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- 1
/V iC '{ i
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FRIEDRICH NIETZSCHE
EIN KÄMPFE'* EGEN SEINE ZEIT.
FRIEDRICH NIETZSCHE
EIN KÄMPFER GEGEN SEINE ZEIT.
-••»-
Von
DR. RUDOLF STEINER.
AVE I MAR.
VERLAG VON EMIL FELBER.
1895.
LIBRARy OF THE
LELAND STANFORD JH. UmEßSITY,
SEP IS vm
Alle Rechte vorbehalten.
/f5
/V^ 73
Inhalt.
Vorrede Vn
I. Nietzsches Charakter 1
n. Der Übermensch 29
III. Nietzsches EntwickelungsgaDg 93
Vorrede.
Als ich vor sechs Jahren die Werke Friedrich
lUietzsches kennen lernte, wai'en in mir bereits
tZdeea ausgebildet, die den scinigen ähnlich sind. Un-
■abhängig von ihm und auf anderen Wegen als er,
Ihin ich zu AnschamingcD gekommen, die im Einklang .
Vatehen mit dem, was Nietzsche in seinen Schriften:
l^Zarathustra", „Jenseits von Gut und Böse", „Genealogie
f der Moral" und „Götzen dämme rung" ausgesprochen hat.
|iS(ihon in meinem 1886 erschienenen kleinen Buche
„Erkenntnistheoria der Goetheschen Weltan-
l-schauung" kommt dieselbe Gesinnung zum Aus-
Idmck, wie in den genannten Werken Nietzsches.
Dies ist der Grund, warum icii mich gedrängt
BlfUhlte, ein Bild von dem Vorstellungs- und Emijfinduügs-
ftlehen Nietzsches zu zeichnen. Ich glaube, dafs ein
Ksolches Bild Nietzsche am ithnlichston dann wird, wenn
Ixnan es seinen erwähnten letzten Schritten gemäfs
EeohafFt. So habe ich es gethan. Die früheren Schriften
iKietzsches zeigen uns ihn als Suchenden. Er stellt
ftisich luiB in ihnen dar als rastlos aufwäi'ts Sti-ebender. In
VIII Vorrede.
seinen letzten Schriften sehen wir ihn auf dem Gipfel
angelangt, der eine seiner ureigenen Geistesart ange-
messene Höhe hat. In den meisten der bis jetzt
über Nietzsche erschienenen Schriften wird dessen
Entwicklung so dargestellt, als ob er in den ver-
schiedenen Zeiten seiner Schriftstellerlaufbahn von-
einander mehr oder weniger abweichende Meinungen
gehabt hätte. Ich habe zu zeigen versucht, dafs von
einem Meinungs Wechsel bei Nietzsche nicht die Rede
sein kann, sondern nur von einer Aufwärts-Bewegung,
von der naturgemäfsen Entwickelung einer Persönlich-
keit, die noch nicht die ihren Anschauungen ent-
sprechende Ausdrucksform gefunden hatte, als sie ihre
ersten Schriften schrieb.
Das Endziel von Nietzsches Wirken ist die
Zeichnung des Typus „Übermensch**. Diesen Typus
zu charakterisieren, habe ich als eine der Haupt-
aufgaben meiner Schrift betrachtet. Mein Bild des
Übermenschen ist genau das Gegenteil des Zerr-
bildes geworden , das in dem augenblicklich ver-
breitetsten Buche über Nietzsche von Frau Lou
Andreas-Salome entworfen ist. Man kann nichts
dem Nietzscheschen Geiste mehr Zuwiderlaufendes in
die Welt setzen, als das mystische Ungetüm, das Frau
Salomö aus dem Übermenschen gemacht hat. Mein
Buch zeigt, dafs in Nietzsches Ideen nirgends auch
nur die geringste Spur von Mystik anzutreffen ist.
Auf die Widerlegung der Ansicht von Frau Salom^,
dafs Nietzsches Gedanken in „Menschliches, Allzu-
menschliches" von den Ausführungen Paul Röes, des
Verfassers der „Psychologischen Beobachtungen und des
„Ursprungs der moralischen Empfindungen" u. s. w., fee-
Vorrede. IX
einflufst seien, habe ich mich nicht eingelassen. Ein
so mittelmäfsiger Kopf wie Paul R^e konnte auf
Nietzsche keinen bedeutenden Eindruck machen. Ich
würde diese Dinge auch hier /nicht berühren, wenn
nicht das Buch von Frau Salomö so viel beigetragen
hätte, geradezu widerwärtige Ansichten über Nietzsche
zu verbreiten. Fritz Koegel, der ausgezeichnete
Herausgeber von Nietzsches Werken, hat im „Magazin
fiir Litteratur** diesem Machwerke die gebührende Ab-
fertigung angedeihen lassen.
Ich kann diese kurze Vorrede nicht beschliefsen, ohne
Frau Förster-Nietzsche, der Schwester Nietzsches,
herzlichst zu danken für die vielen Freundlichkeiten,
die ich von ihr während der Zeit erfahren habe, in
der meine Schrift entstanden ist. Den im „Nietzsche-
Archiv" in Naumburg verlebten Stunden verdanke
ich die Stimmung, aus der heraus die folgenden
Gedanken geschrieben sind.
Weimar, April 1895.
Rndolf Steiner.
**
Nietzsches Werke.
Ich führe hier zur Orientierung die bis jetzt er-
schienenen und für meine Ausführungen in Betracht
kommenden Schriften Nietzsches an und füge zu jeder
einzelnen die Jahreszahl des Erscheinens der ersten Auf-
lage hinzu.
Die Gebart der Tragödie« Oder: Griechentum und Pessimismus.
Die 1. Aufl. erschien 1872.
Eine neue Ausgabe mit vorgedrucktem „Versuch einer
Selbstkritik« erschien 1886.
Unzeitgemäfse Betrachtungen.
Erstes Stück : David Straufs, der Bekenner und Schrift-
steller. 1. Aufl. 1873.
Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie
für das Leben. 1. Aufl. 1874.
Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher. 1. Aufl. 1874.
Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth. 1. Aufl.
1876.
Mensehliehes^ Allznmenschliches« Ein Buch für freie Geister.
1. Band. 1. Aufl. 1878.
Eine neue Ausgabe mit einer einfahrenden Vorrede
erschien 1886.
Menschliclies^ Allzumenschliches« Ein Buch für freie Geister.
2. Band. Die beiden Abteilungen dieses Buches: „Ver-
mischte Meinungen und Sprüche" und „Der Wanderer und
sein Schatten'' erschienen zuerst jede als besonderes Buch.
Die erste 1879 unter dem Titel: „Menschliches, Allzu-
menschliches. Ein Buch für freie Geister. Anhang: Ver-
mischte Meinungen und Sprüche", die zweite 1880. Beide
Abteilungen wurden 1886 zu einem Bande vereinigt, der
mit einer einfahrenden Vorrede versehen wurde und der
den Titel trug: „Menschliches, Allzumenschliches. Ein
Buch für freie Geister. Zweiter Band. Neue Ausgabe
mit einer einführenden Vorrede."
Morgenröte« Gedanken über die moralischen Vorurteile.
1. Aufl. 1881.
Neue Ausgabe mit einer einfahrenden Vorrede 1887.
Die fröhliche Wissenschaft („La gaja scienza'^). 1. Aufl. 1882.
Neue Ausgabe mit einer Vorrede 1887.
Also sprach Zarathnstra. Die Teile erschienen zuerst ein-
zeln: 1. Teil 1883; 2. Teil 1883; 3. Teil 1884. Die erste
Gesamtausgabe der drei Teile erschien 1886. Der vierte
Teil erschien 1885 in 40 Abzügen blofs für Freunde und
erst 1891 als 1. Aufl.
Jenseits yon Gnt und Böse. Vorspiel einer Philosophie der
Zukunft. 1. Aufl. 1886.
Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. 1. Aufl. 1887.
Der Fall Tf agner. Ein Musikanten-Problem. 1. Aufl. 1888.
Götzen dämmemng oder Wie man mit dem Hammer philo-
sophiert. 1. Aufl. 1889.
Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen.
Erschien 1895 in der Gresamtausgabe zum ersten Mal.
1888 bereits einmal gedruckt, aber nicht ausgegeben.
Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christentums. Das
erste Buch des unvollendeten Werkes Nietzsches „Der
Wille zur Macht". In der Gesamtausgabe (1895) zum ersten-
mal gedruckt.
Gedichte. In der Gesamtausgabe 1895.
Eine Gesamtausgabe von Nietzsches Werken in
8 Bänden ist 1895 bei- C. G. Naumann in Leipzig er-
schienen. In derselben sind enthalten: Die Geburt der
Tragödie 4. Aufl.; Die „UnzeitgemSisen Betrachtungen"
3. Aufl.; „Menschliches, Allzumenschliohes" 1. u. 2. Bd.
4. Aufl.; Morgenröte 2. Aufl.; Fröhliche Wissenschaft
2. Aufl.; Zarathustra 4. Aufl.; Jenseits von Gut und
Böse 5. Aufl.; Genealogie der Moral 4. Aufl.; Der Fall
Wagner 3. Aufl.; Götzendämmerung 3. Aufl.; Nietzsche
contra Wagner; Antichrist; Gedichte.
Die Veröffentlichung der noch ungedruckten Arbeiten
Nietzsches, sowie seiner Entwürfe zu Arbeiten, seiner Frag-
mente u. s. w. steht bevor.
«^
I. Der Charakter. 17
die der menschlichen Erkenntnis unzugänglich sind,
und die als der eigentliche Urgrund, als das Be-
stimmende alles Daseins gelten sollen. Durch eine
solche Annahme verdirbt man sich die Freude an dieser
Welt. Man würdigt sie zum Scheine, zu einem blofsen
Abglanz eines Unzugänglichen herab. Man erklärt
die uns bekannte Welt, die für uns allein wirkliche,
für einen nichtigen Traum und schreibt die wahre
Wirklichkeit einer erträumten, erdichteten anderen
Welt zu. Man erklärt die menschlichen Sinne für
Betrüger, die uns Scheinbilder statt Wirklichkeiten
liefern.
Nur aus der Schwäche kann eine solche Ansicht
stammen. Denn der Starke, der fest in der Wirklich-
keit wurzelt, der seine Freude am Leben hat, wird es
sich nicht in den Sinn kommen lassen, eine andere
Wirklichkeit zu erdichten. Er ist mit dieser Welt
beschäftigt und bedarf keiner andern. Aber die Leiden-
den, die Kranken, die unzufrieden sind mit diesem
Leben, nehmen ihre Zuflucht zum Jenseits. Was
ihnen das Diesseits entzogen hat, soll ihnen das Jen-
seits bieten. Der Starke, der Gesunde, der entwickelte
und taugliche Sinne hat, um die Gründe dieser Welt
in ihr selber aufzusuchen, der bedarf zur Erklärung
der Erscheinungen, innerhalb deren er lebt, keiner
jenseitigen Gründe und Wesenheiten. Der Schwache,
der mit verkrüppelten Augen und Ohren die Wirklich-
keit wahrnimmt, der braucht Ursachen hinter den Er-
scheinungen.
Aus dem Leiden und der kranken Sehnsucht ist
der Glaube an das Jenseits geboren. Aus dem Un-
Steiner, Friedrich Nietzsche. 2
18 L Der Charakter.
▼ermögen, die wirkliche Welt zu dorehschauen^ sind
alle Annahmen von „Dingen an sieh* erwachsen.
Alle, welche Grund haben^ das wirkliche Leben
zu Temeinen , sagen J a zu einen erdichteten.
Nietzsche will ein Jasager gegenüber der Wirklich-
keit sein. Diese Welt will er durchforschen nach allen
Richtungen, er will sich einbohren in die Tiefen des
Daseins; von einem andern Leben will er nichts
wissen. Ihn kann selbst das Leiden nicht veranlassen^
Nein zum Leben zu sagen; denn auch das Leiden ist
ihm ein Mittel der Erkenntnis. ^ Nicht anders^ als es
ein Reisender macht der sich vorsetzt^ zu einer he-
stimmten Stunde au£suwachen^ und sich dann ruhig
dem Schlafe überiäCst: so ergeben wir Philosophen,
gesetzt, da(s wir krank werden, uns zeitweilig mit
Leib und Seele der E^rankheit — wir machen gleich-
sam vor uns die Augen zu. und wie jener weifs,
daCs irgend etwas nicht schläft, irgend etwas die
Stunden abzahlt und ihn aufwecken wird, so wissen
auch wir, dals der entscheidende Augenblick uns wach
finden wird, — dafs dann etwas hervorspringt und
den Geist auf der That ertappt, ich meine auf der
Schwäche oder Umkehr oder Ergebung oder Ver-
bärtung oder Verdüsterung, und wie alle die krank-
haften Zustände des Geistes heifsen, welche in gesunden
Tagen den Stolz des Geistes wider sich haben. Man
lernt nach einer derartigen Selbstbefiragung^ Selbst-
versuchung, mit einem feineren Auge nach allem,
worüber überhaupt bisher philosophiert worden ist»
hinsehen , . „(Vorrede zur zweiten Ausgabe der „fröh-
lichen Wissenschaft**.) —
I. Der Chsraktor.
Dieser lebens- und wirküchkeitsfreundliche Sinn
Nietzsches zeigt sich auch in seinen Anstliauungen
über die Menschen und ihre gegenseitigen Beziehungen.
Auf dieBem Gebiete ist Nietzsche vollkommener Indivi-
dualist Jeder Mensch gilt ihm als eine Welt für sich,
ein Unikum. Das „wunderlich bunte Mancherlei", das
zum „Einerlei" vereinigt ist und uns als ein be-
Btiramter Mensch entgegentritt, kann kein noch so
seltsamer Zufall ein zweites Mal in gleicher Weise zu*
flamroenschlitteln." (Schopenhauer als Erzieher 1.) Die
wenigsten Menschen sind jedoch geneigt, ihre nur
einmal vorhandenen Eigentümlichkeiten zu entfalten,
Sie fürchten sich vor der Einsamkeit, in die sie da-
durch gedrängt werden. Es ist bequemer und gefahr-
loser, in gleicher Weise wie die Mitmenschen zu leben;
_iDan findet dann immer Gesellschaft. Wer auf seine
^gene Art sich einrichtet , wird von anderen nicht
rerstanden und findet keine Genossen. Für Nietzsche
|tat die Einsamkeit einen besonderen Reiz. Er liebt
, die Heimlichkeiten des eigenen Innern aufzusuchen.
Ißr flieht die Gemeinschaft der Menschen. Seine Ge-
lankengäDge sind zumeist ßohrrersuche nach Schätzen,
wie tief in seiner Persönlichkeit verborgen liegen.
Das Licht, das andere ihm bieten, verschmäht er: die
"Ijuft, die man da atmet, wo das „Gemeinsame der
Menschen", die „Regel Mensch" lebt, will er nicht
mitfttmeu. Er trachtet instinktiv nach seiner „Burg
Iund Heimlichkeit", wo er von der Menge, den vielen,
den allermeisten erlöst ist. (Jenseits von Gut und
Böse § 36.) In seiner „fröhlichen Wissenschaft" klagt
20 I- Der Charakter.
er, dafs es ihm schwer ist, seine Mitmenschen zu „ver-
dauen" ; und in „Jenseits von Gut und Böse" (§ 282)
verrät er, dafs er zumeist gefährliche Verdauungs-
störungen davontrug, wenn er sieh an Tische setzte,
an denen die Kost des „Allgemein-Menschlichen" ge-
nossen wurde. Die Menschen dürfen Nietzsche nicht
zu nahe kommen, wenn er sie ertragen soll.
6.
Nietzsche erklärt einen Gedanken, ein Urteil in
derjenigen Form für gültig, zu der die freiwaltenden
Lebensinstinkte ihre Zustimmung geben. Ansichten,
für die das Leben sich entscheidet, läfst er sich durch
keine logischen Zweifel nehmen. Dadurch erhält sein
Denken einen sichern, freien Zug. Es wird nicht
beirrt durch Bedenken wie : ob eine Behauptung auch
„objektiv" wahr ist, ob sie die Grenzen des mensch-
lichen Erkenntnisvermögens nicht überschreitet u. s. w.
Wenn Nietzsche den Wert eines Urteiles für das Leben
erkannt hat, dann fragt er nicht mehr nach einer
weiteren „objektiven"* Bedeutung und Gültigkeit des-
selben. Und wegen Grenzen des Erkennens macht
er sich keine Sorgen. Er ist der Ansicht, dafs ein
gesundes Denken das schafft, was es schaffen kann,
und sich nicht mit der nutzlosen Frage abquält: was
kann ich nicht?
Wer den Wert eines Urteils nach dem Grade be-
stimmen will, in dem es das Leben fördert, kann
diesen Grad natürlich nur durch seine eigenen, per-
sönlichen Lebenstriebe und Lebensinstinkte festsetzen.
Er kann nie mehr sagen wollen, als: in Bezug auf
I. Der Charakter. 21
meine Lebensinstinkte halte ich dieses bestimmte
Urteil für ein wertvolles. Und Nietzsche will auch
nie etwas anderes sagen, wenn er eine Ansicht aus-
spricht. Gerade dieses sein Verhältnis zu seiner Ge-
dankenwelt wirkt so wohlthuend auf den freiheitlich
gesinnten Leser. Es giebt Nietzsches Schriften den
Charakter anspruchsloser, bescheidener Vornehmheit.
Wie abstossend und unbescheiden klingt es daneben,
wenn andere Denker glauben, ihre Person sei das
Organ , durch das der Welt ewige , unumstöfsliche
Wahrheiten verkündet werden. Man kann in Nietzsches
Werken Sätze finden, die ein starkes Selbstbewufst-
sein ausdrücken, z. B. : „Ich habe der Menschheit das
tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, meinen Zara-
thustra: ich gebe ihr über kurzem das unab-
hängigste." — (Götzendämmerung, Streifzüge eines
ünzeitgemäfsen § 51.) Was besagt dies aber aus
seinem Munde? Ich habe es gewagt, ein Buch zu
schreiben, dessen Inhalt tiefer aus dem Wesen einer
Persönlichkeit geholt ist, als das sonst bei ähnlichen
Büchern der Fall ist ; und ich werde ein Buch liefern,
das unabhängiger von jedem fremden Urteil ist, als
andere philosophische Schriften ; denn ich werde über
die wichtigsten Dinge blofs aussprechen, wie sich meine
persönlichen Instinkte zu ihnen verhalten. Das ist vor-
nehme Bescheidenheit. Sie geht freilich denen wider
den Geschmack, deren verlogene Demut sagt: ich bin
nichts, mein Werk ist alles; ich bringe nichts von
persönlichem Empfinden in meine Bücher, sondern ich
spreche blofs aus, was die reine Vernunft mich aus-
sprechen heifst. Solche Menschen wollen ihre Person
verleugnen, um behaupten zu können, dafs ihre Aus-
22 I- Der Charakter.
Sprüche die eines höheren Geistes sind. Nietzsche
hält seine Gedanken für Erzeugnisse seiner Person
und für nicht mehr.
7.
Die Fächphilosophen mögen über Nietzsche lächeln
oder ihre Meinungen über die „Gefahren" seiner
„Weltanschauung" zum besten geben. Manche dieser
Geister, die nichts sind als personifizierte Lehrbücher
der Logik, können natürlich Nietzsches aus den
mächtigsten , unmittelbarsten Lebensimpulsen ent-
springendes Schaffen nicht loben.
Nietzsche mit seinen kühnen Gedanken Sprüngen trifft
jedenfalls auf tiefere Geheimnisse der menschlichen
Natur, als mancher logische Denker mit seinem vor-
sichtigen Kriechen. Was nutzt alle Logik, wenn sie mit
ihren Begriffsnetzen nur einen wertlosen Inhalt fängt?
Wenn uns wertvolle Gedanken mitgeteilt werden, dann
erfreuen wir uns an ihnen, wenn sie auch nicht mit
logischen Fäden verknüpft sind. Das Heil des Leben*
hängt nicht allein von der Logik ab, sondern auch
von der Gedankenerzeugung. Unsere Fachphilosophie
ist gegenwärtig unfruchtbar genug, und sie könnte die
Belebung mit Gedanken eines mutigen, kühnen Schrift-
stellers, wie es Nietzsche ist, sehr wohl brauchen»
Die Entwickelungskraft dieser Fachphilosophie ist
gelähmt durch den Einflufs, den das Kant'sche Denken
auf sie genommen hat. Sie hat durch diesen Einflufs
alle Ursprünglichkeit, allen Mut verloren. Kant hat
aus der Schulphilosophie seiner Zeit den Begriff von
Wahrheiten, die aus der „reinen Vernunft" stammen,
I. Der Charakter. 23
übernommen. Er hat zu zeigen versucht, dafs wir
durch solche Wahrheit nichts wissen können von
Dingen, die jenseits unserer Erfahrung liegen, von
„Dingen an sich". Seit einem Jahrhundert ist nun
unermefslicher Scharfsinn aufgewendet worden, um
diesen Kant'schen Gedanken nach allen Seiten durch-
zudenken. Die Erzeugnisse dieses Scharfsinns sind
allerdings oft dürftig und trivial. Übersetzte man
die Banalitäten manches philosophischen Buches der
Gegenwart aus den Schulformeln in eine gesunde
Sprache, so würde sich ein solcher Inhalt gegenüber
manchem kurzen Aphorismus Nietzsches armselig genug
ausnehmen. Dieser konnte im Hinblick auf die Philo-
sophie der Gegenwart mit einem gewissen Recht den
stolzen Satz aussprechen: „Mein Ehrgeiz ist, in zehn
Sätzen zu sagen, was jeder andere in einem Buche
sagt, — was jeder andere in einem Buche nicht
sagt . . ."
8.
Wie Nietzsche in seinen eigenen Meinungen nichts
geben will alä ein Erzeugnis seiner persönlichen In-
stinkte und Triebe, so sind ihm auch fremde An-
sichten nichts weiter als Symptome, aus denen er auf
die in einzelnen Menschen oder ganzen Völkern, Rassen
u. s. w. vorwaltenden Instinkte schliefst. Er macht
sich nichts mit Diskussionen oder Widerlegungen
fremder Meinungen zu schaffen. Aber er sucht die
Instinkte auf, die sich in diesen Meinungen aussprechen.
Er sucht die Charaktere der Persönlichkeiten oder
Völker aus ihren Ansichten zu erkennen. Ob eine
24 1- Der Charakter.
Ansicht auf das Vorwalten der Instinkte für Gesund-
heit, Tapferkeit, Vornehmheit, Lebensfreude hinweist,
oder ob sie aus ungesunden, sklavischen, müden,
lebensfeindlichen Instinkten entspringt, das interessiert
ihn. Wahrheiten an sich sind ihm gleichgültig; er
kümmert sich darum, wie die Menschen ihre Wahr-
heiten ihren Instinkten gemäfs ausbilden, und wie
sie damit ihre Lebensziele fördern. Die natürlichen
Ursachen der menschlichen Ansichten will er auf-
suchen.
Nach dem Sinne jener Idealisten, die der Wahr-
heit einen selbständigen Wert zuerkennen , die ihr
einen „reinen, höhern Ursprung** als den aus den
Instinkten geben wollen, ist Nietzsches Bestreben
allerdings nicht. Er erklärt die menschlichen An-
sichten als das Ergebnis natürlicher Kräfte, wie der
Naturforscher die Einrichtung des Auges aus dem
Zusammenwirken natürlicher Ursachen erklärt. Eine
Erklärung der geistigen Entwickelung der Mensch-
heit aus besonderen sittlichen Zwecken, Idealen, aus
einer sittlichen Weltordnung erkennt er ebenso-
wenig an, wie der Naturforscher der Gegenwart die
Erklärung anerkennt, dafs die Natur das Auge des-
wegen in einer bestimmten Weise gebaut hat, weil sie
den Zweck hatte, dem Organismus ein Organ zum
Sehen anzuerschaflfen. In jedem Ideal sieht Nietzsche
nur den Ausdruck für einen Instinkt, der sich auf
eine bestimmte Art seine Befriedigung sucht, wie der
moderne Naturforscher in der zweckmäfsigen Ein-
richtung eines Organes das Ergebnis organischer
Bildungsgesetze sieht. Wenn es gegenwärtig noch
Naturforscher und Philosophen giebt, die jedes Schaffen
I. Der Charakter. *• 25
der Natur nach Zwecken ablehnen, aber vor dem
sittlichen Idealismus Halt machen und in der Ge-
schichte die Verwirklichung eines göttlichen Willens,
einer idealen Ordnung der Dinge sehen, so ist dies
eine Instinkthalbheit. Solchen Personen fehlt für die
Beurteilung geistiger Vorgänge der richtige Blick,
während sie ihn in der Beobachtung von Natur-
vorgängen zeigen. Wenn ein Mensch glaubt, er
strebe ein Ideal an , das nicht aus der Wirk-
lichkeit stammt , so glaubt er dies nur , weil er
den Instinkt nicht kennt , aus dem dieses Ideal
entsteht.
Nietzsche ist Anti-Idealist in dem Sinne, wie der
moderne Naturforscher Gegner der Annahme von
Zwecken ist, die die Natur verwirklichen soll. Er
spricht ebensowenig von sittlichen Zwecken, wie der
Naturforscher von Naturzwecken spricht. Nietzsche
hält es nicht für weiser, zu sagen : der Mensch soll ein
sittliches Ideal verwirklichen, wie zu erklären: der
Stier hat Homer, damit er stofsen könne. Er be-
trachtet den einen wie den andern Ausspruch als
Produkt einer Welterklärung, welche von „göttlicher
Vorsehung", „weiser Allmacht", statt von natürlichen
Wirkungen, spricht.
Diese Welterklärung ist ein Hemmschuh für alles
gesunde Denken ; sie schafft einen erdichteten, idealen
Nebel, der das natürliche, auf die Beobachtung der
Wirklichkeit gerichtete Sehvermögen hindert, die Welt-
vorgänge zu durchschauen; sie stumpft endlich völlig
allen Wirklichkeitssinn ab.
26 ^ I- Der Charakter.
9.
Wenn Nietzsche sich in einen geistigen Kampf
einläfst, so will er nicht fremde Meinungen als solche
widerlegen, sondern er thut es, weil diese Meinungen
auf schädliche, naturwidrige Instinkte hinweisen, die
er bekämpfen will. Er hat dabei eine ähnliche Ab-
sicht, wie sie jemand hat, der eine schädliche Natur-
wirkung bekämpft oder ein gefährliches Naturwesen
vertilgt. Er baut nicht auf die „überzeugende" Kraft
der Wahrheit, sondern darauf, dafs er den Gegner
besiegen wird, wenn dieser die ungesunden, schäd-
lichen Instinkte, er aber die gesunden, lebenfördern-
den hat. Er sucht nach keiner weiteren Recht-
fertigung eines solchen Kampfes, wenn seine Instinkte
die-des Gegners als schädlich empfinden. Er glaubt
nicht als Viertreter irgend einer Idee kämpfen zu
müssen, sondern er kämpft, weil ihn seine Instinkte
dazu treiben. Zwar ist das bei keinem geistigen
Kampfe anders, aber gewöhnlich sind sich die
Kämpfer der wirklichen Triebfedern ebensowenig be-
wufst, wie die Philosophen sich ihres „Willens zur
Macht" oder die Anhänger der sittlichen Weltordnung
der natürlichen Ursachen ihrer sittlichen Ideale. Sie
glauben, dafs lediglich Meinung gegen Meinung kämpft,
und verhüllen ihre wirklichen Motive durch BegrifFs-
mäntel. Sie nennen auch die Instinkte des Gegners
nicht, die ihnen unsympathisch sind, ja diese kommen
ihnen vielleicht gar nicht zum Bewufstsein. Kurz,
die Kräfte, die eigentlich feindlich gegen einander
gerichtet sind, treten gar nicht offen hervor. Nietzsche
nennt rücksichtslos die Instinkte des Gegners, die
I. Der Charakter. 27
ihm zuwider sind, und er nennt auch die Instinkte,
die er ihnen entgegensetzt. Wer dies Cynismus
nennen will, der mag es thun. Er soll aber nur
nicht übersehen, dafs es in aller menschlichen Thätig-
keit niemals etwas anderes als solchen Cynismus
gegeben hat, und dafs alle idealistischen Wahngewebe
von diesem Cynismus gewebt sind.
i*
IL
Der Ubermenscli.
10.
