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Full text of "Friedrich Schleiermacher's sämmtliche werke"

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rer 


Friedrich Schleiermaderg 


fammtliche Werke 


Erfte Abtheilung. 


sur Theologie, 


Erfier Band, 


a — ——— ——— — ———— —— —— 
Berlin, 
gedruckt und verlegt bei G. Neimer. 
1843. . 
843 y 


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ANDOVER- EeTT 
TNSOLOSICAL LIBRAR? 
"CAMBRIDGE, MASS. 


Inhalt. 
Kurze Darſtellung des theologiſchen Studiums zum a 
'einleitender Borlefungen entworfen . . - - Cd 1 
Ueber die Religion. Neben an bie geleten unter mn 
Verädhtern . . . » .. — 133 
Die Weihnachtsfeier. Ein Weſrrie nen. .  — 461 


ae 





Kurze Darftellung 
des theologiſchen Studiums 


zum Behuf einleitender Vorleſungen 


entworfen, 


1811: 1850. 


Schleierm. W. 1. I. % 
h 
’ 


Vorerinnerung 
zu r e rffen Ausgabe. 





Es iſt mir immer ungemein ſchwierig erſchienen nach 
Anleitung eines fremden Handbuchs akademiſche Vor⸗ 


traͤge zu halten; denn -jede abweichende Anſicht fcheint 


zugleich eine Abweichung zu fordern von einer aus 
einem andern Geſichtspunkt entflandenen Drdnung. Frei⸗ 
lich wird es um defto leichter, je mehr die eigenthuͤm⸗ 
lihen Anfichten der einzelnen über einzelnes einer ges 
meinfchaftlihen über das ganze untergeordnet find, das 
heißt, je mehr das beſteht, was man eine Schule nennt. 


Allein wie wenig Dies jezt in der Theologie der Fall 


ift, weiß jedermann. Aus demſelben Grunde alfo, der 
es mir zum Beduͤrfniß - macht, wenn ein Leitfaden ges 
braucht werben fol, was Doch in mancher Hinficht nuͤz⸗ 
lich ift, einen eigenen zu entwerfen, bin ich unfähig den 
Anſpruch su machen, Daß. andere Lehrer fich des meis 
nigen bedienen mögen. Scheint es: mir daher zu viel, 
. was nur für meine jezigen und Tünftigen Zuhörer bes 
ftimmt. ift, durch den Druff in das große Publifum 
zu bringen: fo tröfte ich mich damit, Daß dieſe wenigen 


Bogen meine ganze dermalige Anficht des theologifchen 


Studiums enthalten, welche, wie- fie auch beichaffen fei, 
doch vielleicht fchon durch ihre Abweichung aufregend 
wirken und befjeres erzeugen Fann. 

U? 


4 


Andere pflegen in Encyclopaͤdien auch einen Turzen 
Auszug der einzelnen dargeftellten Difciplinen felbft zu 
geben; mir fihien es angemeflener denen zu folgen, 
welche in folchen Vorträgen lieber -alle Aufmerffamkeit 
auf dem formalen fefthalten, damit die Bedeutung der 
einzelnen Theile und ihr Zuſammenhang deſto beſſer 
aufgefaßt werde. 

Berlin, im December 1810. | 

D F. Schleiermacher. 





Borerinnerung u 
sur zweiten Ausgabe, 





| Nach beinahe zwanzig Jahren, die feit der erſten Er⸗ 
ſcheinung dieſes Buͤchleins vergangen find; war es wol 
. natürlich, daß ich im einzelnen vieles zu verändern fand; 
wiewol Anficht und Behandlungsweife im ganzen 
durchaus Diefelben geblieben find. Was ich in Ausdruft 
und Stellung geändert habe, iſt hoffentlich auch gebeſſert. 
Wie ich denn auch wuͤnſche, daß die kurzen den Haupt⸗ 
ſaͤzen beigefügten Andentungen ihren Zwekk, dem Le- 
fer eine Erleichterung zu gewähren, nicht verfehlen mögen. 
Daß in der erften Ausgabe jeder Abfchnitt feine 
J Paragraphen beſonders zaͤhlte, verurſachte viel Weitlaͤuf⸗ 
tigkeit beim Citiren, und iſt deshalb geaͤndert worden. 
Berlin, im October 1830. 
D. F. Schleiermacher. 





Eintleit un 9. 


§. 1, De Theologie in dem Sinne, in welchem, 
das Wort hier immer genommen wird, ift eine pofitive 
Wiflenfchaft, deren Theile zu. einem: ganzen nur ver 
bunden find durch ihre gemeinfame Beziehung auf eine 
beftimmte. Glaubenöweife, d. h. eine beftimmte Geſtal⸗ 
tung des Gottesdewußtfeins; die der chriftlichen alle 
durch die Beziehung auf das Chriſtenthum. 

Eine poſitive Wiſſenſchaft überhaupt iſt nämlich ein ſolcher In⸗ 
begriff wiſſenſchaftlicher Elemente, welche ihre Zuſammen⸗ 
gehoͤrigkeit nicht haben, als ob ſie einen vermoͤge der Idee 
der Wiſſenſchaft nothwendigen Beſtandtheil der wiſſenſchaft⸗ 
lichen Organiſation bildeten, ſondern nur ſofern ſie zur Loͤ⸗ 
ſung einer praktiſchen Aufgabe erforderlich ſind. — Wenn 
man aber ehedem eine rationale Theologie in der wiſſenſchaft⸗ 
lichen Organiſation mit aufgefuͤhrt hat: ſo bezieht ſich zwar 
dieſe auch auf. den Gott unſeres Gottesbewußtſeins, iſt aber 
als ſpeculative Wiſſenſchaft von unſerer Theologie gaͤnzlich J 
verſchieden. 

§. 2. Jeder beſtimmten Glaubensweiſe wird ſich in? 

dem Maaß als ſie ſich mehr durch Vorſtellungen als 
durch ſymboliſche Handlungen mittheilt, und als ſie 


$. 2—5. 6 


zugleich gefchichtliche Bedeutung und GSelbftftändigkeit 

gewinnt, eine Theologie anbilden, die aber für jede 

Glaubensweife, weil mit der Eigenthuͤmlichkeit derfelben 

zufammenhängend, fowol der Form als dem Inhalt 

nach, eine andere fein Fann. | 
Nur in dem Maaße, weil in einer Gemeinfchaft von geringem 
Umfang fein Bebürfniß einer eigentlichen Theologie entfteht, 
und weil bei einem UWebergewicht fymbolifcher Handlungen 
die rituale Technik, welche die Deutung bderfelben enthält, 
nicht leicht den Namen einer Wiffenfchaft verdient. 
$. 3. Die Theologie ‚eignet nicht allen, welche und 
fofern fie zu einer beftimmten Kirche gehören, fondern 

‚nur dann und fofern fie an der Kirchenleitung Theil 
haben; fo daß der Gegenfaz. zwifchen felchen und- der 
Maſſe und das Hervortreten- ber Theologie ſich gegen⸗ 
ſeitig bedingen. 

Der Ausdrukk Kirchenleitung if hier im weiteſten Sinne 
zu nehmen, ohne daß an irgend eine beſtimmte Form zu 
denken waͤre. 

—. 4. Je mehr ſich die Kirche fortſchreitend entwik⸗ 
kelt, und über je mehr Sprache und Bildungsgebiete 
fie fich verbreitet, um deſto vieltheiliger organifirt fich 
auch die Theologie; weshalb denn die chriftliche Die 
ausgebilderfte ift.- 

3 Denn je mehr beided der Fall ift, um deſto mehr Differenzen 
ſowol der Vorftelung als der Lebensweiſe hat die Theologie 
zuſammenzufaſſen, und auf deſto mannigfaltigeres geſchicht⸗ 
liche zuruͤkkzugehen. 

$. 5. Die chriſtliche Theologie iſt ſonach der Inbe⸗ 
griff derjenigen wiſſenſchaftlichen Kenntniſſe und Kunft- 


7 $. 5—8. 


. regeln, ohne deren Beſiz und Gebrauch eine zufams 
menftimmende Leitung der chriftlichen Kirche d. h. ein 
heiftliches Kirchenregiment nicht möglich ift. 

Diefed nämlich ift die in $. 1. aufgeftellte Beziehung; benn ber 
chriftliche Glaube an und für fi) bedarf eines ſolchen Appa⸗ 

rates nicht, weber zu feiner Wirkfamkeit in der einzelnen Seele 
noch auch in den Verhältniffen des gefelligen Familienlebens. 

$. 6. Diefelben Kenntniffe, wenn fie ohne Bezie⸗ 
bung auf das Kirchenregiment erworben und. befeffen 
werden, bören auf theologifche zu fein, und fallen jede 
der Wiffenfchaft anheim, der fie ihrem Inhalte nad 
angehören, 

Dieſe Wiffenfchaften. find dann der Natur der Sache nach die 
Sptachkunde und Geſchichtskunde, die Seelenlehre und Sit⸗ 
tenlehre nebſt den von dieſer ausgehenden Disciplinen der 
allgemeinen Kunſtlehre und der Religionsphiloſophie. 

8. 7. Vermoͤge dieſer Beziehung verhaͤlt ſich die 
Mannigfaltigkeit der Kenntniſſe zu dem Willen bei der 
Leitung der Kirche wirkſam zu ſein, wie der Leib zur 
Seele. 

Ohne dieſen Willen geht die Einheit der Theologie verloren, 4 

und ihre Theile zerfallen in die verfchiedenen Elemente. 

$. 8 Wie aber nur durch Das Intereffe am Chriften- 
thum jene verfchiedenartigen Kenntniffe zu einem folchen 
Ganzen verknüpft werden: fo kann auch das Intereſſe 
am. Chriftenthbum nur durch Aneignung jener Kennts 
niffe fih in einer zwekkmaͤßigen Thätigkeit aͤußern. 

Eine Kirchenleitung kann zufolge $. 2. nur von einem fehr 
entwikkelten gefchichtlichen Bewußtſein ausgehen, aber auch) 
nur durch ein klares Wiffen um die Verhältniffe der relis 
gioͤſen Zuflände zu allen übrigen recht gebeihlich werben. 


— — 


$. 9—11. 8 


$. 9. Denkt man fich religioͤſes Interefje und wiſ— 

fenfchaftlichen Geift im böchften Grade und im mög: 

lichften Gleichgewicht für Theorie und Ausübung ver 
. eint: fo ift dies die Idee eines Kirchenfürften. 

Diefe Benennung für das theologifche Ideal iſt freilich nur 
angemeffen,; wenn die Ungleichheit unter den Mitgliedern der 
Kirche groß iſt, und zugleich ein Einfluß auf eine große Ne: 
gion.der Kirche möglich. Sie fcheint aber pafjender ald der 
fhon für einen befonderen Kreid geftempelte Ausdrukk Kir 
chenvater, und fchließt übrigens nicht im mindeften bie Er⸗ 
innnerung an einiamtliched Verhaͤltniß in fi. 

$. 10. Denkt man ſich das Gleichgewicht. aufgehos- 

ben: fo ift derjenige, welcher mehr das Wiffen um .das - 
Chriſtenthum in fi) ausgebildet hat, ein Theologe im 
sengeren Sinn; derjenige hingegen, welcher mehr Die 
Thätigkeit für das Kirchenregiment in ſich ausbildet, 
ein Kleriker. 

Diefe natürliche Sonderung tritt bald mehr bald weniger außer⸗ 

lich hervor; je mehr aber, um deſto weniger kann bie Kirche 
ohne eine lebendige Wechſelwirkung zwiſchen beiden beſtehen. — 
Uebrigend wird im weiteren Verfolg der Ausdrukk Theologe 
in ber Regel in dem weiteren beide Richtungen umfaffenben _ 
Sinne genommen. | 
de 11. Jedes Handeln mit theologifchen Kenntniffen 
als ſolchen, von welcher Art es auch ſei, gehoͤrt immer 
in das Gebiet der Kirchenleitung; und wie auch uͤber 
die Thaͤtigkeit in der Kirchenleitung, ſei es mehr con⸗ 
ſtruirend oder mehr regelgebend, gedacht werde, ſo 
gehoͤrt dieſes Denken immer in das Gebiet des Theolo⸗ 
wgen im engeren Sinn. 


9 . u-14. 

Auch die wiſſenſchaftliche Wirkſamkeit des Theologen muß auf 
die Foͤrderung des Wohls der Kirche abzwekken, und iſt alſo 
klerikaliſch; und alle techniſchen Vorſchriften auch uͤber die 
eigentlich klerikaliſchen Thaͤtigkeiten gehoͤren in den Kreis 
der theologiſchen Wiſſenſchaſten. 

§. 12. Wenn demzufolge alle wahren Theologen 

auch an der Kirchenleitung Theil nehmen, und alle die 
in dem Kirchenregiment wirkſam ſind auch in der Theo⸗ 
logie. leben: fo muß ohnerachtet der einſeitigen Rich— 
tung beider doch beides, kirchliches Intereſſe und wiſſen⸗ 
ſchaftlicher Geiſt, in jedem vereint ſein. 

Denn wie im entgegengeſezten Falle der Gelehrte kein Theologe 
mehr waͤre, ſondern nur theologiſche Elemente in dem Geiſts 
ihrer befonderen Wiffenfchaft bearbeitete; fo wäre auch die Thaͤ— 
tigkeit des Klerikers Feine Eunftgerechte oder auch nur befons 
nene Leitung, fondern lediglich eine verworrene Einwirkung. _ 

$. 13. Jeder der fich zur leitenden Thätigfeit in der 

Kirche berufen findet, beftimmt ſich feine Wirkungsart 
nah Maafgabe wie eines von jenen beiden Elementen 
in ihm überwiegt. 

Ohne einen ſolchen innern Beruf ift niemand in Wahrheit 
weder Theologe noch Kleriker: aber Feine von beiden Wir- 
kungsarten hängt irgend davon ab, daß das Kirchenregiment 
die Bafis eines befonderen bürgerlichen Standes if. 

$. 14. Niemand kann die theologifchen Kenutniffe 

in ihrem ganzen Umfang volftändig inne haben, theils 
weil jede Difeiplin im einzelnen ins unendliche entwik—⸗ 
tele werden kann, theile weil Die Berfchiedenheit der 
Difeiplinen eine Mannigfaltigkeit von Talenten erfordert, - 
welche Einer nicht leicht in gleichem Grade befizt. 


$14—17. 10 


Jene Entwifkelungdfähigkeit zur unendlichen Vereinzelung gilt 

ſowol von allem was gefchichtlich iſt und mit gefchichtlichem 
zufammenhängt, als auch von allen Kunftregeln in Bezug auf 
die Mannigfaltigkeit der Faͤlle welche vortommen koͤnnen. 

$. 15. Wollte fich jedoch deshalb jeder gaͤnzlich auf 
einen Theil der Theologie beichränfen: fo wäre das 
ganze weder in einem noch in allen zufammen, . 

7. Xeztered nicht weil bei einer folchen Art von Vertheilung fein 
Zuſammenwirken der einzelnen von verfchiedenen Fächern, ja 
fireng genommen auch nicht einmal eine Mirtheilung unter 
ihnen ſtatt finden koͤnnte. 

. 16. Daher iſt die Grundzüge aller theologiſchen 
Diſciplinen inne zu haben die Bedingung, unter wel⸗ 
cher auch nur eine einzelne derſelben in theologiſchem 

Sinn und Geiſt kann behandelt werden. 

Denn nur ſo, wenn jeder neben ſeiner beſonderen Diſciplin 

auch das ganze auf allgemeine Weiſe umfaßt, kann Mitthei⸗ 

lung zwifchen allen und jedem flatt finden, und nur fo 
jeder vermittelt feiner Haupidiſciplin eine Wirkſamkeit auf 
das ganze ausuͤben. 

$. 17. Ob jemand eine einzelne Difciplin und 
was für eine zur Vollkommenheit zu bringen ſtrebt, das 
wird beſtimmt vornehmlich durch die Eigenthuͤmlichkeit 
ſeines Talentes, zum Theil aber auch durch feine Vor 
ftelung von dem dermaligen Bedürfniß der Kirche. 
Der gluͤkkliche Fortgang der Theologie überhaupt haͤngt großen» 

theild davon ab, daß ſich zu jeder Zeit ausgezeichnete Talente 
für dasjenige finden, deffen Fortbildung am meiften Noth thut. . 
Immer aber können diejenigen am vielfeitigften wirkfam fein, 
welche die meiften Difciplinen in einer gewiffen Gleichmäßig» 
feit umfaffen, ohne in einer einzelnen eine befondere Virtuo⸗ 


11 $.17—19. 
fität anzuftreben; wogegen diejenigen, die fi nur einem 
Theile widmen, am meiften als. gelehrte leiſten können. 

$. 18. Unerlaßlich ift daher jedem Theologen zuerſt⸗ 
eine-richtige Anfchauung von dem Zufammenhang der 
verfchiedenen Theile der Theologie ‚unter fih, und dem . 
eigenthuͤmlichen Werth eines jeden für den gemeinfamen 
Zweit. Demndchft Kenntniß von der innern Organis 
fation jeder Difeiplin und denjenigen Hauptſtuͤkken der 
ſelben, welche das weſentlichſte ſind fuͤr den ganzen 
Zuſammenhang. Ferner Bekanntſchaft mit den Huͤlfs⸗ 
mitteln um ſich jede jedesmal erforderliche Kenntniß ſo⸗ 
fort zu verſchaffen. Endlich Uebung und Sicherheit in 
der Anwendung der nothwendigen Vorſichtsmaaßregeln, 
um dasjenige aufs beſte und richtigſte zu benuzen, was 
andere geleiſtet haben. 
Die beiden erften Punkte werden häufig unter dem Titel theolo⸗ 
giſche Encyclopaͤdie verbunden, auch. wol noch der dritte, naͤm⸗ 
| lich die theologiſche Buͤcherkunde, in diefelde Pragmatie hins 
| eingezogen. “Der vierte iſt ein Theil der Pritifchen Kunft, wels 
cher nicht als Difciplin ausgearbeitet ift, und über welchen fich 
überhaupt nur. wenige Regeln mittheilen laffen, fo daß er faſt 
nur durch natürliche Anlage und Uebung erworben werben fann, 
$. 19. „Jeder, der ftch eine einzelne Difeiplin in ihrer 
Bolftändigfeit gneignen will, muß fi die Keinigung 
und Ergänzung defien, mas in ihr fchon. geleiftet iſt, 
zum Ziel ſezen. 

Ob ein ſolches Beftreben wäre er auch bei der vollftändig- 
fien Kenntniß doch nur ein Träger der Ueberlieferung, mel: 
ches die am meiften. untergeordnete und am wenigſten bedeu⸗ 

tende Thaͤtigkeit iſt. 
Lihrary of the 
UNION THEOLOGICAL SEMIN MAX 


$.20—22. . 1 


o 9.20. Die enchelopädifche Darftellung, welche bier 
gegeben werden fol, bezieht ſich nur. auf das erſte von 
den oben ($. 18.) nachgewiefenen allgemeinen Erfor: 
derniffen; nur daß fie zugleich die ‚einzelnen Difeiplinen 
auf diefelbe Weife behandelt wie das ganze. . 

Eine folche Darſtellung pflegt man eine formale Encyclopaͤdie zu 
nennen; wogegen diejenigen, welche materielle genannt werben, 
- mehr von dem Hauptinhalt der einzelnen Difciplinen einen 
kurzen Abriß geben, mit der Darftellung ihrer Drganifation 
aber es weniger genau nehmen. — In fofern die Encyclopä: 
die ihrer Natur nach die erfle Einleitung in dad theologifche 
Studium ift, gehört allerdings dazu auch die Technik der Ord⸗ 
nung, nad) welcher bei diefem Studium zu verfahren ift, oder 
was man gewöhnlich Methodologie nennt: Allein was fi : 
bievon ‚nicht. von felbft aud der Darftelung des inneren Zu: 
ſammenhanges ergiebt, das ift bei dem Zuftand unferer Lehr⸗ 
anſtalten fowol als unferer Literatur zu fehr von Zufällig: 
keiten abhängig, ald daß es lohnen koͤnnte auch nur einen 
beſonderen Theil unſerer Diſciplin daraus zu bilden, 
$. 21. Es giebt Fein Willen um das Chriftenthum, 
wenn man, anftatt ſowol das Weſen defjelben in ſei⸗ 
nem Gegenfaz gegen andere Glanbensweifen und Kir⸗ 
chen, als auch das Weſen der Froͤmmigkeit und der 
frommen Gemeinſchaften im Zuſammenhang mit den | 
übrigen Thätigkeiten des menſchlichen Geiſtes zu ver , 
ftehen, fih nur mit einer empirischen Auffaffung begnuͤgt. 
10 Daß das Weſen des Ehriftenthumd mit einer Gefchichte zuſam⸗ 
| menhängt, beftimmt nur die Art diefes Verſtehens naͤher, 
kann aber der Aufgabe ſelbſt keinen Eintrag thun. 


$. 22. Wenn fromme Gemeinſchaften nicht als Ver⸗ 
irrungen angeſehen werden ſollen: ſo muß das Beſte⸗ 


43 22-21. 


hen ſelcher Vereine als, ein für Die Entwilfelung. des 

menfchlihen Geiftes nochwendiges Element nachgewie— 

ſen werden koͤnnen. 

Das erſte iſt noch neuerlich in den Betrachtungen uͤber das 
Weſen des Proteſtantismus geſchehen. Die Frömmigkeit 

ſelbſt eben ſo anſehen iſt der eigentliche Atheismus. 

$.23.: Die weitere Entwikkelung des Begriffs from⸗ 
mer Gemeinfchaften muß auch ergeben, auf welche Weiſe 

imd in welchem Maaß Die eine von der andern ver⸗ 

ſchieden ſein kann imgleichen ˖wie ſich auf dieſe Diffe- 

renzen das eigenthuͤmliche der geſchichtlich gegebenen 

Glaubensgenoſſenſchaften bezieht. Und hiezu iſt der 

Ort in der Religionsphiloſophie. 

Der leztere Name, in dieſem freilich. noch nicht ganz gewoͤhn⸗ 
lichen Sinne gebraucht, bezeichnet eine Difciplin, welche fih . 
in Bezug auf die Idee der Kirche zur Ethik eben fo ver- 
hält, wie eine. andere, die ſich auf die Idee des Staats, 
und noch. eine andere die fi) auf bie Idee der Kunft bezieht. 

$ 24. Alles. mag dazu gehört um von diefen Grund: 

lagen aus ſowol das Wefen Des Chriſtenthums, wo⸗ 

durch es eine eigenthuͤmliche Glaubensweiſe iſt, zur u 

Darſtellung zu. bringen, ‘als auch die Form der chriſt⸗ 

lichen Gemeinſchaft und zugleich die Art, wie beides 

ſich wieder theilt und differentiirt, dieſes alles zuſam⸗ 
men bildet den Theil der chriſtlichen Theologie, welchen 
wir die philoſophiſche Theologie nennen. 

Die Benennung rechtfertigt fich theils aus dem Zuſammenhang 
der Aufgabe mit der Ethik, theils aus der Beſchaffenheit 
ihres Inhaltes, indem fie es groͤßtentheils mit Begriffsbeſtim⸗ 
mungen zu thun hat. Eine ſolche Diſciplin iſt aber als 


. 


L 


5.2427. | 14 


Einheit noch nicht aufgeftellt oder anerkannt, weil dad Be 
bürfnig derfelben, fo wie fie hier gefaßt. iſt, erſt aus der Auf⸗ 
gabe die theologiſchen Wiſſenſchaften zu organiſiren entſteht. 
Der Stoff derſelben iſt aber ſchon in ziemlicher Vouſtaͤndig⸗ 
keit bearbeitet zufolge praktiſcher Beduͤrfniſſe, welche aus 
verſchiedenen Zeitumſtaͤnden erwuchſen. | 
$. 25. Der Zwekt der chriftlichen. Rirchenleitung if 
ſowol extenſi v als intenfiv zuſammenhaltend und an⸗ 
» bildend; und das Wiſſen um dieſe Thaͤtigkeit bildet ſich 
zu einer Technik, welche wir, alle verſchiedenen Zweige 
derſelben zuſammenfaſſend, mit dem Namen der praf: 
tiſchen Theologie bezeichnen. 
Auch dieſe Diſciplin iſt bisher ſehr ungleich bearbeite &n 
großer Fuͤlle nämlich was die Geſchaͤftsfuͤhrung im einzel: 
nen betrifft; Hingegen was bie Leitung und, Anordnung im 
großen betrifft, nur ſparſam, ja in bifeiplinarifchem Zuſam⸗ | 
menhange nur für einzelne Theile. M 
» 69.26. Die Kirchenleitung erfordert aber auch die 
Kenntniß des zu leitenden ganzen in feinem jedesmali⸗ 
gen Zuftande,. welcher, da. das ganze ein gefchichtliches 
ift, nur als Ergebniß der Vergangenheit begriffen wer⸗ 
den kann; und dieſe Auffaſſung in ihrem ganzen Yıns | 
fang ift die hiſtoriſche Theologie im weiteren Sinne J 
des Wortes. 
Die Gegenwart fann- nicht als Keim einer dem Begriff „mehr 
entfprechenden Zufunft richtig behandelt werden, wenn nicht 
erfannt wird, wie fie fid ch aus: der Vergngenheit entwik⸗ 
kelt hat. 
$. 27. Wenn die hiſtoriſche Theologie jeden Zeit⸗ 
punkt in ſeinem wahren Verhaͤltniß zu der Idee des 
Chriſtenthums darſtellt: ſo iſt ſie zugleich nicht nur die 


15 $. 27—20. 


Begründung der praftifchen, fondern auch die Bewaͤh— 
rung der pbilofophifchen Theologie. 

| Beides natürlich um fo niehr, je mannigfaltigere Entwikkelungen | 

fchon vorliegen. Daher war die Kirchenleitung anfangs mehr 

| Sache eined richtigen Inſtinkts, und die philofophifche Theo⸗ 

logie manifeſtirte ſich nur in wenig kraͤftigen Verſuchen. | 
$. 28. Die biftorifche Theologie ift fonach der eigent- 
liche Körper des theologifchen Studiums, welcher durch 
die philofophifche Theologie mit der eigentlichen Wiſſen⸗ 
ſchaft, und durch. die praftifche mit dem thätigen. chriſt⸗ 
lichen Leben zuſammenhaͤngt. 

Die hiſtoriſche Theologie ſchließt auch den praktiſchen Theil g⸗ 
ſchichtlich in ſich, indem die richtige Auffaſſung eines jeden 
Zeitraums auch bekunden muß, nach was fuͤr leitenden Vor⸗ 
ſtellungen die Kirche während deſſelben regiert worden. Und ıs 
wegen des im 8. 27. aufgezeigten Zufammenhanged muß 
fich eben fo auch die philoſophiſche Theologie in der hiſtori⸗ 
ſchen abſpiegeln. I 

75.29 Wenn die philoſophiſche Theologie als Dis 
ſciplin gehörig ausgebildet wäre, koͤnnte das ganze theo⸗ 

logiſche Studium mit derfelken beginnen. Jezt binges 

; gem können die einzelnen Theile derfelben nur fragmens 

‚‚ tarifch mit Dem Studium der Hiftorifchen Theologie ges 
wonnen werden; aber auch Diefes nur wenn das Stus - 

| dium der Ethik vorangegangen ift, welche wir zugleich 

| als die Wiſſenſchaft der Principien der Geſchichte an⸗ 

bi pſehen haben. 

Ohne die fortwaͤhrende Beriehung auf ethifche Saͤze kann 

v auch dad Studium der hiftoriichen Theologie nur unzufams 

% menhängende Vorübung fein, und muß in geiftlofe Uebers 

it. lieferung ausarten; woher fich großentheild der oft fo vers 


8.2031. Ä 16 . 
worrene Zuftand der theologiichen Difeipli inen und ber ganz: 
liche Mangel an Sicher:heit in der Anwendung derfetben auf 
die Kirchenleitung erklärt. 
$ 30. ‚Nicht nur die nod) fehlende Technik für die 
" Kirchenleitung kann nur aus der Vervollkommnung 
der hiftorifchen Theologie durch die philofophifche ber- 
- vorgeben, fondern felbft die gewöhnliche Mittheilung 
der Regeln für Die einzelne Gefchäftsführung kann nur 
als mechaniſche Vorfchrift wirken, wenn ihe nicht das 
Studium der hiftorifchen Theologie vorangegangen iſt. 
Aus der übereilten Belchäftigung mit’ diefer Technik entfleht 
die Oberflächlichkeit in der Praxis, und die Gleichguͤltigkeit 
gegen wiſſenſchaftliche Fortbildung. 
u . 31. In dieſer Trilogie, philoſophiſche, hiſtoriſche 
md praftifche Theologie, iſt dag Yanze theologifche Stu: 
dium beſchloſſen; und Die natuͤrlichſte Ordnung für. dieſe 
Darftellung ift ohnflreitig die, mit der ‚philofophifchen . 
Theologie zu beginnen, und mit der praftifchen zu ſchließen. 
Bei welchem Theile voir auch anfangen wollten: fo wuͤrden 
wir immer wegen bed gegenfeitigen Berhältniffes, in welchem 
fie mit einander ſtehen, manches aus den andern vorausſezen 
müſſen. 


Erſter Theil 1 
Bon der philofophifchen Theologie. 


| . Einleitung. 


$. 32, De dag eigenthuͤmliche Wefen des Chriftens 
thums fich eben fo wenig rein wiffenfchaftlich conftruis 
| ren läßt, als es bloß empirisch aufgefaßt werden kann: 
ſo läßt es fih nur kritiſch beflimmen (vergl, $. 23.) 
durch Gegeneinanderhalten deifen, was im Chriftenthum 
geſchichtlich gegeben iſt, und der Gegenſaͤze, vermoͤge 
deren fromme Gemeinſchaften koͤnnen von einander ver⸗ 
ſchieden ſein. | 
| So wenig fi die Eigenthümlichkeit einzelner. Menfchen con: 
firuiren läßt, wenn gleich allgemeine Rubriten für charakte⸗ 
riftifche Verfchiedenheiten angegeben werden fünnen: eben fo 
wenig auch die Gigenthümlichkeit folcher zufammengefezter 
oder moralifcher Perfönlichkeiten. 
$. 33. Die philofophifche Theologie kann daher ihren 
Ausgangspunkt nur. über dem Chriftenthum in dem ⸗ 
logiſchen Sinne des Wortes nehmen, d. h. in dem all: 
gemeinen Begriff der frommen oder Glaubensgemeinfchaft. 
Schleierm. ®. I. 1. - B 


3-35. 18 
Zufolge ded vorigen nämlich kann überhaupt jede beflimmte 
Glaubensform und Kirche nur vermittelft ihrer Verhäftnifie. 
des Neben: und Nacheinanderfeind zu andern richtig verftanden 
werden; und biefer Ausgangspunkt ift in fofern für ale 
analogen Difeiplinen anderer Theologien derfelbe, indem alle 
auf denfelben höheren Begriff und auf eine Xheilbarkeit 
deffelben zurüffgehen müffen, um jene Berhältnifje darzulegen. 
$. 34, Wie fich irgend ein gefehichtlich gegebener Zus 
ftand des Chriſtenthums zu der Idee deſſelben verhaͤlt, 
das beſtimmt ſich nicht allein durch den Inhalt dieſes Zu⸗ 
ſtandes, ſondern auch durch die Art wie er geworden iſt. 

Beides iſt allerdings durch einander bedingt, indem verſchie⸗ 

den beſchaffene Zuſtaͤnde aus demſelben fruͤheren nur koͤnnen 
durch einen verſchiedenen Proceß hervorgegangen ſein, und 
eben fo umgekehrt. Um fo ficherer aber kann bald mehr das 
eine bald mehr bad andere zut Auffindung jenes Verhaͤltniſ⸗ 
ſes benuzt werden. Und daß in einem lebendigen und ge⸗ 
ſchichtlichen ganzen nicht alle Zuſtaͤnde ſich zu der Idee deſ⸗ 
ſelben gleich verhalten, verſteht ſich von ſelbſt. 

g. 35. Da die Ethik als Wiſſenſchaft der Geſchichts 
principien auch die Art des Werdens eines geſchichtli⸗ 
chen ganzen nur auf allgemeine Weiſe darſtellen kann: 
fo laͤßt ſich ebenfalls nur kritiſch Durch. Vergleichung der. 

17 dort aufgeſtellten allgemeinen Differenzen mit dem ge: 
hichtlich gegebenen ausmitteln, was in der Entwifflung 
des Chriftenthums reiner Ausdrukk feiner Idee ift, und 
was hingegen als Abweichung hievon, mithin als Krank: 
beitszuftand, angefehen werden muf. | 

Krankheitözuftände giebt ed in gefchichtlichen Individuen nicht 

minder ald in organifchen; von untergeordneten Differenzen 
in der Entwikklung kann hier nicht die Rede fein. 


19 .. 36-39. 


$. 36, So oft das Chriſtenthum fi in eine Mehr: 
heit von. Kirchengemeinfchaften theilt, welche doch auf 
denfelben Namen chriftliche zu fein Anſpruͤche machen: 
ſo entſtehen dieſelben Aufgaben auch in Beziehung auf 
ſie; und es giebt dann außer der allgemeinen, fuͤr jede 
von ihnen noch eine beſondere philoſophiſche Theologie. 

