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Full text of "Friedrich Nietzsche: Ein Kämpfer gegen seine Zeit"

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FRIEDRICH NIETZSCHE 



EIN KÄMPFE'* EGEN SEINE ZEIT. 



FRIEDRICH NIETZSCHE 



EIN KÄMPFER GEGEN SEINE ZEIT. 



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Von 



DR. RUDOLF STEINER. 




AVE I MAR. 

VERLAG VON EMIL FELBER. 

1895. 



LIBRARy OF THE 
LELAND STANFORD JH. UmEßSITY, 

SEP IS vm 

Alle Rechte vorbehalten. 



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/V^ 73 



Inhalt. 



Vorrede Vn 

I. Nietzsches Charakter 1 

n. Der Übermensch 29 

III. Nietzsches EntwickelungsgaDg 93 






Vorrede. 



Als ich vor sechs Jahren die Werke Friedrich 
lUietzsches kennen lernte, wai'en in mir bereits 
tZdeea ausgebildet, die den scinigen ähnlich sind. Un- 
■abhängig von ihm und auf anderen Wegen als er, 
Ihin ich zu AnschamingcD gekommen, die im Einklang . 
Vatehen mit dem, was Nietzsche in seinen Schriften: 
l^Zarathustra", „Jenseits von Gut und Böse", „Genealogie 
f der Moral" und „Götzen dämme rung" ausgesprochen hat. 
|iS(ihon in meinem 1886 erschienenen kleinen Buche 
„Erkenntnistheoria der Goetheschen Weltan- 
l-schauung" kommt dieselbe Gesinnung zum Aus- 
Idmck, wie in den genannten Werken Nietzsches. 

Dies ist der Grund, warum icii mich gedrängt 
BlfUhlte, ein Bild von dem Vorstellungs- und Emijfinduügs- 
ftlehen Nietzsches zu zeichnen. Ich glaube, dafs ein 
Ksolches Bild Nietzsche am ithnlichston dann wird, wenn 
Ixnan es seinen erwähnten letzten Schritten gemäfs 
EeohafFt. So habe ich es gethan. Die früheren Schriften 
iKietzsches zeigen uns ihn als Suchenden. Er stellt 
ftisich luiB in ihnen dar als rastlos aufwäi'ts Sti-ebender. In 



VIII Vorrede. 

seinen letzten Schriften sehen wir ihn auf dem Gipfel 
angelangt, der eine seiner ureigenen Geistesart ange- 
messene Höhe hat. In den meisten der bis jetzt 
über Nietzsche erschienenen Schriften wird dessen 
Entwicklung so dargestellt, als ob er in den ver- 
schiedenen Zeiten seiner Schriftstellerlaufbahn von- 
einander mehr oder weniger abweichende Meinungen 
gehabt hätte. Ich habe zu zeigen versucht, dafs von 
einem Meinungs Wechsel bei Nietzsche nicht die Rede 
sein kann, sondern nur von einer Aufwärts-Bewegung, 
von der naturgemäfsen Entwickelung einer Persönlich- 
keit, die noch nicht die ihren Anschauungen ent- 
sprechende Ausdrucksform gefunden hatte, als sie ihre 
ersten Schriften schrieb. 

Das Endziel von Nietzsches Wirken ist die 
Zeichnung des Typus „Übermensch**. Diesen Typus 
zu charakterisieren, habe ich als eine der Haupt- 
aufgaben meiner Schrift betrachtet. Mein Bild des 
Übermenschen ist genau das Gegenteil des Zerr- 
bildes geworden , das in dem augenblicklich ver- 
breitetsten Buche über Nietzsche von Frau Lou 
Andreas-Salome entworfen ist. Man kann nichts 
dem Nietzscheschen Geiste mehr Zuwiderlaufendes in 
die Welt setzen, als das mystische Ungetüm, das Frau 
Salomö aus dem Übermenschen gemacht hat. Mein 
Buch zeigt, dafs in Nietzsches Ideen nirgends auch 
nur die geringste Spur von Mystik anzutreffen ist. 
Auf die Widerlegung der Ansicht von Frau Salom^, 
dafs Nietzsches Gedanken in „Menschliches, Allzu- 
menschliches" von den Ausführungen Paul Röes, des 
Verfassers der „Psychologischen Beobachtungen und des 
„Ursprungs der moralischen Empfindungen" u. s. w., fee- 



Vorrede. IX 

einflufst seien, habe ich mich nicht eingelassen. Ein 
so mittelmäfsiger Kopf wie Paul R^e konnte auf 
Nietzsche keinen bedeutenden Eindruck machen. Ich 
würde diese Dinge auch hier /nicht berühren, wenn 
nicht das Buch von Frau Salomö so viel beigetragen 
hätte, geradezu widerwärtige Ansichten über Nietzsche 
zu verbreiten. Fritz Koegel, der ausgezeichnete 
Herausgeber von Nietzsches Werken, hat im „Magazin 
fiir Litteratur** diesem Machwerke die gebührende Ab- 
fertigung angedeihen lassen. 

Ich kann diese kurze Vorrede nicht beschliefsen, ohne 
Frau Förster-Nietzsche, der Schwester Nietzsches, 
herzlichst zu danken für die vielen Freundlichkeiten, 
die ich von ihr während der Zeit erfahren habe, in 
der meine Schrift entstanden ist. Den im „Nietzsche- 
Archiv" in Naumburg verlebten Stunden verdanke 
ich die Stimmung, aus der heraus die folgenden 
Gedanken geschrieben sind. 

Weimar, April 1895. 

Rndolf Steiner. 



** 



Nietzsches Werke. 

Ich führe hier zur Orientierung die bis jetzt er- 
schienenen und für meine Ausführungen in Betracht 
kommenden Schriften Nietzsches an und füge zu jeder 
einzelnen die Jahreszahl des Erscheinens der ersten Auf- 
lage hinzu. 

Die Gebart der Tragödie« Oder: Griechentum und Pessimismus. 
Die 1. Aufl. erschien 1872. 

Eine neue Ausgabe mit vorgedrucktem „Versuch einer 
Selbstkritik« erschien 1886. 
Unzeitgemäfse Betrachtungen. 

Erstes Stück : David Straufs, der Bekenner und Schrift- 
steller. 1. Aufl. 1873. 
Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie 

für das Leben. 1. Aufl. 1874. 
Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher. 1. Aufl. 1874. 
Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth. 1. Aufl. 
1876. 
Mensehliehes^ Allznmenschliches« Ein Buch für freie Geister. 

1. Band. 1. Aufl. 1878. 

Eine neue Ausgabe mit einer einfahrenden Vorrede 
erschien 1886. 
Menschliclies^ Allzumenschliches« Ein Buch für freie Geister. 

2. Band. Die beiden Abteilungen dieses Buches: „Ver- 
mischte Meinungen und Sprüche" und „Der Wanderer und 
sein Schatten'' erschienen zuerst jede als besonderes Buch. 
Die erste 1879 unter dem Titel: „Menschliches, Allzu- 
menschliches. Ein Buch für freie Geister. Anhang: Ver- 
mischte Meinungen und Sprüche", die zweite 1880. Beide 
Abteilungen wurden 1886 zu einem Bande vereinigt, der 
mit einer einfahrenden Vorrede versehen wurde und der 
den Titel trug: „Menschliches, Allzumenschliches. Ein 
Buch für freie Geister. Zweiter Band. Neue Ausgabe 
mit einer einführenden Vorrede." 

Morgenröte« Gedanken über die moralischen Vorurteile. 
1. Aufl. 1881. 

Neue Ausgabe mit einer einfahrenden Vorrede 1887. 



Die fröhliche Wissenschaft („La gaja scienza'^). 1. Aufl. 1882. 
Neue Ausgabe mit einer Vorrede 1887. 

Also sprach Zarathnstra. Die Teile erschienen zuerst ein- 
zeln: 1. Teil 1883; 2. Teil 1883; 3. Teil 1884. Die erste 
Gesamtausgabe der drei Teile erschien 1886. Der vierte 
Teil erschien 1885 in 40 Abzügen blofs für Freunde und 
erst 1891 als 1. Aufl. 

Jenseits yon Gnt und Böse. Vorspiel einer Philosophie der 
Zukunft. 1. Aufl. 1886. 

Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. 1. Aufl. 1887. 

Der Fall Tf agner. Ein Musikanten-Problem. 1. Aufl. 1888. 

Götzen dämmemng oder Wie man mit dem Hammer philo- 
sophiert. 1. Aufl. 1889. 

Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen. 
Erschien 1895 in der Gresamtausgabe zum ersten Mal. 
1888 bereits einmal gedruckt, aber nicht ausgegeben. 

Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christentums. Das 
erste Buch des unvollendeten Werkes Nietzsches „Der 
Wille zur Macht". In der Gesamtausgabe (1895) zum ersten- 
mal gedruckt. 

Gedichte. In der Gesamtausgabe 1895. 

Eine Gesamtausgabe von Nietzsches Werken in 
8 Bänden ist 1895 bei- C. G. Naumann in Leipzig er- 
schienen. In derselben sind enthalten: Die Geburt der 
Tragödie 4. Aufl.; Die „UnzeitgemSisen Betrachtungen" 

3. Aufl.; „Menschliches, Allzumenschliohes" 1. u. 2. Bd. 

4. Aufl.; Morgenröte 2. Aufl.; Fröhliche Wissenschaft 
2. Aufl.; Zarathustra 4. Aufl.; Jenseits von Gut und 
Böse 5. Aufl.; Genealogie der Moral 4. Aufl.; Der Fall 
Wagner 3. Aufl.; Götzendämmerung 3. Aufl.; Nietzsche 
contra Wagner; Antichrist; Gedichte. 

Die Veröffentlichung der noch ungedruckten Arbeiten 
Nietzsches, sowie seiner Entwürfe zu Arbeiten, seiner Frag- 
mente u. s. w. steht bevor. 



«^ 






I. Der Charakter. 17 



die der menschlichen Erkenntnis unzugänglich sind, 
und die als der eigentliche Urgrund, als das Be- 
stimmende alles Daseins gelten sollen. Durch eine 
solche Annahme verdirbt man sich die Freude an dieser 
Welt. Man würdigt sie zum Scheine, zu einem blofsen 
Abglanz eines Unzugänglichen herab. Man erklärt 
die uns bekannte Welt, die für uns allein wirkliche, 
für einen nichtigen Traum und schreibt die wahre 
Wirklichkeit einer erträumten, erdichteten anderen 
Welt zu. Man erklärt die menschlichen Sinne für 
Betrüger, die uns Scheinbilder statt Wirklichkeiten 
liefern. 

Nur aus der Schwäche kann eine solche Ansicht 
stammen. Denn der Starke, der fest in der Wirklich- 
keit wurzelt, der seine Freude am Leben hat, wird es 
sich nicht in den Sinn kommen lassen, eine andere 
Wirklichkeit zu erdichten. Er ist mit dieser Welt 
beschäftigt und bedarf keiner andern. Aber die Leiden- 
den, die Kranken, die unzufrieden sind mit diesem 
Leben, nehmen ihre Zuflucht zum Jenseits. Was 
ihnen das Diesseits entzogen hat, soll ihnen das Jen- 
seits bieten. Der Starke, der Gesunde, der entwickelte 
und taugliche Sinne hat, um die Gründe dieser Welt 
in ihr selber aufzusuchen, der bedarf zur Erklärung 
der Erscheinungen, innerhalb deren er lebt, keiner 
jenseitigen Gründe und Wesenheiten. Der Schwache, 
der mit verkrüppelten Augen und Ohren die Wirklich- 
keit wahrnimmt, der braucht Ursachen hinter den Er- 
scheinungen. 

Aus dem Leiden und der kranken Sehnsucht ist 
der Glaube an das Jenseits geboren. Aus dem Un- 

Steiner, Friedrich Nietzsche. 2 



18 L Der Charakter. 



▼ermögen, die wirkliche Welt zu dorehschauen^ sind 
alle Annahmen von „Dingen an sieh* erwachsen. 

Alle, welche Grund haben^ das wirkliche Leben 
zu Temeinen , sagen J a zu einen erdichteten. 
Nietzsche will ein Jasager gegenüber der Wirklich- 
keit sein. Diese Welt will er durchforschen nach allen 
Richtungen, er will sich einbohren in die Tiefen des 
Daseins; von einem andern Leben will er nichts 
wissen. Ihn kann selbst das Leiden nicht veranlassen^ 
Nein zum Leben zu sagen; denn auch das Leiden ist 
ihm ein Mittel der Erkenntnis. ^ Nicht anders^ als es 
ein Reisender macht der sich vorsetzt^ zu einer he- 
stimmten Stunde au£suwachen^ und sich dann ruhig 
dem Schlafe überiäCst: so ergeben wir Philosophen, 
gesetzt, da(s wir krank werden, uns zeitweilig mit 
Leib und Seele der E^rankheit — wir machen gleich- 
sam vor uns die Augen zu. und wie jener weifs, 
daCs irgend etwas nicht schläft, irgend etwas die 
Stunden abzahlt und ihn aufwecken wird, so wissen 
auch wir, dals der entscheidende Augenblick uns wach 
finden wird, — dafs dann etwas hervorspringt und 
den Geist auf der That ertappt, ich meine auf der 
Schwäche oder Umkehr oder Ergebung oder Ver- 
bärtung oder Verdüsterung, und wie alle die krank- 
haften Zustände des Geistes heifsen, welche in gesunden 
Tagen den Stolz des Geistes wider sich haben. Man 
lernt nach einer derartigen Selbstbefiragung^ Selbst- 
versuchung, mit einem feineren Auge nach allem, 
worüber überhaupt bisher philosophiert worden ist» 
hinsehen , . „(Vorrede zur zweiten Ausgabe der „fröh- 
lichen Wissenschaft**.) — 



I. Der Chsraktor. 



Dieser lebens- und wirküchkeitsfreundliche Sinn 
Nietzsches zeigt sich auch in seinen Anstliauungen 
über die Menschen und ihre gegenseitigen Beziehungen. 
Auf dieBem Gebiete ist Nietzsche vollkommener Indivi- 
dualist Jeder Mensch gilt ihm als eine Welt für sich, 
ein Unikum. Das „wunderlich bunte Mancherlei", das 
zum „Einerlei" vereinigt ist und uns als ein be- 
Btiramter Mensch entgegentritt, kann kein noch so 
seltsamer Zufall ein zweites Mal in gleicher Weise zu* 
flamroenschlitteln." (Schopenhauer als Erzieher 1.) Die 
wenigsten Menschen sind jedoch geneigt, ihre nur 
einmal vorhandenen Eigentümlichkeiten zu entfalten, 
Sie fürchten sich vor der Einsamkeit, in die sie da- 
durch gedrängt werden. Es ist bequemer und gefahr- 
loser, in gleicher Weise wie die Mitmenschen zu leben; 

_iDan findet dann immer Gesellschaft. Wer auf seine 
^gene Art sich einrichtet , wird von anderen nicht 
rerstanden und findet keine Genossen. Für Nietzsche 
|tat die Einsamkeit einen besonderen Reiz. Er liebt 
, die Heimlichkeiten des eigenen Innern aufzusuchen. 
Ißr flieht die Gemeinschaft der Menschen. Seine Ge- 
lankengäDge sind zumeist ßohrrersuche nach Schätzen, 
wie tief in seiner Persönlichkeit verborgen liegen. 
Das Licht, das andere ihm bieten, verschmäht er: die 

"Ijuft, die man da atmet, wo das „Gemeinsame der 
Menschen", die „Regel Mensch" lebt, will er nicht 
mitfttmeu. Er trachtet instinktiv nach seiner „Burg 

Iund Heimlichkeit", wo er von der Menge, den vielen, 
den allermeisten erlöst ist. (Jenseits von Gut und 
Böse § 36.) In seiner „fröhlichen Wissenschaft" klagt 



20 I- Der Charakter. 



er, dafs es ihm schwer ist, seine Mitmenschen zu „ver- 
dauen" ; und in „Jenseits von Gut und Böse" (§ 282) 
verrät er, dafs er zumeist gefährliche Verdauungs- 
störungen davontrug, wenn er sieh an Tische setzte, 
an denen die Kost des „Allgemein-Menschlichen" ge- 
nossen wurde. Die Menschen dürfen Nietzsche nicht 
zu nahe kommen, wenn er sie ertragen soll. 

6. 

Nietzsche erklärt einen Gedanken, ein Urteil in 
derjenigen Form für gültig, zu der die freiwaltenden 
Lebensinstinkte ihre Zustimmung geben. Ansichten, 
für die das Leben sich entscheidet, läfst er sich durch 
keine logischen Zweifel nehmen. Dadurch erhält sein 
Denken einen sichern, freien Zug. Es wird nicht 
beirrt durch Bedenken wie : ob eine Behauptung auch 
„objektiv" wahr ist, ob sie die Grenzen des mensch- 
lichen Erkenntnisvermögens nicht überschreitet u. s. w. 
Wenn Nietzsche den Wert eines Urteiles für das Leben 
erkannt hat, dann fragt er nicht mehr nach einer 
weiteren „objektiven"* Bedeutung und Gültigkeit des- 
selben. Und wegen Grenzen des Erkennens macht 
er sich keine Sorgen. Er ist der Ansicht, dafs ein 
gesundes Denken das schafft, was es schaffen kann, 
und sich nicht mit der nutzlosen Frage abquält: was 
kann ich nicht? 

Wer den Wert eines Urteils nach dem Grade be- 
stimmen will, in dem es das Leben fördert, kann 
diesen Grad natürlich nur durch seine eigenen, per- 
sönlichen Lebenstriebe und Lebensinstinkte festsetzen. 
Er kann nie mehr sagen wollen, als: in Bezug auf 



I. Der Charakter. 21 



meine Lebensinstinkte halte ich dieses bestimmte 
Urteil für ein wertvolles. Und Nietzsche will auch 
nie etwas anderes sagen, wenn er eine Ansicht aus- 
spricht. Gerade dieses sein Verhältnis zu seiner Ge- 
dankenwelt wirkt so wohlthuend auf den freiheitlich 
gesinnten Leser. Es giebt Nietzsches Schriften den 
Charakter anspruchsloser, bescheidener Vornehmheit. 
Wie abstossend und unbescheiden klingt es daneben, 
wenn andere Denker glauben, ihre Person sei das 
Organ , durch das der Welt ewige , unumstöfsliche 
Wahrheiten verkündet werden. Man kann in Nietzsches 
Werken Sätze finden, die ein starkes Selbstbewufst- 
sein ausdrücken, z. B. : „Ich habe der Menschheit das 
tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, meinen Zara- 
thustra: ich gebe ihr über kurzem das unab- 
hängigste." — (Götzendämmerung, Streifzüge eines 
ünzeitgemäfsen § 51.) Was besagt dies aber aus 
seinem Munde? Ich habe es gewagt, ein Buch zu 
schreiben, dessen Inhalt tiefer aus dem Wesen einer 
Persönlichkeit geholt ist, als das sonst bei ähnlichen 
Büchern der Fall ist ; und ich werde ein Buch liefern, 
das unabhängiger von jedem fremden Urteil ist, als 
andere philosophische Schriften ; denn ich werde über 
die wichtigsten Dinge blofs aussprechen, wie sich meine 
persönlichen Instinkte zu ihnen verhalten. Das ist vor- 
nehme Bescheidenheit. Sie geht freilich denen wider 
den Geschmack, deren verlogene Demut sagt: ich bin 
nichts, mein Werk ist alles; ich bringe nichts von 
persönlichem Empfinden in meine Bücher, sondern ich 
spreche blofs aus, was die reine Vernunft mich aus- 
sprechen heifst. Solche Menschen wollen ihre Person 
verleugnen, um behaupten zu können, dafs ihre Aus- 



22 I- Der Charakter. 



Sprüche die eines höheren Geistes sind. Nietzsche 
hält seine Gedanken für Erzeugnisse seiner Person 
und für nicht mehr. 

7. 

Die Fächphilosophen mögen über Nietzsche lächeln 
oder ihre Meinungen über die „Gefahren" seiner 
„Weltanschauung" zum besten geben. Manche dieser 
Geister, die nichts sind als personifizierte Lehrbücher 
der Logik, können natürlich Nietzsches aus den 
mächtigsten , unmittelbarsten Lebensimpulsen ent- 
springendes Schaffen nicht loben. 

Nietzsche mit seinen kühnen Gedanken Sprüngen trifft 
jedenfalls auf tiefere Geheimnisse der menschlichen 
Natur, als mancher logische Denker mit seinem vor- 
sichtigen Kriechen. Was nutzt alle Logik, wenn sie mit 
ihren Begriffsnetzen nur einen wertlosen Inhalt fängt? 
Wenn uns wertvolle Gedanken mitgeteilt werden, dann 
erfreuen wir uns an ihnen, wenn sie auch nicht mit 
logischen Fäden verknüpft sind. Das Heil des Leben* 
hängt nicht allein von der Logik ab, sondern auch 
von der Gedankenerzeugung. Unsere Fachphilosophie 
ist gegenwärtig unfruchtbar genug, und sie könnte die 
Belebung mit Gedanken eines mutigen, kühnen Schrift- 
stellers, wie es Nietzsche ist, sehr wohl brauchen» 
Die Entwickelungskraft dieser Fachphilosophie ist 
gelähmt durch den Einflufs, den das Kant'sche Denken 
auf sie genommen hat. Sie hat durch diesen Einflufs 
alle Ursprünglichkeit, allen Mut verloren. Kant hat 
aus der Schulphilosophie seiner Zeit den Begriff von 
Wahrheiten, die aus der „reinen Vernunft" stammen, 



I. Der Charakter. 23 



übernommen. Er hat zu zeigen versucht, dafs wir 
durch solche Wahrheit nichts wissen können von 
Dingen, die jenseits unserer Erfahrung liegen, von 
„Dingen an sich". Seit einem Jahrhundert ist nun 
unermefslicher Scharfsinn aufgewendet worden, um 
diesen Kant'schen Gedanken nach allen Seiten durch- 
zudenken. Die Erzeugnisse dieses Scharfsinns sind 
allerdings oft dürftig und trivial. Übersetzte man 
die Banalitäten manches philosophischen Buches der 
Gegenwart aus den Schulformeln in eine gesunde 
Sprache, so würde sich ein solcher Inhalt gegenüber 
manchem kurzen Aphorismus Nietzsches armselig genug 
ausnehmen. Dieser konnte im Hinblick auf die Philo- 
sophie der Gegenwart mit einem gewissen Recht den 
stolzen Satz aussprechen: „Mein Ehrgeiz ist, in zehn 
Sätzen zu sagen, was jeder andere in einem Buche 
sagt, — was jeder andere in einem Buche nicht 
sagt . . ." 

8. 

Wie Nietzsche in seinen eigenen Meinungen nichts 
geben will alä ein Erzeugnis seiner persönlichen In- 
stinkte und Triebe, so sind ihm auch fremde An- 
sichten nichts weiter als Symptome, aus denen er auf 
die in einzelnen Menschen oder ganzen Völkern, Rassen 
u. s. w. vorwaltenden Instinkte schliefst. Er macht 
sich nichts mit Diskussionen oder Widerlegungen 
fremder Meinungen zu schaffen. Aber er sucht die 
Instinkte auf, die sich in diesen Meinungen aussprechen. 
Er sucht die Charaktere der Persönlichkeiten oder 
Völker aus ihren Ansichten zu erkennen. Ob eine 



24 1- Der Charakter. 



Ansicht auf das Vorwalten der Instinkte für Gesund- 
heit, Tapferkeit, Vornehmheit, Lebensfreude hinweist, 
oder ob sie aus ungesunden, sklavischen, müden, 
lebensfeindlichen Instinkten entspringt, das interessiert 
ihn. Wahrheiten an sich sind ihm gleichgültig; er 
kümmert sich darum, wie die Menschen ihre Wahr- 
heiten ihren Instinkten gemäfs ausbilden, und wie 
sie damit ihre Lebensziele fördern. Die natürlichen 
Ursachen der menschlichen Ansichten will er auf- 
suchen. 

Nach dem Sinne jener Idealisten, die der Wahr- 
heit einen selbständigen Wert zuerkennen , die ihr 
einen „reinen, höhern Ursprung** als den aus den 
Instinkten geben wollen, ist Nietzsches Bestreben 
allerdings nicht. Er erklärt die menschlichen An- 
sichten als das Ergebnis natürlicher Kräfte, wie der 
Naturforscher die Einrichtung des Auges aus dem 
Zusammenwirken natürlicher Ursachen erklärt. Eine 
Erklärung der geistigen Entwickelung der Mensch- 
heit aus besonderen sittlichen Zwecken, Idealen, aus 
einer sittlichen Weltordnung erkennt er ebenso- 
wenig an, wie der Naturforscher der Gegenwart die 
Erklärung anerkennt, dafs die Natur das Auge des- 
wegen in einer bestimmten Weise gebaut hat, weil sie 
den Zweck hatte, dem Organismus ein Organ zum 
Sehen anzuerschaflfen. In jedem Ideal sieht Nietzsche 
nur den Ausdruck für einen Instinkt, der sich auf 
eine bestimmte Art seine Befriedigung sucht, wie der 
moderne Naturforscher in der zweckmäfsigen Ein- 
richtung eines Organes das Ergebnis organischer 
Bildungsgesetze sieht. Wenn es gegenwärtig noch 
Naturforscher und Philosophen giebt, die jedes Schaffen 



I. Der Charakter. *• 25 



der Natur nach Zwecken ablehnen, aber vor dem 
sittlichen Idealismus Halt machen und in der Ge- 
schichte die Verwirklichung eines göttlichen Willens, 
einer idealen Ordnung der Dinge sehen, so ist dies 
eine Instinkthalbheit. Solchen Personen fehlt für die 
Beurteilung geistiger Vorgänge der richtige Blick, 
während sie ihn in der Beobachtung von Natur- 
vorgängen zeigen. Wenn ein Mensch glaubt, er 
strebe ein Ideal an , das nicht aus der Wirk- 
lichkeit stammt , so glaubt er dies nur , weil er 
den Instinkt nicht kennt , aus dem dieses Ideal 
entsteht. 

Nietzsche ist Anti-Idealist in dem Sinne, wie der 
moderne Naturforscher Gegner der Annahme von 
Zwecken ist, die die Natur verwirklichen soll. Er 
spricht ebensowenig von sittlichen Zwecken, wie der 
Naturforscher von Naturzwecken spricht. Nietzsche 
hält es nicht für weiser, zu sagen : der Mensch soll ein 
sittliches Ideal verwirklichen, wie zu erklären: der 
Stier hat Homer, damit er stofsen könne. Er be- 
trachtet den einen wie den andern Ausspruch als 
Produkt einer Welterklärung, welche von „göttlicher 
Vorsehung", „weiser Allmacht", statt von natürlichen 
Wirkungen, spricht. 

Diese Welterklärung ist ein Hemmschuh für alles 
gesunde Denken ; sie schafft einen erdichteten, idealen 
Nebel, der das natürliche, auf die Beobachtung der 
Wirklichkeit gerichtete Sehvermögen hindert, die Welt- 
vorgänge zu durchschauen; sie stumpft endlich völlig 
allen Wirklichkeitssinn ab. 



26 ^ I- Der Charakter. 



9. 

Wenn Nietzsche sich in einen geistigen Kampf 
einläfst, so will er nicht fremde Meinungen als solche 
widerlegen, sondern er thut es, weil diese Meinungen 
auf schädliche, naturwidrige Instinkte hinweisen, die 
er bekämpfen will. Er hat dabei eine ähnliche Ab- 
sicht, wie sie jemand hat, der eine schädliche Natur- 
wirkung bekämpft oder ein gefährliches Naturwesen 
vertilgt. Er baut nicht auf die „überzeugende" Kraft 
der Wahrheit, sondern darauf, dafs er den Gegner 
besiegen wird, wenn dieser die ungesunden, schäd- 
lichen Instinkte, er aber die gesunden, lebenfördern- 
den hat. Er sucht nach keiner weiteren Recht- 
fertigung eines solchen Kampfes, wenn seine Instinkte 
die-des Gegners als schädlich empfinden. Er glaubt 
nicht als Viertreter irgend einer Idee kämpfen zu 
müssen, sondern er kämpft, weil ihn seine Instinkte 
dazu treiben. Zwar ist das bei keinem geistigen 
Kampfe anders, aber gewöhnlich sind sich die 
Kämpfer der wirklichen Triebfedern ebensowenig be- 
wufst, wie die Philosophen sich ihres „Willens zur 
Macht" oder die Anhänger der sittlichen Weltordnung 
der natürlichen Ursachen ihrer sittlichen Ideale. Sie 
glauben, dafs lediglich Meinung gegen Meinung kämpft, 
und verhüllen ihre wirklichen Motive durch BegrifFs- 
mäntel. Sie nennen auch die Instinkte des Gegners 
nicht, die ihnen unsympathisch sind, ja diese kommen 
ihnen vielleicht gar nicht zum Bewufstsein. Kurz, 
die Kräfte, die eigentlich feindlich gegen einander 
gerichtet sind, treten gar nicht offen hervor. Nietzsche 
nennt rücksichtslos die Instinkte des Gegners, die 



I. Der Charakter. 27 



ihm zuwider sind, und er nennt auch die Instinkte, 
die er ihnen entgegensetzt. Wer dies Cynismus 
nennen will, der mag es thun. Er soll aber nur 
nicht übersehen, dafs es in aller menschlichen Thätig- 
keit niemals etwas anderes als solchen Cynismus 
gegeben hat, und dafs alle idealistischen Wahngewebe 
von diesem Cynismus gewebt sind. 



i* 



IL 

Der Ubermenscli. 



