dogma 
herrſchte. Hume ift der ausgeſprochene Gegner der Ber- 
tragstheorie und befämpft diefe Lehre in Lode und Rouſ⸗ 
feau, er fieht, wie eine ſolche Theorie mit aller gefchichtlichen 
Erfahrung und Möglichkeit ftreitet und einem philofophifchen 
Hirngefpinft gleihlommt. Ehe die Menſchen ein fürmlicher 
Vertrag vereinigen konnte, batte fie ſchon die Noth vereinigt, 
die Noth bewirkte ohne Vertrag, daß einer befahl und die ans 
dern gehorchten. „Jede Ausübung ber Gewalt eines Ober- 
hauptes”, fagt Hume, „konnte zunächſt nur particular und 
durch die gegenwärtigen Bebürfniffe der Lage gefordert fein, 
aber der Nuten machte die Ausübung häufiger, und durch die 
Öftere Wiederholung entftand allmälig eine auf Gewohnheit 
gegründete Beiftimmung des Volles.” So fett Hume an die 


177 


Stelle des Vertrags die Gewohnheit und erklärt den Staat 
genau jo ale die Erkenntniß; diefe gründet fih auf gewohnte 
Erfahrung, jener auf gewohnten Gehorſam, die Gewohnheit 
bindet die Menſchen an die eingelebte Staatsorbnung und 
fihert deren Beftand gegen jeden gewaltfamen Angriff. Was 
Schiller feinen Wallenftein fagen läßt, ift aus Hume's Seele 
gefprodhen: „Das ganz Gemeine iſt's, das ewig Geftrige, was 
morgen gilt, weil’8 heute hat gegolten, denn aus Gemeinem 
ift der Menſch gemacht, und bie Gewohnheit nennt er feine 
Amme.“ 

Die Erfahrnngsphiloſophen ſollten die geſchichtliche Er⸗ 
fahrung am wenigſten verkürzen und gerathen mit ihr in 
einigen Hauptpunkten ihrer Lehre in den offenſten Widerſtreit. 
Jene tabula rasa, von der ſie reden, exiſtirt nicht, weder in 
noch außer uns. Ihre Staatstheorie ſetzt Menſchen voraus, 
die ſich in der Lage befinden, erft einen Staat zu machen, die 
unmittelbar als eine ganz neue und völlig fertige Generation 
aus der Hand der Natur kommen. Solche Menſchen exiſtiren 
nicht; wenn ſie wären, gäbe es keine Geſchichte. Wie klar 
hat Hume dieſen Widerſtreit zwiſchen der geſchichtlichen Er⸗ 
fahrung und der herkömmlichen Erfahrungsphiloſophie durch⸗ 
ſchaut! „Wenn eine Menſchengeneration auf einmal vom 
Schauplatze ab und eine andere aufträte, wie e8 mit Seiden⸗ 
wilrmern und Schmetterlingen der Fall ift, fo könnte bas 
nee Geſchlecht durch Vertrag eine neue Staatsform einführen, 
ohne Rückſicht auf die Geſetze und Sitten, die bei ihren Vor- 
fahren galten. Da aber das menfhhlihe Geſchlecht in einer 
beftändigen Flut ift, in jedem Augenblid einer die Welt ver- 
läßt und ein anderer geboren wird, fo tft es nothwendig zur 
Feſtigkeit der Öffentlichen Zuftände, daß fi bie junge Nach⸗ 


—3 





178 


fommenfchaft der eingeführten Verfaffung anjchmiegt und dem 
Pfade folgt, den die Väter anbahnten. Einige Neuerungen 
müffen nothwendig in jeder menfchlichen Einrichtung ftattfin- 
den, und es tft glüdlich, wenn fie der erleuchtete Genius des 
Zeitalters auf die Seite ber Vernunft, Freiheit und Gerech⸗ 
tigkeit leitet.“ | 