Offenbar befinden wir uns in. dieſem Fall; denn. wenn ſauch 

jede von dieſen beſonderen Gemeinfcaften. alle anderen. für 
krankhaft gewordene Theile erklärte: fo müßten bod) von 

unferem Ausgangspunkt (f. $..33.) aus fchon zum Behuf 

der erfien Aufgabe die Anfprüche aller jenem Eritifchen Verfah⸗ 
ren anheim fallen. Unſere beſondere philoſopiſche Theologie 
iſt daher proteſtantiſch. 

$. 37. Da die beiden Hier — in $. 32. und 35. — 
geſtellten Aufgaben den’ Zwekk der philofophifchen Theo⸗ 
logie erſchoͤpfen: ſo iſt dieſe ihrem mifjenfchaftlihen Ge⸗ 
halt nad Kritik, und ſie gehoͤrt der Natur ihres Ge⸗ 
genſtandes nach der geſchichtskundlichen Kritik an. 

In der vboͤſung dieſer Aufgaben iſt naͤmlich alles enthalten, was is 

der hiſtoriſchen Theologie ſowol als der praktiſchen in ihrer 

Beziehung zur Kirchenleitung zum Grunde liegen muß. 

$. 38. Als theologiſche Diſciplin muß der philoſo⸗ 
phiſchen Theologie ihre Form beſtimmt werden durch 
ihre Beziehung auf die Kirchenleitung. 

Dies gilt natuͤrlich auch von jeder ſpeciellen philoſophiſchen 

Theologie. 

39, Wie jeder in feiner Kirchengemeinfchaft nur 
iſt vermöge feiner Ueberzeugung von der Wahrheit der 
fih Darin fortpflanzenden Glaubensweife: fo muß die 
erhaltende Richtung Der Kirchenleitung auch die Ab⸗ 

32 


$. 39. 40. | 20 


zweffung haben dieſe Ueberzeugung durch Mittheilung 
zur Anerkenntniß zu "bringen, Hiezu bilden. aber Die 
Unterfuchungen über das eigenthuͤmliche Weſen des 
Chriſtenthums und eben. fo des Proteflantismus die 

Grundlage, welche daher den apologetifchen Theil der 
pbilofopbifchen Theologie ausmachen, jene der allgemei- 
nen cheiftlichen, Diefe der befonderen des Proteftantismus. 

- Bei diefer Benennung iſt an feine andere Vertheidigung zu ben- 
ten, ald welde von ber Anfeindung der Gemeinſchaft abhal: 
ten wil. Das Beflreben auch andere in diefe Gemeinichaft 
bineinzugiehen ift eine klerikaliſche allerdings. aus der Apolo⸗ 
getik fchöpfende Ausübung; und eine Tethnik füt daffelbe, 
die aber kaum anfängt fich zu bilden, wäre ber zunächft auf 
der Apologetif beruhende Theil der praktifchen Theologie. 

» 940. Da jeder nach: Maaßgabe der Stärfe und 
Klarheit feiner Ueberzeugung auch Miffalen haben 
muß an. den in ſeiner Gemeinfchaft entftandenen krank⸗ 
haften Abweichungen: ſo muß die Kirchenleitung ver⸗ 
moͤge ihrer intenſiv zuſammenhaltenden Richtung (6§. 25.) 
zunaͤchſt die Abzwekkung haben, dieſe Abweichungen 
als ſolche zum Bewußtſein zu bringen. Dies kann nur 
vermoͤge richtiger Darſtellung von dem Weſen des 
Chriſtenthums und ſo auch des Proteſtantismus geſche⸗ 
hen, welche daher in dieſer Anwendung den polemiſchen 
Theil der philoſophiſchen Theologie bilden, jene der all⸗ 
gemeinen dieſe der beſonderen proteſtantiſchen. 

Die klerikaliſche Praris, welche auf die Befeitigung der Kranf. 
heitözuftände ausgeht, . hat hier ihre Principien; und die 
Technik derfelben wäre der zunächft auf die Polemik zurüff: 
gehende Theil der praftifchen Theologie. 


21 $. 41. 42. 


$. 41. So wie die Apologetit ihre Richtung ganz 
nach aufen nimmt, ſo! die Polemik die ihrige durchaus 
nach innen. 

Die weit gewoͤhnlicher ſo genannte nach aufen gekehrte beſon— 

dere Polemik der Proteſtanten z. B. gegen die Katholiken, 
und eben ſo die allgemeine der Chriſten gegen die Juden oder 
auch die Deiſten und Alheiſten, if ebenfalls eine im weite: 
ren Sinne bes Wortes klerikaliſche Ausübung, welche einer: 
ſeits mit unferer- Difciplin nichts gemein hat, andererfeits 
: auch ſchwerlich won einer wohl bearbeiteten praktiſchen Theo⸗ 
logie ald heilſam dürfte anerfannt werden. Man Eönnte 
allerdings behaupten, diefe Ausübung müffe nur nicht als 
eine proteftantifche angefehen werden, fonderm als eine allge: zu 
mein chriftliche, fo habe fie ‚ihre Richtung auch nach innen. 
Allein dann ginge fie auch nicht, wie es doch immer ge 

" meint if, gegen den Katholiciömus im ganzen, fondern 
nur gegen dasjenige darin, was nicht feiner eigenthümlichen 
Form angehört, fondern ald Krankheitszuſtand des Chriſten⸗ 
thums zu betrachten iſt. 

6. 42. Da nun die philoſophiſche Theologie keine 
weiteren Aufgaben enthält: fo iſt im folgenden zu han— 
deln von'der Organiſation der Apologetit und der Pos 
lemif, und zwar der allgemeinen chriſtlichen ſowol als 


der beſonderen proteſtantiſchen. 

Entweder alſo zuerſt von der allgemeinen philoſophiſchen Theo⸗ 
logie in ihren beiden Theilen, und dann eben ſo von der 
beſonderen; oder zuerſt von der Apologetik der allgemeinen 
und befonderen, und dann eben fo von der Polemik. Die 
leztere Anordnung iſt vorgezogen worben: 





$. 43. 44. 22 


Erſter Abſchnitt. 
Grundſaͤze der Apologetik. 


4. 43. Da der Begriff frommer Gemeinſchaften 
oder der Kirche ſich nur in einem Inbegriff neben ein⸗ 
ander beſtehender und auf einander folgender geſchicht⸗ 
licher Erſcheinungen verwirklicht, welche in jenem Be⸗ 

21 griff eing, unter ſich aber verfchieden find: fo muß auch 
von dem Chriftenthum durch Darlegung fowol jener 
Einheit als dieſer Differenz nachgewiefen werden, daß 
es in jenen. Inbegriff gehört, Dies gefchieht mittelft 

Aufſtellung und Gebrauchs der Wedſelberiff bes nas 
türlichen und pofitiven, 

Die Aufftelung diefer Begriffe, movon..jener dad gemeinfame 
aller, biefer die Möglichkeit verfchiedener eigenthuͤmlicher Ge- 
Haltungen defjelben ausfagt, gehört eigentlich der Religions: 
philofoghie an; daher diefelben auch gleich gültig find für 
die Apologetik jeder frommen Gemeinfchaft. ‚Könnte nun 
auf biefe Weiſe auf bie Religionsppilofophie bezogen wer⸗ 
den: fo bliebe fuͤr die chriſtliche Apologie hievon nur übrig 
was der folgende $. enthält.” | 

$. 44, Auf den Begriff des poſitiven zurülkgehend 

muß dann fuͤr das eigenthuͤmliche Weſen des Chriſten⸗ 
thums eine Formel aufgeſtellt, und mit Beziehung auf 
das eigenthuͤniliche anderer frommen Gemeinſchaften 
unter jenen Begriff ſubſumirt werden. | Ä 

Dies iſt zwar die Grundaufgabe der Apologetik; aber je mehr 
eine ſolche Formel nur durch ein Fritifches Verfahren (vergl. 


23 $.44-47 
$. 32.) gefunden werben Tann, um beflo mehr Tann fie fich 
erft im Gebrauch volfländig bewähren. | 

(4, 45. Das Ihriftenthum muß feinen Anfpruch auf 

abgefondertes gefchichtliches Dafein auch geltend machen 
durch die Art und Weife feiner Entſtehung; und dieſes 
gefchieht Turch Beziehung auf die Begriffe Offenbarung 2 
Wunder und Eingebung. 

Je mehr auf urfprüngliche Thatſathen zurüffgehend, deſto 
groͤßeres Anrecht auf Selbſtſtaͤndigkeit, und umgekehrt; wie 
daſſelbe auch bei anderen Arten der Gemeinſchaft ſtatt findet. 

$. 46. Wie aber die geſchichtliche Darſtellung der 

Idee der Kirche auch als fortlaufende Reihe anzuſehen 
iſt: ſo muß ohnerachtet des $. 43. und 44. geſagten 
doch auch die geſchichtliche Staͤtigkeit in der Folge des 
Chriſtenthums auf das Judenthum und Heidenthum 
nachgewieſen werden, welches durch Anwendung der 
Begriffe Weiſſagung und Vorbild geſchieht. 

Das rechte Maaß in Feſtſtellung und Gebrauch dieſer Begriffe 
iſt vielleicht die hoͤchſte Aufgabe der Diſciplin; und je voll 
kommener geloͤſt, deſto feſtere Grundlage hat die von außen 
anbildende Ausübung. 

$. 47. Da die chriftliche Kirche v wie jede gefchicht- 

liche Erſcheinung ein ſich veränderndes ift: fo muß auch 
nachgewiefen werden, wie durch dieſe Veränderungen 
die Einheit des Wefens dennoch nicht gefährdet wird, 
Dieſe Unterfuhung umfaßt ‚die Begriffe Kanon und 
Sarrament. | 

Die Apologetit hat «3 mit den bogmatifchen Theorien über 
beide nicht zu thun; indem diefe hier nicht anticipirt werben 
tonnen, Beide Thatfachen..aber beziehen fi ihrem Begriffe 


ir 


23 


$. 70. 24 


nach auf die Staͤtigkeit des weſentlichen im Chriſtenthume, 
der erſte wie ſie ſich in der Production der Vorſtellung, der 
andere wie ſie ſich in der Ueberlieferung der Gemeinſchaft 
ausſpricht. 

. 48. Wie der Begriff der Kirche fi wiſſenſchaft⸗ 
lich nur ergiebt im Zuſammenhang (vergl. $. 22,) mit 
denen aller andern aus dem Begriff der Menfchheit 
fih entwiffelnden Drganifationen gemeinfamen Lebens: - 
jo muß num auch von der chriftlichen Kirche nachgewie⸗ 


‚sen werden, daß fie ihrem eigenthümlichen Wefen nach 


24 


mit allen jenen Drganifationen zufammenbeftehen kann, 
welches ſich aus richtiger Eroͤrterung der Begriffe Hie⸗ 
rarchie und Kirchengewalt ergeben muß. 


Vorzuͤglich kommen hier in Betracht der Staat und die Wiſſen⸗ 
ſchaft. Denn niemanden koͤnnte zugemuthet werden die Guͤl⸗ 
tigkeit des Chriſtenthums anzuerkennen, wenn es durch ſein 
Weſen einem von dieſen entgegenſtrebte. Die Aufgabe iſt 
daher um ſo vollſtaͤndiger geloͤſt, je beſtimmter gezeigt wer⸗ 
den kann, daß dieſe inneren Inſtitutionen der Kirche ihrem 
Begriffe nach nur die unabhaͤngige Entwikklung derſelben 
im Zuſammenhang mit Staat und Wiſſenſchaft bezwekken, 
nicht aber die gleich unabhängige Entwikklung jener zu’ flö- 
ren meinen. Alles hierüber in die praktifche Theologie ge⸗ 
hoͤrige bleibt hier ausgeſchloſſen. 


§. 49. Se mehr in allen dieſen Unterſuchungen auf 
beides Bezug genommen wird, ſowol darauf daß das 
Chriſtenthum als organiſche Gemeinſchaft beſtehen will, 
als auch darauf daß es ſich vorzuͤglich durch den Ges 
danken darſtellt und mittheilt (vergl. d. 2.), um deſto 
mehr muͤſſen ſie den Grund zu der Ueberzeugung legen, 


35 6.4952. 


- dab auch von Anfang an (vergl. $. 44.) das Wefen 
- des Chriſtenthums richtig iſt aufgefaßt worden, 

Wenn ſich doch in allem, was fi auf Lehre und Verfaffung 
bezieht, daſſelbe Weſen des Chriſtenthums uͤbereinſtimmend 
mit der aufgeſtellten Formel ausſpricht: ſo iſt dies die beſte 

Bewährung für dieſe. 

$, 90. Befindet fih die Kirche in einem Zuftande . 

der Theilung, fo muß die fpecielle Apologetik einer jeden 
| Kirchenparthei, mithin jezt auch die proteftantifche, den⸗ 
ſelben Gang einfchlagen wie die allgemeine. 

Denn die Aufgabe iſt diefelbe, und dad Verhaͤltniß jeder ein 

| zelnen Kirchenparthei zu den übrigen gleich dem des Chriften: 
thums zu ben andern verwandten Glaubensgemeinſchaften. 

Die in 8. 47. geforderte Nachweiſung fuͤhrt auf die Begriffe 
von Gonfeffion und Ritus, und bei ber in $. 48. befchrie: 
benen fommt es vorzüglich auf das Verhältnig zum Staat an. 


5,51. Auch die Allgemeine chriftliche Apologetik 
| wird in diefem Fall, von der Anficht jeder befonderen 
Geftaltung des Chriſtenthums afflcirt, ſich in jeder eigen⸗ 
thuͤmlich geftalten. 
| Died, wird allerdingd um defto weniger der Fall fein, je ſtren⸗ 
ger aud der Erörterung alled bogmatifche audgefchieben wird. 
Niemald aber darf ed fo weit gehen, daß jede nur fich felbft 
als Chriſtenthum zur Anerkenntniß bringen will, die andern 
aber als unchriſtlich darſtellt. Wofuͤr ſchon durch die Schei⸗ 
dung der allgemeinen und beſondern Apologetik geſorgt 
werden ſoll. 
$, 52. Da mehrere im Gegenſaz mit einander ſte⸗ 25 
hende chriftliche Kirchengemeinfchaften ſich nur bilden 
fonnten aus einem Zuflande des ganzen, in welchem 
fein Gegenſaz ausgefprochen war: fo bat fih jede um 


$.52—54, 26 


fo mehr gegen den Vorwurf der Anarchie oder der Cor: 
ruption zu vertheidigen, als auch jede wieder. geneigt 
ift von fich. ſelbſt zu behaupten daß fie an den ur: 
ſpruͤnglichen Zuftand anknuͤpfe. 
Weder war im urſpruͤnglichen Chriſtenthum ein Gegenſaz aus: 
gefprochen, noch Tann jemald ein Gegenfaz an die Stelle 
eines andern treten, ohne daß jener vorher verfchwunden wäre, 
$: 53. Da eben deshalb jeder Gegenfaz diefer Arı 
innerhalb des Chriſtenthums auch dazu beftimmt erfcheint 
wieder zu verfehwinden: fo wird Die Vollkommenheit 
der fpecjellen Apologetif darin beftehen, daß fie divina- 
toriſch auch Die Formen für diefes Verſchwinden mit 
in ſich ſchließt. | 
„Eine prophetifche Tendenz ſoll hiedurch der ſpeciellen Apolo⸗ 
getik keinesweges beigelegt werden. Aber je richtiger in 
dieſer Beziehung das eigenthuͤmliche Weſen des Proteſtan⸗ 
tismus aufgefaßt iſt, um deſto haltbarere Gruͤnde wird die 
ſpecielle Apologetik darbieten, um falfche Unionsverſuche ab⸗ 
zuwehren, da jeder auf der Vorausſezung beruht, der Gegen 
faz fei fhon in einem gewilfen Grade verfhwunden, u 





Zweiter Abſchnitt. 
" Grundfäze der:Polemit: 
§. 54. Krankhafte Erſcheinungen eines geſchichtlichen 
Organismus (vergl, $. 35.) koͤnnen theils in zuruͤkktre⸗ 
tender Lebenskraft gegruͤndet ſein, theils darin daß ſich 
beigemiſchtes fremdartige in demſelben für ſich organifirt. 


27 5.5456. 


EGs ift nicht nöthig hiebei anf die Analogie mit bem animali: 
t ſchen Organismus zuruͤkkzugehen; derſelbe Typus kann auch 
„ſcchon an den Krankheiten der Staaten zur Anſchauung ge⸗ 
| bracht werden. 
9. 55. Da der Trieb die chriftliche Froͤmmigkeit zum 
le Gegenſtand einer Gemeinſchaft zu machen nicht noth⸗ 
e wendig in gleichem Verhaͤltniß ſteht mit der Staͤrke 
et dieſer Froͤmmigkeit ſelbſt: ſo kann bald mehr das eine 
ati von beiden geſchwaͤcht fein und zuruͤkktreten bald mehr 
it das andere. 
a: Beides in der Höchften Vollkommenheit vereinigt bildet freilich 
it den normalen Gefundpeitäzuftand der Kirche, ber aber wäh: 
rend ihres gefchichtlichen Verlaufs nirgend vorausgeſezt wer: 
den Tann. Eben daraus aber, daß dieſer Geſundheitszuſtand 


. nur als bie volftändige- Einheit jenes zwiefachen befchrieben 
n. werben kann, folgt ſchon, daß einfeitige Abweichungen nach 
ji beiden Seiten hin möglich find. 


&  $ 96. Diejenigen Zuftände, durch welche fich vor⸗ 
» jügli offenbart daß die chriftliche Frömmigkeit felbft 27 
krankhaft geſchwaͤcht iſt, werden unter dem Namen In⸗ 
differentismus zuſammengefaßt; und die Aufgabe 
ift daher zu beſtimmen, wo das, was als eine ſolche 
Schwaͤchung erſcheint, wirklich beginnt krankhaft zu ſein, 
und in wie mancherlei Geſtalten dieſer Zuſtand ſich 
darſtellt. 

Es iſt die gewoͤhnliche Bedeutung diefes Ausdrukks, Gleich⸗ 
guͤltigkeit in Bezug auf das eigenthuͤmliche Gepraͤge der 
chriſtlichen Froͤmmigkeit darunter zu verſtehen; wobei aller⸗ 
dings noch Froͤmmigkeit ohne beſtimmtes Gepraͤge flatt fin 
fi den. kann. — Außerdem aber werben. häufig Zuftände auf 
ſin Rechnung einer ſolchen Schwaͤche geſchrieben, die ganz anders 


6.5658. 28 
zu erflären find. — Daß bei wirklichem Indifferentismus 
auch der chriftliche Gemeinfchaftätrieb geihwächt fein muß, 
- ft natürlich; dies ift aber dann nur Folge der Krankheit 
nicht Urfache berfelben. 


$. 57. Diejenigen Zuftände, welche vornehmlich auf 
gefchwächten Gemeinfchaftstrieb deuten, werden durch 
den- Namen Separatismus bezeichnet, welcher alſo 
ebenfalls in ſeinen Örenzen und feiner Gliederuns ge⸗ 
nauer zu beſtimmen iſt. 

Genauer, als gewoͤhnlich geſchieht, iſt zu unterſcheiden zwiſchen 
eigentlichem Separatismus und Neigung zum Schisma; 
zumal jener ohnerachtet ſeiner gaͤnzlichen Negativitaͤt oft den 

Schein von dieſer annimmt... Offenbar iſt, daß der. Gemein⸗ 
ſchaftstrieb, wenn er in feiner vollen Stärke vorhanden ift, 
auch alle Glieder durchdringen muß. Er iſt alfo defto mehr 
gefchwächt, je mehrere fich bewußt und abſichtlich ausſchlie⸗ 
gen, ohnerachtet fie biefelbe chriſtliche Froͤmmigekeit zu u izen 
behaupten. 


$. 58. Da das eigenthämliche Weſen des Chriſten— 
thums ſich vorzuͤglich ausſpricht einerſeits in der Lehre 
und andererſeits in der Verfaſſung: ſo kann ſich in der 
Kirche auch fremdartiges organiſiren theils in der Lehre 
als Kezerei, Haͤreſis, theils in der Verfaſſung als Spal⸗ 
tung, Schisma; und beides iſt daher in ſeinen Öreizen 
und Geſtaltungen zu beſtimmen. 

In den meiſten Faͤllen, jedoch nicht nothwendig, wird, wenn 
ſich eine abweichende Lehre verbreitet, daraus auch eine be: 
fondere Gemieinfchaft entfliehen; allein diefe .ift als bloße 
Folge jened Zuftandes nicht eigentliche Spaltung. Eben 
jo wird fi ch innerhalb einer Srattung größtentheis, jedoch 


4 


-29 6.5861. 


; nicht nothwendig, auch abweichende Lehre entwikkeln; allein 
dieſe braucht deshalb nicht haͤretiſch zu ſein. 


6. 59. Alle hier aufgeſtellten Begriffe koͤnnen weder 
bloß empiriſch gefunden noch rein wiſſenſchaftlich ab⸗ 

geleitet werden, ſondern nur durch das hier überall vors 
berrfchende kritiſche Berfahren feftgeftellt; weshalb fie 
E N durch den Gebrauch i immer mehr bewähren muͤſſen, 
‚um ganz zuverlaͤßig zu werden. 


In Bezug auf Spaltung und Kezerei muß wegen der großen 
| Mannigfaltigkeit ber Erfchemungen died Verfahren auf einer 
J Claſſification beruhen, welche ſich dadurch bewaͤhrt, daß die 

vorhandenen. Erſcheinunngen mit ‚Leichtigkeit. darunter fub: 
ſumirt werden koͤnnen. Im Bezug. auf Indifferentismus 20 
und. Separatiömus bewährt es fich deſto mehr, je mehr es 
hindert, daß nicht durch allzugroße Strenge für krankhaft 
erklaͤrt werde was noch geſund iſt, und umgekehrt. 


$. 60. Was als krankhaft aufgeſtellt wird, davon 
‚ muß nachgewieſen werden theils feinem Inhalte nach, 
‚idaß. es dem Wefen des Chriſtenthums, wie ſich Diefes 
in Lehre und Verfaſſung ausgedruͤkkt hat, widerſpricht 
oder es auflöft, teils feiner Entftehung nach, daß es 
nicht mit der von den Grundthatſachen des Chriften: 
hums ausgehenden Entwikklungsweiſe zufammenhängt. 
Je mehr beides zufammentrifft und ſich gegenfeitig erklaͤrt, 
| um deſto ficherer erfcheint bie Beilimmung. - 


R $. 61. In Zeiten wo die hriftliche Kirche getheilt 
„iR, bat jede fpecielle Polemik einer befondern chriftlichen 
a Kirchengemeinfshaft denſelben Weg zu verfolgen wie die 
b allgemeine. 


$. 61. 62. _ | 30 


Die Sadpwerhältmiffe find dieſelben. Nur daß einerfeits in. 
folchen Zeiten natürlich Indifferentiömus und Separatismus 
urfprünglid, in den partiellen Kirchengemeinfchaften einhei⸗ 
mifch find, und nur in fofern allgemeine Uebel werden, 

als fie ſich in mehreren neben einander beſtehenden chriſtlichen 

Gemeinfchaften gleichmaͤßig vorfinden, andererſeits aber, was 

nur dem eigenthümlichen Wefen einer partiellen Gemein: 

fchaft wiberfpricht, nie follte durch den Ausdrukk bärei 
oder ſchismatiſch bezeichnet werden. bs 
$. 62. Da die erften Anfänge einer Kezerei allemat| 
„als Meinungen einzelner auftreten, und. die einer Spal- " 
tung. als VBerbrüderungen einzelner; eine neue ‚partielle 
Kirchengemeinfchaft aber: auch nicht fuͤglich anders als 
eben ſo zuerſt erſcheinen kann: ſo muͤſſen die Grund: y 
füge der Polemik, wenn vollfommen ausgebildet, Mittel 1 
an die Hand geben um ſchon an folchen erften Elemen⸗a 
ten zu unterfcheiden, ob fie in Erankhafte Zuftände aus⸗⸗ 
geben werden, oder ob fie den Keim zur Entwikflung. 
eines neuen Gegenfazes in fich ſchließen. = 

Wie überhaupt diefer Saz gleihlautend iſt mie 8. 53, ſo in" 
aud bier daffelbe wie dort zu bemerken, in Bezug naͤmlich 1 
auf falfche Zoleranz gegen das krankhafte einerfeitö, und IM 
andererfeitö auf‘ Bevorwortung her billigen Freiheit für dad 
jenige, was ſich new zu bifferenziiren im Begriff fleht.- 


IF 


3 8.6365. 


Schiußbetrahtungen 
über die pbilofophifhe Theologie. 


§. 63. Beide Difeiplinen, Apologetif und Polemik, 
wie fie fich gegenfeitig ausfchließen, bedingen fi auch 
gegenfeitig. 

Sie fliegen, fih aus durch ihren entgegengefezten Inhalt 
(vergl. $. 39. und 40.) und durch ihre entgegengefezte Rich⸗ 
tung (vergl. $. 41.). : Sie bedingen fich gegenfeitig, weil 
krankhaftes in der Kirche nur erfannt werden Bann in Be. sı 
zug auf eine beſtimmte Vorſtellung von dem eigenthümlichen 
Weſen des Chriſtenthums, und weil zugleich bei. den Unter: 
fuchungen, durch welche diefe Vorſtellung begründet wird, 
auch die Frankhaften Erfcheinungen vorläufig mit unter das 
gegebene aufgenommen werden’ muͤſſen, welches bei dem 
kritiſchen Verfahren zum Grunde gelegt werden muß. 

$. 64. Beide Difeiplinen koͤnnen daher nur durch= 

einander und mit einander zu vollkommener Entwikke⸗ 
lung gelangen. 

Eben deshalb nur durch Annaͤherung und nur nach mancherlei 
Umgeſtaltungen. Vergl. 8. 51. indem das dort geſagte 
auch fuͤr die Polemik gilt. | 

$. 65. Die philofophifche Theologie fezt zwar den 

Stoff der Hiftorifchen als befanut voraus, begründet 
aber felbft erft Die eigentlich gefchichtliche Anfchauung 
des Chriſtenthums. Ä 

Jener Stoff ift das gegebene (vergl: $. 32, ), welches fowot 
den Unterſuchungen uͤber das eigenthuͤmliche Weſen des 
Chriſtenthums als auch denen uͤber den Gegenſaz des ge⸗ 


6. 65-67. 32 


funden und franfaften (vergl. $. 35.) zum Grunde liegt. 
- Das Refultat diefer Unterfuchungen beflimmt aber erft ben 
Entwilflungswerth der einzelnen Momente, mithin die ge⸗ 
fchichtliche Anfchauung ded ganzen Verlaufs. 
9.66. Die philofophifche Theologie und Die prak— 
tifehe ftehen auf der einen Seite gemeinfchaftlich der | 
. hiftorifchen gegenüber, auf der andern Seite aber aud) | 
eine der andern. | 
32 Jenes, weil die beiden erften unmittelbar auf bie Autübung | 
gerichtet find, die hiftorifche Theologie aber rein auf bie 
Betrachtung. Denn wenn gleich Apologetit und Polemik 
allerdings Xheorien find, von denen man apologetifche und 
polemifche Leiflungen wol zu unterfcheiden hat: fo vollenden 
fie doch erft in biefen ihre Beftimmung, und werden nur | 
um biefer willen aufgeftellt. — Beide aber ſtehen einander | 
gegenüber theils als erftes und leztes, indem die philofo- | 
phifche Theologie erft den Gegenftand firirt, den die prak⸗ 
tifche zu behandeln hat, theils weil bie philofophifche ſich 
an rein wiſſenſchaftliche Conſtructionen anſchließt, bie prak— 
tiſche hingegen in das Gebiet des beſonderen und einzelnen 
ald Technik eingieift, | 
$. 67. Da die philofophifche Theologie eines jeden 
wefentlich die Principien feiner gefammten theologifchen 
Denkungsart in fich fchließt: fo muß auch jeder Theo- 
loge fie ganz für fich felbft produciren. 
Hiedurch fol keinesweges irgend einem Xheologen benommen 
‚ werden fich zu einer von einem anderen herrührenden Dar: 
ftellung der philofophifchen Theologie zu bekennen; nur muß 
fie von Grund aus als Hare und feſte Ueberzeugung ans 
geeignet fein. Wornehmlich aber wird gefordert, daß die phi⸗ 
Iofophifche Theologie in jedem ganz und vollfländig fei, 
ohne für diefen Theil den in $. 14—17. gemachten Unter 





33 $. 87. 68. 


fchied zu berüfffichtigen; weil nämlich bier alled grundfäzlich 
ift, und jedes auf das genauefle mit allem zufammenhängt. 
Daß aber alle theologifchen Principien in biefem Theile des 
ganzen ihren Ort haben, geht aus — 65. und 66. unmit: 
telbar hervor. 


$. 68. . Beide Difciplinen der philoſophiſchen Theo⸗ > 
logie fehen ihrer Ausbildung noch entgegen. 


Die Thatſache begreift ſich zum Theil ſchon aus den hier auf— 
geftellten Verhäftniffen. Theils auch bezog man einerfeits 
die Apologetik zu genau und ausſchließend auf die eigentlich 
apologetiſchen Leiſtungen, zu denen ſich die Veranlaſſungen 
nur von Zeit zu Zeit ergaben, wogegen die hieher gehoͤrigen 
Saͤze nicht ohne bedeutenden Nachtheil fuͤr die klare Ueber: 
ſicht des ganzen Studiuims in den Einleitungen zur Dog: 
matik ihren Ort fanden. Erft In der neueften Zeit hat man 
angefangen fie in ihrer allgemeineren Abzwekkung und ihrem 
.. wahren Umfange nach wieder befonderd zu bearbeiten. Die 
Polemik andererfeitd hatte, vorzüglich weil man ihre Ric): 
‚ tung, verfännte, ſchon feit geraumer Zeit aufgehört als theo: 
logiſche Difciplin bearbeitet umd überliefert zu werben. 


I 


Schleierm. W. 1. 1. C 


Zweiter Theil 
j Bon | der: hiſtoriſchen Theologie. | 


Einleitung — 


— 69. Di hiſtoriſche. Theologie Mergl. 4 26. iſt 
ihrem Inhalte nach ein Theil der neuern Geſchichts⸗ 
kunde; und als ſolchem ſind ihr alle natürlichen Glie⸗ 
der dieſer Wiſſenſchaft roordinirt. * 

Sie gehoͤrt vornehmlich der innern Seite. der. Beſchichtskunde, 
der neueren Bildungs⸗ und. Sittengeſchichte an; in welcher 
das Chriſtenthuni offenbar eine eigene Entwikklung eingelei⸗ 
tet hat. Denn daſſelbe nur als eine reine Quelle von Ber: 
fehrtheiten und Ruͤkkſchritten darſellen, iſt eine. veraltete 
Anſicht. 

$. 70. Als theologiſche Diſciplin iſt die geſchichtliche 


Kenntniß des Chriſtenthums zunaͤchſt die unnachlaͤßliche 


| u 7; 


Bedingung alles befonnenen Einwirfens auf die weitere _ 


Fortbildung deſſelben; und in dieſem Zufammenhange 


ss find ihr .dann die übrigen Theile der Gefchichtsfunde 


nur dienend untergeordnet. 
Hieraus ergiebt. ſich fchon wie -verfchieden das Studium und 
die Behandlungsweife derfelben Maffe von Thatſachen aus 


35 .6.70-73. 


fallen, wenn fie ihren Ost in unferer theologiſchen Difciplin- 

haben; und wenn -in der .allgemeinen Geſchichtskunde, ohne 

daß jedoch die Grundſaͤze der gefchichtlichen. Forſchung auf 

hörten für beide Gebiete biefelben zu ‚fein. 

$. 71. Was in einem gefchichtlichen. Gebiet als ein: 

seiner. Moment hervortritt, kann entweder als ploͤzliches 
Entſtehen angeſehen werden, oder als. allmaͤhlige Ent⸗ 
wikklung und weitere Fortbildung: 

Sn dem Gebiete bed einzelnen. Lebens ift jeder Anfang ein 
‚plögliches Eniſtehen, von da’gn aber alles andere nur Ent- 
-witflung.. Auf dem eigentlich geſchichtlichen "Gebiet “aber, 
. bes bes gemeinſamen Lebens, iſt beides einander nicht ſtreng | 
entgegengefet, und nur de. mehr. und minder wegen wird 
ber. eine. ‚Moment. auf. diefe, der andere auf bie entgegen 
gefegte Weiſe betrachtet. | 
u. 73, Der Gefarhimiverlauf eines jeden geficheki: 

hen. ganzen. iR ‘ein mannigfaltiger ae von Mo: 
menten beiderlei Art. J— 

Nicht als ob es an und für ſich unmöglich. wäre baß ein 

J ganzer Verlauf als fortgehende Entwikklung von Einem An: 
fangspunkte aus angeſehen werden koͤnnte. Allein wir duͤr⸗ 
fen nur entweder die Kraft ſelbſt auch als ein mannigfalti⸗ 
ges anſehen koͤnnen, deſſen Elemente nicht alle gleichzeitig 
zur Erſcheinung kommen, oder wir dürfen nur in der Ent⸗ õ 
wikklung ſelbſt Differenzen ſchnellerer und langſamerer Fort⸗ 
ſchreitung wahrnehmen koͤnnen, und nicht leicht wird eines 
von beiden fehlen: fo find wir fchon genöthigt Zwiſchen⸗ 
‚puntte von dem entgegengefegten Charakter anzunehmen. 
$. 73. Eine Reihe von Momenten, in denen ununs 

terbrochen die ruhige Fortbildung überwiegt, ſtellt einen 
geordneten Zuftand dar, und bildet eine gefchichtliche 
e2 


| $.73—75.. 36 


Periode; eine Reihe. von ſolchen, in denen das ploͤzliche 
Entſtehen uͤberwiegt, ſtellt eine zerſtoͤrende Umkehrung 
der Verhaͤltniſſe dar, und bildet eine geſchichtliche Epoche. 