10. 



^^M Alles Streben des Men sehen besteht, wie das 
^Mnnes jeden Lebewesens, darin, von der Natur ein- 
gepflanzte Triebe und Instinkte in der besten Weise 
zu befriedigen. Wenn die Menschen nach Tugend, 
Gerechtigkeit, Erkenntnis und Kunst streben, so ge- 
schieht dies deshalb, weil Tugend, Gerechtigkeit n, s. w. 
Mittel sind, durch die die menschlichen Instinkte sich 
so entwickeln können, wie es deren Natur entsprechend 
ist. Die Instinkte würden ohne diese Mittel ver- 
kllmmern. Es ist nun eine Eigentümlichkeit des 
Menschen, dafs er diesen Zusammenhang seiner Lebens- 
bedingungen mit seinen natürlichen Trieben ver- 
gifst und jene Mittel zu einem naturgeraäfsen, 
machtvollen Leben als etwas ansieht, das an sich 
einen unbedingten Wert hat. Der Mensch sagt dann: 
Tugend, Gerechtigkeit. Erkenntnis u. s. w. müssen 
um ihrer selbst willen erstrebt werden, Sie Laben 
nicht dadurch einen Wert, dafs sie dem Leben dienen, 
sondern vielmehr das Leben erhalte erst einen Wert 
_ dadurch, dafs es nach jenen idealen Gütern strebt. 
ler Mensch sei nicht dazu da, nach Marsgabe seiner 
istinkte zu leben, wie das Tier; sondern er solle 




32 II' I^Gr Übermensch. 



seine Instinkte dadurch adeln, dafs er sie in den 
Dienst höherer Zwecke stelle. Auf diese Weise kommt 
der Mensch dazu, das, was er selbst erst zur Be- 
friedigung seiner Triebe geschaffen hat, als Ideale an- 
zubeten, die seinem Leben erst die rechte Weihe 
geben. Er fordert Unterwerfung unter die Ideale, 
die er höher schätzt, als sich selbst. Er löst sich los 
von dem Mutterboden der Wirklichkeit und will 
seinem Dasein einen höheren Sinn und Zweck geben. 
Er erfindet einen unnatürlichen Ursprung für seine 
Ideale. Er nennt sie den „Willen Gottes" , die 
„ewigen sittlichen Gebote". Er will die „Wahrheit 
um der Wahrheit willen" , „die Tugend um der 
Tugend" willen anstreben. Er betrachtet sich als 
einen guten Menschen erst dann, wenn es ihm an- 
geblich gelungen ist, seine Selbstsucht, d. h. seine 
natürlichen Instinkte zu bändige^ und selbstlos 
einem idealen Ziele zu folgen. Einem solchen 
Idealisten gilt der Mensch als unedel und „böse", 
der es bis zu solcher Selbstüberwindung nicht ge- 
bracht hat. 

Nun stammen ursprünglich alle Ideale aus natür- 
lichen Instinkten. Auch was der Christ als Tugend 
ansieht, die ihm Gott geoffenbart hat, ist ursprünglich 
von Menschen erfunden, um irgend welche Instinkte 
zu befriedigen. Der natürliche Ursprung ist vergessen 
und der göttliche hinzugedichtet worden. Ahnlich 
verhält es sich mit den Tugenden, die die Philosophen 
und Moralprediger aufstellen. 

Wenn die Menschen blofs gesunde Instinkte 
hätten und diesen gemäfs ihre Ideale bestimmten, so 
würde der theoretische Irrtum über den Ursprung 



I. 



Der Charakter. 



Steiner, Friedrich Nietzsche. 



1. 

Fried richNietzsche charakterisiert sich selbst 
als einsamen Grübler und Rätselfreund, als u n z e i t - 
gemäfse Persönlichkeit. Wer auf solchen eigenen 
Wegen geht, wie er, „begegnet niemandem; das 
bringen die eigenen Wege mit sich. Niemand kommt, 
ihm dabei zu helfen; mit allem, was ihm von Gefahr, 
Zufall, Bosheit und schlechtem Wetter zustöfst, mufs 
er allein fertig werden" , sagt er in der Vorrede zur 
zweiten Ausgabe seiner „Morgenröte". Aber reizvoll 
ist es, ihm in seine Einsamkeit zu folgen. Die Worte, 
die er über sein Verhältnis zu Schopenhauer ausge- 
sprochen hat, möchte ich über das meinige zu Nietzsche 
sagen : „Ich gehöre zu den Lesern Nietzsches, welche, 
nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen, mit Be- 
stimmtheit wissen, dafs sie alle Seiten lesen und auf 
jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt 

hat. Mein Vertrauen zu ihm war sofort da 

Ich verstand ihn, als ob er für mich geschrieben hätte, 
um mich verständlich, aber unbescheiden und thöricht 
auszudrücken." Man kann so sprechen und weit da- 
von entfernt sein, sich als „Gläubigen" der Nietzsche- 

schen Weltanschauung zu bekennen. Weiter aller- 

1* 



I. Der Charakter. 



dings nicht, als Nietzsche davon entfernt war, sich 
solche „Gläubige" zu wünschen. Legt er doch seinem 
„Zarathustra" die Worte in den Mund: 

„Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was 
liegt an Zarathustra ! Ihr seid meine Gläubigen : aber 
was liegt an allen Gläubigen! 

Ihr hattet euch noch nicht gesucht : da fandet ihr 
mich. So thun alle Gläubigen ; darum ist es so wenig 
mit allem Glauben. 

Nun heifse ich euch, mich verlieren und euch 
finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt, 
will ich euch wiederkehren." ' 

Nietzsche ist kein Messias und Religionsstifter; 
er kann deshalb sich wohl Freunde seiner Meinungen 
wünschen; Bekenner seiner Lehren aber, die ihr 
eigenes Selbst aufgeben, um das seinige zu finden, 
kann er nicht wollen. 

In Nietzsches Persönlichkeit finden sich Instinkte, 
denen ganze Vorstellungskreise seiner Zeitgenossen 
zuwider sind. Von den wichtigsten Kulturideen der- 
jenigen, in deren Mitte er sich entwickelt hat, wendet 
er sich ab mit einem instinktiven Widerwillen; und 
2war nicht so, wie man eine Behauptung ablehnt, in 
der man einen logischen Widerspruch entdeckt hat, 
sondern wie man sich von einer Farbe abwendet, die 
dem Auge Schmerz verursacht. Der Widerwille geht 
von dem unmittelbaren Gefühl aus; die bewufste 
Überlegung kommt zunächst gar nicht in Betracht. 
Was andere Menschen empfinden, wenn ihnen die 
Gedanken: Schuld, Gewissensbifs, Sünde, jenseitiges 
Leben, Ideal, Seligkeit, Vaterland durch den Kopf 
gehen, wirktauf Nietzsche unangenehm. Die instinktive 



I. Der Charakter. 



Art der Abneigung gegen die genannten Vorstellungen 
unterscheidet Nietzsche auch von den sogenannten 
„Freigeistern" der Gegenwart. Diese kennen alle Ver- 
standeseinwände gegen die „alten Wahnvorstellungen" ; 
aber wie selten findet sich einer, der von sich sagen 
kann: seine Instinkte hängen nicht mehr an ihnen! 
Gerade die Instinkte sind es, die den Freigeistern der 
Gegenwart böse Streiche spielen. Das Denken nimmt 
einen von den überlieferten Ideen unabhängigen 
Charakter an, aber die Instinkte können sich diesem 
veränderten Charakter des Verstandes nicht anpassen. 
Diese „freien Geister" setzen irgend einen Begriff der 
modernen Wissenschaft an die Stelle einer älteren 
Vorstellung; aber sie sprechen so von ihm, dafs man 
erkennt: der Verstand geht einen andern Weg als 
die Instinkte. Der Verstand sucht in dem Stoffe, 
in der Kraft, in der Naturgesetzlichkeit den 
Urgrund der Erscheinungen; die Instinkte aber ver- 
leiten dazu, diesen Wesen gegenüber dasselbe zu em- 
pfinden, was andere ihrem persönlichen Gotte gegen- 
über empfinden. Geister dieser Art wehren sich gegen 
den Vorwurf der Gottesleugnung ; aber sie thun es 
nicht deshalb, weil ihre Weltauffassung sie auf etwas 
führt, was mit irgend einer Gottes Vorstellung überein- 
stimmt, sondern weil sie von ihren Vorfahren die 
Eigenschaft ererbt haben, bei dem Worte „Gottes- 
leugner" ein instinktives Gruseln zu empfinden. 
Grofse Naturforscher betonen, dafs sie die Vor- 
stellungen: Gott, Unsterblichkeit nicht verbannen, 
sondern nur im Sinne der modernen Wissenschaft 
umgestalten wollen. Ihre Instinkte sind eben hinter 
ihrem Verstände zurückgeblieben. 



I. Der Charakter. 



Eine grofse Zahl dieser „freien Geister" vertritt 
die Ansicht, dafs der Wille des Menschen unfrei ist. 
Sie sagen: der Mensch mufs in einem bestimmten 
Falle so handeln, wie es sein Charakter und die auf 
ihn einwirkenden Verhältnisse bedingen. Man halte 
aber Umschau bei diesen Gegnern der Ansicht vom 
„freien Willen", und man wird finden, dafs sich die 
Instinkte dieser „Freigeister" von dem Vollbringer 
einer „bösen" That geradeso mit Abscheu abwenden, 
wie es die Instinkte der anderen thuh , die der 
Meinung sind: der „freie Wille" könne sich nach 
Belieben dem Guten oder dem Bösen zuwenden. 

Der Widerspruch zwischen Verstand und In- 
stinkt ist das Merkmal unserer „modernen Geister". 
Auch in den freiesten Denkern der Gegenwart leben 
noch die von der christlichen Orthodoxie gepflanzten 
Instinkte. Genau die entgegengesetzten sind in 
Nietzsches Natur wirksam. Er braucht nicht erst 
darüber nachzudenken, ob es Gründe gegen die An- 
nahme eines persönlichen Weltenlenkers giebt. Sein 
Instinkt ist zu stolz, um sich vor einem solchen zu 
beugen; deshalb lehnt er eine derartige Vorstellung 
ab. Er spricht mit seinem Zarathustra: „Aber dafs 
ich euch ganz mein Herz offenbare, ihr Freunde: 
wenn es Götter gäbe, wie hielte ich's aus, kein Gott 
zu sein! Also giebt es keine Götter." Sich selbst 
oder einen andern wegen einer begangenen Handlung 
„schuldig" zu sprechen, dazu drängt ihn nichts in 
seinem Innern. Um ein solches „schuldig" unstatthaft 
zu finden, dazu braucht er keine Theorie vom „freien" 
oder „unfreien" Willen. 

Auch die patriotischen Empfindungen seiner 



I. Der Charakter. 



deutschen Volksgenossen sind Nietzsches Instinkten 
zuwider. Er kann sein Empfinden und Denken nicht 
abhängig machen von den Gedankenkreisen des Volkes, 
innerhalb dessen er geboren und erzogen ist ; auch nicht 
von der Zeit, in der er lebt. „Es ist so kleinstädtisch 
— sagt er in seiner Schrift „Schopenhauer als Er- 
zieher" — , sich zu den Ansichten verpflichten, die 
ein paar hundert Meilen weiter schon nicht mehr ver- 
pflichten. Orient und Occident sind Kreidestriche, die 
uns jemand vor unsere Augen hinmalt, um unsere 
Furchtsamkeit zu narren. Ich will den Versuch 
machen, zur Freiheit zu kommen, sagt sich die junge 
Seele ; und da sollte es sie hindern, dafs zufällig zwei 
Nationen sich hassen und bekriegen, oder dafs ein 
Meer zwischen zwei Weltteilen liegt, oder dafs rings 
um uns eine Religion gelehrt wird, welche vor ein 
paar tausend Jahren nicht bestand." Die Empfindungen 
der Deutschen während des Krieges im Jahre 1870 
fanden in seiner Seele einen so geringen Widerhall, 
dafs er, „während die Donner der Schlacht von Wörth 
über Europa weggingen", in einem Winkel der Alpen 
safs, „sehr vergrübelt und verrätselt, folglich sehr be- 
kümmert und unbekümmert zugleich", und seine Ge- 
danken über die Griechen niederschrieb. Und als er 
einige Wochen darauf sich selbst „unter den Mauern 
von Metz" befand, war er „noch immer nicht losge- 
kommen von den Fragezeichen, die er zum Leben 
und der Kunst der Griechen gesetzt hatte". (Vergl. 
„Versuch einer Selbstkritik" in der zweiten Auflage 
seiner „Geburt der Tragödie".) Als der Krieg zu 
Ende war, stimmte er so wenig in die Begeisterung 
seiner deutschen Zeitgenossen über den errungenen 



8 I. Der Charakter. 



Sieg ein, dafs er schon im Jahre 1872 in seiner 
Schrift über David Straufs von den „schlimmen und 
gefährlichen Folgen** des siegreich beendeten Kampfes 
sprach. Er stellte es sogar als einen Wahn hin, dafs 
auch die deutsche Kultur in diesem Kampfe gesiegt 
habe, und er nannte diesen Wahn geftlhrlich, weil, 
wenn er innerhalb des deutschen Volkes herrschend 
wird, die Gefahr vorhanden ist, den Sieg in eine 
völlige Niederlage zu verwandeln; in die Niederlage, 
ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des 
„Deutschen Reiches". Das ist Nietzsches Gesinnung 
in einer Zeit, in der ganz Europa voll ist von natio- 
naler Begeisterung. Es ist die Gesinnung einer un- 
zeitgemäfsen Persönlichkeit, eines Kämpfers 
gegen seine Zeit. Aufser dem Angeführten liefse 
sich noch vieles nennen, was in Nietzsches Em- 
pfindungs- und Vorstellungsleben anders ist, als in 
dem seiner Zeitgenossen. 

2, 

Nietzsche ist kein „Denker" im gewöhnlichen 
Sinne des Wortes. Für die fragwürdigen und tief- 
dringenden Fragen, die er der Welt und dem Leben 
gegenüber zu stellen hat, reicht das blofse Denken 
nicht aus. Für diese Fragen müssen alle Kräfte der 
menschlichen Natur entfesselt werden; die denkende 
Betrachtung allein ist ihnen nicht gewachsen. Zu 
blofs erdachten Gründen für eine Meinung hat 
Nietzsche kein Vertrauen. „Es giebt ein Mifstrauen 
in mir gegen Dialektik, selbst gegen Gründe," schreibt 
er am 2. Dezember 1887 an Georg Brandes. (Vergl. 



I. Der Charakter. 



dessen „Menschen und Werke", S. 212). Wer ihn 
um die Gründe seiner Ansichten fragt, für den hat er 
„Zarathustras" Antwort bereit: „Du fragst warum? 
Ich gehöre nicht zu denen, welche man nach ihrem 
Warum fragen darf." Nicht ob eine Ansicht logisch 
bewiesen werden kann, ist für ihn mafsgebend, 
sondern ob sie auf alle Kräfte der menschlichen Per- 
sönßchkeit so wirkt, dafs sie für das Leben Wert 
hat. Er läfst einen Gedanken nur gelten, wenn er 
ihn geeignet findet, zur Entwicklung des Lebens bei- 
zutragen. Den Menschen so gesund als möglich, so 
machtvoll als möglich, so schöpferisch als möglich zu 
sehen, ist sein Wunsch. Wahrheit, Schönheit, alle 
Ideale haben nur Wert und gehen den Menschen nur 
etwas an, insofern sie leben fördernd sind. 

Die Frage nach dem Werte der Wahrheit 
tritt in mehreren Schriften Nietzsches auf. In der 
verwegensten Form wird sie in seinem Buche: „Jen- 
seits von Gut und Böse" gestellt. „Der Wille zur 
Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse ver- 
führen wird, jene berühmte Wahrhaftigkeit, von der 
alle Philosophen bisher mit Ehrerbietung geredet 
haben: was für Fragen hat dieser Wille zur Wahr- 
heit uns schon vorgelegt! Welche wunderlichen, 
schlimmen, fragwürdigen Fragen! Das ist bereits 
eine lange Geschichte — und doch scheint es, dafs 
sie kaum eben angefangen hat." Was Wunder, wenn 
wir endlich auch mifstrauisch werden, die Geduld 
verlieren, uns ungeduldig umdrehn? Dafs wir von 
dieser Sphinx auch unsererseits das Fragen lernen? 
Wer ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt? 
Was in uns will eigentlich ,zur Wahrheit*? In der 



10 I. Der Charakter. 



That, wir machten lange Halt vor der Frage nach 
der Ursache dieses Willens — bis wir, zuletzt, vor 
einer noch gründlicheren Frage ganz und gar stehen 
blieben. Wir fragten nach dem Werte dieses 
Willens. Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warum 
nicht lieber Unwahrheit? 

Das ist ein Gedanke von kaum zu überbietender 
Kühnheit. Stellt man daneben , was ein anderer 
kühner „Grübler und Rätselfreund", Johann Gott- 
lieb Fichte, von dem Streben nach Wahrheit sagt, 
so sieht man erst, wie tief aus dem Wesen der mensch- 
lichen Natur Nietzsche seine Vorstellungen heraufholt. 
„Ich bin dazu berufen" — sagt Fichte — „der Wahr- 
heit Zeugnis zu geben; an meinem Leben und an 
meinem Schicksal liegt nichts; an den Wirkungen 
meines Lebens liegt unendlich viel. Ich bin ein 
Priester der Wahrheit; ich bin in ihrem Solde; ich 
habe mich verbindlich gemacht, alles für sie zu thun 
und zu wagen und zu leiden/' (Fichte, Vorlesungen 
„Über die Bestimmung des Gelehrten" , vierte Vor- 
lesung.) Diese Worte sprechen das Verhältnis aus, 
in das sich die edelsten Geister der abendländischen 
neueren Kultur zur Wahrheit setzen. Nietzsches an- 
geführtem Ausspruch gegenüber erscheinen sie ober- 
flächlich. Man kann gegen sie einwenden: Ist es 
denn nicht möglich, dafs die Unwahrheit wertvollere 
Wirkungen für das Leben hat, als die Wahrheit? 
Ist es ausgeschlossen, dafs die Wahrheit dem Leben 
schadet? Hat sich Fichte diese Fragen gestellt? 
Haben es andere gethan, die „der Wahrheit Zeugnis" 
gegeben haben? 

Nietzsche aber stellt diese Fragen. Und er glaubt 



I. Der Charakter. H 



über sie erst dann ins Reine zu kommen, wenn er das 
Streben nach Wahrheit nicht als blofse Verstandes- 
sache behandelt, sondern nach den Instinkten sucht, 
die dieses Streben erzeugen. Denn es könnte ja 
wohl sein, dafs sich diese Instinkte der Wahrheit nur 
als Mittel bedienten, um etwas zu erreichen, was höher 
steht, als die Wahrheit. Nietzche findet, nachdem er 
„lange genug den Philosophen zwischen die Zeilen 
und auf die Finger gesehn" hat: „Das meiste Denken 
eines Philosophen ist durch seine Instinkte heimlich 
geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen." Die 
Philosophen glauben, die letzte Triebfeder ihres Thuns 
sei das Streben nach Wahrheit. Sie glauben dies, 
weil sie nicht auf den Grund der menschlichen Natur 
zu sehen vermögen. In Wirklichkeit wird das Streben 
nach Wahrheit gelenkt von dem Willen zur Macht. 
Mit Hilfe der Wahrheit soll die Macht und Lebens- 
fülle der Persönlichkeit erhöht werden. Das bewufste 
Denken des Philosophen ist der Meinung: die Er- 
kenntnis der Wahrheit sei ein letztes Ziel; der unbe- 
wufste Instinkt, der das Denken treibt, strebt nach 
Förderung des Lebens. Für diesen Instinkt ist „die 
Falschheit eines Urteils noch kein Einwand gegen ein 
Urteil" ; für ihn kommt allein die Frage in Betracht : 
„wie weit ist es lebenfördernd, lebenerhaltend, art- 
erhaltend, vielleicht gar artzüchtend" (Jenseits von 
Gut und Böse § 4). 

„, Wille zur Wahrheit* heilst ihr 's, ihr Weisesten, 
was euch treibt und brünstig macht? 

Wille zur Denkbarkeit alles Seienden : also heifse 
ich euren Willen! 

Alles Seiende wollt ihr erst denkbar machen: denn 



12 I. Der Charakter. 



ihr zweifelt mit gutem Mifstrauen, ob es schon denk- 
bar ist. 

Aber es soll sich euch fügen und biegen! So 
wilPs euer Wille. Glatt soll es werden und dem Geiste 
unterthan, als sein Spiegel und Widerbild. 

Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein 

Wille zur Macht " (Zarathustra, 2. Teil, Von 

der Selbst-Überwindung.) 

Die Wahrheit soll die Welt dem Geiste unterthan 
machen und dadurch dem • Leben dienen. Nur als 
Lebensbedingung hat sie einen Wert. — Kann man 
nicht aber noch weiter gehen und fragen : was ist das 
Leben selbst wert? Nietzsche hält eine solche Frage 
für unmöglich. Dafs alles Lebende so machtvoll, so 
inhaltreich leben will, als irgend möglich ist, nimmt 
er als eine Thatsache hin, über die er nicht weiter 
grübelt. Die Lebensinstinkte fragen nicht nach dem 
Werte des Lebens. Sie fragen nur: welche Mittel 
giebt es, um die Macht ihres Trägers zu erhöhen. 
„Urteile, Werturteile über das Leben, für oder wider, 
können zuletzt niemals wahr sein : sie haben nur Wert 
als Symptome, sie kommen nur als Symptome in Be- 
tracht, — an sich sind solche Urteile Dummheiten. 
Man mufs durchaus seine Finger darnach ausstrecken 
und den Versuch machen, die erstaunliche Finesse zu 
fassen, dafs der Wert des Lebens nicht abge- 
schätzt werden kann. Von einem Lebenden nicht, 
weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist, und 
nicht Richter; von einem Toten nicht, aus einem 
andern Grunde, — Von Seiten eines Philosophen im 
Wert des Lebens ein Problem sehn, bleibt dergestalt 
sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen an 



I. Der Charakter. 13 



seiner Weisheit, eine Unweisheit." — (Götzen- 
dämmerung. Das Problem des Sokrates.) Die Frage 
nach dem Werte des Lebens existiert nur für eine 
mangelhaft ausgebildete, kranke Persönlichkeit, Wer 
allseitig entwickelt ist, lebt, ohne zu fragen , wie viel 
sein Leben wert ist. 

Weil Nietzsche die beschriebenen Ansichten hat, 
deshalb legt er auf logische Beweisgründe für ein Ur- 
teil wenig Gewicht. Nicht darauf kommt es ihm an, 
ob sich das Urteil logisch beweisen läfst, sondern wie 
gut sich unter seinem Einflüsse leben läfst. Nicht allein 
der Verstand, sondern die ganze Persönlichkeit des 
Menschen soll befriedigt werden. Die besten Gedanken 
sind diejenigen, welche alle Kräfte der menschlichen 
Natur in eine ihnen angemessene Bewegung bringen. 

Nur Gedanken dieser Art haben für Nietzsche 
Interesse. Er ist kein philosophischer Kopf, sondern 
ein „Honigsammler des Geistes" , der die „Bienen- 
körbe" der Erkenntnis aufsucht und heimzubringen 
sucht, was dem Leben frommt. 

3. 

In Nietzsches Persönlichkeit sind diejenigen In- 
stinkte vorherrschend, die den Menschen zu einem 
gebietenden, herrischen Wesen machen. Ihm gefällt 
alles, was Macht bekundet; ihm mifsföUt alles, was 
Schwäche verrät. Er fühlt sich nur so lange glück- 
lich, als er sich in Lebensbedingungen befindet, die 
seine Kraft erhöhen. Er liebt Hemmnisse, Widerstände 
für seine Thätigkeit, weil er sich bei ihrer Überwin- 
dung seiner Macht bewufst wird. Er sucht die be- 



14 I- Der Charakter. 



schwerlichsten Wege auf, die der Mensch gehen kann. 

Ein Grundzug seines Charakters ist in dem Spruche 

ausgedrückt, den er der zweiten Ausgabe seiner 

„fröhlichen Wissenschaft" auf das Titelblatt gesetzt hat: 

„Ich wohne in meinem eignen Haus, 
Hab' niemandem nie nichts nachgemacht 
Und — lachte noch jeden Meister aus, 
Der nicht sich selber ausgelacht." 

Jede Art von Unterordnung unter eine fremde 
Macht empfindet Nietzsche als Schwäche. Und über 
das, was eine „fremde Macht" ist, denkt er anders 
als mancher, der sich als „unabhängigen, freien Geist" 
bezeichnet. Nietzsche empfindet es als Schwäche, wenn 
der Mensch sich in seinem Denken und Handeln 
sogenannten „ewigen, ehernen" Gesetzen der Vernunft 
unterwirft. Was die allseitig entwickelte Persönlich- 
keit thut, das läfst sie sich von keiner Moral Wissen- 
schaft vorschreiben, sondern allein von den Antrieben 
des eigenen Selbst. Der Mensch ist in dem Augen- 
blicke schon schwach, in dem er nach Gesetzen und 
Regeln sucht, nach denen er denken und handeln 
soll. Der Starke bestimmt die Art seines Denkens 
und Handelns aus seinem eigenen Wesen heraus. 

Diese Ansicht spricht Nietzsche am schroffsten in 
Sätzen aus, um derentwillen ihn kleinlich denkende 
Menschen geradezu als einen gefährlichen Geist be- 
zeichnet haben: „Als die christlichen Kreuzfahrer im 
Orient auf jenen unbesiegbaren Assassinenorden stiefsen, 
jenen Freigeisterorden par excellence, dessen unterste 
Grade in einem Gehorsame lebten, wie einen gleichen 
kein Mönchsorden erreicht hat, da bekamen sie auf 
irgend welchem Wege auch einen Wink über jenes 



I. Der Charakter. 15 



Symbol und Kerbholz wort, das nur den obersten 
Graden, als deren Sekretum, vorbehalten war: „Nichts 
ist wahr, alles ist erlaubt!" .... Wohlan, das 
war Freiheit des Geistes, damit war der Wahrheit 
selbst der Glaube gekündigt" . . . (Genealogie der 
Moral § 19). Dafs diese Sätze die Empfindungen 
einer vornehmen, einer Herrennatur zum Ausdruck 
bringen, die sich die Erlaubnis, frei, nach ihren eige- 
nen Gesetzen zu leben, durch keine Rücksicht auf 
ewige Wahrheiten und Vorschriften der Moral ver- 
kümmern lassen will, fühlen diejenigen Menschen nicht, 
die, ihrer Art nach, zur Unterwürfigkeit geeignet sind. 
Eine Persönlichkeit, wie die Nietzsches ist, verträgt 
auch jene Tyrannen nicht, die in der Form abstrakter 
Sittengebote auftreten. Ich bestimme, wie ich denken, 
wie ich handeln will, sagt eine solche Natur. 

Es giebt Menschen, die ihre Berechtigung, sich 
„Freidenker" zu nennen, davon herleiten, dafs sie sich 
in ihrem Denken und Handeln nicht solchen Gesetzen 
unterwerfen, die von anderen Menschen herrühren, 
sondern nur den „ewigen Gesetzen der Vernunft", den 
„unumstöfslichen Pflichtbegriffen" oder dem „Willen 
Gottes". Nietzsche sieht solche Menschen nicht als 
wahrhaft starke Persönlichkeiten an. Denn auch 
sie denken und handeln nicht nach ihrer eigenen 
Natur, sondern nach den Befehlen einer höheren 
Autorität. Ob der Sklave der Willkür seines Herrn, 
der Religiöse den geoflfenbarten Wahrheiten eines 
Gottes oder der Philosoph den Aussprüchen der Ver- 
nunft folgt, das ändert nichts an dem Umstände, dafs 
sie alle Gehorchende sind. Was befiehlt, ist dabei 
gleichgültig; das ausschlaggebende ist, dafs überhaupt 



16 L Der Charakter. 



befohlen wird, dafs der Mensch sich nicht selbst die 
Richtung für sein Thun giebt, sondern der Meinung 
ist, es gebe eine Macht, welche ihm diese Richtung 
vorzeichnet. 

Der starke, wahrhaft freie Mensch will die Wahr- 
heit nicht empfangen — er will sie schaffen; er 
will sich nichts „erlauben" lassen, er will nicht ge- 
horchen. „Die eigentlichen Philosophen sind Be- 
fehlende und Gesetzgeber; sie sagen: so soll 
es sein!" sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? 
des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit 
aller philosophischen Arbeiter, aller Überwältiger der 
Vergangenheit, — sie greifen mit schöpferischer Hand 
nach der Zukunft, und alles, was ist und war, wird 
ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hanmier. 
Dir „Erkennen" ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine 
Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist — Wille 
zur Macht. — Giebt es heute solche Philosophen? 
Gab es schon solche Philosophen? Mufs es nicht 
solche Philosophen geben?" (Jenseits von Gut und 
Böse § 211.) 

4. 

Ein besonderes Zeichen menschlicher Schwäche 
sieht Nietzsche in jeder Art von Glauben an ein 
Jenseits, an eine andere Welt, als die ist, in der der 
Mensch lebt. Man kann, nach seiner Ansicht, dem 
Leben keinen gröfseren Schaden thun, als wenn man 
sein Leben im Diesseits im Hinblick auf ein anderes 
Leben im Jenseits einrichtet. Man kann sich keiner 
gröfseren Verirrung hingeben, als wenn man hinter 
den Erscheinungen dieser Welt Wesenheiten annimmt. 