^^M Alles Streben des Men sehen besteht, wie das
^Mnnes jeden Lebewesens, darin, von der Natur ein-
gepflanzte Triebe und Instinkte in der besten Weise
zu befriedigen. Wenn die Menschen nach Tugend,
Gerechtigkeit, Erkenntnis und Kunst streben, so ge-
schieht dies deshalb, weil Tugend, Gerechtigkeit n, s. w.
Mittel sind, durch die die menschlichen Instinkte sich
so entwickeln können, wie es deren Natur entsprechend
ist. Die Instinkte würden ohne diese Mittel ver-
kllmmern. Es ist nun eine Eigentümlichkeit des
Menschen, dafs er diesen Zusammenhang seiner Lebens-
bedingungen mit seinen natürlichen Trieben ver-
gifst und jene Mittel zu einem naturgeraäfsen,
machtvollen Leben als etwas ansieht, das an sich
einen unbedingten Wert hat. Der Mensch sagt dann:
Tugend, Gerechtigkeit. Erkenntnis u. s. w. müssen
um ihrer selbst willen erstrebt werden, Sie Laben
nicht dadurch einen Wert, dafs sie dem Leben dienen,
sondern vielmehr das Leben erhalte erst einen Wert
_ dadurch, dafs es nach jenen idealen Gütern strebt.
ler Mensch sei nicht dazu da, nach Marsgabe seiner
istinkte zu leben, wie das Tier; sondern er solle
32 II' I^Gr Übermensch.
seine Instinkte dadurch adeln, dafs er sie in den
Dienst höherer Zwecke stelle. Auf diese Weise kommt
der Mensch dazu, das, was er selbst erst zur Be-
friedigung seiner Triebe geschaffen hat, als Ideale an-
zubeten, die seinem Leben erst die rechte Weihe
geben. Er fordert Unterwerfung unter die Ideale,
die er höher schätzt, als sich selbst. Er löst sich los
von dem Mutterboden der Wirklichkeit und will
seinem Dasein einen höheren Sinn und Zweck geben.
Er erfindet einen unnatürlichen Ursprung für seine
Ideale. Er nennt sie den „Willen Gottes" , die
„ewigen sittlichen Gebote". Er will die „Wahrheit
um der Wahrheit willen" , „die Tugend um der
Tugend" willen anstreben. Er betrachtet sich als
einen guten Menschen erst dann, wenn es ihm an-
geblich gelungen ist, seine Selbstsucht, d. h. seine
natürlichen Instinkte zu bändige^ und selbstlos
einem idealen Ziele zu folgen. Einem solchen
Idealisten gilt der Mensch als unedel und „böse",
der es bis zu solcher Selbstüberwindung nicht ge-
bracht hat.
Nun stammen ursprünglich alle Ideale aus natür-
lichen Instinkten. Auch was der Christ als Tugend
ansieht, die ihm Gott geoffenbart hat, ist ursprünglich
von Menschen erfunden, um irgend welche Instinkte
zu befriedigen. Der natürliche Ursprung ist vergessen
und der göttliche hinzugedichtet worden. Ahnlich
verhält es sich mit den Tugenden, die die Philosophen
und Moralprediger aufstellen.
Wenn die Menschen blofs gesunde Instinkte
hätten und diesen gemäfs ihre Ideale bestimmten, so
würde der theoretische Irrtum über den Ursprung
I.
Der Charakter.
Steiner, Friedrich Nietzsche.
1.
Fried richNietzsche charakterisiert sich selbst
als einsamen Grübler und Rätselfreund, als u n z e i t -
gemäfse Persönlichkeit. Wer auf solchen eigenen
Wegen geht, wie er, „begegnet niemandem; das
bringen die eigenen Wege mit sich. Niemand kommt,
ihm dabei zu helfen; mit allem, was ihm von Gefahr,
Zufall, Bosheit und schlechtem Wetter zustöfst, mufs
er allein fertig werden" , sagt er in der Vorrede zur
zweiten Ausgabe seiner „Morgenröte". Aber reizvoll
ist es, ihm in seine Einsamkeit zu folgen. Die Worte,
die er über sein Verhältnis zu Schopenhauer ausge-
sprochen hat, möchte ich über das meinige zu Nietzsche
sagen : „Ich gehöre zu den Lesern Nietzsches, welche,
nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen, mit Be-
stimmtheit wissen, dafs sie alle Seiten lesen und auf
jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt
hat. Mein Vertrauen zu ihm war sofort da
Ich verstand ihn, als ob er für mich geschrieben hätte,
um mich verständlich, aber unbescheiden und thöricht
auszudrücken." Man kann so sprechen und weit da-
von entfernt sein, sich als „Gläubigen" der Nietzsche-
schen Weltanschauung zu bekennen. Weiter aller-
1*
I. Der Charakter.
dings nicht, als Nietzsche davon entfernt war, sich
solche „Gläubige" zu wünschen. Legt er doch seinem
„Zarathustra" die Worte in den Mund:
„Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was
liegt an Zarathustra ! Ihr seid meine Gläubigen : aber
was liegt an allen Gläubigen!
Ihr hattet euch noch nicht gesucht : da fandet ihr
mich. So thun alle Gläubigen ; darum ist es so wenig
mit allem Glauben.
Nun heifse ich euch, mich verlieren und euch
finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt,
will ich euch wiederkehren." '
Nietzsche ist kein Messias und Religionsstifter;
er kann deshalb sich wohl Freunde seiner Meinungen
wünschen; Bekenner seiner Lehren aber, die ihr
eigenes Selbst aufgeben, um das seinige zu finden,
kann er nicht wollen.
In Nietzsches Persönlichkeit finden sich Instinkte,
denen ganze Vorstellungskreise seiner Zeitgenossen
zuwider sind. Von den wichtigsten Kulturideen der-
jenigen, in deren Mitte er sich entwickelt hat, wendet
er sich ab mit einem instinktiven Widerwillen; und
2war nicht so, wie man eine Behauptung ablehnt, in
der man einen logischen Widerspruch entdeckt hat,
sondern wie man sich von einer Farbe abwendet, die
dem Auge Schmerz verursacht. Der Widerwille geht
von dem unmittelbaren Gefühl aus; die bewufste
Überlegung kommt zunächst gar nicht in Betracht.
Was andere Menschen empfinden, wenn ihnen die
Gedanken: Schuld, Gewissensbifs, Sünde, jenseitiges
Leben, Ideal, Seligkeit, Vaterland durch den Kopf
gehen, wirktauf Nietzsche unangenehm. Die instinktive
I. Der Charakter.
Art der Abneigung gegen die genannten Vorstellungen
unterscheidet Nietzsche auch von den sogenannten
„Freigeistern" der Gegenwart. Diese kennen alle Ver-
standeseinwände gegen die „alten Wahnvorstellungen" ;
aber wie selten findet sich einer, der von sich sagen
kann: seine Instinkte hängen nicht mehr an ihnen!
Gerade die Instinkte sind es, die den Freigeistern der
Gegenwart böse Streiche spielen. Das Denken nimmt
einen von den überlieferten Ideen unabhängigen
Charakter an, aber die Instinkte können sich diesem
veränderten Charakter des Verstandes nicht anpassen.
Diese „freien Geister" setzen irgend einen Begriff der
modernen Wissenschaft an die Stelle einer älteren
Vorstellung; aber sie sprechen so von ihm, dafs man
erkennt: der Verstand geht einen andern Weg als
die Instinkte. Der Verstand sucht in dem Stoffe,
in der Kraft, in der Naturgesetzlichkeit den
Urgrund der Erscheinungen; die Instinkte aber ver-
leiten dazu, diesen Wesen gegenüber dasselbe zu em-
pfinden, was andere ihrem persönlichen Gotte gegen-
über empfinden. Geister dieser Art wehren sich gegen
den Vorwurf der Gottesleugnung ; aber sie thun es
nicht deshalb, weil ihre Weltauffassung sie auf etwas
führt, was mit irgend einer Gottes Vorstellung überein-
stimmt, sondern weil sie von ihren Vorfahren die
Eigenschaft ererbt haben, bei dem Worte „Gottes-
leugner" ein instinktives Gruseln zu empfinden.
Grofse Naturforscher betonen, dafs sie die Vor-
stellungen: Gott, Unsterblichkeit nicht verbannen,
sondern nur im Sinne der modernen Wissenschaft
umgestalten wollen. Ihre Instinkte sind eben hinter
ihrem Verstände zurückgeblieben.
I. Der Charakter.
Eine grofse Zahl dieser „freien Geister" vertritt
die Ansicht, dafs der Wille des Menschen unfrei ist.
Sie sagen: der Mensch mufs in einem bestimmten
Falle so handeln, wie es sein Charakter und die auf
ihn einwirkenden Verhältnisse bedingen. Man halte
aber Umschau bei diesen Gegnern der Ansicht vom
„freien Willen", und man wird finden, dafs sich die
Instinkte dieser „Freigeister" von dem Vollbringer
einer „bösen" That geradeso mit Abscheu abwenden,
wie es die Instinkte der anderen thuh , die der
Meinung sind: der „freie Wille" könne sich nach
Belieben dem Guten oder dem Bösen zuwenden.
Der Widerspruch zwischen Verstand und In-
stinkt ist das Merkmal unserer „modernen Geister".
Auch in den freiesten Denkern der Gegenwart leben
noch die von der christlichen Orthodoxie gepflanzten
Instinkte. Genau die entgegengesetzten sind in
Nietzsches Natur wirksam. Er braucht nicht erst
darüber nachzudenken, ob es Gründe gegen die An-
nahme eines persönlichen Weltenlenkers giebt. Sein
Instinkt ist zu stolz, um sich vor einem solchen zu
beugen; deshalb lehnt er eine derartige Vorstellung
ab. Er spricht mit seinem Zarathustra: „Aber dafs
ich euch ganz mein Herz offenbare, ihr Freunde:
wenn es Götter gäbe, wie hielte ich's aus, kein Gott
zu sein! Also giebt es keine Götter." Sich selbst
oder einen andern wegen einer begangenen Handlung
„schuldig" zu sprechen, dazu drängt ihn nichts in
seinem Innern. Um ein solches „schuldig" unstatthaft
zu finden, dazu braucht er keine Theorie vom „freien"
oder „unfreien" Willen.
Auch die patriotischen Empfindungen seiner
I. Der Charakter.
deutschen Volksgenossen sind Nietzsches Instinkten
zuwider. Er kann sein Empfinden und Denken nicht
abhängig machen von den Gedankenkreisen des Volkes,
innerhalb dessen er geboren und erzogen ist ; auch nicht
von der Zeit, in der er lebt. „Es ist so kleinstädtisch
— sagt er in seiner Schrift „Schopenhauer als Er-
zieher" — , sich zu den Ansichten verpflichten, die
ein paar hundert Meilen weiter schon nicht mehr ver-
pflichten. Orient und Occident sind Kreidestriche, die
uns jemand vor unsere Augen hinmalt, um unsere
Furchtsamkeit zu narren. Ich will den Versuch
machen, zur Freiheit zu kommen, sagt sich die junge
Seele ; und da sollte es sie hindern, dafs zufällig zwei
Nationen sich hassen und bekriegen, oder dafs ein
Meer zwischen zwei Weltteilen liegt, oder dafs rings
um uns eine Religion gelehrt wird, welche vor ein
paar tausend Jahren nicht bestand." Die Empfindungen
der Deutschen während des Krieges im Jahre 1870
fanden in seiner Seele einen so geringen Widerhall,
dafs er, „während die Donner der Schlacht von Wörth
über Europa weggingen", in einem Winkel der Alpen
safs, „sehr vergrübelt und verrätselt, folglich sehr be-
kümmert und unbekümmert zugleich", und seine Ge-
danken über die Griechen niederschrieb. Und als er
einige Wochen darauf sich selbst „unter den Mauern
von Metz" befand, war er „noch immer nicht losge-
kommen von den Fragezeichen, die er zum Leben
und der Kunst der Griechen gesetzt hatte". (Vergl.
„Versuch einer Selbstkritik" in der zweiten Auflage
seiner „Geburt der Tragödie".) Als der Krieg zu
Ende war, stimmte er so wenig in die Begeisterung
seiner deutschen Zeitgenossen über den errungenen
8 I. Der Charakter.
Sieg ein, dafs er schon im Jahre 1872 in seiner
Schrift über David Straufs von den „schlimmen und
gefährlichen Folgen** des siegreich beendeten Kampfes
sprach. Er stellte es sogar als einen Wahn hin, dafs
auch die deutsche Kultur in diesem Kampfe gesiegt
habe, und er nannte diesen Wahn geftlhrlich, weil,
wenn er innerhalb des deutschen Volkes herrschend
wird, die Gefahr vorhanden ist, den Sieg in eine
völlige Niederlage zu verwandeln; in die Niederlage,
ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des
„Deutschen Reiches". Das ist Nietzsches Gesinnung
in einer Zeit, in der ganz Europa voll ist von natio-
naler Begeisterung. Es ist die Gesinnung einer un-
zeitgemäfsen Persönlichkeit, eines Kämpfers
gegen seine Zeit. Aufser dem Angeführten liefse
sich noch vieles nennen, was in Nietzsches Em-
pfindungs- und Vorstellungsleben anders ist, als in
dem seiner Zeitgenossen.
2,
Nietzsche ist kein „Denker" im gewöhnlichen
Sinne des Wortes. Für die fragwürdigen und tief-
dringenden Fragen, die er der Welt und dem Leben
gegenüber zu stellen hat, reicht das blofse Denken
nicht aus. Für diese Fragen müssen alle Kräfte der
menschlichen Natur entfesselt werden; die denkende
Betrachtung allein ist ihnen nicht gewachsen. Zu
blofs erdachten Gründen für eine Meinung hat
Nietzsche kein Vertrauen. „Es giebt ein Mifstrauen
in mir gegen Dialektik, selbst gegen Gründe," schreibt
er am 2. Dezember 1887 an Georg Brandes. (Vergl.
I. Der Charakter.
dessen „Menschen und Werke", S. 212). Wer ihn
um die Gründe seiner Ansichten fragt, für den hat er
„Zarathustras" Antwort bereit: „Du fragst warum?
Ich gehöre nicht zu denen, welche man nach ihrem
Warum fragen darf." Nicht ob eine Ansicht logisch
bewiesen werden kann, ist für ihn mafsgebend,
sondern ob sie auf alle Kräfte der menschlichen Per-
sönßchkeit so wirkt, dafs sie für das Leben Wert
hat. Er läfst einen Gedanken nur gelten, wenn er
ihn geeignet findet, zur Entwicklung des Lebens bei-
zutragen. Den Menschen so gesund als möglich, so
machtvoll als möglich, so schöpferisch als möglich zu
sehen, ist sein Wunsch. Wahrheit, Schönheit, alle
Ideale haben nur Wert und gehen den Menschen nur
etwas an, insofern sie leben fördernd sind.
Die Frage nach dem Werte der Wahrheit
tritt in mehreren Schriften Nietzsches auf. In der
verwegensten Form wird sie in seinem Buche: „Jen-
seits von Gut und Böse" gestellt. „Der Wille zur
Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse ver-
führen wird, jene berühmte Wahrhaftigkeit, von der
alle Philosophen bisher mit Ehrerbietung geredet
haben: was für Fragen hat dieser Wille zur Wahr-
heit uns schon vorgelegt! Welche wunderlichen,
schlimmen, fragwürdigen Fragen! Das ist bereits
eine lange Geschichte — und doch scheint es, dafs
sie kaum eben angefangen hat." Was Wunder, wenn
wir endlich auch mifstrauisch werden, die Geduld
verlieren, uns ungeduldig umdrehn? Dafs wir von
dieser Sphinx auch unsererseits das Fragen lernen?
Wer ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt?
Was in uns will eigentlich ,zur Wahrheit*? In der
10 I. Der Charakter.
That, wir machten lange Halt vor der Frage nach
der Ursache dieses Willens — bis wir, zuletzt, vor
einer noch gründlicheren Frage ganz und gar stehen
blieben. Wir fragten nach dem Werte dieses
Willens. Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warum
nicht lieber Unwahrheit?
Das ist ein Gedanke von kaum zu überbietender
Kühnheit. Stellt man daneben , was ein anderer
kühner „Grübler und Rätselfreund", Johann Gott-
lieb Fichte, von dem Streben nach Wahrheit sagt,
so sieht man erst, wie tief aus dem Wesen der mensch-
lichen Natur Nietzsche seine Vorstellungen heraufholt.
„Ich bin dazu berufen" — sagt Fichte — „der Wahr-
heit Zeugnis zu geben; an meinem Leben und an
meinem Schicksal liegt nichts; an den Wirkungen
meines Lebens liegt unendlich viel. Ich bin ein
Priester der Wahrheit; ich bin in ihrem Solde; ich
habe mich verbindlich gemacht, alles für sie zu thun
und zu wagen und zu leiden/' (Fichte, Vorlesungen
„Über die Bestimmung des Gelehrten" , vierte Vor-
lesung.) Diese Worte sprechen das Verhältnis aus,
in das sich die edelsten Geister der abendländischen
neueren Kultur zur Wahrheit setzen. Nietzsches an-
geführtem Ausspruch gegenüber erscheinen sie ober-
flächlich. Man kann gegen sie einwenden: Ist es
denn nicht möglich, dafs die Unwahrheit wertvollere
Wirkungen für das Leben hat, als die Wahrheit?
Ist es ausgeschlossen, dafs die Wahrheit dem Leben
schadet? Hat sich Fichte diese Fragen gestellt?
Haben es andere gethan, die „der Wahrheit Zeugnis"
gegeben haben?
Nietzsche aber stellt diese Fragen. Und er glaubt
I. Der Charakter. H
über sie erst dann ins Reine zu kommen, wenn er das
Streben nach Wahrheit nicht als blofse Verstandes-
sache behandelt, sondern nach den Instinkten sucht,
die dieses Streben erzeugen. Denn es könnte ja
wohl sein, dafs sich diese Instinkte der Wahrheit nur
als Mittel bedienten, um etwas zu erreichen, was höher
steht, als die Wahrheit. Nietzche findet, nachdem er
„lange genug den Philosophen zwischen die Zeilen
und auf die Finger gesehn" hat: „Das meiste Denken
eines Philosophen ist durch seine Instinkte heimlich
geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen." Die
Philosophen glauben, die letzte Triebfeder ihres Thuns
sei das Streben nach Wahrheit. Sie glauben dies,
weil sie nicht auf den Grund der menschlichen Natur
zu sehen vermögen. In Wirklichkeit wird das Streben
nach Wahrheit gelenkt von dem Willen zur Macht.
Mit Hilfe der Wahrheit soll die Macht und Lebens-
fülle der Persönlichkeit erhöht werden. Das bewufste
Denken des Philosophen ist der Meinung: die Er-
kenntnis der Wahrheit sei ein letztes Ziel; der unbe-
wufste Instinkt, der das Denken treibt, strebt nach
Förderung des Lebens. Für diesen Instinkt ist „die
Falschheit eines Urteils noch kein Einwand gegen ein
Urteil" ; für ihn kommt allein die Frage in Betracht :
„wie weit ist es lebenfördernd, lebenerhaltend, art-
erhaltend, vielleicht gar artzüchtend" (Jenseits von
Gut und Böse § 4).
„, Wille zur Wahrheit* heilst ihr 's, ihr Weisesten,
was euch treibt und brünstig macht?
Wille zur Denkbarkeit alles Seienden : also heifse
ich euren Willen!
Alles Seiende wollt ihr erst denkbar machen: denn
12 I. Der Charakter.
ihr zweifelt mit gutem Mifstrauen, ob es schon denk-
bar ist.
Aber es soll sich euch fügen und biegen! So
wilPs euer Wille. Glatt soll es werden und dem Geiste
unterthan, als sein Spiegel und Widerbild.
Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein
Wille zur Macht " (Zarathustra, 2. Teil, Von
der Selbst-Überwindung.)
Die Wahrheit soll die Welt dem Geiste unterthan
machen und dadurch dem • Leben dienen. Nur als
Lebensbedingung hat sie einen Wert. — Kann man
nicht aber noch weiter gehen und fragen : was ist das
Leben selbst wert? Nietzsche hält eine solche Frage
für unmöglich. Dafs alles Lebende so machtvoll, so
inhaltreich leben will, als irgend möglich ist, nimmt
er als eine Thatsache hin, über die er nicht weiter
grübelt. Die Lebensinstinkte fragen nicht nach dem
Werte des Lebens. Sie fragen nur: welche Mittel
giebt es, um die Macht ihres Trägers zu erhöhen.
„Urteile, Werturteile über das Leben, für oder wider,
können zuletzt niemals wahr sein : sie haben nur Wert
als Symptome, sie kommen nur als Symptome in Be-
tracht, — an sich sind solche Urteile Dummheiten.
Man mufs durchaus seine Finger darnach ausstrecken
und den Versuch machen, die erstaunliche Finesse zu
fassen, dafs der Wert des Lebens nicht abge-
schätzt werden kann. Von einem Lebenden nicht,
weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist, und
nicht Richter; von einem Toten nicht, aus einem
andern Grunde, — Von Seiten eines Philosophen im
Wert des Lebens ein Problem sehn, bleibt dergestalt
sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen an
I. Der Charakter. 13
seiner Weisheit, eine Unweisheit." — (Götzen-
dämmerung. Das Problem des Sokrates.) Die Frage
nach dem Werte des Lebens existiert nur für eine
mangelhaft ausgebildete, kranke Persönlichkeit, Wer
allseitig entwickelt ist, lebt, ohne zu fragen , wie viel
sein Leben wert ist.
Weil Nietzsche die beschriebenen Ansichten hat,
deshalb legt er auf logische Beweisgründe für ein Ur-
teil wenig Gewicht. Nicht darauf kommt es ihm an,
ob sich das Urteil logisch beweisen läfst, sondern wie
gut sich unter seinem Einflüsse leben läfst. Nicht allein
der Verstand, sondern die ganze Persönlichkeit des
Menschen soll befriedigt werden. Die besten Gedanken
sind diejenigen, welche alle Kräfte der menschlichen
Natur in eine ihnen angemessene Bewegung bringen.
Nur Gedanken dieser Art haben für Nietzsche
Interesse. Er ist kein philosophischer Kopf, sondern
ein „Honigsammler des Geistes" , der die „Bienen-
körbe" der Erkenntnis aufsucht und heimzubringen
sucht, was dem Leben frommt.
3.
In Nietzsches Persönlichkeit sind diejenigen In-
stinkte vorherrschend, die den Menschen zu einem
gebietenden, herrischen Wesen machen. Ihm gefällt
alles, was Macht bekundet; ihm mifsföUt alles, was
Schwäche verrät. Er fühlt sich nur so lange glück-
lich, als er sich in Lebensbedingungen befindet, die
seine Kraft erhöhen. Er liebt Hemmnisse, Widerstände
für seine Thätigkeit, weil er sich bei ihrer Überwin-
dung seiner Macht bewufst wird. Er sucht die be-
14 I- Der Charakter.
schwerlichsten Wege auf, die der Mensch gehen kann.
Ein Grundzug seines Charakters ist in dem Spruche
ausgedrückt, den er der zweiten Ausgabe seiner
„fröhlichen Wissenschaft" auf das Titelblatt gesetzt hat:
„Ich wohne in meinem eignen Haus,
Hab' niemandem nie nichts nachgemacht
Und — lachte noch jeden Meister aus,
Der nicht sich selber ausgelacht."
Jede Art von Unterordnung unter eine fremde
Macht empfindet Nietzsche als Schwäche. Und über
das, was eine „fremde Macht" ist, denkt er anders
als mancher, der sich als „unabhängigen, freien Geist"
bezeichnet. Nietzsche empfindet es als Schwäche, wenn
der Mensch sich in seinem Denken und Handeln
sogenannten „ewigen, ehernen" Gesetzen der Vernunft
unterwirft. Was die allseitig entwickelte Persönlich-
keit thut, das läfst sie sich von keiner Moral Wissen-
schaft vorschreiben, sondern allein von den Antrieben
des eigenen Selbst. Der Mensch ist in dem Augen-
blicke schon schwach, in dem er nach Gesetzen und
Regeln sucht, nach denen er denken und handeln
soll. Der Starke bestimmt die Art seines Denkens
und Handelns aus seinem eigenen Wesen heraus.
Diese Ansicht spricht Nietzsche am schroffsten in
Sätzen aus, um derentwillen ihn kleinlich denkende
Menschen geradezu als einen gefährlichen Geist be-
zeichnet haben: „Als die christlichen Kreuzfahrer im
Orient auf jenen unbesiegbaren Assassinenorden stiefsen,
jenen Freigeisterorden par excellence, dessen unterste
Grade in einem Gehorsame lebten, wie einen gleichen
kein Mönchsorden erreicht hat, da bekamen sie auf
irgend welchem Wege auch einen Wink über jenes
I. Der Charakter. 15
Symbol und Kerbholz wort, das nur den obersten
Graden, als deren Sekretum, vorbehalten war: „Nichts
ist wahr, alles ist erlaubt!" .... Wohlan, das
war Freiheit des Geistes, damit war der Wahrheit
selbst der Glaube gekündigt" . . . (Genealogie der
Moral § 19). Dafs diese Sätze die Empfindungen
einer vornehmen, einer Herrennatur zum Ausdruck
bringen, die sich die Erlaubnis, frei, nach ihren eige-
nen Gesetzen zu leben, durch keine Rücksicht auf
ewige Wahrheiten und Vorschriften der Moral ver-
kümmern lassen will, fühlen diejenigen Menschen nicht,
die, ihrer Art nach, zur Unterwürfigkeit geeignet sind.
Eine Persönlichkeit, wie die Nietzsches ist, verträgt
auch jene Tyrannen nicht, die in der Form abstrakter
Sittengebote auftreten. Ich bestimme, wie ich denken,
wie ich handeln will, sagt eine solche Natur.
Es giebt Menschen, die ihre Berechtigung, sich
„Freidenker" zu nennen, davon herleiten, dafs sie sich
in ihrem Denken und Handeln nicht solchen Gesetzen
unterwerfen, die von anderen Menschen herrühren,
sondern nur den „ewigen Gesetzen der Vernunft", den
„unumstöfslichen Pflichtbegriffen" oder dem „Willen
Gottes". Nietzsche sieht solche Menschen nicht als
wahrhaft starke Persönlichkeiten an. Denn auch
sie denken und handeln nicht nach ihrer eigenen
Natur, sondern nach den Befehlen einer höheren
Autorität. Ob der Sklave der Willkür seines Herrn,
der Religiöse den geoflfenbarten Wahrheiten eines
Gottes oder der Philosoph den Aussprüchen der Ver-
nunft folgt, das ändert nichts an dem Umstände, dafs
sie alle Gehorchende sind. Was befiehlt, ist dabei
gleichgültig; das ausschlaggebende ist, dafs überhaupt
16 L Der Charakter.
befohlen wird, dafs der Mensch sich nicht selbst die
Richtung für sein Thun giebt, sondern der Meinung
ist, es gebe eine Macht, welche ihm diese Richtung
vorzeichnet.
Der starke, wahrhaft freie Mensch will die Wahr-
heit nicht empfangen — er will sie schaffen; er
will sich nichts „erlauben" lassen, er will nicht ge-
horchen. „Die eigentlichen Philosophen sind Be-
fehlende und Gesetzgeber; sie sagen: so soll
es sein!" sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu?
des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit
aller philosophischen Arbeiter, aller Überwältiger der
Vergangenheit, — sie greifen mit schöpferischer Hand
nach der Zukunft, und alles, was ist und war, wird
ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hanmier.
Dir „Erkennen" ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine
Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist — Wille
zur Macht. — Giebt es heute solche Philosophen?
Gab es schon solche Philosophen? Mufs es nicht
solche Philosophen geben?" (Jenseits von Gut und
Böse § 211.)
4.
Ein besonderes Zeichen menschlicher Schwäche
sieht Nietzsche in jeder Art von Glauben an ein
Jenseits, an eine andere Welt, als die ist, in der der
Mensch lebt. Man kann, nach seiner Ansicht, dem
Leben keinen gröfseren Schaden thun, als wenn man
sein Leben im Diesseits im Hinblick auf ein anderes
Leben im Jenseits einrichtet. Man kann sich keiner
gröfseren Verirrung hingeben, als wenn man hinter
den Erscheinungen dieser Welt Wesenheiten annimmt.