Je laͤnger der leztere Zuſtand dauerte, um deſto weniger wuͤrde 

. die Selbigkeit des Gegenſtandes feſtgehalten werden koͤnnen, 

weil aller Gegenfaz zwifchen bleibendem und. wechſelndem 

aufhört. ‚Daher je länger der Gegenftand als einer und 
derfelbe fefifieht, um befto meht. übermisgen bie Zuſtaͤnde 
der erſten Ari. 

u 74. Jedes geſchichtliche ganze läßt ſ ch nicht nur 
als Einheit betrachten, ſondern auch als ein. zuſammen—⸗ 
geſeztes, deſſen verſchiedene Elemente, wenn gleich nur 
in untergeordnetem Sinn und in fortwaͤhrender Bezie⸗ | 
bung: auf einander, jedes feitien eignen‘ Verlauf Haben, 

Sotlche unterſcheidungen bieten ſich überall unter irgend. einer 

Form dar; und ſie werden mit deſto⸗ größeren Recht herz. 
vorgehoben, ‘je ‚mehr der. eine. Theil zu ruhen fcheint, wäh: 
end der andere fich, bewegt, und alfo beide relatin unab⸗ 
haͤngig von einander erfcheinen. | 
= 9,75. Es giebt Daher um. Das unendliche Materiale 
eines geſchichtlichen Verlaufs zw. überfichtlicher Anfchaus 
lichkeit zuſammenzufaſſen tin zwiefaches Verfahren, Ent- 
weder man theilt. den ganzen Berlauf nad) -Maafgabe 
der ſich ergebenden xevolntiondren Zivifchenpunfte in meh⸗ 
rere Perioden, und foßt in jeder alles: was fi an 
dent Gegenftande begeben hat zufammen; oder man 
theilt den Gegenftand. der Breite nad, Yo daß fich meh: 
rere parallele Reihen ergeben, und verfolgt den Verlauf 
einer jeden befonders durch Die ganze Zeitlänge. 


37 8. 75- 78. 

Natuͤrlich laſſen ſich auch beide Eintheilungen verbinden, indem 

man die eine ber andern unterordnet, ſo Daß entweder jede 
Periode in, parallele Reihen getheilt, oder jede Hauptreihe 
- für fi wieder in Perioden. zerfchnitten wird. Das darftel: 
„Tende Berfahren iſt deſto unvollkommener, je mehr bei die⸗ 
ſen Eintheilungen willkuͤhrlich verfahren wird, oder je mehr 
man dabei wenigſtens nur Aeußerlichkeiten zum Grunde legt. 
§. 76. Ein geſchichtlicher Gegenſtand poſtulirt uͤber⸗ 
wiegend die erſte Theilungsart, je weniger unabhaͤngig 
von einander ſeine verſchiedenen Glieder ſich fortbilden, 
und je ſtaͤrker dabei revolutipnäre: Entwikklungsknoten 
hervorragen; ünd wenn umgekehrt, dann die andere. 
Denn in lezterem Falle iſt eine urſpruͤngliche Gliederung vor 
herrſchend, im erſten eine arte Differenz im Charakter vers 
ſchiebener Zeiten. 

Ne 77. Je ſtaͤrker in einem geſchichtlichen Verlauf - 
der Gegenſaz zwiſchen Perioden und Epochen‘ hervor: 
tritt, um deflo ſchwieriger iſt es in Darſtellung der 
lezteren, aber deſto leichter in der der erſteren, die ver⸗ 
ſchiedenen Elemente 6. 74) von einander zu ſondern. 
= - Denn in Zeiten der Umbildung if ale Wechſelwirkung leben⸗ 

‚diger und alles’ einzelne abhängiger von einem gemeinfamen 
Impuls; wogegen der ruhige Verkäuf bad Hervortrelen der 
Gliederung begünfligt. | Ä 

78% Da nicht nur im allgeineinen der Geſammt— 
verlauf aller menſchlichen Dinge, ſondern auch in die— 
ſem die ganze Folge von Aeußerungen einer und der⸗ 
ſelben Kraft Ein ganzes bildet: ſo kann jedes Hervor⸗ 
treten eines kleineren geſchichtlichen ganzen auf zwie⸗ 
fache Weiſe angeſehen werden, einmal als Eniſtehen 


6.56—58. 28 
zu erklären find. — Daß bei wirklichem SInbifferentiömus 
auch ber chriftliche Gemeinfchaftstrieb gefhwächt fein muß, 
iſt natürlich; dies iſt aber dann nur Zolge der Krankheit, 
nicht Urfache berfelben. 


. 57. Diejenigen Zuftände, welche vornehmlich auf 
gefhwächten Gemeinfchaftstrieb deuten, werden durch 
den Namen Separatismus bezeichnet, welcher alfo 
ebenfalls in feinen Örenzen und feiner Gliederung ges 
nauer zu beftimmen ift, Ä 

Genauer, als gewöhnlich geichieht, iſt zu unterfcheiden zwifchen 

eigentlichem Separatismus wid Neigung zum Schisma ; 
zumal jener ohnerachtet ſeiner gaͤnzlichen Negativitaͤt oft den 
u Schein von diefer annimmt. ‚Offenbar if, daß der. Gemein- 
ſchaftstrieb, wenn er. in. feiner, vollen Stärke vorhanden ift, 
auch alle Glieder durchdringen muß. Er ift alfo defto mehr 
gefchwächt, je mehrere fich ‚bewußt und abfichtlich ausſchlie⸗ 
fen, ohnerachtet fie dieſelbe chriſtliche Froͤmmigkeit zu beſtzen 
behaupten. 


$. 58. Da das eigenthuͤmliche Weſen des Chriſten— 
thums ſich vorzuͤglich ausſpricht einerſeits in der Lehre 
und andererſeits in der Verſaſſung: ſo kann ſich in der 
Kirche auch fremdartiges organiſiren theils in der Lehre 
als Kezerei, Haͤreſis, theils in der Verfaſſung als Spal⸗ 
tung, Schisma; und beides iſt daher in ſeinen Grenen | 
und Geſtaltungen zu beſtimmen. 

In den meiſten Faͤllen, jedoch nicht nothwendig, wird, wenn 
ſich eine abweichende Lehre verbreitet, daraus auch eine be⸗ 
ſondere Genieinſchaft entſtehen; allein dieſe iſt als bloße 
Folge jenes Zuſtandes nicht eigentliche Spaltung. Eben 
io wird fi ch innerhalb einer Spaltung gihtientheit, jedoch 


6 


39 $.81—84. 


wärtigen Momentes, als aus welchem der kuͤnftige fo 
entwilfelt werden. Diefe mithin bildet einen beſonderen 
Theil der hiſtoriſchen Theologie. 

um richtig und angemeſſen ſowol auf geſundes und krankes 

, einzuwirken ald auch zirüffgebliebene Glieder nachzufördern, 
und um aus fremden Gebieten anwendbares fuͤr das eigene 
zu benuzen. 

$. 82. "Da aber die Gegenwart nur verſtanden wer⸗ 
den kann als Ergebniß der Vergangenheit: fo iſt die « 
Kenntniß des geſammten fruͤheren Verlaufs ein zweiter 
Theil der hiſtoriſchen Theologie. 

Dies iſt nicht ſo zu verſtehen, als ob dieſer Theil etwa eine 
Huͤlfswiſſenſchaft wäre. für jenen erften; fondern beide ver: 
halten fi anf diefelbe Weiſe zur Kirchenleitung, und find 
einander nicht untergeordnet fondern beigeordnet. 

. 83. Je mehr ein geſchichtlicher Verlauf in der 
Verbreitung begriffen iſt, ſo daß die innere Lebensein⸗ 
heit je weiter hin deſto mehr nur im Zuſammenſtoß 
mit andern Kräften erſcheint: um deſto mehr haben 
dieſe auch Theil an den einzelnen Zuſtaͤnden; ſo daß 
nur in den fruͤheſten das eigenthuͤmliche Weſen am 
reinſten zur Anſchauung kommt. 

Auch das gilt eben ſo von allen verwandten geſchichllichen 
Erſcheinungen, und iſt der eigentliche Grund warum ſo viele 
Voͤlker mißverſtaͤndlich die fruͤheſte Periode des Lebens der 
NMenſchheit als die Zeit der hoͤchſten Vollkommenheit anſehen. 

§. 84. Da nun. auch das chriſtliche Leben immer 
zuſammengeſezter und verwikkelter geworden iſt, der 
lezte Zwekk ſeiner Theologie aber darin beſteht, das 
eigenthuͤmliche Weſen deſſelben in jedem kuͤnftigen Aus 


$. 61. 62. | 30 . 

Die Sachverhältniffe find diefelben. Nur daß einerfeits in. 
folchen Zeiten natürlich Indifferentismus und Separatismus 
urfprünglich in den partiellen Kirchengemeinfchaften einhei⸗ 
mifch find, und nur in ſofern allgemeine Uebel werden, 

als ſie fih in mehreren neben einander beftehenden chriſtlichen 
Gẽmeinſchaften gleichmaͤßig vorfinden, andererſeits aber, was 
nur dem eigenthuͤmlichen Weſen einer partiellen Gemein⸗ 
ſchaft widerſpricht, nie ſollte durch den Ausdrukk bäretfich 
oder ſchismatiſch bezeichnet werden. 

.$. 62. Da die erſten Anfaͤnge einer cezere allemal 

wals Meinungen einzelner auftreten, und. die einer Spal⸗ 
tung als Verbrüderungen einzelner; eine neue partielle 
Kirchengemeinfchaft aber auch nicht fuͤglich anders als 

eben ſo zuerſt erſcheinen kann: ſo muͤſſen die Grund: 
füze der Polemik, wenn vollkommen ausgebildet, Mittel 
an die Hand geben um ſchon an folchen erften Elemen⸗ 
ten zu unterfcheiden, ob fie in Erankhafte Zuflände aus- 
gehen werden, oder ob fie den Keim zur Entivifflung 
eines neuen Gegenſazes in fich ſchließen. 

Wie uͤberhaupt dieſer Saz gleichlauiend iſt mie 86. 53, ſo ift 
auch hier daffelbe wie dort zu bemerken, in Bezug nämlich 
auf falfche Toleranz gegen dad krankhafte einerfeits, und 
anbererfeitd auf Bevorwortung der bifigen Freiheit für das: 
jenige, was fich neu zu bifferenziiren im Begriff fleht. 


3 8.6365. 


Schlußbetrachtungen 
‚über die philoſophiſche Theologie, 


$. 63. Beide Difciplinen, Apologetif and Polemik, 
wie fie fich gegenfeitig ausfchließen, bedingen ſich auch 
gegenſeitig. | 

Sie (liegen. fih aus durch ihren entgegengefezten Inhalt 

(vergl, $. 39. und 40.) und durch ihre entgegengefezte Rich⸗ 
tung (vergl. $. 41.). - Sie bedingen fich gegenfeitig, weil 
krankhaftes in der Kirche nur erfannt werden Tann in Be. sı 
zug auf eine beſtimmte Vorſtellung von dem eigenthuͤmlichen 
Weſen des Chriſtenthums, und weil zugleich bei- den Unter: 
fuchungen, durch welche dieſe Vorſtellung begründet wird, 
auch die krankhaften Erſcheinungen vorlaͤufig mit unter das 
gegebene aufgenommen werben’-müffen, welches bei dem 

kritiſchen Verfahren zum Grunde gelegt werden muß. 

$. 64. Beide Difciplinen koͤnnen daher nur durch⸗ 

einander und mit einander zu vollkommener Entwikke⸗ 
lung gelangen.- . 

Eben deshalb nur durch Annäherung und nur nach mancherlei 
Umgeflaltungen. Vergl. $. 51. indem das dort gefagte _ 
auch für die Polemik gilt. 

$. 65. Die philofophifche Theologie fezt swar den 

Stoff der hiftorifchen als bekannt voraus, begründet 
aber felbit. erft Die eigentlich geſchichtliche Anſchauung 
des Chriſtenthums. 

Jener Stoff iſt das gegebene (vergl; $. 32, ), welches ſowol 
den Unterfuchungen über da$ eigenthümliche Weſen des 
Chriſtenthums ald auch denen über den Gegenfaz des ges 


43 


u koͤnnen, um die Unterfchiede zu firiren zwifchen folchen . 


nl. 42 
Da auch in. ben andern beiven Abtheilungen das meifle. auf 


Auslegung beruht: fo iſt die Benennung allerdings wil- 


kuͤhrlich, aber doch wegen. des eigenthuͤmlichen Werthes dies 
fer Schriften leicht zu rechtfertigen. 
$. 89, Da wegen’ des genauen Zufamminhanges 
mit der. philoſophiſchen CTheologie, als dem Ort aller 
Principien, jeder ſeine Auslegung ſelbſt bilden muß: | 
fo giebt es auch hier nur weniges, was. man fich von 
den Birtuofen (vergl. $. 17. und 19.). kann geben laſſen. 
Vorzuͤglich nur dasjenige, was zur Auslegung aus den Huͤlfs⸗ 
wiſſenſchaften herbeigezogen werden muß. | 
$ 90. Die. Kenntniß von dem weiteren ‚Berläuf 
des Chriſtenthums kann entweder als Ein ganzes auf— 
geftellt werden, oder auch) getheilt in die Geſchichte des 
Lehrbegriffs und in die Geſchichte der Gemeinſchaft. 


Weil nämlich die Geſchichte des Lehrbegriffs nichts anderes 
tft. als die Entwikklung der religioͤſen Vorſtellungen der 


Gemeinſchaft. Sowol. bie Vereinigung von beiden als auch 


die Geſchichte der. Gemeinſchaft beſonders dargeſtellt fuͤhrt 


den Namen Kirchengeſchichte; ſo wie die des Lehrbegriffs 

beſonders den Namen Doͤgmengeſchichte. Bu 

$. 91. Somohl beide Zweige zufammen als auch 
jeder fuͤr ſich allein ſtellen der Laͤnge nach betrachtet 
einen ununterbrochenen Fluß dar, "in welchem jedoch 
vermittelft der Begriffe von Perioden und Epochen 
(vergl. $. 73.) Entwikklungsknoten gefunden ‚werden 


Punkten, welche durch eine Epoche gejchieden find, und 
alfo verfchiedenen Perioden. angehören, fo wie auch zwi⸗ 
fhen folchen, die zwar innerhalb derfelben zwei Epochen 


43 59194, 


liegen, fo. jedoch daß der eine. mehr das Ergebniß der 
aften enthält, der andere mehr als eine Vorbereitung 
der zweiten erſcheint. 

Denkt man. fich dozwiſchen noch Punkie, weiche in ner Pe— 
riode das größte. der Entwikklung ihrer Anfangsepoche ent⸗ 

Halten, aber. noch den Nulpuntt der Schlußepoche darſtel⸗ 
ten: fo: giebt dieſes durch beide Zweige und Durch alle Pe⸗ 
rioden durchgeführt, ein Ne der werthvolleften Momente. 

y. 92. Da der. Gefammtverlauf des Chriſtenthums 
eine. Unendlichkeit von. Einzelheiten darbietet: fo ift bier 
am meiften. Spielraum für den Unterfchieb zwiſchen 
dem Gemeinbefiz. und dem Beſiz der. Birtuofen: 

Jenes Nez bis zu einem Analogon von Staͤtigkeit im Umriß 

vollzogen iſt das Minimum, welches jeder beſizen muß; 
die ‚Erforichung. und Ausfuͤhrung des einzelnen iſt, auch 
unter viele vertheilt, ein unerſchoͤpfliches Gebiet. 

. 93. Nicht, jeder Moment eignet fich gleich gut 
dazu als ein in ſich zuſammenhangendes ganze darge⸗ 
fiellt zu werden; ſondern am meiſten der Culminations⸗ 
punkt einer Periode, am wenigften ein Punkt während 
einer Epoche oder in der Naͤhe derſelben. 

Waͤhrend einer Umkehrung kann immer nur einzelnes abgeſon⸗ as 

. dert, und nicht leicht anders als in der Form des Streites, 

zur. Erörterung kommen. Nahe an einer Epoche kann zwar 

das Beduͤrfniß einer zuſammenhangenden Darſtellung ſich 
ſchon regen, die Verſuche koͤnnen aber nicht anders als un: 
vollſtaͤndig ausfallen. . Dies zeigt fich auch fomol in den 

„erften Anfängen der Kirche nach der apoftolifchen Zeit, als 

auch bei und in den erften Zeiten ber Reformation. 

$. 94. In ſolchen Zeiten mo der Aufgabe genügt 
werden kann, fondert fi) dann von felbft Darftellung 


$.94—97. 44 


der ‚Lehre und Darfetung Des geſeliſhaflichen Bu 
ftandes. 
Denn wenn fi aud) daſſelbe eigenthuͤmliche Weſen der Kirche 
oder einer partiellen Kirchengemeinſchaft in beiden ausſpricht: 
ſo hangen doch beide von zus verſchiedenen Coefficienten ab, 
“als daß nicht ihre Veränderungen und alfo auch ber ‚mo: 
mentane Zuſtand beider Belle. nnabhangis yon. einander 
fein ſollte. | 
6. 95. Die Darſtellung des Heſelſchafttlichen Zu⸗ 
ſtandes der Kirche in einem gegebenen Moment iſt die J 
Auſfgabe der kirchlichen Statiſtik 
Erſt ſeit kurzem iſt dieſer Gegenſtand in gehoͤriger Anordnung 
diſciplinariſch behandelt worden, daher auch, ſowol was 
Stoff. als. wad Form betrifft, noch vieles zu leiften übrig iſt. 
4. 96. Die Aufgabe bleibt, auch wenn · eine Tren⸗ 
nung obwaltet, fuͤr alle einzelnen Richengemeinfaften 
doch weſentlich dieſelbe. | 
rn Jede wird dann freilich. ein beföndered Antereife haben been 
eigenen Zuftand auf das genaueſte zu kennen, und inſofern 
wird eine Ungleichheit. eintreten, Die ‚aber auch eintritt, wenn 
die Kirche ungetheilt: if. Es kann aber nur großen Nach⸗ 
theil bringen, wenn die lenkenden einer einzelnen Kirchen⸗ 
gemeinſchaft nicht mit dem Zuſtande der anderen der Wahr: 
heit nach befannt find, WU oo 
$. 97. Die zufammenhängende Darftellung det „Lehre 
wie fie zu einer gegebenen Zeit, fei es nun in der Kirche 
im allgemeinen, wann nämlich feine Trennung obwal⸗ 
tet, fonft aber in einer einzelnen Kitchenparthei geltend 
ift, bezeichnen. wir durch den Ausdruft Dogmatik oder 
dogmatiſche Theologie. 





45 $. 97— 9. 

Der Ausdrukk Lehre ift bier in feinem ganzem Unifang ge 
nommen. Die Bezeichnung ſyſtematiſche Theologie, deren 
man ſich fuͤr dieſen Zweig immer noch haͤufig bedient, und 
welche mit Recht vorzuͤglich hervorhebt daß die Lehre nicht 
ſoll als ein Aggregat von einzelnen Sazungen vorgetragen 
werden fondern der Zuſammenhang ins Licht geſezt, verbirgt 
doch auf der anderen Seite zum Nachtheil der Sache nicht 
nur den. hiſtoriſchen Charakter. der Difciplin, fondern auch 
die Abzwekkung derſelben auf die Kircpenleitung, woraus 
ae Mißverſtaͤndniſſe entſtehen muͤſſen. | 


In Zeiten wo die Kirche getheilt ift, kann 
—* Parthei ſelbſt ihre Lehre dogmatiſch behandeln. 
Weder wenn ein Theologe der einen Parthei die Lehren an- 
derer im Zuſammenhang neben einander behandeln wollte, 
wuͤrde Unpartheilichkeit und Gleichheit zu erreichen fein, da a; 
nur ber eine Zuſammenhang für ihn Wahrheit ift, der an: 
- dere aber nicht; noch auch wenn er nur die ſeinige zuſam⸗ 
menhangend behandeln, und nur die Abweichungen der an⸗ 
deren an gehoͤriger Stelle beibringen wollte, weil biefe dann 
doch aus ihrem - natürlichen Bufammenbang herausgeriſſen 
wuͤrden. Das erſte geſchieht dennoch, mas die Hauptpunkte 
betrifft, unter dem Namen der Symbolik, das andere unter 
dem der comparativen Dogmatik. 


99. Beide Diſciplinen, Statiſtik und Dogmatik, 

nd ebenfalls. unendlich, und ſtehen alſo was den Un- 

tfchied zmwifchen dem Gemeinbefi iz und dem Gebiet der 

jirtuofität betrifft der zweiten Abtheilung gleich, 

Son der kirchlichen Statiſtik leuchtet dies ein. Aber auch im 
Gebiet der Dogmatik iſt nicht nur jede einzelne Lehre faſt 
ins unendliche beſtimmbar, ſondern auch ihre Darſtellung 


“in Bezug auf abweichende Vorſtellungsarten anderer Zeiten 
und Derter ift ein unendliches. 


/ 


fo muß auch jeder ‚Die Kunſt beſizen, aus denſelben das 







§. 100-103. 46 

. 100. Jeder muß. ſich, ſowol was die Kenntniß 
des Geſammiverlaufs als auch was die Des vorliegenden |ı 
Momentes betrifft, ſeine geſchichtliche Auſchauung ſelbſt |, 
bilden. | 

Sonft würde. auch die auf beiden aleichmaͤßig beruhende —* 

tigkeit in der Kirchenleitung keine ſelbſtthaͤtige ſein. 

$ 101. Müffen Hiezu gefchichtliche Darftelungen ges 
braucht werden, welche nie frei fein koͤnnen von rigenz |. 
thuͤmlichen Anfichten und Urtheilen ‚des darftellenden: t 


Materiale für feine eigene Beatbeitung möglihft ı rein 
auszuſcheiden. a a 
Auch dieſes gilt für die Dogmatik und Sunfit nicht. minder | 
als für die Kirchengefchichte. : 
$. 102, Hiftorifche Kritik iſt wie fuͤr das geſammte E 
Gebiet der Geſchichtskunde, ſo auch fuͤr die hiſtoriſche 
Theologie das allgemeine und unentbehrliche Diganon. | 
Sie ſteht als vermittelnde Kunſtfertigkeit den materiellen Hufe: 1 
wiſſenſchaften gegenuͤber. DE r 





Erfter Abſchnitt. 
. Die eregetifhe Theologie. 


m 


$. 103, ich alle vnflicht Schriften a aus dem gt | 
raum des Urchriſtenthums find ſchon deshalb Gegen: — 
ſtaͤnde der exegetiſchen Theologie, ſondern nur ſofern ſie . 
dafuͤr gehalten werden zu der urſpruͤnglichen mithin 


u 


— 


47. 6. 103—106. 


(sergl. 9: 83.) für alle. Zeiten normalen Darftellung 
des Chriſtenthums beitragen zu koͤnnen. 

Es liegt in der Natur der Sache, und iſt auch vollkommen 
thatjaͤchlich begruͤndet, daß es gleich anfangs auch unvoll⸗ 
kommene mithin zum Theil falſche Auffaſſung alſo auch 

Darſtellung des eigenthurilich chriſtlichen Slaubens gege⸗ 
‚ben bat. 

. 104. Die Sammlung dieſer das normale in ſich « 
tragenden. Schriften‘. bildet den neuteſtamentiſchen Ka⸗ 
non der chriſtlichen Kirche. 

Das richtige Verſtaͤndniß von dieſem ift mithin die einzige 
weſentliche Aufgabe, der exegetiſchen Theologie, und die 
Sammlung ſelbſt ihr einziger urſpruͤnglicher Gegenſtand. 

$. 105. In den neuteſtamentiſchen Kanon gehören 
weſentlich fowol Die normalen Documente von der Wirk— 
ſamkeit Chriſti an und mit ſeinen Juͤngern, als auch 
die von der gemeinſamen Wirkſamkeit ſeiner Juͤnger 
zur Begruͤndung des Chriſtenthums. 

Dies iſt auch ſchon der Sinn der alten Eintheilung des Ka: 
nom in evajyehov. und: orrosolog. Einen Unterfchieb in 
Bezug auf kanoniſche Dignität zwifchen diefen beiden Be— 
ftandtheifen fefizufegen, ift an und für fich kein Grund vor: 
handen. Welches doch gewiſſermaßen der Fall fein würde, 
‚wenn man “pehauptete, beide verhielten fich zu einander wie 
Entftehung und Fortbildung ; nod mehr, wenn man ber 
ſich felbft überlaffenen Wirkſamkeit der Zünger die normale 
Dignität abfprecpen dürfte. 

$, 106. Da weder Die Zeitgrenze des Urhriflene 
thums noch, das Perfonale defjelben genau beftimmt 
werden kann: fo kann auch. die äußere Grenzbeſtim⸗ 

. mung des Kanon, nicht vollfommen feft fein. 


| - 


6. 108-109. 48 


Fuͤr beides gemeinſchafilich, Zeit und Perfonen, ließe ſich zwar 
50 eine feſte Formel für das kanoniſche aufſtellen; ſie wuͤrde 
aber doch zu keiner ſichern Unterſcheidung uͤber das vorhan⸗ 
dene ſuͤhren, wegen der uͤber die Perſoͤnlichkeit mehrerer ein- 
zelner Schriftfteller obmaltenben Ungewißheit. 


$. 107. Dieſe Unſicherheit iſt ein Schwanken der 

Grenze zwiſchen dem Gebiet der Schriften apoſtoliſcher 
Vaͤter und dem Gebiet der kanoniſchen Schriften. 

Denn das Zeitalter der apoſtoliſchen Vaͤter liegt zwiſchen dem 

in welchem der Kanon erſt anfing zu werden, und dem in 

welchem er ſchon abgeſondert beſtand. Und der Ausdrukk 

apoſtoliſche aͤter iſt hier in ſolchem Umfang zu verſtehen, 

daß die Unſicherheit den erſten when des Kanon . eben fo 

trifft wie den zweiten. 

K. 108. Da auch der Begriff der normalen Signi- 

tät nicht kann auf unwandelbar fefte Formeln gebracht 

werden: fo läßt fich auch aus innern Beſtimmungs⸗ 

gruͤnden der Kanon nicht vollkommen ſicher umſchreiben. 

Wenn wir zum normalen Charakter der einzelnen Size auf 

der einen Seite Die. vollfommene Reinheit rechnen, auf der 

‚ andern bie Fuͤlle der daraus zu entwikkelnden Folgerungen 

und Anwendungen: ſo haben wir nicht Urſache die erſte 

— anderswo als nur in Chriſto ſchlechthinig anzunehmen, und 

muͤſſen zugeben daß auch auf die zweite bei allen anderen 

die natuͤrliche Unvollkommenheit hemmend einwirken konnte. 


u 109. Chriftliche Schriften aus der fanonifchen 
Zeit, welchen mir Die normale Dignität abfprechen, be⸗ 
sı zeichnen wir Durch den Ausdruff Apokryphen, und der 
Kanon ift alfo auch gegen dieſe nicht vollkommen feſt 
begrenzt. 


| 
= 


49 | $. 19-112. 


Die mäften neuteflamentifchen Apokryphen führen diefen Nas 
men freilich nur, weil fie dafür genommen wurden, ober 
dafür gelten wollten, der Fanonifchen Zeit anzugehören. Der 
Ausdrukk ſelbſt ift in dieſer Bedeutung wiltührlich, und 
würde beffer mit einem andern vertaufcht. 

$. 110. Die proteftantifche Kirche muß Anfpruch 

darauf machen in der genaueren Beftimmung des Ka⸗ 
non noch immer begriffen zu fein; und dies ift die 
hoͤchſte eregetifch=theologiiche Aufgabe für die höhere 
Kritik, j | | 

Der neuteftamentifche Kanon hat feine jezige Geſtalt erhalten 
durch wenn gleich nicht genau anzugebende noch in einem 
einzelnen Act nachzumeifende Entfcheidung der Kirche, wel: 
cher wir ein über ale Prüfung erhobened Anfehen nicht zu- 
geftehen,; und daher berechtigt find an das frühere Schwan: 
Ten neue Unterfuhungen anzufnüpfen. Die höchfte Aufgabe 
iſt diefe, weil es wichtiger ift zu entfcheiden ob eine Schrift 
kanoniſch iſt oder nicht, ald ob fie dieſem oder einem andern 
Verfaſſer angehört, wobei fie immer noch kanoniſch fein kann. 

$. 111. Die Kritit hat beiderlei Unterfuchungen an⸗ 

zuftellen, ob nicht im Kanon befindliches genau genoms 
men unkanoniſch, und ob nicht außer demfelben kano⸗ 
nifches unerkannt vorhanden- fei. | 

Noch neuerlich iſt eine Unterfuchung der legten Art im Gange 52 
geweſen; die von der erften haben eigentlich nie aufgehört. 

$. 112. Beide Aufgaben gelten nicht nur für ganze 

Bücher, fondern auch für einzelne Abfchnitte und Stel 
len derfelben. 

Ein unkanoniſches Buch kann neue fanonifche Stellen entha: 7 
ten; ſo wie das meifte, wad einem fanonifchen Buch von 
fpäterer Hand eingeſchoben ift, unkanoniſches fein wird. 

Schleierm. ®. I. 1. D 


6. 113. 114. 50 


$. 113. Wie die höhere. Kritik ihre Aufgabe groͤß⸗ 
tentheils nur durch Annäherung loͤſet; und es feinen 
andern Maafftab giebt für die Tiichtigkeit eines Aus: 
fpruches als die Congruenz der innern und aͤußern 
Zeichen: fo fommt es auch bier nur darauf an, wie 
beftimmt äußere Zeichen darauf hindeuten, daß ein frag- 
liches Stüff entweder dem fpäteren Zeitraum der apoflos 
liſchen Väter oder dem vom Mittelpunkt der Kirche 
entfernten Gebiet .der apokryphiſchen Behandlung ans 
gehöre, und innere darauf, daß es nicht in genauem 
Zufammenhang mit dem wefentlichen der Fanonifchen. 
Darftelung aufgefaßt und: gedacht fei. 

So lange noc) beiderlei Zeichen gegeneinander ftreiten, ober in 
jeder Gattung einige auf diefer andere aber anf jener Seite . 
ftehen, ift Feine Eritiiche Entfcheidung möglih. — Daß bier 

“unter dem Mittelpunkt der Kirche weder irgend eine Räum: 
lichkeit nocdy auch eine amtliche Würde: zu verftehen fei, fon: 
dern nur die Vollkommenheit der Gefinnung und Einficht, 

| bedarf wol Feiner Erörterung: 

s $, 114 Die Kritik Eönnte beiderlei ausgemittelt, 
und mit vollkomner Sicherheit, was Fanonifch fei und 
was nicht, neu und anders beftimmt haben, ohne daß 
deshalb nothwendig wäre den Kanon felbft andere eins 
zurichten. 

Nothwendig wäre ed nicht, weil das unfanonifche doch als 
ſolches Tann anerkannt werden, wenn es auch feine alte 
Stelle behält, und eben fo das erwiefen Fanonifche, wenn 
es auch außerhalb des Kanon bliebe. Zuläßig aber müßte 
es dann fein, den Kanon in zweierlei Geflalt zu haben, in 

| der geſchichtlich überlieferten und in der kritiſch ausgemittelten. 


- 51 $. 115IIs. 


$. 115. Daſſelbe gilt von der Stellung der alttefta- 

mentifchen Bücher in unferer Bibel, 

Daß ber jüdifche Codex Feine normale Darftelung eigenthüm: 

lich chriſtlicher Glaubensſaͤze enthalte, wird wol bald allge⸗ 
mein anerkannt fein. Deshalb aber ift nicht noͤthig — 
wiewol es auch zuläßig bleiben mug — von dem altkirch⸗ 

| lichen Gebrauch abzuweichen, der dad alte Zeflament mit 
denm neuen zu einem ganzen ald Bibel vereinigt. 
$% 116. Die Vervielfältigung der neuteftamentifchen 
Bücher aus ihren Urfehriften mußte denfelben Schiff: 
ſalen unterworfen fein, wie Die aller andern alten 
Schriften, 

Der Augenfcein hat alle Vorurtheile welche hieruͤber ehedem 
geherrſcht haben laͤngſt ˖ſchon zerſtoͤrt. | 

$. 117. Auch die uͤbergroße Menge und Verfchie: 

denheit unferer- Fremplare von den meiften diefer Buͤ⸗ 
her gewährt feine Sicherheit Dagegen, daß nicht den- 
noch die urfprüngliche Schreibung an einzelnen Stellen 
fann verloren gegangen fein. 

Denn diefer Berluft kann fehr zeitig ja fchon bei der erſten 
Abſchrift erfolgt ſein, und zwar moͤglicherweiſe auch ſo, daß 
dies nicht wieder gut gemacht werden konnte. 

$. 118. Die definitive Aufgabe der niederen Kritik, 

die urfprünglihe Schreibung überall möglichft genau 
und auf die uberzeugendfte Weiſe auszumitteln, ift auf 
dem Gebiet der eregetifchen Theologie ganz dieſelbe wie 
anderwaͤrts. 