Der geſchichtswidrige Grundfag führte zu geſchichts⸗ 
widrigen Folgernngn. Wenn es feititand, daß einft der 
Staat durch Vertrag aus einer tabula rasa entftanden war, 
fo durfte ein neuer Vertrag mit dem gegebenen Staat wieder 
tabula rasa machen. Die PVertragstheorie eines Hobbes 
wurde in Rouſſeau zur Nevolutionstbeorie, und der Zeitpunkt 
fam, wo mit dem gegebenen Staat wirklich tabula rasa ge⸗ 
macht wurde. Mit der Vertragstheorie befümpft Hume zu⸗ 
glei die Nevolutionstheorie in völligem Gegenfag zu Rouf- 
feau. „Wollten diefe Sophiften ſich in der Welt umſehen“, 
fagt der erfahrene Steptiler, „fo würden fie nidhts finden, 
daß im geringiten ihren Ideen entſpricht; in ber That giebt 
e8 kein fürdhterlicheres Creiguiß als bie gänzlihe Auflöfung 
einer Verfaſſung, die den großen Haufen entfeffelt und die 
Beitimmung einer neuen Staatsordnung von einer Menge 
abhängig madt, die fih an Zahl dem ganzen Vollskörper 
nähert, denn das ganze Volt entjcheidet eigentlich nie. Jeder 
vernünftige Mann wünſcht in einem folchen Fall eine ftarfe 
Armee und an deren Spike einen Führer, der fchnell ben 
Preis ergreifen und dem Volle einen Herrn geben kann, den 
felbit zu wählen die Menge ganz unfähig if. So wenig 
entfpricht der wirkliche Lauf der Dinge den philofophifchen 
Begriffen jener Leute.” Wenn alfo der Fall eintreten folite, 
ber die Revolution zur Thatſache macht und ‚einen Rouifeau 


119 


in einen Robespierre verwandelt, fo weiß Hume im voraus, 
was er zu wünfchen hat: er hofft auf einen Napoleon! 

Wir haben gejehen, wie Hume und Rouſſeau ſich per- 
fönlich berührt und einander entfremdet hatten. Beide ftehen 
vor der Schwelle der franzöfifchen Nevolution, beide ſuchen 
das menſchliche Wiffen auf einen natärlihen Glauben zurüd- 
zuführen, Hume als nüchterner Steptiler, Rouſſeau als gläu- 
biger Naturalifl. In dem Zeitalter der Revolution, die fie 
nicht mehr erlebten, Tonnten ihre Geifter durch Teine größere 
Kluft getrennt fein: Robespierre vertieft in Rouſſeau's Staats- 
lehre und Ludwig XVIL in Hume's Geſchichte dev Stuarts! 


Schluß. 





T. 
Erfahrungsphilofophie und Glaubensphilofophie. 


Hamaun und Jacobi, 


Wir find am Ziel. Die Erfahrungsphilofophie Hat in 
Hume den Lauf vollendet, den fie mit Bacon begonnen hatte. 
Ihre Richtungen waren durch zwei Aufgaben beftimmt. Zu⸗ 
erft mußte die Erfahrung als das einzige Mittel und Werf- 
zeug fruchtbarer Welterfenntniß gefordert werben in Abfidt 
auf die großen Bildungszwecke der Menfchheit. Diefe Yor- 
derung erhob Bacon mit der Macht und Geltung eines neuen 
Culturprincips. Ihm galt die Welt als Object, die geforderte 
Erfahrung als deifen Abbild. Die zweite Aufgabe will, daß 
die Erfahrung erklärt wird. Jetzt gilt die Erfahrung als 
Object, die Erfahrungsphilofophie als deſſen Abbild; jett ſoll 
fih diefe zu jener verhalten, wie bie Theorie zum Vorgang, 
die Erflärung zur Thatſache, die Copie zum Original, Mit 
diefer Wendung wird die Erfahrungsphilofophie zur Erkennt⸗ 
nißtheorie und damit ihrem ganzen Umfange nad) zur menſch⸗ 
lihen Geifteslehre. 


781 


Vergleichen wir die fenfunliftifche Erkenntnißtheorie feit 
Lode mit der natürlichen Erfahrung felbft, wie fie geht und 
fteht, als ob biefe der Lebendige Menfch, jene die Bilſten 
wären, bie fie abformen, fo erjcheint uns Hume's Lehre als 
das ähnlichſte Abbild, denn fie erklärt das gewöhnliche Be⸗ 
wußtjein, wie es leibt umd lebt, und zeigt, wie daraus die fo- 
genannte Erkenntniß hervorgeht. 