II. Der ÜbennenBCb.
dieser Ideale nicht schaden. Die Idealisten hätten zwar
felsche Ansichten über die Herkunft ihrer Ziele, aber
diese Ziele selbst wären gesund, und das Leben mlifste
Leihen. Aber es giebt ungesunde Instinkte, die
&icht auf Stärkung, Förderung des Lebens, sondern
Fauf dessen SchwHeliung, Verküniraerung abzielen. Diese
bemächtigen sich des genannten theoretiachen Irrtums
und machen ihn zum praktischen Lebenszwecke. Sie
verleiten den Menschen, zu sagen: ein vollkommener
Mensch ist nicht derjenige, der sich selbst, seinem
Leben dienen will, sondern derjenige, der sicli der
VCTwirklichung eines Ideals hingiebt. Unter dem Ein-
flufs dieser Instinkte bleibt der Mensch nicht blofs
dabei stehen, irrtümlich seinen Zielen einen nn- oder
Iübcrnatürlichen Ursprung anzudichten , sondern er
■Dacht sich wirklich solche Ideale zurecht oder über-
nimmt sie von anderen, die nicht den Bedürfnissen
|ä«8 Lebens dienen. Er «trebt nicht mehr darnach,
pie in seiner Persönlichkeit liegenden Kräfte ans
ITageslicht zu ziehen, sondern er lebt nach einem
BÜner Natur aulgezwungenen Musterbilde, Ob er
dieses Ziel einer Roügion entnimmt, oder ob er es
selbst auf Grund gewisser, nicht in seiner Natur
^^aii^enden Voraussetzungen bestimmt: darauf kommt
^^^^ sieht an. Der Philosoph, der einen allgemeinen
^^B&weck der Menschheit im Auge hat und aus diesem
'seine sittlichen Ideale ableitet, legt der menschlichen
Natur ebenso Fesseln an, wie der Religio naatifter, der
den Menschen sagt: dies ist das Ziel, das euch Gott
gesetzt hat; und dem müfst ihr folgen. Es ist auch
gleichgültig, ob der Mensch sich vorsetzt, ein Eben-
bild Gottes zu werden, oder ob er ein Ideal des
34 U> I^^f Crbermensch.
^ YoUkommenen Menschen" erfindet und diesem möglichst
ähnlich werden will. Wirklich ist nur der einzelne
Mensch und die Triebe und Instinkte dieses einzelnen
Menschen. Nur wenn er auf die Bedürfiiisse seiner
eigenen Person sein Augenmerk richtet, kann der
Mensch erfahren, was seinem Leben frommt. Der
einzelne Mensch wird nicht „vollkommen", wenn er
sich verleugnet und einem Vorbilde ähnlich wird,
sondern wenn er das verwirklicht, was in ihm zur
Verwirklichung drängt Die menschliche Thätigkeit
erhält nicht erst einen Sinn, wenn sie einem un-
persönlichen, äufseren Zwecke dient; sie hat ihren
Sinn in sich selbst.
Der Anti-Idealist wird zwar auch in der unge-
sunden Abkehr des Menschen von seinen ureigenen
Instinkten noch eine Instinktäufserung erblicken. Er
weifs, dafs der Mensch selbst das Instinktwidrige nur
aus Instinkt vollbringen kann. Er wird aber doch
die Instinktwidrigkeit bekämpfen, wie der Arzt eine
Krankheit bekämpft, trotzdem er weifs, dafs sie natur-
gemäfs aus bestimmten Ursachen entstanden ist. Es
darf also dem Anti-Idealisten nicht der Einwurf ge-
macht werden: du behauptest, alles, was der Mensch
erstrebt, also auch alle Ideale, seien naturgemäfs ent-
standen; dennoch bekämpfst du den Idealismus.
Oewifs entstehen Ideale ebenso naturgemäfs wie Krank-
heiten; aber der Gesunde bekämpft den Idealismus,
wie er die Krankheit bekämpft. Der Idealist aber
sieht die Ideale als etwas an, das gehegt un4 gepflegt
werden mufs.
Der Glaube, dafs der Mensch vollkommen
erst wird, wenn er „höheren" Zwecken dient, ist,
n. Der Übermensch. 35
nach Nietzsches Meinung, etwas, das überwundeji
werden mufs. Der Mensch mufs sich auf sich selbst
besinnen und erkennen, dafs er Ideale nur erschaflfen
hat, um sich zu dienen. Naturgemäfs leben, ist ge-
sünder, als Idealen nachjagen, die angeblich nicht aus
der Wirklichkeit stammen. Den Menschen, der nicht
unpersönlichen Zielen dient, sondern der den Zweck
und Sinn seines Daseins in sich selbst sucht, der solche
Tugenden zu den seinigen macht, die seiner Kraft-
entfaltung, seiner Machtvollkommenheit dienen — diesen
Menschen stellt Nietzsche höher als den selbstlosen
Idealisten.
Dies ist es, was er durch seinen „Zarathustra"
verkündet Das souveräne Individuum, das weifs, dafs
es nur aus seiner Natur heraus leben kann, und das
in einer seinem Wesen entsprechenden Lebensgestaltung
sein persönliches Ziel sieht, ist für Nietzsche der
Übermensch, im Gegensatz zu dem Menschen, der
glaubt : ihm sei das Leben geschenkt, um einem aufser
ihm selbst liegenden Zwecke zu dienen.
Den Übermenschen, d.h. den Menschen, der
naturgemäfs zu leben versteht, lehrt Zarathustra. Er
lehrt die Menschen, ihre Tugenden als ihre Geschöpfe
betrachten; er heifst sie diejenigen verachten, die ihre
Tugenden höher als sich selbst achten.
Zarathustra ist in die Einsamkeit gegangen, um
sich frei zu machen von der Demut, in der sich die
Menschen beugen vor ihren Tugenden. Er geht erst
wieder unter Menschen, als er die Tugenden ver-
achten gelernt hat, die das Leben bändigen und nicht
dem Leben dienen wollen. Er bewegt sich nun leicht
wie ein Tänzer, denn er folgt nur sich und seinem
3*
36 !!• I^^r Übermensch.
Willen und achtet nicht auf die Linien, die ihm von
den Tagenden vorgezeichnet werden. Nicht schwer
mehr lastet der Glaube auf seinem Rücken, dafs es
unrecht sei, nur sich selbst zu folgen. Zarathustra
schläft nun nicht mehr, um von Idealen zu träumen;
er ist ein Wachender, der der Wirklichkeit sich frei
gegenüberstellt. Ein schmutziger Strom ist ihm der
Mensch, der sich selbst verloren hat und vor seinen
eigenen Geschöpfen im Staube liegt. Der Übermensch
ist ihm ein Meer, das diesen Strom aufnimmt, ohne
selbst unrein zu werden. Denn der Übermensch hat
sich selbst gefunden; er erkennt sich als Herrn und
Schöpfer seiner Tugenden. Zarathustra hat das Grofse
erlebt, dafs ihm alle Tugend zum Ekel geworden ist,
die über den Menschen gesetzt wird.
„Was ist das Gröfste, das ihr erleben könnt?
Das ist die Stunde der grofsen Verachtung. Die
Stunde, in der euch euer Glück zum Ekel wird und
ebenso eure Vernunft und eure Tugend."
11.
Die Weisheit Zarathustras ist nicht nach dem
Sinne der „modernen Gebildeten". Sie möchten alle
Menschen einander gleich machen. Wenn alle nur
nach einem Ziele streben, sagen sie, dann ist Zufrieden-
heit und Glück auf Erden. Der Mensch soll zurück-
halten, so fordern sie, seine besondem persönlichen
Wünsche und nur der Allgemeinheit, dem gemeinsamen
Glücke dienen. Friede und Ruhe wird dann auf der
Erde herrschen. Wenn jeder die gleichen Bedürfoisse
hat, dann stört keiner die Kreise des andern. Nicht
II. Der Übermensch. 37
sich und seine individuellen Ziele soll der Einzelne
ira Auge haben, sondern nach der einmal bestimmten
Schablone sollen alle leben. Verschwinden soll alles
einzelne Leben, und Glieder der gemeinsamen Welt-
ordnung sollen alle werden.
„Kein Hirt und eine Herde! Jeder will das
Gleiche, jeder ist gleich, wer anders fühlt, geht frei-
willig ins Irrenhaus.
„, Ehemals war alle Welt irre^ — sagen die Feinsten
und blinzeln.
„Man ist klug und weiss alles, was geschehen ist :
so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich
noch, aber man versöhnt sich bald, sonst verdirbt es
den Magen."
Zarathustra ist zu lange Einsiedler gewesen, um
solcher Weisheit zu huldigen. Er hat die eigenartigen
Töne gehört, die aus dem Innern der Persönlichkeit
erklingen, wenn der Mensch abseits steht von dem
Lärm des Marktes, wo einer nur die Worte des andern
nachspricht. Und er möchte es den Menschen in die
Ohren rufen : höret auf die Stimmen, die nur in jedem
Einzelnen von euch erklingen. Denn die nur sind
naturgemäss , die nur sagen jedem, was er vermag.
Ein Feind des Lebens, des reichen, vollen Lebens, ist
derjenige, welcher diese Stimmen ungehört verhallen
lässt und auf das gemeinsame Geschrei der Menschen
hört. Zu den Freunden der Gleichheit aller Menschen
will Zarathustra nicht sprechen. Sie könnten ihn nur
mifsverstehen. Denn sie würden glauben, dass sein
Übermensch jenes ideale Musterbild sei, dem alle
gleich werden sollen. Aber Zarathustra will den
Menschen keine Vorschriften darüber machen, wie sie
38 n. Der Übermensch.
sein sollen ; er will nur jeden Einzelnen auf sich selbst
verweisen und ihm sagen: überlasse dich dir selbst,
folge nur dir allein, stelle dich über Tugend, Weis-
heit und Erkenntnis. Zu solchen, die sich suchen
wollen, spricht Zarathustra; nicht einer Menge, die
ein gemeinsames Ziel sucht, sondern solchen Gefährten,
gelten seine Worte, die gleich ihm einen eigenen Weg
gehen. Sie allein verstehen ihn, denn sie wissen, dass
er nicht sagen will: seht, dies ist der Übermensch,
werdet wie er , sondern : seht , ich habe mich ge-
sucht; so bin ich, wie ich es euch lehre; geht
hin und sucht euch ebenso, dann habt ihr den Über-
menschen.
„Den Einsiedlern werde ich mein Lied singen
und den Zweisiedlern; und wer noch Ohren hat für
Unerhörtes, dem will ich sein Herz schwer machen
mit meinem Glücke."
12.
Zwei Tiere: die Schlange, als das klügste, und
der Adler, als das stolzeste Tier, begleiten Zarathustra.
Sie sind die Symbole seiner Instinkte. Klugheit
schätzt Zarathustra, denn sie lehrt den Menschen die
verschlungenen Pfade der Wirklichkeit finden ; sie lehrt
ihn kennen, was er zum Leben braucht. Und auch
den Stolz liebt Zarathustra, denn der Stolz bringt die
Selbstachtung des Menschen hervor, durch die dieser
dazu kommt, sich selbst als den Sinn und Zweck
seines Daseins zu betrachten. Der Stolze stellt
seine Weisheit, seine Tugend iricht über sich selbst.
Der Stolz bewahrt den Menschen davor, sich selbst
zu vergessen über „höheren, heiligeren" Zielen.
II. Der Übermensch. 39
Lieber noch als den Stolz möchte Zarathustra die
Klugheit verlieren. Denn die Klugheit, die nicht
von Stolz begleitet ist, sieht sich nicht als Menschen-
werk an. Wem der Stolz und die Selbstachtung
fehlt, der glaubt, seine Klugheit sei ihm vom Himmel
geschenkt. Ein solcher sagt : ein Thor ist der Mensch,
und er hat nur so viel Weisheit, als ihm der Himmel
schenken will.
„Und wenn mich einst meine Klugheit verlässt:
— ach, sie liebt es, davonzufliegen! — möge mein
Stolz dann noch mit meiner Thorheit fliegen!"
13.
Drei Verwandlungen muss der menschliche Geist
durchmachen, bis er sich selbst gefunden hat. Dies
lehrt Zarathustra. Ehrfürchtig ist der Geist zuerst. Er
nennt Tugend, was auf ihm lastet Er erniedrigt sich,
um seine Tugend zu erhöhen. Er sagt : alle Weisheit
ist bei Gott, und Gottes Wegen mufs ich folgen. Gott
legt mir das Schwerste auf, um meine Kraft zu prüfen,
ob sie auch stark sei und geduldig ausharre. Nur
der Geduldige ist stark. Gehorchen will ich, sagt der
Geist auf dieser Stufe, und ausführen die Gebote des
Weltengeistes, ohne zu fragen, was der Sinn dieser
Gebote ist. Der Geist fühlt den Druck, den eine
höhere Macht auf ihn ausübt. Nicht seine Wege
geht der Geist, sondern die Wege dessen, dem er
dient.
Es kommt die Zeit, wo der Geist inne wird, dafs
kein Gott zu ihm redet. Dann will er frei sein und
Herr in seiner eigenen Welt. Er sucht nach einer
40 II» I^er Übermensch.
Richtschnur für seine Geschicke. Er fragt nicht mehr
den Weltengeist, wie er sein Leben einrichten solle.
Aber nach einem festen Gesetz, nach einem heiligen
„du sollst" strebt er. Er sucht nach einem Mafsstab,
um den Wert der Dinge zu messen; er sucht nach
einem Unterscheidungszeichen von Gut und Böse. Es
muss eine Regel für mein Leben geben, die nicht
von mir, von meinem Willen abhängt, so spricht der
Geist auf dieser Stufe. Dieser Regel will ich mich
fügen. Frei bin ich, meint der Geist, aber nur frei,
um einer solchen Regel zu gehorchen.
Auch diese Stufe überwindet der Geist. Er wird
wie das Kind, das bei seinem Spielen nicht fragt : wie
soll ich dies oder jenes machen, sondern das nur
seinen Willen ausführt, das nur sich selbst folgt.
„Seinen Willen will nun der Geist, seine Welt
gewinnt sich der Weltverlorne."
„Drei Verwandlungen nannte ich euch des Geistes :
wie der Geist zimi Kamele ward, und zum Löwen
das Kamel, und der Löwe zuletzt zum Kinde.
Also sprach Zarathustra."
14.
Was wollen die Weisen, die die Tugend über den
Menschen stellen? fragt Zarathustra. Sie sagen: die
Ruhe der Seele kann nur haben, wer seine Pflicht
gethan hat, wer dem heiligen „du sollst" gefolgt ist.
Tugendhaft soll der Mensch sein, damit er nach ge-
thaner Pflicht träumen könne von erfüllten Idealen
und keine Gewissensbisse fühle. Ein Mensch mit
Gewissensbissen gleicht, sagen die Tugendhaften,
II. Der Übermensch. 41
einem SchlafeDden, dem böse Träume die Nachtruhe
stören.
„Wenige wissen das, aber man mufs alle Tugenden
haben, um gut zu schlafen. Werde ich falsch Zeugnis
reden? Werde ich ehebrechen?
„Werde ich mich gelüsten lassen meines Nächsten
Magd? Das alles vertrüge sich schlecht mit gutem
Schlafe • • .
„Friede mit Gott und dem Nachbar, so will es
der gute Schlaf. Und Friede auch noch mit des
Nachbars Teufel! Sonst geht er bei dir des Nachts um."
Nicht was sein Trieb ihn heifst, thut der Tugend-
hafte, sondern was Seelenruhe bewirkt. Er lebt, um
in Ruhe über das Leben träumen zu können. Noch
Heber ist es ihm, wenn den Schlaf, den er Seelenruhe
nennt, gar kein Traum stört. Das heifst : dem Tugend-
haften ist es am liebsten, wenn er irgendwoher die
Regeln seines Handelns erhält und im übrigen seine
Ruhe geniefsen kann. „Seine Weisheit heifst: wachen,
um gut zu schlafen. Und wahrlich, hätte das Leben
keinen Sinn, und müfste ich Unsinn wählen, so wäre
auch mir dies der wählenswürdigste Unsinn," spricht
Zarathustra.
Auch für Zarathustra gab es eine Zeit, da er
glaubte, ein aufserhalb der Welt wohnender Geist,
ein Gott, habe die Welt geschaffen. Einen unzu-
friedenen, leidenden Gott dachte sich Zarathustra.
Um sich eine Befriedigung zu verschaffen, um von
seinem Leiden loszukommen, habe Gott die Welt
erschaffen, meinte einst Zarathustra. Aber er hat ein-
sehen gelernt, dafs es ein Wahnbild war, das er sich
selbst geschaffen hatte. „Ach, ihr Brüder, dieser Gott,
42 II* I^er Übermensch.
den ich schuf, war Menschen werk und -Wahnsinn
gleich allen Göttern!" Zarathustra hat seine Sinne
gebrauchen und die Welt betrachten gelernt. Und
zufrieden wurde er mit der Welt ; nicht mehr schweiften
seine Gedanken ins Jenseits. Blind war er ehemals
und konnte die Welt nicht sehen , deshalb suchte er
sein Heil aufserhalb der Welt. Aber Zarathustra hat
sehen gelernt und erkennen, dafs die Welt in sich
selbst ihren Sinn habe.
„Einen neuen Stolz lehrte mich mein Ich, den
lehre ich die Menschen: nicht mehr den Kopf in den
Sand der himmlischen Dinge zu stecken, sondern frei
ihn zu tragen, meinen Erdenkopf, der der Erde Sinn
schaflft."
15.
In Leib und Seele haben die Idealisten den
Menschen gespalten, in Idee und Wirklichkeit haben
sie alles Dasein geteilt. Und sie haben die Seele, den
Geist, die Idee zu einem besonders Wertvollen ge-
macht, um die Wirklichkeit, den Leib um so mehr
verachten zu können. Zarathustra aber sagt: Nur
eine Wirklichkeit, nur einen Leib giebt es, und die
Seele ist nur etwas am Leibe, die Idee nur etwas an
der Wirklichkeit. Eine Einheit sind Leib und
Seele des Menschen; aus einer Wurzel entspringen
Körper und Geist. Der Geist ist nur da, weil ein
Körper da ist, der Kräfte hat, an sich den Geist zu
entwickeln. Wie die Pflanze an sich die Blüte, so
entfaltet der Körper an sich den Geist.
„Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein
Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter
II. Der Übermensch. 43
Weiser — der heifst Selbst. In deinem Leibe wohnt
er, dein Leib ist er."
Wer einen Sinn hat für das Wirkliche, der sucht
den Geist, die Seele in und an dem Wirklichen, er sucht
die Vernunft in dem Wirklichen; nur wer die Wirk-
lichkeit für geistlos, für „blofs natürlich", für „roh"
hält, der giebt dem Geiste, der Seele ein besonderes
Dasein. Er macht die Wirklichkeit zur blofsen
Wohnung des Geistes. Einem solchen fehlt aber auch
der Sinn für die Wahrnehmung des Geistes selbst.
Nur weil er den Geist in der Wirklichkeit nicht sieht,
sucht er ihn anderswo.
„Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in
deiner besten Weisheit
„Der Leib ist eine grofse Vernunft, eine Vielheit
mit einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine
Herde und ein Hirt.
„Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine
Vernunft, mein Bruder, die du „Geist" nennst, ein
kleines Werk- und Spielzeug deiner grofsen Ver-
nunft."
Ein Thor ist, wer die Blüte von der Pflanze
reifst und glaubt, die abgerissene Blüte werde nun
sich noch zur Frucht entwickeln. Ein Thor ist ebenso,
wer den Geist von der Natur absondert und glaubt,
ein solcher abgesonderter Geist könne noch schaffen.
Menschen mit kranken Instinkten haben die
Scheidung von Geist und Körper vorgenommen. Ein
kranker Instinkt nur kann sagen: mein Reich ist
nicht von dieser Welt. Eines gesunden Instinktes
Reich ist nur diese Welt.
44 n. Der Übermensch.
16.
Was für Ideale haben sie doch geschaffen, diese
Verächter der Wirklichkeit ! Fassen wir sie ins Auge,
die Ideale der Asketen, die da sagen: wendet ab
euren Blick vom Diesseits und schaut nach dem
Jenseits! Was bedeuten asketische Ideale? Mit dieser
Frage und den Vermutungen, mit denen er sie be-
antwortet, hat uns Nietzsche am tiefsten hineinblicken
lassen in sein von der abendländischen neueren Kultur
unbefriedigtes Herz. (Genealogie der Moral. 3. Ab-
teilung.)
Wenn ein Künstler, wie z. B. Richard
Wagner in der letzten Zeit seines Schaffens, An-
hänger des asketischen Ideales wird, so hat das nicht
viel zu bedeuten. Der Künstler steht sein ganzes
Leben hindurch über seinen Schöpfungen. Er sieht
von oben herab auf seine Wirklichkeiten. Er schafft
Wirklichkeiten, die nicht seine Wirklichkeit sind.
„Ein Homer hätte keinen Achill, ein Goethe keinen Faust
gedichtet, wenn Homer ein Achill, und wenn Goethe
ein Faust gewesen wäre." (Genealogie, S. Abt. § 4.)
Wenn nun ein solcher Künstler sein eigenes Dasein
einmal ernst nimmt, sich selbst und seine persönlichen
Ansichten in Wirklichkeit umsetzen will, so ist es kein
Wunder, wenn etwas sehr Unreales entsteht. Richard
Wagner hat über seine Kunst vollständig umge-
lernt, als ihm die Philosophie Schopenhauers bekannt
wurde. Vorher hielt er die Musik für ein Ausdrucks-
mittel, das etwas braucht, dem es Ausdruck verschafft,
das Drama. In seiner Schrift Oper und Drama,
die 1851 geschrieben ist, spricht er aus, dafs der
II. Der Übermensch.
45
de
Ke
PHRi
gröfste Irrtum, dem man sicli in Bezug auf die Oper
hingeben kann, der iät, „dafs
ein Mittel des Ausdrucks (die Musik) zum Zwecke,
der Zweck des Ausdrucks (das Drama) aber zum
Mittel gemacht" werde."
Er bekannte sich zu einer andern Ansicht, nachdem
«r Schopenhauers Lehre von der Musik kennen gelernt
hatte, Schopenhauer ist der Ansicht, dafs durch die
Musik das Wesen der Dinge selbst zu uns spricht. Der
«wige Wille, der in allen Dingen lebt, er wird in
«llen anderen Künsten nur in seinen Abbildern, in
den Ideen, verkörpert ; die Musik ist kein blofses Bild
des Willens : in ihr giebt sich der Wille unmittelbar
kund. Was uns in allen unseren Vorstellungen nur
im Abglanz erscheint: der ewige Grund alles Seins,
der Wille, ihn glaubt Schopenhauer in den Klängen
der Musik unniittolbar zu vernehmen. Kunde aus
dem Jenseits bringt für Schopenhauer die Musik. Diese
nsicht wirkte auf Richard Wagner. Nicht mehr
Äuadrucksmittel wirklicher menschlicher Leiden-
ichaften, wie sie im Drama verkörpert sind, liel's er
lie Musik gelten , sondern als „eine Art Mundstück
ch der Dinge, ein Telephon des Jenseits".
Richard Wagner glaubte jetzt nicht mehr die Wirk-
lichkeit in Tönen auszudrücken; „er redete fürderhin
nicht nur Musik, dieser Bauchredner Gottes, — er
redete Metaphysik : was Wunder, dafs er endlich eines
'agea asketische Ideale redete." (Generalogie.
Abteilung, § 5.)
Hätte Richard Wagner blofs seine Ansicht
über die Bedeutung der Musik geändert, so hätte
Kietzache keinen Anlafs, ihm etwas vorzuwerfen.
46 II' I^cr Übermensch.
Nietzsche könnte dann höchstens sagen: Wagner hat
aufser seinen Kunstwerken auch noch allerlei ver-
kehrte Theorien über die Kunst geschaffen. Dafs aber
Wagner in der letzten Zeit seines Schaffens den
Schopenhauerschen Jenseitsglauben auch in seinen
Kunstwerken verkörpert hat, dafs er seine Musik dazu
verwendet hat, die Flucht vor der Wirklichkeit zu
verherrlichen : das ging Nietzsche wider den. Ge-
schmack.
Aber der „Fall Wagner" besagt nichts, wenn es
sich um die Bedeutung der Verherrlichung des Jen-
seits auf Kosten des Diesseits, wenn es sich um die
Bedeutung des asketischen Ideale handelt. Künstler
stehen nicht auf eigenen Füfsen. Wie Richard Wagner
von Schopenhauer abhängig ist, so waren die Künstler
„zu allen Zeiten Kammerdiener einer Moral, oder
Philosophie oder Religion".
Anders ist es, wenn die Philosophen für die Ver-
achtung der Wirklichkeit, für die asketischen Ideale
eintreten. Sie thun das aus einem tiefen Instinkte
heraus.
Schopenhauer hat diesen Instinkt verraten durch
die Beschreibung, die er von dem Schaffen und Ge-
iiiefsen eines Kunstwerkes giebt. „Dafs also das
Kunstwerk die Auffassung der Ideen, in welcher
<ier ästhetische Genufs besteht, so sehr erleichtert,
beruht nicht blofs darauf, dafs die Kunst durch Her-
vorhebung des Wesentlichen und Aussonderung des
Unwesentlichen die Dinge deutlicher und charakte-
ristischer darstellt, sondern ebenso sehr darauf, dafs
das zur objektiven Auffassung des Wesens
der Dinge erforderte gänzliche Schweigen
II. Der Übermensch. 47
des Willens am sichersten dadurch erreicht
wird, dafs das angeschaute Objekt gar
nicht im Gebiete der Dinge liegt, welche
einer Beziehung zum Willen fähig sind."
(Ergänzungen zum 3. Buch der Welt als Wille und
Vorstellung, Kap. 21.) „Wann aber ein äufserer An-
lafe oder eine innere Stimmung uns plötzlich aus
dem endlosen Strome des WoUens heraushebt, ' die
Erkenntnis dem Sklavendienst des Willens entreifst,
die Aufmerksamkeit nun nicht mehr auf die Motive
des Wollens gerichtet wird, sondern die Dinge frei
von ihrer Beziehung auf den Willen auffafst, also
ohne Interesse, ohne Subjektivität, rein ob-
jektiv sie betrachtet, ihnen ganz hingegeben, sofern
sie blofs Vorstellungen, nicht sofern sie Motive sind:
dann ist der schmerzenlose Zustand, den
Epikuros als das höchste Gut und als den Zustand
der Götter pries [eingetreten] : denn wir sind flir jenen
Augenblick des schnöden Willensdranges entledigt,
wir feiern den Sabbat der Zuchthausarbeit des
Wollens, das Rad des Ixion steht still." (Welt als
Wille und Vorstellung, § 38.)
Dies ist eine Beschreibung einer Art des ästheti-
schen Genusses, die nur bei dem Philosophen vor-
kommt. Nietzsche stellt ihr gegenüber eine andere
Beschreibung, „die ein wirklicher Zuschauer und
Artist gemacht hat — Stendhal", der das Schöne
„une promesse de bonheur" nennt. Schopenhauer möchte
alles Willensinteresse, alles wirkliche Leben ausschalten,
wenn es sich um die Betrachtung eines Kunstwerkes
handelt, und nur mit dem Geiste genielsen; Stendhal
sieht in dem Kunstwerke ein Versprechen von
48 U« I^er Übermensch.
Glück, also einen Hinweis auf das Leben, und sieht
in diesem Zusammenhang der Kunst mit dem Leben
den Wert der Kunst.
Kant fordert vom schönen Kunstwerk, dafs es
ohne Interesse gefalle, d. h. dafs es uns heraus-
hebe aus dem wirklichen Leben und einen rein
geistigen Genufs gewähre.
Was sucht der Philosoph in dem künstlerischen
Genufs? Erlösung von der Wirklichkeit. In eine
Wirklichkeit -fremde Stimmung will der Philosoph
durch das Kunstwerk versetzt werden. Er verrät da-
durch seinen Grundinstinkt. Der Philosoph fühlt sich
in den Augenblicken am wohlsten, in denen er von
der Wirklichkeit loskommen kann. Seine Ansicht
vom ästhetischen Genufs zeigt, dafs er die Wirklich-
keit nicht liebt.