Die Ausdruͤkke niedere und höhere Kritik werden bier her⸗ 
gebrachter maßen gebraucht, ohne weder ihre Angemeffenheit 
rechtfertigen, noch ihre Abgrenzung gegen einander genauer 


beflimmen zu wollen. - 
2 


6. 119—122. 52 


$. 119. Der neuteftamentifche Kritiker hat alfo auch, 
fo wie die Pflicht denfelben Regeln zu folgen, jo auch 
Das Recht auf den Gebrauch derfelben Mittel, 

Weder kann es daher verboten fein im Fall der Noth (vergl. |; 
8. 17.) Vermuthungen zu wagen, noch Tann ed befondere 
Regeln geben, die nicht aus den gemeinfamen müßten ab: |. 
geleitet werden können. 

$. 120. In demſelben Maag als die Kritif ihre . 
Aufgabe Iöft, muß fich auch eine genaue und zuſam⸗ 
menhängende Gefchichte des neuteflamentifchen Zertes | 
ergeben und umgefehrt, fo Daß eines dem andern zur , 
Probe und Gewährleiftung Dienet. | 

s Selbit was auf dem Wege der Vermuthung richtiges geleiftet . 
wird, muß ſich auf Momente der Zertgefchichte berufen 
koͤnnen, und umgekehrt müffen auch wieder fchlagende Ver⸗ 
bejlerungen die Gefchichte des Textes erläutern. 

J. 121. Für die theologifche Abzweffung der Be- 
Khäftigung mit dem Kanon bat die Wiederherftellung 
des urfpränglichen nur da unmittelbaren Werth, wo 
ter normale Gehalt irgendwie betheiliger ift. 

Keinesweges aber fol dies etwa auf fogenannte Dogmatifche 
Stellen befchränft werden, fondern ſich auf alles erftreffen, 
wat für folche auf irgend eine Weife als Parallele oder 
Exituterung gebraucht werden Tann. | 
„AI, Dies begründet den, da die Eritifche Auf— 

ar; an unendliches ift, hier nothwendig aufzuftellen- 

u Iemied zwifchen dem, was von jedem Theolo⸗ 
u wem iſt, und dem Gebiet der Virtuofität. 


Weg gilt eigentlih nur für den proteflantifchen 
Summe: van der römifch=Eatholifche hat fireng genom- 


53 6. 122— 125, 


men dad Recht zu verlangen, daß ihm bie vulgata, ohne 
daß eine Fritifche Aufgabe übrig bleibe, geliefert werde. 

$. 123. Da jeder Theologe — auch, im weiteren 

Sinne Des Wortes — um der Auslegung willen (vergl. 
$. 89,) in den Fall kommen kann (vergl. $. 121.) auch 
einer Fritifchen Ueberzeugung zu bedürfen: fo muß jeder, 
um fich die Arbeiten Der Virtuofen felbftthätig anzueig⸗ 
nen und zwifchen ihren Refultaten zu wählen, fowol 
Die bier zur Anwendung kommenden fritifchen Grund: s 
füge und Regeln inne haben, als auch eine allgemeine 
Kenntniß von den wichtigſten kritiſchen Quellen und 
ihrem Werth. 

Eine nothduͤrftige Anleitung hiezu findet ſich theils in den 
Prolegomenen der kritiſchen Ausgaben, theils wird ſie auch 
unter jenem Mancherlei mitgegeben, welches man Einleitung 
ins N. Teſt. zu nennen pflegt. 

$. 124. Bon jedem Virtuoſen der neuteſtamentiſchen 

Kritik ift alles zu fordern, was Dazu gehört, ſowol den 
Text volftändig und folgerecht überall nach gleichen 
Grundfäzen zu conftituiren, als aud einen Eritifchen 
Apparat richtig und zwekkmaͤßig anzuordnen. 

Dies find rein philologifche Aufgaben. Es ift aber nicht leicht 
zu denken, dag ein Philologe ohne Interefie am Chriften 
thum feine. Kunft daran wenden folte fie für dad neue 
Zeftament zu Iöfen, da dieſes an fprachlicher Wichtigkeit 
hinter andern Schriften weit zurüßffteht. - Sollte es indeß 
jemals der Theologie an ſolchen Virtuoſen fehlen: fo gäbe 
es auch Feine Sicherheit mehr für dasjenige, was für bie 
theologifche Abzwekkung dieſes Studiums geleiftet werden muß. 

$. 125. Bei allem bisherigen ($. 116—124,) liegt 


$. 125-120. 54 


die Vorausfezung zum Grunde, Daß eigene Auslegung 


- nur derjenige bilden kann, welcher mit dem Kanon in 
feiner Grundfprache umgeht. 

Die Eritifche Aufgabe hätte fonft nur einen Werth für den 
Ueberfezer, und zwar auch nur in dem 8. 121. beſchriebe⸗ 
nen Umfang. 

. 126. Da auch die meiſterhafteſte Ueberſezung 
nicht vermag die Irrationalitaͤt der Sprachen aufzuhe⸗ 
ben: ſo giebt es kein vollkommnes Verſtaͤndniß einer 
Rede oder Schrift anders als in ihrer Urſprache. 





— 


Unter Irrationalitaͤt wird nur dieſes bekannte verſtanden, daß 


weder ein materielles Element noch ein formelles der einen 
Sprache ganz in einem der andern aufgeht. Daher kann 
eine Rede oder Schrift vermittelſt einer Ueberſezung, mithin 


auch die Ueberſezung ſelbſt als ſolche, nur demjenigen voll: 
kommen verftändlich fein, der fie auf bie Srundfprache zu⸗ 


rußfzuführen weiß. 
$. 127, Die Urfprache der neuteftamentifchen Bücher 
iſt Die griechifche; vieles (nach $. 121.) wichtige aber 


iſt theils unmittelbar als Ueberfezung aus dem ara: 


mäifchen anzufehen, :theils bat das aramaifche mittelba⸗ 
ren Einfluß darauf geübt. 


Die früheren Behauptungen, daß einzelne Bücher unforänglic; | 


aramäifch gefchrieben ſeien, find ſchwerlich mehr zu berüft: 
ſichtigen. Vieles aber von dem, was ald Rede oder Ge: 
fpräch aufbewahrt worden, ift urfprünglich aramäifch ges 
fprochen. Der mittelbare Einfluß ifl die unter. dem Namen 

des Hebraismus befannte Sprachmobification. 
$. 128, Schon die vielfältigen Ddirecten und indie 
recten in neuteflamentifchen Buͤchern auf altteftamen: 
tifche genommenen Beziehungen machen eine genauere 


x 


wu - 


55 6. 128-131. 


Bekanntſchaft mit Diefen Büchern, alfo auch in Ihrer 
Grundfprache, nothmendig. 

Um fo mehr als diefe ſich zum Theil auf fehr wichtige Säge 58 
beziehen, worüber die Auslegung felbft gebildet fein muß, 
mithin auch ein richtiged Urtheil ‚über das Verhaͤltniß der 
gemeinen griechifchen Weberfezung des alten Teſtaments zur 
Grundfprache unerlaglich tft. 

$. 129. Je geringer die Verbreitung und die Pros 

ductivitaͤt einer Mundart iſt, um deſto weniger iſt ſie 
anders als im Zuſammenhange mit allen ihr verwand⸗ 
ten ganz verſtaͤndlich. Welches, auf das hebraͤiſche an⸗ 
gewendet, fuͤr das vollkommenſte Verſtaͤndniß des 
Kanon auch eine hinreichende Kenntniß aller ſemitiſchen 
Dialekte in Anſpruch nimmt. 

Von jeher iſt daher auch das arabiſche und rabbiniſche fuͤr die 

Erklaͤrung der Bibel zugezogen worden. 

$. 130. Diefe Forderung, welche vielerlei der Ab⸗ 

zwekkung unferer theologifchen Studien unmittelbar ganz 
fremdes in fich ſchließt, ift indeß nur an Diejenigen zu 
fielen, welche es in der eregetifchen Theologie zur Mei: 
fterfchaft bringen wollen, und zwar in diefer beftimm- 
ten Beziehung. 

Bon biefer rein pbilologifchen Richtung gilt daſſelbe was zu 
§. 124. geſagt worden iſt. 

$. 131. Jedem Theologen aber iſt aus dem Gebiet 

der Sprachfunde zuzumuthen eine gründliche Kenntniß 
der griechifchen vornehmlich profaifchen Sprache in ihren 
verfchiedenen Entwikklungen, die Kenntniß beider alttefta- 
mentifehen Grundfprachen, und. vermittelft derfelben eine 
Klare Anfchauung von dem Weſen und Umfang des » 


6. 131-133. 56 ° 


neuteflamentifchen Hebraismus; endlich, um die Arbeiten 
der Birtuofen zu benuzen, außer einer Belanntfchaft 
mit der Kitteratur des ganzen Faches, befonders ein 
felbftgebildetes. Urtheil über „das zuviel und zumenig, 
das natürliche und das erfinftelte in der Anwendung 
des orientalifchen. Ä 
Denn bierin iſt aus Liebhaberei von den einen, aus Vor: 
urtheil von .den andern, immer wieder nach beiden Seiten 

bin gefehlt worden. 


$. 132. Das vollfommne Verftehen einer Rede oder 
Schrift ift eine Kunftleiftung, und erheifcht eine Kunft: 
Ichre oder Technik, welche wir durch den Ausdrukk 
Hermeneutif bezeichnen, | 
Kunft, ſchon in einem engeren Sinne, nennen wir jebe zu: 
fammengefezte Hervorbringung, wobei wir und allgemeiner 
Regeln bewußt find, deren Anwendung im einzelnen nicht 
wieder auf Regeln gebracht werden kann. Mit Unrecht be 
fchränft man gewöhnlich den Gebrauch der Hermeneutit 
nur auf größere Werke oder fchwierige Einzelheiten. Die 
Regeln können nur eine Kunftlehre bilden, wenn fie aus 
der Natur des ganzen Verfahrens genommen find, und alfo 
auch dad ganze Verfahren umfaflen. 
$. 133, Eine folhe Kunftlehre, ift nur vorhanden, 
ſofern die Vorſchriften ein auf unmittelbar aus der 
Natur des Denkens und der Sprache klaren Grund⸗ 
fügen beruhendes Syſtem bilden. 
Sp lange bie Hermeneutit noch als ein Aggregat von einzel: 
60 nen wenn auch noch fo feinen und empfehlungswerthen 


Beobachtungen, allgemeinen und befonderen, behandelt wird, 
verdient fie den Namen. einer Kunftlehre noch nicht. 


57 $. 134—137. 


$, 134. Die proteftantifche Theologie kann Feine 
Vorftellung vom Kanon aufnehmen, welche bei der Bes 
(häftigung mit demfelben die Anwendung diefer Kunſt⸗ 
lehre ausſchloͤſſe. | 

Denn dies koͤnnte nur gefchehen, wenn man irgendwie ein 
wunderbar infpirirtes vollkommnes Verftändnig deffelben an⸗ 

naͤhme. | 

$. 135. Die neuteftamentifchen Schriften find fowol 

des inneren Gehaltes als der. äußern Verhaͤltniſſe wegen 
von befonders ſchwieriger Auslegung. 

Das erſte weil die Mitteilung eigenthümlicher ſich erft ent: 
wiffelnder religioͤſer Worftelungen in der abmeichenden 
Sprachbehandlung nicht nattonaler Schriftfteler zum großen 
Theil aus einer minder gebildeten Sphäre fehr leicht miß: 
verflanden werden kann. Lezteres weil die Umftände und 
Verhältniffe, welche den. Gedanfengang mobdificiren, uns 
großentheild unbefannt find, und erft aus den Schriften 
felbft müflen errathen werden. 

$. 136. Sofern nun der neuteftamentifche Kanon 

vermöge der eigenthuͤmlichen Abzwekkung der exegeti⸗ 
ſchen Theologie als Ein ganzes ſoll behandelt werden, 
an und fuͤr ſich betrachtet aber jede einzelne Schrift ein 
eignes ganze iſt, kommt noch die beſondere Aufgabe 
hinzu, dieſe beiden Behandlungsweiſen gegeneinander 
auszugleichen und mit einander zu vereinigen. 

Die gaͤnzliche Ausſchließung des einen oder andern dieſer cı 
Standpunfte, wie fie aus entgegengefezten theofogifchen Einfeis 
tigkeiten folgt, hat zu allen Zeiten Irrthümer und Verwir⸗ 
rungen in dad Gefchäft der Auslegung gebracht. _ 

4137. Die neuteflamentifche Specialbermenentif 
kann nur aus genaueren Beflimmungen der. allgemei- 


N 


§. 137—140. 98 


nen Kegeln in Bezug auf Die eigenthuͤmlichen Verhaͤtt— 
niſſe des Kanon beſtehen. 


Sie kann um ſo mehr nur allmaͤhlig zu der ſtrengeren Form 
einer Kunſtlehre ausgebildet werden, als ſie zu einer Zeit 
gegruͤndet wurde, wo auch die allgemeine Hermeneutik nur 
noch als eine Sammlung von Obſervationen beſtand. 


$. 138. Die Kunſtlehre der Auslegung kann auf 
zweifache Weife geftaltet werden, ift aber in jeder Faſ—⸗ 
fung der eigentliche Mittelpunkt der eregetifchen Theologie. 
Die allgemeine Hermeneutif Tann entweder ganz hervortreten, 
fo daß daS fpecielle nur als Corollatien erfcheint, oder um: 
gekehrt kann das fpecielle zufammenhängend organifirt und . 
auf die allgemeinen Grundfäze dann nur zurüfgewiefen wer: 
den. — Die Ausübung iſt zwar allerdingd durch Sprach⸗ | 
Funde und Kritik bedingt; aber die Grundfäze felbft haben 
den entfchiedenften Einfluß fowol auf die Operationen der 
Kritik, als auch auf die feineren Wahrnehmungen in ber 
Sprachkunde. 


Cu: U EEE ET a 2 


& 139. Daher giebt es auch bier nichts, weshalb 
ſich einer auf andere verlaffen dürfte: fondern jeder muß 
fich der möglichften Meifterfchaft befleißigen. 

62 Je mehr der Gegenſtand ſchon bearbeitet iſt, um deſto weniger 
darf ſich dieſe gerade in neuen Auslegungen zeigen wollen. 
$. 140. Keine Schrift kann vollkommen verſtanden 
werden als nur im Zufammenbang mit dem geſamm⸗ 
ten Umfang von Vorftelungen, aus welchem fie ber- 
vorgegangen ift, und vermittelft der Kenntniß aller Re: 
bensbeziehungen, fowol der Schriftfteller als derjenigen 
für welche fie fchrieben. 
Denn jede Schrift verhält ſich zu dem Sefammtieben, wovon 





59 $. 140-143. 


fie ein Theil ift, wie ein einzelner Saz zu der ganzen Rebe 
oder Schrift. 

$. 141. Der gefchichtlihe Apparat zur Erklärung 

des neuen. Teftamentes umfaßt daher die Kenntniß des 

älteren und neueren Judenthums, fo wie Die Kenntniß 
des geiftigen und bürgerlichen. Zuftandes in denen Ge⸗ 
genden, in welchen und. für welche die neuteftamentifchen ' 

Schriften verfaßt wurden. 

’ Daher find die altteftamentifchen Bücher zugleich das allge: 
meinfte Huͤlfsbuch zum Verſtaͤndniß ded neuen Teflamentes, 
nächfidem die altteftamentifchen und neuteftamentifchen Apo⸗ 
kryphen, die fpäteren jüdifchen Schriftfteller überhaupt, fo 
wie die Gefchichtichreiber und Geographen diefer Zeit und 
Gegend. Alle diefe wollen ebenfalls. in ihrer Grundſprache 
Fritifch und nach den hermeneutifchen Regeln gebraucht werden. 

$. 142. Viele von diefen Hülfsquellen find bis jezt 

noch weder in. möglichfter Volftändigkeit noch mit der 
gehörigen Vorficht gebraucht worden. | 

Beided gilt befonderd von ben gleichzcitigen und ſpaͤteren jü: 63 
diſchen Schriften. 

$. 143. Dieſer Geſammtapparat nimmt alſo noch 

‚auf lange Zeit Die Thaͤtigkeit vieler Theologen in Anz 

ſpruch, um Die bisherigen Arbeiten der Meifter dieſes. 

Fachs zu berichtigen und zu ergaͤnzen. 

Von einer andern Seite gehen dieſe Arbeiten in die Apologe⸗ 
tik zuruͤkk, indem die Gegner des Chriſtenthums ſich immer 
wieder die Aufgabe ſtellen, es ganz aus dem was ſchon ge: 
geben war, und zwar nicht immer als Fortſchritt und Ver: 


- befferung, zu erflären. Hieher gehört aber nur die reine 
und vollſtaͤndige Zubereitung ded. gefchichtlichen Materials. 


⸗ 


$. 119—122. 52 


$. 119. Der neuteftamentifche Kritiker hat alfo auch, 
fo wie die Pflicht denfelben Regeln zu folgen, fo auch 
Das Recht auf den Gebrauch derfelben Mittel, 

Weder kann ed daher verboten fein im Fall der Noth (vergl. 
$. 17.) Vermuthungen zu wagen, noch kann ed befondere 
Regeln geben, die nicht aus ben. gemeinfamen müßten ab- 
geleitet werben koͤnnen. 

$. 120. In demfelben Maaß als die Kritif ihre 

Aufgabe löft, muß fi) auch eine genaue und zuſam⸗ 
menhaͤngende Geſchichte des neuteſtamentiſchen Textes 
ergeben umd umgekehrt, fo daß eines dem andern zur 
Probe und Gewaährleiftung Diener. 

Selbft was auf dem Wege der Vermuthung nichtiges geleiſtet 
wird, muß ſich auf Momente der Textgeſchichte berufen 


fönnen, und umgekehrt müffen auch wieder fchlagende Vers 


befjerungen die Gefchichte des Textes erläutern. 

5 121. Für die theologifche Abzwekkung der Be- 
Ihäftigung mit dem Kanon bat die Wiederherftellung 
des urfprünglichen nur da unmittelbaren Werth, wo 
der normale Gehalt irgendwie betheiliget ift. 

Keinedweges aber fol dies etwa auf fogenannte Dogmatifche 

Stellen befchränft werden, fondern ſich auf alles erſtrekken, 
was für folche auf irgend eine Weife ald Parallele oder 
Erläuterung gebraucht werden Fann. — 

$. 122, Dies begrimdet den, da die Fritifche Auf: 
gabe ein unendliches ift, bier nothwendig aufzuftellen- 
den Unterfchied zwifchen dem, was von jedem Theolo: 
gen zu fordern ift, und dem Gebiet der Virtuofität, 


Die Forderung gilt eigentlih nur für den proteftantifchen 
Theologen; denn ber römifch=Tatholifche hat fireng genom⸗ 


A — 


53 6. 122— 125, 


men dad Recht zu verlangen, daß ihm bie vulgata, ohne 
daß eine kritiſche Aufgabe übrig bleibe, geliefert werde. 

$. 123. Da jeder Theologe — auch, im weiteren 

Sinne des Wortes — um der Auslegung willen (vergl. 
$. 89.) in den Fall kommen fann (vergl. $. 121.) auch 
einer Eritifchen Ueberzeugung zu bedürfen: fo muß jeder, 
um fich Die Arbeiten der VBirtuofen felbftthätig anzueig- 
nen und zwifchen ihren Refultaten zu wählen, fowol 
die bier zur Anwendung kommenden Fritifchen Grund: ss 
fäze und Regeln inne haben, als auch eine allgemeine 
Kenntniß von den wichtigften fritifchen Quellen und 
ihrem Werth. 

Eine nothduͤrftige Anleitung hiezu findet ſich theils in den 
Prolegomenen der kritiſchen Ausgaben, theils wird ſie auch 
unter jenem Mancherlei mitgegeben, welches man Einleitung 
ins N. Teſt. zu nennen pflegt. 

$. 124. Von jedem Virtuoſen der neuteſtamentiſchen 

Kritik iſt alles zu fordern, was dazu gehoͤrt, ſowol den 
Text vollſtaͤndig und folgerecht überall nach gleichen 
Grundfäzen zu conftituiren, als auch einen Eritifchen 
Apparat richtig und zwellmäßig anzuordnen. 

Dies find rein philologifche Aufgaben. Es ift aber nicht leicht 
zu denken, dag ein Philologe ohne Intereffe am Chriſten⸗ 
thum feine. Kunft daran wenden follte fie für das neue 
Teftament zu Iöfen, da dieſes an fprachlicher Wichtigkeit 
hinter andern Schriften weit zurüfffteht. - Sollte es indeß 
jemals der Theologie an folden Virtuoſen fehlen: fo gäbe 
es auch Feine Sicherheit mehr für dasjenige, was für die 
theologifche Abzwekkung diefed Studiums geleiftet werden muß. 

$. 125. Bei allem bisherigen ($. 116124.) liegt 


h. . . 
Bars 
m. 


6. 150-153: 62 


gefeztes aus unendlich vielen einzelnen Momenten. Die 
eigentlich gefchichtliche Betrachtung ift das Sneinander 
von beiden. 

Das eine ift nur der eigenthümliche Geift des ganzen in feis 
ner Beweglichkeit angefchaut, ohne daß fich beflimmte hat: 
fachen fondern; dad andere nur die Aufzählung der Zuflände 
in ihrer Verfchiedenheit, ohne dag fie in der Identität des 
Impulſes zufammengefaßt werden. Die geihichtlihe Be— 
trachtung ift beides, das Zufammenfaffen eined Inbegriffs 
von Zhatfachen in Ein Bild-ded innern, und die Dar: 
ſtellung ded innern in dem Audeinandertreten der Tchatfachen. 

$. 151. So ift auch jede Thatſache nur eine ges 

os fchichtliche Einzelheit, fofern beides identifch gefezt wird, ' 
das Äußere, Veränderung im zugleichjeienden, und das 
innere, Junction der fich bewegenden Kraft. 

Dos innere ift in dieſem Ausdruff als Seele gefezt, das 

” äußere ald Leib, dad ganze mithin ald ein Leben. 

$. 152. Das Wahrnehmen und im Gedaͤchtniß gFiſt⸗ 

halten der raͤumlichen Veraͤnderungen iſt eine faſt nur 
mechaniſche Verrichtung, wogegen die Conſtruction einer 
Thatſache, die Verknuͤpfung des aͤußeren und inneren 
zu einer geſchichtlichen Anſchauung, als eine freie geiſtige 
Thaͤtigkeit anzuſehen iſt. 

Daher auch, was mehrere ganz als daſſelbe wahrgenommen, 
ſie doch als That ſache verſchieden auffaſſen. | 

$. 153. Die Darftelung der räumlichen Veraͤnde⸗ 

rungen als folcher in ihrer. Öleichzeitigkeit und Folge 
iſt nicht Geſchichte fondern Chronik; und eine folche von 
der chriftlihen Kirche koͤnnte ſich nicht als eine theolo: 
gifche Difeiplin geltend machen. Ä 


63 $. 153—157. 

Denn fie gabe von dem Gefammtverlauf basjenige nicht, was 
‚in einer Beziehung ‚zur Kirchenleitung fteht. | 

$. 154. Nur der Stätigfeit wegen muͤſſen auch in 
die gefchichtliche Auffaffung ſolche Ereigniffe mit auf- 


genommen werden, Die eigentlich nicht als geſchichtliche 


Elemente anzuſehen ſind. 

Dahin gehoͤrt der Wechſel der Perſonen, welche an augezeich 
neten Stellen wirkſam waren, wenn auch ihre perſoͤnliche 
Eigenthuͤmlichkeit keinen merklichen Einfluß auf ihre oͤffent— 
lichen Handlungen gehabt hat. 

$. 155. Die geſchichtliche Auffaſſung iſt ein Talent, 

welches ſich in jedem durch das eigne geſchichtliche Le— 
ben, wiewol in verſchiedenem Grade, entwikkelt, niemals 
aber jener mechaniſchen Fertigkeit ganz entbehren kann. 

Wie im gemeinen Leben ſo quch im wiſſenſchaftlichen Gebiet 
verfaͤlſcht ein aufgeregtes ſelbſtiſches Intereſſe, mithin auch 
jedes Parteiweſen, am meiſten den geſchichtlichen Blikk. 

$. 156. Zu dem geſchichtlichen Wiſſen um das nicht 

felbft erlebte gelangt man- auf zwiefachem Wege, uns 


mittelbar aber muͤhſam zufammenfchauend duch die 


Benuzung der Quellen, leicht aber nur mittelbar durch 
den Gebrauch gefchichtlicher Darftellungen. 

Nicht leicht wirb ed auf irgend einem gefchichtlichen Gebiet 
möglich fein, auf dem der Kirchengefchichte aber gewiß nicht, 
der lezteren zu entrathen. 

$. 157. Duellen im engeren Sinn nennen wir Denk—⸗ 

mäler und Urkunden, welche dadurch für eine Thatfache 
zeugen, daß fie felbft einen Theil derfelben ausmachen. 

Geſchichtliche Darftelungen von Augenzeugen find in dieſem 
firengeren Sinn ſchon nicht mehr Quellen. Doc, verdienen 


X 


$. 157160. 64 
fie den Namen um fo mehr, je mehr fie ſich der Chronik 
nähern, und ganz anfpruchslos nur dad wahrgenommene 
wiedergeben. 
® 8. 158. Aus gefchichtlihen Darftelurigen kann man 
nur zu einer eigenen gefchichtlihen Auffafjung gelan⸗ 
gen, indem man das von dem Schriftfteller hineingetras 
gene ausfcheidet. Ä 

Dies wird erleichtert, wenn man 1 mehrere Darftelungen ber: 
felben Reihe von Thatfachen vergleichen kann, um fo mehr 
wenn fie aus verfchiedenen Gefiptöpunften genommen fi find. 

‚159. Zu dem Wiffen um einen Gefammtzuftand, 
wie er ein Bild des inneren (vergl. $. 150.) darftellt, 
gelangt man nur durch beziehende Verfnüpfung einer 
Mafle von zufammengehörigen Einzelheiten, 

- Dies iſt daher die größte alles andere voraudfezende und in 
ſich ſchließende Leiftung der gefchichtlichen . Auffafjungsgabe. 
$. 160, Die Kirchengefchichte im weiteren Sinn 
(vergl. $. 90.) fol als theologiſche Difeiplin vorzüglich 
Dasjenige, was aus der eigenthümlichen Kraft des Chri- 
ftentyums hervorgegangen ift, von dem, mas theils in 
der Beichaffenheit der in. Bewegung gefezten Organe, 
theils in der Einwirkung fremder Principien feinen 
Grund hat, unterfcheiden, und beides in feinem Her: 
vortreten und Zurufftreten zu meffen fuchen. 

Nur war ed eine fehr verfehlte Methode um deöwillen die 
Darftelung felbft zu theilen in die ber günftigen und der 
ungünftigen Ereigniffe. 

» % 161. Bon dem erften Eintritt des Chriftenthumse | 
an, alfo auch ſchon in der Zeit des Urchriftenthums, ,- 
kann man verichiedene felbft wieder mannigfaltig theil- u 


—X 


65 | . 161-164. 


; bare Functionen dieſes neuen wirkfamen Principe unter- 
: fcheiden, und. aud) in der gefchichtlichen Darftellung von 
einander fondern, 
Auch. dies gilt allgemein von allen bedeutenden gefchichtlichen 
Erfcheinungen, von allen religiöfen Gemeinfchaften nicht nur 
fondern auch von den. bürgerlichen. 
$. 162. Keine von diefen. Functionen aber ift in 
: ihrer Entwifflung ohne ihre Beziehung auf die anderen 
T vollfommen zu verftehen; und jeder als ein relatives 
“ ganze auszufondernde Zeittheil wird nur durch Die Ge⸗ 
 genfeitigkeit ihrer Einwirfungen- auf einander, was er ifl. 
Denn die lebendige Kraft ift in jedem Momente ganz gefest, 
r und kann daher nur ergriffen werden "in der gegenfeitigen 
Bedingtheit: aller verfehiedenen Functiomen. 
$. 163. Der Gefammtverlauf des Chriftenthums 
kann alfo nur volftändig aufgefaßt werden durch die 
n vielſeitigſte Combination beider Verfahrungsarten, indem 
h jede, was der andern auf einem Punkte gefehlt hat, 
is auf einem andern ergänzen muß. 
N Waͤhrend mir nur bie-eine Function verfolgen, bleibt uns die 
e, Anſchauung des Geſammtlebens aus den Augen geruͤkkt, 
n und wir muͤſſen und vorbehalten dieſe nachzuholen. Wäh: 
r⸗-. rend wir bie gleichzeitigen Züge zu Einem Bilde zufammen: 
fchauen, vermögen wir nicht. die einzelnen Elemente genau 
zu fchäzen, und müffen und vorbehalten fie an dem gleich: 70 
artigen früheren und fpäteren zu meffen. 
$. 164. Je mehr man die verfehiedenen Functionen 
is bei der gefchichtlichen Betrachtung ins einzelne und Heine 
6, Kifpaltet, deſto ‚öfter muß man - Punkte zwifcheneinfchie- 
il ben, welche das getrennt. gewefene wieder vereinigen. 
| Schleierm. W. I. 1. | € 


ae - 


m m 


& 1-1. 66 


Je groͤßer die varallelen Manſen genommen werden, 
detto länger kann man die Betrachtung der einzelnen: 
ununterbrochen terrksen. 

Die Perieden Hama ats tvfe größer ımb mäffen deſto klei⸗ 
ner fein, de größere oder Menere Functionen man behandelt. 

F. 165. Die mwichriatten Erocenpunfte indeß find 
immer ſelche, Lie nicht nur für alle Functionen des 
Chrifienrbums Ten aleihen Wertih haben, fondern auch 
für die geſchichtliche Enrwikklung außer Der Kirhe b be 
deutend ſind. 

Du tie Ericheineng des Coriftentbums fell zugleich ein welt⸗ 
geſchichtlicer Wendepunkt if: ic kenmnen dieſem andere auch 
nur in dem Mash nabe, als fie ihm hierin gleichen. 

j. 166. Die Bildung Der Lehre oder das fich zur 
Klarheis bringende fremme Selbfibewuftfein, und Die 
Geſtaltung des gemeinjamen Lebens oder der fih in 
jedem durch alle und in allen Durch jeten befriedigende: 
Gemeinſchaftstrieb, iind Die beiden fih am leichteften: 
fondernden Funcienen in der Enwikklung des Chris; 
ſtenthums. 

»ı Died giebt ſich dadurch zu erkennen, daß auf der einen Seite 
große Veränderungen vor fich gehen, während auf der andern 
alles beim alten bleibt, und für die eine Seite ein Zeitpunfty 
bebeutenb iſt ald Entwikklungsknoten, der für bie andere, 
bebeutungslos erfcheint. 

$. 167. Die Bildung des kirchlichen Lebens voled 
vorzüglich mitbeftimmt (vergl. $. 160.) durch die poll, 
tifchen Verhaͤltniſſe und den gefammten gefelligen Bu 
fand; die Entwilflung der Lehre hingegen durch den 


67 $. 167-160. 


geſammten wiſſenſchaftlichen Zuſtand, und vorzüglich 
durch die herrſchenden Philoſopheme. 

Dieſes Mitbeſtimmtwerden iſt natuͤrlich und unvermeidlich, 
bedingt mithin nicht ſchon an und für ſich krankhafte Zu: 
fände, enthält aber allerdings den Grund ihrer Mögliche 
keit. — Allgemeinere Epoche machende Punkte, welche von 
einer neuen Entwilflung der Erkenntniß auögehen, werden 
ſich in der chriſtlichen Kirche auch am meiften in der Ges 
ſchichte der Lehre, folhe hingegen welche von Entwikklun— 
gen des bürgerlichen Zuftandes ausgehen, werben fih auch 
am meiften in dem Firchlichen Leben fund geben. 

$. 168. Auf der Seite des kirchlichen Lebens fons 

dern fih wiederum am leichteften die Entwikklung des 
Eultus, d. h. der. öffentlichen Mittheilungsmweife religis- 
fer Lebensmomente, und die Entwilflung der Gitte, 
d. h. des gemeinfamen Gepräges, welches der Einfluß 
des chriftlichen Princips den verfchiedenen Gebieten des 
Handelns aufdrüfft, 

Der Gultus verhält ſich au ber Sitte wie daß befchränttere 72 
Gebiet der Kunft im engeren Sinne zu dem unbeftimmteren 
des gefelligen Lebens Überhaupt. 