II. Der ÜbennenBCb. 



dieser Ideale nicht schaden. Die Idealisten hätten zwar 
felsche Ansichten über die Herkunft ihrer Ziele, aber 
diese Ziele selbst wären gesund, und das Leben mlifste 
Leihen. Aber es giebt ungesunde Instinkte, die 
&icht auf Stärkung, Förderung des Lebens, sondern 
Fauf dessen SchwHeliung, Verküniraerung abzielen. Diese 
bemächtigen sich des genannten theoretiachen Irrtums 
und machen ihn zum praktischen Lebenszwecke. Sie 
verleiten den Menschen, zu sagen: ein vollkommener 
Mensch ist nicht derjenige, der sich selbst, seinem 
Leben dienen will, sondern derjenige, der sicli der 
VCTwirklichung eines Ideals hingiebt. Unter dem Ein- 
flufs dieser Instinkte bleibt der Mensch nicht blofs 
dabei stehen, irrtümlich seinen Zielen einen nn- oder 

Iübcrnatürlichen Ursprung anzudichten , sondern er 
■Dacht sich wirklich solche Ideale zurecht oder über- 
nimmt sie von anderen, die nicht den Bedürfnissen 
|ä«8 Lebens dienen. Er «trebt nicht mehr darnach, 
pie in seiner Persönlichkeit liegenden Kräfte ans 
ITageslicht zu ziehen, sondern er lebt nach einem 
BÜner Natur aulgezwungenen Musterbilde, Ob er 
dieses Ziel einer Roügion entnimmt, oder ob er es 
selbst auf Grund gewisser, nicht in seiner Natur 
^^aii^enden Voraussetzungen bestimmt: darauf kommt 
^^^^ sieht an. Der Philosoph, der einen allgemeinen 
^^B&weck der Menschheit im Auge hat und aus diesem 
'seine sittlichen Ideale ableitet, legt der menschlichen 
Natur ebenso Fesseln an, wie der Religio naatifter, der 
den Menschen sagt: dies ist das Ziel, das euch Gott 
gesetzt hat; und dem müfst ihr folgen. Es ist auch 
gleichgültig, ob der Mensch sich vorsetzt, ein Eben- 
bild Gottes zu werden, oder ob er ein Ideal des 




34 U> I^^f Crbermensch. 



^ YoUkommenen Menschen" erfindet und diesem möglichst 
ähnlich werden will. Wirklich ist nur der einzelne 
Mensch und die Triebe und Instinkte dieses einzelnen 
Menschen. Nur wenn er auf die Bedürfiiisse seiner 
eigenen Person sein Augenmerk richtet, kann der 
Mensch erfahren, was seinem Leben frommt. Der 
einzelne Mensch wird nicht „vollkommen", wenn er 
sich verleugnet und einem Vorbilde ähnlich wird, 
sondern wenn er das verwirklicht, was in ihm zur 
Verwirklichung drängt Die menschliche Thätigkeit 
erhält nicht erst einen Sinn, wenn sie einem un- 
persönlichen, äufseren Zwecke dient; sie hat ihren 
Sinn in sich selbst. 

Der Anti-Idealist wird zwar auch in der unge- 
sunden Abkehr des Menschen von seinen ureigenen 
Instinkten noch eine Instinktäufserung erblicken. Er 
weifs, dafs der Mensch selbst das Instinktwidrige nur 
aus Instinkt vollbringen kann. Er wird aber doch 
die Instinktwidrigkeit bekämpfen, wie der Arzt eine 
Krankheit bekämpft, trotzdem er weifs, dafs sie natur- 
gemäfs aus bestimmten Ursachen entstanden ist. Es 
darf also dem Anti-Idealisten nicht der Einwurf ge- 
macht werden: du behauptest, alles, was der Mensch 
erstrebt, also auch alle Ideale, seien naturgemäfs ent- 
standen; dennoch bekämpfst du den Idealismus. 
Oewifs entstehen Ideale ebenso naturgemäfs wie Krank- 
heiten; aber der Gesunde bekämpft den Idealismus, 
wie er die Krankheit bekämpft. Der Idealist aber 
sieht die Ideale als etwas an, das gehegt un4 gepflegt 
werden mufs. 

Der Glaube, dafs der Mensch vollkommen 
erst wird, wenn er „höheren" Zwecken dient, ist, 



n. Der Übermensch. 35 



nach Nietzsches Meinung, etwas, das überwundeji 
werden mufs. Der Mensch mufs sich auf sich selbst 
besinnen und erkennen, dafs er Ideale nur erschaflfen 
hat, um sich zu dienen. Naturgemäfs leben, ist ge- 
sünder, als Idealen nachjagen, die angeblich nicht aus 
der Wirklichkeit stammen. Den Menschen, der nicht 
unpersönlichen Zielen dient, sondern der den Zweck 
und Sinn seines Daseins in sich selbst sucht, der solche 
Tugenden zu den seinigen macht, die seiner Kraft- 
entfaltung, seiner Machtvollkommenheit dienen — diesen 
Menschen stellt Nietzsche höher als den selbstlosen 
Idealisten. 

Dies ist es, was er durch seinen „Zarathustra" 
verkündet Das souveräne Individuum, das weifs, dafs 
es nur aus seiner Natur heraus leben kann, und das 
in einer seinem Wesen entsprechenden Lebensgestaltung 
sein persönliches Ziel sieht, ist für Nietzsche der 
Übermensch, im Gegensatz zu dem Menschen, der 
glaubt : ihm sei das Leben geschenkt, um einem aufser 
ihm selbst liegenden Zwecke zu dienen. 

Den Übermenschen, d.h. den Menschen, der 
naturgemäfs zu leben versteht, lehrt Zarathustra. Er 
lehrt die Menschen, ihre Tugenden als ihre Geschöpfe 
betrachten; er heifst sie diejenigen verachten, die ihre 
Tugenden höher als sich selbst achten. 

Zarathustra ist in die Einsamkeit gegangen, um 
sich frei zu machen von der Demut, in der sich die 
Menschen beugen vor ihren Tugenden. Er geht erst 
wieder unter Menschen, als er die Tugenden ver- 
achten gelernt hat, die das Leben bändigen und nicht 
dem Leben dienen wollen. Er bewegt sich nun leicht 
wie ein Tänzer, denn er folgt nur sich und seinem 

3* 



36 !!• I^^r Übermensch. 



Willen und achtet nicht auf die Linien, die ihm von 
den Tagenden vorgezeichnet werden. Nicht schwer 
mehr lastet der Glaube auf seinem Rücken, dafs es 
unrecht sei, nur sich selbst zu folgen. Zarathustra 
schläft nun nicht mehr, um von Idealen zu träumen; 
er ist ein Wachender, der der Wirklichkeit sich frei 
gegenüberstellt. Ein schmutziger Strom ist ihm der 
Mensch, der sich selbst verloren hat und vor seinen 
eigenen Geschöpfen im Staube liegt. Der Übermensch 
ist ihm ein Meer, das diesen Strom aufnimmt, ohne 
selbst unrein zu werden. Denn der Übermensch hat 
sich selbst gefunden; er erkennt sich als Herrn und 
Schöpfer seiner Tugenden. Zarathustra hat das Grofse 
erlebt, dafs ihm alle Tugend zum Ekel geworden ist, 
die über den Menschen gesetzt wird. 

„Was ist das Gröfste, das ihr erleben könnt? 
Das ist die Stunde der grofsen Verachtung. Die 
Stunde, in der euch euer Glück zum Ekel wird und 
ebenso eure Vernunft und eure Tugend." 

11. 

Die Weisheit Zarathustras ist nicht nach dem 
Sinne der „modernen Gebildeten". Sie möchten alle 
Menschen einander gleich machen. Wenn alle nur 
nach einem Ziele streben, sagen sie, dann ist Zufrieden- 
heit und Glück auf Erden. Der Mensch soll zurück- 
halten, so fordern sie, seine besondem persönlichen 
Wünsche und nur der Allgemeinheit, dem gemeinsamen 
Glücke dienen. Friede und Ruhe wird dann auf der 
Erde herrschen. Wenn jeder die gleichen Bedürfoisse 
hat, dann stört keiner die Kreise des andern. Nicht 



II. Der Übermensch. 37 



sich und seine individuellen Ziele soll der Einzelne 
ira Auge haben, sondern nach der einmal bestimmten 
Schablone sollen alle leben. Verschwinden soll alles 
einzelne Leben, und Glieder der gemeinsamen Welt- 
ordnung sollen alle werden. 

„Kein Hirt und eine Herde! Jeder will das 
Gleiche, jeder ist gleich, wer anders fühlt, geht frei- 
willig ins Irrenhaus. 

„, Ehemals war alle Welt irre^ — sagen die Feinsten 
und blinzeln. 

„Man ist klug und weiss alles, was geschehen ist : 
so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich 
noch, aber man versöhnt sich bald, sonst verdirbt es 
den Magen." 

Zarathustra ist zu lange Einsiedler gewesen, um 
solcher Weisheit zu huldigen. Er hat die eigenartigen 
Töne gehört, die aus dem Innern der Persönlichkeit 
erklingen, wenn der Mensch abseits steht von dem 
Lärm des Marktes, wo einer nur die Worte des andern 
nachspricht. Und er möchte es den Menschen in die 
Ohren rufen : höret auf die Stimmen, die nur in jedem 
Einzelnen von euch erklingen. Denn die nur sind 
naturgemäss , die nur sagen jedem, was er vermag. 
Ein Feind des Lebens, des reichen, vollen Lebens, ist 
derjenige, welcher diese Stimmen ungehört verhallen 
lässt und auf das gemeinsame Geschrei der Menschen 
hört. Zu den Freunden der Gleichheit aller Menschen 
will Zarathustra nicht sprechen. Sie könnten ihn nur 
mifsverstehen. Denn sie würden glauben, dass sein 
Übermensch jenes ideale Musterbild sei, dem alle 
gleich werden sollen. Aber Zarathustra will den 
Menschen keine Vorschriften darüber machen, wie sie 



38 n. Der Übermensch. 



sein sollen ; er will nur jeden Einzelnen auf sich selbst 
verweisen und ihm sagen: überlasse dich dir selbst, 
folge nur dir allein, stelle dich über Tugend, Weis- 
heit und Erkenntnis. Zu solchen, die sich suchen 
wollen, spricht Zarathustra; nicht einer Menge, die 
ein gemeinsames Ziel sucht, sondern solchen Gefährten, 
gelten seine Worte, die gleich ihm einen eigenen Weg 
gehen. Sie allein verstehen ihn, denn sie wissen, dass 
er nicht sagen will: seht, dies ist der Übermensch, 
werdet wie er , sondern : seht , ich habe mich ge- 
sucht; so bin ich, wie ich es euch lehre; geht 
hin und sucht euch ebenso, dann habt ihr den Über- 
menschen. 

„Den Einsiedlern werde ich mein Lied singen 
und den Zweisiedlern; und wer noch Ohren hat für 
Unerhörtes, dem will ich sein Herz schwer machen 
mit meinem Glücke." 

12. 

Zwei Tiere: die Schlange, als das klügste, und 
der Adler, als das stolzeste Tier, begleiten Zarathustra. 
Sie sind die Symbole seiner Instinkte. Klugheit 
schätzt Zarathustra, denn sie lehrt den Menschen die 
verschlungenen Pfade der Wirklichkeit finden ; sie lehrt 
ihn kennen, was er zum Leben braucht. Und auch 
den Stolz liebt Zarathustra, denn der Stolz bringt die 
Selbstachtung des Menschen hervor, durch die dieser 
dazu kommt, sich selbst als den Sinn und Zweck 
seines Daseins zu betrachten. Der Stolze stellt 
seine Weisheit, seine Tugend iricht über sich selbst. 
Der Stolz bewahrt den Menschen davor, sich selbst 
zu vergessen über „höheren, heiligeren" Zielen. 



II. Der Übermensch. 39 



Lieber noch als den Stolz möchte Zarathustra die 
Klugheit verlieren. Denn die Klugheit, die nicht 
von Stolz begleitet ist, sieht sich nicht als Menschen- 
werk an. Wem der Stolz und die Selbstachtung 
fehlt, der glaubt, seine Klugheit sei ihm vom Himmel 
geschenkt. Ein solcher sagt : ein Thor ist der Mensch, 
und er hat nur so viel Weisheit, als ihm der Himmel 
schenken will. 

„Und wenn mich einst meine Klugheit verlässt: 
— ach, sie liebt es, davonzufliegen! — möge mein 
Stolz dann noch mit meiner Thorheit fliegen!" 

13. 

Drei Verwandlungen muss der menschliche Geist 
durchmachen, bis er sich selbst gefunden hat. Dies 
lehrt Zarathustra. Ehrfürchtig ist der Geist zuerst. Er 
nennt Tugend, was auf ihm lastet Er erniedrigt sich, 
um seine Tugend zu erhöhen. Er sagt : alle Weisheit 
ist bei Gott, und Gottes Wegen mufs ich folgen. Gott 
legt mir das Schwerste auf, um meine Kraft zu prüfen, 
ob sie auch stark sei und geduldig ausharre. Nur 
der Geduldige ist stark. Gehorchen will ich, sagt der 
Geist auf dieser Stufe, und ausführen die Gebote des 
Weltengeistes, ohne zu fragen, was der Sinn dieser 
Gebote ist. Der Geist fühlt den Druck, den eine 
höhere Macht auf ihn ausübt. Nicht seine Wege 
geht der Geist, sondern die Wege dessen, dem er 
dient. 

Es kommt die Zeit, wo der Geist inne wird, dafs 
kein Gott zu ihm redet. Dann will er frei sein und 
Herr in seiner eigenen Welt. Er sucht nach einer 



40 II» I^er Übermensch. 



Richtschnur für seine Geschicke. Er fragt nicht mehr 
den Weltengeist, wie er sein Leben einrichten solle. 
Aber nach einem festen Gesetz, nach einem heiligen 
„du sollst" strebt er. Er sucht nach einem Mafsstab, 
um den Wert der Dinge zu messen; er sucht nach 
einem Unterscheidungszeichen von Gut und Böse. Es 
muss eine Regel für mein Leben geben, die nicht 
von mir, von meinem Willen abhängt, so spricht der 
Geist auf dieser Stufe. Dieser Regel will ich mich 
fügen. Frei bin ich, meint der Geist, aber nur frei, 
um einer solchen Regel zu gehorchen. 

Auch diese Stufe überwindet der Geist. Er wird 
wie das Kind, das bei seinem Spielen nicht fragt : wie 
soll ich dies oder jenes machen, sondern das nur 
seinen Willen ausführt, das nur sich selbst folgt. 
„Seinen Willen will nun der Geist, seine Welt 
gewinnt sich der Weltverlorne." 

„Drei Verwandlungen nannte ich euch des Geistes : 
wie der Geist zimi Kamele ward, und zum Löwen 

das Kamel, und der Löwe zuletzt zum Kinde. 

Also sprach Zarathustra." 

14. 

Was wollen die Weisen, die die Tugend über den 
Menschen stellen? fragt Zarathustra. Sie sagen: die 
Ruhe der Seele kann nur haben, wer seine Pflicht 
gethan hat, wer dem heiligen „du sollst" gefolgt ist. 
Tugendhaft soll der Mensch sein, damit er nach ge- 
thaner Pflicht träumen könne von erfüllten Idealen 
und keine Gewissensbisse fühle. Ein Mensch mit 
Gewissensbissen gleicht, sagen die Tugendhaften, 



II. Der Übermensch. 41 



einem SchlafeDden, dem böse Träume die Nachtruhe 
stören. 

„Wenige wissen das, aber man mufs alle Tugenden 
haben, um gut zu schlafen. Werde ich falsch Zeugnis 
reden? Werde ich ehebrechen? 

„Werde ich mich gelüsten lassen meines Nächsten 
Magd? Das alles vertrüge sich schlecht mit gutem 
Schlafe • • . 

„Friede mit Gott und dem Nachbar, so will es 
der gute Schlaf. Und Friede auch noch mit des 
Nachbars Teufel! Sonst geht er bei dir des Nachts um." 

Nicht was sein Trieb ihn heifst, thut der Tugend- 
hafte, sondern was Seelenruhe bewirkt. Er lebt, um 
in Ruhe über das Leben träumen zu können. Noch 
Heber ist es ihm, wenn den Schlaf, den er Seelenruhe 
nennt, gar kein Traum stört. Das heifst : dem Tugend- 
haften ist es am liebsten, wenn er irgendwoher die 
Regeln seines Handelns erhält und im übrigen seine 
Ruhe geniefsen kann. „Seine Weisheit heifst: wachen, 
um gut zu schlafen. Und wahrlich, hätte das Leben 
keinen Sinn, und müfste ich Unsinn wählen, so wäre 
auch mir dies der wählenswürdigste Unsinn," spricht 
Zarathustra. 

Auch für Zarathustra gab es eine Zeit, da er 
glaubte, ein aufserhalb der Welt wohnender Geist, 
ein Gott, habe die Welt geschaffen. Einen unzu- 
friedenen, leidenden Gott dachte sich Zarathustra. 
Um sich eine Befriedigung zu verschaffen, um von 
seinem Leiden loszukommen, habe Gott die Welt 
erschaffen, meinte einst Zarathustra. Aber er hat ein- 
sehen gelernt, dafs es ein Wahnbild war, das er sich 
selbst geschaffen hatte. „Ach, ihr Brüder, dieser Gott, 



42 II* I^er Übermensch. 



den ich schuf, war Menschen werk und -Wahnsinn 
gleich allen Göttern!" Zarathustra hat seine Sinne 
gebrauchen und die Welt betrachten gelernt. Und 
zufrieden wurde er mit der Welt ; nicht mehr schweiften 
seine Gedanken ins Jenseits. Blind war er ehemals 
und konnte die Welt nicht sehen , deshalb suchte er 
sein Heil aufserhalb der Welt. Aber Zarathustra hat 
sehen gelernt und erkennen, dafs die Welt in sich 
selbst ihren Sinn habe. 

„Einen neuen Stolz lehrte mich mein Ich, den 
lehre ich die Menschen: nicht mehr den Kopf in den 
Sand der himmlischen Dinge zu stecken, sondern frei 
ihn zu tragen, meinen Erdenkopf, der der Erde Sinn 
schaflft." 

15. 

In Leib und Seele haben die Idealisten den 
Menschen gespalten, in Idee und Wirklichkeit haben 
sie alles Dasein geteilt. Und sie haben die Seele, den 
Geist, die Idee zu einem besonders Wertvollen ge- 
macht, um die Wirklichkeit, den Leib um so mehr 
verachten zu können. Zarathustra aber sagt: Nur 
eine Wirklichkeit, nur einen Leib giebt es, und die 
Seele ist nur etwas am Leibe, die Idee nur etwas an 
der Wirklichkeit. Eine Einheit sind Leib und 
Seele des Menschen; aus einer Wurzel entspringen 
Körper und Geist. Der Geist ist nur da, weil ein 
Körper da ist, der Kräfte hat, an sich den Geist zu 
entwickeln. Wie die Pflanze an sich die Blüte, so 
entfaltet der Körper an sich den Geist. 

„Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein 
Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter 



II. Der Übermensch. 43 



Weiser — der heifst Selbst. In deinem Leibe wohnt 
er, dein Leib ist er." 

Wer einen Sinn hat für das Wirkliche, der sucht 
den Geist, die Seele in und an dem Wirklichen, er sucht 
die Vernunft in dem Wirklichen; nur wer die Wirk- 
lichkeit für geistlos, für „blofs natürlich", für „roh" 
hält, der giebt dem Geiste, der Seele ein besonderes 
Dasein. Er macht die Wirklichkeit zur blofsen 
Wohnung des Geistes. Einem solchen fehlt aber auch 
der Sinn für die Wahrnehmung des Geistes selbst. 
Nur weil er den Geist in der Wirklichkeit nicht sieht, 
sucht er ihn anderswo. 

„Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in 
deiner besten Weisheit 

„Der Leib ist eine grofse Vernunft, eine Vielheit 
mit einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine 
Herde und ein Hirt. 

„Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine 
Vernunft, mein Bruder, die du „Geist" nennst, ein 
kleines Werk- und Spielzeug deiner grofsen Ver- 
nunft." 

Ein Thor ist, wer die Blüte von der Pflanze 
reifst und glaubt, die abgerissene Blüte werde nun 
sich noch zur Frucht entwickeln. Ein Thor ist ebenso, 
wer den Geist von der Natur absondert und glaubt, 
ein solcher abgesonderter Geist könne noch schaffen. 

Menschen mit kranken Instinkten haben die 
Scheidung von Geist und Körper vorgenommen. Ein 
kranker Instinkt nur kann sagen: mein Reich ist 
nicht von dieser Welt. Eines gesunden Instinktes 
Reich ist nur diese Welt. 



44 n. Der Übermensch. 



16. 

Was für Ideale haben sie doch geschaffen, diese 
Verächter der Wirklichkeit ! Fassen wir sie ins Auge, 
die Ideale der Asketen, die da sagen: wendet ab 
euren Blick vom Diesseits und schaut nach dem 
Jenseits! Was bedeuten asketische Ideale? Mit dieser 
Frage und den Vermutungen, mit denen er sie be- 
antwortet, hat uns Nietzsche am tiefsten hineinblicken 
lassen in sein von der abendländischen neueren Kultur 
unbefriedigtes Herz. (Genealogie der Moral. 3. Ab- 
teilung.) 

Wenn ein Künstler, wie z. B. Richard 
Wagner in der letzten Zeit seines Schaffens, An- 
hänger des asketischen Ideales wird, so hat das nicht 
viel zu bedeuten. Der Künstler steht sein ganzes 
Leben hindurch über seinen Schöpfungen. Er sieht 
von oben herab auf seine Wirklichkeiten. Er schafft 
Wirklichkeiten, die nicht seine Wirklichkeit sind. 
„Ein Homer hätte keinen Achill, ein Goethe keinen Faust 
gedichtet, wenn Homer ein Achill, und wenn Goethe 
ein Faust gewesen wäre." (Genealogie, S. Abt. § 4.) 
Wenn nun ein solcher Künstler sein eigenes Dasein 
einmal ernst nimmt, sich selbst und seine persönlichen 
Ansichten in Wirklichkeit umsetzen will, so ist es kein 
Wunder, wenn etwas sehr Unreales entsteht. Richard 
Wagner hat über seine Kunst vollständig umge- 
lernt, als ihm die Philosophie Schopenhauers bekannt 
wurde. Vorher hielt er die Musik für ein Ausdrucks- 
mittel, das etwas braucht, dem es Ausdruck verschafft, 
das Drama. In seiner Schrift Oper und Drama, 
die 1851 geschrieben ist, spricht er aus, dafs der 



II. Der Übermensch. 



45 



de 

Ke 
PHRi 



gröfste Irrtum, dem man sicli in Bezug auf die Oper 
hingeben kann, der iät, „dafs 

ein Mittel des Ausdrucks (die Musik) zum Zwecke, 
der Zweck des Ausdrucks (das Drama) aber zum 
Mittel gemacht" werde." 

Er bekannte sich zu einer andern Ansicht, nachdem 
«r Schopenhauers Lehre von der Musik kennen gelernt 
hatte, Schopenhauer ist der Ansicht, dafs durch die 
Musik das Wesen der Dinge selbst zu uns spricht. Der 
«wige Wille, der in allen Dingen lebt, er wird in 
«llen anderen Künsten nur in seinen Abbildern, in 
den Ideen, verkörpert ; die Musik ist kein blofses Bild 
des Willens : in ihr giebt sich der Wille unmittelbar 
kund. Was uns in allen unseren Vorstellungen nur 
im Abglanz erscheint: der ewige Grund alles Seins, 
der Wille, ihn glaubt Schopenhauer in den Klängen 
der Musik unniittolbar zu vernehmen. Kunde aus 
dem Jenseits bringt für Schopenhauer die Musik. Diese 
nsicht wirkte auf Richard Wagner. Nicht mehr 
Äuadrucksmittel wirklicher menschlicher Leiden- 
ichaften, wie sie im Drama verkörpert sind, liel's er 
lie Musik gelten , sondern als „eine Art Mundstück 
ch der Dinge, ein Telephon des Jenseits". 
Richard Wagner glaubte jetzt nicht mehr die Wirk- 
lichkeit in Tönen auszudrücken; „er redete fürderhin 
nicht nur Musik, dieser Bauchredner Gottes, — er 
redete Metaphysik : was Wunder, dafs er endlich eines 
'agea asketische Ideale redete." (Generalogie. 
Abteilung, § 5.) 
Hätte Richard Wagner blofs seine Ansicht 
über die Bedeutung der Musik geändert, so hätte 
Kietzache keinen Anlafs, ihm etwas vorzuwerfen. 




46 II' I^cr Übermensch. 



Nietzsche könnte dann höchstens sagen: Wagner hat 
aufser seinen Kunstwerken auch noch allerlei ver- 
kehrte Theorien über die Kunst geschaffen. Dafs aber 
Wagner in der letzten Zeit seines Schaffens den 
Schopenhauerschen Jenseitsglauben auch in seinen 
Kunstwerken verkörpert hat, dafs er seine Musik dazu 
verwendet hat, die Flucht vor der Wirklichkeit zu 
verherrlichen : das ging Nietzsche wider den. Ge- 
schmack. 

Aber der „Fall Wagner" besagt nichts, wenn es 
sich um die Bedeutung der Verherrlichung des Jen- 
seits auf Kosten des Diesseits, wenn es sich um die 
Bedeutung des asketischen Ideale handelt. Künstler 
stehen nicht auf eigenen Füfsen. Wie Richard Wagner 
von Schopenhauer abhängig ist, so waren die Künstler 
„zu allen Zeiten Kammerdiener einer Moral, oder 
Philosophie oder Religion". 

Anders ist es, wenn die Philosophen für die Ver- 
achtung der Wirklichkeit, für die asketischen Ideale 
eintreten. Sie thun das aus einem tiefen Instinkte 
heraus. 

Schopenhauer hat diesen Instinkt verraten durch 
die Beschreibung, die er von dem Schaffen und Ge- 
iiiefsen eines Kunstwerkes giebt. „Dafs also das 
Kunstwerk die Auffassung der Ideen, in welcher 
<ier ästhetische Genufs besteht, so sehr erleichtert, 
beruht nicht blofs darauf, dafs die Kunst durch Her- 
vorhebung des Wesentlichen und Aussonderung des 
Unwesentlichen die Dinge deutlicher und charakte- 
ristischer darstellt, sondern ebenso sehr darauf, dafs 
das zur objektiven Auffassung des Wesens 
der Dinge erforderte gänzliche Schweigen 



II. Der Übermensch. 47 

des Willens am sichersten dadurch erreicht 
wird, dafs das angeschaute Objekt gar 
nicht im Gebiete der Dinge liegt, welche 
einer Beziehung zum Willen fähig sind." 
(Ergänzungen zum 3. Buch der Welt als Wille und 
Vorstellung, Kap. 21.) „Wann aber ein äufserer An- 
lafe oder eine innere Stimmung uns plötzlich aus 
dem endlosen Strome des WoUens heraushebt, ' die 
Erkenntnis dem Sklavendienst des Willens entreifst, 
die Aufmerksamkeit nun nicht mehr auf die Motive 
des Wollens gerichtet wird, sondern die Dinge frei 
von ihrer Beziehung auf den Willen auffafst, also 
ohne Interesse, ohne Subjektivität, rein ob- 
jektiv sie betrachtet, ihnen ganz hingegeben, sofern 
sie blofs Vorstellungen, nicht sofern sie Motive sind: 

dann ist der schmerzenlose Zustand, den 

Epikuros als das höchste Gut und als den Zustand 
der Götter pries [eingetreten] : denn wir sind flir jenen 
Augenblick des schnöden Willensdranges entledigt, 
wir feiern den Sabbat der Zuchthausarbeit des 
Wollens, das Rad des Ixion steht still." (Welt als 
Wille und Vorstellung, § 38.) 

Dies ist eine Beschreibung einer Art des ästheti- 
schen Genusses, die nur bei dem Philosophen vor- 
kommt. Nietzsche stellt ihr gegenüber eine andere 
Beschreibung, „die ein wirklicher Zuschauer und 
Artist gemacht hat — Stendhal", der das Schöne 
„une promesse de bonheur" nennt. Schopenhauer möchte 
alles Willensinteresse, alles wirkliche Leben ausschalten, 
wenn es sich um die Betrachtung eines Kunstwerkes 
handelt, und nur mit dem Geiste genielsen; Stendhal 
sieht in dem Kunstwerke ein Versprechen von 



48 U« I^er Übermensch. 



Glück, also einen Hinweis auf das Leben, und sieht 
in diesem Zusammenhang der Kunst mit dem Leben 
den Wert der Kunst. 

Kant fordert vom schönen Kunstwerk, dafs es 
ohne Interesse gefalle, d. h. dafs es uns heraus- 
hebe aus dem wirklichen Leben und einen rein 
geistigen Genufs gewähre. 

Was sucht der Philosoph in dem künstlerischen 
Genufs? Erlösung von der Wirklichkeit. In eine 
Wirklichkeit -fremde Stimmung will der Philosoph 
durch das Kunstwerk versetzt werden. Er verrät da- 
durch seinen Grundinstinkt. Der Philosoph fühlt sich 
in den Augenblicken am wohlsten, in denen er von 
der Wirklichkeit loskommen kann. Seine Ansicht 
vom ästhetischen Genufs zeigt, dafs er die Wirklich- 
keit nicht liebt. 