Der Glaube ift nach Hume die Wurzel alles Erkennens. 
» &8 giebt von dem Dafein der Dinge feine andere Gewißheit, 
als diefen Glauben, der eines tft mit ber Tebendigften Vor⸗ 
ftellung. Hier ift der Punkt, in dem die deutfchen Slaubens- 
philofophen Hamann und Fr. H. Sacobi auf Hume hin⸗ 
weifen und mit ihm gemeinfchaftlihe Sache machen gegen alle 
dogmatifchen Erkenntnißſyſteme, gleichviel aus welchem Stoff 
fie fabricirt find, ob aus dem der Wahrnehmungen oder ber 
Verftandesbegriffe. Nur daß Hume’s Glaube das Werk un⸗ 
ferer Einbildung ift, der hamann-jacobi’fche dagegen das gött- 
liher Offenbarung. 


Il. 
Erfahrungsphilofophie und natürliche Erfahrung. 


Die ſchottiſche Schule. 

Bergleihen wir Hume’s Glaubenslehre mit dem gewöhn⸗ 
lichen Bewußtfein felbft, deffen Conterfei fie fein will, fo 
fpringt eine Differenz hervor, eine Unähnlichkeit in den Grund- 
zügen. Dort gilt als Täuſchung, was hier als die fiherfte 
Gewißheit feftfteht: die Weberzeugung von dem Dafein der 
Geifter und Körper, der Berfonen und Dinge. Somenig 
biefe Weberzeugung bewiefen werden kann, fowenig foll fie 


182 


bezweifelt werden dürfen, oder die Erfahrungsphilofophie ge 
räth in Zwiefpalt mit den Grumdlagen ber natürlichen Er⸗ 
fahrung. Daher nehme fie das natürliche Bewußtfein mit 
feinen Orundüberzeugungen nit blos zum Object, welches 
fie erflärt, ſondern zur alleinigen und unwiderfprechlichen Richt⸗ 
ſchnur ihres Verfahrens; nicht Vorftellungen oder Ideen, ſon⸗ 
dern Weberzeugungen find die Urthatſachen des menschlichen 
Geiftes, ohne welche der Verftand ins Bodenlofe finkt, und 
die kein Skepticismus dem menſchlichen Bewußtjein ausrebet. 
Werden jene Meberzeugungen erft abgeleitet aus Ideen, fo ift 
die nothwendige Folge, daß fte als Producte der Einbilbung 
ericheinen und dem Stepticismus verfallen. Das einfache, 
natürliche Bewußtſein glaubt an die Natur, an die Eriftenz 
der Dinge, der geiftigen und förperlichen, an das Vorhanden⸗ 
fein fowohl der wahrnehmenden Subjecte als der Empfin⸗ 
dungsobjecte, und es wird dem Skepticismus nie glauben, 
daß diefer Glaube Täuſchung fei, wenn auch eine noch fo un- 
willfürlihe. Hat nun die Erfahrungsphilofophie Teine andere 
Aufgabe, als diefes natürlihe Bewußtſein zu erflären, umd 
fol die Probe ihrer Rechnung darin beftehen, daß ihr Re 
fultat dem Inhalte des natürlichen Bewußtſeins gleihfommt, 
fo wird man finden, daß Hume's Rechnung nicht ftimmt, daß 
ſich dieſer Skepticismus irgendwo verrechnet haben müſſe, daß 
ſein folgenſchwerer Irrthum geſchehen ſei, ſobald die natür⸗ 
liche Weltanſicht für ein Machwerk der Einbildung gelte, daß 
dieſer Irrthum geſchehen müſſe, ſobald in der Unterſuchung 
des menſchlichen Geiſtes ausgegangen werde von unverbundenen 
Vorſtellungen als dem urſprünglich Gegebenen. Darin liege 
das roörov ıbeudog, das Berkeley und Hume in die Irre ge⸗ 
führt Habe! Die Grundlagen unferer natürlichen Weltanfidt, 