Nicht was der dem Leben zugewandte Zuschauer
von dem Kunstwerke verlangt, sagen uns die Philo-
sophen in ihren Theorien, sondern nur, was ihnen
selbst angemessen ist. Und dem Philosophen ist die
Abkehr von dem Leben sehr förderlich. Er will sich
seine verschlungenen Gedankenwege nicht durch-
kreuzen lassen von der Wirklichkeit. Das Denken
gedeiht besser, wenn sich der Philosoph von dem
Leben abkehrt. Es ist nun kein Wunder, wenn dieser
philosophische Grundinstinkt geradezu zu einer leben-
feindlichen Stimmung wird. Wir finden eine solche
Stimmung bei der Mehrzahl der Philosophen ausge-
bildet. Und nahe liegt es, dafs der Philosoph seine
eigene Antipathie gegen das Leben zu einer Lehre
ausbildet und fordert, dafs sich alle Menschen zu
einer solchen Lehre bekennen. Schopenhauer hat
II. Der Übermensch.
49
i gethan. Er fand, dafs der Lärm der Welt seine
jdankenarbeit störte. Er empfand, dafs man über
i Wirklichkeit am besten nairhdenken kann, wenn
dieser Wirklichkeit entflieht. Zugleich vergafö
, dafs alles Denken ("iber die Wirklichkeit doch nur
tann einen Wert hat, wenn es aus dieser Wirklicbkeit
entspringt. Er beachtete nicht, dafs das Zurückziehen
des Philosophen von der Wirklichkeit nur geschehen
kann , damit die entfernt von dem Leben ent-
standenen philosophischen Gedanken dann dem Leben
am so besser dienen können. Wenn der Philosoph
den Gmndinstinkt , der nur ihm als Philosophen
förderlich ist, der ganzen Menschheit aufdrängen will,
dann wird er zu einem Feinde des Lebens,
Der Philosoph , der die Weltflucht nicht als
littel betrachtet, um weltfreundliche Gedanken zu
»haffen, sondern als Zweck, als Ziel, kann nur Wert-
ses schaffen. Der wahre Philosoph flieht auf der
ite die Wirklichkeit nur, um sich auf der
ideren um so tiefer tn sie einzubohren. Aber es ist
igreiflich, dafs dieser Grundinstinkt den Philosophen
>bt dazu verführen kann, die Welttlucht als solche
■ wertvoll zu halten. Dann wird der Philosoph zu
iaeta Anwalt der Weltverneinung. Er lehrt Abkehr
vom Leben, asketisches Ideal. Er tindet: „Ein ge-
wisser Asketismua eine harte und heitere Ent-
»agaamkeit besten Willens gehört zu den günstigen
Bedingungen höchster Geistigkeit, insgleichen auch
zu deren natürlichsten Folgen: so wird es von vorn-
herein nicht Wunder nehmen, wenn das asketische
Heal gerade von den Philosophen nie obne einige
50 !!• I^er Übermensch.
Voreingenommenheit behandelt worden ist/ (Genealogie
der Moral, 3. Abteilung § 8.)
17.
Einen andern Ursprung haben die asketischen
Ideale der Priester. Was bei dem Philosophen
durch das Überwuchern eines bei ihm berechtigten
Triebes entsteht, das bildet das Grundideal des priester-
lichen Wirkens. Der Priester sieht in der Hingabe
des Menschen an das wirkliche Leben einen Irrtum;
er verlangt, dafs man dieses Leben gering achte
gegenüber einem andern Leben, das von höheren als
blofs natürlichen Kräften gelenkt wird. Der Priester
leugnet, dafs das wirkliche Leben einen Sinn in sich
selbst habe, und er fordert, dafs ihm dieser Sinn ver-
liehen werde durch Einimpfung eines höheren Willens.
Er sieht das Leben in der Zeitlichkeit als unvoll-
kommen an und stellt ihm ein ewiges, voUkonmienes
Leben gegenüber. Abkehr von der Zeitlichkeit und
Einkehr in das Ewige, Unwandelbare lehrt der Priester.
Ich möchte als besonders bezeichnend für die priester-
liche Denkweise einige Sätze aus dem berühmten
Buche „Die deutsche Theologie" anführen, das aus
dem 14. Jahrhundert stammt und von dem Luther
sagt, dafs er aus keinem Buche, die Bibel und den
heiligen Augustin ausgenommen, mehr gelernt habe,
was Gott, Christus und der Mensch sei, als aus diesem.
Auch Schopenhauer findet, dafs der Geist des Christen-
tums in diesem Buche vollkommen und kräftig aus-
gesprochen ist. Nachdem der Verfasser, der uns un-
bekannt ist, auseinander gesetzt hat, dafs alle Dinge
IL Der Übermensch. 51
der Welt nur ein Unvollkommenes und Geteiltes
seien gegenüber dem Vollkommenen, „das in sich und
in seinem Wesen alle Wesen begriffen und beschlossen
hat, und ohne das und aufser dem kein wahres Wesen
ist und in dem alle Dinge ihr Wesen haben", führt
er aus, dafs der Mensch in dieses Wesen nur ein-
dringen kann, wenn er „Kreatürlichkeit, Geschaflfen-
heit, Ichheit, Selbstheit und dergleichen alles verloren"
und in sich zu nichte gemacht hat. Was von dem
yoUkbmmenen ausgeflossen ist und was der Mensch
als seine wirkliche Welt erkennt, das wird folgender-
mafsen charakterisiert: „Das ist kein wahres Wesen
und hat kein Wesen anders denn in dem Vollkomme-
nen, sondern es ist ein Zufall oder ein Glanz und ein
Schein, der kein Wesen ist oder kein Wesen hat
anders als in dem Feuer, wo der Glanz ausfliefst, oder
in der Sonne, oder in dem Lichte. Die Schrift spricht
und der Glaube und die Wahrheit: Sünde sei nichts
anderes, denn dafs sich die Kreatur abkehrt von dem
unwandelbaren Gute und kehret sich zu dem wandel-
baren, das ist: dafs sie sich kehrt von dem Voll-
kommenen zu dem Geteilten und Unvollkommenen
und allermeist zu sich selber. Nun merke. Wenn
sich die Kreatur etwas Gutes annimmt, als Wesens,
Lebens, Wissens, Erkennens, Vermögens und kürzlich
alles dessen, was man gut nennen soll, und meint,
dafs sie das sei oder dafs es das Ihre sei
oder ihr zugehöre oder dafs es von ihr sei:
so oft und viel dabei geschieht, so kehrt
sie sich ab. Was that der Teufel anders oder was
war sein Fall und Abkehren anders, als dafs er sich
annahm, er wäre auch etwas und etwas wäre
4*
52 n. Der Übermensch.
sein und ihm gehörte auch etwas zu? Dies
Annehmen und sein Ich und sein Mich, sein Mir und sein
Mein, das war sein Abkehren und sein Fall. Also ist
es noch .... Denn alles das, was man für gut hält
oder gut nennen soll, das gehört niemand zu, denn
allein dem ewigen wahren Gut, der Gott allein ist,
und wer sich dessen annimmt, der thut Unrecht und
wider Gott". (1., 2., 4. Kap. der deutsch. Theol,
3. Aufl., übersetzt von Pfeiflfer.)
Diese Sätze sprechen die Gesinnung j e d e ^
Priesters aus. Sie sprechen den eigentlichen Cha-
rakter der Priesterlichkeit aus. Und dieser Charakter
ist das Gegenteil desjenigen, den Nietzsche als den
höherwertigen, den lebenswürdigen bezeichnet. Der
höherwertige Typus Mensch will alles, was er ist, nur
durch sich sein; er will, dafs alles, was er für gut
hält und gut nennt, niemand zugehört, denn ihm
selbst.
Aber jene minderwertige GesiYinung ist kein Aus-
nahmefall. Sie „ist eine der breitesten und längsten
Thatsachen, die es giebt. Von einem fernen Gestirn
aus gelesen, würde vielleicht die Majuskelschrift unseres
Erdendaseins zu dem Schlufs verführen, die Erde sei
der eigentlich asketische Stern, ein Winkel mifs-
vergnügter, hochmütiger und widriger Geschöpfe, die
einen tiefen Verdrufs an sich, an der Erde, an allem
Leben gar nicht los würden." (Genealogie der Moral,
3. Abteilung § 11.) Der asketische Priester ist des-
halb eine Notwendigkeit, weil die Mehrzahl der
Menschen an einer „Hemmung und Ermüdung" der
Lebenskräfte leidet, weil sie an der Wirklichkeit leidet
Der asketische Priester ist der Tröster und Arzt der-
II. Dür ÜbermsuBcb-
53
[jenigen, die am Leben leiden. Er tröstet sie dadurch,
IdiiTs er ihnen sRgt: dieses Leben, an dem ihr leidet,
ist nicht das wahre Leben ; das wahre Leben ist
denjenigen, die an diesem Leben leiden, viel leichter
erreichbar als den Gesunden , die an diesem Leben
hängen und sich ihm hingeben. Durch solche Aus-
sprüche züchtet der Priester die Verachtung, die Ver-
leumdung dieses wirklichen Lebens, Er bringt endlich
^die Gesinnung hervor, die sagt: um das wahre Leben
BU erreichen, mufa dieses wirkliche Leben verneint
werden. In der Verbreitung dieser Gesinnung sucht
der asketische Priester seine Stärke. Er beseitigt
durch die Züchtung dieser Gesinnung eine grofse
Gefahr, die den Gesunden, Starken, Selbstbewursten
^von den Verunglückten, Niedergeworfenen, Zerbroche-
nen droht. Die letzteren hassen die Gesunden und die
leiblich und seelisch Glücklichen, die ihre Kräfte aus
der Natur nehmen. Diesen HaTs, der sich dadurch
äulsern müfste, dafs die Schwachen gegen die Starken
einen fortwährenden Vernichtungskrieg führten, sucht
der Priester niederzuhalten. Er stellt deshalb die
Starken als diejenigen hin, die ein wertloses, menschen-
unwürdiges Leben führen und behauptet dagegen, dafs
daa wahre Leben allein denen erreichbar ist, die von
dem Erdenleben geschädigt werden. „Der asketische
Priester mufs uns als der vorherbestimmte Heiland,
Hirt und Anwalt der kranken Herde gelten: damit
erst verstehen wir seine ungeheure historische Mission.
Die Herrschaft über Leidende ist sein Keich,
auf sie weist ihn sein Instinkt an, in ihr hat er seine
eigenste Kunst, seine Meisterschaft, seine Art von
Glück." (Genealogie, 3. Abth. § 15.)
54 II. Der Übermensch.
Es ist kein Wunder, wenn eine solche Denkweise
endlieh dazu führt, dafs ihre Anhänger nicht nur das
Leben verachten, sondern geradezu auf seine Zer-
störung hinarbeiten. Wenn den Menschen gesagt
wird, nur der Leidende, der Schwache kann wirklich
zu einem höheren Leben kommen, so wird endlich
das . Leiden , die Schwäche gesucht werden. Sich
selbst Schmerz zuzufügen, den Willen in sich ganz
ertöten, das wird Ziel des Lebens werden. Die Opfer
dieser Gesinnung sind die Heiligen. „Völlige Keusch-
heit und Entsagung aller Wollust für den, welcher
eigentliche Heiligkeit anstrebt; Wegwerfung alles
Eigentums, Verlassung jedes Wohnortes, aller An-
gehörigen, tiefe, gänzliche Einsamkeit, zugebracht in
stillschweigender Betrachtung, mit freiwilliger Bufse
und schrecklicher langsamer Selbstpeinigung, zur
gänzlichen Mortifikation des Willens, welche zuletzt
bis zum freiwilligen Tode geht durch Hunger, auch
durch Entgegengehen den Krokodilen, durch Herab-
stürzen vom geheiligten Felsengipfel im Himalaya,
durch Lebendigbegrabenwerden , auch durch Hin-
werfung unter die Räder des unter Gesang, Jubel
und Tanz der Bajaderen die Götterbilder umfahrenden
Wagens", dies sind die letzten Früchte der asketischen
Gesinnung. (Schopenhauer, Welt als Wille und Vor-
stellung § 68.)
Diese Denkweise ist dem Leiden am Leben ent-
sprungen, und sie richtet ihre Waflfen gegen das Leben.
Wenn der Gesunde, Lebensfrohe von ihr angesteckt ''v/
wird, dann tilgt sie bei ihm die gesunden, starken
Instinkte aus. Nietzsches Werk gipfelt darinnen,
dieser Lehre gegenüber etwas anderes geltend zu
n. Der Übermensch. 55
machen, eine Ansicht für Gesunde, Wohlgeratene.
Mögen die Mifsratenen, Verdorbenen in der Lehre
der asketischen Priester ihr Heil suchen ; die Gesunden
will Nietzsche um sich sammeln und ihnen eine
Meinung sagen, die ihnen besser zu Gesichte steht,
als jedes lebensfeindliche Ideal.
18.
Auch in den Pflegern der modernen Wissen-
schaft steckt noch das asketische Ideal. Zwar rühmt
sich diese Wissenschaft, alle alten Glaubensvorstellungen
über Bord geworfen zu haben und sich nur an die
Wirklichkeit zu halten. Sie will nichts gelten lassen,
was sich nicht zählen, berechnen, wägen, sehen und
greifen läfst. Dafs man auf diese Weise „das Dasein
zu einer Rechenknechtsübung und Stubenhockerei für
Mathematiker^ herabwürdigt, ist den modernen Ge-
lehrten gleichgültig. (Fröhliche Wissenschaft § 373.)
Ein Recht, die vor seinen Sinnen und seiner Vernunft
vorüberziehenden Vorkommnisse der Welt zu inter-
pretieren, sodafs er sie mit seinem Denken beherrschen
kann, schreibt sich ein solcher Gelehrter nicht zu.
Er sagt : die Wahrheit mufs von meiner Interpretations-
kunst unabhängig sein, und ich habe die Wahrheit
nicht zu schaffen, sondern ich mufs sie mir von den
Erscheinungen der Welt diktieren lassen.
Wozu diese moderne Wissenschaft zuletzt gelangt,
wenn sie sich alles Zurechtlegens der Welterscheinungen
enthält, das hat ein Anhänger dieser Wissenschaft
(Richard Wähle) in einem soeben erschienenen Buche
(„Das Ganze der Philosophie und ihr Ende") aus-
56 II« I^r Übermensch.
gesprochen: „Was könnte der Geist, der in das Welt-
gehäuse spähend und in sich die Fragen nach dem
Wesen und dem Ziele des Geschehens herumwälzte,
endlich als Antwort finden? Es ist ihm widerfahren,
dafs er, wie er so scheinbar im Gegensatze zur um-
gebenden Welt dastand, sich auflöste und in einer
Flucht von Vorkommnissen mit allen Vorkommnissen
zusammenflofs. Er „wurste** nicht mehr die Welt;
er sagte, ich bin nicht sicher, dafs Wissende da sind,
sondern Vorkommnisse sind da schlechthin. Sie
kommen freilich in solcher Weise, dafs der Begriff
eines Wissens vorschnell, ungerechtfertigt entstehen
konnte .... Und „Begriffe" huschten empor, um
Licht in die Vorkommnisse zu bringen, aber es waren
Irrlichter, Seelen der Wünsche nach Wissen, erbärm-
liche, in ihrer Evidenz nichtssagende Postulate einer
unausgeflillten Wissensform. Unbekannte Fak-
toren müssen im Wechsel walten. Über ihre
Natur war Dunkel gebreitet. Vorkommnisse sind der
Schleier des Wahrhaften."
Dafs die menschliche Persönlichkeit in die Vor-
kommnisse der Wirklichkeit einen Sinn hineinlegen
könne und die unbekannten Faktoren, die im
Wechsel der Ereignisse walten, aus eigenem Vermögen
ergänzen könne, daran denken die modernen Gelehrten
nicht. Sie wollen nicht die Flucht der Erscheinungen
durch die Ideen interpretieren, die aus ihrer Per-
sönlichkeit stammen. Sie wollen die Erscheinungen
blofs beobachten und beschreiben, aber nicht deuten.
Sie wollen bei dem Thatsächlichen stehen bleiben und
es der schöpferischen Phantasie nicht gestatten, sich
fe
1
«n in eich gegliedertes Bild von der Wirklichkeit zu
machen.
Wenn ein phantasievoller Naturforscher, wie z. B.
Ernst Haeckel, aus den Ergebnissen einzelner Be-
obachtungen ein Gesamtbild der Entwickehmg des
organischen Lebens auf der Erde entwirft, dann fallen
diese Fanatiker der Thatafichlichkeit über ihn her und
zeihen ihn der Versündigung an der Wahrheit. Die
Bilder, die er von dem Leben in der Natur entwirft,
können sie nicht mit Äugen sehen, oder mit Händen
greifen, Ihnen ist das unpersönliclie Urteil lieber, als
das durch den Geist der Persönlichkeit gefärbte. Sie
möchten bei ihren Beobachtungen am liebsten die
PerBÖniichkeit ganz ausschalten.
Es ist das asketische Ideal, das die Fanatiker der
Thataächlichkeit beherrscht. Sie wollen eine Wahrheit
eneeitB des persönlichen, individuellen Urteiles.
Was der Mensch in die Dinge ^ hineinphantasieren"
kann, bekümmert sie nicht; die „W^ahrheif" ist ihnen
etwas absolut Vollkommenes, ein Gott; der Mensch
•oll sie entdecken, sich ihr ergeben, aber sie nicht
schaffen. Die Naturforscher und die Geschichtschreiber
Bind gegenwärtig von dem gleichen Geiste des asketi-
schen Ideals beseelt. Überall Auizählen, Beschreiben
von Thataachen, und nichts darüber. Jedes Zurecht-
legen der Thatsachen ist verpönt. Alles persönliche
Urteilen soll unterbleiben.
Unter diesen modernen Gelehrten linden sich auch
Atheisten. Diese Atheisten sind aber keine freieren
Geister als ihre Zeitgenossen, die an Gott glauben.
Mit den Mitteln der modernen Wissenschaft läfst sieh
das Dasein Gottes nicht beweisen. Hat sich doch
58 n. Der Übermensch.
eine der Leuchten moderner Wissenschaft (Du Bois-
Reymond) über die Annahme einer „Weltseele" also
geäufsert: bevor der Naturforscher sich zu einer
solchen Annahme entschliefst, verlangt er, „dafs ihm
irgendwo in der Welt, in Neuroglia gebettet und mit
warmem arteriellen Blut unter richtigem Druck ge-
speist, ein dem geistigen Vermögen solcher Seele an
Umfang entsprechendes Konvolut von Ganglienzellen
und Nervenfasern gezeigt" werde (Grenzen des Natur-
erkennens S. 44). Die moderne Wissenschaft lehnt den
Glauben an Gott ab, weil dieser Glaube neben dem
Glauben an die „objektive Wahrheit" nicht bestehen
kann. Diese „objektive Wahrheit" ist aber nichts
anderes als ein neuer Gott, der über den alten gesiegt
hat. „Der unbedingte redliche Atheismus (und seine
Luft allein atmen wir, wir geistigeren Menschen dieses
Zeitalters!) steht nicht im Gegensatz zu jenem
(asketischen) Ideale, wie es den Anschein hat; er ist
vielmehr nur eine seiner letzten Entwickelungsphasen,
eine seiner Schlufsformen und inneren Folgerichtig-
keiten, er ist die Ehrfurcht gebietende Katastrophe
einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche
am Schlüsse sich die Lüge im Glauben an Gott
verbietet." (Genealogie, 3. Abteilung § 27.) Der
Christ sucht die Wahrheit in Gott, weil er Gott fhr
den Quell aller Wahrheit hält; der moderne Atheist
lehnt den Glauben an Gott ab, weil ihm sein G^tt,
sein Ideal von Wahrheit diesen Glauben verbietet.
Der moderne Geist sieht in Gott eine menschliche
Schöpfung-, in der „Wahrheit" sieht er etwas, was
ohne alles menschliehe Zuthun durch sich selbst be-
steht. Der wirklich „freie Geist" geht noch weiter.
II. Der Übermensch. 59
Er fragt: „Was bedeutet aller Wille zur
Wahrheit?" Wozu Wahrheit? Alle Wahrheit ent-
steht doch dadurch, dafs der Mensch über die Er-
scheinungen der Welt 'nachdenkt, sich Gedanken über
die Dinge bildet. Der Mensch selbst ist der Schöpfer
der Wahrheit. Der „freie Geist" kommt zum Bewufst-
sein seines Schaflfens der Wahrheit. Er betrachtet die
Wahrheit nicht mehr als etwas, dem er sich unter-
ordnet; er betrachtet sie als sein Geschöpf.
19.
Die mit schwachen, mifsratenen Erkenntnis-
instinkten ausgestatteten Menschen wagen es nicht,
aus der Begriflfe bildenden Macht ihrer Persönlichkeit
heraus den Welterscheinungen einen Sinn unterzulegen.
Sie wollen, dafs ihnen die „Gesetzmäfsigkeit der Natur"
als Thatbestand vor die Sinne trete. Ein subjektives,
der Einrichtung des menschlichen Geistes gemäfs
geformtes Weltbild scheint ihnen wertlos. Aber die
blofse Beobachtung der Vorkommnisse in der Welt
liefert uns nur ein zusammenhangloses und doch nicht
in Einzelheiten gesondertes Weltbild. Dem blofsen
Beobachter der Dinge erscheint kein Gegenstand,
kein Geschehnis wichtiger, bedeutungsvoller als das
andere. Das rudimentäre Organ eines Organismus,
das vielleicht dann, wenn wir darüber nachgedacht
haben, ohne alle Bedeutung für die Entwicklung des
Lebens erscheint, steht gerade mit demselben An-
spruch auf Beachtung da, wie der edelste Teil des
Organismus, so lange wir blofs den objektiven That-
bestand beschauen. Ursache und Wirkung sind auf-
einanderfolgende Erscheinungen, die ineinander über-
60 n. Der Übermensch.
fliefsen, ohne durch etwas getrennt zu sein, so lange
wir sie blofs beobachten. Erst wenn wir mit
unserem Denken einsetzen, die ineinander fliefsenden
Erscheinungen sondern und gedanklich aufeinander
beziehen, wird ein gesetzmäfsiger Zusammen-
hang sichtbar. Erst das Denken erklärt die eine Er-
scheinung für die Ursache, die andere für die Wirkung.
Wir sehen einen Regentropfen auf den Erdboden fallen
und eine Vertiefung hervorrufen. Ein Wesen, das
nicht denken kann, wird hier nicht Ursache und
Wirkung sehen, sondern nur eine Aufeinanderfolge
von Erscheinungen. Ein denkendes Wesen isoliert
die Eracheinungen, bringt die isolierten Fakten in ein
Verhältnis und bezeichnet das eine Faktum als Ur-
sache, das andere als Wirkung. Durch die Beobachtung
wird der Intellekt angeregt, Gedanken zu produzieren
und diese mit den beobachteten Thatsachen zu einem
gedankenvollen Weltbilde zu verschmelzen. Der Mensch
thut dies, weil er die Summe der Beobachtungen gedank-
lich beherrschen will. Ein ihm gegenüberstehendes
Gedankenleeres drückt auf ihn wie eine unbekannte
Macht. Er widersetzt sich dieser Macht, überwindet
sie, indem er sie denkbar macht. Auch alles Zählen,
Wägen und Berechnen der Erscheinungen geschieht
aus demselben Grunde. Es ist der Wille zur
Macht, der sich in dem Erkenntnistriebe auslebt.
(Ich habe den Erkenntnisprozefs im einzelnen dar-
gestellt in meinen beiden Schriften: „Wahrheit und
Wissenschaft" und „Die Philosophie der Freiheit**.)
Der stumpfe, schwache Intellekt will sich nicht
eingestehen, dafs er es selbst ist, der als Aufserung
seines Strebens nach Macht die Erscheinungen inter-
BOT
^ gl
pretiert. Er hält auch aeme Interpretation fUr einen
Thatbestand. Und cv tragt: wio der Mensch dazu
kommt, einen solchen Thatbestand in der Wirklichkeit
zu finden. Er fragt z. B. : wie kommt es, dafs der
Intellekt in zwei aufeinander folgenden Erscheinungen
Ursache und Wirkung anerkennt? Alle Erkenntnjs-
theoretiker von Locke, Hume, Kant bis auf die
Gegenwart haben sich mit dieser Frage beschäftigt.
Die Spitz und igkeiten, die sie auf diese Untersuchung
verwendet haben, sind unfruchtbar geblieben. Die Er-
klärung ist gegeben in dem Streben des menschlichen
Intellekts nach Macht, Die Frage ist gar nicht: sind
Urteile, Gedanken über die Erscheinungen möglich,
sondern: hat der menschliche Intellekt solche Urteile
oStig ? Weil er sie nötig hat , deshalb wendet er sie
und nicht weil sie möglich sind. Es kommt dar-
mf an, „zu begreifen, dafs zum Zweck der Erhaltung
^on Wesen unserer Art solche Urteile als wahr ge-
glaubt werden müssen; weshalb sie natürlich noch
falsche Urteile sein könnten!" (Jenseits von Gut
und Böse § 11.) „Und wir sind grundsätzlich ge-
ligt, zu behaupten , dals die falschesten Urteile uns
lie unentbehrlichsten sind, dafs ohne ein Geltenlassen
logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirk-
lichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten,
SicL-aelbat-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der
Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben könnte, —
dafs Verzieh tleisteu auf falsche Urteile ein Verzicht-
luisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens wftre.^
(Ebenda § 4.) Wem dieser Ausspruch paradox erscheint,
,er besinne sich darauf, wie fruchtbar die Anwendung
Geometrie auf die Wirklichkeit ist, obgleich es
62 n. Der tltermenseh.
nirgends in der Welt wirklich geometrisch regelm&fsige
Linien, Flächen u. s. w. giebt.
Wenn der stampfe , schwache Intellekt einsieht,
dals alle Urteile über die Dinge ans ihm selbst
stanunen, durch ihn produziert und mit den Beob-
achtungen verschmolzen werden, dann hat er nicht
den Mut, diese Urteile rnckhaltslos anzuwenden. Er
sagt: Urteile solcher Art können uns keine Eli^enntnis
von dem „wahren Wesen" der Dinge vermitteln. Dieses
„wahre Wesen" bleibt daher unserer Erkenntnis ver-
schlossen.
Noch in einer anderen Art sucht der schwache
Intellekt zu beweisen, dafs durch das menschliche
Erkennen kein Feststehendes gewonnen werden kann.
Er sagt: Der Mensch sieht, hört, tastet die Dinge
und Vorgänge. Was er dabei wahrnimmt, sind Ein-
drücke auf seine Sinnesorgane. Wenn er eine Farbe,
einen Ton wahrnimmt, so kann er nur sagen: mein
Auge, mein Ohr werden in einer gewissen Art be-
stunmt, Farbe, Ton wahrzunehmen. Nicht etwas
aufs er ihm nimmt der Mensch wahr, sondern nur
eine Bestimmung, eine Modifikation seiner eigenen
Organe. In der Wahrnehmung werden das Auge, das
Ohr u. s. w. dazu veranlagt, in einer gewissen Weise
zu empfinden ; sie werden in einen bestimmten Zustand
versetzt. Diese Zustände seiner eigenen Organe
nimmt der Mensch als Farben, Töne, Grerüche u. s. w.
wahr. In aller Wahrnehmung nimmt der Mensch nur
seine eigenen Zustände wahr. Was er Aufsenwelt
nennt, ist nur aus diesen seinen Zuständen zusammen-
gesetzt ; ist also im eigentlichen Sinne sein Werk. Die
Dinge, die ihn veranlassen, aus sich heraus die Aufsen-
IL Der Übermensch. 63
weit ZU spinnen, kennt er nicht-, nur ihre Wirkungen
auf seine Organe. Einem von dem Menschen ge-
träumten Traume gleich, der durch ein Unbekanntes
veranlafst wird, erscheint die Welt in dieser Be-
leuchtung.
Wenn dieser Gedanke konsequent zu Ende ge-
dacht wird, so zieht er folgenden Nachsatz nach sich.