Nicht was der dem Leben zugewandte Zuschauer 
von dem Kunstwerke verlangt, sagen uns die Philo- 
sophen in ihren Theorien, sondern nur, was ihnen 
selbst angemessen ist. Und dem Philosophen ist die 
Abkehr von dem Leben sehr förderlich. Er will sich 
seine verschlungenen Gedankenwege nicht durch- 
kreuzen lassen von der Wirklichkeit. Das Denken 
gedeiht besser, wenn sich der Philosoph von dem 
Leben abkehrt. Es ist nun kein Wunder, wenn dieser 
philosophische Grundinstinkt geradezu zu einer leben- 
feindlichen Stimmung wird. Wir finden eine solche 
Stimmung bei der Mehrzahl der Philosophen ausge- 
bildet. Und nahe liegt es, dafs der Philosoph seine 
eigene Antipathie gegen das Leben zu einer Lehre 
ausbildet und fordert, dafs sich alle Menschen zu 
einer solchen Lehre bekennen. Schopenhauer hat 



II. Der Übermensch. 



49 



i gethan. Er fand, dafs der Lärm der Welt seine 
jdankenarbeit störte. Er empfand, dafs man über 
i Wirklichkeit am besten nairhdenken kann, wenn 
dieser Wirklichkeit entflieht. Zugleich vergafö 
, dafs alles Denken ("iber die Wirklichkeit doch nur 
tann einen Wert hat, wenn es aus dieser Wirklicbkeit 
entspringt. Er beachtete nicht, dafs das Zurückziehen 
des Philosophen von der Wirklichkeit nur geschehen 
kann , damit die entfernt von dem Leben ent- 
standenen philosophischen Gedanken dann dem Leben 
am so besser dienen können. Wenn der Philosoph 
den Gmndinstinkt , der nur ihm als Philosophen 
förderlich ist, der ganzen Menschheit aufdrängen will, 
dann wird er zu einem Feinde des Lebens, 

Der Philosoph , der die Weltflucht nicht als 
littel betrachtet, um weltfreundliche Gedanken zu 
»haffen, sondern als Zweck, als Ziel, kann nur Wert- 
ses schaffen. Der wahre Philosoph flieht auf der 
ite die Wirklichkeit nur, um sich auf der 
ideren um so tiefer tn sie einzubohren. Aber es ist 
igreiflich, dafs dieser Grundinstinkt den Philosophen 
>bt dazu verführen kann, die Welttlucht als solche 
■ wertvoll zu halten. Dann wird der Philosoph zu 
iaeta Anwalt der Weltverneinung. Er lehrt Abkehr 
vom Leben, asketisches Ideal. Er tindet: „Ein ge- 
wisser Asketismua eine harte und heitere Ent- 

»agaamkeit besten Willens gehört zu den günstigen 
Bedingungen höchster Geistigkeit, insgleichen auch 
zu deren natürlichsten Folgen: so wird es von vorn- 
herein nicht Wunder nehmen, wenn das asketische 
Heal gerade von den Philosophen nie obne einige 




50 !!• I^er Übermensch. 



Voreingenommenheit behandelt worden ist/ (Genealogie 
der Moral, 3. Abteilung § 8.) 

17. 

Einen andern Ursprung haben die asketischen 
Ideale der Priester. Was bei dem Philosophen 
durch das Überwuchern eines bei ihm berechtigten 
Triebes entsteht, das bildet das Grundideal des priester- 
lichen Wirkens. Der Priester sieht in der Hingabe 
des Menschen an das wirkliche Leben einen Irrtum; 
er verlangt, dafs man dieses Leben gering achte 
gegenüber einem andern Leben, das von höheren als 
blofs natürlichen Kräften gelenkt wird. Der Priester 
leugnet, dafs das wirkliche Leben einen Sinn in sich 
selbst habe, und er fordert, dafs ihm dieser Sinn ver- 
liehen werde durch Einimpfung eines höheren Willens. 
Er sieht das Leben in der Zeitlichkeit als unvoll- 
kommen an und stellt ihm ein ewiges, voUkonmienes 
Leben gegenüber. Abkehr von der Zeitlichkeit und 
Einkehr in das Ewige, Unwandelbare lehrt der Priester. 
Ich möchte als besonders bezeichnend für die priester- 
liche Denkweise einige Sätze aus dem berühmten 
Buche „Die deutsche Theologie" anführen, das aus 
dem 14. Jahrhundert stammt und von dem Luther 
sagt, dafs er aus keinem Buche, die Bibel und den 
heiligen Augustin ausgenommen, mehr gelernt habe, 
was Gott, Christus und der Mensch sei, als aus diesem. 
Auch Schopenhauer findet, dafs der Geist des Christen- 
tums in diesem Buche vollkommen und kräftig aus- 
gesprochen ist. Nachdem der Verfasser, der uns un- 
bekannt ist, auseinander gesetzt hat, dafs alle Dinge 



IL Der Übermensch. 51 



der Welt nur ein Unvollkommenes und Geteiltes 
seien gegenüber dem Vollkommenen, „das in sich und 
in seinem Wesen alle Wesen begriffen und beschlossen 
hat, und ohne das und aufser dem kein wahres Wesen 
ist und in dem alle Dinge ihr Wesen haben", führt 
er aus, dafs der Mensch in dieses Wesen nur ein- 
dringen kann, wenn er „Kreatürlichkeit, Geschaflfen- 
heit, Ichheit, Selbstheit und dergleichen alles verloren" 
und in sich zu nichte gemacht hat. Was von dem 
yoUkbmmenen ausgeflossen ist und was der Mensch 
als seine wirkliche Welt erkennt, das wird folgender- 
mafsen charakterisiert: „Das ist kein wahres Wesen 
und hat kein Wesen anders denn in dem Vollkomme- 
nen, sondern es ist ein Zufall oder ein Glanz und ein 
Schein, der kein Wesen ist oder kein Wesen hat 
anders als in dem Feuer, wo der Glanz ausfliefst, oder 
in der Sonne, oder in dem Lichte. Die Schrift spricht 
und der Glaube und die Wahrheit: Sünde sei nichts 
anderes, denn dafs sich die Kreatur abkehrt von dem 
unwandelbaren Gute und kehret sich zu dem wandel- 
baren, das ist: dafs sie sich kehrt von dem Voll- 
kommenen zu dem Geteilten und Unvollkommenen 
und allermeist zu sich selber. Nun merke. Wenn 
sich die Kreatur etwas Gutes annimmt, als Wesens, 
Lebens, Wissens, Erkennens, Vermögens und kürzlich 
alles dessen, was man gut nennen soll, und meint, 
dafs sie das sei oder dafs es das Ihre sei 
oder ihr zugehöre oder dafs es von ihr sei: 
so oft und viel dabei geschieht, so kehrt 
sie sich ab. Was that der Teufel anders oder was 
war sein Fall und Abkehren anders, als dafs er sich 

annahm, er wäre auch etwas und etwas wäre 

4* 



52 n. Der Übermensch. 



sein und ihm gehörte auch etwas zu? Dies 
Annehmen und sein Ich und sein Mich, sein Mir und sein 
Mein, das war sein Abkehren und sein Fall. Also ist 
es noch .... Denn alles das, was man für gut hält 
oder gut nennen soll, das gehört niemand zu, denn 
allein dem ewigen wahren Gut, der Gott allein ist, 
und wer sich dessen annimmt, der thut Unrecht und 
wider Gott". (1., 2., 4. Kap. der deutsch. Theol, 
3. Aufl., übersetzt von Pfeiflfer.) 

Diese Sätze sprechen die Gesinnung j e d e ^ 
Priesters aus. Sie sprechen den eigentlichen Cha- 
rakter der Priesterlichkeit aus. Und dieser Charakter 
ist das Gegenteil desjenigen, den Nietzsche als den 
höherwertigen, den lebenswürdigen bezeichnet. Der 
höherwertige Typus Mensch will alles, was er ist, nur 
durch sich sein; er will, dafs alles, was er für gut 
hält und gut nennt, niemand zugehört, denn ihm 
selbst. 

Aber jene minderwertige GesiYinung ist kein Aus- 
nahmefall. Sie „ist eine der breitesten und längsten 
Thatsachen, die es giebt. Von einem fernen Gestirn 
aus gelesen, würde vielleicht die Majuskelschrift unseres 
Erdendaseins zu dem Schlufs verführen, die Erde sei 
der eigentlich asketische Stern, ein Winkel mifs- 
vergnügter, hochmütiger und widriger Geschöpfe, die 
einen tiefen Verdrufs an sich, an der Erde, an allem 
Leben gar nicht los würden." (Genealogie der Moral, 
3. Abteilung § 11.) Der asketische Priester ist des- 
halb eine Notwendigkeit, weil die Mehrzahl der 
Menschen an einer „Hemmung und Ermüdung" der 
Lebenskräfte leidet, weil sie an der Wirklichkeit leidet 
Der asketische Priester ist der Tröster und Arzt der- 



II. Dür ÜbermsuBcb- 



53 



[jenigen, die am Leben leiden. Er tröstet sie dadurch, 
IdiiTs er ihnen sRgt: dieses Leben, an dem ihr leidet, 
ist nicht das wahre Leben ; das wahre Leben ist 
denjenigen, die an diesem Leben leiden, viel leichter 
erreichbar als den Gesunden , die an diesem Leben 
hängen und sich ihm hingeben. Durch solche Aus- 
sprüche züchtet der Priester die Verachtung, die Ver- 
leumdung dieses wirklichen Lebens, Er bringt endlich 
^die Gesinnung hervor, die sagt: um das wahre Leben 
BU erreichen, mufa dieses wirkliche Leben verneint 
werden. In der Verbreitung dieser Gesinnung sucht 
der asketische Priester seine Stärke. Er beseitigt 
durch die Züchtung dieser Gesinnung eine grofse 
Gefahr, die den Gesunden, Starken, Selbstbewursten 

^von den Verunglückten, Niedergeworfenen, Zerbroche- 
nen droht. Die letzteren hassen die Gesunden und die 
leiblich und seelisch Glücklichen, die ihre Kräfte aus 
der Natur nehmen. Diesen HaTs, der sich dadurch 
äulsern müfste, dafs die Schwachen gegen die Starken 
einen fortwährenden Vernichtungskrieg führten, sucht 
der Priester niederzuhalten. Er stellt deshalb die 
Starken als diejenigen hin, die ein wertloses, menschen- 
unwürdiges Leben führen und behauptet dagegen, dafs 
daa wahre Leben allein denen erreichbar ist, die von 
dem Erdenleben geschädigt werden. „Der asketische 
Priester mufs uns als der vorherbestimmte Heiland, 
Hirt und Anwalt der kranken Herde gelten: damit 
erst verstehen wir seine ungeheure historische Mission. 
Die Herrschaft über Leidende ist sein Keich, 
auf sie weist ihn sein Instinkt an, in ihr hat er seine 
eigenste Kunst, seine Meisterschaft, seine Art von 
Glück." (Genealogie, 3. Abth. § 15.) 



54 II. Der Übermensch. 



Es ist kein Wunder, wenn eine solche Denkweise 
endlieh dazu führt, dafs ihre Anhänger nicht nur das 
Leben verachten, sondern geradezu auf seine Zer- 
störung hinarbeiten. Wenn den Menschen gesagt 
wird, nur der Leidende, der Schwache kann wirklich 
zu einem höheren Leben kommen, so wird endlich 
das . Leiden , die Schwäche gesucht werden. Sich 
selbst Schmerz zuzufügen, den Willen in sich ganz 
ertöten, das wird Ziel des Lebens werden. Die Opfer 
dieser Gesinnung sind die Heiligen. „Völlige Keusch- 
heit und Entsagung aller Wollust für den, welcher 
eigentliche Heiligkeit anstrebt; Wegwerfung alles 
Eigentums, Verlassung jedes Wohnortes, aller An- 
gehörigen, tiefe, gänzliche Einsamkeit, zugebracht in 
stillschweigender Betrachtung, mit freiwilliger Bufse 
und schrecklicher langsamer Selbstpeinigung, zur 
gänzlichen Mortifikation des Willens, welche zuletzt 
bis zum freiwilligen Tode geht durch Hunger, auch 
durch Entgegengehen den Krokodilen, durch Herab- 
stürzen vom geheiligten Felsengipfel im Himalaya, 
durch Lebendigbegrabenwerden , auch durch Hin- 
werfung unter die Räder des unter Gesang, Jubel 
und Tanz der Bajaderen die Götterbilder umfahrenden 
Wagens", dies sind die letzten Früchte der asketischen 
Gesinnung. (Schopenhauer, Welt als Wille und Vor- 
stellung § 68.) 

Diese Denkweise ist dem Leiden am Leben ent- 
sprungen, und sie richtet ihre Waflfen gegen das Leben. 
Wenn der Gesunde, Lebensfrohe von ihr angesteckt ''v/ 
wird, dann tilgt sie bei ihm die gesunden, starken 
Instinkte aus. Nietzsches Werk gipfelt darinnen, 
dieser Lehre gegenüber etwas anderes geltend zu 



n. Der Übermensch. 55 

machen, eine Ansicht für Gesunde, Wohlgeratene. 
Mögen die Mifsratenen, Verdorbenen in der Lehre 
der asketischen Priester ihr Heil suchen ; die Gesunden 
will Nietzsche um sich sammeln und ihnen eine 
Meinung sagen, die ihnen besser zu Gesichte steht, 
als jedes lebensfeindliche Ideal. 

18. 

Auch in den Pflegern der modernen Wissen- 
schaft steckt noch das asketische Ideal. Zwar rühmt 
sich diese Wissenschaft, alle alten Glaubensvorstellungen 
über Bord geworfen zu haben und sich nur an die 
Wirklichkeit zu halten. Sie will nichts gelten lassen, 
was sich nicht zählen, berechnen, wägen, sehen und 
greifen läfst. Dafs man auf diese Weise „das Dasein 
zu einer Rechenknechtsübung und Stubenhockerei für 
Mathematiker^ herabwürdigt, ist den modernen Ge- 
lehrten gleichgültig. (Fröhliche Wissenschaft § 373.) 
Ein Recht, die vor seinen Sinnen und seiner Vernunft 
vorüberziehenden Vorkommnisse der Welt zu inter- 
pretieren, sodafs er sie mit seinem Denken beherrschen 
kann, schreibt sich ein solcher Gelehrter nicht zu. 
Er sagt : die Wahrheit mufs von meiner Interpretations- 
kunst unabhängig sein, und ich habe die Wahrheit 
nicht zu schaffen, sondern ich mufs sie mir von den 
Erscheinungen der Welt diktieren lassen. 

Wozu diese moderne Wissenschaft zuletzt gelangt, 
wenn sie sich alles Zurechtlegens der Welterscheinungen 
enthält, das hat ein Anhänger dieser Wissenschaft 
(Richard Wähle) in einem soeben erschienenen Buche 
(„Das Ganze der Philosophie und ihr Ende") aus- 



56 II« I^r Übermensch. 



gesprochen: „Was könnte der Geist, der in das Welt- 
gehäuse spähend und in sich die Fragen nach dem 
Wesen und dem Ziele des Geschehens herumwälzte, 
endlich als Antwort finden? Es ist ihm widerfahren, 
dafs er, wie er so scheinbar im Gegensatze zur um- 
gebenden Welt dastand, sich auflöste und in einer 
Flucht von Vorkommnissen mit allen Vorkommnissen 
zusammenflofs. Er „wurste** nicht mehr die Welt; 
er sagte, ich bin nicht sicher, dafs Wissende da sind, 
sondern Vorkommnisse sind da schlechthin. Sie 
kommen freilich in solcher Weise, dafs der Begriff 
eines Wissens vorschnell, ungerechtfertigt entstehen 
konnte .... Und „Begriffe" huschten empor, um 
Licht in die Vorkommnisse zu bringen, aber es waren 
Irrlichter, Seelen der Wünsche nach Wissen, erbärm- 
liche, in ihrer Evidenz nichtssagende Postulate einer 
unausgeflillten Wissensform. Unbekannte Fak- 
toren müssen im Wechsel walten. Über ihre 
Natur war Dunkel gebreitet. Vorkommnisse sind der 
Schleier des Wahrhaften." 

Dafs die menschliche Persönlichkeit in die Vor- 
kommnisse der Wirklichkeit einen Sinn hineinlegen 
könne und die unbekannten Faktoren, die im 
Wechsel der Ereignisse walten, aus eigenem Vermögen 
ergänzen könne, daran denken die modernen Gelehrten 
nicht. Sie wollen nicht die Flucht der Erscheinungen 
durch die Ideen interpretieren, die aus ihrer Per- 
sönlichkeit stammen. Sie wollen die Erscheinungen 
blofs beobachten und beschreiben, aber nicht deuten. 
Sie wollen bei dem Thatsächlichen stehen bleiben und 
es der schöpferischen Phantasie nicht gestatten, sich 



fe 

1 



«n in eich gegliedertes Bild von der Wirklichkeit zu 
machen. 

Wenn ein phantasievoller Naturforscher, wie z. B. 
Ernst Haeckel, aus den Ergebnissen einzelner Be- 
obachtungen ein Gesamtbild der Entwickehmg des 
organischen Lebens auf der Erde entwirft, dann fallen 
diese Fanatiker der Thatafichlichkeit über ihn her und 
zeihen ihn der Versündigung an der Wahrheit. Die 
Bilder, die er von dem Leben in der Natur entwirft, 
können sie nicht mit Äugen sehen, oder mit Händen 
greifen, Ihnen ist das unpersönliclie Urteil lieber, als 
das durch den Geist der Persönlichkeit gefärbte. Sie 
möchten bei ihren Beobachtungen am liebsten die 
PerBÖniichkeit ganz ausschalten. 

Es ist das asketische Ideal, das die Fanatiker der 
Thataächlichkeit beherrscht. Sie wollen eine Wahrheit 
eneeitB des persönlichen, individuellen Urteiles. 
Was der Mensch in die Dinge ^ hineinphantasieren" 
kann, bekümmert sie nicht; die „W^ahrheif" ist ihnen 
etwas absolut Vollkommenes, ein Gott; der Mensch 
•oll sie entdecken, sich ihr ergeben, aber sie nicht 
schaffen. Die Naturforscher und die Geschichtschreiber 
Bind gegenwärtig von dem gleichen Geiste des asketi- 
schen Ideals beseelt. Überall Auizählen, Beschreiben 
von Thataachen, und nichts darüber. Jedes Zurecht- 
legen der Thatsachen ist verpönt. Alles persönliche 
Urteilen soll unterbleiben. 

Unter diesen modernen Gelehrten linden sich auch 
Atheisten. Diese Atheisten sind aber keine freieren 
Geister als ihre Zeitgenossen, die an Gott glauben. 
Mit den Mitteln der modernen Wissenschaft läfst sieh 
das Dasein Gottes nicht beweisen. Hat sich doch 



58 n. Der Übermensch. 



eine der Leuchten moderner Wissenschaft (Du Bois- 
Reymond) über die Annahme einer „Weltseele" also 
geäufsert: bevor der Naturforscher sich zu einer 
solchen Annahme entschliefst, verlangt er, „dafs ihm 
irgendwo in der Welt, in Neuroglia gebettet und mit 
warmem arteriellen Blut unter richtigem Druck ge- 
speist, ein dem geistigen Vermögen solcher Seele an 
Umfang entsprechendes Konvolut von Ganglienzellen 
und Nervenfasern gezeigt" werde (Grenzen des Natur- 
erkennens S. 44). Die moderne Wissenschaft lehnt den 
Glauben an Gott ab, weil dieser Glaube neben dem 
Glauben an die „objektive Wahrheit" nicht bestehen 
kann. Diese „objektive Wahrheit" ist aber nichts 
anderes als ein neuer Gott, der über den alten gesiegt 
hat. „Der unbedingte redliche Atheismus (und seine 
Luft allein atmen wir, wir geistigeren Menschen dieses 
Zeitalters!) steht nicht im Gegensatz zu jenem 
(asketischen) Ideale, wie es den Anschein hat; er ist 
vielmehr nur eine seiner letzten Entwickelungsphasen, 
eine seiner Schlufsformen und inneren Folgerichtig- 
keiten, er ist die Ehrfurcht gebietende Katastrophe 
einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche 
am Schlüsse sich die Lüge im Glauben an Gott 
verbietet." (Genealogie, 3. Abteilung § 27.) Der 
Christ sucht die Wahrheit in Gott, weil er Gott fhr 
den Quell aller Wahrheit hält; der moderne Atheist 
lehnt den Glauben an Gott ab, weil ihm sein G^tt, 
sein Ideal von Wahrheit diesen Glauben verbietet. 
Der moderne Geist sieht in Gott eine menschliche 
Schöpfung-, in der „Wahrheit" sieht er etwas, was 
ohne alles menschliehe Zuthun durch sich selbst be- 
steht. Der wirklich „freie Geist" geht noch weiter. 



II. Der Übermensch. 59 



Er fragt: „Was bedeutet aller Wille zur 
Wahrheit?" Wozu Wahrheit? Alle Wahrheit ent- 
steht doch dadurch, dafs der Mensch über die Er- 
scheinungen der Welt 'nachdenkt, sich Gedanken über 
die Dinge bildet. Der Mensch selbst ist der Schöpfer 
der Wahrheit. Der „freie Geist" kommt zum Bewufst- 
sein seines Schaflfens der Wahrheit. Er betrachtet die 
Wahrheit nicht mehr als etwas, dem er sich unter- 
ordnet; er betrachtet sie als sein Geschöpf. 

19. 

Die mit schwachen, mifsratenen Erkenntnis- 
instinkten ausgestatteten Menschen wagen es nicht, 
aus der Begriflfe bildenden Macht ihrer Persönlichkeit 
heraus den Welterscheinungen einen Sinn unterzulegen. 
Sie wollen, dafs ihnen die „Gesetzmäfsigkeit der Natur" 
als Thatbestand vor die Sinne trete. Ein subjektives, 
der Einrichtung des menschlichen Geistes gemäfs 
geformtes Weltbild scheint ihnen wertlos. Aber die 
blofse Beobachtung der Vorkommnisse in der Welt 
liefert uns nur ein zusammenhangloses und doch nicht 
in Einzelheiten gesondertes Weltbild. Dem blofsen 
Beobachter der Dinge erscheint kein Gegenstand, 
kein Geschehnis wichtiger, bedeutungsvoller als das 
andere. Das rudimentäre Organ eines Organismus, 
das vielleicht dann, wenn wir darüber nachgedacht 
haben, ohne alle Bedeutung für die Entwicklung des 
Lebens erscheint, steht gerade mit demselben An- 
spruch auf Beachtung da, wie der edelste Teil des 
Organismus, so lange wir blofs den objektiven That- 
bestand beschauen. Ursache und Wirkung sind auf- 
einanderfolgende Erscheinungen, die ineinander über- 



60 n. Der Übermensch. 



fliefsen, ohne durch etwas getrennt zu sein, so lange 
wir sie blofs beobachten. Erst wenn wir mit 
unserem Denken einsetzen, die ineinander fliefsenden 
Erscheinungen sondern und gedanklich aufeinander 
beziehen, wird ein gesetzmäfsiger Zusammen- 
hang sichtbar. Erst das Denken erklärt die eine Er- 
scheinung für die Ursache, die andere für die Wirkung. 
Wir sehen einen Regentropfen auf den Erdboden fallen 
und eine Vertiefung hervorrufen. Ein Wesen, das 
nicht denken kann, wird hier nicht Ursache und 
Wirkung sehen, sondern nur eine Aufeinanderfolge 
von Erscheinungen. Ein denkendes Wesen isoliert 
die Eracheinungen, bringt die isolierten Fakten in ein 
Verhältnis und bezeichnet das eine Faktum als Ur- 
sache, das andere als Wirkung. Durch die Beobachtung 
wird der Intellekt angeregt, Gedanken zu produzieren 
und diese mit den beobachteten Thatsachen zu einem 
gedankenvollen Weltbilde zu verschmelzen. Der Mensch 
thut dies, weil er die Summe der Beobachtungen gedank- 
lich beherrschen will. Ein ihm gegenüberstehendes 
Gedankenleeres drückt auf ihn wie eine unbekannte 
Macht. Er widersetzt sich dieser Macht, überwindet 
sie, indem er sie denkbar macht. Auch alles Zählen, 
Wägen und Berechnen der Erscheinungen geschieht 
aus demselben Grunde. Es ist der Wille zur 
Macht, der sich in dem Erkenntnistriebe auslebt. 
(Ich habe den Erkenntnisprozefs im einzelnen dar- 
gestellt in meinen beiden Schriften: „Wahrheit und 
Wissenschaft" und „Die Philosophie der Freiheit**.) 

Der stumpfe, schwache Intellekt will sich nicht 
eingestehen, dafs er es selbst ist, der als Aufserung 
seines Strebens nach Macht die Erscheinungen inter- 



BOT 

^ gl 



pretiert. Er hält auch aeme Interpretation fUr einen 
Thatbestand. Und cv tragt: wio der Mensch dazu 
kommt, einen solchen Thatbestand in der Wirklichkeit 
zu finden. Er fragt z. B. : wie kommt es, dafs der 
Intellekt in zwei aufeinander folgenden Erscheinungen 
Ursache und Wirkung anerkennt? Alle Erkenntnjs- 
theoretiker von Locke, Hume, Kant bis auf die 
Gegenwart haben sich mit dieser Frage beschäftigt. 
Die Spitz und igkeiten, die sie auf diese Untersuchung 
verwendet haben, sind unfruchtbar geblieben. Die Er- 
klärung ist gegeben in dem Streben des menschlichen 
Intellekts nach Macht, Die Frage ist gar nicht: sind 
Urteile, Gedanken über die Erscheinungen möglich, 
sondern: hat der menschliche Intellekt solche Urteile 
oStig ? Weil er sie nötig hat , deshalb wendet er sie 
und nicht weil sie möglich sind. Es kommt dar- 

mf an, „zu begreifen, dafs zum Zweck der Erhaltung 
^on Wesen unserer Art solche Urteile als wahr ge- 
glaubt werden müssen; weshalb sie natürlich noch 
falsche Urteile sein könnten!" (Jenseits von Gut 
und Böse § 11.) „Und wir sind grundsätzlich ge- 
ligt, zu behaupten , dals die falschesten Urteile uns 

lie unentbehrlichsten sind, dafs ohne ein Geltenlassen 
logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirk- 
lichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, 
SicL-aelbat-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der 
Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben könnte, — 
dafs Verzieh tleisteu auf falsche Urteile ein Verzicht- 
luisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens wftre.^ 
(Ebenda § 4.) Wem dieser Ausspruch paradox erscheint, 

,er besinne sich darauf, wie fruchtbar die Anwendung 
Geometrie auf die Wirklichkeit ist, obgleich es 




62 n. Der tltermenseh. 



nirgends in der Welt wirklich geometrisch regelm&fsige 
Linien, Flächen u. s. w. giebt. 

Wenn der stampfe , schwache Intellekt einsieht, 
dals alle Urteile über die Dinge ans ihm selbst 
stanunen, durch ihn produziert und mit den Beob- 
achtungen verschmolzen werden, dann hat er nicht 
den Mut, diese Urteile rnckhaltslos anzuwenden. Er 
sagt: Urteile solcher Art können uns keine Eli^enntnis 
von dem „wahren Wesen" der Dinge vermitteln. Dieses 
„wahre Wesen" bleibt daher unserer Erkenntnis ver- 
schlossen. 

Noch in einer anderen Art sucht der schwache 
Intellekt zu beweisen, dafs durch das menschliche 
Erkennen kein Feststehendes gewonnen werden kann. 
Er sagt: Der Mensch sieht, hört, tastet die Dinge 
und Vorgänge. Was er dabei wahrnimmt, sind Ein- 
drücke auf seine Sinnesorgane. Wenn er eine Farbe, 
einen Ton wahrnimmt, so kann er nur sagen: mein 
Auge, mein Ohr werden in einer gewissen Art be- 
stunmt, Farbe, Ton wahrzunehmen. Nicht etwas 
aufs er ihm nimmt der Mensch wahr, sondern nur 
eine Bestimmung, eine Modifikation seiner eigenen 
Organe. In der Wahrnehmung werden das Auge, das 
Ohr u. s. w. dazu veranlagt, in einer gewissen Weise 
zu empfinden ; sie werden in einen bestimmten Zustand 
versetzt. Diese Zustände seiner eigenen Organe 
nimmt der Mensch als Farben, Töne, Grerüche u. s. w. 
wahr. In aller Wahrnehmung nimmt der Mensch nur 
seine eigenen Zustände wahr. Was er Aufsenwelt 
nennt, ist nur aus diesen seinen Zuständen zusammen- 
gesetzt ; ist also im eigentlichen Sinne sein Werk. Die 
Dinge, die ihn veranlassen, aus sich heraus die Aufsen- 



IL Der Übermensch. 63 



weit ZU spinnen, kennt er nicht-, nur ihre Wirkungen 
auf seine Organe. Einem von dem Menschen ge- 
träumten Traume gleich, der durch ein Unbekanntes 
veranlafst wird, erscheint die Welt in dieser Be- 
leuchtung. 