183 


diefe Urthatfachen des menſchlichen Geiſtes, gelten für unfere 
Compofitionen, für Machwerke der Einbildung, und was erft 
durch Tünftliche Analyfe und Abfonderung gefunden werde, die 
Einzelvorftellungen, nehme man für das urfprünglich Gegebene, 
Als ob die natürliche Körperwelt im Laboratorium des Che- 
mikers und die natürliche Vorftellungswelt vom Organon ber 
Logik gemacht wäre! Berkeley und Hume haben bie natür- 
lihen Verhältniffe des menſchlichen Geiſtes umgekehrt, die 
Wiederumfehrung dieſer Lehren ſtellt das richtige Verhältniß 
wieder her und giebt ſich als ſolide Erfahrungsphiloſophie, 
die das gewöhnliche Bewußtſein, die natürliche und gemein⸗ 
gültige Weltanficht zu ihrer Richtſchnur nimmt und unter die- 
fer Vorausſetzung den menſchlichen Geift unterſucht. Es ift 
bie Philofophie des gemeingültigen DVerftandes, „common 
sense”, die in Abhängigkeit von Hume und im Widerftreit 
mit ihm feine Landsleute eingeführt haben: die fchottifche 
Schule von Th. Reid bis W. Hamilton, die dur TH. Neid 
und D. Stewart, ihre beiden Hauptvertreter, auf bie fran- 
zöſiſche Philofophie diefes Jahrhunderts gewirkt und hier be- 
fouders in Royer Collard und Th. Jouffroy eifrige Nad)- 
folger gefunden hat. Es ift die Schule der empiriſchen Pfy- 
hologen im Gegenfaß zu den Materialiſten. \ 

Als fundamentale Gewißheit galt bei Descartes die Rea⸗ 
fität des denkenden Subjects, bei Bacon die der Erfahrungs- 
objecte; Hume verhält fi zu beiden Ausnahmen gleihmäßig 
verneinend, die ſchottiſche Schule verhält fich zu beiden gleich- 
mäßig bejahend, denn fie gelten ihr als Urthatfachen des 
natürlichen Bewußtſeins. Deshalb neutralifiren fi) hier, in 
dieſer Erfahrungsphilofophie mit abgeftumpftem Stepticismus, 
die beiden großen Gegenſätze bes Nationalismus und Empiris- 


784 


mus, und es entfteht eine eklektiſche Richtung, die fich befon- 
ders in Frankreich durch V. Couſin hervorgethan hat. 


IM. 


Erfahrnngsphilofophie und kritifche Philofophie. 
Hume und Kant. 


Die ſchottiſche Schule tadelt an Hume, daß er die That- 
ſache der natürlichen Erfahrung ftatt vorauszuſetzen ableite 
und dadurch zu einem Krgebniffe geführt werde, welches bie 
Objectivität und Nothwendigkeit der Erkenntniß beftreite; fie 
will die Anfechtungen des Stepticismus [oswerben, indem fie 
bie Grundlagen der menfchlichen Erkenntniß außer Frage fekt. 
Wenn man fie zum Probleme mache, jo werben fie problema- 
tifh. Das aber heißt das Erfenntnißproblem nit Löfen, fon- 
dern verneinen und das Kind mit dem Bade ausſchütten; auf 
diefe Weife kommt man nicht über Hume hinaus, fondern 
fehrt auf einen Standpunkt zurüd, der aller erfenntnißtbeo- 
retiſchen Unterſuchung vorausgeht. 

Das Problem ſteht feſt. Die Thatſache der Erfahrung 
will erklärt d. h. abgeleitet werden; man will wiſſen, wie fie 
entjteht. Daß Hume diefer Entftehung nachging und die pfy- 
hologifche Werkftätte zu erleuchten fuchte, in ber fie entiteht, 
giebt feinen Unterfuchungen ihren dauernden Werth und er- 
hebt fie unter die verdienſtvollſten Leiftungen in der Gefchichte 
der Erfenntnißtheorie. Die Srage ift nur, ob feine Erklärung 
richtig war? Daß fie fleptifch ausfältt, ift allerdings ein Zei⸗ 
hen der Nichtübereinftimmung mit der Thatſache der natür- 
then Erfahrung, welches die Schotten mit Hecht bedenklich 
gemacht Hat. 