Auch seine Organe kennt der Mensch nur, insofern
er sie wahrnimmt; sie sind Glieder in seiner Wahr-
nehmungswelt. Und seines eigenen Selbst wird sich der
Mensch nur bewufst, insofern er die Bilder der Welt
aus sich herausspinnt. Traumbilder nimmt er wahr
und inmitten dieser Traumbilder ein „Ich", an dem
diese Traumbilder vorüberziehen. Jedes Traumbild
erscheint in Begleitung dieses „Ich". Man kann auch
sagen : jedes Traumbild erscheint inmitten der Traum-
welt immer in Beziehung auf dieses „Ich". Dieses
„Ich" haftet als Bestimmung, als Eigenschaft an den
Traumbildern. Es ist somit, als Bestimmung von
Traumbildern, selbst ein Traumhaftes. J. G. Fichte
fafst diese Ansicht in die Worte zusammen: „Was
durch das Wissen und aus dem Wissen entsteht, ist
nur ein Wissen. Alles Wissen aber ist nur Abbildung,
und es wird in ihm immer etwas gefordert, das dem
Bilde entspreche. Diese Forderung kann durch kein
Wissen befriedigt werden ; und ein System des Wissens
ist notwendig ein System blofser Bilder, ohne alle
Realität, Bedeutung und Zweck." „Alle
Realität" ist fiir Fichte ein wunderbarer „Traum,
ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und
ohne einen Geist, dem da träumt" ; ein Traum, „der
64 I^' ^i* Übermensch.
in einem Traume von sich selbst zusammenhängt**.
(Bestimmung des Menschen, 2. Buch.)
Was hat diese ganze Gedankenkette für eine
Bedeutung? Ein schwacher Intellekt, der sich nicht
unterfangen will, der Welt aus sich heraus einen Sinn
zu geben, sucht diesen Sinn in der Welt der Beob-
achtungen. Er kann ihn da natürlich nicht finden^
weil die blofse Beobachtung gedankenleer ist.
Der starke, produktive Intellekt verwendet seine
Begriflfswelt dazu, die Beobachtungen zu deuten; der
schwache, unproduktive Intellekt erklärt sich selbst
für zu ohnmächtig, um das zu thun und sagt: ich kann
in den Erscheinungen der Welt keinen Sinn finden;
sie sind blofse Bilder, die an mir vorüberziehen. Der
Sinn des Daseins mufs aufserhalb, jenseits der Er-
scheinungswelt gesucht werden. Dadurch wird die
Erscheinungswelt, d. h. die menschliche Wirklichkeit
für einen Traum, eine Täuschung, ein Nichts er-
klärt und das „wahre Wesen" der Erscheinungen wird
in einem „Ding an sich" gesucht, bis zu dem keine
Beobachtung, kein Erkennen reicht, d. h. von dem
sich der Erkennende keine Vorstellung machen kann.
Dieses „wahre Wesen" ist also für den Erkennenden
ein völlig leerer Gedanke, der Gedanke an ein
Nichts. Traum ist bei jenen Philosophen, die von
dem „Ding an sich" sprechen, die Erscheinungswelt;
Nichts ist aber das, was sie als das „wahre W^esen"
dieser Erscheinungswelt ansehen. Die ganze philo-
sophische Bewegung, die von dem „Ding an sich"
spricht und die in der neueren Zeit sich namentlich
auf Kant stützt, ist der Glaube an das Nichts, ist
philosophischer Nihilism u s.
II. Der Übermensch. 65
20.
Wenn der starke Geist nach der Ursache eines
menschlichen Handelns und VoUbringens sucht, so findet
er diese immer in dem Willen zur Macht der einzelnen
Persönlichkeit. Der Mensch mit schwachem, mut-
losem Intellekt will dies aber nicht zugeben. Er fühlt
sich nicht kräftig genug, sich zum Herrn und Richtung-
geber seines Handelns zu machen. Er deutet die
Triebe, die ihn lenken, als Gebote einer fremden
Macht. Er sagt nicht: ich handle, wie ich will;
sondern er sagt: ich handle gemäfs einem Gebote, wie
ich soll. Er will sich nicht befehlen, er will ge-
horchen. Auf der einen Stufe der Entwicklung
sehen die Menschen ihre Antriebe zum Handeln als
Gebote Gottes an, auf einer andern Stufe glauben sie
in ihrem Innern eine Stimme zu vernehmen, die ihnen
gebietet. Sie wagen es im letztern Falle nicht, zu
sagen: ich bin es selbst, der da befiehlt; sie be-
haupten: in mir spricht ein höherer Wille sich aus.
Dafs sein Gewissen ihm in jedem einzelnen Falle
sagt, wie er handeln soll, ist die Meinung des einen;
dafs ein kategorischer Imperativ ihm befiehlt, behauptet
ein anderer. Hören wir, was J. G. Fichte sagt: „Es soll
schlechthin etwas geschehen, weil es nun einmal ge-
schehen soll: dasjenige, was das Gewissen nun eben
von mir .... fordert; dafs es geschehe, dazu, lediglich
dazu bin ich da; um es zu erkennen, habe ich Ver-
stand; um es zu vollbringen habe ich Kraft". („Be-
stimmung des Menschen", 3. Buch.) Ich führe mit
Vorliebe J. G. Fichtes Aussprüche an, weil er mit
eiserner Konsequenz die Meinung der „Schwachen und
Steiner, Friedrich Nietzsche. , 5
66 II. Der Übermensch.
Mifsratenen" bis ans Ende gedacht hat. Wozu diese
Meinungen zuletzt führen, kann man nur erkennen,
wenn man sie da aufsucht, wo sie zu Ende gedacht
worden sind; auf die Halben, die jeden Gedanken nur
bis in seine Mitte denken, kann man sich nicht stützen.
Nicht in der Einzelpersönlichkeit wird von denen,
die in der angedeuteten Weise denken , der Quell
des Wissens gesucht ; sondern jenseits dieser Per-
sönlichkeit in einem „Willen an sich**. Eben dieser
„Wille an sich" soll als „Stimme Gottes" oder „als
Stimme des Gewissens" , „kategorischer Imperativ"
u. s. w. zu dem Einzelnen sprechen. Er soll der universelle
Lenker des menschlichen Handelns und der Urquell
der Sittlichkeit sein und auch die Zwecke
des sittlichen Handelns bestimmen. „Ich sage,
das Gebot des Handelns selbst ist es, welches durch
sich selbst mir einen Zweck setzt: dasselbe in mir,
was mich nötigt, zu denken, dafs ich so handeln solle,
nötigt mich, zu glauben, dafs aus diesem Handeln
^twas erfolgen werde; es eröflfnet dem Auge die Aus-
sicht auf eine andere Welt." „Wie ich im Gehor-
sam lebe, lebe ich zugleich in der Anschauung seines
Zweckes, lebe ich in der besseren Welt, die
er mir verheifst." (Fichte, die Bestimmung des
Menschen, 3. Buch.) Der also Denkende will sich
nicht selbst sein Ziel setzen ; er will von dem höheren
Willen, dem er gehorcht, sich zu einem Ziele führen
lassen. Er will sich seines Eigenwillens entledigen
und sich zum Werkzeug „höherer" Zwecke mächen.
In Worten, die zu den schönsten Erzeugnissen des
Sinnes für Gehorsam und Demut gehören, die mir
bekannt sind, schildert Fichte die Hingabe an den
IL Der Übermensch. 67
„ewigen Willen an sich". „Erhabener lebendiger
Wille, den kein Name nennt, und kein Begriflf um-
fafst, wohl darf ich mein Gemüt zu dir erheben;, denn
du und ich sind nicht getrennt. Deine Stimme ertönt
in mir, die meinige tönt in dir wieder; und alle
meine Gedanken, wenn sie nur wahr und
gut sind, sind in dir gedacht. — In dir, dem
Unbegreiflichen, werde ich mir selbst, und wird mir
die Welt vollkommen begreiflich, alle Rätsel meines
Daseins werden gelöst, und die vollendetste Harmonie
entsteht in meinem Geiste." „Ich verhülle vor dir
mein Angesicht, und lege die Hand auf den Mund.
Wie du für dich selbst bist, und dir selbst erscheinst,
kann ich nie einsehen, so gewifs ich nie du selbst
werden kann. Nach tausendmal tausend durchlebten
Geisterleben werde ich dich noch eben so wenig be-
greifen als jetzt, in dieser Hülle von Erde." (Be-
stimmung des Menschen, 3. Buch.)
Wohin dieser Wille den Menschen zuletzt .führen
will, das kann der Einzelne nicht wissen. Wer an
diesen Willen glaubt, gesteht also damit, dafs er über
die Endzwecke aeines Handelns nichts weifs. Die
Ziele, die sich der Einzelne schafft, sind aber für
einen solchen Gläubigen eines höheren Willens keine
„wahren" Ziele. Er setzt somit an die Stelle der
durch das Individuum geschaflfenen positiven Einzel-
ziele einen Endzweck der ganzen Menschheit, dessen
Gedankeninhalt aber ein Nichts ist. Ein solcher
Gläubiger ist moralischer Nihilist. Er ist in der
schlimmsten Art von Unwissenheit befangen , die
sich erdenken läfst. Nietzsche wollte diese Art von
Unwissenheit in einem besonderen Buche seines un-
5*
68 H. Der Übennenscb.
vollendet gebliebenen Werkes „der Wille zur Macht**
behandeln. (Vgl. Anhang zu Bd. VIII. der Gesamt-
ausgabe von Nietzsches Werken.)
Die Lobpreisung des moralischen Nihilismus finden
wir wieder in Fichtes „Bestimmung des Menschen"
(3. Buch): „Ich will nicht versuchen, was mir durch
das Wesen der Endlichkeit versagt ist, und was mir
zu nichts nützen würde; wie du an dir selbst bist,
will ich nicht wissen. Aber deine Beziehungen und
Verhältnisse zu mir, dem Endlichen, und zu allem
Endlichen, liegen oflfen vor meinem Auge: werde ich,
was ich sein soll ! — und sie umgeben mich in hellerer
Klarheit, als das Bewufstsein meines eignen Daseins.
Du wirkest in mir die Erkenntnis von meiner
Pflicht, von meiner Bestimmung in der Reihe der
vernünftigen Wesen; wie, das weifs ich nicht, noch
bedarf ich es zu wissen. Du weifst und erkennst,
was ich denke und will ; wie du wissen kannst, — durch
welchen Akt du dieses Bewufstsein zu stände bringst,
darüber verstehe ich nichts; ja ich weifs sogar
sehr wohl, dafs der Begriff eines Akts, und eines be-
sonderen Akts des Bewufstseins nur von mir gilt,
nicht aber von dir, dem Unendlichen. Du willst,
denn du willst, dafs mein freier Gehorsam Folgen
habe in alle Ewigkeit; den Akt deines Willens
begreife ich nicht; und weifs nur soviel, dafs er
nicht ähnlich ist dem meinigen. Du thust, und dein
Wille selbst ist That; aber deine Wirkungsweise ist
der, die ich allein zu denken vermag, geradezu ent-
gegengesetzt. Du lebest und bist, denn du weifst,
willst und wirkest, allgegenwärtig der endlichen
Vernunft; aber du bist nicht, wie ich alle
n. Der Übermensch. QQ
Ewigkeiten hindurch allein ein Sein werde
denken können."
Dem moralischen Nihilismus stellt Nietzsche die
Ziele gegenüber, die der schaffende EinzelwiUe
sich setzt. Den Lehrern der Ergebung ruft Zara-
thustra zu:
„Diese Lehrer der Ergebung. Überall hin, wo
es klein und krank und grindig ist, kriechen sie hin,
gleich Läusen; und nur mein Ekel hindert mich, sie
zu knacken.
Wohlan ! Dies ist meine Predigt für ihre Ohren :
ich bin Zarathustra, der Gottlose, der da spricht:
,wer ist gottloser denn ich, dafs ich mich seiner Unter-
weisung freue?'
Ich bin Zarathustra, der Gottlose: wo finde ich
meinesgleichen? Und alle die sind meinesgleichen,
die sich selber ihren Willen geben und alle
Ergebung von sich abthun."
2L
Die starke Persönlichkeit, die Ziele schafft,
ist rücksichtslos in der Ausiiihrung derselben. Die
schwache Persönlichkeit dagegen führt nur das aus,
wozu der Wille Gottes oder die „Stimme des Ge-
wissens" oder der „kategorische Imperativ" Ja sagt.
Was diesem Ja entspricht, bezeichnet der Schwache
als gut, was diesem Ja zuwider ist als böse. Der
Starke kann dieses „gut und bös" nicht anerkennen;
denn er erkennt diejenige Macht nicht an, von der
sich der Schwache sein Gutes und Böses bestimmen
läfst Was er, der Starke, will, ist für ihn gut; er
70 n. Der Übeniiensch.
-
führt es durch gegen alle widerstrebenden Mächte.
Was ihn in dieser Durchführung stört, das sucht er
zu überwinden. Er glaubt nicht, dafs ein „ewiger
Weltwille" alle einzelnen Willensentschlüsse zu einer
grofsen Harmonie lenkt; aber er ist der Ansicht, dafs
alle menschliche Entwickelung aus den Willensimpulsen
der Einzelpersönlichkeiten sich ergiebt, und dafs ein
ewiger Krieg besteht zwischen den einzelnen Willens-
äufserungen, in dem immer der stärkere Wille über
den schwächeren siegt.
Von den Schwachen und Mutlosen wird die starke
Persönlichkeit, die sich selbst Gesetz und Zweck geben
will, als böse, als sündhaft bezeichnet. Sie erregt
Furcht, denn sie durchbricht die hergebrachten
Ordnungen ; sie nennt wertlos, was die Schwachen ge-
wohnt sind, wertvoll zu nennen, und sie erfindet
Neues, vor ihr Unbekanntes, das sie als wertvoll be-
zeichnet. „Jede individuelle Handlung, jede indivi-
duelle Denkweise erregt Schauder; es ist gar nicht
auszurechnen, was gerade die selteneren, ausgesuchteren,
ursprünglicheren Geister im ganzen Verlauf der Ge-
schichte dadurch gelitten haben müssen, dafs sie
immer als die bösen und gefährlichen empfunden
wurden, ja dafs sie sich selber so empfanden.
Unter der Herrschaft der Sittlichkeit hat die Origi-
nalität jeder Art ein böses Gewissen bekommen; bis
diesen Augenblick ist der Himmel der Besten noch
dadurch verdüsterter, als er sein müfste." (Morgen-
röte § 9.)
Der wahrhaft freie Geist fafst schlechthin erste
Entschlüsse; der unfreie entscheidet sich nach dem
Herkommen. „Sittlichkeit ist nichts anderes (also
II. Der Übermensch. 71
xiamentlich nicht mehr!), als Gehorsam gegen Sitten,
welcher Art diese auch sein mögen; Sitten aber sind
die herkömmliche Art zu handeln und abzu-
schätzen" (Morgenröte § 9). Dieses Herkommen ist
es , was von den Moralisten als „ewiger Wille",
„kategorischer Imperativ" gedeutet wird. Jedes Her-
kommen ist aber das Ergebnis der naturgemäfsen
Triebe und Impulse einzelner Menschen , ganzer
Stämme, Völker u. s. w. Es ist ebenso das Produkt
natürlicher Ursachen, wie etwa die Witterungsverhält-
nisse einzelner Gegenden. Der freie Geist erklärt
sich durch dieses Herkommen nicht gebunden. Er
hat seine individuellen Triebe und Impulse, und diese
sind nicht weniger berechtigt als die der anderen. Er
setzt diese Impulse in Handlungen um, wie eine Wolke
Regen auf die Erdoberfläche sendet, wenn die Ur-
sachen dazu vorhanden sind. Der freie Geist steht
jenseits dessen, was das Herkommen als
gut und böse ansieht. Er schafft sich selbst
sein Gut und Böse.
„Als ich zu den Menschen kam, da fand ich sie
sitzen auf einem alten Dünkel : Alle dünkten sich
lange schon zu wissen, was dem Menschen gut und
böse sei.
Eine alte müde Sache dünkte ihnen alles Reden
von Tugend; und wer gut schlafen wollte, der sprach
vor dem Schlafengehen noch von ,Gut und Böse^
Diese Schläferei störte ich auf, als ich lehrte:
was gut und böse ist, das weifs noch niemand
— es sei denn der Schaffende.
Das aber ist der, welcher des Menschen Ziel
schafft und der Erde ihren Sinn giebt und ihre
72 II* I^er Übermensch.
Zukunft: dieser erst schafft es^ dafs etwas gut
und böse ist." (Zarathustra, 3. Teil, Von alten und
neuen Tafeln.)
Auch dann wenn der freie Geist handelt, wie es dem
Herkommen gemäfs ist, dann thut er es, weil er die
herkömmlichen Motive zu den seinigen machen will,
und weil er es in bestimmten Fällen nicht für nötig
hält, an die Stelle des Herkömmlichen etwas Neues
zu setzen.
22.
Der Starke sucht in der Durchsetzung seines
schaffenden Selbst seine Lebensaufgabe. Diese
Selbstsucht unterscheidet ihn von den Schwachen,
die in der selbstlosen Hingabe an das, was sie das
Gute nennen, die Sittlichkeit sehen. Die Schwachen
predigen die Selbstlosigkeit als die höchste Tugend.
Ihre Selbstlosigkeit ist aber nur die Folge ihres
Mangels an Schaffenskraft. Hätten sie ein schaffendes
Selbst, so würden sie dieses auch durchsetzen wollen.
Der Starke liebt den Krieg, denn er braucht den Krieg,
um seine Schöpfungen gegen die widerstrebenden
Mächte durchzusetzen.
„Euren Feind sollt ihr suchen, euren Krieg sollt
ihr führen und für eure Gedanken! Und wenn euer
Gedanke unterliegt, so soll eure Redlichkeit darüber
noch Triumph rufen!
Ihr sollt den F*rieden lieben als Mittel zu neuen
Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr als den
langen.
Euch rate ich nicht zur Arbeit, sondern zum
Kampfe. Euch rate ich nicht zum Frieden, sondern
n. Der Übermensch.
73
tsum Siege. Eure Arbeit sei ein Kampf, euer Friede
ein Sieg!
Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den
KSrieg heilige? Ich aber nage euch; der gute Krieg
lifit es, der jede Sache heiligt.
Der Krieg und der Mut haben mehr grofse Dinge
gethan , als die Nächstenliebe, Nicht euer Mitleiden,
sondern eure Tapferkeit rettete bisher die Verun-
glückten." (Zarathustra, 1. Teil. Vom Krieg und
1 Kriegavolke.)
I Unerbittlich und ohne Schonung des Wider-
atrebenden handelt der Schaffende. Er kennt nicht
die Tugend der Leidenden: das Mitleid, Aus seiner
Kraft kommen die Antriebe des Schaffenden, nicht aus
dem Gefühle des fremden Leidens. Dafs die Kraft
siege, dafllr setzt er sich ein, nicht dafs das Leidende,
Schwache gepflegt werde. Schopenhauer hat die ganze
, Welt fUr oin Lazarett erklärt, und die aus dem Mit-
gefühle mit den Leidenden entspringenden Handlungen
r die höchsten Tugenden. Er hat damit die Moral
pdes Christentums in anderer Form ausgesprochen, als
idieses selbst es tliut. Der Schaffende fühlt sich nicht
gerufen. Kranken Wärter dienste zu verrichten. Die
Tüchtigen, Gesunden können nicht um der Schwachen,
|£ranken willen da sein. Das Mitleid schwächt die
Kraft, den Mut, die Tapferkeit.
Das Mitleid sucht gerade das zu erhalten, was
der Starke überwinden will,- die.Schwäche, das Leiden.
ISDer Sieg des Starken über das .Schwache ist der
JSinn aller menschlichen, wie aller natürlichen Ent-
Tfickelung. „Leben selbst ist wesentlich An-
eignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und
74 II* I^f Übermensch.
Schwächeren, Unterdrückung , Härte, Au£swängung
eigener Formen, Einverleibung und. mindestens,
mildestens, Ausbeutung/ (Jenseits von Gut und Böse
§ 259.)
„Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Uner-
bittliche: wie könntet ihr mit mir — siegen?
Und wenn eure Härte nicht blitzen und scheiden
und zerschneiden will: wie könntet ihr einst mit mir
— schaffen?
Die Schaffenden nämlich sind hart. Und Selig-
keit mufs es euch dünken, eure Hand auf Jahrtausende
zu drucken wie auf Wachs, —
— Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden
zu schreiben wie auf Erz, — härter als Erz, edler
als Erz. Ganz hart ist allein das Edelste.
Diese neue Tafel, o meine Brüder, stelle ich über
euch: werdet hart." (Zarathustra, 3. Teil. Von alten
und neuen Tafeln.)
Der freie Geist macht keinen Anspruch auf Mit-
leid. Wer ihn bemitleiden wollte, den müfste er
fragen: hältst du mich flir so schwach, dafs ich mein
Leid nicht selbst tragen kann? Ihm geht jedes Mit-
leid gegen die Scham. Nietzsche bringt den Wider-
willen des Starken gegen das Mitleiden im vierten
Teil seines „Zarathustra** zur Anschauung. Zara-
thustra kommt auf seinen Wanderungen in ein Thal,
das „Schlangentod" heilst. Kein Lebewesen findet
sich hier. Nur eine Art häfslicher grüner Schlangen
kommt hierher, um zu sterben. Dieses Thal hat der
„häfslichste Mensch" aufgesucht. Dieser will von
keinem Wesen gesehen werden wegen seiner Häfs-
lichkeit. In diesem Thal sieht ihn niemand aulser
II. Der Übermensch. 75
Gott. Aber auch dessen Anblick kann er nicht er-
tragen. Das Bewufstsein, dafs Gottes Blicke in alle
Räume dringen, ist ihm zur Last. Er hat deshalb
Gott getötet, d. h. er hat den Glauben an Gott in
sich ertötet. Er ist zum Atheisten geworden wegen
seiner Häfslichkeit. Als Zarathustra diesen Menschen
sieht, überfällt ihn noch einmal das, was er für immer
in sich getilgt zu haben glaubt: das Mitleid mit der
furchtbaren Häfslichkeit. Dies ist eine Versuchung
Zarathustras. Er weist aber das Gefühl des Mitleids
bald zurück und wird wieder hart. Der häfslichste
Mensch sagt zu ihm: Deine Härte ehrt meine Häfs-
lichkeit. Ich bin zu reich an Häfslichkeit, um irgend
eines Menschen Mitleid zu ertragen. Mitleid geht
gegen die Scham.
Wer Mitleid braucht, kann nicht allein stehen,
und der freie Geist will vollständig auf sich selbst
gestellt sein.
23.
Mit der Aufzeigung des natürlichen Willens zur
Macht als Ursache der menschlichen Handlungen
geben sich die Schwachen nicht zufrieden. Sie suchen
nicht blofs nach natürlichen Zusammenhängen in der
Menschenentwickelung , sondern sie suchen das Ver-
hältnis der menschlichen Handlungen zu dem, was
sie als den „Willen an sich", die „ewige, sittliche
Weltordnung** nennen. Wer dieser Weltordnung zu-
widerhandelt, dem sprechen sie eine Schuld zu.
Und sie begnügen sich auch nicht damit, eine Hand-
lung nach ihren natürlichen Folgen zu bewerten,
sondern sie machen den Anspruch darauf, dafs eine
76 II- I^r Übermensch.
schuldvolle Handlung auch moralische Folgen^ Strafen
nach sich ziehe. Sie nennen sich selbst schuldig, wenn
sie ihr Handeln mit der sittlichen Weltordnung nicht in
Übereinstimmung finden ; sie wenden sich mit Abscheu
von dem Quell des Bösen in sich ab und nennen dies
Gefühl böses Gewissen. Alle diese Begriffe läfst
die starke Persönlichkeit nicht gelten. Sie kümmert
sich nur um die natürlichen Folgen ihrer Handlungen.
Sie fragt: wieviel ist meine Handlungsweise für das
Leben wert? Entspricht sie dem, was ich gewollt
habe? Der Starke kann sich grämen, wenn ihm eine
Handlung fehlschlägt, wenn das Resultat seinen Ab-
sichten nicht entspricht. Aber er klagt sich nicht an.
Denn er mifst seine Handlungsweise nicht an aufser-
natürlichen Mafsstäben. Er weifs, dafs er so handelt,
wie es seinen natürlichen Trieben entspricht, und
kann höchstens bedauern, dafs diese nicht besser sind.
Ebenso hält er es mit der Beurteilung fremder Hand-
lungen. Ein moralisches Abschätzen der Hand-
lungen kennt er nicht. Er ist Immoralist.
Was das Herkommen als böse bezeichnet, sieht
der Immoralist ebenso als Ausflufs menschlicher In-
stinkte an, wie das Gute. Die Strafe gilt ihm nicht
als moralisch bedingt, sondern nur als ein Mittel,
Instinkte gewisser Menschen, die andern schädlich
sind, auszurotten. Die Gesellschaft straft nach An-
sicht des Inmioralisten nicht deswegen, weil sie ein
„moralisches Recht" hat, die Schuld zu sühnen, son-
dern allein, weil sie sich stärker erweist, als der Ein-
zelne, welcher der Gesamtheit widerstrebende Instinkte
hat. Die Macht der Gesellschaft steht gegen die Macht
des Einzelnen. Dies ist der natürliche Zusammenhang
n. DeT Übermensoh.
77
einer „bösen" Handlung des Einzelnen mit der Recht-
sprechung der Ge8ellschaft und der Bestrafung dieses
Einzelnen. Ea ist der Wille zur Macht, d.h. zum
Ausleben jener Instinkte, die bei der Mehrzahl der
Menschen vorhanden sind, der sich in der Hechtspflege
einer Gesellschaft äufsert. Der Sieg einer Mehrheit über
einen Einzelnen ist jede Bestrafung. Siegte der Einzelne
über die Gesellschaft, so müfste seine Handlungsweise
als gut, die der andern als böse bezeichnet werden.
Das jeweilige Recht drückt nur aus, was die Gesell-
schaft eben als die beste Grundlage ihres Willens zur
Macht anerkennt.
24.
Weil Nietzsche in der menschlichen Handlungs-
weise nur einen Ausflufs der Instinkte sieht, und diese
letzteren bei verschiedenen Menschen verschieden sind,
scheint es ihm notwendig, dafs auch deren Handlungs-
weisen verschieden sind. Nietzsche ist deshalb ein
entschiedener Gegner des demokratischen Grundsatzes:
Gleiche Rechte und gleiche Pflichten für alle. Die
Menschen sind ungleich, deshalb müssen auch ihre
Bechte und Pflichten ungleich sein, Der natUrliclie Gang
der Weltgeschichte wird stets starke und schwache,
Bohaffende und unfruchtbare Menschen aufweisen. Und
die Starken werden immer dazu berufen sein, den
Schwachen die Ziele zu bestimmen. Ja noch mehr: die
Starken werden sich der Schwachen als Mittel zum
Zwecke, d. h. als Sklaven bedienen. Nietzsche spricht
ItUrlich nicht von einem „moralischen" Recht der
trken zur Haltung von Sklaven. „Moralische" Rechte
cennt er nicht an. Sondern er ist der Meinung, dafs
78 H. Der Übermensch.
die Überwindung des Schwächeren durch den Stärkeren,
die er für das Princip alles Lebens hält, notwendig
zur Sklaverei führen mufs.
Es ist auch natürlich, dafs sich der Überwundene
gegen den Überwinder auflehnt. Wenn diese Auf-
lehnung sich nicht durch die That äufsern kann, so
äufsert sie sich wenigstens im Gefühle. Und der
Ausdruck dieses Gefühles ist die Rache, die stets
in den Herzen derer wohnt, die in irgend einer Weise
von den besser Veranlagten überwunden worden sind.
Als Ausflufs dieser Rache sieht Nietzsche die moderne
socialdemokratische Bewegung an. Der Sieg dieser
Bewegung würde ihm eine Erhöhung der Mifsratenen,
Ubel-Weggekommenen zu Ungunsten der Besseren
sein. Gerade das Gegenteil strebt Nietzsche an: die
Pflege der starken, selbstherrlichen Persönlichkeit.
Und er hafst die Sucht, die alles gleich machen
und die souveräne Individualität in dem Meere der
allgemeinen Mittelmäfsigkeit verschwinden lassen will.
Nicht alle sollen dasselbe haben und genie&en,
meint Nietzsche, sondern jeder soll haben und ge-
niefsen, was er nach Mafsgabe seiner persönlichen
Stärke erreichen kann.
25.