Wenn dieser Gedanke konsequent zu Ende ge- 
dacht wird, so zieht er folgenden Nachsatz nach sich. 
Auch seine Organe kennt der Mensch nur, insofern 
er sie wahrnimmt; sie sind Glieder in seiner Wahr- 
nehmungswelt. Und seines eigenen Selbst wird sich der 
Mensch nur bewufst, insofern er die Bilder der Welt 
aus sich herausspinnt. Traumbilder nimmt er wahr 
und inmitten dieser Traumbilder ein „Ich", an dem 
diese Traumbilder vorüberziehen. Jedes Traumbild 
erscheint in Begleitung dieses „Ich". Man kann auch 
sagen : jedes Traumbild erscheint inmitten der Traum- 
welt immer in Beziehung auf dieses „Ich". Dieses 
„Ich" haftet als Bestimmung, als Eigenschaft an den 
Traumbildern. Es ist somit, als Bestimmung von 
Traumbildern, selbst ein Traumhaftes. J. G. Fichte 
fafst diese Ansicht in die Worte zusammen: „Was 
durch das Wissen und aus dem Wissen entsteht, ist 
nur ein Wissen. Alles Wissen aber ist nur Abbildung, 
und es wird in ihm immer etwas gefordert, das dem 
Bilde entspreche. Diese Forderung kann durch kein 
Wissen befriedigt werden ; und ein System des Wissens 
ist notwendig ein System blofser Bilder, ohne alle 
Realität, Bedeutung und Zweck." „Alle 
Realität" ist fiir Fichte ein wunderbarer „Traum, 
ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und 
ohne einen Geist, dem da träumt" ; ein Traum, „der 



64 I^' ^i* Übermensch. 



in einem Traume von sich selbst zusammenhängt**. 
(Bestimmung des Menschen, 2. Buch.) 

Was hat diese ganze Gedankenkette für eine 
Bedeutung? Ein schwacher Intellekt, der sich nicht 
unterfangen will, der Welt aus sich heraus einen Sinn 
zu geben, sucht diesen Sinn in der Welt der Beob- 
achtungen. Er kann ihn da natürlich nicht finden^ 
weil die blofse Beobachtung gedankenleer ist. 

Der starke, produktive Intellekt verwendet seine 
Begriflfswelt dazu, die Beobachtungen zu deuten; der 
schwache, unproduktive Intellekt erklärt sich selbst 
für zu ohnmächtig, um das zu thun und sagt: ich kann 
in den Erscheinungen der Welt keinen Sinn finden; 
sie sind blofse Bilder, die an mir vorüberziehen. Der 
Sinn des Daseins mufs aufserhalb, jenseits der Er- 
scheinungswelt gesucht werden. Dadurch wird die 
Erscheinungswelt, d. h. die menschliche Wirklichkeit 
für einen Traum, eine Täuschung, ein Nichts er- 
klärt und das „wahre Wesen" der Erscheinungen wird 
in einem „Ding an sich" gesucht, bis zu dem keine 
Beobachtung, kein Erkennen reicht, d. h. von dem 
sich der Erkennende keine Vorstellung machen kann. 
Dieses „wahre Wesen" ist also für den Erkennenden 
ein völlig leerer Gedanke, der Gedanke an ein 
Nichts. Traum ist bei jenen Philosophen, die von 
dem „Ding an sich" sprechen, die Erscheinungswelt; 
Nichts ist aber das, was sie als das „wahre W^esen" 
dieser Erscheinungswelt ansehen. Die ganze philo- 
sophische Bewegung, die von dem „Ding an sich" 
spricht und die in der neueren Zeit sich namentlich 
auf Kant stützt, ist der Glaube an das Nichts, ist 
philosophischer Nihilism u s. 



II. Der Übermensch. 65 



20. 

Wenn der starke Geist nach der Ursache eines 
menschlichen Handelns und VoUbringens sucht, so findet 
er diese immer in dem Willen zur Macht der einzelnen 
Persönlichkeit. Der Mensch mit schwachem, mut- 
losem Intellekt will dies aber nicht zugeben. Er fühlt 
sich nicht kräftig genug, sich zum Herrn und Richtung- 
geber seines Handelns zu machen. Er deutet die 
Triebe, die ihn lenken, als Gebote einer fremden 
Macht. Er sagt nicht: ich handle, wie ich will; 
sondern er sagt: ich handle gemäfs einem Gebote, wie 
ich soll. Er will sich nicht befehlen, er will ge- 
horchen. Auf der einen Stufe der Entwicklung 
sehen die Menschen ihre Antriebe zum Handeln als 
Gebote Gottes an, auf einer andern Stufe glauben sie 
in ihrem Innern eine Stimme zu vernehmen, die ihnen 
gebietet. Sie wagen es im letztern Falle nicht, zu 
sagen: ich bin es selbst, der da befiehlt; sie be- 
haupten: in mir spricht ein höherer Wille sich aus. 
Dafs sein Gewissen ihm in jedem einzelnen Falle 
sagt, wie er handeln soll, ist die Meinung des einen; 
dafs ein kategorischer Imperativ ihm befiehlt, behauptet 
ein anderer. Hören wir, was J. G. Fichte sagt: „Es soll 
schlechthin etwas geschehen, weil es nun einmal ge- 
schehen soll: dasjenige, was das Gewissen nun eben 
von mir .... fordert; dafs es geschehe, dazu, lediglich 
dazu bin ich da; um es zu erkennen, habe ich Ver- 
stand; um es zu vollbringen habe ich Kraft". („Be- 
stimmung des Menschen", 3. Buch.) Ich führe mit 
Vorliebe J. G. Fichtes Aussprüche an, weil er mit 
eiserner Konsequenz die Meinung der „Schwachen und 

Steiner, Friedrich Nietzsche. , 5 



66 II. Der Übermensch. 



Mifsratenen" bis ans Ende gedacht hat. Wozu diese 
Meinungen zuletzt führen, kann man nur erkennen, 
wenn man sie da aufsucht, wo sie zu Ende gedacht 
worden sind; auf die Halben, die jeden Gedanken nur 
bis in seine Mitte denken, kann man sich nicht stützen. 
Nicht in der Einzelpersönlichkeit wird von denen, 
die in der angedeuteten Weise denken , der Quell 
des Wissens gesucht ; sondern jenseits dieser Per- 
sönlichkeit in einem „Willen an sich**. Eben dieser 
„Wille an sich" soll als „Stimme Gottes" oder „als 
Stimme des Gewissens" , „kategorischer Imperativ" 
u. s. w. zu dem Einzelnen sprechen. Er soll der universelle 
Lenker des menschlichen Handelns und der Urquell 
der Sittlichkeit sein und auch die Zwecke 
des sittlichen Handelns bestimmen. „Ich sage, 
das Gebot des Handelns selbst ist es, welches durch 
sich selbst mir einen Zweck setzt: dasselbe in mir, 
was mich nötigt, zu denken, dafs ich so handeln solle, 
nötigt mich, zu glauben, dafs aus diesem Handeln 
^twas erfolgen werde; es eröflfnet dem Auge die Aus- 
sicht auf eine andere Welt." „Wie ich im Gehor- 
sam lebe, lebe ich zugleich in der Anschauung seines 
Zweckes, lebe ich in der besseren Welt, die 
er mir verheifst." (Fichte, die Bestimmung des 
Menschen, 3. Buch.) Der also Denkende will sich 
nicht selbst sein Ziel setzen ; er will von dem höheren 
Willen, dem er gehorcht, sich zu einem Ziele führen 
lassen. Er will sich seines Eigenwillens entledigen 
und sich zum Werkzeug „höherer" Zwecke mächen. 
In Worten, die zu den schönsten Erzeugnissen des 
Sinnes für Gehorsam und Demut gehören, die mir 
bekannt sind, schildert Fichte die Hingabe an den 



IL Der Übermensch. 67 

„ewigen Willen an sich". „Erhabener lebendiger 
Wille, den kein Name nennt, und kein Begriflf um- 
fafst, wohl darf ich mein Gemüt zu dir erheben;, denn 
du und ich sind nicht getrennt. Deine Stimme ertönt 
in mir, die meinige tönt in dir wieder; und alle 
meine Gedanken, wenn sie nur wahr und 
gut sind, sind in dir gedacht. — In dir, dem 
Unbegreiflichen, werde ich mir selbst, und wird mir 
die Welt vollkommen begreiflich, alle Rätsel meines 
Daseins werden gelöst, und die vollendetste Harmonie 
entsteht in meinem Geiste." „Ich verhülle vor dir 
mein Angesicht, und lege die Hand auf den Mund. 
Wie du für dich selbst bist, und dir selbst erscheinst, 
kann ich nie einsehen, so gewifs ich nie du selbst 
werden kann. Nach tausendmal tausend durchlebten 
Geisterleben werde ich dich noch eben so wenig be- 
greifen als jetzt, in dieser Hülle von Erde." (Be- 
stimmung des Menschen, 3. Buch.) 

Wohin dieser Wille den Menschen zuletzt .führen 
will, das kann der Einzelne nicht wissen. Wer an 
diesen Willen glaubt, gesteht also damit, dafs er über 
die Endzwecke aeines Handelns nichts weifs. Die 
Ziele, die sich der Einzelne schafft, sind aber für 
einen solchen Gläubigen eines höheren Willens keine 
„wahren" Ziele. Er setzt somit an die Stelle der 
durch das Individuum geschaflfenen positiven Einzel- 
ziele einen Endzweck der ganzen Menschheit, dessen 
Gedankeninhalt aber ein Nichts ist. Ein solcher 
Gläubiger ist moralischer Nihilist. Er ist in der 
schlimmsten Art von Unwissenheit befangen , die 
sich erdenken läfst. Nietzsche wollte diese Art von 

Unwissenheit in einem besonderen Buche seines un- 

5* 



68 H. Der Übennenscb. 



vollendet gebliebenen Werkes „der Wille zur Macht** 
behandeln. (Vgl. Anhang zu Bd. VIII. der Gesamt- 
ausgabe von Nietzsches Werken.) 

Die Lobpreisung des moralischen Nihilismus finden 
wir wieder in Fichtes „Bestimmung des Menschen" 
(3. Buch): „Ich will nicht versuchen, was mir durch 
das Wesen der Endlichkeit versagt ist, und was mir 
zu nichts nützen würde; wie du an dir selbst bist, 
will ich nicht wissen. Aber deine Beziehungen und 
Verhältnisse zu mir, dem Endlichen, und zu allem 
Endlichen, liegen oflfen vor meinem Auge: werde ich, 
was ich sein soll ! — und sie umgeben mich in hellerer 
Klarheit, als das Bewufstsein meines eignen Daseins. 
Du wirkest in mir die Erkenntnis von meiner 
Pflicht, von meiner Bestimmung in der Reihe der 
vernünftigen Wesen; wie, das weifs ich nicht, noch 
bedarf ich es zu wissen. Du weifst und erkennst, 
was ich denke und will ; wie du wissen kannst, — durch 
welchen Akt du dieses Bewufstsein zu stände bringst, 
darüber verstehe ich nichts; ja ich weifs sogar 
sehr wohl, dafs der Begriff eines Akts, und eines be- 
sonderen Akts des Bewufstseins nur von mir gilt, 
nicht aber von dir, dem Unendlichen. Du willst, 
denn du willst, dafs mein freier Gehorsam Folgen 
habe in alle Ewigkeit; den Akt deines Willens 
begreife ich nicht; und weifs nur soviel, dafs er 
nicht ähnlich ist dem meinigen. Du thust, und dein 
Wille selbst ist That; aber deine Wirkungsweise ist 
der, die ich allein zu denken vermag, geradezu ent- 
gegengesetzt. Du lebest und bist, denn du weifst, 
willst und wirkest, allgegenwärtig der endlichen 
Vernunft; aber du bist nicht, wie ich alle 



n. Der Übermensch. QQ 



Ewigkeiten hindurch allein ein Sein werde 
denken können." 

Dem moralischen Nihilismus stellt Nietzsche die 
Ziele gegenüber, die der schaffende EinzelwiUe 
sich setzt. Den Lehrern der Ergebung ruft Zara- 
thustra zu: 

„Diese Lehrer der Ergebung. Überall hin, wo 
es klein und krank und grindig ist, kriechen sie hin, 
gleich Läusen; und nur mein Ekel hindert mich, sie 
zu knacken. 

Wohlan ! Dies ist meine Predigt für ihre Ohren : 
ich bin Zarathustra, der Gottlose, der da spricht: 
,wer ist gottloser denn ich, dafs ich mich seiner Unter- 
weisung freue?' 

Ich bin Zarathustra, der Gottlose: wo finde ich 
meinesgleichen? Und alle die sind meinesgleichen, 
die sich selber ihren Willen geben und alle 
Ergebung von sich abthun." 

2L 

Die starke Persönlichkeit, die Ziele schafft, 
ist rücksichtslos in der Ausiiihrung derselben. Die 
schwache Persönlichkeit dagegen führt nur das aus, 
wozu der Wille Gottes oder die „Stimme des Ge- 
wissens" oder der „kategorische Imperativ" Ja sagt. 
Was diesem Ja entspricht, bezeichnet der Schwache 
als gut, was diesem Ja zuwider ist als böse. Der 
Starke kann dieses „gut und bös" nicht anerkennen; 
denn er erkennt diejenige Macht nicht an, von der 
sich der Schwache sein Gutes und Böses bestimmen 
läfst Was er, der Starke, will, ist für ihn gut; er 



70 n. Der Übeniiensch. 

- 

führt es durch gegen alle widerstrebenden Mächte. 
Was ihn in dieser Durchführung stört, das sucht er 
zu überwinden. Er glaubt nicht, dafs ein „ewiger 
Weltwille" alle einzelnen Willensentschlüsse zu einer 
grofsen Harmonie lenkt; aber er ist der Ansicht, dafs 
alle menschliche Entwickelung aus den Willensimpulsen 
der Einzelpersönlichkeiten sich ergiebt, und dafs ein 
ewiger Krieg besteht zwischen den einzelnen Willens- 
äufserungen, in dem immer der stärkere Wille über 
den schwächeren siegt. 

Von den Schwachen und Mutlosen wird die starke 
Persönlichkeit, die sich selbst Gesetz und Zweck geben 
will, als böse, als sündhaft bezeichnet. Sie erregt 
Furcht, denn sie durchbricht die hergebrachten 
Ordnungen ; sie nennt wertlos, was die Schwachen ge- 
wohnt sind, wertvoll zu nennen, und sie erfindet 
Neues, vor ihr Unbekanntes, das sie als wertvoll be- 
zeichnet. „Jede individuelle Handlung, jede indivi- 
duelle Denkweise erregt Schauder; es ist gar nicht 
auszurechnen, was gerade die selteneren, ausgesuchteren, 
ursprünglicheren Geister im ganzen Verlauf der Ge- 
schichte dadurch gelitten haben müssen, dafs sie 
immer als die bösen und gefährlichen empfunden 
wurden, ja dafs sie sich selber so empfanden. 
Unter der Herrschaft der Sittlichkeit hat die Origi- 
nalität jeder Art ein böses Gewissen bekommen; bis 
diesen Augenblick ist der Himmel der Besten noch 
dadurch verdüsterter, als er sein müfste." (Morgen- 
röte § 9.) 

Der wahrhaft freie Geist fafst schlechthin erste 
Entschlüsse; der unfreie entscheidet sich nach dem 
Herkommen. „Sittlichkeit ist nichts anderes (also 



II. Der Übermensch. 71 



xiamentlich nicht mehr!), als Gehorsam gegen Sitten, 
welcher Art diese auch sein mögen; Sitten aber sind 
die herkömmliche Art zu handeln und abzu- 
schätzen" (Morgenröte § 9). Dieses Herkommen ist 
es , was von den Moralisten als „ewiger Wille", 
„kategorischer Imperativ" gedeutet wird. Jedes Her- 
kommen ist aber das Ergebnis der naturgemäfsen 
Triebe und Impulse einzelner Menschen , ganzer 
Stämme, Völker u. s. w. Es ist ebenso das Produkt 
natürlicher Ursachen, wie etwa die Witterungsverhält- 
nisse einzelner Gegenden. Der freie Geist erklärt 
sich durch dieses Herkommen nicht gebunden. Er 
hat seine individuellen Triebe und Impulse, und diese 
sind nicht weniger berechtigt als die der anderen. Er 
setzt diese Impulse in Handlungen um, wie eine Wolke 
Regen auf die Erdoberfläche sendet, wenn die Ur- 
sachen dazu vorhanden sind. Der freie Geist steht 
jenseits dessen, was das Herkommen als 
gut und böse ansieht. Er schafft sich selbst 
sein Gut und Böse. 

„Als ich zu den Menschen kam, da fand ich sie 
sitzen auf einem alten Dünkel : Alle dünkten sich 
lange schon zu wissen, was dem Menschen gut und 
böse sei. 

Eine alte müde Sache dünkte ihnen alles Reden 
von Tugend; und wer gut schlafen wollte, der sprach 
vor dem Schlafengehen noch von ,Gut und Böse^ 

Diese Schläferei störte ich auf, als ich lehrte: 
was gut und böse ist, das weifs noch niemand 
— es sei denn der Schaffende. 

Das aber ist der, welcher des Menschen Ziel 
schafft und der Erde ihren Sinn giebt und ihre 



72 II* I^er Übermensch. 



Zukunft: dieser erst schafft es^ dafs etwas gut 
und böse ist." (Zarathustra, 3. Teil, Von alten und 
neuen Tafeln.) 

Auch dann wenn der freie Geist handelt, wie es dem 
Herkommen gemäfs ist, dann thut er es, weil er die 
herkömmlichen Motive zu den seinigen machen will, 
und weil er es in bestimmten Fällen nicht für nötig 
hält, an die Stelle des Herkömmlichen etwas Neues 
zu setzen. 

22. 

Der Starke sucht in der Durchsetzung seines 
schaffenden Selbst seine Lebensaufgabe. Diese 
Selbstsucht unterscheidet ihn von den Schwachen, 
die in der selbstlosen Hingabe an das, was sie das 
Gute nennen, die Sittlichkeit sehen. Die Schwachen 
predigen die Selbstlosigkeit als die höchste Tugend. 
Ihre Selbstlosigkeit ist aber nur die Folge ihres 
Mangels an Schaffenskraft. Hätten sie ein schaffendes 
Selbst, so würden sie dieses auch durchsetzen wollen. 
Der Starke liebt den Krieg, denn er braucht den Krieg, 
um seine Schöpfungen gegen die widerstrebenden 
Mächte durchzusetzen. 

„Euren Feind sollt ihr suchen, euren Krieg sollt 
ihr führen und für eure Gedanken! Und wenn euer 
Gedanke unterliegt, so soll eure Redlichkeit darüber 
noch Triumph rufen! 

Ihr sollt den F*rieden lieben als Mittel zu neuen 
Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr als den 
langen. 

Euch rate ich nicht zur Arbeit, sondern zum 
Kampfe. Euch rate ich nicht zum Frieden, sondern 



n. Der Übermensch. 



73 



tsum Siege. Eure Arbeit sei ein Kampf, euer Friede 
ein Sieg! 
Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den 

KSrieg heilige? Ich aber nage euch; der gute Krieg 

lifit es, der jede Sache heiligt. 

Der Krieg und der Mut haben mehr grofse Dinge 
gethan , als die Nächstenliebe, Nicht euer Mitleiden, 
sondern eure Tapferkeit rettete bisher die Verun- 
glückten." (Zarathustra, 1. Teil. Vom Krieg und 

1 Kriegavolke.) 

I Unerbittlich und ohne Schonung des Wider- 

atrebenden handelt der Schaffende. Er kennt nicht 
die Tugend der Leidenden: das Mitleid, Aus seiner 
Kraft kommen die Antriebe des Schaffenden, nicht aus 
dem Gefühle des fremden Leidens. Dafs die Kraft 
siege, dafllr setzt er sich ein, nicht dafs das Leidende, 
Schwache gepflegt werde. Schopenhauer hat die ganze 

, Welt fUr oin Lazarett erklärt, und die aus dem Mit- 
gefühle mit den Leidenden entspringenden Handlungen 
r die höchsten Tugenden. Er hat damit die Moral 
pdes Christentums in anderer Form ausgesprochen, als 
idieses selbst es tliut. Der Schaffende fühlt sich nicht 
gerufen. Kranken Wärter dienste zu verrichten. Die 
Tüchtigen, Gesunden können nicht um der Schwachen, 

|£ranken willen da sein. Das Mitleid schwächt die 
Kraft, den Mut, die Tapferkeit. 

Das Mitleid sucht gerade das zu erhalten, was 
der Starke überwinden will,- die.Schwäche, das Leiden. 

ISDer Sieg des Starken über das .Schwache ist der 

JSinn aller menschlichen, wie aller natürlichen Ent- 
Tfickelung. „Leben selbst ist wesentlich An- 
eignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und 



74 II* I^f Übermensch. 



Schwächeren, Unterdrückung , Härte, Au£swängung 
eigener Formen, Einverleibung und. mindestens, 
mildestens, Ausbeutung/ (Jenseits von Gut und Böse 
§ 259.) 

„Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Uner- 
bittliche: wie könntet ihr mit mir — siegen? 

Und wenn eure Härte nicht blitzen und scheiden 
und zerschneiden will: wie könntet ihr einst mit mir 
— schaffen? 

Die Schaffenden nämlich sind hart. Und Selig- 
keit mufs es euch dünken, eure Hand auf Jahrtausende 
zu drucken wie auf Wachs, — 

— Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden 
zu schreiben wie auf Erz, — härter als Erz, edler 
als Erz. Ganz hart ist allein das Edelste. 

Diese neue Tafel, o meine Brüder, stelle ich über 
euch: werdet hart." (Zarathustra, 3. Teil. Von alten 
und neuen Tafeln.) 

Der freie Geist macht keinen Anspruch auf Mit- 
leid. Wer ihn bemitleiden wollte, den müfste er 
fragen: hältst du mich flir so schwach, dafs ich mein 
Leid nicht selbst tragen kann? Ihm geht jedes Mit- 
leid gegen die Scham. Nietzsche bringt den Wider- 
willen des Starken gegen das Mitleiden im vierten 
Teil seines „Zarathustra** zur Anschauung. Zara- 
thustra kommt auf seinen Wanderungen in ein Thal, 
das „Schlangentod" heilst. Kein Lebewesen findet 
sich hier. Nur eine Art häfslicher grüner Schlangen 
kommt hierher, um zu sterben. Dieses Thal hat der 
„häfslichste Mensch" aufgesucht. Dieser will von 
keinem Wesen gesehen werden wegen seiner Häfs- 
lichkeit. In diesem Thal sieht ihn niemand aulser 



II. Der Übermensch. 75 



Gott. Aber auch dessen Anblick kann er nicht er- 
tragen. Das Bewufstsein, dafs Gottes Blicke in alle 
Räume dringen, ist ihm zur Last. Er hat deshalb 
Gott getötet, d. h. er hat den Glauben an Gott in 
sich ertötet. Er ist zum Atheisten geworden wegen 
seiner Häfslichkeit. Als Zarathustra diesen Menschen 
sieht, überfällt ihn noch einmal das, was er für immer 
in sich getilgt zu haben glaubt: das Mitleid mit der 
furchtbaren Häfslichkeit. Dies ist eine Versuchung 
Zarathustras. Er weist aber das Gefühl des Mitleids 
bald zurück und wird wieder hart. Der häfslichste 
Mensch sagt zu ihm: Deine Härte ehrt meine Häfs- 
lichkeit. Ich bin zu reich an Häfslichkeit, um irgend 
eines Menschen Mitleid zu ertragen. Mitleid geht 
gegen die Scham. 

Wer Mitleid braucht, kann nicht allein stehen, 
und der freie Geist will vollständig auf sich selbst 
gestellt sein. 

23. 

Mit der Aufzeigung des natürlichen Willens zur 
Macht als Ursache der menschlichen Handlungen 
geben sich die Schwachen nicht zufrieden. Sie suchen 
nicht blofs nach natürlichen Zusammenhängen in der 
Menschenentwickelung , sondern sie suchen das Ver- 
hältnis der menschlichen Handlungen zu dem, was 
sie als den „Willen an sich", die „ewige, sittliche 
Weltordnung** nennen. Wer dieser Weltordnung zu- 
widerhandelt, dem sprechen sie eine Schuld zu. 
Und sie begnügen sich auch nicht damit, eine Hand- 
lung nach ihren natürlichen Folgen zu bewerten, 
sondern sie machen den Anspruch darauf, dafs eine 



76 II- I^r Übermensch. 

schuldvolle Handlung auch moralische Folgen^ Strafen 
nach sich ziehe. Sie nennen sich selbst schuldig, wenn 
sie ihr Handeln mit der sittlichen Weltordnung nicht in 
Übereinstimmung finden ; sie wenden sich mit Abscheu 
von dem Quell des Bösen in sich ab und nennen dies 
Gefühl böses Gewissen. Alle diese Begriffe läfst 
die starke Persönlichkeit nicht gelten. Sie kümmert 
sich nur um die natürlichen Folgen ihrer Handlungen. 
Sie fragt: wieviel ist meine Handlungsweise für das 
Leben wert? Entspricht sie dem, was ich gewollt 
habe? Der Starke kann sich grämen, wenn ihm eine 
Handlung fehlschlägt, wenn das Resultat seinen Ab- 
sichten nicht entspricht. Aber er klagt sich nicht an. 
Denn er mifst seine Handlungsweise nicht an aufser- 
natürlichen Mafsstäben. Er weifs, dafs er so handelt, 
wie es seinen natürlichen Trieben entspricht, und 
kann höchstens bedauern, dafs diese nicht besser sind. 
Ebenso hält er es mit der Beurteilung fremder Hand- 
lungen. Ein moralisches Abschätzen der Hand- 
lungen kennt er nicht. Er ist Immoralist. 

Was das Herkommen als böse bezeichnet, sieht 
der Immoralist ebenso als Ausflufs menschlicher In- 
stinkte an, wie das Gute. Die Strafe gilt ihm nicht 
als moralisch bedingt, sondern nur als ein Mittel, 
Instinkte gewisser Menschen, die andern schädlich 
sind, auszurotten. Die Gesellschaft straft nach An- 
sicht des Inmioralisten nicht deswegen, weil sie ein 
„moralisches Recht" hat, die Schuld zu sühnen, son- 
dern allein, weil sie sich stärker erweist, als der Ein- 
zelne, welcher der Gesamtheit widerstrebende Instinkte 
hat. Die Macht der Gesellschaft steht gegen die Macht 
des Einzelnen. Dies ist der natürliche Zusammenhang 



n. DeT Übermensoh. 



77 



einer „bösen" Handlung des Einzelnen mit der Recht- 
sprechung der Ge8ellschaft und der Bestrafung dieses 
Einzelnen. Ea ist der Wille zur Macht, d.h. zum 
Ausleben jener Instinkte, die bei der Mehrzahl der 
Menschen vorhanden sind, der sich in der Hechtspflege 
einer Gesellschaft äufsert. Der Sieg einer Mehrheit über 
einen Einzelnen ist jede Bestrafung. Siegte der Einzelne 
über die Gesellschaft, so müfste seine Handlungsweise 
als gut, die der andern als böse bezeichnet werden. 
Das jeweilige Recht drückt nur aus, was die Gesell- 
schaft eben als die beste Grundlage ihres Willens zur 
Macht anerkennt. 

24. 

Weil Nietzsche in der menschlichen Handlungs- 
weise nur einen Ausflufs der Instinkte sieht, und diese 
letzteren bei verschiedenen Menschen verschieden sind, 
scheint es ihm notwendig, dafs auch deren Handlungs- 
weisen verschieden sind. Nietzsche ist deshalb ein 
entschiedener Gegner des demokratischen Grundsatzes: 
Gleiche Rechte und gleiche Pflichten für alle. Die 
Menschen sind ungleich, deshalb müssen auch ihre 
Bechte und Pflichten ungleich sein, Der natUrliclie Gang 
der Weltgeschichte wird stets starke und schwache, 
Bohaffende und unfruchtbare Menschen aufweisen. Und 
die Starken werden immer dazu berufen sein, den 
Schwachen die Ziele zu bestimmen. Ja noch mehr: die 
Starken werden sich der Schwachen als Mittel zum 
Zwecke, d. h. als Sklaven bedienen. Nietzsche spricht 

ItUrlich nicht von einem „moralischen" Recht der 
trken zur Haltung von Sklaven. „Moralische" Rechte 
cennt er nicht an. Sondern er ist der Meinung, dafs 



78 H. Der Übermensch. 

die Überwindung des Schwächeren durch den Stärkeren, 
die er für das Princip alles Lebens hält, notwendig 
zur Sklaverei führen mufs. 

Es ist auch natürlich, dafs sich der Überwundene 
gegen den Überwinder auflehnt. Wenn diese Auf- 
lehnung sich nicht durch die That äufsern kann, so 
äufsert sie sich wenigstens im Gefühle. Und der 
Ausdruck dieses Gefühles ist die Rache, die stets 
in den Herzen derer wohnt, die in irgend einer Weise 
von den besser Veranlagten überwunden worden sind. 
Als Ausflufs dieser Rache sieht Nietzsche die moderne 
socialdemokratische Bewegung an. Der Sieg dieser 
Bewegung würde ihm eine Erhöhung der Mifsratenen, 
Ubel-Weggekommenen zu Ungunsten der Besseren 
sein. Gerade das Gegenteil strebt Nietzsche an: die 
Pflege der starken, selbstherrlichen Persönlichkeit. 
Und er hafst die Sucht, die alles gleich machen 
und die souveräne Individualität in dem Meere der 
allgemeinen Mittelmäfsigkeit verschwinden lassen will. 

Nicht alle sollen dasselbe haben und genie&en, 
meint Nietzsche, sondern jeder soll haben und ge- 
niefsen, was er nach Mafsgabe seiner persönlichen 
Stärke erreichen kann. 

25. 