785 


Hume erffärt die Erfahrungserfenntniß aus jenem Glauben 
an die nothwendige Verknüpfung der Vorftellungen, den bie 
Einbildung macht vermöge der Gewohnheit, die ſelbſt nichts 
anderes ift als eine oft wiederholte Erfahrung. So tft es 
die Erfahrung, welche die Erfahrung madt; fo wird voraus- 
gefegt, was erklärt werden foll, und die hume'ſche Erklärung 
bewegt ſich in jenem augenfcheinlichen Eirkel, den fchon bie 
alten Steptifer bemerkt und unter den Tropen, die fie den 
dogmatifchen Philofophen entgegenhielten, als den „Diallelos“ 
bezeichnet haben. Wenn die Schotten die Thatſache der Er- 
fahrung als etwas urfprünglich Gegebenes fegen, fo thun fie 
mit Bemwußtfein, was Hume that, ohne e8 zu wollen, und im 
Grunde wiederholen fie Hume, ohne e8 zu wiſſen. 

Hume hat alfo die Erfahrung nicht erflärt, er hat 
dieſes Problem nicht gelöft, fondern nur verdeutlicht, aber 
fo verdeutlicht, daß nad ihm Fein felbftändiger Denker da- 
gegen blind fein Tonnte; er mußte fehen, daß diefes Problem 
im VBordergrunde aller übrigen ftand, und daß auf dem Wege, 
den Hume gegangen war, und den die Erfahrungsphilofophie 
ihm vorgefchrieben hatte, das Ziel der Löſung verfehlt wurde. 
Die Erfahrung, die Bacon zum Inftrument der Philofophie 
gemacht Hatte, war feit Locke deren Object, deffen Erklärung 
in erfte Frage kam, aber immer wurbe die Erfahrung fo er- 
färt, daß fie im Grunde ſchon feftftand. Denn der Eaufal- 
zufammenhang der Erfcheinungen galt bei Locke als eine That- 
fahe der Wahrnehmung, bei Berkeley als eine Thatſache 
göttlicher Wirkſamkeit, bei Hume als eine oft wiederholte Er- 
fahrung. Locke wollte Senfualift fein; fein Fehler war, daß 
er es nicht genug war: biefen Fehler entdeckte Berkeley. Ber⸗ 
keley wollte Sdealift fein; fein Fehler war, daß er es nicht 

Fiſcher, Bacon. 50 





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vollftändig war, fondern die VBorftellungswelt mit einem 
Schlage realifiren wollte durch die unergründliche Wirffamteit 
Gottes: dieſen Fehler ſah Hume. Hume wollte Steptiler 
fein, aber er war nicht fleptifch genug, denn in ber gewohn- 
ten Succeffion der Wahrnehmungen, die er unbejehen an- 
nahm, lag ſchon die ganze Erfahrung und die Caufalität. 

Wer diefen Fehler' Hume's entdedt und das Broblem 
feitgält, muß einen andern Weg fuchen, einen neuen Aus: 
gangspunkt nehmen, der nicht mehr innerhalb der Erfahrungs- 
philofophie Liegt, und eine jener Wendungen machen, die 
Epochen find. Diefe Epohe macht ein deutſcher Philoſoph, 
J. Kant, in feinen Voreltern ein Landsmann Hume’s. Zum 
erftenmal in der Philofophie wird ohne jedes Vorurtheil die 
Trage geftellt: wie entfteht die Erfahrung? Die Factoren, die 
fie bilden, können nicht felbft Schon Erfahrung fein. Woher 
die Succeffion der Wahrnehmungen? 