Was der Mensch wert ist, hängt allein von dem
Wert seiner Instinkte ab. Durch nichts anderes kann
der Wert des Menschen bestimmt werden. Man spricht
von dem Werte der Arbeit. Die Arbeit soll den
Menschen adeln. Aber die Arbeit hat an sich gar
keinen Wert. Nur dadurch, dafs sie dem Menschen
dient, erhält sie einen Wert. Nur insofern sich die
II. Der Übermensch. 79
Arbeit als natürliche Folge der menschlichen Nei-
gungen darstellt, ist sie des Menschen würdig. Wer
sich zum Diener der Arbeit macht, entwürdigt sich. Nur
der Mensch, der nicht sich selbst seinen Wert be-
stimmen kann, sucht diesen Wert an der Gröfse seines
Werkes abzumessen. Es ist charakteristisch für das
demokratische Bürgertum der neueren Zeit, dafs es
in der Wertbemessung des Menschen sich nach dessen
Arbeit richtet. Sogar Goethe ist von dieser Gesinnung
nicht frei. Läfst er doch seinen Faust die volle
Befriedigung in dem Bewufstsein gethaner Arbeit
finden.
26.
Auch die Kunst hat nach Nietzsches Meinung
nur Wert, wenn sie dem Leben des Einzelmenschen
dient. Auch hier vertritt Nietzsche die Ansicht der
starken Persönlichkeit und lehnt alles ab, was die
schwachen Instinkte über die Kunst aussprechen.
Fast alle deutschen Ästhetiker vertreten den Stand-
punkt der schwachen Instinkte. Die Kunst soll ein
„Unendliches" im „Endlichen", ein „Ewiges" im „Zeit-
lichen", eine „Idee" in der „Wirklichkeit" darstellen.
Für Schelling z. B. ist alle sinnliche Schönheit nur
ein Abglanz jener unendlichen Schönheit, die wir
nie mit den Sinnen wahrnehmen können. Das Kunst-
werk ist nicht um seiner selbst willen und durch das,
was es ist, schön, sondern weil es die Idee der
Schönheit abbildet. Das sinnliche Bild ist nur ein
Ausdrucksmittel, nur die Form für einen übersinn-
lichen Inhalt. Und Hegel nennt das Schöne „das
sinnliche Scheinen der Idee". Ähnliches kann man
auch bei den andern deutschen Ästhetikern finden.
80 !!• I^ei* Übennensch.
Für Nietzsche ist die Kunst ein lebenforderndes Ele-
ment, und nur, wenn sie dieses ist, hat sie Berech-
tigung. Wer das Leben, wie er es unmittelbar wahr-
nimmt, nicht ertragen kann, der formt es sich nach
seinem Bedürfiiisse um, und damit schafft er ein
Kunstwerk. Und was will der Geniefsende vom
Kunstwerk? Er will Erhöhung seiner Lebensfreude,
Stärkung seiner Lebenskräfte, Befriedigung von Be-
dürfiiissen, die ihm die Wirklichkeit nicht befriedigt.
Aber er will, wenn sein Sinn auf das Wirkliche ge-
richtet ist, nicht durch das Kunstwerk den Abglanz
des Göttlichen, Überirdischen erblicken. Hören wir,
wie Nietzsche den Eindruck schildert, den Bizets
Carmen auf ihn gemacht: „Ich werde ein besserer
Mensch, wenn mir dieser Bizet zuredet. Auch ein
besserer Musikant, ein besserer Zuhörer. Kann man
überhaupt noch besser zuhören ? — Ich vergrabe meine
Ohren noch unter diese Musik, ich höre deren Ur-
sache. Es scheint mir, dafs ich ihre Entstehung er-
lebe — ich zittere vor Gefahren, die irgend ein Wagnis
begleiten, ich bin entzückt über GlücksMle^ an denen
Bizet unschuldig ist. — Und seltsam! im Grunde
denke ich nicht daran, oder weifs es nicht, wiesehr
ich daran denke. Denn ganz andere Gedanken laufen
mir während dem durch den Kopf . . . Hat man be-
merkt, dafs die Musik de^ Geist frei macht? dem
Gelehrten Flügel giebt? dafs man umsomehr Philo-
soph wird, je mehr man Musiker wird? — Der graue
Himmel der Abstraktion wie von Blitzen durchzuckt;
das Licht stark genug für alles Filigran der Dinge;
die grofsen Probleme nahe zum Greifen; die Welt
wie von einem Berge aus überblickt. — Ich definierte
II. Der Übermensch. 81
eben das philosophische Pathos. — Und unversehens
fallen mir Antworten in den Schofs, ein kleiner Hagel
von Eis und Weisheit, von gelösten Problemen . .
Wo bin ich? — Bizet macht mich fruchtbar. Alles Gute
macht mich fruchtbar. Ich habe keine andere Dankbar-
keit, ich habe auch keinen andern Beweis dafür, was
gut ist" — (Fall Wagner § 1.) Weil Richard Wagners
Musik eine solche Wirkung nicht auf ihn machte, des-
halb lehnte sie Nietzsche ab: „Meine Einwände gegen die
Musik Wagners sind physiologische Einwände
Meine Thatsache, mein petit fait vrai ist, dafs ich
nicht mehr leicht atme, wenn diese Musik erst auf
mich wirkt; dafs alsbald mein Fufs gegen sie böse
wird und revoltiert: er hat das Bedürfnis nach Takt,
Tanz, Marsch ... er verlangt von der Musik vorerst
die Entzückungen, welche in gutem Gehen, Schreiten,
Tanzen liegen. Protestiert aber nicht auch mein Magen ?
mein Herz? mein Blutlauf? betrübt sich nicht mein
Eingeweide? Werde ich nicht unversehens heiser da-
bei? Und so frage ich mich: was will eigentlich
mein ganzer Leib von der Musik überhaupt? . . . Ich
glaube, seine Erleichterung: wie als ob alle anima-
lischen Funktionen durch leichte, kühne, ausgelassene,
selbstgewisse Rhythmen beschleunigt werden sollten;
wie als ob das eherne, bleierne Leben durch goldene,
zärtliche, ölgleiche Melodieen seine Schwere verlieren
sollte. Meine Schwermut will in den Verstecken und
Abgründen der Vollkommenheit ausruhen: dazu
brauche ich Musik." (Nietzsche kontra Wagner. Kap.:
Wo ich Einwände mache.) —
Im Anfange seiner schriftstellerischen Laufbahn
täuschte sich Nietzsche über das, was seine Instinkte
Steiner, Friedrich Nietzsche. 6
82 ^^' ^^^ Übermensch.
von der Kunst verlangen, deshalb v/ar er damals ein
Anhänger Wagners. Er hat sich durch das Studium der
Schopenhauerschen Philosophie zum Idealismus ver-
führen lassen. Er glaubte einige Zeit hindurch an den
Idealismus und täuschte sich künstliche Bedürfnisse,
ideale Bedürfnisse vor. Erst im weiteren Verlaufe seines
Lebens merkte er, dafs aller Idealismus seinen Trieben
gerade entgegengesetzt ist. Er wurde nun aufrichtiger
gegen sich selbst. Er sprach aus, wie er selbst empfand.
Und das konnte nur zur vollständigen Ablehnung von
Wagners Musik führen, die ja immer mehr den aske-
tischen Charakter annahm, den wir bereits als Kenn-
zeichen von Wagners letztem Wirkensziel aufgeführt
haben.
Die Ästhetiker, die es der Kunst zur Aufgabe
machen, die Idee zu versinnlichen, das Göttliche zu
verkörpern, vertreten auf diesem Gebiete eine ähnliche
Ansicht wie die philosophischen Nihilisten auf dem
Gebiete der Erkenntnis und der Moral. Sie suchen in
den Kunstobjekten ein Jenseitiges, das sich aber vor
dem Wirklichkeitssinn in ein Nichts auflöst. Es
giebt auch einen ästhetischen Nihilismus.
Diesem steht die Ästhetik der starken Persönlichkeit
gegenüber, die in der Kunst ein Abbild der Wirklich-
keit, eine höhere Wirklichkeit sieht, die der Mensch
lieber geniefst als die Alltäglichkeit.
27.
Zwei Menschentypen stellt Nietzsche einander
gegenüber: den Schwachen und den Starken. Der
erstere sucht die Erkenntnis als einen objektiven That-
II. Der Übennenioh.
SS
de
K
bestand, der von der Aiifaeawelt in seinen Geist ein-
fliefsen soll. Er läfst sich sein Gutes und Böses von
einem „ewigen Weltwillen" oder einem „kategorischen
Imperativ" diktieren. Er bezeichnet jede nicht von
diesem Weltwillen, sondern nur von dem schöpferischen
Eigenwillen bestimmte Handlung als Sünde, die eine
moraliache Strafe nach sich ziehen mufs. Er möchte für
alle Menschen gleiche Rechte dekretieren und den Wert
des Menschen nach einem äufsern Mafastabe bestimmen.
Ir möchte endlich in der Kunst ein Abbild des Gött-
ichen, eine Kunde aus dem Jenseits erblicken. Der
itarke dagegen sieht alle Erkenntnis als den Aus-
druck des Willens zur Macht an. Er sucht durch
die Erkenntnis die Dinge denkbar und sich dadurch
unterthan zu machen. Er weifs, dafs er selbst der
Schöpfer der Wahrheit ist; dafs niemand als er selbst
sein Gutes und sein Böses schaffen kann. Er betrachtet
die Handlungen des Menschen als Folgen natürlicher
Triebe und läfst sie gelten als Naturereignisse, die niemals
als Sünden zu betrachten sind und nicht eine moralische
Verurteilung verdienen. Ersucht den Wert des Menschen
der Tüchtigkeit seiner Instinkte, Einen Menschen mit
[en Instinkten für Gesundheit, Geist, Schönheit, Aus-
;uer, Vornehmheit achätzt er höher als einen aolchen
t den Instinkten für Schwäche, Häfslichkeit , Skla-
rei. Er beurteilt ein Kunstwerk nach dem Grade,
dem es zur Steigerung seiner Kräfte beiträgt.
Diesen letzteren Menschentypus versteht Nietzsche
iter seinem Übermenschen. Solche Übermenschen
Lonnten bisher nur durch das Zusammentreffen zu-
iliger Umstände entstehen. Ihre Eutwickelung zum
lewufsten Ziele der Menschheit zu machen, ist die Ab-
84 U* ^^^ Übeimensch.
sieht, die Zarathustra hat. Man sah bisher das Ziel der
menschlichen Entwickelung in irgendwelchen Idealen.
Hier hält Nietzsche eine Änderung der Anschauungen für
nötig. Der „höherwertige Typus ist oft genug schon da-
gewesen: aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme,
niemals als gewollt. Vielmehr ist er gerade am besten
gefurchtet worden, er war bisher beinahe das Furcht-
bare; — und aus der Furcht heraus wurde der um-
gekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht: das
Haustier, das Herdentier, das kranke Tier Mensch, —
der Christ ..." (Antichrist § 3).
Zarathustras Weisheit soll diesen Übermenschen,
zu dem jener andere Typus nur ein Übergang ist,
lehren.
Nietzsche nennt diese Weisheit eine dionysische.
Es ist eine Weisheit, die nicht dem Menschen von
aufsen gegeben wird; es ist eine selbstgeschaffene
Weisheit. Der dionysische Weise forscht nicht; er
schafft. Er steht nicht als Betrachter auTser der Welt,
die er erkennen will; er ist Eins geworden mit seiner
Erkenntnis. Er sucht nicht nach einem Gotte; was
er sich noch als göttlich vorstellen kann, ist nur Er
selbst als Schöpfer seiner eigenen Welt. Wenn dieser
Zustand auf alle Kräfte des menschlichen Organis-
mus sich erstreckt, so giebt das den dionysischen
Menschen, dem es unmöglich ist, irgend eine
Suggestion nicht zu verstehen; er übersieht kein
Zeichen des Affekts, er hat den höchsten Grad des
verstehenden und erratenden Instinktes, wie er den
höchsten Grad von Mitteilungskunst besitzt Er geht
in jede Haut, in jeden Affekt ein : er verwandelt sich
beständig. Dem dionysischen Weisen steht der blolse
Betrachter gegenüber, der sich immer auTserhalb seiner
Erkenn tnisobjekte etehend glaubt , alB objektiver,
leidender Zuschauer. Dem dionysischen Menschen steht
der apoUiniHche gegenüber, der „vor allem das
Äuge erregt hält, sodars es die Kraft der Vision be-
kommt". Visionen, Bilder von Dingen, die jenseits
der Mens eben- Wirklichkeit stehen, erstrebt der apolli-
nische Geist, nicht eine durch ihn selbst geschaffene
"Weisheit,
I 28.
Die apollinische Weisheit hat den Charakter" des
Ernstes. Sie empfindet die Herrschaft des Jenseits,
das sie nur im Bilde besitzt , als einen schweren
Druck, als eine ihr widerstrebende Macht. Ernst ist
[ie apollinische Weisheit, denn sie glaubt sich im
iesitze einer Kunde aus dem Jenseits, wenn diese
•amch nur durch Bilder, Visionen vermittelt sein soll.
Schwer beladen mit seiner Erkenntnis wandelt der
apollinische Geist einher, denn er trägt eine Bürde,
die aus einer andern Welt stammt. Und den Aus-
druck der Würde nimmt er au, denn vor den Kund-
gebungen des Unendlichen mufs jedes Lachen ver-
itununen.
Dieses Lachen aber charakterisiert den dionysi-
ihen Geist, Er weifs, dafs alles, was er Weisheit
nennt, nur seine Weisheit ist, von ihm erfunden, um
sich das Leben leicht zu machen. Nur dieses Eine
soll ja seine Weisheit sein: ein Mittel, das ihm
erlaubt, zum Leben Ja zu sagen. Dem dionysischen
Menschen ist der Geist der Schwere zuwider, weil er
das Leben nicht erleichtert, sondern niederdrückt. Die
86 n. Der Übermensch.
selbstgeschafFene Weisheit ist eine heitere Weisheit^
denn wer sich selbst seine Bürde schafft, der schafft
sich nur eine solche, die er auch leicht tragen kann.
Mit der selbstgeschaffenen Weisheit bewegt sich der
dionysische Geist leicht durch die Welt wie ein Tänzer.
„Dafs ich aber der Weisheit gut bin und oft
zu gut: das macht, sie erinnert mich gar sehr an
das Leben!
Sie hat ihr Auge, ihr Lachen und sogar ihr
goldnes Angelrütchen : was kann ich dafür, dafs
die beiden sich so ähnlich sehen?"
„In dein Auge schaute ich jüngst, o Leben:
Gold sah ich in deinem Nachtauge blinken, — mein
Herz stand still vor dieser Wollust:
— einen goldenen Kahn sah ich blinken auf
nächtigen Gewässern, einen sinkenden, trinkenden^
wieder winkenden goldenen Schaukelkahn!
Nach meinem Fufse, dem tanzwütigen, warfst
du einen Blick, einen lachenden, fragenden^
schmelzenden Schaukelblick :
zweimal nur regtest du deine lOapper mit
kleinen Händen — da schaukelte mein Fufs vor
Tanzwut. —
Meine Fersen bäumten sich, meine Zehen
horchten, dich zu verstehen: doch trägt der Tänzer
sein Ohr — in seinen Zehen!"
(Zarathustra 2. u. 3. Teil. Die Tanzlieder.)
29.
Weil der dionysische Geist aus sich selbst alle
Antriebe seines Thuns entnimmt und keiner äufserea
II. Der Ubennensch. 87
Macht gehorcht, ist er ein freier Geist. Denn ein
freier Geist ist derjenige, der nur seiner Natur folgt.
Nun ist allerdings in Nietzsches Werken nur die Rede
von Instinkten als den Antrieben des freien Geistes.
Ich glaube, dafs hier Nietzsche mit einem Namen eine
Reihe von Antrieben zusammengefafst hat, die eine
mehr ins Einzelne gehende Betrachtung erfordern.
-Nietzsche nennt Instinkte sowohl die bei den Tieren
vorhandenen Triebe zur Ernährung und Selbst-
erhaltung, wie auch die höchsten Antriebe Tcier mensch-
lichen Natur, z. B. den Erkenntnistrieb, den Trieb,
nach sittlichen Mafsstäben zu handeln, den Trieb, sich
an Kunstwerken zu ergötzen u. s. w. Nun sind zwar
alle diese Triebe Aufserungsformen einer und der-
selben Grundkraft. Aber sie stellen doch verschiedene
Stufen in der Entwickelung dieser Kraft dar. Die
moralischen Antriebe z. B. sind eine besondere Stufe
der Instinkte. Wenn auch zugegeben werden kann,
dafs sie nur höhere Formen sinnlicher Instinkte
sind, so treten sie doch im Menschen auf eine beson-
dere Art ins Dasein. Dies zeigt sich darin, dafs es
dem Menschen möglich ist, Handlungen zu vollführen,
die nicht unmittelbar auf sinnliche Instinkte zurück-
zuführen sind, sondern nur auf jene Antriebe, die
eben als höhere Formen des Instinktes zu bezeichnen
sind. Der Mensch schafft sich Antriebe seines Han-
delns, die nicht aus seinen sinnlichen Trieben abzu-
leiten sind, sondern nur aus dem bewufsten Denken.
Er setzt sich individuelle Zwecke vor, aber er setzt sich
diese mit Bewufstsein vor. Und es ist ein grofser
Unterschied, ob er einem unbewufst entstandenen und
erst hinterher in das Bewufstsein aufgenommenen In-
88 II« Der Übermensch.
stinkte oder einem Gedanken folgt, den er von vorn-
herein mit vollem Bewufstsein produziert hat. Wenn
ich esse, weil mein Nahrungstrieb mich drängt, so ist
dies etwas wesentlich anderes, als wenn ich eine mathe-
matische Aufgabe löse. Die denkende Erfassung der
Welterscheinungen stellt eine besondere Form des
allgemeinen Wahrnehmungsvermögens dar. Sie unter-
scheidet sich von der blofsen sinnliehen Wahrnehmung.
Dem Menschen sind nun die höheren Entwickelungs-
formen des-Instinktlebens ebenso natürlich wie die nie-
deren. Stehen beide nicht im Einklänge, dann ist er
zur Unfreiheit verurteilt. Es kann der Fall eintreten,
dafs eine schwache Persönlichkeit mit vollkonmien ge-
sunden sinnlichen Instinkten nur schwache geistige
Instinkte hat. Dann wird sie zwar in Bezug auf ihr
Sinnenleben ihre eigene Individualität entfalten, aber
die gedanklichen Antriebe ihres Handelns wird sie aus
dem Herkommen entlehnen. Es kann eine Dishar-
monie beider Triebwelten entstehen. Die sinnlichen
Triebe drängen zum Ausleben der eigenen Persönlich-
keit, die geistigen Antriebe stehen in dem Banne einer
äufsern Autorität. Das Geistesleben einer solchen
Persönlichkeit wird von den sinnlichen, das sinn-
liche Leben von den geistigen Instinkten tyrannisiert.
Denn beide Gewalten gehören nicht zusammen, sind
nicht aus einer Wesenheit erwachsen. Zur wirklich
freien Persönlichkeit gehört also nicht nur ein gesund
entwickeltes individuelles sinnliches Triebleben, son-
dern auch die Fähigkeit, sich die gedanklichen An-
triebe für das Leben zu schaflfen. Erst derjenige
Mensch ist vollkommen frei, der auch Gedanken
produzieren kann, die zum Handeln führen. Ich habe
das Vermögen, rein gedanldichö Triebfedern des
Handelns zu schaffen, in meiner Schrift ,Die Philo-
sophie der Freiheit" (Weimar, Emil Fclber 1894) die
„moralische Phantasie" genannt. Nur wer diese mora-
llische Phantasie hat, ist wirklich frei, denn der
F Mensch niufs nach hewnfsten Triebfedern handeln.
Und wenn er solche nicht selbst produzieren kann,
dann mufs er sich dieselben von äufseren Autoritäten
oder von dem in Form der GewisseDsstimme in ihm
sprechenden Herkommen geben lassen. Ein Mensch,
der sich blofs seinen sinnlichen Instinkten überläfst,
handelt wie ein Tier; ein Mensch, der seine sinn-
lichen Instinkte unter fremde Gedanken stellt, handelt
I anfrei; erst der Mensch, der sich selbst seine mora-
P lisch en Ziele schafft, handelt frei. Die moralische
Phantasie fehlt in Nietzaches Ausführungen. Wer
dessen Gedanken zu Ende denkt, muis notwendig auf
dieaen Begriff kommen. Aber andererseits ist es auch
eine unbedingte Notwendigkeit, dafs dieser Begriff der
Kietzsch eschen Weltanschauung eingefligt wird. Sonst
k&nnte gegen dieselbe immerfort eingewendet werden :
Zwar ist der dionysische Mensch kein Knecht des
l^erkommens oder des jjenseitigen Willens", aber er
^ist ein Knecht seiner eigenen Instinkte.
Nietzsche hat seinen Blick auf das Ursprüngliche,
srsönliche im Menschen gerichtet. Er suchte
[ dieses Eigenpersönliche herauszulösen aus dem Mantel
des Unpersönlichen, in den es eine wirklichkeitsfeind-
liche Weltanschauung eingehtiUt hat. Aber er ist nicht
daau gekommen, die Stufen des Lebens innerhalb der
Persönlichkeit selbst zu unterscheiden. Er bat des-
lalb die Bedeutung des Bewufstseins fiir die mensch-
90 II. Der Übermensch.
liehe Persönlichkeit unterschätzt. „Die Bewufstheit
ist die letzte und späteste Entwicklung des Organi-
schen und folglich auch das Unfertigste und Unkräf-
tigste daran. Aus der Bewufstheit stammen unzählige
Fehlgriffe, welche machen, dafs ein Tier, ein Mensch
zu Grunde geht, früher als es nötig wäre, „über da»
Geschick", wie Homer sagt. Wäre nicht der er-
haltende Verband der Instinkte so überaus viel mäch-
tiger, diente er nicht im ganzen als Regulator: an
ihrem verkehrten Urteilen und Phantasieren mit offenen
Augen, an ihrer Ungründlichkeit und Leichtgläubig-
keit, kurz eben an ihrer Bewufstheit müfste die Mensch-
heit zu Grunde gehen," sagt Nietzsche (Fröhliche
Wissenschaft § 11).
Dies ist zwar durchaus zuzugeben; aber nicht
minder wahr ist es, dafs der Mensch nur insoweit
frei ist, als er sich gedankliche Triebfedern seines
Handelns innerhalb des Bewufstseins schaffen
kann.
Die Betrachtung der gedanklichen Triebfedern
führt aber noch weiter. Es ist eine Thatsache der
Erfahrung, dafs diese gedanklichen Triebfedern, die die
Menschen aus sich heraus produzieren, bei den ein-
zelnen Individuen doch bis zu einem gewissen Grade
eine Übereinstimmung zeigen. Auch wenn der einzelne
Mensch ganz frei aus sich heraus Gedanken schafft,
so stimmen diese in gewisser Weise mit den Gedanken
anderer Menschen überein. Daraus folgt für den
Freien die Berechtigung, anzunehmen, dafc die Har-
monie in der menschlichen Gesellschaft von selbst ein-
tritt, wenn sie aus souveränen Individuen besteht. Er
kann diese Meinung dem Verteidiger der Unjfreiheit
II. Der Übermensch. 91
gegenüberstellen, der glaubt, dafs die Handlungen
einer Mehrheit von Menschen nur zusammenstimmen,
wenn sie durch eine äufsere Gewalt nach einem ge-
meinsamen Ziele hingelenkt werden. Der freie Geist
ist deshalb durchaus kein Anhänger jener Ansicht,
welche die tierischen Triebe absolut frei walten lassen
und alle gesetzlichen Ordnungen deshalb abschaffen
will. Aber er verlangt absolute Freiheit für diejenigen,
die nicht blofs ihren tierischen Instinkten folgen wollen,
sondern die imstande sind, moralische Triebfedern,
ihr eigenes Gutes und Böses, zu schaffen.
Nur wer Nietzsche nicht so weit durchdrungen
hat, dafs er die letzten Konsequenzen von dessen Welt-
anschauung zu ziehen vermag, trotzdem sie Nietzsche
nicht selbst gezogen hat, kann in ihm einen Menschen
sehen, der „mit einer gewissen stilistischen Wollust
zu enthüllen den Mut gefunden hat, was bisher etwa
im geheimsten Seelengrunde grandioser Verbrecher-
typen .... verborgen gelauert haben mag" (Ludwig
Stein, Friedrich Nietzsches Weltanschauung und ihre
Gefahren S. 5). Noch immer ist die Durchschnitts-
bildung eines deutschen Professors nicht so weit, das
Grofse einer Persönlichkeit von deren kleinen Irr-
tümern abzutrennen. Sonst könnte man es nicht
erleben, dafs die Kritik eines solchen Professors gerade
gegen diese kleinen Irrtümer sich richtet. Ich denke,
wahrhafte Bildung nimmt das Grofse einer Persönlich-
keit auf und verbessert kleine Irrtümer oder denkt
halbfertige Gedanken zu Ende.
Nietzsches Entwickelimgsgang.
^^B Ich habe Nietzsches Ansichten vom Übermenschen
^'«o dargestellt, wie sie uns in seinen letzten Schriften:
Zarathustra (1883—1884), Jenseits von Gut
und Böse (1886), Genealogie der Moral (1887),
Der Fall Wagner (1888), Götzendämmerung
(1889) entgegentreten. In dem unvollendet gebliebenen
Werke: „Der Wille zur Macht", Versuch einer
Umwertung aller Werte, dessen erster Teil „Anti-
christ" im 8. Bande der Gesaratausgabe erschienen
ist, hätten sie wohl ihren philosophisch prägnantesten
Ausdruck gefunden. Aus der Disposition, die im
Anhange zu dem erwähnten Band abgedruckt ist, ist
das deutlieh zu erkennen. Sie Keifst: 1. Der Anti-
christ. Versuch einer Kritik des Christentums.
2. Der freie Geist, Kritik der Philosophie als
einer nihilistischen Bewegung. 3. Der Immoralist.
Kritik der verhängnisvollsten Art von Unwissenheit,
der Moral. 4. Dionysos, Philosophie der ewigen
Wiederkunft,
Nietzsche hat seine Gedanken nicht sogleich im
nnne seiner schriftstellerischen Laufbahn in der
96 Nietzsches Entwickelangsgang.
ihnen ureigensten Form zum Ausdruck gebracht. Er
stand anfangs unter dem Einflüsse des deutschen
Idealismus, namentlich in der Form, in der ihn
Schopenhauer und Richard Wagner vertreten
haben. In Schopenhauerschen und Wagnerschen
Formeln drückt er sich in seinen ersten Schriften aus.
Wer aber durch dieses Formelwesen hindurch auf
den Kern der Nietzscheschen Gedanken zu blicken ver-
mag, der findet in diesen Schriften dieselben Absichten
und Ziele, die in den späteren Werken zum Ausdruck
kommen.
Man kann von Nietzsches Entwickelung nicht
sprechen, ohne an den freiesten Denker erinnert zu
werden, den die neuzeitliche Menschheit hervor-
gebracht hat, an Max Stirner. Es ist eine traurige
Wahrheit, dafs dieser Denker, der im vollsten Sinne
dem entspricht, was Nietsche von dem Übermenschen
fordert, nur von wenigen erkannt und gewürdigt
worden ist. Er hat bereits in den vierziger Jahren
dieses Jahrhunderts Nietzsches Weltanschauung ausge-
sprochen. Allerdings nicht in solch gesättigten Herzens-
tönen wie Nietzsche, aber dafür in krystallklaren Ge-
danken, neben denen sich Nietzsches Aphorismen
allerdings oft wie ein blofses Stammeln ausnehmen.
Welchen Weg hätte Nietzsche genommen, wenn
nicht Schopenhauer, sondern Max Stirner sein Er-
zieher geworden wäre! In Nietzsches Schriften ist
keinerlei Einflufs Stirners zu bemerken. Aus eigener
Kraft mufste sich Nietzsche aus dem deutschen
Idealismus heraus zu einer der Stirnerschen gleichen
Weltauffassung durchringen.
Stirner ist wie Nietzsche der Ansicht, das die Trieb-
Nietzsches Entwickelungsgang. 97
kräfte des menschlichen Lebens nur in der einzelnen,
wirklichen Persönlichkeit gesucht werd^i können.