Was der Mensch wert ist, hängt allein von dem 
Wert seiner Instinkte ab. Durch nichts anderes kann 
der Wert des Menschen bestimmt werden. Man spricht 
von dem Werte der Arbeit. Die Arbeit soll den 
Menschen adeln. Aber die Arbeit hat an sich gar 
keinen Wert. Nur dadurch, dafs sie dem Menschen 
dient, erhält sie einen Wert. Nur insofern sich die 



II. Der Übermensch. 79 



Arbeit als natürliche Folge der menschlichen Nei- 
gungen darstellt, ist sie des Menschen würdig. Wer 
sich zum Diener der Arbeit macht, entwürdigt sich. Nur 
der Mensch, der nicht sich selbst seinen Wert be- 
stimmen kann, sucht diesen Wert an der Gröfse seines 
Werkes abzumessen. Es ist charakteristisch für das 
demokratische Bürgertum der neueren Zeit, dafs es 
in der Wertbemessung des Menschen sich nach dessen 
Arbeit richtet. Sogar Goethe ist von dieser Gesinnung 
nicht frei. Läfst er doch seinen Faust die volle 
Befriedigung in dem Bewufstsein gethaner Arbeit 

finden. 

26. 

Auch die Kunst hat nach Nietzsches Meinung 
nur Wert, wenn sie dem Leben des Einzelmenschen 
dient. Auch hier vertritt Nietzsche die Ansicht der 
starken Persönlichkeit und lehnt alles ab, was die 
schwachen Instinkte über die Kunst aussprechen. 
Fast alle deutschen Ästhetiker vertreten den Stand- 
punkt der schwachen Instinkte. Die Kunst soll ein 
„Unendliches" im „Endlichen", ein „Ewiges" im „Zeit- 
lichen", eine „Idee" in der „Wirklichkeit" darstellen. 
Für Schelling z. B. ist alle sinnliche Schönheit nur 
ein Abglanz jener unendlichen Schönheit, die wir 
nie mit den Sinnen wahrnehmen können. Das Kunst- 
werk ist nicht um seiner selbst willen und durch das, 
was es ist, schön, sondern weil es die Idee der 
Schönheit abbildet. Das sinnliche Bild ist nur ein 
Ausdrucksmittel, nur die Form für einen übersinn- 
lichen Inhalt. Und Hegel nennt das Schöne „das 
sinnliche Scheinen der Idee". Ähnliches kann man 
auch bei den andern deutschen Ästhetikern finden. 



80 !!• I^ei* Übennensch. 

Für Nietzsche ist die Kunst ein lebenforderndes Ele- 
ment, und nur, wenn sie dieses ist, hat sie Berech- 
tigung. Wer das Leben, wie er es unmittelbar wahr- 
nimmt, nicht ertragen kann, der formt es sich nach 
seinem Bedürfiiisse um, und damit schafft er ein 
Kunstwerk. Und was will der Geniefsende vom 
Kunstwerk? Er will Erhöhung seiner Lebensfreude, 
Stärkung seiner Lebenskräfte, Befriedigung von Be- 
dürfiiissen, die ihm die Wirklichkeit nicht befriedigt. 
Aber er will, wenn sein Sinn auf das Wirkliche ge- 
richtet ist, nicht durch das Kunstwerk den Abglanz 
des Göttlichen, Überirdischen erblicken. Hören wir, 
wie Nietzsche den Eindruck schildert, den Bizets 
Carmen auf ihn gemacht: „Ich werde ein besserer 
Mensch, wenn mir dieser Bizet zuredet. Auch ein 
besserer Musikant, ein besserer Zuhörer. Kann man 
überhaupt noch besser zuhören ? — Ich vergrabe meine 
Ohren noch unter diese Musik, ich höre deren Ur- 
sache. Es scheint mir, dafs ich ihre Entstehung er- 
lebe — ich zittere vor Gefahren, die irgend ein Wagnis 
begleiten, ich bin entzückt über GlücksMle^ an denen 
Bizet unschuldig ist. — Und seltsam! im Grunde 
denke ich nicht daran, oder weifs es nicht, wiesehr 
ich daran denke. Denn ganz andere Gedanken laufen 
mir während dem durch den Kopf . . . Hat man be- 
merkt, dafs die Musik de^ Geist frei macht? dem 
Gelehrten Flügel giebt? dafs man umsomehr Philo- 
soph wird, je mehr man Musiker wird? — Der graue 
Himmel der Abstraktion wie von Blitzen durchzuckt; 
das Licht stark genug für alles Filigran der Dinge; 
die grofsen Probleme nahe zum Greifen; die Welt 
wie von einem Berge aus überblickt. — Ich definierte 



II. Der Übermensch. 81 



eben das philosophische Pathos. — Und unversehens 
fallen mir Antworten in den Schofs, ein kleiner Hagel 
von Eis und Weisheit, von gelösten Problemen . . 
Wo bin ich? — Bizet macht mich fruchtbar. Alles Gute 
macht mich fruchtbar. Ich habe keine andere Dankbar- 
keit, ich habe auch keinen andern Beweis dafür, was 
gut ist" — (Fall Wagner § 1.) Weil Richard Wagners 
Musik eine solche Wirkung nicht auf ihn machte, des- 
halb lehnte sie Nietzsche ab: „Meine Einwände gegen die 

Musik Wagners sind physiologische Einwände 

Meine Thatsache, mein petit fait vrai ist, dafs ich 
nicht mehr leicht atme, wenn diese Musik erst auf 
mich wirkt; dafs alsbald mein Fufs gegen sie böse 
wird und revoltiert: er hat das Bedürfnis nach Takt, 
Tanz, Marsch ... er verlangt von der Musik vorerst 
die Entzückungen, welche in gutem Gehen, Schreiten, 
Tanzen liegen. Protestiert aber nicht auch mein Magen ? 
mein Herz? mein Blutlauf? betrübt sich nicht mein 
Eingeweide? Werde ich nicht unversehens heiser da- 
bei? Und so frage ich mich: was will eigentlich 
mein ganzer Leib von der Musik überhaupt? . . . Ich 
glaube, seine Erleichterung: wie als ob alle anima- 
lischen Funktionen durch leichte, kühne, ausgelassene, 
selbstgewisse Rhythmen beschleunigt werden sollten; 
wie als ob das eherne, bleierne Leben durch goldene, 
zärtliche, ölgleiche Melodieen seine Schwere verlieren 
sollte. Meine Schwermut will in den Verstecken und 
Abgründen der Vollkommenheit ausruhen: dazu 
brauche ich Musik." (Nietzsche kontra Wagner. Kap.: 
Wo ich Einwände mache.) — 

Im Anfange seiner schriftstellerischen Laufbahn 
täuschte sich Nietzsche über das, was seine Instinkte 

Steiner, Friedrich Nietzsche. 6 



82 ^^' ^^^ Übermensch. 



von der Kunst verlangen, deshalb v/ar er damals ein 
Anhänger Wagners. Er hat sich durch das Studium der 
Schopenhauerschen Philosophie zum Idealismus ver- 
führen lassen. Er glaubte einige Zeit hindurch an den 
Idealismus und täuschte sich künstliche Bedürfnisse, 
ideale Bedürfnisse vor. Erst im weiteren Verlaufe seines 
Lebens merkte er, dafs aller Idealismus seinen Trieben 
gerade entgegengesetzt ist. Er wurde nun aufrichtiger 
gegen sich selbst. Er sprach aus, wie er selbst empfand. 
Und das konnte nur zur vollständigen Ablehnung von 
Wagners Musik führen, die ja immer mehr den aske- 
tischen Charakter annahm, den wir bereits als Kenn- 
zeichen von Wagners letztem Wirkensziel aufgeführt 
haben. 

Die Ästhetiker, die es der Kunst zur Aufgabe 
machen, die Idee zu versinnlichen, das Göttliche zu 
verkörpern, vertreten auf diesem Gebiete eine ähnliche 
Ansicht wie die philosophischen Nihilisten auf dem 
Gebiete der Erkenntnis und der Moral. Sie suchen in 
den Kunstobjekten ein Jenseitiges, das sich aber vor 
dem Wirklichkeitssinn in ein Nichts auflöst. Es 
giebt auch einen ästhetischen Nihilismus. 

Diesem steht die Ästhetik der starken Persönlichkeit 
gegenüber, die in der Kunst ein Abbild der Wirklich- 
keit, eine höhere Wirklichkeit sieht, die der Mensch 
lieber geniefst als die Alltäglichkeit. 

27. 

Zwei Menschentypen stellt Nietzsche einander 
gegenüber: den Schwachen und den Starken. Der 
erstere sucht die Erkenntnis als einen objektiven That- 



II. Der Übennenioh. 



SS 



de 

K 



bestand, der von der Aiifaeawelt in seinen Geist ein- 
fliefsen soll. Er läfst sich sein Gutes und Böses von 
einem „ewigen Weltwillen" oder einem „kategorischen 
Imperativ" diktieren. Er bezeichnet jede nicht von 
diesem Weltwillen, sondern nur von dem schöpferischen 
Eigenwillen bestimmte Handlung als Sünde, die eine 
moraliache Strafe nach sich ziehen mufs. Er möchte für 
alle Menschen gleiche Rechte dekretieren und den Wert 
des Menschen nach einem äufsern Mafastabe bestimmen. 
Ir möchte endlich in der Kunst ein Abbild des Gött- 
ichen, eine Kunde aus dem Jenseits erblicken. Der 
itarke dagegen sieht alle Erkenntnis als den Aus- 
druck des Willens zur Macht an. Er sucht durch 
die Erkenntnis die Dinge denkbar und sich dadurch 
unterthan zu machen. Er weifs, dafs er selbst der 
Schöpfer der Wahrheit ist; dafs niemand als er selbst 
sein Gutes und sein Böses schaffen kann. Er betrachtet 
die Handlungen des Menschen als Folgen natürlicher 
Triebe und läfst sie gelten als Naturereignisse, die niemals 
als Sünden zu betrachten sind und nicht eine moralische 
Verurteilung verdienen. Ersucht den Wert des Menschen 
der Tüchtigkeit seiner Instinkte, Einen Menschen mit 
[en Instinkten für Gesundheit, Geist, Schönheit, Aus- 
;uer, Vornehmheit achätzt er höher als einen aolchen 
t den Instinkten für Schwäche, Häfslichkeit , Skla- 
rei. Er beurteilt ein Kunstwerk nach dem Grade, 
dem es zur Steigerung seiner Kräfte beiträgt. 

Diesen letzteren Menschentypus versteht Nietzsche 
iter seinem Übermenschen. Solche Übermenschen 
Lonnten bisher nur durch das Zusammentreffen zu- 
iliger Umstände entstehen. Ihre Eutwickelung zum 
lewufsten Ziele der Menschheit zu machen, ist die Ab- 



84 U* ^^^ Übeimensch. 



sieht, die Zarathustra hat. Man sah bisher das Ziel der 
menschlichen Entwickelung in irgendwelchen Idealen. 
Hier hält Nietzsche eine Änderung der Anschauungen für 
nötig. Der „höherwertige Typus ist oft genug schon da- 
gewesen: aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, 
niemals als gewollt. Vielmehr ist er gerade am besten 
gefurchtet worden, er war bisher beinahe das Furcht- 
bare; — und aus der Furcht heraus wurde der um- 
gekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht: das 
Haustier, das Herdentier, das kranke Tier Mensch, — 
der Christ ..." (Antichrist § 3). 

Zarathustras Weisheit soll diesen Übermenschen, 
zu dem jener andere Typus nur ein Übergang ist, 
lehren. 

Nietzsche nennt diese Weisheit eine dionysische. 
Es ist eine Weisheit, die nicht dem Menschen von 
aufsen gegeben wird; es ist eine selbstgeschaffene 
Weisheit. Der dionysische Weise forscht nicht; er 
schafft. Er steht nicht als Betrachter auTser der Welt, 
die er erkennen will; er ist Eins geworden mit seiner 
Erkenntnis. Er sucht nicht nach einem Gotte; was 
er sich noch als göttlich vorstellen kann, ist nur Er 
selbst als Schöpfer seiner eigenen Welt. Wenn dieser 
Zustand auf alle Kräfte des menschlichen Organis- 
mus sich erstreckt, so giebt das den dionysischen 
Menschen, dem es unmöglich ist, irgend eine 
Suggestion nicht zu verstehen; er übersieht kein 
Zeichen des Affekts, er hat den höchsten Grad des 
verstehenden und erratenden Instinktes, wie er den 
höchsten Grad von Mitteilungskunst besitzt Er geht 
in jede Haut, in jeden Affekt ein : er verwandelt sich 
beständig. Dem dionysischen Weisen steht der blolse 



Betrachter gegenüber, der sich immer auTserhalb seiner 
Erkenn tnisobjekte etehend glaubt , alB objektiver, 
leidender Zuschauer. Dem dionysischen Menschen steht 
der apoUiniHche gegenüber, der „vor allem das 
Äuge erregt hält, sodars es die Kraft der Vision be- 
kommt". Visionen, Bilder von Dingen, die jenseits 
der Mens eben- Wirklichkeit stehen, erstrebt der apolli- 
nische Geist, nicht eine durch ihn selbst geschaffene 
"Weisheit, 
I 28. 



Die apollinische Weisheit hat den Charakter" des 
Ernstes. Sie empfindet die Herrschaft des Jenseits, 
das sie nur im Bilde besitzt , als einen schweren 
Druck, als eine ihr widerstrebende Macht. Ernst ist 
[ie apollinische Weisheit, denn sie glaubt sich im 

iesitze einer Kunde aus dem Jenseits, wenn diese 
•amch nur durch Bilder, Visionen vermittelt sein soll. 
Schwer beladen mit seiner Erkenntnis wandelt der 
apollinische Geist einher, denn er trägt eine Bürde, 
die aus einer andern Welt stammt. Und den Aus- 
druck der Würde nimmt er au, denn vor den Kund- 
gebungen des Unendlichen mufs jedes Lachen ver- 
itununen. 

Dieses Lachen aber charakterisiert den dionysi- 

ihen Geist, Er weifs, dafs alles, was er Weisheit 
nennt, nur seine Weisheit ist, von ihm erfunden, um 
sich das Leben leicht zu machen. Nur dieses Eine 
soll ja seine Weisheit sein: ein Mittel, das ihm 
erlaubt, zum Leben Ja zu sagen. Dem dionysischen 
Menschen ist der Geist der Schwere zuwider, weil er 
das Leben nicht erleichtert, sondern niederdrückt. Die 




86 n. Der Übermensch. 

selbstgeschafFene Weisheit ist eine heitere Weisheit^ 

denn wer sich selbst seine Bürde schafft, der schafft 

sich nur eine solche, die er auch leicht tragen kann. 

Mit der selbstgeschaffenen Weisheit bewegt sich der 

dionysische Geist leicht durch die Welt wie ein Tänzer. 

„Dafs ich aber der Weisheit gut bin und oft 

zu gut: das macht, sie erinnert mich gar sehr an 

das Leben! 

Sie hat ihr Auge, ihr Lachen und sogar ihr 
goldnes Angelrütchen : was kann ich dafür, dafs 
die beiden sich so ähnlich sehen?" 

„In dein Auge schaute ich jüngst, o Leben: 
Gold sah ich in deinem Nachtauge blinken, — mein 
Herz stand still vor dieser Wollust: 

— einen goldenen Kahn sah ich blinken auf 
nächtigen Gewässern, einen sinkenden, trinkenden^ 
wieder winkenden goldenen Schaukelkahn! 

Nach meinem Fufse, dem tanzwütigen, warfst 
du einen Blick, einen lachenden, fragenden^ 
schmelzenden Schaukelblick : 

zweimal nur regtest du deine lOapper mit 
kleinen Händen — da schaukelte mein Fufs vor 
Tanzwut. — 

Meine Fersen bäumten sich, meine Zehen 
horchten, dich zu verstehen: doch trägt der Tänzer 
sein Ohr — in seinen Zehen!" 

(Zarathustra 2. u. 3. Teil. Die Tanzlieder.) 



29. 

Weil der dionysische Geist aus sich selbst alle 
Antriebe seines Thuns entnimmt und keiner äufserea 



II. Der Ubennensch. 87 



Macht gehorcht, ist er ein freier Geist. Denn ein 
freier Geist ist derjenige, der nur seiner Natur folgt. 
Nun ist allerdings in Nietzsches Werken nur die Rede 
von Instinkten als den Antrieben des freien Geistes. 
Ich glaube, dafs hier Nietzsche mit einem Namen eine 
Reihe von Antrieben zusammengefafst hat, die eine 
mehr ins Einzelne gehende Betrachtung erfordern. 
-Nietzsche nennt Instinkte sowohl die bei den Tieren 
vorhandenen Triebe zur Ernährung und Selbst- 
erhaltung, wie auch die höchsten Antriebe Tcier mensch- 
lichen Natur, z. B. den Erkenntnistrieb, den Trieb, 
nach sittlichen Mafsstäben zu handeln, den Trieb, sich 
an Kunstwerken zu ergötzen u. s. w. Nun sind zwar 
alle diese Triebe Aufserungsformen einer und der- 
selben Grundkraft. Aber sie stellen doch verschiedene 
Stufen in der Entwickelung dieser Kraft dar. Die 
moralischen Antriebe z. B. sind eine besondere Stufe 
der Instinkte. Wenn auch zugegeben werden kann, 
dafs sie nur höhere Formen sinnlicher Instinkte 
sind, so treten sie doch im Menschen auf eine beson- 
dere Art ins Dasein. Dies zeigt sich darin, dafs es 
dem Menschen möglich ist, Handlungen zu vollführen, 
die nicht unmittelbar auf sinnliche Instinkte zurück- 
zuführen sind, sondern nur auf jene Antriebe, die 
eben als höhere Formen des Instinktes zu bezeichnen 
sind. Der Mensch schafft sich Antriebe seines Han- 
delns, die nicht aus seinen sinnlichen Trieben abzu- 
leiten sind, sondern nur aus dem bewufsten Denken. 
Er setzt sich individuelle Zwecke vor, aber er setzt sich 
diese mit Bewufstsein vor. Und es ist ein grofser 
Unterschied, ob er einem unbewufst entstandenen und 
erst hinterher in das Bewufstsein aufgenommenen In- 



88 II« Der Übermensch. 



stinkte oder einem Gedanken folgt, den er von vorn- 
herein mit vollem Bewufstsein produziert hat. Wenn 
ich esse, weil mein Nahrungstrieb mich drängt, so ist 
dies etwas wesentlich anderes, als wenn ich eine mathe- 
matische Aufgabe löse. Die denkende Erfassung der 
Welterscheinungen stellt eine besondere Form des 
allgemeinen Wahrnehmungsvermögens dar. Sie unter- 
scheidet sich von der blofsen sinnliehen Wahrnehmung. 
Dem Menschen sind nun die höheren Entwickelungs- 
formen des-Instinktlebens ebenso natürlich wie die nie- 
deren. Stehen beide nicht im Einklänge, dann ist er 
zur Unfreiheit verurteilt. Es kann der Fall eintreten, 
dafs eine schwache Persönlichkeit mit vollkonmien ge- 
sunden sinnlichen Instinkten nur schwache geistige 
Instinkte hat. Dann wird sie zwar in Bezug auf ihr 
Sinnenleben ihre eigene Individualität entfalten, aber 
die gedanklichen Antriebe ihres Handelns wird sie aus 
dem Herkommen entlehnen. Es kann eine Dishar- 
monie beider Triebwelten entstehen. Die sinnlichen 
Triebe drängen zum Ausleben der eigenen Persönlich- 
keit, die geistigen Antriebe stehen in dem Banne einer 
äufsern Autorität. Das Geistesleben einer solchen 
Persönlichkeit wird von den sinnlichen, das sinn- 
liche Leben von den geistigen Instinkten tyrannisiert. 
Denn beide Gewalten gehören nicht zusammen, sind 
nicht aus einer Wesenheit erwachsen. Zur wirklich 
freien Persönlichkeit gehört also nicht nur ein gesund 
entwickeltes individuelles sinnliches Triebleben, son- 
dern auch die Fähigkeit, sich die gedanklichen An- 
triebe für das Leben zu schaflfen. Erst derjenige 
Mensch ist vollkommen frei, der auch Gedanken 
produzieren kann, die zum Handeln führen. Ich habe 



das Vermögen, rein gedanldichö Triebfedern des 
Handelns zu schaffen, in meiner Schrift ,Die Philo- 
sophie der Freiheit" (Weimar, Emil Fclber 1894) die 
„moralische Phantasie" genannt. Nur wer diese mora- 
llische Phantasie hat, ist wirklich frei, denn der 
F Mensch niufs nach hewnfsten Triebfedern handeln. 
Und wenn er solche nicht selbst produzieren kann, 
dann mufs er sich dieselben von äufseren Autoritäten 
oder von dem in Form der GewisseDsstimme in ihm 
sprechenden Herkommen geben lassen. Ein Mensch, 
der sich blofs seinen sinnlichen Instinkten überläfst, 
handelt wie ein Tier; ein Mensch, der seine sinn- 
lichen Instinkte unter fremde Gedanken stellt, handelt 
I anfrei; erst der Mensch, der sich selbst seine mora- 
P lisch en Ziele schafft, handelt frei. Die moralische 
Phantasie fehlt in Nietzaches Ausführungen. Wer 
dessen Gedanken zu Ende denkt, muis notwendig auf 
dieaen Begriff kommen. Aber andererseits ist es auch 
eine unbedingte Notwendigkeit, dafs dieser Begriff der 
Kietzsch eschen Weltanschauung eingefligt wird. Sonst 
k&nnte gegen dieselbe immerfort eingewendet werden : 
Zwar ist der dionysische Mensch kein Knecht des 
l^erkommens oder des jjenseitigen Willens", aber er 
^ist ein Knecht seiner eigenen Instinkte. 

Nietzsche hat seinen Blick auf das Ursprüngliche, 
srsönliche im Menschen gerichtet. Er suchte 
[ dieses Eigenpersönliche herauszulösen aus dem Mantel 
des Unpersönlichen, in den es eine wirklichkeitsfeind- 
liche Weltanschauung eingehtiUt hat. Aber er ist nicht 
daau gekommen, die Stufen des Lebens innerhalb der 
Persönlichkeit selbst zu unterscheiden. Er bat des- 
lalb die Bedeutung des Bewufstseins fiir die mensch- 




90 II. Der Übermensch. 



liehe Persönlichkeit unterschätzt. „Die Bewufstheit 
ist die letzte und späteste Entwicklung des Organi- 
schen und folglich auch das Unfertigste und Unkräf- 
tigste daran. Aus der Bewufstheit stammen unzählige 
Fehlgriffe, welche machen, dafs ein Tier, ein Mensch 
zu Grunde geht, früher als es nötig wäre, „über da» 
Geschick", wie Homer sagt. Wäre nicht der er- 
haltende Verband der Instinkte so überaus viel mäch- 
tiger, diente er nicht im ganzen als Regulator: an 
ihrem verkehrten Urteilen und Phantasieren mit offenen 
Augen, an ihrer Ungründlichkeit und Leichtgläubig- 
keit, kurz eben an ihrer Bewufstheit müfste die Mensch- 
heit zu Grunde gehen," sagt Nietzsche (Fröhliche 
Wissenschaft § 11). 

Dies ist zwar durchaus zuzugeben; aber nicht 
minder wahr ist es, dafs der Mensch nur insoweit 
frei ist, als er sich gedankliche Triebfedern seines 
Handelns innerhalb des Bewufstseins schaffen 
kann. 

Die Betrachtung der gedanklichen Triebfedern 
führt aber noch weiter. Es ist eine Thatsache der 
Erfahrung, dafs diese gedanklichen Triebfedern, die die 
Menschen aus sich heraus produzieren, bei den ein- 
zelnen Individuen doch bis zu einem gewissen Grade 
eine Übereinstimmung zeigen. Auch wenn der einzelne 
Mensch ganz frei aus sich heraus Gedanken schafft, 
so stimmen diese in gewisser Weise mit den Gedanken 
anderer Menschen überein. Daraus folgt für den 
Freien die Berechtigung, anzunehmen, dafc die Har- 
monie in der menschlichen Gesellschaft von selbst ein- 
tritt, wenn sie aus souveränen Individuen besteht. Er 
kann diese Meinung dem Verteidiger der Unjfreiheit 



II. Der Übermensch. 91 



gegenüberstellen, der glaubt, dafs die Handlungen 
einer Mehrheit von Menschen nur zusammenstimmen, 
wenn sie durch eine äufsere Gewalt nach einem ge- 
meinsamen Ziele hingelenkt werden. Der freie Geist 
ist deshalb durchaus kein Anhänger jener Ansicht, 
welche die tierischen Triebe absolut frei walten lassen 
und alle gesetzlichen Ordnungen deshalb abschaffen 
will. Aber er verlangt absolute Freiheit für diejenigen, 
die nicht blofs ihren tierischen Instinkten folgen wollen, 
sondern die imstande sind, moralische Triebfedern, 
ihr eigenes Gutes und Böses, zu schaffen. 

Nur wer Nietzsche nicht so weit durchdrungen 
hat, dafs er die letzten Konsequenzen von dessen Welt- 
anschauung zu ziehen vermag, trotzdem sie Nietzsche 
nicht selbst gezogen hat, kann in ihm einen Menschen 
sehen, der „mit einer gewissen stilistischen Wollust 
zu enthüllen den Mut gefunden hat, was bisher etwa 
im geheimsten Seelengrunde grandioser Verbrecher- 
typen .... verborgen gelauert haben mag" (Ludwig 
Stein, Friedrich Nietzsches Weltanschauung und ihre 
Gefahren S. 5). Noch immer ist die Durchschnitts- 
bildung eines deutschen Professors nicht so weit, das 
Grofse einer Persönlichkeit von deren kleinen Irr- 
tümern abzutrennen. Sonst könnte man es nicht 
erleben, dafs die Kritik eines solchen Professors gerade 
gegen diese kleinen Irrtümer sich richtet. Ich denke, 
wahrhafte Bildung nimmt das Grofse einer Persönlich- 
keit auf und verbessert kleine Irrtümer oder denkt 
halbfertige Gedanken zu Ende. 



Nietzsches Entwickelimgsgang. 



^^B Ich habe Nietzsches Ansichten vom Übermenschen 
^'«o dargestellt, wie sie uns in seinen letzten Schriften: 
Zarathustra (1883—1884), Jenseits von Gut 
und Böse (1886), Genealogie der Moral (1887), 
Der Fall Wagner (1888), Götzendämmerung 
(1889) entgegentreten. In dem unvollendet gebliebenen 
Werke: „Der Wille zur Macht", Versuch einer 
Umwertung aller Werte, dessen erster Teil „Anti- 
christ" im 8. Bande der Gesaratausgabe erschienen 
ist, hätten sie wohl ihren philosophisch prägnantesten 
Ausdruck gefunden. Aus der Disposition, die im 
Anhange zu dem erwähnten Band abgedruckt ist, ist 
das deutlieh zu erkennen. Sie Keifst: 1. Der Anti- 
christ. Versuch einer Kritik des Christentums. 
2. Der freie Geist, Kritik der Philosophie als 
einer nihilistischen Bewegung. 3. Der Immoralist. 
Kritik der verhängnisvollsten Art von Unwissenheit, 
der Moral. 4. Dionysos, Philosophie der ewigen 
Wiederkunft, 

Nietzsche hat seine Gedanken nicht sogleich im 
nnne seiner schriftstellerischen Laufbahn in der 




96 Nietzsches Entwickelangsgang. 

ihnen ureigensten Form zum Ausdruck gebracht. Er 
stand anfangs unter dem Einflüsse des deutschen 
Idealismus, namentlich in der Form, in der ihn 
Schopenhauer und Richard Wagner vertreten 
haben. In Schopenhauerschen und Wagnerschen 
Formeln drückt er sich in seinen ersten Schriften aus. 
Wer aber durch dieses Formelwesen hindurch auf 
den Kern der Nietzscheschen Gedanken zu blicken ver- 
mag, der findet in diesen Schriften dieselben Absichten 
und Ziele, die in den späteren Werken zum Ausdruck 
kommen. 

Man kann von Nietzsches Entwickelung nicht 
sprechen, ohne an den freiesten Denker erinnert zu 
werden, den die neuzeitliche Menschheit hervor- 
gebracht hat, an Max Stirner. Es ist eine traurige 
Wahrheit, dafs dieser Denker, der im vollsten Sinne 
dem entspricht, was Nietsche von dem Übermenschen 
fordert, nur von wenigen erkannt und gewürdigt 
worden ist. Er hat bereits in den vierziger Jahren 
dieses Jahrhunderts Nietzsches Weltanschauung ausge- 
sprochen. Allerdings nicht in solch gesättigten Herzens- 
tönen wie Nietzsche, aber dafür in krystallklaren Ge- 
danken, neben denen sich Nietzsches Aphorismen 
allerdings oft wie ein blofses Stammeln ausnehmen. 

Welchen Weg hätte Nietzsche genommen, wenn 
nicht Schopenhauer, sondern Max Stirner sein Er- 
zieher geworden wäre! In Nietzsches Schriften ist 
keinerlei Einflufs Stirners zu bemerken. Aus eigener 
Kraft mufste sich Nietzsche aus dem deutschen 
Idealismus heraus zu einer der Stirnerschen gleichen 
Weltauffassung durchringen. 