Die Wendung Kant’s ift im Grunde eine fehr einfache: 
er verhält fi zur Erfahrung genau fo, wie fih Bacon zur 
Natur verhalten Hatte, er will die Thatfache der Erfahrung 
fo erklären, wie Bacon die Thatfachen der Natur erflärt 
wiffen wollte. ine Thatſache erklären Heißt unter allen 
Umftänden, die Bedingungen darthun, unter denen fie ftattfindet, 
aus denen fie folgt; dieſe Bedingungen müfjen unter allen 
Umftänden der Thatſache vorausgehen und vor berfelben ge: 
fucht werden. Kant fucht die Bedingungen unferer empirifchen 
Erkenntniß nit über derfelben, wie die deutfchen Metaphy- 
fifer, nicht in ihr, wie die englifhen Senfualiften, fondern 
vor ihr; weder fegt er mit jenen die Erkenntniß in angebore- 
nen Ideen voraus, noch mit diefen die Erfahrung in finnlichen 
Eindrüden und deren Verknüpfung. Er analyfirt die That 





187 


ſache ber Erfahrung, wie Bacon die Erſcheinungen der Natur; 
wie diefer die Naturfräfte fuchte, welche die Dinge bewirken, 
ſo ſucht Kant die Vernunftkräfte, welche die Erfahrung maden. 
Den Inbegriff diefer Bedingungen, die der Erfahrung ale 
„fons emanationis‘ vorausgehen, nannte er „reine Ver⸗ 
nunft“. Eine Thatfache als gegeben annehmen, diejelbe em- 
pfangen und betrachten als fertiges Object, ſich das Object 
als ſolches beſchreiben oder erzählen laffen, ohne ſich um fei- 
sen Ursprung zu kümmern, heißt in allen Fällen, fi) dog— 
matiſch verhalten, gleichviel was die Thatſache ift, ob ein 
Wert der Natur oder des menfhlihen Geiftes. Die Frage 
nach dem Urfprung der Thatſachen, nad) der Entftehung des 
Werkes ift kritiſch, ob diefes Wert ein organischer Körper, 
ein Buch oder fonft ein Gebilde der Kunſt ift. Diefe Trage, 
gerichtet auf die Thatſache der Erfahrung und der Erfenntniß 
überhaupt, diefes Werk der menjhlichen Vernunft, ift das 
Problem der kritiſchen BhHilofophie, die Kant begründet. Ba⸗ 
con frug: wie und wodurd) find die Naturerfcheinungen 
möglih? Er erwartet die Antwort von der Phyſik nad) 
empirifcher Methode. Kant frägt: wie und woburd- ift Phy- 
fit möglih, Mathematit und Erfahrung? Er giebt die Ant- 
wort in ber „Kritik der reinen Vernunft”, dem Organon 
einer neuen Philoſophie. 

Als er das jchwierige Werk, das dem erjten Beurtheiler 
als eine Erneuerung des berfeley’schen Idealismus erjchienen 
wer, in den „„Prolegomena zu einer jeden fünftigen Metaphy⸗ 
fit” erläuterte, fagte Kant, daß vielmehr David Hume ber- 
jenige gewefen fei, der ihn vor vielen Jahren zuerft aus dem 
bogmatifchen Schlummer erwedt und feinen Unterfuchungen 


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im Felde der fpeculativen Bhilofophie eine ganz andere 
Richtung gegeben habe. 

Eingedent des Mannes, der die Erfahrungsphilofophte 
begründet hatte, und von dem auch Hume herkam, ſetzte Kant 
ein Wort Bacon's and der Vorrede zum neuen Organon über 
den Eingang feines Hauptwerks: „Wir fchweigen von uns 
felbft. Aber von der Sache, um die e8 fich handelt, verlangen 
twir, daß fie die Menfchen nicht für eine bloße Meinung, ſon⸗ 
dern für ein nothwendiges Werl anjehen und überzeugt fein 
mögen, daß wir nicht für irgendeine Schule oder eine be⸗ 
liebige Anfiht, fondern für den Nuten und die Größe der 
Menfchheit neue Grundlagen fuchen. So mögen fie um ihres 
eigenen Nutzens willen das Beſte aller bedenken und felbft 
daran theilnehmen. Sie mögen voller Hoffnung in die Zu⸗ 
funft bliden und nicht fürdten, daß die Erneuerung, die "wir 
unternehmen, grenzenlos und übermenfchlic fei. Sie ſollen 
dDiefes Werk begreifen, denn es ift in Wahrheit das Ende und 
die rechtmäßige Grenze unendlichen Irrthums.“ 





d 


ls 
Drud von %. A. Brodhaus in Leipzig.