$. 169. Die Entwiltlung des Cultus wird vorzuͤg⸗ 

lich mitbeftimmt durch die Befchaffenheit der dazu ge⸗ 
eigneten in der Gefelfchaft vorhandenen Darſtellungs⸗ 
mittel, und durch deren Vertheilung in der Geſellſchaft. 
Die Fortbildung der chriftlihen Sitte hingegen durch 
den Entwilklungs⸗ und Vertheilungszuftand der geiftis 
: gen Kräfte überhaupt. " 
: Nämlich was dad erfle betrifft, fo beruht die Mittheilung oder 


v der Umlauf religiöfee Erregungen, welcher nach benfelben 
€2 


6. 160172. 68 


bewirkt werben fol, lediglich auf der Darſtellung. Was 

dad andere betrifft, fo ruhen in diefem Zufland alle Motive, 
deren fich die religiöfe Gefinnung bemächtigen folk, 

$. 170. Beide aber, Sitte und Cultus, find in 

ihrer Fortbildung auch fo fehr an einander gebunden, 

daß wenn fie in dem Maaß von Bewegung ‚oder Rube 

zu fehr von einander abweichen, entweder der Cultus 


das Anfehen "gewinnt. in leere Gebräuche oder Aber: 


glauben ausgeartet zu fein, während das chriftliche Leben 
fi) in der Sitte bewährt, oder umgefehrt ruht auf der 
berrfchenden Sitte der Schein, Daß fie, während Die 
hriftliche Frömmigkeit fih durch den Cultus erhaͤlt, nur 
das Ergebniß fremder Motive darſtelle. 
In dieſer verſchiedenen Beurtheilungsweiſe bekundet ſich ein 
mit jener Ungleichmaͤßigkeit zuſammenhaͤngender innerer Ge⸗ 
genſaz unter den Gliedern der Gemeinſchaft. 
$. 171. Je ploͤzlicher auf einem von beiden Gebie- 
ten bedeutende Veraͤnderungen eintreten, um deſto meh⸗ 
teren Reactionen find fie ausgefeztz wogegen nur die 
langfameren fich als gruͤndlich bewaͤhren. 
Daß erſte verſteht ſich indeß nur von ſolchen Veraͤnderungen, 


die nicht zugleich auch mehrere Gebiete umfaſſen. Derglei⸗ 


chen werden daher leicht voreilig als Epoche machende Punkte 
angeſehen, da doch oft wenig Wirkungen von ihnen zurůtt. 
bleiben. 


$. 172. Langſame Veränderungen koͤnnen nicht als 
fortlaufende Reihe aufgefaßt, ſondern nur an einzeln 
hervorzuhebenden Punkten zur Anſchauung gebracht wer: 


den, welche Die Fortfchritte von einer Zeit zur andern 3 


darftellen. 


Bj" 1 


— — —— 


69 $. 172—176. 

Auch dieſe aber duͤrfen nicht willkuͤhrlich gewaͤhlt werden, ſon⸗ 
dern fie muͤſſen, wenn auch nur in untergeorbnetem Sinn, 
eine Aehnlichkeit haben mit Epoche machenden Punkten. 

$, 173... Die gefehichtliche Auffaffung ift auf dieſem. 

Gebiet defto volfommner, je beftimmter das Verbältniß- 
des chriftlichen Impulfes zu der fittlichen und kuͤnſtle⸗ 
rifchen Conſtitution der Gefellfchaft vor Augen tritt, 
und- je überzeugender, was .der gefunden Entwilflung 
des religiöfen Princips angehört, von dem fehrwächlichen 
und krankhaften gejchieden wird, 

Denn dadurch wird den Anfprüchen der Kircpenleitung am eine 7 
chriſtliche Geſchichtskunde genuͤgt. 

$. 174. Die kirchliche Verfaſſung Tann zumal in 

der evangeliſchen Kirche, wo es ihr an aller aͤußern 
Sanction fehlt, nur als dem Gebiet der Sitte ange 
börig betrachtet werden. 

Diefer Saz liegt, recht verftanden, jenfeit aller über dad evan- 
gelifche Kirchenrecht noch obwaltenden Streitigkeiten, und 
fpricht nur den wefentlichen Unterſchied zwiſchen bürgerlicher” 
und kirchlicher Verfaſſung aus. 

$. 175. - Diejenigen größeren Entwikklungsknoten, 

welche außer der Kirche auch das biärgerliche Leben af⸗ 
fieiren, werden fi) in der Kirche am unmittelbarften 
und flärkften in der Verfaflung offenbaren. 

Weil doch Fein anderer Theil der chriftlichen Sitte. fo fehr 
(vergl. $.- 167.) .mit den politifhen Berhältniffen zufam: 
‚menhängt. 

$. 176. Die kirchliche Verfaffung ift am meiften dazu 

geeignet, Daß ſich an ihre Entwilflung die gefchichtliche 
Darftellung des gefammten schriftlichen Lebens amreige, 


6. 176—180. 70 


Denn fie hat den unmittelbarfien Ginfluß auf den Gultus, 
verdankt ihre Haltung dem Gefammtzufland ber Sitte, und 
ift zugleich ber Ausdruft von dem Werhältnig ber religiöfen 

Gemeinſchaft zur bürgerlichen. 
$. 177. Der Lehrbegriff entwikkelt ſich einerfeits durch 
die fortgefezt auf das chriftlihe Selbftbemußtfein in feis 
nen verſchiedenen Momenten gerichtete Betrachtung, 
s andrerfeits dur das Beſtreben den Ausdruff dafür 
immer übereinflimmender und genauer. feftzuftellen. 
Beide Richtungen hemmen ſich gegenſeitig, indem die eine nach 
außen geht, die andere nach innen. Daher charakteriſiren 
ſich verfchiedene Zeiten dur) das Uebergewicht ber einen ober 
der andern. 
$. 178. Die Ordnung, in welcher hiernach die ver⸗ 
ſchiedenen Punkte der Lehre hervortreten und die Haupt⸗ 

maſſen der didaktiſchen Sprache ſich geſtalten, muß im 

großen wenigſtens begriffen werden koͤnnen aus dem 

eigenthuͤmlichen Weſen des Chriſtenthums. 
Denn es waͤre wibernatürlich, wenn Borftellungen, die dieſem 
am naͤchſten verwandt find, fich zulezt entwikkeln ſollten. 

8. 179. Nur in einem krankhaften Zuflande der 

Kirche können. einzelne perfönliche oder gar auferfirch- 

liche Verhältnifie einen bedeutenden Einfluß .auf den 

Gang und die. Ergebnifle der Beſchaͤfigung mit dem 

Lehrbegriff ausuͤben. 

Wenn dies dennoch nicht ſelten der al. gewefen ift: fo haben 
doch zumal neuere Gefchichtichreiber weit mehr ald der Wahr: 

heit gemäß iſt, auf Rechnung folder Werhälmiffe gefchrieben. 
4. 180, Je weniger die Entwikklung des Lehrbegriffs 
frei bleiben kann von Schwanfen und Zwiefpalt: um defto 


, 
U 


71 §. 180 163. 


mehr tritt auch das Beſtreben hervor theils Die Ueberein⸗ 
ſtimmung eines Ausdrukks mit den Aeußerungen des Ur⸗ 
chriſtenthums nachzuweiſen, theils ihn auf anderweitig zu⸗ 0 
geftandene nicht aus dem chriſtlichen Glauben erzeugte 
Saͤze, die dann Philoſopheme ſein werden, zuruͤkkzufuͤhren. 

Beides wuͤrde, wiewol ſpaͤter und nicht in demſelben Maag, 

geſchehen, wenn auch Fein, Streit obwaltete; denn zu jenem 
* treibt fchon der chriſtliche Gemeingeiſt, zu dem andern das 
Beduͤrfniß ſich von der Zuſammenſtimmung des zur Klar⸗ 
heit gekommenen frommen Selbſtbewußtſeins und der fpe- 
eulativen Production zu überzeugen. 

J. 181. Nur in einem krankhaften Zuſtande kann 
beides ſo gegen einander treten, daß die einen nicht 
wollen uͤber die urchriſtlichen Aeußerungen hinaus die 
Lehre beſtimmen, die andern philoſophiſche Saͤze in die 
chriſtliche Lehre einfuͤhren, ohne auch nur durch Bezie⸗ 
hung auf den Kanon nachweiſen zu wollen daß ſie 
auch Dem chriftlichen Bewußtfein angehoͤren. 

Jene wirken hemmend auf die Entwikklung der Lehre, dieſe 

‚trüben und verfälfchen eben fo dad Princip berfelben. 
. $ 182. Die Aenderungen, welche Das Verhaͤltniß 
beider Richtungen erleidet, zu kennen, gehoͤrt weſentlich 
zum Verſtaͤndniß der Eutwikklung der Lehre. 

Nur zu oft erhaͤlt man durch Verabſaͤumung ſolcher Momente 
nur eine Chronik flatt der.Gefchichte, und die theologifche 
Abzwekkung der Difciplin geht ganz verloren. 

$. 183. Eben. fb wichtig ift Kenntniß zu nehmen 
von dem Verhaͤltniß .in den Bewegungen der theoretis 
fchen Kehren und der praftifchen Dogmen, und, wo fie ” 
weit auseinander gehn, ift es natuͤrlich Die eigentliche 


6. 183-—186. 12 


Dogmengefehichte zu trennen von der Geſchichte der 
chriſtlichen Sittenlehre. 

Im ganzen iſt allerdings die eigentliche Glaubenslehre durch 
vielfältigere und heftigere Bewegungen gebildet worden; 
doch darf die entgegehgefezte Richtung u um fo weniger über: 
. fehen werden. 

$. 184. . Bedenken wir, wieviel Hälfetenntniffe. er⸗ 

fordert werden, um dieſe verſchiedenen Zweige der Kir⸗ 
chengeſchichte zu verfolgen: ſo iſt dieſes Gebiet offenbar 
ein unendliches, und poſtulirt einen großen Unterſchied 
zwiſchen dem was jeder inne haben muß, und dem 
was (vergl. $. 92.) nur durch die Vereinigung, aller 
Birtuofen gegeben ift, | 

Zu Dielen Hülfskenntniffen. gehört, wenn alles im Aufaminen: 
bang verflanden werben foll, die gefammfe irgend zeit» 
verwandte Geſchichtskunde, und, wenn alles aus ben Quel⸗ 
len entnommen werden ſoll, das ganze betreffende philolo⸗ 
giſche Studium und vornehmlich die diplomatiſche Kritik. 

$. 185. Im allgemeinen kann nur geſagt werden, 

dag aus dieſem unendlichen Umfang jeder Theologe 
dasjenige inne haben muß, was mit feinem -felbftändi= 
gen Antheil an der Kirchenleitung zufammenbängt. 

Diefe dem Anfchein nach fehr befchränfte Formel fezt aber vor: 
aus, daß jeder außer. feiner beflimmten localen Thätigkeit 

18 auch einen allgemeinen wenn gleich in feinen Wirkungen 
nicht beflimmt nachzumeifenden Einfluß auszuüben firebt. 

$. 186. Wie nun der jedesmalige Zuſtand, aus 

welchem ein neuer Moment entwikkelt werden fol, nur 
aus der gefanınıten Vergangenheit zu begreifen if, zus 
nächft aber Doch der Iezten Epoche machenden Begeben- 


73 $. 196-190. 


heit angehört: fo ift Die richtige Anſchauung von dieſer, 
durch alle fruͤheren Hauptrevolutionen nach Maaßgabe 
ihres Zuſammenhanges mit derſelben deutlich gemacht, 
das erſte Haupterforderniß. | 

Daß bier Feine beſondere Ruͤkkſicht darauf genommen werben 
Tann, ob der gegenwärtige Moment ſchon mehr die Tünftige 
Epoche vorbereitet, liegt am Tage; benn Died felbft muß 
zunächft aus feinem Verhaͤltniß zur lezten beurtheilt werden. - 

$. 187. Dantit aber dieſes nicht. eine‘ Reihe einzel: 

ner Bilder ohne Zuſammenhang bleibe, müffen fie ver- 
bunden werden durch das nicht duͤrftig ausgefüllte Nez 
(vergl. $. 91.) der- Hauptmomente aus jedem Eirchen- 
gefchichtlichen Zweige in jeder Periode, 

Und dieſes muß als Fundament ſelbſtaͤndiger Thaͤtigkeit auch 
ein wo moͤglich aus verfgiebenartigen Darftelungen zufam- 
mengefchautes fein. 

$. 188, Zu einer lebendigen auch als Impuls kraͤf⸗ 

tigen geſchichtlichen Anſchauung gedeiht aber auch dieſes 
nur, wenn der ganze Verlauf zugleich (vergl. $. 150.) 
als die Darftellung des chriftlihen Geiftes in feiner » 
Bewegung aufgefaßt, mithin alles auf Ein inneres be⸗ 
zogen wird. 

Erſt unter dieſer Form kann die Kenntniß des Geſammtver— 
laufs auf die Kirchenleitung einwirken. 

$. 189. Jede locole Einwirkung erfordert eine ge: 

nauere und nach Maaßgabe des Zuſammenhanges mit 
der Gegenwart der Vollſtaͤndigkeit annaͤhernde Kennt⸗ 
niß dieſes befonderen Gebietes. 

Die Regel mobificirt fich von felbft nad) dem Umfang der Lo⸗ 
calität, indem die Eleinfte einer einzelnen Gemeine air ww 


$. 189—193. 74 
dem Fall ift eine befondere Geſchichte nicht zu haben, fon: 
dern nur ald Theil eines größeren ganzen gelten zu koͤnnen. 
§. 190. Jeder muß aber auch wenigſtens an einem 
kleinen Theil der Geſchichte ſich im eigenen Aufſuchen 
und Gebrauch der Quellen uͤben. 
Sei es nun, daß er nur beim Studium genau und beharrlich 


auf die Quellen zuruͤkkgehe, oder dag er ſelbſtaͤndig aus 


den Quellen zufammenfeze. Sonſt möchte einem ſchwerlich 

auch nur fo. viel hiſtoriſche Kritik zu Gebote fliehen, ald zum 

richtigen Gebrauch abweichender Darftellungen erfordert wird. 

$. 191. Eine über diefen Maafftab binaus gehende 

Befchäftigung mit der Rirchengefchichte muß n neue Leis 
ftungen beabfichtigen. 

Nichts iſt unfruchtbarer ald eine Anhäufung von zeſchichtüchem 


Wiſſen, welches weder praktiſchen Beziehungen dient, noch 


ſich anderen in der Darſtellung hingiebt. 
$. 192. Dieſe koͤnnen ſowol auf Berichtigung oder 
Vervollſtaͤndigung des Materials, als auch auf groͤßere 
Wahrheit und Lebendigkeit der Darſtellung gehen. 


Die Mängel in allen dieſen Beziehungen fü nd noch unver 
kennbar, und leicht zu erflären. 


$. 193, Das kirchliche Intereſſe und das wiſſen⸗ 
ſchaftliche koͤnnen bei der Beſchaͤftigung mit der Kir⸗ 
chengefchichte nicht in Widerfpruch mit einander gerathen. 


. Da wir und befcheiden für, andere Feine Regeln zu geben, be: 
ſchraͤnken wir den Saz auf unſere Kirche, welcher, als einer 


forſchenden und ſich ſelbſt fortbildenden Gemeinſchaft, auch 


die vollkommenſte Unpattheilichkeit nicht zum Nachtheil ge⸗ 
reichen ſondern nur förderlich fein kann. Darum darf auch 
das lebhafteſte Intereſſe des evangeliſchen Theologen an ſei⸗ 
ner Kirche doch weder ſeiner Forſchung noch ſeiner Darſtel⸗ 


— — en 


— A — — — — — 


95 $. 194. 1905. 


lung. Eintrag ur Und eben fo wenig ift zu fürchten, 
daß die Refultate der Forſchung bad Kirchliche Intereſſe 
ſchwaͤchen werben; fie Finnen ihm im ſchlimmſten Fall nur 
ben Impuls geben, zur Befeitigung der erkannten Unvoll⸗ 
kommenheiten mitzuwirken. 
$. 194, Die firchengefchichtlichen Arbeiten eines jeden 
müffen theils aus feiner Neigung bervorgehen, theils 
durch die Gelegenheiten beftimmt werden, die fih ihm 
darbieten.- 
Ein lebhaftes sheologifches Intereſſe wird immer die ef den 
. Iezten zuzuwenben, oder für erftere. auch die leztere herbei⸗ 
” zufepaffen wiffe. | . 





Dritter Abfhnitt, au 
Die geſchichtliche Kenntniß von dem gegen= 
wärtigen Zuſtande des CEhriſtenthums. 


$. 195. Wir haben es bier zu thun (vergl, $. 94—97.) 
mit Der dogmatifchen Theologie, als der Kenntniß der 
jegt in der evangeliſchen Kirche geltenden Lehre, und 
mit der kirchlichen Statiſtik, als der Kenntniß des ge⸗ 
ſellſchaftlichen Zuſtandes in allen wverſchiedenen Theilen 
der chriſtlichen Kirche. 

Der. bier der dogmatiſchen Theologie angewieſene Ort, welche 
fonft auch unter dem. Namen der fuftematifhen Theologie 
‚sine ganz andere Stelle einnimmt, muß fich. felbft vermit: 
‚self der weiteren ‚Ausführung rechtfertigen. Hier iR wur 


8. 195. 196. 76 


nachzuweifen, daß: die beiden genannten Difciplinen. die Ueber: 
fehrift in ihrem ganzen Umfang erfchöpfen. Dies erhellt 
daraus, daß es eigentlich in der Kirche, wie fie ganz Ge: 
meinſchaft ift, nichts zu erfennen giebt, was nicht ein Theil 
ihred gefelfchaftlichen Zuftandes wäre.. Die Lehre iſt nur 
aus dieſem, weil ihre Darſtellung einer eigenthuͤmlichen 
Behandlung fähig und bedbuͤrftig iſt, heraus genommen. 
Dies konnte allerdings mit anderen Theilen des geſellſchaft⸗ 
lichen Zuſtandes auch geſchehen; ſolche ſind aber noch nicht 
als theologiſche Diſciplinen beſonders bearbeitet. Kann 
aber in Zeiten wo. die Kirche getheilt iſt (nach $. 98.) nur 
jede einzelne Slirchengemeinfchaft ihre "eigene Lehre dogma⸗ 
tiſch bearbeiten: ſo fragt ſich, wie kommt der evangeliſche 
| Sheologe zur Kenntniß der in andern chriftlichen. Kirchen: 
gemeinfchaften geltenden Lehre, und welchen Ort kann unfere 
Darftelung dazu anmweifen? Am unmittelbarften durch die 
dogmatiſchen Darſtellungen welche fie ſelbſt davon geben, 
die aber fuͤr ihn nut geſchichtliche Berichte. werden. Der 
Ort aber in unſerer Darſtellung iſt die bis auf den’ gegen⸗ 
waͤrtigen Moment verfolgte Geſchichte -der chriftlichen Lehre, 
für welche jene Darftelungen bie ächten Quellen find. Aber 
auch die Statiftif kann bei jeber Semeinfchaft “einen befon- 
deren Ort haben für die Lehre derſelben. 


J. Die dodmatiſche Tprologie. 


$. 196, Eine dogmatifche Behandlung der Lehre ifl 
weder möglich ohne eigne Ueberzeugung, noch ift notbs 
wendig, daß alle Die ſich auf Diefelbe Periode derfelben 
Kirchengemeinfchaft beziehen, unter ſich übereinftimmen. 
Beides könnte man daraus ſchließen wollen, daß ſie es nur 
(vergl. $. 97. u: 98.) mit der zur gegebenen Zeit ‚geltenden 
Echre zu thım habe. Allein wer von diefer nicht überzeugt 


77 | 8. 106. 197. 


if, kann zwar über biefelbe, und auch über die Art wie ber 
Zuſammenhang darin gedacht wird, Bericht erftatten, aber 
nicht dieſen Zuſammenhang durch feine Aufſtellung bewäh: 
ren. Nur dieſes lezte aber macht die Behandlung zu einer 
dogmatiſchen; jenes iſt nur eine geſchichtliche, wie einer und 
derſelbe ſie bei gehoͤriger Kenntniß auf die gleiche Weiſe von 
allen Syſtemen geben kann. — Die gaͤnzliche Uebereinſtim⸗ 
- mung aber:ift in der evangeliſchen Kirche deshalb nicht noth⸗ 
wenbig, weil auch zu berfelben Zeit bei und verfchiedenes 
neben. einander gilt. Alles nämlich ift ald geltend anzus 
fehen, was amtlich behauptet und vernommen wird, ohne ss 
amtlichen Widerfpruch zu erregen. Die Grenzen diefer Dif: 
ferenz find daher allerdings nach Zeit und  Umflänben weiter 
- und enger geſtekkt. 
.$ 197. Weder eine bewahrende Auflellung eines 
Inbegriffs von uͤberwiegend abweichenden und nur die 
Ueberzeugung des einzelnen. ausdruͤkkenden Saͤzen wuͤr⸗ 


den wir eine Dogmatit nennen, noch auch eine folche, 
die in einer Zeit auseinandergehender Anfiehten nur 


dasjenige aufnehmen wollte, worüber gar fein Streit 


obwaltet. 


Das erſte wird niemand in Abrede ſtellen. Aber auch die von 
da ausgehende Streitfrage, ob Lehrbuͤcher wirklich fuͤr dog⸗ 
matiſche gelten koͤnnen, welche uͤber die geltende Lehre nur 
gefchichtlich berichten, bewaͤhrend aber nur Saͤze aufſtellen, 
gegen welche amtlicher Einſpruch erhoben werden könnte, 
gereicht: noch unferm Begriff zur Beſtaͤtigung. — Eine le: 
diglich irenifche Zufammenftellung wird großentheild fo dürf: 
tig und unbeftimmt audfallen, daß es nicht nur um eine 
Bewährung hervorzubringen überall an dem Mittelgliedern 
fehlen wird, fondern auch an der nöthigen Schärfe der Be 
grifföbeflimmung um der Darftellung Vertrauen ya verkhafen. 


$. 198--200. 78 
$. 198, Die :dogmatifche Theologie hat fuͤr die Reis |; 


tung der. Kirche zundchft den Nuzen, zu zeigen wie 


mannigfaltig und bis auf welchen Punkt das Princip 
der laufenden Periode fich nach allen Seiten entwilkkelt 
hat, und wie ſich dazu die der Zukunft anheim fallen⸗ 
den Keime verbeſſerter Geſtaltungen verhalten. Zugleich 


sa giebt fie. der Ausuͤbung die Norm für den volksmaͤßi⸗ 


gen Ausdrukk um. die Ruͤkkehr alter Verwirrungen zu 
verhuͤten und neuen zuvorzukommen. 


| Diefes Antereffe.der. Ausübung faͤllt Vediglich in die, erhaltende. 


Function der Kirchenleitung, und urfprünglich hievon tft die - 


allmählige Bildung der Dogmatik audgegangen. "Die Theis 
lung des erften erflärt fh aus dem, was über den Gehalt 
eines jeben Momented im algemeinen (oeigl. * 91) ge: 
fagt if. 0 * 


6. 199. In jedem fuͤr ſich darſtellbaren Moment 
(vergl. $. 93.) tritt Das was in der Lehre aus der lezt⸗ 
vorangegangenen Epoche berührt, als das am meiften- 


kirchlich beftimmte auf, dasjenige aber, wodurch mehr 
der folgenden’ Bahn gemacht wird, als von einzelnen 
ausgehend. 


Das erſte nicht nur mehr kirchlich beſtimmt as daB lezte, fon: 
bern auch mehr als das aus früheren Perioden mit herüber: 


genommene; das leztere um ſo mehr nuͤr auf einzelne zu⸗ 


ruͤkzufuͤhren, je weniger noch eine neue Geſtaltung fich be⸗ 
ſtimmt ahnden laͤßt. 


$. 200. Alle Lehrpunkte, welche durch das die Pe⸗ 
riode dominirende Princip entwikkelt ſind, muͤſſen. unter 


ſich zuſammenſtimmen; wogegen alle andern, ſo lange 


man von ihnen nur ſagen kann, daß ſie dieſen Aus⸗ 


79 8. 200-203. 


gangspunkt nicht haben, als unzuſammenhangende Diele 
heit erfcheinen. | 

Das bominirende Princip Tann aber felbft verfchieden aufs - 
gefaßt fein, und daraus entfliehen mehrere in fich zufammen: . 

haͤngende, aber vor einander verfchiebene Dogmatifche Dar- 
ſtellungen, welche, und vieleicht nicht mit Unrecht, aufs 
gleiche Kirchlichkeit Anſpruch machen. — Wenn die hetero- 
genen vereingelten Elemente zufammengehen;, geben fie ſich 
entweder ald eine neue Auffaffung des ſchon dominirenden 
Princips zu erkennen, oder fie verfünbigen die Entwikklung 
eines neuen. 

$. 201. Wie zur voßftändigen Kenntniß des Zu⸗ 

ſtandes der Lehre nicht nur dasjenige gehoͤrt, was in 
die weitere Fortbildung weſentlich verflochten iſt, ſon⸗ 
dern auch das was, wenn es auch als perſoͤnliche An⸗ 
ſicht nicht unbedeutend war, doch als ſolche wieder vers 
ſchwindet: fo muß. auch eine ‚umfaffende dogmatifche 
Behandlung alles in ihrer " Kirchengemeinfchaft gleich: 
jeitig vorhandene verhälmißmäßig beräfffichtigen. 

Der Drt hiezu muß fi immer finden, wenn. in dem Beſtre⸗ 
ben ben aufgeftellten Zufammenhang_ zu ‚bewähren, Verglei⸗ 
hungen und Parallelen nicht verfaumf werden. - 

$. 202, Eine dogmatifche Darftelung ift deſto volls 

fommner, je mehr fie neben dem affertorifchen auch 
divinatorifch ift, | 

In jenem zeigt ſich die Sicherheit der eignen Anficht; in die⸗ 
fem die Klarheit in der Auffaffung ded Gefammtzuflandes. 

$. 203. Jedes Element der Lehre, welches in dem 

Sinn conftruirt ift, Das .bereits. allgemein anerkannte 
zuſamt den natürlichen Folgerungen Daraus KK u 


g8. 203-206. Ä 80 
halten, ift orthodor; jedss in der Tendenz conftruirte, 


s den Lehrbegriff beweglich zu erhalten und andern -Auf- 


-. faffungsweifen Raum zu machen, ift beterobor. 

Es fcheint zu eng, ‚wenn man biefe Ausbrüßfe audfchliegend 
auf das Verhaͤltniß der Lehrmeinungen zu einer aufgeftellten 
Norm beziehen will; derfelbe Gegenfaz kann auch ſtatt fin: 
den, wo ed eine ſolche nicht giebt. Nach obiger Erklärung 
fann vielmehr aus der orthodören Richtung erft das Sym⸗ 
bot hervorgehen, "und fo iſt ed oft genug geſchehen. Was 

aber fremd fcheinen kann an biefer Erklärung, iſt) daß fie 
gar nicht auf den Inhalt der Säze an und für ſich zurüßf: 


— 2 4 U 4 


"geht; und doch rechtfertigt: ſich auch dieſes leicht bei naͤherer | 


Betrachtung. 
$. 204. Beide find, wie für den. gefehicelichen 


Gang des Chriftenthums überhaupt jo auch für jeden . 


bedeutenden Moment als folchen, gleich wichtig: - 
Wie es bei aller Sleichförmigkeit doch Feine wahre Einheit 
gäbe ohne die erften: fo bei aller Verſchiedenheit doc, Feine 
bemußte: freie Beweglichkeit ohne die lezten. 

:$,.205, Es ift falfche Orthodoxie auch dasjenige in 
der dogmatifchen Behandlung noch fefthalten zu wollen, 
was in der öffentlichen kirchlichen Mittheilung ſchon 
ganz antiquirt ift, und auch) durch den. wiffenfchaftlichen 
Ausdrukk feinen beftimmten Einfluß auf andere Lehr: 
ſtuͤkke ausübt. 

Eine folhe Beſtimmung muß offenbar wieder beweglich ge: 

. macht, und bie Stage auf den Punkt zurüßfgeführt werden, 

wo fie vorher ſtand. 

$. 206. Es iſt falſche Heterodoxie auch ſolche For: 
er meln in der dogmatiſchen Behandlung anzufeinden, 
welche in der kirchlichen Mittheilung ihren wohlbegruͤn⸗ 


81 $. 206--209. 


beten Stüzpunft haben, und deren wifjenfchaftlicher- Aus: 

drukk auch ihr Verhaͤltniß zu andern chriftlichen Lehr: 

ſtuͤkken nicht verwirrt. . 

Hierdurch wird alfo die Enechtifche Bequemlichkeit keinesweges 
gerechtfertigt, welche alleö, woran fi) viele erbauen, flehen 
laffen will, wenn es fid) auch mit den Grundlehren unfered 
Glaubens nicht verträgt. 

$. 207. Kine dogmatifche -Darftellung für Die evan⸗ 

gelifche Kirche wird beiderlei Abweichungen vermeiden, 

und obnerachtet der von ung in Anfpruch genommenen 

Beweglichkeit des Buchftaben doch können in allen 

Hauptlehrftüffen orthodor fein; aber auch, obnerachtet 

fie fih nur an das geltende hält, doch an einzelnen 

Drten auch heterodores in Gang bringen muͤſſen. 

. Das bier aufgeflellte wird, wenn diefe Difciplin fich von ihrem 
Begriff aud gleichmäßig entwikkelt, immer dad natürliche 
Verhaͤltniß beider Elemente fein, und ſich nur andern müffen, 
wenn lange Zeit eined von beiden Ertremen geherrfcht hat. 

$. 208. Jeder auf einfeitige Weile neuernde oder 

das alte verherrlichende Dogmatifer ift nur ein unvoll- 
fonımnes Organ der Kirche, und wird von einem faljch 
beterodoren Standpunft aus auch die fachgemäßefte Or⸗ 
thodoxie für falfche erklären, und von einem falſch or⸗ 
thodoxen aus auch die leiſeſte und unvermeidlichſte He⸗ 
terodoxie als zerſtoͤrende Neuerung bekriegen. 

Dieſe Schwankungen ſind es vornehmlich, welche bis jezt faſt se 
immer verhinderten daß die dogmatiſche Theologie der evan⸗ 
geliſchen Kirche ſich nicht in einer ruhigen Fortſchreitung 
entwikkeln konnte. 

$. 209. Jeder in die dogmatiſche Zufammenkteiung 

Schleierm. W. J. ,J. 3 


6. 200-211. 82 


‚aufgenommene Lehrſaz muß die Art wie er beſtimmt iſt 


89 


bewaͤhren, theils durch unmittelbare oder mittelbare Zu⸗ 
cuͤkkfuͤhrung feines Gehaltes auf den neuteſtamentiſchen 
Kanon, theils durch die Zuſammenſtimmung des wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Ausdrukks mit der Faſſung verwandter Saͤze. 

Alle Säze aber, auf welche in dieſem Sinn zuruͤkkgegangen 


wird, unterliegen berfelben Regel; fo daß es hier feine an: 
dere Unterordnung giebt, ald daß diejenigen Saͤze am we: 
nigften beider Operationen bedürfen, für welche ber volks— 
mäßige, der fchriftmäßige und der wiffenfchaftliche Ausdrukk am 
meiften identiſch find, fo daß jeder Glaubensgenoſſe fie gleich 
an der Gewißheit feines unmittelbaren frommen Selbſtbewußt⸗ 
feind bewährt. — Diefe Unterfcheidung wird wol zurüßfblei: 


ben von der, wie fie gewöhnlich gefaßt wurde ſchon als anti: _ 


quirt zu betrachtenden, von Zundamentalartiteln und anderen. 


$. 210. Wenn fih die Behandlung des Kanon be- 
deutend Andert,. muß ſich auch Die Art der Bewährung 
einzelner Lehrfäze andern, obnerachtet ihr Sue uns 
verändert derfelbe bleibt. 
Das orthodore dogmatifche Intereſſe darf niemald den eregetis 


[chen Unterfuchungen in den Weg treten oder fie beherrfchen; 
aber dad Wegfallen einzelner fogenannter Beweiöftellen ift 
auch an und für fich Fein Beugniß gegen die Richtigkeit 


eined geltenden Lehrſazes. Wogegen fortgeltende Fanonifche |' 


Bewährung einem Lehrſaz Sicherheit gewähren muß gegen 
die heterodore Tendenz. 


$. 211, Für Säge, welche den_eigenthümlichen Cha- 
rakter der gegenwärtigen Periode beftimmt ausfprechen, 
fann das Zurüffführen auf das Symbol die Stelle der 


‚Tanonifchen Bewährung vertreten, wenn. wir ung die 
damals geltende Auslegung noch aneignen können, 


um 





83 8211-21. 

In biefen Fallen wird es auch rathfam fein die Uebereinfim- 
mung mit dem Symbol hervorzuheben, um dieſe Säge be: 
flimmter von anderen (vergl. $. 199. 200. 203.) zu unter: 
ſcheiden. Daffelbe gilt aber keinesweges für Säze, welche 
aus früheren Perioden durch reine Wiederholung in das 
Symbol der laufenden herüber genommen find. 

$. 212, Da der eigenthämliche Charakter der evan⸗ 
gelifchen Kirchenlehre ‚unzertrennlich ift von dem durch 
den Ausgang der Reformation erft firirten Gegenfaz 
zwifchen der evangelifchen und römifchen. Kirche: fo ift 
auch jeder auf unfere Symbole zurüffzuführende Saz 
nur in fofern vollftändig bearbeitet, als er den Gegenfaz 
gegen die correfpondirenden Saͤze der römifchen Kirche 
in fich trägt. | 

Denn weder ein Saz, in Beziehung auf welchen der Gegen 
faz unfererfeitd fchon wieder aufgehoben wäre, noch einer, 
dem dieſer Gegenfaz fremd wäre, koͤnnte hinreichende Be⸗ @ 
währung in der Beziehung auf dad Symbol finden. 

§. 213. Der ſtreng didaktiſche Ausdrukk, welcher 
durch die Zuſammengehoͤrigkeit der einzelnen Formeln 
dem dogmatiſchen Verfahren ſeine wiſſenſchaftliche Hal⸗ 
tung giebt, iſt abhaͤngig von dem jedesmaligen Zuſtand 
der philoſophiſchen Diſciplinen. 