Er lehnt alle Gewalten ab, die die Einzelpersönlichkeit
von aufsen formen, bestimmen wollen. Er verfolgt
den Gang der Weltgeschichte und findet, den Grund-
irrtum der bisherigen Menschheit darin , dafs sie
nicht die Pflege und Kultur der individuellen Per-
sönlichkeit, sondern andere, unpersönliche Ziele und
Zwecke sich vorsetzte. Er sieht die wahre Befreiung
des Menschen darin, dafs dieser allen solchen Zielen
keine höhere Realität zugesteht, sondern sich dieser
Ziele als Mittel zu seiner Selbstpflege bedient. Der freie
Mensch bestimmt sich seine Zwecke; er besitzt seine
Ideale; er läfst sich nicht von ihnen besitzen. Der
Mensch, der nicht als freie Persönlichkeit über seinen
Idealen waltet, steht unter dem Einflüsse derselben,
wie der Irrsinnige, der an fixen Ideen leidet. Es ist
für Stirner einerlei, ob sich der Mensch einbildet, der
„König von China**, oder ob „ein behaglicher Bürger
sich einbildet, es sei seine Bestimmung, ein guter
Christ, ein gläubiger Protestant, ein loyaler Bürger,
ein tugendhafter Mensch u. s. w. zu sein — das ist
beides ein und dieselbe ,fixe Idee^ Wer es nie ver-
sucht und gewagt hat, kein guter Christ, kein gläubiger
Protestant, kein tugendhafter Mensch u. s. w. zu sein,
der ist in der Gläubigkeit, Tugendhaftigkeit u. s. w.
gefangen und befangen.**
Man braucht nur einige Sätze aus Stirners
Buch: „Der Einzige und sein Eigentum** zu lesen, um
zu sehen, wie verwandt seine Anschauung der Nietzsche-
schen ist. Ich führe einige Stellen aus diesem Buche
■ Steiner, Friedrich Nietzsche. 7
98 Nietzsches Entwickelangsgang.
an, die besonders bezeichnend für Stirners Denk-
weise sind.
„Vorchristliche und christliche Zeit verfolgen ein
entgegengesetztes Ziel; jene will das Reale idealisieren,
diese das Ideale realisieren, jene sucht den „heiligen
Geist", diese den „verklärten Leib". Daher schliefst
jene mit der Unempfindlichkeit gegen das Reale, mit
der „Weltverachtung" ; diese wird mit der Abwerfung
des Idealen, mit der „Geistesverachtung" enden.
Wie der Zug der Heiligung oder Reinigung durch
die alte Welt geht (die Waschungen u. s. w.), so geht
der der Verleiblichung durch die christliche : der Gott
stürzt sich in diese Welt, wird Fleisch und will sie er-
lösen, d. h. mit sich erfüllen; da er aber „die Idee"
oder „der Geist" ist, so führt man (z. B. Hegel) am
Schlüsse die Idee in alles, in die Welt, ein und be-
weist, „dafs die Idee, die Vernunft in allem sei".
Dem, was die heidnischen Stoiker als „den Weisen"
aufstellten, entspricht in der heutigen Bildung „der
Mensch", jener wie dieser ein fleischloses Wesen.
Der unwirkliche „Weise", dieser leiblose „Heilige"
der Stoiker, wurde eine wirkliche Person, ein leib-
licher „Heiliger" in dem fleischgewordenen
Gotte; der unwirkliche „Mensch", das leiblose Ich,
wird wirklich werden im leibhaftigen Ich, in Mir.
Dafs der Einzelne für sich eine Weltgeschichte
ist und an der übrigen Weltgeschichte sein Eigentum
besitzt, das geht über das Christliche hinaus. Dem
'Christen ist die Weltgeschichte das Höhere, weil sie
die Geschichte Christi oder „des Menschen" ist; dem
Egoisten hat nur seine Geschichte Wert, weil er nur
sich entwickeln will, nicht die Menschheits-Idee,
Nietzsches Entwickelungsgang. 99
nicht den Plan Gottes, nicht die Absichten der Vor-
sehung, nicht die Freiheit u. dergl. Er sieht sich nicht
für ein Werkzeug der Idee oder ein Grefäfs Gottes an,
er erkennt keinen Beruf an, er wähnt nicht, zur Fortent-
wickelung der Menschheit dazusein, und sein Scherflein
dazu beitragen zu müssen, sondern er lebt sich aus, un-
besorgt darum, wie gut oder wie schlecht die Mensch-
heit dabei fahre. Liefse es nicht das Mifsverständnis
zu, als sollte ein Naturzustand gepriesen werden, so
könnte man an Lenaus „Drei Zigeuner** erinnern. —
Was, bin Ich dazu in der Welt, um Ideen zu reali-
sieren? Um etwa zur Verwirklichung der Idee „Staat"
durch mein Bürgertum das Meinige zu thun oder
durch die Ehe, als Ehegatte und Vater, die Idee der
Familie zu einem Dasein zu bringen? Was ficht
mich ein solcher Beruf an! Ich lebe so wenig nach
einem Berufe, als die Blume nach einem Berufe
wächst und duftet.
Das Ideal „der Mensch** ist realisiert, wenn
die christliche Anschauung umschlägt in den Satz :
„Ich, dieser Einzige, bin der Mensch.** Die Begriffs-
frage: „was ist der Mensch?** — hat sich dann in
die persönliche umgesetzt: „wer ist der Mensch?"
Bei „was** suchte man den Begriff, um ihn zu reali-
sieren; bei „wer** ist's überhaupt keine Frage mehr,
sondern die Antwort im Fragenden gleich persönlich
vorhanden: die Frage beantwortet sich von selbst.
Man sagt von Gott: „Namen nennen Dich nicht**.
Das gilt von Mir: kein Begriff drückt Mich aus,
nichts, was man als mein Wesen angiebt, erschöpft
mich; es sind nur Namen. Gleichfalls sagt man von
Gott, er sei vollkommen und habe keinen Beruf, nach
100 NietEBuhea Entwirf elongugang.
Vollkommenheit zu streben. Auch das gilt allein
von Mir,
Eigner bin Ich meiner Gewalt, und Ich bin es
dann, wenn Ich Mich als Einzigen weifs. Im
Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein schOpferi-
aches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird.
Jedes höhere Wesen ttber Mir, Bei.es Gott, sei es der
Mensch, schwächt das Geföhl meiner Einzigkeit und
erbleicht vor der Sonne dieses Bewurstseina : Stell'
Ich auf Mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht
sie auf dem vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer
seiner, der sich selbst verzehrt, und Ich diurf sagen:
„Ich hab* mein' Sach' auf nichts gestellt."
Dieser auf sich sich selbst gestellte, nur aus sich
heraus schaffende Eigner iat Nietsches Ü b e r -
31.
Diese Stirnerschen Gedanken wären das geeignete
GefUfs gewesen, in das Nietzsche sein reiches Em-
pfind uiigsleben hätte gieftien kCnnen. Statt dessen
suchte er in Schopenhauers Begriffswelt die Leiter,
auf der er zu seiner Gedankenwelt hinaufkletterte.
Aus zwei Wurzeln stammt, nach Schopenhauera
Meinung, unsere gesamte Welterkenntnis. Aus dem
VorsteUungsleben und aus der Wahrnehmung des
Willens, der in uns selbst als Handelnder auftritt.
Das „Ding an sich" liegt jenaeita der Welt unserer
Vorstellung . Ijeftn d ie Vorstellung ist nur di<? Wirkung,
die dM^fl||H^^HKl4tif Diein Erkcnntnitiorgan aus-
t kenne ich, die die Dinge
I Dinge selbst. Und diese
NieCzBuhea Entwickeliingagaiig:.
101
Eindrücke sind eben meine Vorstellungen, Ich kenne
keine Sonne und keine Erde, sondern nur ein Auge,
das eine Sonne sieht, und eine Hand, die eine Erde fUhlt.
Der Mensch weifs nur: „dafs die Welt, welche ihn um-
giebt, nur als Vorstellung da ist, d. h. durchweg nur
in Beziehung auf ein anderes, das Vorstellende, welches
er selbst ist", (Schopenhauer, Welt als Wille und
Vorstellung § 1.) Aber der Mensch stellt die Welt
nicht blofs vor, sondern er wirkt auch in ihr; er
wird sich seines Willens bewufst, und er erfährt, dafs
dasjenige, welches er in sich als Wille emptindet,
von aufsen als Bewegung seines Leibes wahrgenommen
werden kann, d. h. der Mensch nimmt sein eigenes
Wirken doppelt wahr, von innen als Vorstellung,
von aufaen als Wille. Schopenhauer schliefst dar-
aus , dafs es der Wille selbst ist , der in der wahr-
genommenen Leibesaktion als Vorstellung erscheint.
Und er behauptet dann weiter, dafs nicht nui- der
Vorstellung des eigenen Leibes und seiner Bewegungen
ein Wille zu Grunde liege, sondern dafs dies auch
bei allen übrigen Vorstellungen der Fall sei. Die
ganze Welt ist also, nach Schopenhauers Ansicht,
dem Wesen nach Wille und erscheint unserem Intellekt
als Vorstellung. Dieser Wille, behauptet Schopen-
hauer weiter, ist in allen Dingen ein einheitlicher.
Nur unser Intellekt verursacht, dafs wir eine Mehrheit
von besonderen Dingen wahrnehmen.
Durch seinen Willen hängt der Mensch, nach
dieser Anschauung, mit dem einheitlichen Weltwesen
zusammen. Insofern der Mensch wirkt, wirkt in
ihm der einheitliche Urwille. Als einzelne, besondere
Persönlichkeit existiert der Mensch nur in seiner
1 rersonucHKe
102 Nietzsches Entwickelungsgang.
eigenen Vorctellung; im Wesen ist er identisch mit
dem einheitlichen Weltengrunde.
Nehmen wir an, dafs in Nietzsche, als er die
Schopenhauersche Philosophie kennen lernte, schon
der Gedanke des Übermenschen unbewufst, instinktiv
vorhanden war, so konnte ihn diese Willenslehre aller-
dings nur sympathisch berühren. In dem menschlichen
Willen war ihm ein Element gegeben, das den Menschen
unmittelbar an der Schöpfung des Weltinhaltes teil-
nehmen liefs. Als Wollender ist der Mensch nicht
blofs ein aufserhalb des Weltinhaltes stehender Zu-
schauer, der sich Bilder des Wirklichen macht, sondern
er ist selbst ein Schaffender. In ihm waltet die
göttliche Kraft, über die hinaus es keine andere giebt.
32.
Aus diesen Anschauungen heraus bildeten sich bei
Nietzsche die beiden Ideen von der apollinischen
und der dionysischen Weltbetrachtung. Sie wen-
dete er auf das griechische Kunstleben an, das er
demgemäfs aus zwei Wurzeln entstehen liefs : aus einer
Kunst des Vorstellens und einer Kunst des WoUens.
Wenn der Vorstellende seine Vorstellungswelt ideali-
siert und seine idealisierten Vorstellungen in Kunst-
werken verkörpert, so entsteht die apollinische
Kunst. Er verleiht den einzelnen Vorstellungs-
objekten dadurch, dafs er ihnen die Schönheit ein-
prägt, den Schein des Ewigen. Aber er bleibt inner-
halb der Vorstellungswelt stehen. Der dionysische
Künstler sucht nicht nur in seinen Kunstwerken
die Schönheit auszudrücken, sondern er ahmt selbst
NietBscbeti Entwickelungsgang.
103
idaB schöpferische Wirken des Weltwillens nach. Er
mucht in seinen eigenen Bewegungen den Weltgeist ab-
zubilden. Er macht sich zur sichtbaren Verkörperung
I Willens. Er wird selbst Kunstwerk. „Singend
und tanzend ilufsert sich der Mensch als Mitglied einer
möhem Gemeinschaft: er hat das Gehen und Sprechen
»verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte
aufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die
iVerzauberung" {Geburt der Tragödie § 1). In diesem
Zustande vergifst der Mensch sich selbst, er fühlt
toich nicht mehr als Individuum, er täfst in sich den
tllllgeuieinen Weltwillen walten. In dieser Weise deutet
Nietzsche die Feste, die zu Ehren des Gottes Dionysua
Bdurch die Dionysusdiener veranstaltet wurden. In
t dem Dionysusdiener sieht Nietzsche das Urbild des
dionysischen Künstlers. Nun stellt er sich vor, dafs
die älteste dramatische Kunst der Griechen dadurch
-entstanden ist, dafs eine höhere Vereinigung des
Dionysischen mit dem Apollinischen sich vollzogen
fcat Auf diese Weise erklärt er den Ursprung der
fftrsten griechischen Tragödie. Er nimmt an, dafs die
'die aus dem tragischen Chore entstanden ist.
Der dionysische Mensch wird zum Zuschauer, zum
■Betrachter eines Bildes, das ihn selbst darstellt. Der
[)hoi- ist die Selbatspiegelung eines dionysisch erregten
Uenschen, d. h. der dionysische Mensch sieht seine
dionysische Erregung durch ein apollinisches Kunst
werk abgebildet. Die Darstellung des Dionysischen im
KipoUimschen Bilde ist die primitive Tragödie. Voraus-
setzung einer solchen Tragödie ist, dafs in ihrem Schöpfer
ein lebendiges Bewufstsein von dem Zusammenhang des
Menschen mit den Urgewalten der VA'elt vorhanden
k
104 Nietzsches Entwickelungfsgang.
ist. Ein solches Bewufstsein spricht sich als Mythus
aus. Das Mythische mufs der Gegenstand der ältesten
Tragödie sein. Tritt nun in der Entwickelung eines
Volkes der Zeitpunkt ein, wo der zersetzende Ver-
stand das lebendige Gefühl für den Mythus zerstört,
so ist der Tod des Tragischen die notwendige Folge.
33.
In der Entwickelung des Griechentums trat, nach
Nietzsches Meinung, mit Sokrates dieser Zeitpunkt
ein. Sokrates war ein Feind alles instinktiven, mit
den Naturgewalten im Bunde stehenden Lebens. Er
liefs nur dasjenige gelten, was der Verstand denkend
zu beweisen vermag, was lehrbar ist. Damit war dem
Mythus der Krieg erklärt. Und der von Nietzsche
als Schüler des Sokrates bezeichnete E u r i p i d e s zer-
störte die Tragödie, weil sein Schaffen nicht mehr,
wie das des Äschylos, aus den dionysischen Instinkten,
sondern aus dem kritischen Verstände entsprang. Statt
der Nachbildung der WiUensbewegungen des Welt-
geistes findet sich bei Euripides die verständige Ver-
knüpfung einzelner Vorgänge innerhalb der tragischen
Handlung.
Ich frage nicht nach der historischen Rechtferti-
gung dieser Nietzsch^^chen Ideen. Er ist ihretwegen von
einem klassischen f*Iiilologen scharf angegriffen wor-
den. Nietzsches Beschreibung der griechischen Kultur
läfst sich vergleichen mit der Schilderung, die ein
Mensch von einer Landschaft giebt, die er von dem
Gipfel eines Berges aus betrachtet; eine philologische
Darstellung mit einer Beschreibung, die der Wanderer
Nietzsches Entwickelung^sgang. 105
giebt, der jedes einzelne Fleckchen besucht. Von dem
Berge aus verschiebt sich manches eben nach den
Gesetzen der Optik.
34.
Was hier in Betracht kommt^ ist die Frage: was
für eine Aufgabe stellte sich Nietzsche in seiner „Ge-
burt der Tragödie"? Nietzsche ist der Ansicht, dafs
die älteren Griechen die Leiden des Daseins sehr gut
gekannt haben. „Es geht die alte Sage, dafs König
Midas lange Zeit nach dem weisen Silen, dem Be-
gleiter des Dionysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn
zu fangen. Als er ihm endlich in die Hände gefallen
ist, fragt der König, was für den Menschen das Aller-
beste und Allervorztiglichste sei. Starr und unbeweg-
lich schweigt der Dämon, bis er, durch den König
gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese
Worte ausbricht: „Elendes Eintagsgeschlecht, des Zu-
falls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich,
dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Er-
spriefslichste ist? Das Allerbeste ist fiir dich gänzlich
unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein,
nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich —
bald zu sterben" (Geburt der Tragödie § 3). In dieser
Sage findet Nietzsche eine Grundemnfindung der Griechen
ausgedrückt. Er hält es für eine Oberflächlichkeit,
wenn man die Griechen als das beständig heitere,
kindlich tändelnde Volk hinstellt. Aus der tragischen
Grundempfindung heraus mufste den Griechen der
Drang entstehen, etwas zu schaffen, wodurch das Da-
sein erträglich wird. Sie suchten nach einer Recht-
106 Nietzsches Entwickelungsgang.
fertigung des Daseins — und fanden diese in ihrer
Götterwelt und in der Kunst. Nur durch das Gegen-
bild der olympischen Götter und der Kunst wurde
den Griechen die rauhe Wirklichkeit erträglich. Die
Grundfrage in der „Geburt der Tragödie" ist also für
Nietzsche: Inwiefern ist die griechische Kunst leben-
fördernd, lebenerhaltend gewesen? Nietzsches Grund-
instinkt macht sich somit in Bezug auf die Kunst
als lebenfördernde Macht schon in diesem ersten Werke
geltend.
35.
Noch ein anderer Grundinstinkt Nietzsches ist in
diesem Werke schon zu beobachten. Es ist die Ab-
neigung gegen die blofs logischen Geister, deren Per-
sönlichkeit vollständig unter der Herrschaft ihres Ver-
standes steht. Aus dieser Abneigung stammt Nietzsches
Meinung, dafs der sokratische Geist der Zerstörer
der griechischen Kultur ist. Das Logische gilt Nietzsche
nur als eine Form, in der sich die Persönlichkeit
äufsert. Wenn zu dieser Form nicht noch andere
Äufserungsweisen treten, so erscheint die Persönlich-
keit als Krüppel, als Organismus, an dem notwendige
Organe verstümmelt sind. Weil Nietzsche in Kants
Schriften nur den grübelnden Verstand entdecken
konnte, nennt er Kant einen „verwachsenen Begriffs-
krüppel". Nur wenn die Logik der Ausdruck für die
tieferen Grundinstinkte einer Persönlichkeit ist, läfst
sie Nietzsche gelten. Sie mufs ein Ausflufs desÜber-
Logischen in der Persönlichkeit sein. Nietzsche hat
an der Ablehnung des sokratischen Geistes immer
festgehalten. Wir lesen in der Götzendämmerung:
Nietzsches Entwickelungsgang. 107
„Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu
Gunsten der Dialektik um: was geschieht da eigent-
lich? Vor allem wird ein vornehmer Geschmack
besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik oben auf.
Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft
die dialektischen Manieren ab ; sie galten als schlechte
Manieren, sie stellten blofs" (Problem des Sokrates
§ 5). Wo nicht kräftige Grundinstinkte für eine
Sache sprechen, da tritt der beweisende Verstand ein
und sucht sie durch Advokatenkünste zu stützen.
36.
Einen Erneuerer des dionysischen Geistes glaubte
Nietzsche in Richard Wagner zu erkennen. Er
hat aus diesem Glauben heraus die vierte seiner „Un-
zeitgemäfsen Betrachtungen": „Richard Wagner in
Bayreuth", 1875, geschrieben. Er hielt in dieser Zeit
noch an der Deutung des dionysischen Geistes fest,
die er sich in Gemäfsheit der Schopenhauerschen
Philosophie gebildet hatte. Er glaubte noch, dafs die
Wirklichkeit nur menschliche Vorstellung sei und jen-
seits dieser Vorstellungswelt das Wesen der Dinge in
Form des Ur willens liege. Und der schaffende
dionysische Geist war ihm noch nicht der aus sich heraus
schaffende, sondern der sich selbst vergessende, in dem
Urwollen aufgehende Mensch. Bilder des waltenden
Urwillens, von einem an diesen Urwillen hingegebenen
dionysischen Geiste geschaffen, waren ihm Wagners
Musikdramen.
Und da Schopenhauer in der Musik ein unmittel-
bares Abbild des Willens sah, so glaubte auch Nietzsche
108 Nietzsches Entwickelungsgang.
in der Musik das be$te Ausdrucksmittel für einen
/ dionysisch schaffenden Geist sehen zu sollen. Die
Sprache der civilisierten Völker schien ihm er-
krankt. Sie kann nicht mehr der schlichte Aus-
druck der Gefühle sein, denn die Worte mufsten all-
mählich immer mehr dazu verwendet werden, der
Ausdruck für die zunehmende Verstandesbildung der
Menschen zu werden. Dadurch aber ist die Bedeu-
tung der Worte abstrakt, arm geworden. Sie können
nicht mehr ausdrücken, was der aus dem Urwillen
heraus schaffende dionysische Geist empfindet. Dieser
kann daher in dem Wortdrama sich nicht mehr aus-
sprechen. Er mufs andere Ausdrucksmittel, vor allem
die Musik, aber auch die anderen Künste zu Hilfe
rufen. Der dionysische Geist wird zum dithyram-
bischen Dramatiker, „diesen Begriff so voll ge-
nommen, dafs er zugleich den Schauspieler, Dichter,
Musiker umfafst". „Wie man sich nun auch die Ent-
wickelung des Urdramatikers vorstellen möge, in seiner
Reife und Vollendung ist er ein Gebilde ohne jede
Hemmung und Lücke: der eigentlich freie Künstler,
der gar nicht anders kann, als in allen Künsten
zugleich denken, der Mittler und Versöhner zwischen
scheinbar getrennten Sphären , der Wiederhersteller
einer Ein- und Gesamtheit des künstlerischen Ver-
mögens, welches gar nicht erraten und erschlossen,
sondern nur durch die That gezeigt werden kann"
(Richard Wagner in Bayreuth § 7). Als dionysischen
Geist verehrte Nietzsche Richard Wagner. Und nur
in dem von Nietzsche in der eben genannten Schrift
angegebenen Sinne kann Wagner als dionysischer Geist
bezeichnet werden. Seine Instinkte sind auf das Jen-
Nietzsches Entwickelungsgang. 109
seits gerichtet; er will die Stimme des Jenseits durch
seine Musik erkUngen lassen. Ich habe bereits (S. 81 f.)
darauf hingewiesen, dafs sich Nietzsche später selbst
fand und imstande war, seine auf das Diesseits gerichteten
Instinkte in ihrer Eigenart zu erkennen. Er hatte ur-
sprünglich die Wagnersche Kunst mifs verstanden, weil
er sich selbst mifsverstanden hatte, weil er seine In-
stinkte durch die Schopenhauersche Philosophie hatte
tyrannisieren lassen. Wie ein Exankheitsprozefs er-
schien ihm später diese Unterordnung seiner Instinkte
unter eine fremde Geistesmacht. Er fand, dafs er auf
seine Instinkte nicht gehört hatte und sich durch eine
ihm unangemessene Meinung hatte verfiihren lassen,
eine Kunst auf diese Instinkte wirken lassen, die ihnen
nur zum Nachteil gereichen konnte, die sie krank
machen mufste.
37.
Nietzsche hat den Einflufs, den die seinen Grund-
trieben widersprechende Schopenhauersche Philosophie
auf ihn genommen, selbst geschildert in seiner dritten
„Unzeitgemäfsen Betrachtung", „Schopenhauer als Er-
zieher" (1873), zu einer Zeit, als er noch an diese
Philosophie glaubte. Nietzsche suchte einen Erzieher.
Der rechte Erzieher kann nur der sein, der auf den
zu Erziehenden so wirkt, dafs dessen innerster Wesens-
kern sich aus der Persönlichkeit heraus entwickelt. Auf
jeden Menschen wirkt seine Zeit mit ihren Kultur-
mitteln ein. Er nimmt auf, was die Zeit an Bildungs-
stofF bietet. Aber es fragt sich, wie er sich inmitten
dieses von aufsen auf ihn Eindringenden selbst finden
kann; wie er das aus sich herausspinnen kann, was
er und nur er und kein anderer sein kann. „Der
1 lO Nietzsches Rntwickelungsg'ang.
Mensch; welcher nicht zur Masse gehören will, braucht
nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein ; er folge
seinem Gewissen, welches ihm zuruft: „„sei du selbst!
Das bist du alles nicht, was du jetzt thust, meinst,
begehrst"", so spricht der Mensch zu sich, der eines
Tages findet, dafs er sich immer nur damit begnügt
hat, Bildungsstofi^ von aufsen aufzunehmen (Schopen-
hauer als Erzieher § 1). Nietzsche fand sich selbst,
wenn auch zunächst noch nicht in seiner ihm ur-
eigensten Gestalt, durch das Studium der Schopen-
hauerschen Philosophie. Nietzsche strebte unbewufst
danach, einfach und ehrlich seinen Grundtrieben
gemäfs sich auszusprechen. Er fand um sich nur
Menschen, die in den Bildungsformeln der Zeit sich
ausdrückten, die ihr eigenes Wesen durch diese Formeln
verhüllten. In Schopenhauer fand Nietzsche aber einen
Menschen, der den Mut hatte, seine persönlichen Em-
pfindungen der Welt gegenüber zum Inhalte seiner
Philosophie zu machen: „Das kräftige Wohlgefühl des
Sprechenden" umfing Nietzsche beim ersten Lesen von
Schopenhauers Sätzen. „Hier ist eine immer gleich-
artige, stärkende Luft, so fühlen wir; hier ist eine ge-
wisse unnachahmliche Unbefangenheit und Natürlich-
keit, wie sie Menschen haben, die in sich zu Hause
und zwar in einem sehr reichen Hause Herren sind:
im Gegensatze zu jenen Schriftstellern, die sich am
meisten wundern, wenn sie einmal geistreich waren,
und deren Vortrag dadurch etwas Unruhiges und
Naturwidriges bekommt." „Schopenhauer redet mit
sich; oder wenn man sich durchaus einen Zuhörer
denken will, so denke man sich den Sohn, den der
Vater unterweist. Es ist ein redliches, derbes, gut-
Nietzsches Entwickelungsgang. Hl
mutiges Aussprechen vor einem Hörer, der mit Liebe
hört" (Schopenhauer § 2). Dafs er einen Menschen,
der sich seinen innersten Instinkten gemäfs ausspricht,
reden hörte, das war es, was Nietzsche zu Schopen-
hauer hinzog.
Nietzsche sah in Schopenhauer eine starke Per-
sönlichkeit, die nicht durch die Philosophie in einen
blofsen Verstandesmenschen lungewandelt wird, sondern
die das Logische nur zum Ausdrucke des Uberlogischen,
des Instinktiven in sich macht. „Die Sehnsucht nach
starker Natur, nach gesunder und einfacher Mensch-
heit war bei ihm eine Sehnsucht nach sich
selbst; und sobald er die Zeit in sich besiegt hatte,
mufste er auch , mit erstauntem Auge , den Genius in
sich erblicken" (Schopenhauer § 3). In Nietzsches
Geist arbeitete schon damals das Streben nach der
Idee des Übermenschen , der sich selbst sucht , als
den Sinn seines Daseins, und einen solchen Suchenden
fand er in Schopenhauer. In solchen Menschen sieht
er den Zweck und zwar den einzigen Zweck des
Weltdaseins erreicht; die Natur scheint ihm an einem
Ziele angekommen zu sein, wenn sie einen solchen
Menschen hervorgebracht hat. „Die Natur, die nie
springt, macht hier ihren einzigen Sprung und zwar
einen Freudensprung, denn sie fühlt sich zum erstenmal
am Ziele, dort nämlich, wo sie begreift, dafs sie
verlernen müsse, Ziele zuhaben." (Schopenh.
§ 5.) In diesem Satze liegt der Keim zur Konzeption des
Übermenschen. Nietzsche wollte, als er diesen Satz
niederschrieb, schon genau dasselbe, was er später mit
seinem Zarathustra wollte; aber ihm fehlte noch die
Kraft, dieses Wollen in einer eigenen Sprache auszu-
112 Nietzsches Entwickelungsgang.
sprechen. Er sah schon, als er sein Schopenhauer-
buch schrieb, den Grundgedanken der Kultur in
der Erzeugung des Übermenschen.
38.