Stirner ist wie Nietzsche der Ansicht, das die Trieb- 



Nietzsches Entwickelungsgang. 97 

kräfte des menschlichen Lebens nur in der einzelnen, 
wirklichen Persönlichkeit gesucht werd^i können. 
Er lehnt alle Gewalten ab, die die Einzelpersönlichkeit 
von aufsen formen, bestimmen wollen. Er verfolgt 
den Gang der Weltgeschichte und findet, den Grund- 
irrtum der bisherigen Menschheit darin , dafs sie 
nicht die Pflege und Kultur der individuellen Per- 
sönlichkeit, sondern andere, unpersönliche Ziele und 
Zwecke sich vorsetzte. Er sieht die wahre Befreiung 
des Menschen darin, dafs dieser allen solchen Zielen 
keine höhere Realität zugesteht, sondern sich dieser 
Ziele als Mittel zu seiner Selbstpflege bedient. Der freie 
Mensch bestimmt sich seine Zwecke; er besitzt seine 
Ideale; er läfst sich nicht von ihnen besitzen. Der 
Mensch, der nicht als freie Persönlichkeit über seinen 
Idealen waltet, steht unter dem Einflüsse derselben, 
wie der Irrsinnige, der an fixen Ideen leidet. Es ist 
für Stirner einerlei, ob sich der Mensch einbildet, der 
„König von China**, oder ob „ein behaglicher Bürger 
sich einbildet, es sei seine Bestimmung, ein guter 
Christ, ein gläubiger Protestant, ein loyaler Bürger, 
ein tugendhafter Mensch u. s. w. zu sein — das ist 
beides ein und dieselbe ,fixe Idee^ Wer es nie ver- 
sucht und gewagt hat, kein guter Christ, kein gläubiger 
Protestant, kein tugendhafter Mensch u. s. w. zu sein, 
der ist in der Gläubigkeit, Tugendhaftigkeit u. s. w. 
gefangen und befangen.** 

Man braucht nur einige Sätze aus Stirners 
Buch: „Der Einzige und sein Eigentum** zu lesen, um 
zu sehen, wie verwandt seine Anschauung der Nietzsche- 
schen ist. Ich führe einige Stellen aus diesem Buche 

■ Steiner, Friedrich Nietzsche. 7 



98 Nietzsches Entwickelangsgang. 



an, die besonders bezeichnend für Stirners Denk- 
weise sind. 

„Vorchristliche und christliche Zeit verfolgen ein 
entgegengesetztes Ziel; jene will das Reale idealisieren, 
diese das Ideale realisieren, jene sucht den „heiligen 
Geist", diese den „verklärten Leib". Daher schliefst 
jene mit der Unempfindlichkeit gegen das Reale, mit 
der „Weltverachtung" ; diese wird mit der Abwerfung 
des Idealen, mit der „Geistesverachtung" enden. 

Wie der Zug der Heiligung oder Reinigung durch 
die alte Welt geht (die Waschungen u. s. w.), so geht 
der der Verleiblichung durch die christliche : der Gott 
stürzt sich in diese Welt, wird Fleisch und will sie er- 
lösen, d. h. mit sich erfüllen; da er aber „die Idee" 
oder „der Geist" ist, so führt man (z. B. Hegel) am 
Schlüsse die Idee in alles, in die Welt, ein und be- 
weist, „dafs die Idee, die Vernunft in allem sei". 
Dem, was die heidnischen Stoiker als „den Weisen" 
aufstellten, entspricht in der heutigen Bildung „der 
Mensch", jener wie dieser ein fleischloses Wesen. 
Der unwirkliche „Weise", dieser leiblose „Heilige" 
der Stoiker, wurde eine wirkliche Person, ein leib- 
licher „Heiliger" in dem fleischgewordenen 
Gotte; der unwirkliche „Mensch", das leiblose Ich, 
wird wirklich werden im leibhaftigen Ich, in Mir. 

Dafs der Einzelne für sich eine Weltgeschichte 
ist und an der übrigen Weltgeschichte sein Eigentum 
besitzt, das geht über das Christliche hinaus. Dem 
'Christen ist die Weltgeschichte das Höhere, weil sie 
die Geschichte Christi oder „des Menschen" ist; dem 
Egoisten hat nur seine Geschichte Wert, weil er nur 
sich entwickeln will, nicht die Menschheits-Idee, 



Nietzsches Entwickelungsgang. 99 

nicht den Plan Gottes, nicht die Absichten der Vor- 
sehung, nicht die Freiheit u. dergl. Er sieht sich nicht 
für ein Werkzeug der Idee oder ein Grefäfs Gottes an, 
er erkennt keinen Beruf an, er wähnt nicht, zur Fortent- 
wickelung der Menschheit dazusein, und sein Scherflein 
dazu beitragen zu müssen, sondern er lebt sich aus, un- 
besorgt darum, wie gut oder wie schlecht die Mensch- 
heit dabei fahre. Liefse es nicht das Mifsverständnis 
zu, als sollte ein Naturzustand gepriesen werden, so 
könnte man an Lenaus „Drei Zigeuner** erinnern. — 
Was, bin Ich dazu in der Welt, um Ideen zu reali- 
sieren? Um etwa zur Verwirklichung der Idee „Staat" 
durch mein Bürgertum das Meinige zu thun oder 
durch die Ehe, als Ehegatte und Vater, die Idee der 
Familie zu einem Dasein zu bringen? Was ficht 
mich ein solcher Beruf an! Ich lebe so wenig nach 
einem Berufe, als die Blume nach einem Berufe 
wächst und duftet. 

Das Ideal „der Mensch** ist realisiert, wenn 
die christliche Anschauung umschlägt in den Satz : 
„Ich, dieser Einzige, bin der Mensch.** Die Begriffs- 
frage: „was ist der Mensch?** — hat sich dann in 
die persönliche umgesetzt: „wer ist der Mensch?" 
Bei „was** suchte man den Begriff, um ihn zu reali- 
sieren; bei „wer** ist's überhaupt keine Frage mehr, 
sondern die Antwort im Fragenden gleich persönlich 
vorhanden: die Frage beantwortet sich von selbst. 

Man sagt von Gott: „Namen nennen Dich nicht**. 
Das gilt von Mir: kein Begriff drückt Mich aus, 
nichts, was man als mein Wesen angiebt, erschöpft 
mich; es sind nur Namen. Gleichfalls sagt man von 
Gott, er sei vollkommen und habe keinen Beruf, nach 



100 NietEBuhea Entwirf elongugang. 

Vollkommenheit zu streben. Auch das gilt allein 
von Mir, 

Eigner bin Ich meiner Gewalt, und Ich bin es 
dann, wenn Ich Mich als Einzigen weifs. Im 
Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein schOpferi- 
aches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. 
Jedes höhere Wesen ttber Mir, Bei.es Gott, sei es der 
Mensch, schwächt das Geföhl meiner Einzigkeit und 
erbleicht vor der Sonne dieses Bewurstseina : Stell' 
Ich auf Mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht 
sie auf dem vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer 
seiner, der sich selbst verzehrt, und Ich diurf sagen: 
„Ich hab* mein' Sach' auf nichts gestellt." 
Dieser auf sich sich selbst gestellte, nur aus sich 
heraus schaffende Eigner iat Nietsches Ü b e r - 



31. 

Diese Stirnerschen Gedanken wären das geeignete 
GefUfs gewesen, in das Nietzsche sein reiches Em- 
pfind uiigsleben hätte gieftien kCnnen. Statt dessen 
suchte er in Schopenhauers Begriffswelt die Leiter, 
auf der er zu seiner Gedankenwelt hinaufkletterte. 

Aus zwei Wurzeln stammt, nach Schopenhauera 
Meinung, unsere gesamte Welterkenntnis. Aus dem 
VorsteUungsleben und aus der Wahrnehmung des 
Willens, der in uns selbst als Handelnder auftritt. 
Das „Ding an sich" liegt jenaeita der Welt unserer 
Vorstellung . Ijeftn d ie Vorstellung ist nur di<? Wirkung, 
die dM^fl||H^^HKl4tif Diein Erkcnntnitiorgan aus- 
t kenne ich, die die Dinge 
I Dinge selbst. Und diese 




NieCzBuhea Entwickeliingagaiig:. 



101 



Eindrücke sind eben meine Vorstellungen, Ich kenne 
keine Sonne und keine Erde, sondern nur ein Auge, 
das eine Sonne sieht, und eine Hand, die eine Erde fUhlt. 
Der Mensch weifs nur: „dafs die Welt, welche ihn um- 
giebt, nur als Vorstellung da ist, d. h. durchweg nur 
in Beziehung auf ein anderes, das Vorstellende, welches 
er selbst ist", (Schopenhauer, Welt als Wille und 
Vorstellung § 1.) Aber der Mensch stellt die Welt 
nicht blofs vor, sondern er wirkt auch in ihr; er 
wird sich seines Willens bewufst, und er erfährt, dafs 
dasjenige, welches er in sich als Wille emptindet, 
von aufsen als Bewegung seines Leibes wahrgenommen 
werden kann, d. h. der Mensch nimmt sein eigenes 
Wirken doppelt wahr, von innen als Vorstellung, 
von aufaen als Wille. Schopenhauer schliefst dar- 
aus , dafs es der Wille selbst ist , der in der wahr- 
genommenen Leibesaktion als Vorstellung erscheint. 
Und er behauptet dann weiter, dafs nicht nui- der 
Vorstellung des eigenen Leibes und seiner Bewegungen 
ein Wille zu Grunde liege, sondern dafs dies auch 
bei allen übrigen Vorstellungen der Fall sei. Die 
ganze Welt ist also, nach Schopenhauers Ansicht, 
dem Wesen nach Wille und erscheint unserem Intellekt 
als Vorstellung. Dieser Wille, behauptet Schopen- 
hauer weiter, ist in allen Dingen ein einheitlicher. 
Nur unser Intellekt verursacht, dafs wir eine Mehrheit 
von besonderen Dingen wahrnehmen. 

Durch seinen Willen hängt der Mensch, nach 
dieser Anschauung, mit dem einheitlichen Weltwesen 
zusammen. Insofern der Mensch wirkt, wirkt in 
ihm der einheitliche Urwille. Als einzelne, besondere 
Persönlichkeit existiert der Mensch nur in seiner 



1 rersonucHKe 



102 Nietzsches Entwickelungsgang. 

eigenen Vorctellung; im Wesen ist er identisch mit 
dem einheitlichen Weltengrunde. 

Nehmen wir an, dafs in Nietzsche, als er die 
Schopenhauersche Philosophie kennen lernte, schon 
der Gedanke des Übermenschen unbewufst, instinktiv 
vorhanden war, so konnte ihn diese Willenslehre aller- 
dings nur sympathisch berühren. In dem menschlichen 
Willen war ihm ein Element gegeben, das den Menschen 
unmittelbar an der Schöpfung des Weltinhaltes teil- 
nehmen liefs. Als Wollender ist der Mensch nicht 
blofs ein aufserhalb des Weltinhaltes stehender Zu- 
schauer, der sich Bilder des Wirklichen macht, sondern 
er ist selbst ein Schaffender. In ihm waltet die 
göttliche Kraft, über die hinaus es keine andere giebt. 

32. 

Aus diesen Anschauungen heraus bildeten sich bei 
Nietzsche die beiden Ideen von der apollinischen 
und der dionysischen Weltbetrachtung. Sie wen- 
dete er auf das griechische Kunstleben an, das er 
demgemäfs aus zwei Wurzeln entstehen liefs : aus einer 
Kunst des Vorstellens und einer Kunst des WoUens. 
Wenn der Vorstellende seine Vorstellungswelt ideali- 
siert und seine idealisierten Vorstellungen in Kunst- 
werken verkörpert, so entsteht die apollinische 
Kunst. Er verleiht den einzelnen Vorstellungs- 
objekten dadurch, dafs er ihnen die Schönheit ein- 
prägt, den Schein des Ewigen. Aber er bleibt inner- 
halb der Vorstellungswelt stehen. Der dionysische 
Künstler sucht nicht nur in seinen Kunstwerken 
die Schönheit auszudrücken, sondern er ahmt selbst 



NietBscbeti Entwickelungsgang. 



103 



idaB schöpferische Wirken des Weltwillens nach. Er 
mucht in seinen eigenen Bewegungen den Weltgeist ab- 
zubilden. Er macht sich zur sichtbaren Verkörperung 
I Willens. Er wird selbst Kunstwerk. „Singend 
und tanzend ilufsert sich der Mensch als Mitglied einer 
möhem Gemeinschaft: er hat das Gehen und Sprechen 
»verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte 
aufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die 
iVerzauberung" {Geburt der Tragödie § 1). In diesem 
Zustande vergifst der Mensch sich selbst, er fühlt 
toich nicht mehr als Individuum, er täfst in sich den 
tllllgeuieinen Weltwillen walten. In dieser Weise deutet 
Nietzsche die Feste, die zu Ehren des Gottes Dionysua 
Bdurch die Dionysusdiener veranstaltet wurden. In 
t dem Dionysusdiener sieht Nietzsche das Urbild des 
dionysischen Künstlers. Nun stellt er sich vor, dafs 
die älteste dramatische Kunst der Griechen dadurch 
-entstanden ist, dafs eine höhere Vereinigung des 
Dionysischen mit dem Apollinischen sich vollzogen 
fcat Auf diese Weise erklärt er den Ursprung der 
fftrsten griechischen Tragödie. Er nimmt an, dafs die 
'die aus dem tragischen Chore entstanden ist. 
Der dionysische Mensch wird zum Zuschauer, zum 
■Betrachter eines Bildes, das ihn selbst darstellt. Der 
[)hoi- ist die Selbatspiegelung eines dionysisch erregten 
Uenschen, d. h. der dionysische Mensch sieht seine 
dionysische Erregung durch ein apollinisches Kunst 
werk abgebildet. Die Darstellung des Dionysischen im 
KipoUimschen Bilde ist die primitive Tragödie. Voraus- 
setzung einer solchen Tragödie ist, dafs in ihrem Schöpfer 
ein lebendiges Bewufstsein von dem Zusammenhang des 
Menschen mit den Urgewalten der VA'elt vorhanden 



k 



104 Nietzsches Entwickelungfsgang. 

ist. Ein solches Bewufstsein spricht sich als Mythus 
aus. Das Mythische mufs der Gegenstand der ältesten 
Tragödie sein. Tritt nun in der Entwickelung eines 
Volkes der Zeitpunkt ein, wo der zersetzende Ver- 
stand das lebendige Gefühl für den Mythus zerstört, 
so ist der Tod des Tragischen die notwendige Folge. 

33. 

In der Entwickelung des Griechentums trat, nach 
Nietzsches Meinung, mit Sokrates dieser Zeitpunkt 
ein. Sokrates war ein Feind alles instinktiven, mit 
den Naturgewalten im Bunde stehenden Lebens. Er 
liefs nur dasjenige gelten, was der Verstand denkend 
zu beweisen vermag, was lehrbar ist. Damit war dem 
Mythus der Krieg erklärt. Und der von Nietzsche 
als Schüler des Sokrates bezeichnete E u r i p i d e s zer- 
störte die Tragödie, weil sein Schaffen nicht mehr, 
wie das des Äschylos, aus den dionysischen Instinkten, 
sondern aus dem kritischen Verstände entsprang. Statt 
der Nachbildung der WiUensbewegungen des Welt- 
geistes findet sich bei Euripides die verständige Ver- 
knüpfung einzelner Vorgänge innerhalb der tragischen 
Handlung. 

Ich frage nicht nach der historischen Rechtferti- 
gung dieser Nietzsch^^chen Ideen. Er ist ihretwegen von 
einem klassischen f*Iiilologen scharf angegriffen wor- 
den. Nietzsches Beschreibung der griechischen Kultur 
läfst sich vergleichen mit der Schilderung, die ein 
Mensch von einer Landschaft giebt, die er von dem 
Gipfel eines Berges aus betrachtet; eine philologische 
Darstellung mit einer Beschreibung, die der Wanderer 



Nietzsches Entwickelung^sgang. 105 

giebt, der jedes einzelne Fleckchen besucht. Von dem 
Berge aus verschiebt sich manches eben nach den 
Gesetzen der Optik. 

34. 

Was hier in Betracht kommt^ ist die Frage: was 
für eine Aufgabe stellte sich Nietzsche in seiner „Ge- 
burt der Tragödie"? Nietzsche ist der Ansicht, dafs 
die älteren Griechen die Leiden des Daseins sehr gut 
gekannt haben. „Es geht die alte Sage, dafs König 
Midas lange Zeit nach dem weisen Silen, dem Be- 
gleiter des Dionysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn 
zu fangen. Als er ihm endlich in die Hände gefallen 
ist, fragt der König, was für den Menschen das Aller- 
beste und Allervorztiglichste sei. Starr und unbeweg- 
lich schweigt der Dämon, bis er, durch den König 
gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese 
Worte ausbricht: „Elendes Eintagsgeschlecht, des Zu- 
falls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich, 
dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Er- 
spriefslichste ist? Das Allerbeste ist fiir dich gänzlich 
unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, 
nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich — 
bald zu sterben" (Geburt der Tragödie § 3). In dieser 
Sage findet Nietzsche eine Grundemnfindung der Griechen 
ausgedrückt. Er hält es für eine Oberflächlichkeit, 
wenn man die Griechen als das beständig heitere, 
kindlich tändelnde Volk hinstellt. Aus der tragischen 
Grundempfindung heraus mufste den Griechen der 
Drang entstehen, etwas zu schaffen, wodurch das Da- 
sein erträglich wird. Sie suchten nach einer Recht- 



106 Nietzsches Entwickelungsgang. 

fertigung des Daseins — und fanden diese in ihrer 
Götterwelt und in der Kunst. Nur durch das Gegen- 
bild der olympischen Götter und der Kunst wurde 
den Griechen die rauhe Wirklichkeit erträglich. Die 
Grundfrage in der „Geburt der Tragödie" ist also für 
Nietzsche: Inwiefern ist die griechische Kunst leben- 
fördernd, lebenerhaltend gewesen? Nietzsches Grund- 
instinkt macht sich somit in Bezug auf die Kunst 
als lebenfördernde Macht schon in diesem ersten Werke 
geltend. 

35. 

Noch ein anderer Grundinstinkt Nietzsches ist in 
diesem Werke schon zu beobachten. Es ist die Ab- 
neigung gegen die blofs logischen Geister, deren Per- 
sönlichkeit vollständig unter der Herrschaft ihres Ver- 
standes steht. Aus dieser Abneigung stammt Nietzsches 
Meinung, dafs der sokratische Geist der Zerstörer 
der griechischen Kultur ist. Das Logische gilt Nietzsche 
nur als eine Form, in der sich die Persönlichkeit 
äufsert. Wenn zu dieser Form nicht noch andere 
Äufserungsweisen treten, so erscheint die Persönlich- 
keit als Krüppel, als Organismus, an dem notwendige 
Organe verstümmelt sind. Weil Nietzsche in Kants 
Schriften nur den grübelnden Verstand entdecken 
konnte, nennt er Kant einen „verwachsenen Begriffs- 
krüppel". Nur wenn die Logik der Ausdruck für die 
tieferen Grundinstinkte einer Persönlichkeit ist, läfst 
sie Nietzsche gelten. Sie mufs ein Ausflufs desÜber- 
Logischen in der Persönlichkeit sein. Nietzsche hat 
an der Ablehnung des sokratischen Geistes immer 
festgehalten. Wir lesen in der Götzendämmerung: 



Nietzsches Entwickelungsgang. 107 

„Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu 
Gunsten der Dialektik um: was geschieht da eigent- 
lich? Vor allem wird ein vornehmer Geschmack 
besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik oben auf. 
Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft 
die dialektischen Manieren ab ; sie galten als schlechte 
Manieren, sie stellten blofs" (Problem des Sokrates 
§ 5). Wo nicht kräftige Grundinstinkte für eine 
Sache sprechen, da tritt der beweisende Verstand ein 
und sucht sie durch Advokatenkünste zu stützen. 



36. 

Einen Erneuerer des dionysischen Geistes glaubte 
Nietzsche in Richard Wagner zu erkennen. Er 
hat aus diesem Glauben heraus die vierte seiner „Un- 
zeitgemäfsen Betrachtungen": „Richard Wagner in 
Bayreuth", 1875, geschrieben. Er hielt in dieser Zeit 
noch an der Deutung des dionysischen Geistes fest, 
die er sich in Gemäfsheit der Schopenhauerschen 
Philosophie gebildet hatte. Er glaubte noch, dafs die 
Wirklichkeit nur menschliche Vorstellung sei und jen- 
seits dieser Vorstellungswelt das Wesen der Dinge in 
Form des Ur willens liege. Und der schaffende 
dionysische Geist war ihm noch nicht der aus sich heraus 
schaffende, sondern der sich selbst vergessende, in dem 
Urwollen aufgehende Mensch. Bilder des waltenden 
Urwillens, von einem an diesen Urwillen hingegebenen 
dionysischen Geiste geschaffen, waren ihm Wagners 
Musikdramen. 

Und da Schopenhauer in der Musik ein unmittel- 
bares Abbild des Willens sah, so glaubte auch Nietzsche 



108 Nietzsches Entwickelungsgang. 

in der Musik das be$te Ausdrucksmittel für einen 
/ dionysisch schaffenden Geist sehen zu sollen. Die 
Sprache der civilisierten Völker schien ihm er- 
krankt. Sie kann nicht mehr der schlichte Aus- 
druck der Gefühle sein, denn die Worte mufsten all- 
mählich immer mehr dazu verwendet werden, der 
Ausdruck für die zunehmende Verstandesbildung der 
Menschen zu werden. Dadurch aber ist die Bedeu- 
tung der Worte abstrakt, arm geworden. Sie können 
nicht mehr ausdrücken, was der aus dem Urwillen 
heraus schaffende dionysische Geist empfindet. Dieser 
kann daher in dem Wortdrama sich nicht mehr aus- 
sprechen. Er mufs andere Ausdrucksmittel, vor allem 
die Musik, aber auch die anderen Künste zu Hilfe 
rufen. Der dionysische Geist wird zum dithyram- 
bischen Dramatiker, „diesen Begriff so voll ge- 
nommen, dafs er zugleich den Schauspieler, Dichter, 
Musiker umfafst". „Wie man sich nun auch die Ent- 
wickelung des Urdramatikers vorstellen möge, in seiner 
Reife und Vollendung ist er ein Gebilde ohne jede 
Hemmung und Lücke: der eigentlich freie Künstler, 
der gar nicht anders kann, als in allen Künsten 
zugleich denken, der Mittler und Versöhner zwischen 
scheinbar getrennten Sphären , der Wiederhersteller 
einer Ein- und Gesamtheit des künstlerischen Ver- 
mögens, welches gar nicht erraten und erschlossen, 
sondern nur durch die That gezeigt werden kann" 
(Richard Wagner in Bayreuth § 7). Als dionysischen 
Geist verehrte Nietzsche Richard Wagner. Und nur 
in dem von Nietzsche in der eben genannten Schrift 
angegebenen Sinne kann Wagner als dionysischer Geist 
bezeichnet werden. Seine Instinkte sind auf das Jen- 



Nietzsches Entwickelungsgang. 109 



seits gerichtet; er will die Stimme des Jenseits durch 
seine Musik erkUngen lassen. Ich habe bereits (S. 81 f.) 
darauf hingewiesen, dafs sich Nietzsche später selbst 
fand und imstande war, seine auf das Diesseits gerichteten 
Instinkte in ihrer Eigenart zu erkennen. Er hatte ur- 
sprünglich die Wagnersche Kunst mifs verstanden, weil 
er sich selbst mifsverstanden hatte, weil er seine In- 
stinkte durch die Schopenhauersche Philosophie hatte 
tyrannisieren lassen. Wie ein Exankheitsprozefs er- 
schien ihm später diese Unterordnung seiner Instinkte 
unter eine fremde Geistesmacht. Er fand, dafs er auf 
seine Instinkte nicht gehört hatte und sich durch eine 
ihm unangemessene Meinung hatte verfiihren lassen, 
eine Kunst auf diese Instinkte wirken lassen, die ihnen 
nur zum Nachteil gereichen konnte, die sie krank 
machen mufste. 

37. 

Nietzsche hat den Einflufs, den die seinen Grund- 
trieben widersprechende Schopenhauersche Philosophie 
auf ihn genommen, selbst geschildert in seiner dritten 
„Unzeitgemäfsen Betrachtung", „Schopenhauer als Er- 
zieher" (1873), zu einer Zeit, als er noch an diese 
Philosophie glaubte. Nietzsche suchte einen Erzieher. 
Der rechte Erzieher kann nur der sein, der auf den 
zu Erziehenden so wirkt, dafs dessen innerster Wesens- 
kern sich aus der Persönlichkeit heraus entwickelt. Auf 
jeden Menschen wirkt seine Zeit mit ihren Kultur- 
mitteln ein. Er nimmt auf, was die Zeit an Bildungs- 
stofF bietet. Aber es fragt sich, wie er sich inmitten 
dieses von aufsen auf ihn Eindringenden selbst finden 
kann; wie er das aus sich herausspinnen kann, was 
er und nur er und kein anderer sein kann. „Der 



1 lO Nietzsches Rntwickelungsg'ang. 

Mensch; welcher nicht zur Masse gehören will, braucht 
nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein ; er folge 
seinem Gewissen, welches ihm zuruft: „„sei du selbst! 
Das bist du alles nicht, was du jetzt thust, meinst, 
begehrst"", so spricht der Mensch zu sich, der eines 
Tages findet, dafs er sich immer nur damit begnügt 
hat, Bildungsstofi^ von aufsen aufzunehmen (Schopen- 
hauer als Erzieher § 1). Nietzsche fand sich selbst, 
wenn auch zunächst noch nicht in seiner ihm ur- 
eigensten Gestalt, durch das Studium der Schopen- 
hauerschen Philosophie. Nietzsche strebte unbewufst 
danach, einfach und ehrlich seinen Grundtrieben 
gemäfs sich auszusprechen. Er fand um sich nur 
Menschen, die in den Bildungsformeln der Zeit sich 
ausdrückten, die ihr eigenes Wesen durch diese Formeln 
verhüllten. In Schopenhauer fand Nietzsche aber einen 
Menschen, der den Mut hatte, seine persönlichen Em- 
pfindungen der Welt gegenüber zum Inhalte seiner 
Philosophie zu machen: „Das kräftige Wohlgefühl des 
Sprechenden" umfing Nietzsche beim ersten Lesen von 
Schopenhauers Sätzen. „Hier ist eine immer gleich- 
artige, stärkende Luft, so fühlen wir; hier ist eine ge- 
wisse unnachahmliche Unbefangenheit und Natürlich- 
keit, wie sie Menschen haben, die in sich zu Hause 
und zwar in einem sehr reichen Hause Herren sind: 
im Gegensatze zu jenen Schriftstellern, die sich am 
meisten wundern, wenn sie einmal geistreich waren, 
und deren Vortrag dadurch etwas Unruhiges und 
Naturwidriges bekommt." „Schopenhauer redet mit 
sich; oder wenn man sich durchaus einen Zuhörer 
denken will, so denke man sich den Sohn, den der 
Vater unterweist. Es ist ein redliches, derbes, gut- 



Nietzsches Entwickelungsgang. Hl 

mutiges Aussprechen vor einem Hörer, der mit Liebe 
hört" (Schopenhauer § 2). Dafs er einen Menschen, 
der sich seinen innersten Instinkten gemäfs ausspricht, 
reden hörte, das war es, was Nietzsche zu Schopen- 
hauer hinzog. 

Nietzsche sah in Schopenhauer eine starke Per- 
sönlichkeit, die nicht durch die Philosophie in einen 
blofsen Verstandesmenschen lungewandelt wird, sondern 
die das Logische nur zum Ausdrucke des Uberlogischen, 
des Instinktiven in sich macht. „Die Sehnsucht nach 
starker Natur, nach gesunder und einfacher Mensch- 
heit war bei ihm eine Sehnsucht nach sich 
selbst; und sobald er die Zeit in sich besiegt hatte, 
mufste er auch , mit erstauntem Auge , den Genius in 
sich erblicken" (Schopenhauer § 3). In Nietzsches 
Geist arbeitete schon damals das Streben nach der 
Idee des Übermenschen , der sich selbst sucht , als 
den Sinn seines Daseins, und einen solchen Suchenden 
fand er in Schopenhauer. In solchen Menschen sieht 
er den Zweck und zwar den einzigen Zweck des 
Weltdaseins erreicht; die Natur scheint ihm an einem 
Ziele angekommen zu sein, wenn sie einen solchen 
Menschen hervorgebracht hat. „Die Natur, die nie 
springt, macht hier ihren einzigen Sprung und zwar 
einen Freudensprung, denn sie fühlt sich zum erstenmal 
am Ziele, dort nämlich, wo sie begreift, dafs sie 
verlernen müsse, Ziele zuhaben." (Schopenh. 
§ 5.) In diesem Satze liegt der Keim zur Konzeption des 
Übermenschen. Nietzsche wollte, als er diesen Satz 
niederschrieb, schon genau dasselbe, was er später mit 
seinem Zarathustra wollte; aber ihm fehlte noch die 
Kraft, dieses Wollen in einer eigenen Sprache auszu- 



112 Nietzsches Entwickelungsgang. 

sprechen. Er sah schon, als er sein Schopenhauer- 
buch schrieb, den Grundgedanken der Kultur in 
der Erzeugung des Übermenschen. 

38. 