Theils wegen des logiſchen Verhaͤltniſſes der Formeln zu ein⸗ 
ander, theils weil viele Begriffsbeſtimmungen auf pſycholo⸗ 
giſche und ethiſche Elemente zuruͤkkgehen. 

4. 214. Das dialektiſche Element des Lehrbegriffs 
kann ſich an jedes philoſophiſche Syſtem anſchließen, 
welches nicht das religioͤſe Element entweder uͤberhaupt 
oder in der beſondern Form, welcher das Chriſtenthum 

52 


6. 214-217. 84 


zundchft angehören will, Durch feine Behauptungen aus- 
ſchließt oder ablaugnet. 

Daher alle entſchieden materialififchen und fenfualiftifchen 
Syſteme, die man aber wol ſchwerlich für wahrhaft philo: 
fophifch gelten laffen wird — und alle eigentlich atheifti- 
ſchen werden auch dieſen Charakter haben — nicht für die 
dogmatifhe Behandlung zu brauchen find. Noch engere 
Grenzen im allgemeinen zu ziehen iſt ſchwierig. . 

$, 215. Einzelne Lehren können Daher fowol in 

gleichzeitigen dDogmatifchen Behandlungen verfchieden ge⸗ 
faßt fein, als auch zu verfchiedenen Zeiten verfchieden 
lauten, während in beiden Fällen ihr. religioͤſer Gehalt 
keine Verſchiedenheit darbietet. 

a Wegen Verſchiedenheit der gleichzeitig beſtehenden oder auf 
einander folgenden Schulen und ihrer Terminologien. Solche 
Differenzen werden aber auch nur durch Mißverſtaͤndniß 
Gegenſtand eines dogmatiſchen Streites. 

$. 216. Eben fo kann ein Schein von Achnlichkeit 

entftehen zwifchen Sägen, deren religiöfer Gehalt den 
noch mehr oder weniger verfchieden iſt. 

Nicht nur kann fih im einzelnen die Differenz verfchiedener 
‚theologifher Schulen derfelben Kirche verbergen hinter der 
Identitaͤt der wiffenfchaftlichen Terminologie, fondern auch 
proteftantifche und Fathölifche Säze, zumal bei einiger Ent: 
fernung von den fymbolifchen Hauptpunften, koͤnnen gleich⸗ 
bedeutend erſcheinen. 

$. 217. Die proteſtantiſche dogmatiſche Behandlung 

muß danach ſtreben das Verhaͤltniß eines jeden Lehr⸗ 
ſtuͤkks zu dem unſere Periode beherrſchenden. Gegenfaz 
zum klaren Bewußtſein zu bringen. 


85 6. 217—219. 


Dies iſt ein nur auf diefem Wege zu befriedigendes Beduͤrfniß 
der Kirchenleitung, in welches unrichtige Vorftelungen von 
dem Zuſtande dieſes Gegenfazed, ob und wo er durch An: 
näherung beider Theile ſchon im Verſchwinden begriffen 

ſei, oder umgekehrt ob und wo er fich erft beflimmter zu 
entwikkeln anfange, die fchwierigflen Werwirrungen hervor: 
bringen muß. | 

$. 218. Die dogmatifche Theologie ift in ihrem gan⸗ 

zen Umfang ein unendliches, und bedarf einer Scheis 
dung des Gebietes beſonderer Virtuoſitaͤt und des Ge⸗ 
meinbeſi izes. | 

Diefer bezieht ſich aber natürlich nur auf den Umfang des zu % 
verarbeitenden Stoffes, nicht auf die Sicherheit und Stärke 
der Ueberzeugnng, oder auf die Art wie diefe gewonnen wird. 

$. 219, Bon jedem evangelifchen Theologen ift zu 

verlangen, daß er im Bilden einer eignen Ueberzeu⸗ 
gung begriffen fei über alle eigentlichen Derter des Lehr⸗ 
begriffs, nicht nur fo wie fie fih aus den Principien 
der Reformation an fi und im Gegenfaz zu den roͤ⸗ 
mifchen Lehrfäzen entwikkelt haben, fondern auch fofern 
fi) neues geftaltet hat, deſſen für den Moment wenig- 
ſtens gefchichtliche Bedeutung nicht zu überfehen ift. 

Unter einem Ort verftehe ich einen folhen Sa; oder Inbegriff 
von Säzen, welche theild im Kanon und Symbol einen 
beftimmten Siz haben, theild nicht übergangen werben koͤn⸗ 
nen, ohne. daß andere von demfelben Umfang und Werth 
dunkel und unverfländlic werden. — Der Ausdrukk im 
Bilden der Ueberzeugung begriffen fein fchließt keinesweges 
einen ffeptifchen Zufland ein, fondern nur dad dem Geifl 
unferer Kirche wefentlihe innere Empfänglichbleiben für 
neuere Unterfuchungen, infofern theils die Behandlung bes 


$. 219-222. 86 
Kanon fih ändern theild eine andere Quelle für den dog- 
matifchen Sprachgebrauch fich eröffnen kann. Auch bezieht 
biefe Forderung ſich zunächft nicht auf den Glauben, fo wie 
er ein Gemeingut ber Chriften ift, fondern auf bie fireng 
didaktifche Faſſung der Audfagen über denfelben. 
$. 220. Das dogmatifche Studium muß daher be: 
sginnen mit Der Auffaffung und Prüfung einer oder 
mehrerer fireng zufammenhängender Darftellungen des 
kirchlich feftgeftellten, als weiterer Ausbildung der ihrer 
Natur nach nur fragmentarifchen Symbole. 
Dogmengefchichte muß dabei, wenn auch nur fo wie auch ber 
Laie die Grundzüge davon inne haben kann, nothwendig 
vorauögefezt werden. — Man unterfcheibe übrigens und 
fiele zufammen ſolche Darftelungen, welche ihre Säze über: 
wiegend aus dem fombolifchen Buchftaben entwikkeln, und 
- folche, welche dem Geift der Symbole treu zu bleiben be: 
haupten, wenn fie auch ihren Buchflaben ebenfalls der Kri⸗ 
tik unterwerfen. | 
$. 221. In Bezug auf Das neue aus dem Sym⸗ 
bol nicht. verftändliche muß, inwiefern es in dieſes Ge⸗ 
biet gehöre, zunaͤchſt Die Betrachtung entfcheiden, ob 
mebreres auf einen gemeinfamen Urfprung zuruͤkkweiſt 
und eine gemeinfame Abzwekkung verraͤth. 
Denn je mehr dies der Fall ift, um defto ficherer Bann ein 
geichichtliched Eingreifen folcher Anfichten vermuthet werden. 
$. 222. Genaue Kenntniß aller gleichzeitigen Be⸗ 
bandlungsmweifen und ſchwebenden Streitfragen fo wie 
aller gewagten Meinungen, und fefles Urtheil über 
Grund und Werth diefer Formen und Elemente bilden 
das Gebiet der Dogmatifchen Virtuoſitaͤt. 


87 . 79077 

Das feſte Urtgeil iſt zu verſtehen mit ‚Vorbehalt ber frifchen: 
Empfänglicykeit (vergl. 8. 218.) die dem Meifter nicht min: * 
der nothmwendig iſt ald dem Anfänger. — Unter gewagten 
Meinungen find nicht nur die ephemeren Erfcheinungen lau: 
nenhafter und ungeorbneter Perfönlichkeit zu verftehen, fon: 
dern auch alle was als eigentlich Franfhaft auf antichriſt⸗ 
liche oder mindeftend antievangelifche Impulfe zu rebuciren 
ift und Gegenfland der polemifchen Ausübung wird.- 


$. 223. In der bisherigen Darftellung ift auf die 
jezt überwiegend übliche Theilung der Dogmatifchen 
Theologie in die Behandlung der theoretifchen Geite 
des Kehrbegriffs oder die Dogmatik im engeren Sinn, 
und in die Behandlung der praftifchen Seite nder die 
hriftliche Sittenlehre, um fo weniger Ruͤkkſicht genoms 
men, als Diefe Trennung nicht ale weſentlich angefehen 
werden. kann; wie fie denn auch weder überhaupt noch 
in der evangelifchen Kirche etwas urſpruͤngliches ift. 
Weder die Bezeichnungen theoretifh und praktiſch noch die 
Ausdrüffe Glaubens: und Sittenlehre find völig genau. 
Denn die chriftlichen Kebenöregeln find auch theoretifche Säze 
ald Entwilflungen von dem chriftlichen Begriff ded guten; 
und fie find nicht minder Glaubensfäze wie die eigentlich 
dogmatifchen, da fie ed mit demfelben chrifllih frommen 
Selbfibemwußtfein zu thun haben, nur fo wie es fich als 
Antrieb Eund giebt. — Wenn nun gleich nicht geläugnet 
werden kann, daß die vereinigte Behandlung beider einer 
in vieler Hinficht unvolllommenen Periode der theologifchen 
Wiſſenſchaften angehört: fo läßt fich doch eine fortichreitende 
Verbeſſerung auch diefed Gebietes fehr wohl ohne eine folche 
Trennung denfen. 
$. 224, Wenn die Trennung beiderlei Sägen den os 


$. 224—226. 88 

Bortheil gewährt, Leichter in ihrer Zufammengebörigkeit 
aufgefaßt zu werden: fo bat fie der chriftlichen Sitten⸗ 
lehre noch den befonderen Vortheil gebracht, daß fie 
nun eine ausführlichere Behandlung erfährt. 

Das leztere ift indeg nicht welentlich eine Folge der Trennung. 
Denn ed läßt fi) aud eine vereinigte Behandlung denken 
in umgelehrfem Verhaͤltniß ald wirklich früher flatt gefun- 
den hat; und dann würde derfelbe Vortheil auf Seiten ber 
Dogmatik gewefen fein. Dem erften fieht gegenüber, daß 
eine wohlgeordnete lebendige Wereinigung beider eine vor:, 
zügliche Sicherheit dagegen zu gewähren fcheint,. daß Die 
eigentlichen Dogmatifchen Säze nicht fo leicht. ſollten in geift- 
loſe Formeln noch die ethifchen in bloß Außerliche Vor: 
fchriften ausarten können. 

§. 225. Aus der Theilung Des Gebietes kann fehr 

leicht die Meinung entfiehen, als 0b bei ganz verfchie- 
dener Auffafjuug. der Glaubenslehre doch die Sitten: 
lehre auf diefelbige Weiſe könnte‘ aufgefaft werden und 
umgefehrt. 

Diefer Irrthum ift in unfer kirchliches Gemeinwefen fchon fehr 
‚ttef eingedrungen, und ihm kann nur von der wiffenfchaft: 
lichen Behandlung aus wirkfam entgegengearbeitet werden. 

$. 226. Die Theilung findet eine große Kechtferti- 

gung fowol darin, daß Die Bewährung aus dem Kanon 
und Symbol fi) bedeutend anders geftaltet bei den 
ss ethifchen Saͤzen ale bei den Ddogmatifchen, als auch 
darin, Daß die Terminologie für ‚Die einen und Die ans 
deen aus verfchiedenen wiffenfchaftlichen Gebieten ber- 
ſtammt. | 
Mir haben zwar in dieſer Beziehung die theologifchen Wiſſen⸗ 


89 $. 226229. 


fchaften überhaupt auf- die Ethik und die von ihr abhaͤn⸗ 
‚gigen Difeiplinen zurüffgeführt; betrachten wir aber bie 

. dogmatifche Theologie insbefondere, fo rührt doch bie Ter⸗ 
minologie der eigentlichen Glaubenslehre großentheils aus 
der philoſophiſchen Wiſſenſchaft her, die unter dem Namen 
rationaler Theologie ihren Ort in der Metaphyſik hatte, 
wogegen die chriftliche Sittenlehre überwiegend nur aus der 
Pflichtenlehre der philofophifchen Ethik fchöpfen ann. 

$. 227, Die Trennung beider Difciplinen bat auch 

ein verfehrtes eklektiſches Verfahren erzeugt, indem man 

meinte ohne Nachtheil bei der chriſtlichen Sittenlehre 
auf eine andere philofophifche Schule zurüffgeben zu 
dürfen als-bei der Glaubenslehre. | 

Man darf fih nur die Möglichkeit einer ungetheilten Behand: 
lung ber dogmatifchen Theologie vergegenwärtigt haben, um 
dies fchlechthin unflatthaft zu finden. 

$. 228. Die abgefonderte Behandlung ift deſto ſach— 

gemaͤßer je ungleichfoͤrmiger auf beiden Seiten der Ver⸗ 
lauf der Periode in Bezug auf die Entwikklung des 
Princips und die Spannung des Gegenſazes entweder 
wirklich geweſen iſt, oder je weniger gleichmaͤßig doch 
die wiſſenſchaftliche Betrachtung dem wirkten Vers 
lauf gefolgt: ift. 

Man würde vieleicht mit Unrecht behaupten daß in Bezug 7 
auf die Sittlichkeit felbft der Gegenfaz zwilchen Proteftan- 
tiömus und Katholicismus minder entwißfelt fei ald in Be 
zug auf den Glauben; aber daß er in unfern chriftlichen 
Sittenlehren bei weitem nicht fo ausgearbeitet ift ald in 
unferer Dogmatik, fcheint unläugbar. | 

$. 229. Viele Bearbeitungen der chriftlichen Sit⸗ 

tenlehre laſſen unlaͤugbar von dem Typus einer theala- 


$. 229-292. 90 
giſchen Diſciplin nur wenig durchſchimmern, und ſind 
von philoſophiſchen Sittenlehren wenig zu unterſcheiden. 
Daß dies von dem nachtheiligſten Einfluß auf die Kirchenlei⸗ 
tung ſein muß, leuchtet ein. Bei einer ungetheilten Be⸗ 
handlung koͤnnte ſich fuͤr die ſittenlehrigen Saͤze ein ſolches 
Reſultat nicht geſtalten, ed müßte denn auch die Glaubens: 
lehre ihren Charakter verläugnen. 
$. 230, Die abgefonderte Behandlung beider Zweige 
der Dogmatifchen Theologie wird deſto unverfänglicher 
fein, je volftändiger alles von $. 196—216. gefagte 
auch auf die chriftlihe Sittenlehre angewendet wird, 
ünd je mehr man in jeder von beiden’ Difciplinen den - 
Zufammenhang mit der andern durch einzelne Anden- 
tungen wieder herftellt. 
Dad erfte kann hier nicht befonderd außgeführt werden, Die 
‚Möglichkeit des legten erhellt aus dem zu $. 224. gefagten. 
s |, 231. Winfchenswerth bleibt immer, daß au 
Die ungetheilte Behandlung ſich von Zeit zu Zeit wies 


Der geltend mache, 
Nur bei einer fehr großen’ Ausführlichkeit möchte dies kaum 
möglich fein, ohne daß die Maffe alle Form verlöre. 


I. Die kirchliche Statiftik. 


$. 232. An dem Gefammtzuftand einer kirchlichen 
Geſellſchaft unterfcheiden wir die innere Befchaffenheit 
und die äußeren Berhältniffe, und in der erflen wieder 
den Gehalt der fich darin nachweiſen läßt, und Die 
Form in welcher fie befteht. 
Manches fcheint allerdings eben fo leicht unter die eine als 
unter die andere Hauptabtheilung gebracht werben zu. kön: 


91 | $. 292-835, 
nen, immer aber doch in einer andern Beziehung, fo daß 
Dies der Richtigkeit der Eintheilung keinen Eintrag thut. 
$, 233. Die Aufgabe umfaßt in Zeiten, wo die 
hriftliche Kirche nicht Außerlich eines ft, alle einzelnen 
Kirchengemeinfchaften.: 
Jede ift dann für fich zu betrachten, und die Verhaͤltniſſe einer 
jeden zu den übrigen finden von felbft ihren Ort in der 
zweiten Hälfte. — Aber auch wenn einzelne Kirchengemein: 
fchaften nicht beflimmt von einander gefchieden wären, wür: 
‚den doch einzelte Theile der Kirche fi) ſowol ihrer innen 
Beichaffenheit als ihren Verhältniffen nach fo fehr von an⸗ 
dern: unterfcheiben, dag Eintheilungen dennoch müßten ge: 
| macht werden. 
§. 234. Der Gehalt einer kirchlichen Gemeinſchaft 
in einem gegebenen Zeitpunkt beruht auf der Staͤrke » 
und Gleichmaͤßigkeit, womit der eigenthuͤmliche Gemein⸗ 
| geift derfelben Die ganze ihr zugehörige Maſſe durch⸗ 
dringt. 
Zunaͤchſt alſo und im allgemeinen der Geſundheitszuſtand der⸗ 
ſelben in Bezug auf Indifferentismus und Separatismus 
(vergl. $. 56. u. 57.) Diefer wird aber erkannt einerfeitd 
aus den Entwilllungderponenten des Lehrbegriffs mit Ruͤkk⸗ 
ſicht auf die Einſtimmigkeit oder Mannigfaltigkeit der Re⸗ 
fultate und auf dad Intereſſe der Gemeinde an dieſer Func⸗ 
tion, andererfeitd aus dem Einfluß des firchlichen Gemein: 
geifted auf die übrigen Lebendgebiere, und aus der Mani: 
feftation defjelben in dem gotteödienftlichen Leben. 


6. 235. Je größere Differenzen fich hieruͤber in weit 
verbreiteten Kirchengemeinfchaften vorfinden, um defto 
zwelkwidriger ift es bei bloßen Durchſchnittsangaben fi ch 
zu begnuͤgen. 


100 


$. 235238. 9 


Das lehrreichſte fuͤr die Kirchenleitung wuͤrde verloren gehen, 
wenn nicht die am meiſten verſchiedenen Maſſen in Bezug 

auf die wichtigſten in Betracht kommenden Punkte mit ein: 
ander verglichen würden. ' 


$. 236. Das Wefen der Form, -unter welcher eine : 
Kirchengemeinfchaft befteht, oder ihrer Verfaſſung beruht 
auf der Art wie Die Kirchenleitung organifirt ift, und 
auf dem Verhaͤltniß der Gefammtheit zu Denen welche 
an der Kirchenleitung Theil nehmen, oder zu dem Kle⸗ 


rus im weiteren Sinn, 


‚Die große Mannigfaltigkeit "der Verfaffungen macht ed noth: 
wendig fie unter gewiffe Hauptgruppen zu vertheilen, wobei 
aber Vorfiht zu treffen ift, fowol dag man nicht zu viel 
Gewicht auf die Analogie mit den politifchen Formen Tege, 
ald auch daß man nicht über den allgemeinen Charakteren 
die fpecififchen ‚Differenzen überfehe. 

$. 237, Die Darftellung der innern Befchaffenheit 

ift deſto volfommner, je mehr Mittel fie darbietet den 
Einfluß der Verfaſſung auf den inneren Zuftend und 
umgekehrt richtig zu. fchäzen. 

Denn dies hängt mit ber größten Aufgabe der Kirchenleitung 
zuſammen, und ohne dieſe Beziehung bleiben alle hieher 
gehoͤrigen Angaben nur todte Notizen, wie alle ſtatiſtiſchen 
Zahlen ohne geiſtvolle Combination. 

$. 238. Die aͤußeren Verhaͤhltniſſe einer Kirchen: 

gemeinſchaft, die nur Verhaͤltniſſe zu andern Gemein⸗ 
ſchaften ſein koͤnnen, ſind theils die zu gleichartigen, 
naͤmlich ſowol die des Chriſtenthums und einzelner 
chriſtlichen Gemeinſchaften zu den außerchriſtlichen als 


auch die der chriſtlichen Kirchengemeinſchaften zu ein⸗ 


3. $. 238-240. 


ander, theils Die zu ungleichartigen, und bierunter vor: 


nebmlich zu der bürgerlichen Gefellfchaft und zur Wif: . 


fenfchaft im ganzen Umfang. des Wortes. 
Wir betrachten die lezte ald eine Gemeinfchaft fchon deshalb, 
weil die Sprache alle wiffenfchaftliche Mittheilung bedingt, 
und jede doch ein befondered Gemeinfchaftögebtiet bildet, fo 


daß die Verhältniffe derfelben Kirchengemeinfchaft ganz ver⸗ 


fchieden fein koͤnnen in verfchiedenen Sprachgebieten. 
$. 239, Jede Kirchengemeinfchaft fleht mit den fie 
berüihrenden in einem Berhältnig der Mittheilung .fo- 
wol als der Gegenwirkung, welche auf das mannigfal: 
tigfte können abgeftuft fein vom Marimum des einen 
und Minimum des andern bis umgekehrt. 
Unter Berührung fol nicht etwa nur Tocaled Zuſammenſtoßen 


101 


‚verfianden werden, fondern jede Art von Verkehr. Gegen: 


wirkung aber ift, auch abgefehen von aller nach aufen ges 
benden Polemik, theild durch das gemeinfame Zurüffgehen 
‚ auf den Känon, theild durch die von außen anbildende Thaͤ⸗ 


tigkeit, die nicht als gänzlich fehlend angefehen werben Fann, 


bedingt. 

„. 240. Das Verhältnig Eirchlicher Gemeinfchaften 
zu eigenthiimlichen ganzen des Willens ſchwankt zwi⸗ 
ſchen den beiden KEinfeitigfeiten, der, wenn die Kirche 
fein Wiſſen gelten laffen will, als dasjenige welches fie 
fih zu ihrem befondern Zwekk aneignen mithin auch 
felbft bervorbringen kann, und der „ wenn das objective 


Bewußtſein die Wahrheit des Setbſtbewußtſeins in An⸗ 


ſpruch nehmen will. 
Denn auf dieſen beiden Punkten ſchließen beide Gemeinſchaf— 
ten einander aus. Zwiſchen beiden in der Mitte liegt als 
gemeinſamer Annaͤheruggspunkt ein gegenſeitiges thaͤtiges 


- 5 240-216 9 

Anerkennen beider. Die Aufgabe ift, ind Licht zu fezen wie 
fich ein beſtehendes Verhältnig zu diefen Hayptpunkten flellt. 
$. 241. Das gleiche gilt von dem Verhaͤltniß zwifchen 
Kirche und Staat. Nur dag man bier, wo fich beſtimm⸗ 
ıor tere Formeln entwikkeln, leichter fieht, theils wie nicht 
leicht ein gegenfeitiges Anerkennen ftatt findet ohne Doch 
ein Eleines Uebergewicht auf die eine oder andere Seite 
zu legen, theils wie zumal das evangelifche Chriften- 

thum feine Anfprüche beftimmt begrenzt, 

Daß eine Theorie über biefes Verhältnig nicht hieher gehört, 
verfteht fich von felbfl. Viele aber von den hier nachgewiefe 
nen Oertern werben auch in dem fogenannten Kirchenrecht 
behandelt, nur, wie auch fhan der Name’ andeutet, überwie: 
gend aus dem bürgerlichen Standpunkt betrachtet. 

$. 242, Die kirchliche Statiſtik ift nach diefen Grund: 

zügen einer Ausführung ins unendliche fähig. 

Dieſe muß aber natürlich immer erneuert werden, indem nach 
eingetretener Weränderung die jedesmaligen Elemente der 
Kirchengefchichte zuwachſen. 

$, 243. Daß man fid) bei uns nur zu Häufig auf 

die Kenntniß des Zuftandes Der evangelifchen Kirche, 
ja nur des Theiles befchränft, in welchem. die eigene 
Wirkſamkeit Liegt, wirkt hoͤchſt nachteilig auf die Tirch- 
liche Praxis. | 

Nichts begünftigt fo fehr das .Werharren bei dem gewohnten 
und hergebrachten, ald die Unkenntnig fremder aber doc) 
verwandter Zuflände Und nichtö bewirkt eine fchroffere 
Einfeitigkeit ald die Furcht, dag man anderwärtd. werde 
gutes anerkennen müfjen, wad dem eigenen Kreife fehlt. 

$. 244. Eine allgemeine Kenntnif von dem Zuftande 

0, der gefammten Chriftenheit in den bier angegebenen 


‘ . Hauptverbältniffen, nah Maafgabe wie jeder Theil. mit 

dem Kreife der eignen Wirkſamkeit zufammenhängt, ift- 

die unerlaßliche Forderung an jeden evangelifchen Theo- 
logen. 

Die hieraus freilich folgende Verpfüchtung zu einer genaueren 
Kenntniß des naͤheren und verwandteren iſt doch nur unter⸗ 
geordnet. Denn eine richtige Wirkſamkeit auf die eigne 

Kirchengemeinſchaft iſt nur moͤglich, wenn man auf ſie als 
auf einen organiſchen Theil des ganzen wirkt, welcher ſich 
in ſeinem relativen Gegenſa; zu den andern zu erhalten 
und zu entwikkeln hat. 

$. 245. Durch beſondere Beſchaͤftigung mit dieſem 

| Fach ift noch vieles. zu leiften, fowol was den Stoff 

anlangt als was die Form. 

Die neuefle Zeit hat zwar viel Material herbeigeſchafft, aber 
es iſt ſelten aus den rechten Geſichtspunkten aufgefaßt. Und 
umfaſſendere Arbeiten giebt es noch ſo wenige, daß die beſte 
Form noch nicht gefunden ſein kann. | 

$. 246. Die bloß dußerliche Befchreibung Des vors 

bandenen ift für dieſe Difciplin, was Die Ehronit fuͤr 

die Geſchichte iſt. 

Bei dem gegenwaͤrtigen Zuſtand derſelben aber iſt es ſchon 
verdienſtlich, unbekannteres und abweichenderes auch nur auf 
dieſe Weiſe zur allgemeinen Kenntniß zu bringen. Bloß 
topographiſche und onomaſtiſche oder bibliographiſche Notizen 
ſind natuͤrlich das am wenigſten fruchtbare. 

$. 247. Eine ins einzelne gehende Beſchaͤftigung 

mit dem gegenwaͤrtigen Zuſtande des Chriſtenthums, 

welche nicht vom kirchlichen Intereſſe ausgehend auch ı0 
feinen Bezug auf die Kirchenleitung nahme, Eönnte nur, 
wenn auch ohne wiſſenſchaftlichen Geift betrieben, ein 


105 


‘ 


$. 47-209. 96 | 
unkritiſches Sammelwerk fein; je wifjenfchaftlicher aber 


um deſto mehr würde fie fih zum ſteptiſchen oder po⸗ 
| 


lemifchen neigen. 


Der Impuls kann wegen Beichaffenheit der Segenflände nicht 


von einem rein wiflenfchaftlihen Sntereife herrühren. Fehlt 
alfo das für die Sache: fo muß eind gegen die Sache wirk⸗ 
fam fein. Achnliched gilt von der Kirchengefchichte. 


$. 248. ft das religisfe Intereffe von wiſſen ſchaft⸗ 


lichem Geiſt entbloͤßt: ſo wird die Beſchaͤftigung, ſtatt 
ein treues Reſultat zu geben, nur der Subjectivitaͤt der 


Perſon oder ihrer Parthei dienen. 

Denn nur der wiſſenſchaftliche Geiſt kann, wo ein ſtarkes In⸗ 
tereſſe vorwaltet, welches vom Selbſtbewußtſein ausgeht, 
vor unkritiſcher Partheilichkeit ſicherſtellen. 

$. 249. Die Diſciplin, welche man gewoͤhnlich 

Symbolik nennt, iſt nur aus Elementen der kirchlichen 
Statiſtik zuſammengefezt, und kann ſich in dieſe wieder 
zuruͤkkziehn. 

Sie iſt eine Zuſammenſtellung des eigenthuͤmlichen in dem 
Lehrbegriff der noch jezt beſtehenden chriſtlichen Partheien; 
und da dieſe nicht nach Weiſe der Dogmatik (vergl. $. 196. 

u. 233.) mit Bewährung bed Zuſammenhanges vorgelegt 
werden können: fo muß die Darftelung rein hiftorifch fein. 
Der nicht ganz ber Sache entfprechende Name, weil näm: 
lich nicht alle Partheien Symbole in dem eigentlichen Sinne 
bed Wortes haben, Tann nur fagen wollen, daß der Bericht 
fih an die am meiften Elaffiiche und am allgemeinften an⸗ 
erkannte Darftelung einer jeden Glaubensweiſe halte. Ein 
folcher Bericht muß aber in unferer Difciplin (vergl. $. 234.) 
die Grundlage bilden zu der Darftellung der. Verhältniffe des 
Lehrbegriffs in der Gemeinſchaft, und ber. Unterfchied iſt nur 


97 6. 2419-251. 


der, daß dort ‘der Lehrbegriff einer Gemeinfchaft befchrieben 
wird in Verbindung mit ihren übrigen Zufländen, in ber 
Symbolik aber .im Verbindung mit den Lehrbegriffen ber 
andern Gemeinfchaften, wiewol wir au für. bie Statiflif 
fchon (vergl. 8. 335.) daB comparative Verfahren empfohlen 
haben. 
$. 250. Auch die bibliſche Dogmatik kommt der 
MWeife der . Statiftif in der Behandlung Des Lehrbe⸗ 
griffs.näher als der eigentlichen Dogmatik. 
Denn unfere Combinationsweife ift fo fehr eine andere, und 
ttheils iſt für die. neuteſtamentiſchen biblifchen Säze das Zus 
| rüffgehen auf den altteftamentifhen Kanon nur ein fehr 
ungenuͤgendes Surrogat für unſer Zuruͤkkgehn auf den neu⸗ 
teſtamentiſchen, theils fehlt uns dort uͤberall die weitere 
Entwikklung der ſpaͤteren Zeiten, die in unſere Ueberzeugung 
ſo eingegangen iſt, daß wir uns jene nicht fo aneignen Fön: 
nen, wie ed einer eigentlich dogmatifchen Behandlung wes 
fentlich iſt. Die Darftelung des Zufammenhanges ber bi⸗ 
blifchen Säze in ihrem’ eigenthuͤmlichen Gewand iſt alfo 
überwiegend eine biftorifche. Und wie jedes zufammenfaf: 
fende Bild (vergl. $. 150.) eined ald Einheit geſezten Zeit: 
zaumd eigentlich. die Statiflif dieſer Zeit und dieſes Theils 
iſt: fo ift die bibliſche Dogmatik nur ein Theil von dieſem 
Bilde des apoſtoliſchen Zeitalters. 


Schlußbetrachtungen u 
uͤber die hiſtoriſche Theologie. 


$ 251: Wiewol im ganzen in der chriſtlichen 
Kirche Die hervorragende Wirkfamkeit einzelner auf die 
Schleierm. ®. J. J. & 
y 


den Unterfuchungen, ‚welche bie philoſophiſche peoingie bil: 
ben, definitiv beflimmt. R Be 


$. 253, Hieraus und aus dem dermaligen Zuftand 
er philofophifchen Theologie (vergl. $. 68.) erklärt ſich, 
enn nicht, die. große Verfchiedenheit in den Bearbei— 
ngen aller Zweige der biftorifchen Theologie, Doch der 
Rangel an Verſtaͤndigung über den urjprünglichen Siz 
eſer Verſchiedenheit. 


Denn ſie ſelbſt wuͤrde bleiben, weil, was 8. 51. von der Apo⸗ 
logetik gefagt und 9. 64 auch auf bie Polemik audgebehnt 
it, nicht nur in Bezug auf die verfchiebenen Geftaltungen, 
die das Chriſtenthum in verſchiedenen Kirchengemeinſchaften 
erhält, gelten muß, ſondern auch. von den nicht unbeden. 
tenden Verſchiedenheiten die noch innerhalb einer jeden flatt 
finden. Hat aber jede Parthei ihre. philofophifche Theologie 
gehoͤrig ausgearbeitet: ſo muß auch deutlich werden, welche 
von dieſen Verſchiedenheiten mit einer urſpruͤnglichen Diffe⸗ 
renz in der Auffaſſung des Chriſtenthums ſelbſt zuſammen⸗ 
haͤngen und welche nicht. 


$. 254. Philoſophiſche und hiſtoriſche Theologie muͤſ⸗ 
a noch beſtimmter auseinander. treten, koͤnnen aberıs 
ch nur mit und Durcheinander zu ihrer Vollkommen⸗ 
it gelangen. | | 


Alle Zweige der Hiftorifchen Theologie leiden darunter, daß bie 
philofophifche in ihrem eigenthümlichen Charakter (vergl. 
8. 33.) noch nicht ausgearbeitet ift. Aber die philofophifche 
Theologie würde ganz willführlich werden, wenn fie fich 
von der Verpflichtung losmachte alle ihre Säze durch die 
klarſte Gefchichtsauffaffung zu belegen. Und eben fo würde 
die hiftorifche ale Haltung verlieren, wenn fie fich nicht auf 

6? 


re 


$. 251. 252. 98 


Maſſe abnimmt, ift es doch für die biftorifche Theolo⸗ 

. gie mehr als für andere. geſchichtliche Gebiete angemeſ⸗ 
ſen, die Bilder ſolcher Zeiten, die als wenn auch nur 
in untergeordnetem Sinn epochemachend als Einheit 
aufzufaſſen ſind, an das Leben vorzuͤglich wirkſamer 
einzelner anzuknuͤpfen. 