In der Entwickelung der persönlichen Instinkte
der Einzelmenschen sieht also Nietzsche das Ziel aller
menschlichen Entwickelung. Was dieser Entwicke-
lung entgegenarbeitet, erscheint ihm als die eigent-
lichste Versündigung an der Menschheit. Es giebt
aber etwas im Menschen, das auf ganz natürliche
Weise seiner freien Entwickelung widerstrebt. Der
Mensch läfst sich nicht allein durch die in jedem ein-
zelnen Augenblicke in ihm thätigen Triebe bestimmen,
sondern auch durch alles das, was in seinem Ge-
dächtnisse sich angesammelt hat. Der Mensch er-
innert sich an seine eigenen Erlebnisse, er sucht sich
ein Bewufstsein der Erlebnisse seines Volkes, Stammes,
ja der ganzen Menschheit durch den Betrieb der Ge-
schichte zu verschaffen. Der Mensch ist ein histori-
sch e s Wesen. Die Tiere leben unhistorisch ; sie folgen
den Trieben, die in dem einzelnen Augenblicke in
ihnen wirken. Der Mensch läfst sich durch seine
Vergangenheit bestimmen. Wenn er irgend etwas
unternehmen will, fragt er sich: welche Erfahrungen
habe ich oder ein anderer mit einem ähnlichen Unter-
nehmen schon gemacht? Der Antrieb zu einer Hand-
lung kann durch die Erinnerung an ein Erlebnis voll-
ständig abgetötet werden. Für Nietzsche entsteht aus
der Beobachtung dieser Thatsache die Frage: inwie-
fern wirkt das Erinnerungsvermögen des Menschen
auf sein Leben fördernd, und inwiefern wirkt es nach-
teilig ein? Die Erinneriing, die auch Dinge zu um-
fassen sucht, die der Mensch nicht selbst erlebt hat,
lebt als historischer Sinn, als Studium des Vergangenen
in dem Menschen. Nietzsche fragt: inwiefern wirkt
der historische Sinn lebenfördernd? Die Antwort auf
diese Frage sucht er zu geben in seiner zweiten
^Unzeitgemäfsen Betrachtung" : „Vom Nutzen und
Nachteil der Historie für das Leben" (1843). Die
Veranlassung zu dieser Schrift war Nietzsches Wahr-
nehmung, dafs der historische Sinn bei seinen Zeit-
genossen, namentlich hei den Gelehrten unter den-
selben, ein hervorstechendes Char akter merkmal ge-
worden war. Die Vertiefung in die Vergangenheit
fand Nietzsche überall gepriesen. Nui- durch Er-
kenntnis der Vergangenheit soll der Mensch imstande
sein, zu unterscheiden, was ihm möglich, was ihm
unmöglich ist: dieses Glaubensbekenntnis drang ihm
in die Ohren. Nur wer weifs, wie sich ein Volk ent-
wickelt hat, kann ermessen, was für seine Zukunft
förderlich ist: diesen Ruf härte Nietzsche. Ja selbst
die Philosophen wollten nicht mehr Neues erdenken,
sondern lieber die Gedanken ihrer Vorfahren studieren.
Dieser historische Sinn wirkt lähmend auf das gegen-
wärtige Schaffen. Wer bei jedem Impuls, der
sich in ihm regt, erst zu bestimmen sucht, wozu ein
ähnlicher Impuls in der Vergangenheit geführt hat,
in dem erschlaffen die KrJifte, bevor sie gewirkt haben.
, Denkt euch das ilufserste Beispiel, einen Menschen,
der die Kraft zu vei^essen gar nicht besäfse, der
verurteilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein
solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt
nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auß-
I
114 Nietzsche» Entwickelungsgang.
einander fliefsen und verliert sich in diesem Strome
des Werdens. ... Zu allem Handeln gehört Ver-
gessen, wie zum Leben alles Organischen nicht nur
Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch, der
durch und durch nur historisch empfinden wollte,
wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten
gezwungen wäre, oder dem Tiere, das nur vom Wieder-
käuen und immer wiederholtem Wiederkäuen fortleben
sollte" (Historie § 1). Nietzsche ist der Meinung,
dafs der Mensch nur so viel Geschichte vertragen
kann, als dem Mafse seiner schöpferischen Kräfte ent-
spricht. Die starke Persönlichkeit führt ihre Inten-
tionen aus, trotzdem sie sich an die Erlebnisse der
Vergangenheit erinnert, ja sie wird vielleicht gerade
durch die Erinnerung an diese Erlebnisse eine Stärkung
ihrer Kraft erfahren. Die Kräfte des schwachen
Menschen aber werden durch den historischen Sinn
ausgelöscht. Um den Grad zu bestimmen und durch
ihn dann die Grenze, „an der das Vergangene ver-
gessen werden mufs, wenn es nicht zum Totengräber
des Gegenwärtigen werden soll, müfste man genau
wissen, wie grofs die plastische Kraft eines
Menschen, eines Volkes, einer Kultur ist, ich meine
jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen,
Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuver-
leiben** (Historie § 1).
Nietzsche ist der Ansicht, dafs das Historische
nur insofern gepflegt werden soll, als es für die Ge-
sundheit eines Einzelnen, eines Volkes oder einer
Kultur nötig ist. Worauf es ihm ankommt, ist: „besser
lernen, Historie zum Zwecke des L e b e n s zu treiben**
(Historie § 1). Er spricht dem Menschen das Recht
NietascheB Gntwiekelnng^aug.
115
I
ZU, die Geschichte so zu treiben, dafa sie möglichst
zur Förderung der Antriebe einer bestimmten Gegen-
wart wirkt. Von diesem Gesichtspunkte aus ist er
ein Gegner jener Geschichtsbetrachtung, die nur iq
der „historischen Objektivität' ihr Heil sucht, die nur
sehen und erzählen will, wie es in der Vergangenheit
„thatsächlich"' zugegangen ist, die nur die „reine,
folgenlose" Erkenntnis oder deutlicher „die Wahrheit,
bei der nichts herauskommt, sucht (Historie § 6), Eine
solche Betrachtung kann nur aus einer achwachen
Persönlichkeit entspringen, deren Empfindungen nicht
flut- und ebbeartig auf- und abwogen, wenn sie den
Strom der Ereignisse au sich vorlibergehen stellt.
Eine solche Persönlichkeit „ist zum nachtönenden
Passivura geworden, das durch sein Ertönen wieder
auf andere derartige Passiva wirkt: bis endlich die
ganze Luft einer Zeit von solchen durcheinander
*ch wirr enden zarten und verwandten Nachklängen
erfüllt ist." (Historie g 6.) Dafs aber eine solche
schwache Persönlichkeit wirklich die KrAfte nach-
empfinden kann, die in den Menschen der Vergangen-
heit gewaltet haben, glaubt Nietzsche nicht: „Doch
Bcheint es mir, dafs man gleichsam nur die Obertöne
jedea originalen und geschichtlichen Haupttons ver-
nimmt: das Derbe und Mächtige des Originals ist aus
dem sphärisch -dünnen und spitzen Saitenklange nicht
mehr zu erraten. Dafür weckte der Originalton
meistens Thaten, Nöte, Schrecken, dieser lullt uns ein
und macht uns zu weichlichen Geniefsem; es ist, als
ob man die heroische Symphonie für zwei Flöten ein-
gerichtet und zum Gebrauch von träumenden Opium-
räuchern bestimmt habe," (Historie § 6.) Nur der
115 Nietzsches Entwickelungsgang.
t' ■ ' •■ ■' ■ ■ ■ ■',■-,.,,-' ■
kann die Vergangenheit wirklich verstehen, ,der auch
in der Gegenwart machtvoll lebt, der kräftige Instinkte
hat, durch die er die Instinkte der Vorfahren erraten
und erschliefsen kann. Dieser kümmert sich weniger
um das Thatsächliche, als um das, was aus den That-
Sachen sich erraten läist. „Es wäre eine Geschichts-
schreibung zu denken, die keinen Tropfen der ge*
meinen empirischen Wahrheit in sich hat und doch
im höchsten Grade auf das Prädikat der Objektivität
Anspruch machen dürfte." (Historie § 6.) Der Meister
einer solchen Geschichtsschreibung wäre der, der
überall in den historischen Personen und Ereignissen da»
aufsuchte, was hinter dem blofs Thatsächlichen steckt»
Dazu mufs er aber ein mächtiges Eigenleben führen,
denn Instinkte und Triebe kann man unmittelbar nur
an der eigenen Person beobachten. „Nur aus der
höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr
das Vergangene deuten: nur in der stärksten
Anspannung eurer edelsten Eigenschaften werdet ihr
erraten, was in dem Vergangenen Wissens- und be-
wahrenswürdig und grofs ist. Gleiches durch Gleiches!
Sonst zieht ihr das Vergangene zu euch nieder.''
„Alle Geschichte schreibt der Erfahrene und Über-
legene. Wer nicht einiges gröfser und höher erlebt
hat als alle, wird auch nichts Grofses und Hohes aus
der Vergangenheit zu deuten wissen." (Historie § 6.)
Dem Überhandnehmen des historischen Sinnes in
der Gegenwart gegenüber macht Nietzsche geltend,
„ dafs der Mensch vor allem zu leben lerne, und nur
im Dienste des erlernten Lebens die Historie
gebrauche". (Historie § 10.) Er will vor allen
Dingen eine „Gesundheitslehre des Lebens",
Nietzsche« Entwickelunga^ang.
117
I
imd die Hiatorie aoU nur inaoweit getrieben werden,
■aIs sie einer solchen GeaunclheitBlehre förderlich ist.
Was ist an der Geschichtsbetrachtung leben-
fördernd? Diese Frage stellt Nietzsche in seiner
„Historie", und er steht damit bereits auf dem Boden,
den er in dem H. 9 f. angeführten Satz aus „Jenseits
von Gut und Böse" bezeichnet.
39.
In besonders starkem Grade wirkt der gesunden
I Enlwickelung der Eigenperaönlichkeit jene Gesinnung
■■entgegen, die in dem bürgerlichen Philister zur Er-
1 scheinung kommt. Ein Philister ist der Gegensatz zu
* «incm Menschen , der in dem freien Ausleben seiner
Anlagen Befriedigung findet. Der Philister will dieses
Ausleben nur insoweit gelten lassen, als ea einem
gewissen DurcLschuittsmaJs der menschlichen Begabung
entspricht. So lange der Philister innerhalb seiner
Grenzen bleibt, ist gegen ihn nichts einzuwenden.
Wer ein Durchschnittsmensch bleiben will, der hat
das mit sieh abzumachen. Nietzache fand unter
seinen Zeitgenossen solche, die ihre philisterhafte Ge-
^^^ einnung zur Normalgesinnung für alle Menschen
^^Lmachen wollten , die ihre Pbilisterhaftigkeit als das
^^^■eiuzige, wahre Menschentum anaahen. Zu ihnen
^^BVrechuet er Dav. Friedr. Straufs, den Ästhetiker
Friedr. Theodor Vi scher u. A. Vischer, glaubt er,
habe das Philisterbekenntnis unumwunden abgelegt in
E"ede, die er zum Andenken Hölderlins gebalten
> sieht es in den Worten: „Er (Hölderlin)
ne der unbewafiiieten Seelen , er war der
11 S Nietzsches Entwickelungsgang.
Werther Griechenlands, ein hoffnungslos Verliebter;
es war ein Leben voll Weichheit und Sehnsucht, aber
auch Kraft und Inhalt war in seinem Leben, Fülle
und Leben in seinem Stil, der da und dort sogar an
Aeschylus gemahnt. Nur hatte sein Geist zu wenig
vom Harten; es fehlte ihm als Waflfe der Humor; er
konnte es nicht ertragen, dafs man noch
kein Barbar ist, wenn man ein Philister
ist." (David Straufs § 2.) Der Philister will her-
vorragenden Menschen nicht geradezu die Existenz-
berechtigung absprechen; aber er meint: sie gehen
an der Wirklichkeit zu Grunde, wenn sie sich nicht
abzufinden wissen mit den Einrichtungen, die der
Durchschnittsmensch seinen Bedürfnissen entsprechend
geschaffen hat. Diese Einrichtungen seien einmal
das Einzige, was wirklich, was vernünftig ist, und in
sie müsse sich auch der grofse Mensch fügen. Aus-
dieser Philistergesinnung heraus hat David Strauf»
sein Buch „Der alte und der neue Glaube" geschrieben»
Gegen dieses Buch oder vielmehr gegen die in ihm zum
Ausdruck gekommene Gesinnung wendet sich die erste
der Nietzscheschen „Unzeitgemäfsen Betrachtungen" r
„David Straufs, der Bekenner und Schriftsteller" (1873).
Der Eindruck der neueren naturwissenschaftlichen Er-
rungenschaften auf den Philister ist ein solcher, dafs er
sagt: „Der christliche Ausblick auf ein unsterbliches,,
himmlisches Leben ist, samt den andern Tröstungen der
christlichen Religion, unrettbar dahingefallen." (David
Straufs § 4.) Er will sich das Leben auf der Erde
gemäfs den Vorstellungen der Naturwissenschaft be-
haglich, d. h. so behaglich, wie es dem Philister ent-
spricht, einrichten. Nun zeigt der Philister, wie man
NietzscheE EatwickelungagfUig.
119
glücklich und zufrieden sein kann, trotzdem man
weifs, dafs kein höherer Geist über den Sternen
waltet, sondern die starren, gefühllosen Kräfte der
Natur üher alles Weltgeschehen herrschen. „Wir haben
während der letzten Jahre lebendigen Anteil genommen
1 dem grofsen nationalen Krieg und der Aufrichtung
des deutschen Staates, und wir finden uns durch diese
1 unerwartete als herrliche Wendung der Geschicke
unserer vielgeprüften Nation im Innersten erhoben.
Dem Verständnis dieser Dinge helfen wii- durch ge-
schichtliehe Studien nach, die jetzt mittelst einer Reihe
anziehend und volkstümlich geschriebener Geaehichtfi-
werke auch dem Nichtgelehrten leicht gemacht sind;
dabei suchen wir unsere Naturerkenntniase zu er-
weitern, wozu es an gemeinverständlichen Hülfsmitteln
gleichfalls nicht fehlt; und endlich finden wir in den
Schriften unserer grofsen Dichter, hei den Auffllhrungen
der Werke unserer grofsen Musiker eine Anregung
für Geist und Gemüt, für Phantasie und Humor, die
nichts zu wünschen übrig läi'st. So leben wir, so
wandeln wir beglückt." (Straufs, Der alte und neue
Glaube § 88.)
Es ist daa Evangelium des trivialsten Lebens-
I genusses, das aus diesen Worten spricht. Alles, was
über das Triviale hinaufgeht, nennt der Philister un-
gesund. Straufs sagt von der „Neunten Symphonie"
Beethovens, dafs diese nur bei denen beliebt sei,
welchen ,das Barocke als das Geniale, daa Formlose als
das Erhabene gilt" (der alte und neue Glaube § 109);
^^^ von Schüpenliauer weifs der Messias des Philistertums
^^L zu verkünden, dafa man an eine so „ungesunde und
^^B unerspriefsliche" Philosophie wie die Schopenhanersche
I
I
120 Nietzsches Entwickelungsgan^.
keine Gründe, sondern höchstens nur Worte und
Scherze verschwenden dürfe. (David Straufs § 6.)
Gesund nennt der Philister nur das, was der Durch-
schnittsbildung entspricht.
Als sittliches Urgebot stellt Straufs den Satz auf:
„Alles sittliche Handeln ist ein Sichbestimmen des
Einzelnen, nach der Idee der Gattung." (Der alte und
neue Glaube § 74.) Nietzsche erwidert darauf: „Ins
Deutliche und Greifbare übertragen heifst das nur: lebe
als Mensch und nicht als Affe oder Seehund. Dieser
Imperativ ist leider nur durchaus unbrauchbar und kraft-
los, weil unter dem Begriff Mensch das Mannigfaltigste
zusammen im Joche geht, z. B. der Patagonier und der
Magister Straufs, und weil niemand wagen wird, mit
gleichem Bechte zu sagen: lebe als Patagonier! und:
lebe als Magister Straufs!" (Dav. Straufs § 7.)
Es ist ein Ideal, und zwar ein Ideal jämmerlichster
Art, das Straufs den Menschen vorsetzen will. Und
Nietzsche protestiert dagegen; er protestiert, weil in
ihm ein lebhafter Instinkt ruft: lebe nicht, wie der
Magister Straufs, sondern lebe, wie es dir ange-
messen ist!
40.
Erst in der Schrift: „Menschliches, Allzumensch-
liches* (1878) erscheint Nietzsche frei von dem Ein-
flüsse der Schopenhauerschen Denkweise. Er hat es
aufgegeben, übernatürliche Ursachen für die natür-
lichen Ereignisse zu suchen ; er strebt nach natürlichen
Erklärungsgründen. Er sieht jetzt alles Menschen-
leben als eine Art natürlichen Geschehens an-; in dem
Menschen sieht er das höchste Naturprodukt. Man
Nietzaches Entwickelungag^Bng.
121
I
lebt „zuletzt unter den Menschen und mit sich wie
in der Natur, ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an
-vielem sich wie an einem Schauspiel weidend, vor
Äem man sich bisher nur zu fürchten liatte. Man
wäre die Emphasis los und würde die Anstachelung
des Gedankens, dafs man nicht nur Natur oder mehr
als Natur sei, nicht weiter empfinden ea mufs
ein Mensch, von dem in solchem Mafee die gewöhn-
lichen Fesseln des Lebens abgefallen sind, dafs er nur
deshalb weiter lebt, um immer besser zu erkennen,
auf alles, ja fast auf alles, was bei den anderen
Menschen Wert hat, ohne Neid und Verdrufs ver-
zichten können; ihm mufs als der wünschenswerteste
Zustand jenes freie, furchtlose Sehweben über Menschen,
Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen
der Dinge genüge n." fMenachliches L § 34.)
Kietzsche hat bereits allen Glauben an Ideale auf-
gegeben; er sieht in den menschlichen Handlungen
nur noch Folgen natürlicher Ursachen, und in dem
Erkennen dieser Ursachen findet er seine Befriedigung.
Er findet, dafs man eine unrichtige Vorstellung von
den Dingen bekommt, wenn man blofs das an ihnen
sieht, was von dem Lichte der idealistischen Erkenntnis
beleuchtet wird. Es entgeht einem dann das, was
von den Dingen im Schatten liegt. Nietzsche will
jetzt nicht nur die Sonnen-, sondern auch die Schatten-
seite der Dinge kennen lernen. Aus diesem Streben
ging die Schrift; „Der Wanderer und sein Schatten"
hervor (1879). Er will in diesem Buche die Er-
scheinungen des Lebens von allen Seiten erfassen,
Er ist „Wirklichkeitsphllosoph" im besten Sinne des
Wortes geworden.
-"t^^-
122 Nietzsches Entwickelangsgiuig*
In der „Morgenröte** (1881) schildert er den
moralischen Prozefs in der Menschheitsentwickelung als
einen Naturvorgang. Schon in dieser Schrift zeigt er,
dafs es keine tiberirdische sittliche Weltordnung, keine
ewigen Gesetze des Guten und Bösen giebt, und dafs
alle Sittlichkeit entsprungen ist aus den in den
Menschen waltenden natürlichen Trieben und In-
stinkten. Nun war die Bahn frei gemacht für den
originellen Wandergang Nietzsches. Wenn keine aufser-
menschliche Macht dem Menschen eine bindende Ver-
pflichtung auferlegen kann, dann ist er berechtigt, das
eigene Schaffen frei walten zu lassen. Diese Erkenntnis
ist das Leitmotiv der „fröhlichen Wissenschaft" (1882).
Keine Fessel ist nun dieser „freien" Erkenntnis
Nietzsches mehr angelegt. Er fühlt sich berufen, neue
Werte zu schaffen, nachdem er den Ursprung der alten
erkannt und gefunden hat, dafs sie nur menschliche,
keine göttlichen Werte sind. Er wagt es jetzt, das
zu verwerfen, was seinen Instinkten widerspricht, und
anderes an die Stelle zu setzen, was seinen Trieben
gemäfs ist: „Wir Neuen, Namenlosen, Schlecht ver-
ständlichen, wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen
Zukunft — wir bedürfen zu einem neuen Zwecke
auch eines neuen Mittels, nämlich einer neuen Gesund-
heit , einer stärkeren , gewitzteren , zäheren , ver-
wegeneren, lästigeren, als alle Gesundheiten bisher
waren. . Wessen Seele darnach dürstet, den ganzen
Umfang der bisherigen Werte und Wünschbarkeiten
erlebt und alle Künste dieses idealischen „Mittel-
meeres** umschifft zu haben, wer aus den Abenteuern
der eigensten Erfahrungen wissen will, wie es einem
Eroberer und Entdecker des Ideals zu Mute ist . . .
Nietzsches Entwickelungsgang. 123
der hat zu allererst Ein» nötig, die grofse Gesund-
heit ... . Und nun, nachdem wir lange dergestalt
unterwegs waren, wir Argonauten des Ideals, mutiger
vielleicht, als klug ist . . . will es uns scheinen, als
ob wir, zum Lohn dafür, ein noch unentdecktes Land
vor uns haben .... Wie könnten wir uns, nach
solchen Ausblicken und mit einem solchen Heifshunger
in Gewissen und Wissen, noch am gegenwärtigen
Menschen genügen lassen!" (Fröhliche Wissen-
schaft § 382.)
41.
Aus der in den vorstehenden Sätzen charakteri-
sierten Stimmung heraus erwuchs Nietzsche das Bild
seines Übermenschen. Es ist das Gegenbild des
Gegenwartsmenschen; es ist vor allem das Gegenbild
des Christen. Im Christentum ist der Widerspruch
giegen die Pflege des starken Lebens Religion ge-
worden. (Antichrist § 5.) Der Stifter dieser Religion
lehrte : dafs vor Gott das verächtlich ist, was vor den
Menschen Wert hat. In dem „Gottesreich" will der
Christ alles verwirklicht finden, was 'ihm auf Erden
mangelhaft erscheint. Das Christentum 'ist die Religion,
die dem Menschen alle Sorge für das irdische Leben
benehmen will; es ist die Religion der Schwachen,
die sich gerne als Gebot vorsetzen lassen: „Wider-
strebe nicht dem Bösen und dulde alles Ungemach",
weil sie nicht stark genug sind zum Widerstände.
Der Christ hat keinen Sinn für die vornehme Per-
sönlichkeit, die aus ihrer eigenen Wirklichkeit ihre
Kraft schöpfen will. Er glaubt, der Blick für das
Menschenreich verderbe die Sehkraft flir das Gottes-
124 Nietzsches Entwickelungsgaxig.
reich. Auch die vorgeschritteneren Christen , die
nicht mehr glauben, dafs sie am Ende der Tage in
ihrer leibhaftigen Gestalt wieder auferstehen werden,
um entweder in das Paradies aufgenommen oder in
die Hölle verstofsen zu werden, träumen von „gött-
licher Vorsehung", von einer „übersinnlichen" Ordnung
der Dinge. Auch sie sind der Ansicht, dafs sich der
Mensch über seine blofs irdischen Ziele erheben und
in ein ideales Reich einfügen müsse. Sie glauben,
dafs das Leben einen rein geistigen Hintergrund habe,
und dafs es erst dadurch einen Wert erhalte. Nicht
die Instinkte für Gesundheit, Schönheit, Wachstum,
Wohlgeratenheit, Dauer, für Häufung von Kräften
will das Christentum pflegen, sondern den Hafs gegen
den Geist, gegen Stolz, Mut, Vornehmheit, gegen das
Selbstvertrauen und die Freiheit des Geistes, den Hafs
gegen die Freuden der sinnlichen Welt, gegen die
Freude und Heiterkeit der Wirklichkeit, in der der
Mensch lebt. (Antichrist § 21.) Das Christentum be-
zeichnet das Natürliche geradezu als „verwerflich".
Im christlichen Gotte ist ein jenseitiges Wesen, d. h.
ein Nichts vergöttlicht, es ist der Wille zum
Nichts heilig gesprochen. (Antichrist § 18.) Deshalb
bekämpft Nietzsche im ersten Buche seiner „Umwertung
aller Werte" das Christentum. Und er wollte im
zweiten und dritten Buche auch die Philosophie und
Moral der Schwachen bekämpfen, die sich nur in der
RoUe von Abhängigen Wohlgefallen. Weil der Typus
des Menschen, den Nietzsche gezüchtet sehen will, das
diesseitige Leben nicht gering schätzt, sondern dieses
Leben mit Liebe umfafst und es zu hoch stellt, um
glauben zu können, dafs es nur einmal gelebt werden
Nietzsches Entwickelangsgan^. 125
sQÜe, deshalb ist er nach ^der Ewigkeit brünstig*'
(Zarathüstra, 8. Teil, die sieben Siegel) und möchte,
dafs dieses Leben unendlich oft gelebt werden könne.
Nietzsche läfst seinen ,^Zarathustra^ den „Lehrer der
ewigen Wiederkunft" sein. -„Siehe, wir wissen ,
dafs alle Dinge ewig wiederkehren und wir selber mit,
und dafs wir schon ewige Male dagewesen sind, und
alle Dinge mit uns." (Zarath. 3. Teil, der Genesende.)
Eine bestimmte Meinung darüber zu haben, welche
Vorstellung Nietzsche mit dem Worte „ewige Wieder-
kunft** verknüpfte, scheint mir gegenwärtig nicht
möglich zu sein. Man wird darüber erst Genaueres
sagen können, wenn die Aufzeichnungen Nietzsches zu
den unvollendeten Teilen seines „Willens zur Macht**
in der zweiten Abteilung der Gesamtausgabe seiner
Werke vorliegen werden.
Pierer^sehe Hofbachdrackerei. Stephan G^eibel <£ Co. in JLltenbarg.
.'i
Verlag von Emil Felber in Weimar.
— ■—■ I - ■ ■ - — I ■■■- ■■ — 1^ — -■ ■ I ■- -i. ■■■■■■■ ■___■- II — ■■
Die Philosophie der Freiheit.
Grundzttge einer modernen Weltanschauung
von
Dr. Rudolf Steiner.
4 Mark, schön gebunden 5 Mark.
Aus den zahlreichen Urteilen über dieses anerkannt hoch-
bedeutende Werk seien nur erwähnt:
cKlar und wahr» möchte ich dem Buche aufs Titelblatt schreiben. Klar,
bündig und frei von aller Tüftelei ist die Darstellung, ztfaAr und gesund der
Standpunkt des Verfassers. . . . Nur auf solchtr Wtltatucht^uung kann dit
arg bedrohte, ßersüidick* und menschheiüicke Freiheit naturgemä/se Aner-
kennung finden, das echte Recht des Individualismus einen gesunden Kollek-
tivismus schaffen. Der Verfasser hat sein Werk gerade sur rechten Zeit ge^
schrieben, möge es die weiteste Verbreitung finden.
Deatsohe Worte
Dez.-Heft 1893. Ed. Aug. Schroeder.
- Wenn dem Leser dieses Buch zu Händen kommt , so soll er sich nicht
davon abschrecken lassen, dass in dem Titel von Philosophie die Rede ist, die
nach einer landläufigen Meinung nur unpraktische Grübler beschäftigt, sowie von
Freiheit, die in unseren Tagen vor dem Glanz der Notwendigkeit und der Autorität
stark verblafst ist. Das Buch enthält wirklich, was es im weiteren verspricht:
Die Grundzüge einer modernen Weltanschauung, mit einer Menge anregender
Ausführungen und packender Gedanken. . . . Daneben giebt es auch wichtige
kritische Beleuchtungen herrschender Systeme wie des Kantschen, Schopen-
hauerschen, Hartmannschen , und der Materialismus wird gerade so in die
Rumpelkammer verwiesen wie der ideologische Idealismus. Dabei ist alles
frisch geschrieben, verständlich gehalten, ein intellektueller Genufs und an-
regend für jeden denkenden Menschen* , . . Und darum sei das Werk allen
denen empfohlen, deren Denken sich weder mit dem bequemen Mystizismus,
noch mit einem öden Materialismus begnügen kann.
Frankf. Zeitung von Sonntag, 8. Juli 1894.
Von demselben Verfasser erschien früher:
Wahrheit und Wissenschaft.
Preis: 1 Mark.
Die vorliegende Schrift ist eine bedeutende That. Sie füllt eine grofse
Lücke in der Philosophie aus. . . . Die Untersuchung des Wesens der freien
Selbstbestimmung hat Rud. Steiner der *Philesaßhi« der Freiheit* vorbehalten,
welcher wir mit leichtbegreiflicher Spannung entgegensehen.
Blätter für literar. Unterhaltung.
STANFORD UNIVERSITY IIBRÄ
STANFORD AUXILIARY IIBRARY
STANFORD, CALIFORNIA 94305-6004
(650) 723-9201
salclrc@sulmall.stanFord.edu |
All books ore subject to recall.
DATE DUE