In der Entwickelung der persönlichen Instinkte 
der Einzelmenschen sieht also Nietzsche das Ziel aller 
menschlichen Entwickelung. Was dieser Entwicke- 
lung entgegenarbeitet, erscheint ihm als die eigent- 
lichste Versündigung an der Menschheit. Es giebt 
aber etwas im Menschen, das auf ganz natürliche 
Weise seiner freien Entwickelung widerstrebt. Der 
Mensch läfst sich nicht allein durch die in jedem ein- 
zelnen Augenblicke in ihm thätigen Triebe bestimmen, 
sondern auch durch alles das, was in seinem Ge- 
dächtnisse sich angesammelt hat. Der Mensch er- 
innert sich an seine eigenen Erlebnisse, er sucht sich 
ein Bewufstsein der Erlebnisse seines Volkes, Stammes, 
ja der ganzen Menschheit durch den Betrieb der Ge- 
schichte zu verschaffen. Der Mensch ist ein histori- 
sch e s Wesen. Die Tiere leben unhistorisch ; sie folgen 
den Trieben, die in dem einzelnen Augenblicke in 
ihnen wirken. Der Mensch läfst sich durch seine 
Vergangenheit bestimmen. Wenn er irgend etwas 
unternehmen will, fragt er sich: welche Erfahrungen 
habe ich oder ein anderer mit einem ähnlichen Unter- 
nehmen schon gemacht? Der Antrieb zu einer Hand- 
lung kann durch die Erinnerung an ein Erlebnis voll- 
ständig abgetötet werden. Für Nietzsche entsteht aus 
der Beobachtung dieser Thatsache die Frage: inwie- 
fern wirkt das Erinnerungsvermögen des Menschen 
auf sein Leben fördernd, und inwiefern wirkt es nach- 




teilig ein? Die Erinneriing, die auch Dinge zu um- 
fassen sucht, die der Mensch nicht selbst erlebt hat, 
lebt als historischer Sinn, als Studium des Vergangenen 
in dem Menschen. Nietzsche fragt: inwiefern wirkt 
der historische Sinn lebenfördernd? Die Antwort auf 
diese Frage sucht er zu geben in seiner zweiten 
^Unzeitgemäfsen Betrachtung" : „Vom Nutzen und 
Nachteil der Historie für das Leben" (1843). Die 
Veranlassung zu dieser Schrift war Nietzsches Wahr- 
nehmung, dafs der historische Sinn bei seinen Zeit- 
genossen, namentlich hei den Gelehrten unter den- 
selben, ein hervorstechendes Char akter merkmal ge- 
worden war. Die Vertiefung in die Vergangenheit 
fand Nietzsche überall gepriesen. Nui- durch Er- 
kenntnis der Vergangenheit soll der Mensch imstande 
sein, zu unterscheiden, was ihm möglich, was ihm 
unmöglich ist: dieses Glaubensbekenntnis drang ihm 
in die Ohren. Nur wer weifs, wie sich ein Volk ent- 
wickelt hat, kann ermessen, was für seine Zukunft 
förderlich ist: diesen Ruf härte Nietzsche. Ja selbst 
die Philosophen wollten nicht mehr Neues erdenken, 
sondern lieber die Gedanken ihrer Vorfahren studieren. 
Dieser historische Sinn wirkt lähmend auf das gegen- 
wärtige Schaffen. Wer bei jedem Impuls, der 
sich in ihm regt, erst zu bestimmen sucht, wozu ein 
ähnlicher Impuls in der Vergangenheit geführt hat, 
in dem erschlaffen die KrJifte, bevor sie gewirkt haben. 
, Denkt euch das ilufserste Beispiel, einen Menschen, 
der die Kraft zu vei^essen gar nicht besäfse, der 
verurteilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein 
solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt 
nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auß- 



I 



114 Nietzsche» Entwickelungsgang. 

einander fliefsen und verliert sich in diesem Strome 
des Werdens. ... Zu allem Handeln gehört Ver- 
gessen, wie zum Leben alles Organischen nicht nur 
Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch, der 
durch und durch nur historisch empfinden wollte, 
wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten 
gezwungen wäre, oder dem Tiere, das nur vom Wieder- 
käuen und immer wiederholtem Wiederkäuen fortleben 
sollte" (Historie § 1). Nietzsche ist der Meinung, 
dafs der Mensch nur so viel Geschichte vertragen 
kann, als dem Mafse seiner schöpferischen Kräfte ent- 
spricht. Die starke Persönlichkeit führt ihre Inten- 
tionen aus, trotzdem sie sich an die Erlebnisse der 
Vergangenheit erinnert, ja sie wird vielleicht gerade 
durch die Erinnerung an diese Erlebnisse eine Stärkung 
ihrer Kraft erfahren. Die Kräfte des schwachen 
Menschen aber werden durch den historischen Sinn 
ausgelöscht. Um den Grad zu bestimmen und durch 
ihn dann die Grenze, „an der das Vergangene ver- 
gessen werden mufs, wenn es nicht zum Totengräber 
des Gegenwärtigen werden soll, müfste man genau 
wissen, wie grofs die plastische Kraft eines 
Menschen, eines Volkes, einer Kultur ist, ich meine 
jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, 
Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuver- 
leiben** (Historie § 1). 

Nietzsche ist der Ansicht, dafs das Historische 
nur insofern gepflegt werden soll, als es für die Ge- 
sundheit eines Einzelnen, eines Volkes oder einer 
Kultur nötig ist. Worauf es ihm ankommt, ist: „besser 
lernen, Historie zum Zwecke des L e b e n s zu treiben** 
(Historie § 1). Er spricht dem Menschen das Recht 



NietascheB Gntwiekelnng^aug. 



115 



I 



ZU, die Geschichte so zu treiben, dafa sie möglichst 
zur Förderung der Antriebe einer bestimmten Gegen- 
wart wirkt. Von diesem Gesichtspunkte aus ist er 
ein Gegner jener Geschichtsbetrachtung, die nur iq 
der „historischen Objektivität' ihr Heil sucht, die nur 
sehen und erzählen will, wie es in der Vergangenheit 
„thatsächlich"' zugegangen ist, die nur die „reine, 
folgenlose" Erkenntnis oder deutlicher „die Wahrheit, 
bei der nichts herauskommt, sucht (Historie § 6), Eine 
solche Betrachtung kann nur aus einer achwachen 
Persönlichkeit entspringen, deren Empfindungen nicht 
flut- und ebbeartig auf- und abwogen, wenn sie den 
Strom der Ereignisse au sich vorlibergehen stellt. 
Eine solche Persönlichkeit „ist zum nachtönenden 
Passivura geworden, das durch sein Ertönen wieder 
auf andere derartige Passiva wirkt: bis endlich die 
ganze Luft einer Zeit von solchen durcheinander 
*ch wirr enden zarten und verwandten Nachklängen 
erfüllt ist." (Historie g 6.) Dafs aber eine solche 
schwache Persönlichkeit wirklich die KrAfte nach- 
empfinden kann, die in den Menschen der Vergangen- 
heit gewaltet haben, glaubt Nietzsche nicht: „Doch 
Bcheint es mir, dafs man gleichsam nur die Obertöne 
jedea originalen und geschichtlichen Haupttons ver- 
nimmt: das Derbe und Mächtige des Originals ist aus 
dem sphärisch -dünnen und spitzen Saitenklange nicht 
mehr zu erraten. Dafür weckte der Originalton 
meistens Thaten, Nöte, Schrecken, dieser lullt uns ein 
und macht uns zu weichlichen Geniefsem; es ist, als 
ob man die heroische Symphonie für zwei Flöten ein- 
gerichtet und zum Gebrauch von träumenden Opium- 
räuchern bestimmt habe," (Historie § 6.) Nur der 



115 Nietzsches Entwickelungsgang. 

t' ■ ' •■ ■' ■ ■ ■ ■',■-,.,,-' ■ 

kann die Vergangenheit wirklich verstehen, ,der auch 
in der Gegenwart machtvoll lebt, der kräftige Instinkte 
hat, durch die er die Instinkte der Vorfahren erraten 
und erschliefsen kann. Dieser kümmert sich weniger 
um das Thatsächliche, als um das, was aus den That- 
Sachen sich erraten läist. „Es wäre eine Geschichts- 
schreibung zu denken, die keinen Tropfen der ge* 
meinen empirischen Wahrheit in sich hat und doch 
im höchsten Grade auf das Prädikat der Objektivität 
Anspruch machen dürfte." (Historie § 6.) Der Meister 
einer solchen Geschichtsschreibung wäre der, der 
überall in den historischen Personen und Ereignissen da» 
aufsuchte, was hinter dem blofs Thatsächlichen steckt» 
Dazu mufs er aber ein mächtiges Eigenleben führen, 
denn Instinkte und Triebe kann man unmittelbar nur 
an der eigenen Person beobachten. „Nur aus der 
höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr 
das Vergangene deuten: nur in der stärksten 
Anspannung eurer edelsten Eigenschaften werdet ihr 
erraten, was in dem Vergangenen Wissens- und be- 
wahrenswürdig und grofs ist. Gleiches durch Gleiches! 
Sonst zieht ihr das Vergangene zu euch nieder.'' 
„Alle Geschichte schreibt der Erfahrene und Über- 
legene. Wer nicht einiges gröfser und höher erlebt 
hat als alle, wird auch nichts Grofses und Hohes aus 
der Vergangenheit zu deuten wissen." (Historie § 6.) 
Dem Überhandnehmen des historischen Sinnes in 
der Gegenwart gegenüber macht Nietzsche geltend, 
„ dafs der Mensch vor allem zu leben lerne, und nur 
im Dienste des erlernten Lebens die Historie 
gebrauche". (Historie § 10.) Er will vor allen 
Dingen eine „Gesundheitslehre des Lebens", 



Nietzsche« Entwickelunga^ang. 



117 



I 



imd die Hiatorie aoU nur inaoweit getrieben werden, 
■aIs sie einer solchen GeaunclheitBlehre förderlich ist. 

Was ist an der Geschichtsbetrachtung leben- 
fördernd? Diese Frage stellt Nietzsche in seiner 
„Historie", und er steht damit bereits auf dem Boden, 
den er in dem H. 9 f. angeführten Satz aus „Jenseits 
von Gut und Böse" bezeichnet. 



39. 

In besonders starkem Grade wirkt der gesunden 

I Enlwickelung der Eigenperaönlichkeit jene Gesinnung 

■■entgegen, die in dem bürgerlichen Philister zur Er- 

1 scheinung kommt. Ein Philister ist der Gegensatz zu 

* «incm Menschen , der in dem freien Ausleben seiner 

Anlagen Befriedigung findet. Der Philister will dieses 

Ausleben nur insoweit gelten lassen, als ea einem 

gewissen DurcLschuittsmaJs der menschlichen Begabung 

entspricht. So lange der Philister innerhalb seiner 

Grenzen bleibt, ist gegen ihn nichts einzuwenden. 

Wer ein Durchschnittsmensch bleiben will, der hat 

das mit sieh abzumachen. Nietzache fand unter 

seinen Zeitgenossen solche, die ihre philisterhafte Ge- 

^^^ einnung zur Normalgesinnung für alle Menschen 

^^Lmachen wollten , die ihre Pbilisterhaftigkeit als das 

^^^■eiuzige, wahre Menschentum anaahen. Zu ihnen 

^^BVrechuet er Dav. Friedr. Straufs, den Ästhetiker 

Friedr. Theodor Vi scher u. A. Vischer, glaubt er, 

habe das Philisterbekenntnis unumwunden abgelegt in 

E"ede, die er zum Andenken Hölderlins gebalten 
> sieht es in den Worten: „Er (Hölderlin) 
ne der unbewafiiieten Seelen , er war der 



11 S Nietzsches Entwickelungsgang. 

Werther Griechenlands, ein hoffnungslos Verliebter; 
es war ein Leben voll Weichheit und Sehnsucht, aber 
auch Kraft und Inhalt war in seinem Leben, Fülle 
und Leben in seinem Stil, der da und dort sogar an 
Aeschylus gemahnt. Nur hatte sein Geist zu wenig 
vom Harten; es fehlte ihm als Waflfe der Humor; er 
konnte es nicht ertragen, dafs man noch 
kein Barbar ist, wenn man ein Philister 
ist." (David Straufs § 2.) Der Philister will her- 
vorragenden Menschen nicht geradezu die Existenz- 
berechtigung absprechen; aber er meint: sie gehen 
an der Wirklichkeit zu Grunde, wenn sie sich nicht 
abzufinden wissen mit den Einrichtungen, die der 
Durchschnittsmensch seinen Bedürfnissen entsprechend 
geschaffen hat. Diese Einrichtungen seien einmal 
das Einzige, was wirklich, was vernünftig ist, und in 
sie müsse sich auch der grofse Mensch fügen. Aus- 
dieser Philistergesinnung heraus hat David Strauf» 
sein Buch „Der alte und der neue Glaube" geschrieben» 
Gegen dieses Buch oder vielmehr gegen die in ihm zum 
Ausdruck gekommene Gesinnung wendet sich die erste 
der Nietzscheschen „Unzeitgemäfsen Betrachtungen" r 
„David Straufs, der Bekenner und Schriftsteller" (1873). 
Der Eindruck der neueren naturwissenschaftlichen Er- 
rungenschaften auf den Philister ist ein solcher, dafs er 
sagt: „Der christliche Ausblick auf ein unsterbliches,, 
himmlisches Leben ist, samt den andern Tröstungen der 
christlichen Religion, unrettbar dahingefallen." (David 
Straufs § 4.) Er will sich das Leben auf der Erde 
gemäfs den Vorstellungen der Naturwissenschaft be- 
haglich, d. h. so behaglich, wie es dem Philister ent- 
spricht, einrichten. Nun zeigt der Philister, wie man 



NietzscheE EatwickelungagfUig. 



119 



glücklich und zufrieden sein kann, trotzdem man 
weifs, dafs kein höherer Geist über den Sternen 
waltet, sondern die starren, gefühllosen Kräfte der 
Natur üher alles Weltgeschehen herrschen. „Wir haben 
während der letzten Jahre lebendigen Anteil genommen 
1 dem grofsen nationalen Krieg und der Aufrichtung 
des deutschen Staates, und wir finden uns durch diese 
1 unerwartete als herrliche Wendung der Geschicke 
unserer vielgeprüften Nation im Innersten erhoben. 
Dem Verständnis dieser Dinge helfen wii- durch ge- 
schichtliehe Studien nach, die jetzt mittelst einer Reihe 
anziehend und volkstümlich geschriebener Geaehichtfi- 
werke auch dem Nichtgelehrten leicht gemacht sind; 
dabei suchen wir unsere Naturerkenntniase zu er- 
weitern, wozu es an gemeinverständlichen Hülfsmitteln 
gleichfalls nicht fehlt; und endlich finden wir in den 
Schriften unserer grofsen Dichter, hei den Auffllhrungen 
der Werke unserer grofsen Musiker eine Anregung 
für Geist und Gemüt, für Phantasie und Humor, die 
nichts zu wünschen übrig läi'st. So leben wir, so 
wandeln wir beglückt." (Straufs, Der alte und neue 
Glaube § 88.) 

Es ist daa Evangelium des trivialsten Lebens- 
I genusses, das aus diesen Worten spricht. Alles, was 
über das Triviale hinaufgeht, nennt der Philister un- 
gesund. Straufs sagt von der „Neunten Symphonie" 
Beethovens, dafs diese nur bei denen beliebt sei, 
welchen ,das Barocke als das Geniale, daa Formlose als 
das Erhabene gilt" (der alte und neue Glaube § 109); 
^^^ von Schüpenliauer weifs der Messias des Philistertums 
^^L zu verkünden, dafa man an eine so „ungesunde und 
^^B unerspriefsliche" Philosophie wie die Schopenhanersche 



I 
I 



120 Nietzsches Entwickelungsgan^. 

keine Gründe, sondern höchstens nur Worte und 
Scherze verschwenden dürfe. (David Straufs § 6.) 
Gesund nennt der Philister nur das, was der Durch- 
schnittsbildung entspricht. 

Als sittliches Urgebot stellt Straufs den Satz auf: 
„Alles sittliche Handeln ist ein Sichbestimmen des 
Einzelnen, nach der Idee der Gattung." (Der alte und 
neue Glaube § 74.) Nietzsche erwidert darauf: „Ins 
Deutliche und Greifbare übertragen heifst das nur: lebe 
als Mensch und nicht als Affe oder Seehund. Dieser 
Imperativ ist leider nur durchaus unbrauchbar und kraft- 
los, weil unter dem Begriff Mensch das Mannigfaltigste 
zusammen im Joche geht, z. B. der Patagonier und der 
Magister Straufs, und weil niemand wagen wird, mit 
gleichem Bechte zu sagen: lebe als Patagonier! und: 
lebe als Magister Straufs!" (Dav. Straufs § 7.) 

Es ist ein Ideal, und zwar ein Ideal jämmerlichster 
Art, das Straufs den Menschen vorsetzen will. Und 
Nietzsche protestiert dagegen; er protestiert, weil in 
ihm ein lebhafter Instinkt ruft: lebe nicht, wie der 
Magister Straufs, sondern lebe, wie es dir ange- 
messen ist! 

40. 

Erst in der Schrift: „Menschliches, Allzumensch- 
liches* (1878) erscheint Nietzsche frei von dem Ein- 
flüsse der Schopenhauerschen Denkweise. Er hat es 
aufgegeben, übernatürliche Ursachen für die natür- 
lichen Ereignisse zu suchen ; er strebt nach natürlichen 
Erklärungsgründen. Er sieht jetzt alles Menschen- 
leben als eine Art natürlichen Geschehens an-; in dem 
Menschen sieht er das höchste Naturprodukt. Man 



Nietzaches Entwickelungag^Bng. 



121 



I 



lebt „zuletzt unter den Menschen und mit sich wie 
in der Natur, ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an 
-vielem sich wie an einem Schauspiel weidend, vor 
Äem man sich bisher nur zu fürchten liatte. Man 
wäre die Emphasis los und würde die Anstachelung 
des Gedankens, dafs man nicht nur Natur oder mehr 

als Natur sei, nicht weiter empfinden ea mufs 

ein Mensch, von dem in solchem Mafee die gewöhn- 
lichen Fesseln des Lebens abgefallen sind, dafs er nur 
deshalb weiter lebt, um immer besser zu erkennen, 
auf alles, ja fast auf alles, was bei den anderen 
Menschen Wert hat, ohne Neid und Verdrufs ver- 
zichten können; ihm mufs als der wünschenswerteste 
Zustand jenes freie, furchtlose Sehweben über Menschen, 
Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen 
der Dinge genüge n." fMenachliches L § 34.) 
Kietzsche hat bereits allen Glauben an Ideale auf- 
gegeben; er sieht in den menschlichen Handlungen 
nur noch Folgen natürlicher Ursachen, und in dem 
Erkennen dieser Ursachen findet er seine Befriedigung. 
Er findet, dafs man eine unrichtige Vorstellung von 
den Dingen bekommt, wenn man blofs das an ihnen 
sieht, was von dem Lichte der idealistischen Erkenntnis 
beleuchtet wird. Es entgeht einem dann das, was 
von den Dingen im Schatten liegt. Nietzsche will 
jetzt nicht nur die Sonnen-, sondern auch die Schatten- 
seite der Dinge kennen lernen. Aus diesem Streben 
ging die Schrift; „Der Wanderer und sein Schatten" 
hervor (1879). Er will in diesem Buche die Er- 
scheinungen des Lebens von allen Seiten erfassen, 
Er ist „Wirklichkeitsphllosoph" im besten Sinne des 
Wortes geworden. 



-"t^^- 



122 Nietzsches Entwickelangsgiuig* 

In der „Morgenröte** (1881) schildert er den 
moralischen Prozefs in der Menschheitsentwickelung als 
einen Naturvorgang. Schon in dieser Schrift zeigt er, 
dafs es keine tiberirdische sittliche Weltordnung, keine 
ewigen Gesetze des Guten und Bösen giebt, und dafs 
alle Sittlichkeit entsprungen ist aus den in den 
Menschen waltenden natürlichen Trieben und In- 
stinkten. Nun war die Bahn frei gemacht für den 
originellen Wandergang Nietzsches. Wenn keine aufser- 
menschliche Macht dem Menschen eine bindende Ver- 
pflichtung auferlegen kann, dann ist er berechtigt, das 
eigene Schaffen frei walten zu lassen. Diese Erkenntnis 
ist das Leitmotiv der „fröhlichen Wissenschaft" (1882). 
Keine Fessel ist nun dieser „freien" Erkenntnis 
Nietzsches mehr angelegt. Er fühlt sich berufen, neue 
Werte zu schaffen, nachdem er den Ursprung der alten 
erkannt und gefunden hat, dafs sie nur menschliche, 
keine göttlichen Werte sind. Er wagt es jetzt, das 
zu verwerfen, was seinen Instinkten widerspricht, und 
anderes an die Stelle zu setzen, was seinen Trieben 
gemäfs ist: „Wir Neuen, Namenlosen, Schlecht ver- 
ständlichen, wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen 
Zukunft — wir bedürfen zu einem neuen Zwecke 
auch eines neuen Mittels, nämlich einer neuen Gesund- 
heit , einer stärkeren , gewitzteren , zäheren , ver- 
wegeneren, lästigeren, als alle Gesundheiten bisher 
waren. . Wessen Seele darnach dürstet, den ganzen 
Umfang der bisherigen Werte und Wünschbarkeiten 
erlebt und alle Künste dieses idealischen „Mittel- 
meeres** umschifft zu haben, wer aus den Abenteuern 
der eigensten Erfahrungen wissen will, wie es einem 
Eroberer und Entdecker des Ideals zu Mute ist . . . 



Nietzsches Entwickelungsgang. 123 

der hat zu allererst Ein» nötig, die grofse Gesund- 
heit ... . Und nun, nachdem wir lange dergestalt 
unterwegs waren, wir Argonauten des Ideals, mutiger 
vielleicht, als klug ist . . . will es uns scheinen, als 
ob wir, zum Lohn dafür, ein noch unentdecktes Land 
vor uns haben .... Wie könnten wir uns, nach 
solchen Ausblicken und mit einem solchen Heifshunger 
in Gewissen und Wissen, noch am gegenwärtigen 
Menschen genügen lassen!" (Fröhliche Wissen- 
schaft § 382.) 

41. 

Aus der in den vorstehenden Sätzen charakteri- 
sierten Stimmung heraus erwuchs Nietzsche das Bild 
seines Übermenschen. Es ist das Gegenbild des 
Gegenwartsmenschen; es ist vor allem das Gegenbild 
des Christen. Im Christentum ist der Widerspruch 
giegen die Pflege des starken Lebens Religion ge- 
worden. (Antichrist § 5.) Der Stifter dieser Religion 
lehrte : dafs vor Gott das verächtlich ist, was vor den 
Menschen Wert hat. In dem „Gottesreich" will der 
Christ alles verwirklicht finden, was 'ihm auf Erden 
mangelhaft erscheint. Das Christentum 'ist die Religion, 
die dem Menschen alle Sorge für das irdische Leben 
benehmen will; es ist die Religion der Schwachen, 
die sich gerne als Gebot vorsetzen lassen: „Wider- 
strebe nicht dem Bösen und dulde alles Ungemach", 
weil sie nicht stark genug sind zum Widerstände. 
Der Christ hat keinen Sinn für die vornehme Per- 
sönlichkeit, die aus ihrer eigenen Wirklichkeit ihre 
Kraft schöpfen will. Er glaubt, der Blick für das 
Menschenreich verderbe die Sehkraft flir das Gottes- 



124 Nietzsches Entwickelungsgaxig. 

reich. Auch die vorgeschritteneren Christen , die 
nicht mehr glauben, dafs sie am Ende der Tage in 
ihrer leibhaftigen Gestalt wieder auferstehen werden, 
um entweder in das Paradies aufgenommen oder in 
die Hölle verstofsen zu werden, träumen von „gött- 
licher Vorsehung", von einer „übersinnlichen" Ordnung 
der Dinge. Auch sie sind der Ansicht, dafs sich der 
Mensch über seine blofs irdischen Ziele erheben und 
in ein ideales Reich einfügen müsse. Sie glauben, 
dafs das Leben einen rein geistigen Hintergrund habe, 
und dafs es erst dadurch einen Wert erhalte. Nicht 
die Instinkte für Gesundheit, Schönheit, Wachstum, 
Wohlgeratenheit, Dauer, für Häufung von Kräften 
will das Christentum pflegen, sondern den Hafs gegen 
den Geist, gegen Stolz, Mut, Vornehmheit, gegen das 
Selbstvertrauen und die Freiheit des Geistes, den Hafs 
gegen die Freuden der sinnlichen Welt, gegen die 
Freude und Heiterkeit der Wirklichkeit, in der der 
Mensch lebt. (Antichrist § 21.) Das Christentum be- 
zeichnet das Natürliche geradezu als „verwerflich". 
Im christlichen Gotte ist ein jenseitiges Wesen, d. h. 
ein Nichts vergöttlicht, es ist der Wille zum 
Nichts heilig gesprochen. (Antichrist § 18.) Deshalb 
bekämpft Nietzsche im ersten Buche seiner „Umwertung 
aller Werte" das Christentum. Und er wollte im 
zweiten und dritten Buche auch die Philosophie und 
Moral der Schwachen bekämpfen, die sich nur in der 
RoUe von Abhängigen Wohlgefallen. Weil der Typus 
des Menschen, den Nietzsche gezüchtet sehen will, das 
diesseitige Leben nicht gering schätzt, sondern dieses 
Leben mit Liebe umfafst und es zu hoch stellt, um 
glauben zu können, dafs es nur einmal gelebt werden 



Nietzsches Entwickelangsgan^. 125 

sQÜe, deshalb ist er nach ^der Ewigkeit brünstig*' 
(Zarathüstra, 8. Teil, die sieben Siegel) und möchte, 
dafs dieses Leben unendlich oft gelebt werden könne. 
Nietzsche läfst seinen ,^Zarathustra^ den „Lehrer der 

ewigen Wiederkunft" sein. -„Siehe, wir wissen , 

dafs alle Dinge ewig wiederkehren und wir selber mit, 
und dafs wir schon ewige Male dagewesen sind, und 
alle Dinge mit uns." (Zarath. 3. Teil, der Genesende.) 
Eine bestimmte Meinung darüber zu haben, welche 
Vorstellung Nietzsche mit dem Worte „ewige Wieder- 
kunft** verknüpfte, scheint mir gegenwärtig nicht 
möglich zu sein. Man wird darüber erst Genaueres 
sagen können, wenn die Aufzeichnungen Nietzsches zu 
den unvollendeten Teilen seines „Willens zur Macht** 
in der zweiten Abteilung der Gesamtausgabe seiner 
Werke vorliegen werden. 



Pierer^sehe Hofbachdrackerei. Stephan G^eibel <£ Co. in JLltenbarg. 



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Verlag von Emil Felber in Weimar. 

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Die Philosophie der Freiheit. 

Grundzttge einer modernen Weltanschauung 

von 

Dr. Rudolf Steiner. 

4 Mark, schön gebunden 5 Mark. 

Aus den zahlreichen Urteilen über dieses anerkannt hoch- 
bedeutende Werk seien nur erwähnt: 

cKlar und wahr» möchte ich dem Buche aufs Titelblatt schreiben. Klar, 
bündig und frei von aller Tüftelei ist die Darstellung, ztfaAr und gesund der 
Standpunkt des Verfassers. . . . Nur auf solchtr Wtltatucht^uung kann dit 
arg bedrohte, ßersüidick* und menschheiüicke Freiheit naturgemä/se Aner- 
kennung finden, das echte Recht des Individualismus einen gesunden Kollek- 
tivismus schaffen. Der Verfasser hat sein Werk gerade sur rechten Zeit ge^ 
schrieben, möge es die weiteste Verbreitung finden. 

Deatsohe Worte 

Dez.-Heft 1893. Ed. Aug. Schroeder. 

- Wenn dem Leser dieses Buch zu Händen kommt , so soll er sich nicht 
davon abschrecken lassen, dass in dem Titel von Philosophie die Rede ist, die 
nach einer landläufigen Meinung nur unpraktische Grübler beschäftigt, sowie von 
Freiheit, die in unseren Tagen vor dem Glanz der Notwendigkeit und der Autorität 
stark verblafst ist. Das Buch enthält wirklich, was es im weiteren verspricht: 
Die Grundzüge einer modernen Weltanschauung, mit einer Menge anregender 
Ausführungen und packender Gedanken. . . . Daneben giebt es auch wichtige 
kritische Beleuchtungen herrschender Systeme wie des Kantschen, Schopen- 
hauerschen, Hartmannschen , und der Materialismus wird gerade so in die 
Rumpelkammer verwiesen wie der ideologische Idealismus. Dabei ist alles 
frisch geschrieben, verständlich gehalten, ein intellektueller Genufs und an- 
regend für jeden denkenden Menschen* , . . Und darum sei das Werk allen 
denen empfohlen, deren Denken sich weder mit dem bequemen Mystizismus, 
noch mit einem öden Materialismus begnügen kann. 

Frankf. Zeitung von Sonntag, 8. Juli 1894. 



Von demselben Verfasser erschien früher: 

Wahrheit und Wissenschaft. 

Preis: 1 Mark. 

Die vorliegende Schrift ist eine bedeutende That. Sie füllt eine grofse 
Lücke in der Philosophie aus. . . . Die Untersuchung des Wesens der freien 
Selbstbestimmung hat Rud. Steiner der *Philesaßhi« der Freiheit* vorbehalten, 
welcher wir mit leichtbegreiflicher Spannung entgegensehen. 

Blätter für literar. Unterhaltung. 



STANFORD UNIVERSITY IIBRÄ 

STANFORD AUXILIARY IIBRARY 

STANFORD, CALIFORNIA 94305-6004 

(650) 723-9201 

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