Ab nimmt dieſe Wirkſamkeit, weil ſie in Chriſto abſolut war, 
und mir keinen ‚fpäteren den Apoſteln gleichſtellen, von 
denen doch nur wenige eine beſtimmte perfönliche Wirkſam⸗ 
keit uͤbten. Je weiter hin deſto mehr immer der gleichzei— 
tigen einzelnen, welche einen neuen Umſchwung bewirkten. 
Jedoch ift dies keinesweges nur auf das Zeitalter der fo: 
genannten Kirchenvaͤter zu befchränfen. Wol aber koͤnnen 
wir fagen,. daß fich jeder einzelne hiezu deſto mehr. eigne, 

ie mehr er dem Begriff eines Kirchenfuͤrſten entfpricht, daß 

aber ſolche. je weiter hinaus deſto weniger. zu erwarten 
feien.. Auch einzelne’ als Andeutung und Ahndung merk: 
würdige Abweichungen im Lehrbegriff werden cft. am beften 
mit dem Leben ihrer Urheber verſtaͤndlich. 


$..252. Die Kenntniß des geſchichtlichen Verlaufs, 
welche ſchon zum Behuf der philofophifchen Theologie 
(vergl. $. 65.) vorausgefezt werden muß, darf nur Die 
- ao der Chronif angehörige fein, welche: unabhängig ift vom 
theologifhen Studium: hingegen die wißfenfchaftliche 
Behandlung des gefchichtlichen Verlaufs in allen Zwei: 
gen der biftorifchen Theologie fezt Die Kefultate der phi⸗ 
Iofophifchen Theologie voraus, 
Died gilt, wie aus dem obigen erhellt, fir die eregetilche Theo⸗ 


logie und die dogmatifche nicht minder al8 für die hiftorifche 
im engeren Sinn. Denn alle leitenden Begriffe werben in 


« 


mn u ee a 


9 5 & 252-354. 


den Unterfuchungen, ‚welche bie xbiloſophiſche Theologie bil⸗ 
ben, definitiv beſtimmt. \ 


$. 253. Hieraus und aus’ dem dermaligen Zuftand 

er philoſophiſchen Theologie (vergl. $. 68.) erklaͤrt fich, 
'enn nicht. die große Verſchiedenheit in den Bearbei— 
ingen aller Zweige der hiſtoriſchen Theologie, doch der 
Rangel an Verftändigung über den urſpruͤnglichen Siz 
jefer Verſchiedenheit. 


Denn ſie ſelbſt wuͤrde bleiben, weil, was 8. 51. von der Apo⸗ 
logetik gefagt und 8. 64. auch auf bie Polemik ausgedehnt 
it, nicht nur in Bezug auf die verfchiebenen Geftaltungen, 
die das Chriftenthum in verfchiedenen Kirchengemeinfchaften 
erhält, ‚gelten muß, ſondern auch von den nicht unbeden- 
tenden Berfchiedenheiten die. noch innerhalb einer jeden flatt 
finden. Hat’ aber. jede. Parthei ihre. philofophifche Theologie 
gehoͤrig ausgearbeitet: ſo muß auch deutlich werden, welche 
von dieſen Verſchiedenheiten mit einer urſpruͤnglichen Diffe⸗ 

. venz in der Auffaſſung des Chriſtenthums ſelbſt zuſammen⸗ 
haͤngen und welche nicht. 


$. 254. Philoſophiſche und hiſtoriſche Theologie müfs 
n noch beftimmter auseinander treten, können aber we 
yh nur mit und Durcheinander zu ihrer Vollkommen⸗ 
it gelangen. | 


Alle Zweige der Hifforifchen Theologie leiden darunter, daß bie 
philofophifche in ihrem eigenthuͤmlichen Charakter (vergl. 
8. 33.) noch nicht ausgearbeitet iſt. Aber die philoſophiſche 
Theologie würde ganz willführlic werden, wenn fie ſich 
von der Berpflichtung losmachte alle ihre Säze durch die 
klarſte Gefchichtdauffaffung zu belegen. Und eben fo würde 
die hiftorifche alle Haltung verlieren, wenn fie ſich nicht auf 

62 


6. 251-258. 100 


die klarſte Entwikklung der Elemente: ber philoſophiſchen 
Theologie beziehen wollte. 
$. 255. In der gegenwärtigen Lage kann der Bor: 
wurf, daß einer in. der hiſtoriſchen Theologie nach will⸗ 
kuͤhrlichen Hypotheſen verfahre, eben ſo leicht unbillig 
fein, als er auch gegruͤndet ſein kani. 

Gegruͤndet iſt er, wenn jemand die Elemente der philoſophi⸗ 
ſchen Theologie durch bloße Conſtruction conſtituiren will, 
und dann die Begebenheiten darnach deutet.Unbillig iſt 
er, wenn jemand nur nicht Hehl hat, daß feine philofophi- 
fche Theologie, wie fie ihm mit ber hiſtoriſchen wird, ſich 
auch durch ihre Angemeſſenheit fuͤr dieſe beßaͤtigt. 

8. 256. Daſſelbe gilt von dem Vorwurf, daß, einer 

die biftorifche “Theologie in geiftlofe Empirie. ‚verwandfe. 

Gr ifi gegründet, wenn jemand die in der philoſophiſchen 
Theologie zu ermittelnden Begriffe um ſie in der hiſtoriſchen 
zu gebrauchen, als etwas empiriſch gegebenes aufftellt. Un: 
billig ift er, wenn jemand nur gegen die apriorifche Eon: 
firuction  diefer Begriffe proteflirt,, und auf dem keitiſchen 
Verfahren (vergl. d. 32.) beſteht. 


Dritter Theil. 
Bon der praftifchen Theologie. 


Einleitun g. 


8. 257. Ti. die philoſophiſche Theologie Die Ge: 
fühle der Luft und Unluft an dem jedesmaligen Zus 
ftand der Kirche zum Maren Bewußtſein bringt: ſo iſt 
die Aufgabe der praftifchen Theologie, die befonnene 
Thätigkeit, zu welcher ſich die mit jenen Gefühlen zu⸗ 
fanımenhängenden Gemuͤthsbewegungen entwikkeln, mit 
klarem Bewußtſein zu ordnen und zum Ziel zu fuͤhren. 

Wie die philoſophiſche Theologie hier aufgefaßt iſt in der Ein⸗ 
wirkung ihrer Reſultate auf einen. unmittelbaren Lebens: 
moment: fo auch die praftifche wie ihre Refultate in einen 
ſolchen Kebensmoment eingreifen. 


$. 258. Die praftifche Theologie ift alfo nur für 
diejenigen, in welchen kirchliches Intereffe und wiſſen⸗ 
ſchaftlicher Geift vereinigt find. 


Denn ohne dad erfte entftchen weder jene Gefühle noch diefe zo 


Semüthöbewegungen, und ohne wiſſenſchaftlichen Geift Feine 
befonnene Thaͤtigkeit, welche fich durch Vorſchriften leiten 


$. 258—261. 102 


ließe, ſondern der dem Erkennen abgeneigte Thaͤtigkeitstrieb 
verſchmaͤht die Regeln. 

$. 259. Jedem befonnen einwirfenden entftchen feine 

Aufgaben aus der Art, wie er den jedesmal vorliegen: 
den Zuftand nach feirien Begriff von dem Wefen des 
Chriſtenthums und feiner bejonderen Kirchengemeinfchaft 
beurtbeilt. 

Denn ba bie Aufgabe im allgemeinen nur Kirchenleitung if: 
fo Tann er nur jedesmal alles was ihm gut erfcheint Frucht: 
bar machen, das entgegengefezte aber unwirkſam machen 
und umaͤndern wollen. 

$. 260. Die praktiſche Theologie will nieht die Aufs 

gaben richtig faſſen lehren; jondern indem fie Diefes 
vorausfest, hat fie es nur zu thun mit der richtigen 
Verfahrungsweife bei, der Erledigung aller unter den 
Begriff der Kirchenleitung zu bringenden Aufgaben. | 

Für die richtige Faſſung ber Aufgaben ift dürch bie Theorie 
nichts weiter zu leiſten, wenn philoſophiſche und hiſtoriſche 
Theologie klar und im richtigen Maaß angeeignet ſind. Denn 
alsdann kann auch ber gegebene Zuſtand in feinem Verhal⸗ 

ten zum Biel ber Kirchenleitung richtig geſchaͤzt, mithin auch 
die Aufgabe demgemäß geſtellt werben. Wohl aber muͤſſen 
zum Behuf der Vorſchriften uͤber die Verfahrungsweiſe die 
Aufgaben, indem man vom Begriff der Kirchenleitung aus- 
geht, klaſſi ficirt und in. gewiffen. Gruppen sufammengeftellt 

werden. 

1 8.261. Will man dieſe Regeln als Mittel, wodurch 
der Zwekk erreicht werden ſoll, betrachten: ſo muͤßte doch 
wegen Unterordnung der Mittel unter den Zwekk alles 
aus dieſen Vorſchriften ausgeſchloſſen bleiben, was, 
indem es vielleicht die Loͤſung einer einzelnen Aufgabe 


103° | $. 261263, 
förderte, Doch zugleih im allgemeinen das Firchliche 
Band Höfen oder die Kraft des hriftlichen Princips 
ſchwaͤchen koͤnnte. 

Der Fall ft fo häufig, daß dieſer Kanon nothwendig wird. 
Offenbar kann die einzelne gute Wirkung eines ſolchen Mit: 
teld nur eine zufällige fein; wenn fie nicht auf einem blo: 
gen Schein beruht, ſo daß die Loͤſung doch nicht die rich⸗ 
tige ill. 

$. 262. Eben fo weil der handelnde die Mittel nur 
anwenden kann mit derfelben Gefinnung vermöge deren 
er den Zwekk will: fo kann feine Aufgabe gelöft wers_ 
den follen Durch Mittel, welche mit einem von beiden 
Elementen der theologifchen Gefinnung ſtreiten. | 

Auch diefed beides, Verfahrungsarten welche dem wiſſenſchaft⸗ 
lichen Geiſt zuwiderlaufen, "und. folche welche das Firchliche 
Intereſſe im ganzen gefährden, indem fie es in irgend einer 

- einzelnen Beziehung zu fürbern fcheinen, find häufig genug 
vorgekommen in der kirchlichen Praris. 

. 263. Da aber alle beſonnene Einwirkung auf 
die Kirche, um das Chriſtenthum in derfelben reiner 
darzuftellen, nichts anderes iſt als Seelenleitung; andere 
Mittel aber. hiezu ‘gar nicht anwendbar find, ale besun 
flimmte Einwirfüngen auf die Gemuͤther, alfo "wieder 
Seelmleitung: To kann es, da Mittel und Zwekk gaͤnz⸗ 
lich zufammenfallen, nicht fruchtbar fein die Kegeln ale 
Mittel zu betrachten fondern nur als Methoden, 

Denn Mittel muß etwas außerhalb des Zwekkes liegendes, 
mithin nicht in und mit dem Zwekke felbft gewolltes fein, 
welches hier nur von dem dlleräußerlichiten gejagt werben 

Tann, während alles näher liegende felbfi in dem Zweit 

liegt, und ein Zheil deffelben ift. Welches Berhältuig 153 


$. 263—267. 104 


Theils zum. ganzen in dem Ausdrukk Methode das vor | 
berrichende ift. 

$. 264. Die in der Kirchenleitung vorkommenden | 

Aufgaben Haffifieiren und die. Verfahrungsweifen ange: 
ben, läßt fich beides auf einander zurüffführen. 

Denn jede befondere Aufgabe ſowol ihrem Begriff nach als 
in ihrem einzelnen Vorkominen ift eben fo ein Theil des 
Geſammtzwekks, nämlich der Kirchenleitung, wie jede bei 

den befondern Aufgaben anzuwendende Methode nur. ein 
Theil derſelben iſt. Daher läßt fich dies micht wie zwei 
Haupttheile der Difeiglin auseinander halten, ‚indem, die 

Claſſification auch nur die Methade angiebt um die Gefamt: 
aufgabe zu loͤſen. 

$.,269. Alle Borfchriften der praftifchen Theologie 

koͤnnen nur allgemeine Ausdruͤkke fein, in denen die 
Art und Weile ihrer Anwendung auf einzelne Fälle 
nicht Schon mit beftimme {ft (vergl. $.. 132.) d. h. fie 
find Kunftregeln im engeren Sinne des Wortes. 

3» Sn allen Regeln einer mechanifchen Kunft ifl jene Anwendung 
fhon mit enthalten; wogegen: die Vorfchriften der höheren 
Künfte alle von diefer Art find, fo. daß das richtige Han⸗ 
bein in Gemaͤßheit der Regeln immer.noch ein beſonderes 
Talent erfordert, wodurch das rechte gefunden werden muß 

$. 266. Die.Regeln Eönnen daher nicht jeden, auch 

unter Vorausfezung der theologifchen Gefinnung, zum 
praktiſchen Theologen machen; ſondern nur demjenigen 
zur Leitung dienen, der es ſein will und es ſeiner in— 
nern Beſchaffenheit und ſeiner Vorbereitung nach wer⸗ 

den kann. | 
N Damit fol weder gefagt fein, daß zu dieſer Ausübung ganz 
defondere nur wenigen verlichene Naturgaben gehören, noch 


105 $. 266269. 


auch daß die gefammte Vorbereitung dem Eriſhluß voraus⸗ 
gehen muͤſſe. 
$. 267. Wie Die chrifiliche Theologie aberhaupt, 
mithin auch die praktiſche, ſich erſt ausbilden konnte, 
als das Chriſtenthum eine geſchichtliche Bedeutung er⸗ 
halten hatte (vergh. $. 2—5.), und dieſes nur vermit⸗ 
telft der Organifatiön der chriftlichen Gemeinſchaft moͤg⸗ 
lich war: fo beruht nun alle. eigentliche KRirchenleitung 
auf einer beftimmten Geftaltung des urfprünglichen 
Gegenfazes zwiſchen den hervorragenden und der Maſſe. 
Ohne einen ſolchen, der mannigfachſten Abſtufungen faͤhigen, 
in dem Verhaͤltniß der muͤndigen zu den unmuͤndigen aber 
naturgemäß begründeten, Gegenſaz fönnte aller Fortſchritt 
zum befferen nur in einer gleichmäßigen Entwikklung ers 
folgen, nicht durch eine beformene Leitung. Ohne eine bes.11a 
flimmte Geftaltung deſſelhen aber könnte die Keitung nur 
ein Berhältnig zwifchen einzelnen fein, die Gemeinfchaft 
alfo nur aus Iofen Elementen beftehen, und nie ald ganzes 
wirken, woran doc) die gefchichtliche Bedeutung gebunden if. 
$, 268. Diefe beftinimie Geftaltung ift die zum Bes 
huf der Ausgleihung und Förderung feftgeftellte Mes 
thode des Umlaufs, vermöge deren die religioͤſe Kraft 
der hervorragenden die Maſſe anregt, und wiederum 
die Maſſe jene auffordert. | 
Daß auf diefe Weiſe eine Ausgleichung erfolgt, und die Maſſe 
den hervorragenden naͤher tritt, iſt natuͤrlich Foͤrderung aber 
iſt ne. zu erreichen, wenn man bie religiöfe Kraft über 
haupt und namentlich unter den ‚hervorragenden in der 
Gemeinſchaſt als zunehmend vorausſezt. 
$. 269. In der Uebereinſtimmung mit allem bishe⸗ 
rigen werden wir ſonach in der chriſtlichen Kechewev 


$. 269271. 106 


tung vornehmlich zu betrachten haben die Geftaltung | 
des Gegenſazes Behufs Der Wirkfamkeit vermittelft der 
religiöfen Vorſtellungen, und die Behufs des Einfluf- 
fes auf das Keben, oder die leitende Thätigfeit im Cul⸗ 
tus und die in der- Anordnung der Sitte. | 

Beides unterfcheidet ſich zwar ſehr beſtimmt in der Erſchei⸗ 
nung, iſt aber der Formel nach allerdings nur ein unvoll⸗ 
kommner Gegenſaz. Denn der Cultus ſelbſt beſteht nur 
als geordnete Sitte; und da es den Anordnungen an aller 

115 Außeren Sanction fehlt, fo beruht ihre Gültigkeit auch nur 
. auf der Wirkſamkeit vermittelfl dei Vorftellung. Died zwie: 
fache Verhältnig wird aber auch fein Recht behaupten. 

$. 270.* Da die hervorragenden dieſes nur find ver- 
möge der beiden Elemente der theologifchen Gefinnung, 
das Gleichgewicht: von Diefen aber nirgend gehau vor 
auszufezen ift: fo wird es auch eine leitende Wirkſam⸗ 
keit geben, welche mehr klerikaliſch iſt, und eine mehr 
cheologifche im engeren Sinne des Wortes. 

Es iſt nicht nachzuweiſen daß dieſe Differenz mit der vorigen 
zufammenfällt, noch weniger daß fie nur das eine Glied 
derſelben theilt; mithin find beide vorläufig. als coordinirt 
und ſich kreuzend zu betrachten. 

5. 771. Das Chriſtenthum wurde erſt geſchichtlich, 
als die Gemeinſchaft aus einer Verbindung mehrerer 
raͤumlich beſtimmter Gemeinden beſtand, die aber auch 

jede den Gegenſaz zur Geſtalt gebracht hatten, als wo⸗ 
durch fie erft Ggmeinden wurden, Daher nun giebt ; 
es eine leitende Wirkfamkeit, deren Gegenftand die eins 
zelne Gemeinde ale ſolche ift, und Die alfo nur eine 
locale bleibt, und eine auf das ganze gerichtete, welche | 


| 107 0 6: 271—274. 


5 die organifche Verbindung der Gemeinen, das’ heißt die 
e Kirche, zum Gegenftand bat. 
-Auch dieſer Gegenfaz iſt unvollftändig, indem mittelbar aus 
. der Keitung der einzelnen Gemeine etwas für das ganze 
hervorgehen kann; und eben fo kann eine aus dem Stand: 
punkt des ganzen beſtimmte leitende Thaͤtigkeit zufällig 116 
'nur eine einzelne Gemeine treffen. Sm wirklichen Verlauf 
* findet ſich beides ſehr beſtimmt. 
9.272. In Zeiten der Kirchentrennung find nur 
die Gemeinden Eines Bekenntniſſes organiſch verbun⸗ 
ten, und. ‚die allgemeine leitende Thaͤtigkeit in ihrer 
Beſtimmtheit nur. auf dieſen Umfang beſchraͤnkt. 

Es giebt allerdings auch Einwirkungen von einer Kirchen⸗ 
gemeinſchaft aus auf andere; aber. fie koͤnnen nicht den Cha- 
rakter einer leitenden Thätigkeit haben. — Aber auch wenn 

‚ feine ſolche. Trennung waͤre, wuͤrven doch bei der gegen⸗ 
waͤrtigen ·Verbreitung des Chriſtenthums aͤüßere Gründe das 
Beſtehen einer allgemeinen alle Chriſtengemeinen auf Erden 
umfaſſenden Kirchenleitung unmoͤglich machen. 
ı 9.273. Da nun die Verfahrungsweiſen ſich richten 
muͤſſen nach der Art, wie Der Gegenfaz gefaßt und 
' geftaltet ift: fo muß auch die Theorie der Kirchenlei- 
tung eine andere fein fiir jede andere conſtituirte Kir⸗ 
bvengemeinſchaftz und wir koͤnnen daher eine praktiſche 
Theologie nur aufftellen fuͤr die evangeliſche Kirche. 
Ja' nicht einmal ganz für diefe, da auch innerhalb ihrer zu 
viele WVerfchiedenheiten des Cultus und befonders der Ber: 
t faſſung vorkommen. Wir werden daher zunaͤchſt nur die 
⸗ deutſche im Auge haben. 
e 9274 Wir ſehen den zulezt in $. 271. ausge⸗ 
ve fprochenen: Gegenſaz als den oberften <heillungsarumd 


$. 274-276. 108 


an, und nennen die leitende Thätigfeit mit der Rich⸗ 
u tung auf das ganze dag Kirchenregiment, Die mit 
der Richtung auf die einzelne Rocalgemeine den Ki ir⸗ 
chendienſt. | | | 


Nicht ald ob ed in der Natur ber Sarhe läge, daß dies bie 
Haupteintheilung fein mügte, fondern weil dies dem gegen: 
wärtigen Zuſtand unſerer Kirche dad angemeffenfte iſt. Eb 
giebt anderwaͤrts Verhaͤltniſſe in denen von Kirchenregiment 

‚ in dieſem Sinne wenig zu ſagen wäre, weil es nur ein 
ſehr loſes Band iſt, wodurch eine Mehrheit von. Gemeinen 

zuſammengehalten wird. — Für unfere beiden Theile bietet 
ſich Übrigens noch. eine andere Benennungsweife dar, naͤm— 
lich wenn der eine Kirchenregiment heißt, ben andern Ge 
meinderegiment zu nennen. ‚Die: obige iſt aber aus demſel⸗ 
ben Grunde vorgezogen worden, aus welchem dies die Haupt⸗ 

eintheilung geworben, weil nämlich der Verband ber Se 
meinen, wie wir ihn vorzugsweiſe Kirche nennen, hervorragt, 
und es daher angemeſſen iſt auch den andern Theil auf dieſe 
Geſammtheit zu beziehen; da denn die Pflege eines einzelnen 
Theils nur erſcheinen kann als ein Dienſt der dem ganzen © 

- geleiftet wird. R 


$ 275. Der Inhalt der erben Theologie er: 
ſchoͤpft ſich in der Theorie Des Kirchenregimentes im 
engeren Sinne und in der Theorie des Kirchendienſtes. 
Die oben $. 269. und 270. angegebenen Gegenfäze müffen 
nämlih in diefen beiden Haupttheilen aufgenommen- und 
durchgefühit werden. 


+$ 276. Die Ordnung ift an und für fich glei, 
gültig, Wir ziehen vor den Anfang zu machen mit 


dem Kirchendienft, und das Kirchenregiment folgen zu 
laſſen. ’ 


\ 


109 8. 276-278. 


Gleichguͤltig iſt fr, weil auf jeden Fall die Behandlung des ııs 
vorangehenden Theiles doc auf den Begriff des hernach 
zu behandelnden, und auf die mögliche verfchiebene -Geftal- 
tung befjelben Rüfkficht nehmen muß. — Es ift aber die 
natürliche Ordnung, daß diejenigen, welche ſich überhaupt 
zur Kirchenleitung eignen, ihre öffentliche Thaͤtigkeit mit 
dem Kirchendienſte beginnen, 





Erſter Abſchnitt. 
Die Grundſaͤze des Kirchendienſtes. 


277, Die örtliche Gemeine als ein gobeguiff in 
demſelben Raum lebender und zu gemeinſamer Froͤm⸗ 
migkeit verbundener chriſtlicher Hausweſen gleichen Be⸗ 
kenntniſſes iſt die einfachſte vollkommen kirchliche Or⸗ 
ganiſation, innerhalb welcher eine leitende Thaͤtigkeit 
ſtattfinden kann.“ 

Der Sprachgebrauch giebt noch Landesgemeine, Kreisgemeine; 

aber hier findet nicht immer eben eine gemeinſame Uebung 

der Froͤmmigkeit ſtatt. Er giebt uns auch Hausgemeine; 
allein‘ hier. ift die leitende Thaͤtigkeit nicht eine eigenthuͤm⸗ 
lich vom religioͤſen Interreſſe ausgehende. 

. 278. Der Gegenſaz uͤberwiegender Wirkſamkeit 
und aberwiegender Snpfſaͤnglichtegz muf, wenn ein Kir⸗ 
chendienſt ſtattfinden Joll, wenigſtens für beftimnte Mo- 
mente übereinftimmend firirt fein. 

Ohne befiimmte Momente Fein gemeinfamed Leben, und ohne 119 

Uebereintommen, wer mittheilend fein fol und wer em 


120 


$. 278-280. 110 
pfaͤnglich, wäre ed nur Verwirrung. Die Vertheilung en 
eine willkuͤhrliche bei Vorausſezung ber größten Gleichheit; 
aber auch ‚bei der größten Ungleichheit. muß doch Empfäng: 


lichkeit allen zufonimen. — Die Beſtimmung dieſes Ber: ' 
haͤltniſſes für jede Gemeine gehört der Natur- ber Sache 


nach dem Kirchenregiment an. 
$. 279. Die leitende Thätigkeit im Rirhendienf re 


(vergl. 8.269.) theils die erbauende im Cultus ode ij 


dem Zufanımentreten der Gemeine zur Erwekkung und 
Belebung des frommen Bewußtſeins, theils Die regie: 
rende, und zwar bier nicht nur durch Anordnung der 
Sitte, fondern auch durch Einfluß auf das Leben der 
einzelnen. 

Dieſe zweite Seite konnte oben 6 269.) nur ſo bezeichnet 
werden, wie es auch fuͤr das Kirchenregiment gilt. Der 
Kirchendienſt aber wuͤrde einen großen Theil ſeiner Aufgabe 
verfehlen, wenn die leitende Thaͤtigkeit ſich nicht auch ein⸗ 
zelne zum Gegenftänd machte. “ 


$. 280. Die erbauende Wirkſamkeit im chriſtlichen & 
Cultus beruht uͤberwiegend auf der Mittheilung des 


zum Gedanken gewordenen frommen Selbfibewußtfeins, 4 
und es kann eine Theorie darüber nur ‚geben, ſofern 


Diefe Mittheilung als Kunſt kann angeſehen werden. 


Das uͤberwiegend gilt zwar (vergl. $. 49.) vom Ehriften: . 
thum überhaupt, in dieſem aber wiederum vorzüglich ‘von 
dem evangelifchen. . Gedanke iſt hier im weiteren Sinne 
zu nehmen, in welchem auch die Elemente der Poefi e Se: 
danken find. Kunft in 'gewiffen Sinne muß in jeder zu: 
famminhängenden Folge von Gedanken fein." Die Theorie 
muß beides zugleich umfaflen, in welchem Grabe Kunft bier 


* 


111 | $. 280—283. 
gefordert wird ober zugelafferr, und durch welche Verfah: 
rungdweifen die Abficht zu erreichen if. . 

. % 281. Das Materiale des Cultus im engeren Sinn 
koͤnnen ‚nur ſolche Vorftelungen fein, welche auch im. 
Inbegriff der Firchlichen Lehre ihren Ort haben; -und 
die Theorie hat alfo, was den Stoff betrifft, zu beftin- 
men, was für Elemente der gemeinen Lehre und in wel- 
cher Weife fich für dieſe Mittheilung eignen. 

- Materiale im engern Sinn find diejenigen Borftelungen welche 
für ſich felbft follen mitgetheilt werden, im Gegenfaz derer 
die diefen nur:dienen als Erläuterung und Darffellungs: 
mittel, — Und da ‚diefelben Vorftelungen in der mannig⸗ 
faltigften Weiſe vom volfömäßigen bis zum ſtrengwiſſen⸗ 
ſchaftlichen, von der Umgangsſprache bis zur redneriſchen 
und dichteriſchen verarbeitet find: ſo müß beſtimmt werden, 
welche von dieſen Schattirungen allgemein oder in verſchie— 
dener Beziehung ſich für den Cultus eignen. 


9282. Da der chriſtliche Cultus, und beſonders 
uch Der evangelifche ‚ aus profaifchen und poetifchen 
Sfementen zufammengefezt ift: ſo ift, was Die Form 
inlangt, zuerft zu handeln von dem religiöfen Styl, 
yem profaifchen ſowol als dem poetifchen, wie er Dem 
Spriftenthum eignet; dann aber auch von dem verfihles ızı 
yenen Mifhungsverbältuiff en beider Elemente, wie fie 
n dem evangelifchen Cultus vorfommen ‚können. . 

Die Theorie der kirchlichen Poeſie gehoͤrt wenigſtens inſoweit 
in die Lehre vom Kirchendienſt, als auch die Auswahl aus 
dem vorhandenen nach denſelben Grunbfägen muß gemacht 
werden. 


§. 283, Einförmigfeit und Abwechſelung haben o 


Library of the 
"NIONT HEOLOGICAL SEMIN —B 


6. 283—285. 112 


die Wirkfamkeit aller Darftelungen diefer Art unver: 
Eennbaren Einfluß; daher iſt auch die Frage zu beant⸗ 
worten, in wiefern, rein aus dem Intereſſe des Cultus, 
der befferen Einficht die Ruͤkkſicht auf das beftchende 
anfgeopfert werden muß oder umgefehrt. 
Zunäcft fcheint die Frage nur hieher zu gehören in dem Mad ° 
als fie innerhalb der Gemeine ſelbſt entichieden werden Tann 
ohne Zutritt des Kirchenregiments. Allein. da die Gemeine 
doch auch ganz frei fein kann in dieſer Beziehung, fo wird 
tiefe, Sache am beften ganz hieher gezogen. 
.$. 284. So ſehr es auch Dem Geift der evangeli 
ſchen Kirche gemäß iſt, die religioͤſe Rede als den eigent— 
lichen Kern des Cultus anzuſehen: fo iſt doch die ge: 
genmwärtig unter. ung berrfchende Form derfelben, wie 
wir fie eigentlich durch den Ausdruff Predigt bezeich 
nen, in diefer Beftimmtheit nur etwas zufaͤlliges. 
Dies geht hinreichend ſchon aus der Geſchichte unſeres Cultus 
122 hervor; noch deutlicher wird ed, wenn man unterſucht, wo: 
von die große Ungleichheit in der Birkfamfeit dieſer Bor 
träge eigentlich abhängt. 
9285. Da die Difciplin, welche wir Homilerit 
nennen, gewöhnlich diefe Form als feftftehend voraug 
fezt, und alle Regeln bauptfächlich auf dieſe bezieht: fo 
wäre es beffer dieſe Beſchraͤnkheit fahren zu laſſen, und 
den Gegenftand auf eine allgemeinere und freiere Weiſe 
zu behandeln. 2 
Der Unterfchied zwifchen eigentlicher Predigt und Homitie 
welcher feit einiger Zeit fo berüfffichtigt zu werden anfängt, 
dag man für die leztere eine befondere Theorie aufftelt, thuf 
ber Forderung unfered Sazes bei weitem nicht Genüge. 


| ? [7 5) 


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113 | 5. 256—189. 


$. 286. Faſt überall finden wir in der evangelifchen 
Kirche den Cultus aus zwei Elementen beftehend, dem 
einen welches ganz der, freien Productivität deflen, Der 
den Kirchendienft verrichtet, anheimgeftellt ifl, und einem 
andern worin Diefer fi nur als Organ des Kirchen: | 
regimentes verhält. 

In der erſten Hinficht ift er vorzüglich ber Predig er, in der 

andern der Liturg. 

9. 287. Bon dem liturgiſchen Element kann hier 
nur die Rede ſein unter der Vorausſezung, daß und 
in welchem Maaß eine freie Selbſtbeſtimmung auch 
hiebei noch ſtattfindet. 

Die Frage uͤber dieſe Selbſtbeſtimmung kann nur aus dem 
Standpunft des Kirchenregiments entſchieden werden. Hier 
koͤnnte fie ed nur, fofern nachzuweiſen wäre, daß eine gaͤmz⸗ 
liche Vernetnung mit dem .Begriff des Cultus in der evan⸗ 
geliſchen Kirche ſtreitet. 

§. 288. Da der Kirchendienſt im Cultus wefentlich 13 
an organifche Thätigkeiten gebunden ift, welche eine der 
Handlung gleichzeitige Wirkung bervorbringen: fo iſt 
zu entfcheiden, ob und in wiefern auch Diefe ein Ges 
genftand von Künftregeln fein Können, und ſolche find 
demgemaͤß aufzuftellen. 

Die Regeln wären dann eine Anwendung der Mimik in dem 
weiteren Sinne des Morted auf das Gebiet der religiöfen 
Darftellung. 

$. 289. Da die Handlungen des Kirchendienftes an 
eine befchränfte Räumlichkeit gebunden find, welche ebens 
falls durch ihre Befchaffenheit einen gleichzeitigen Eins 
druff machen kann: fo ift zu entfcheiden, inwiefern ein 

Schleierm. W. J. J. H 


$. 289-292. 114 


folcher zuläſſig iſt oder wuͤnſchenswerth, und demgemaͤß 
Regeln daruͤber aufzuſtellen. 
Da die Umgrenzung des Raums nur eine aͤußere Bedingung, 


mithin Nebenſache, nicht ein Theil des Cultus ſelbſt iſt: fo 


wuͤrden die Regeln nur ſein koͤnnen eine Anwendung der 
Theorie der Verzierungen auf das Gebiet der weigiöſen 
Darſtellung. 

§. 790. Sehen wir lediglich auf den Gegenſaz über: 


wiegend productiver und, überwiegend empfänglicher inz 
nerhalb der Gemeine, ſo daß wir die lezteren als gleich 


betrachten: ſo kann es in der Gemeine eine leitende 
Thaͤtigkeit geben, welche gemeinſames hervorbringt: ſo⸗ 
fern aber unter den empfaͤnglichen ein Theil hinter 
226 dem, ganzen zurüffleibt: fo ift ihr Zuftand als Ein- 
zelner gegenftand der leitenden Thaͤtigkeit. 


Die leztere ift fchon unter dem Namen der Seelforge befannt; 
und wir machen mit ihr den Anfang, da immer die Auf: 


bebung einer ſolchen Ungleichheit ald die eifte Aufgabe.er- . 


ſcheint. Erſtere nennen wir die anordnende, und. fie bringt 


ſowol Ecbensweifen hervor als einzelne gemeinfame Werke. 


$. 291. Gegenftänbe - der. Seelſorge im weiteren 


Sinn find zunaͤchſt die unmuͤndigen in der Gemeine 


zu erziehenden; und die Theorie der zur Drganifation | 


des Kirchendienftes gehörenden auf fie. zu richtenden 
Tätigkeit wird die Kateche tik genannt. | 
Der Name ift nur von einer zufälligen Form der unmittelba- 


ven Ausübung hergenommen,, mithin für ben ganzen Um: 
fang der Aufgabe zu befchränft. 


$. 292%. Das Fatechetifche Gefchäft kann nur richtig 
geordnet werden, wenn zwifchen allen betheiligten eine 


115 $: 202—285. 


Einigung über den Anfangspunft und Endpunkt deffels 
ben befteht. 

Sofern alfo it, wenn diefe Einigung fi fi ch nicht von ſelbſt er⸗ 
giebt, das Geſchaͤft ſowol als die Theorie abhaͤngig von der 
ordnenden Thaͤtigkeit. 

$. 293. Vermoͤge des Zwekks Die unmuͤndigen den 
muͤndigen gleich zu machen, ſofern naͤmlich dieſe die 
empfaͤnglichen ſind, muß das Geſchaͤft aus zwei Thei⸗ 
len beſtehen, daß ſie naͤmlich eben ſo empfaͤnglich wer⸗ 
den fuͤr die erbauende Thaͤtigkeit und auch eben. fo (vergl. 125 
$. 279.) für die ordnende; und die Aufgabe ift beides 
durch ein und daſſelbe Verfahren zu erreichen. 

Das erfte ift die Belebung des religiöfen Bemußtfeind nach 
der Seite des Gebanfen hin, dad andere die Erwekkung 
deffelben nach der Seite des Impulſes. 

4. 294. Sofern aber zugleich der Zwekk fein muß 
fie zu einer. größeren Annäherung an Die uͤberwiegend 
ſelbſtthaͤtigen vorzubereiten: ſo iſt zu beſtimmen, wie 
dies geſchehen koͤnne ohne ihr Verhältniß zu den andern 
muͤndigen zu ſtoͤren. 

Wie die Katechetik uͤberhaupt auf die Paͤdagogik als Kunſt⸗ 
lehre zuruͤkkgeht: ſo iſt auch dieſes eine allgemein paͤdago⸗ 
giſche Aufgabe, die ſich aber doch in Bezug auf das reli⸗ 
gioͤſe Gebiet auch beſonders beſtimmt. 

$. 295. Da nach beiden Seiten (vergl. d. 293.) hin 
nicht nur die Frömmigkeit im Gegenfaz gegen das finns 
liche Selbfibewußtfein, fondern auch in ihrem chriftlichen 
Charakter und als die evangelifche zu entwilfeln ift: 
fo ift auch bier Das Verhalten der individuellen und 
univerfellen Kichtung zu einander, fowol in Bezug auf 


H2 


$. 295-200. 116 


die Ausgleihung als die Fortſchreitung (vergl. 294.) 
zu beitimmen. 

Es ift um fo nothwendiger dieſe Aufgabe in die Theorie auf⸗ 
zunehmen, als in der neueſten Zeit die merkwuͤrdigſten Ver⸗ 
irrungen in dieſem Punkt vorgekommen ſind. 

$. 296. Aus aͤhnlichem Grunde koͤnnen Diejenigen 

16 Einzelnen Gegenſtaͤnde einer ähnlichen Thaͤtigkeit wer⸗ 
den, welche als religioͤſe Fremdlinge im Umkreis oder 
der Naͤhe einer Gemeine leben, und dies erfordert dann 
eine Theorie uͤber die Behandlung der Convertenden. 

Je beſtimmter die Grundſaͤze der Katechetit aufgeftellt find, 
um defto leichter müflen fich diefe daraus ableiten laſſen. 

$. 297. Da aber dieſe Wirkſamkeit nicht fo natuͤr⸗ 

lich begründet ift: fo wären auch Merkmale aufzuftels 
en, um zu erfennen ob fie gehörig motivirt ift. 

Denn es Tann bier auf beiden Seiten gefehlt ‚werden, durch 
zu leichted Vertrauen und durch- zu ängftliche Zuräffhaltung. 

$ 298. Bedingterweiſe koͤnnte ſich eben hier auch 

die Theorie des Miſſionsweſens anſchließen, "welche bis 

jezt noch fo gut als gänzlich fehlt. 

| Am leichteſten freilich nur, wenn man davon ausgeht, daß alle 
Bemuͤhungen dieſer Art nur gelingen, wo eine chriſlliche 
Gemeine beſteht. 

"65299. Einzeln können ſolche Mitglieder der Ge⸗ 

meine Grgenftände für Die Geelforge werden, welche 

ihrer Gleichheit mit den andern durch innere oder äußere 

Urſachen verluftig gegangen find; und die Befchäftis 

gung mit Diefen nennt man die Seelforge im enges 

ren Sinne. 


117 $. 209302. 
Da namlid) bie Gleichheit in des Wirklichkeit immer nur das 
Meinfte der Ungleichheit iſt: ſo ſollen diejenigen, die unter 
ben gleichen bie lezten find, bier nicht gemeint fein; wie 
denn dieſe auch immer vorhanden find, jene aber nur zufällig. 
$. 300. Da nun in dieſem Fall ein befonderes Vers 
haͤltniß anzufnüpfen ift: fo har die Theorie zunaͤchſt zu 
beftimmen, ob es überall auf beiderlei Weife entfteben 
kann, von dem bedürftigen aus und von dem mittheis 
lenden aus, “oder unter welchen Berhältniffen welche 
Weiſe die richtige iſt. | 
Die große Verfchiedenheit der Behandlung dieſes Gegenftandes 
in verfchiedenen Theilen der evangelifchen Kirche ift bis jezt 
weder conftruirt noch befeitigt.: 
$, 301. Da ein folcher Verluft der Gleichheit aus 
innern Urſachen fih nur in einer Oppofition zeigen, 
kann gegen die erbauende oder die ordnende TIhätigfeit: 
jo ift demnaͤchſt zu beftimmen, ob und wie im Geiſt 
der evangelifchen Kirche das Verfahren aus beiden Ele: 
menten (vergl, 3. 279.) zufammenzufezen iſt; endlich 
auch, ob wenn die Seelforge ihren Zwekk nicht erreicht, 
ihr Gefchäft immer nur als noch nicht beendigt anzu⸗ 
ſehen iſt, oder ob und wann und inwiefern der Zuſam⸗ 
menhang der unempfaͤnglich gewordenen mit den leiten⸗ 
den als aufgehoben kann angeſehen werden. 
Die Aufhebung dieſes Zuſammenhanges zoͤge auch die des Zu⸗ 
ſammenhanges mit der Gemeine als ſolcher nach ſich. 
$. 302. In Hinſicht der durch Die Wirkſamkeit aͤu⸗ 
ßerer Urſachen nothwendig gewordenen Seelſorge iſt 
außer der erſten Aufgabe (vergl. $ 300.) nur noch zum 
beftimmen, wie die Uebereinftimmung vieler amtlichen 


6. 302—304. 118 


Wirkſamkeit, die weſentlich die geiftige Krankenpflege 
umfaßt, mit der gefelligen der empfänglichen aus der 
Gemeine zu erreichen ift. 

Denn das im $. 301. in Frage geftellte kann hier kaum ſtrei⸗ 
tig fein, da hier nur zu ergänzen iſt, was durch den mos 
mentan aufgehobenen Antheil im gemeinfamen Leben ver: 
faumt wird. Die erbauende Thaͤtigkeit grenzt hier zu nahe 
an dad gewöhnliche Seſprach, um einer beſondern Theorie 
zu beduͤrfen. 

4. 303. Die innerhalb der Gemeine anordnende Thaͤ⸗ 
tigkeit (vergl, $. 290.) erſcheint in Beziehung auf die 
Sitte beſchraͤnkt, theils. durch. die umfafjenderen Einwir⸗ 
kungen des Kirchenregimentes, theils durch die unab⸗ 
weisbaren Anſpruͤche der perſoͤnlichen Freiheit. 

„Man kann nur ſagen erſcheint; denn die leitenden müffen 

durch ihr eigened perfönliched Freiheitögefühl zurüßfgehalten 

* werben nicht in diefes Gebiet einzugreifen. Eben dadurch aber 
follten auch die leitenden im Kirchenregiment abgehalten 
werden nicht centralifirend in das Gebiet der Gemeine ein: 
“ zugreifen. 

$. 304, Da die evangelifche Sitte eben fo wie die 
Lehre, im Gegenfaz gegen die Fatholifche Kirche, noch 
in der Entwilllung begriffen ift: fo find nur im all 
gemeinen Kegeln aufzuftellen, wie das Gefammtleben 
von einem gegebenen Zuftande aug allmaͤhlig der Ge⸗ 
ww ſtalt näher gebracht werden kann, welche der reiferen 
Einſicht der vorgeſchrittenen gemaͤß iſt. 

Der gegebene Zuſtand kann entweder noch unerkannt man—⸗ 
cherlei vom Katholicismus in ſich tragen, oder auch irrthuͤm⸗ 
lich Schranken, welche das Chriſtenthum ſelbſt ſtellt, uͤber⸗ 
ſchritten haben. 


„7 





1419 . 305—307. 
$. 305. Da Das Leben auch. in der Sriftlichen Ge: 
meine prägte durch geſellige und bürgerliche Verhaͤlt⸗ 
niſſe beftimint- wijd: ſo iſt anzugeben, auf welche Weiſe 
auch in diefein Gebiet, ſo weit Sieg von localen Be- 
ffinmirägen ausgehen tann, dem Einfluß des chriſtlichen 
und: eraugeifäen Geiftes größere Geltung zu verſchaſ⸗ 
fen iſt· 

uUeberall kann hier nur von der BVerfahrungsweife die Rede 
fein,“ indem 1008, materielle der ordnenden Thätigfeit von der 

geltenden Kuffefing der qhriſtlichen Lehre beſonders der Sit⸗· 
tenlehre abhaͤngt. 

$. 306. Da von der ordnenden Thaͤtigkeit auch die 
Aufforderungen zur Vereinigung der Kräfte ausgehen 
müffen zum Behuf aller. solcher gemeinfamen Werke, 
welche in dem Begriff und Bereich der Gemeine Liegen : 
fo ift es wichtig Diefe Orenze (vergl. $. 303.) zu bes 
ſtimmen. 

"Die Aufgabe iſt, dasjenige was für bie amtliche Birkfamkeit 
gehört und befländig fortgeht, 3. B. das ‚ganze Gebiet des 
Diafonatd im urfprünglichen Sinn, von dem zu ſcheiden 
ivad nur von dem perfönlichen Werhältniß einzelner leiten: 

2 den auf einen Theil der Maffe ausgehen Tann. 

$. 307, Der Kirchendienft ift Hier als Fin Gebiet 10 
behandelt worden, ohne die verfchiedene mögliche Weiſe 
der Geſchaͤftsvertheilung irgend beſchraͤnken zu wollen. 

Sonſt haͤtten wir hier ſchon die Theorie der kirchlichen Ver⸗ 
faſſung vorwegnehmen muͤſſen. Wir koͤnnen daher auch 
hier nur nach alter Weiſe alle, die an den Geſchaͤften des 
Kirchendienftes Theil nehmen, in dem Ausdrukk Klerus auf 
diefer Stufe zufammenfaffen. 





$. 308. 309. ” 120 


$. 308. Auch nur in Diefer Allgemeinheit kann da⸗ 
ber die Frage behandelt. werden, ob und was fir einen 
Einfluß das kirchliche Verhaͤltniß zwiſchen Klerus und 
Laien auf das Zuſammenſein der erſten mit den lezten 
ſowol in den buͤrgerlichen als in den geſelligen und 
wiſſenſchaftlichen Verhaͤltniſſen werde zu aͤußern haben. 
Die Aufgaben welche gemöhntich unter dem Namen der Ya; 
ſtoralklugheit behandelt wurden, erſcheinen hier als ganz 
untergeordnet, und ihre Loͤſung beruht auf der. Erledigung 
der Frage, ob und welcher fpeciftiche Unterfchied ſtatt finde 
zwiſchen denen Mitgliedern des Klerus, welche den Cultus 
leiten, und den uͤbrigen. 





Zweiter Abſchnitt. 
Die Grundſaͤze Des Kirhenregimentes. 





§. 309. Wenn das Kirchenregiment in der Geſtal⸗ 
tung eined Zuſammenhanges unter einem Complexus 
von Gemeinden beruht: fo ift zunächft Die Mannigfal⸗ 
tigkeit der Verhaͤltniſſe, welche ſich zwiſchen dem Kir⸗ 
chenregiment und den Gemeinden entwikkeln koͤnnen, zu 
verzeichnen, und zu beflimmen ob durch den eigenthuͤm⸗ 
lichen Charakter der evangelifchen Kirche einige Formen 
beftimmt ausgefchloflen oder andere beftimmt poftulirt 
werden. 


Es wird namlich vorausgeſezt/ daß die Gefleltung eines ſol⸗ 


121 $. 309—312:- 


chen Zuſammenhanges weder dem Weſen des Chriſtenthums 
widerſpricht, noch die Selbſtthaͤtigkeit der Gemeinen aufhebt. 
$. 310. Da die Art und Weiſe, wie ſich die uͤber⸗ 
wiegend felbftthätigen in einem ſolchen gefchloffenen 
Complexus zur Ausuͤbung des Kirchenregiments geftal- 
ten, und wie ſich deſſen Wirkſamkeit und die freie Selbſt⸗ 
thaͤtigteit der Gemeinen gegenſeitig erregt und begrenzt, 
die innere Kirchenverfaſſung bildet: ſo hat die obige 
Aufgabe die Tendenz, dieſe fuͤr die evangeliſche Kirche 
ſowol in ihrer: Mannigfaltigfeit als in ihrem. Gegenſaz 
gegen die Fatholifche auf Grundſaͤze zurüffzuführen. 

Die Löfung muß einerfeits auf Dogmatifche Säge zurüffgehen, 132 
und kann andererfeits nur durch zwekkmaͤßigen Gebrauch 
der Kirchengeſchichte und der kirchlichen Statiſtik gelingen. 

$. 311. Da die evangeliſche Kirche dermalen nicht 

Einen Complexus von Gemeinen bildet, und in vers 
ſchiedenen auch die innere Verfaffung eine andere iſt, 
die "Theologie hingegen für alle diefelbe fein fol: fo 
| muf: die Theorie des Kirchenregimentes ihre Aufgaben 
jo ftellen, wie fie fir alle möglichen evangelifchen Vers 
faffungen diefelben find, und von_jeder aus koͤnnen ges 
loͤſt werden. 
| Das dermalen fol nur bevorworten, dag die Unmöglichkeit 
einer jeden äußeren. Einheit der evangelifchen Kirche wenig: 
ſtens nicht entfchieden ifl. 
$. 312. Da jedes gefchichtliche ganze nur “Durd) 
diefelben Kräfte fortbeftehen kann, Durch die es entftan- 
den ift: fo befteht Das evangelifche Kirchenregiment aus 
zwei Elementen, dem gebundenen, nämlich der Geftal: 








‘;’ 
2 


$. 312-314, 122 
tung Des Gegenfazes für den gegebenen Somplerus,| 


und dem ungebundenen, nämlich der freien Einwirkung 


auf Das ganze, welche jedes einzelne Mitglied der Kirche’ 
verfuchen kann, das ſich Dazu berufen glaubt, ” 
Die evangelifche Kirche nicht nur in Bezug auf bie. Berichti⸗ 
gung ber Lehre, fondern auch ihre Verfaſſung oder -ihr ge 
bundened Kirchenregiment, ift urfgrünglich aus dieſer freien 
Einwirfung entflanden, ohne welche auch, da das gebundene 


13°. mit der Berfaffung identifch ift, eine Berbefferung ber Ber: 


faffung denkbarerweiſe nicht Eifolgen koͤnnte. — Damit die 
lezte Beſtimmung nicht tumultuariſch erſcheine, muß nur 
bedacht werben, daß wenn fich einer, der nicht zu den über 
wiegend productiven gehört, doch. berufen glauben follte, 

"der Verfuch von felbft in nichts zerfallen wuͤrde. 

6. 313. Beide koͤnnen nut Denfelben Zwekk haben, 
Cvergl. 9. 25.) die Idee des Chriſtenthums nach der, 
eigenthuͤmlichen Auffaſſung der evangeliſchen Kirche in 
ihr immer reiner zur Darſtellung zu bringen, und im⸗ 
mer mehr Kräfte für ſie zu gewinnen. Das organi⸗ 
ſirte Element aber, die kirchliche Macht oder richtiger 
„Autorität, fann dabei ordnend oder beſchraͤnkend auf: 
‚treten, das nicht organifirte oder Die freie seitig Macht 
nur aufregend und warnend. 

Einverfianden jedoch, daß auch ber firchlichen. Matht jede aͤu⸗ 
ßere Sanction fuͤr ihre Ausſpruͤche fehlt; To daß der Unter: 
fchied wefentlich darauf hindusläuft, da diefe als Ausdruft ;, 
des Gemeingeiſtes und Gemeinſinnes wirken, die freie geiſtige 
Macht aber etwas erſt in den Gemeinſinn und Gemeingeiſt 
bringen will. 

6. 314. Der Zuſtand eines kirchlichen ganzen iſt 

deſto befriedigender, je lebendiger beiderlei Thaͤtigkeiten 


u 


123 6. 814-316. 


ineinander greifen, und je beftimmter auf beiden Ge⸗ 
bieten mit dem Bewußtſein ihres relativen Gegenſazes 
gehandelt wird. 
Die kirchliche Autoritaͤt hat alſo zu vereinigen, und die Theo⸗ 
rie muß die Formel dafür (vergl. $. 310.) auffuchen, wie 
ihr. überwiegend obliegt, Dad durch die lezte Epoche gebildete 134 
Princip zu erhalten und zu befefligen, zugleich aber auch 
die Aeugerungen freier Geiſtesmacht zu begünftigen und zu 
befchüzen, welche allein die Anfänge zu umbildenden Ent: 
wikklungen hervorbringen kann. Eben fo für die freie Gei- 
ftesmacht, wie fle ohne der Stärke der Ueberzeugung etwa 
zu vergeben, fih doch mit dem Segnügen Tonne, was durch 
die firchliche- Autorität ind Leben zu bringen if. _ 
$. 315. Da ein größerer Firchlicher Zufammenhang 
nur flatt finden kann bei einen gewiffen Grade von 
Gleichheit ‚oder einer gewiffen Leichtigkeit der Ausglei- 
&ung unter den ihn conftitwirenden Gemeinen: fo hat 
auch überall die Firchliche "Autorität einen Hıitheil an 
der Geftaltung und Aufrechthaltung des Gegenfazes 
zwoifchen Klerus und Laien in den Gemeinen.. 
Naͤmlich nur einen Antheil, weil die Gemeine fruͤher iſt als 
der lirchliche Nexus, und weil fie nur if, fofern diefer Ge 
genſaz in ihr beſteht. “ 
$.. 316. Da Diefer Antheil ein größtes und ein Elein- 
fies fein kann: fo hat die Theorie dieſe Verfchiedenheit 
erft zu firieen, und dann zu beftiminen, welchen ander= 
meitigen Berhältnifien und Zuftänden jede Weile zu: 
komme, und ob fie diefelbige fei fuͤr alle Sunctionen 
des Kirchendienftes oder eine andere für andere. 
Denn daß in dieſem fcheinbar flätigen Uebergang vom Eleins 
ften zum größten fich doch gewiſſe Punkte ald Hauntunter- 


8. 316-319. 1% | 
ſchiede feftftellen laſſen, verfteht ſich aus allen ähnlichen 8a 
len von ſelbſt. 

$. 317. Da ferner jene Gleichheit weder als um 

veränderlich noch als fih immer von felbft wiederher 

flellend angefehen werden kann, mithin fie zugleich ein 

Werk der kirchlichen Autorität fein muß: fo ift die Art 

und Weife diefen Einfluß auszuäben, Das heißt der Bes 

griff der Firchlichen Gefesgebung, zu beftimmen. 

Zugleich; weil fie nämlich in gewiſſem Sinne ſchon vor 
panden fein muß vor der kirchlichen Autorität. — Dei Au 
drukk Geſezgebung bleibt, weil die kirchliche Autorität eben: 
falls aller aͤußeren Sanction entbehrt, immer ungenau. 

§. 318. Da nım dieſe Gleichheit. zunaͤchſt nur er⸗ 

ſcheinen kann im Cultus und in der Sitte, beide aber 
an fid) Dee adäquate Ausdruff der an jedem Ort hert⸗ 
ſchenden Froͤmmigkeit fein ſollen: fo entſteht die Anfı 
gabe beides durch die kirchliche Geſezgebung zu vereini⸗ 
gen und vereint zu erhalten. 

Es liegt in der Natur der Sache, daß dies nur durch Anni 
herung gefchehen Tann, und daß alſo die Theorie vorzüglich 
darauf ſehen muß, das Schwanken zwiſchen dem Ueber: 
gewicht des- einen und des andern in n moögüichn enge Gren— 
zen einzuſchließen. 

$. 319. Da beide nur , ſeſern ſie fi ſelbſt gleich 

bleiben, als Ausdrukk der kirchlichen ‚Einheit fortbeſtehen 

koͤnnen, alles aber was und ſofern es Ausdrukk und 

Darſtellungsmittel iſt, ſeinen Bedeutungswerth allmaͤh⸗ 

lig aͤndert: ſo entſteht die Aufgabe fuͤr die Geſezgebung, 

16 ſowol die Freiheit und Beweglichkeit von beiden anzus’ 

erfennen als auch ihre Gleichförmigfeit zu begründen, 


125 $. 319— 322, 
Hiedurch muß fich- zugleich auch das Verhältnig der kirchlichen 
"Autorität zum Kirchendienft in der Conftitution des Cultus 
und der Sitte wenigftens in beflimmte Grenzen einfchließen. 
e 9. 320. Der kirchlichen Autorität muß ferner gezie= 
„men, im Falle einer Oppofition in den Gemeinen, rühre 
gfie nun her (vergl. $. 299.) von einzelnen aus der 
Einheit mit dem ganzen gefallenen oder von: zuruͤkk⸗ 
getretener Einheit überhaupt, als hoͤchſter Ausdrukk des 
Gemeingeiftes den Ausfchlag zu geben, wenn innerhalb 
der Gemeine feine Einigung zu erzielen ift. | 
Geltend wird diefer Audfchlag immer nur, fofern auch die Op: 
ponenten nicht , aufhören wollen in dieſem Tirchlichen Verein 
7 ihren chriftlichen Gemeinfchaftöbetrieb zu befriedigen. 
$. 321. In fofern die Eirchliche Autorität hierauf 
‚gentweder Durch allgemeine Beſtimmungen einwirft, oder 
imenigftens folchen folgt, wo fie einzeln zutritt, muß bier 
rildie Frage erledigt werden, ob und unter welchen Vers 
haͤltniſſen in einem evangelifchen Kirchenverein Kirchen: 
a zucht ſtatt finde oder auch Kirchenbann. 
Ä Lezterer naͤmlich ſofern die Aufhebung des Verhaͤltniſſes eines 
er einzelnen zur Gemeine oder zum Kirchenverein von der Au⸗ 
toritaͤt ausgeſprochen werden kann. Erſteres inſofern eine 
ſttattgehabte Oppoſition nur. durch eine Öffentliche Anerken- 137 
‘ nung ihrer Unrichtigkeit folle beendigt werden koͤnnen. 
$. 322: Ueber das Berhältniß der kirchlichen Autos 
h ride zu dem Lehrbegriff machen fich noch fo entgegen: 
pn, geſezte Anfichten geltend, Daß es unmoͤglich ſcheint einen 
® emeinfamen Ausgangspunkt zu finden, fo daß eine 
1, Theorie nur bedingterweife kann aufgeftellt werden. 
Ja ed möchte fogar nicht einmal leicht fein die Partheien zum 


® 


$. 822324. 426 | 
Ginverftänbnig über den Ort, wo. ber Streit eniſc 
werden follte, mithin gleichſam zur zahl eines Schiel 
ters zu bringen. 
$. 323. Ausgehend einerfeite Davon, daß der 
geliſche Kirchenverein entſtanden iſt mit und faſt 
der Behauptung, daß Feiner Autorität zuſtehe den 
begreift feftzuftellen ‘oder zu ändern, andererfeits de 
daß wir ohnerachtet der Mehrheit evangelifcher Kir 
vereine, welche verfchiedenen Marimen folgen,. Doch, 
evangelifche Kirche und eine dieſe Einheit bezeug 
Lehrgemeinſchaft anerkennen ‚ glauben wir die Auf 
nur fo ftellen zu dürfen. Es ſei zu beftimmen, wi 
Firchliche. Autorität eines jeden Vereins, anerfennend 
Aenderungen in den Lehrfäzen und Formeln nur. 
ftehen dürfen aus den Forfchungen einzelner, wenn. 
in die Ueberzeugung der Gemeine aufgenommen: 
den, dieſe Wirkſamkeit der freien Geiftesmächt beſchi 
»ss zugleich‘ aber Die Einheit der Kirche in den Grundj 
ihres Urfprungs feſthalten koͤnne. 
Natuͤrlich ſoll keinesweges ausgeſchloſſen werden, daß 
dieſelben, welche als kirchliche Autoritaͤt wirken, auch 1 
ten die Wirkſamkeit der freien Forſchung ausuͤben; ſon 
nur um fo ſtrenger iſt darauf zu halten, daß ſie dies 
in der Weiſe und unter der Firma der kirchlichen Auto 
thun. — Ganz entgegengefezt aber muß die Aufgabe 
fielt werden, wenn man von der Vorausſezung au; 
daß die Kirche nur durch eine in einem anzugebenden E 
genaue Gleichfoͤrmigkeit ber Lehre ald Eine beſtehe. 
§. 324. Das obige (vergl. $. 322.) gilt auch 
den Rechten und Dbliegenheiten der Firchlichen Aut 


1%7 $. 324. 325. 


it in Bezug auf die DVerhältniffe. der Kirche zum 
Staat, indem feine Handlungsweiſe, welche irgend vor⸗ 
eſchrieben werden koͤnnte, ſich einer allgemeinen An⸗ 
‚fennung erfreuen wuͤrde. 

Nur dies fcheint bemerktich zu fein, daß da wo bie’ evangelifche 


Kirhe gänzlid vom Staat getrennt: ift, niemand andere’ 


— Münfche hegt; da aber wo eine engere Verbindung zwiſchen 
beiden ſtatt findet, die Meinungen in der Kirche getheilt find, 


. 325. Ausgehend einerſeits davon/ 5. dab wenn ‚die 


Heche nicht will eine weltliche Macht-fein, fie auch) nicht 


arf indie Organifation  derfelben. verflochten ſein wol⸗ 


n, andrerſeits davon, daß was Mitglieder ‘Der Kirche, 
elche. an der Spize des bürgerlichen Regiments ſtehn, 


dem kirchlichen Gebiet thun, ſie doch nur in der Iso. 


'orm ber Kirchenleitung thun koͤm̃en, vermoͤgen wir 


ie Hirfgabe nur fo gu .flellen, Es ſei zu beſtimmen, 
uf welche Weiſe die kirchliche Autoritaͤt unter den ver⸗ 


biehenen ‚gegebenen Berhaͤltniſſen dahin zu wirken habe, 


aß die Rirche weder in eine kraftloſe Unabhaͤngigkeit 


om: Saat, noch in eine: wie immer angefehene Dienft 
arkeit unter. ihn gerathe, 
Die Theorie‘ aſt hoͤchſt ſchwierig aufzuſtellen, und gewaͤhrt doch 


wenig Ausbeute, weil, wenn die Firchliche Autorität fchon _ | 


eine Verfhmelzung der Kirche mit der politifchen Organi- 
fation ‘oder eine den Einfluß äußerer Sanction benuzende 
Verfahrungsart in kirchlichen Angelegenheiten vorfindet, ſie 
unter ihrer Form nur indirect dagegen wirken kann, alles 
andere aber von den allmähligen Einwirkungen ber freien 
Gdiſtesmacht erwarten muß. — Und wie wenig Ueberein- 
flimmung aud in den erften Grundſaͤzen iſt, wird am beiten 


$. 325327. 128 
daraus Mar, daß, wo die Kirche fich in einer Dienſtbarkeil 
ohne Anfehen befindet, immer einige vorziehen werden in 
der Dienftbarkeit Anfehen zu erwerben, andere aber unan: 
gefehen zu bleiben wenn fie nur unabhängig werden Eönnen, 


$. 326. Dieſelbe Aufgabe Fehrt noch in einer be 
fonderen Beziehung wieder, wenn. der Staat Die ges 
fammte Organifation der Bildungsanftalten in die feis 
nige aufgenommen bat, indem alsdann in Beziehung 
auf die geiftige Bildung, durch welche allein fowol der 
uo evangelifche Cultus erhalten werden als auch eine freie 
Geiftesmacht in der Kirche beftehen kann, ebenfalls kraft⸗ 
lofe Unabhängigfeit oder wohlhabende Dienftbarkeit 
drohen. 

"Für dieſes Gebiet kann unter ungänfligen Umftänden fehr Leicht 
das ſchwierige und nicht auf einfache Weiſe zu loͤſende Dis 
lemma entfiehen, ob der Kirchenverein fich folle ‚mit dem 
wenn aud) noch fo dürftigen Apparat begnügen, ben er ſich 
unabhängig erwerben und bewahren kann, oder ob er es 
wagen folle aud) aus mit nicht evangelifchen Elementen vers 
festen Quellen zu fchöpfen. 

$. 327. Da die verfchiedenen für fich abgefchloffenen 

Gemeinvereine, welche zufammen. die evangelifche Kirche 
bilden, theils Durch Auferliche der Veränderung unter: 
worfene Verhaͤltniſſe, theils Durch Differenzen in der 
Sitte oder Lehre, Deren Schäzung ebenfalls der Ver: 
änderung unterworfen ift, gerade fo begrenzt find, Die- 
meiften aber fich durch dieſe Begrenzung an ihrer 
Selbftändigkeit gefährdet finden: fo entftcht die Aufs 
gabe fiir jeden von ihnen, fih einem genaueren Zufam: 
menhang mit den übrigen offen zu halten und ihn in 


J 


” 
Is 


I 


129 §. 327—329. 


feinem innern vorzubereiten, Damit feine günftige Ges 
legenheit ihn bervorzurufen verfäaumt werde. 
Diefe Aufgabe bezeichnet zugleich bad Ende bed Gebietes ber 
firchlichen Autorität; denn nicht nur flirbt mit der Löfung 
der Aufgabe jedes bisherige Kirchenregiment feinem abgefonder: 
ten Sein ab, fondern auch die Köfung felbft, weil fie über das 
Gebiet der abgefchloffenen Autorität hinausgeht, kann nur durch 
die Wirkſamkeit der freien Geiftesmacht hervorgerufen werden. 
$. 328, Da das ungebundene Element des Kirchens nu 
regimentes (vergl, $. 312.) welches wir durch den Auss 
drukk freie Geiſtesmacht in der evangelifchen Kirche 
bezeichnen, als auf das ganze gerichtete Thätigkeit ein⸗ 
selner, eine möglihft unbefchrantte Deffentlichkeit, in 
welcher fich der einzelne Außern kann, vorausfezt; fo 
findet es fich jezt vornehmlich in dem Beruf des afades 
mifchen Theologen und des firchlichen Schriftftellers. 
Bei dem erften Ausdrukk ift nicht gerade an die nur zufällige 
jest noch beftehende Form zu denken; doch wird immer eine 
münbliche, große Maffen der zur Kirchenleitung beflimmten 
Jugend vielfeitig anregende Ueberlieferung etwas höchft wüns 
ſchenswerthes bleiben. — Unter dem lezten find in dieſer 
Beziehung diejenigen nicht mit begriffen, welche nur ihre 
Berrichtungen im Kirchendienft auf die Schrift übertragen. 
$. 329, Beide werden ihre allgemeinfte Wirkung (vergl, 
$. 313. 314.) nur in dem Maaß vollbringen, als fie 
dem Begriff des Kirchenfürften (vergl, $. 9.) nahe kommen. 
Des in. $. 9. ermähnten Gleichgewichts bedürfen beide um fo 
weniger, als fie fi) mit ihrer Production in dem Gebiet 
einer befonderen wiffenfchaftlichen Wirtuofität bewegen. Aber 
in bemfelben Maag werden fie auch Feine allgemeine anres 
gende Wirkung auf dad Kirchenregiment ausüben. 
Schleierm. W. J. 1. J 


8. 330—332. 130 


.$. 350. Da der alademifche Lehrer in der von reli⸗ 
gioͤſem Interefje vorzüglich belebten Jugend den wiſſen 
»a2 fchaftlichen Geift in feiner theologifchen Richtung erft 
recht zum Bewußtſein bringen fol: fo ift die Methode 
anzugeben, wie dieſer Geift zu beleben fei ohne das 
religiöfe Intereſſe zu ſchwaͤchen. | 
Wie wenig man nod im Beſiz dieſer Methode ik, lehrt eine 
nur zu zahlreiche Erfahrung. Es bleibt übrigens dahin: 
geſtellt, ob dieſe Methode eine allgemeine fei, oder ob es bei 
verfehiedenen Difeiplinen auf verfehiedened ankommt. 
$. 331. Da das vorhandene um fo weniger geniigt, 
als der wiflenfchaftliche Geift Die einzelnen Difeiplinen 
durchdringt: fo ift eine Verfahrungsweiſe aufzuftellen, 
wie die Aufmunterung und Anleitung, um die theolo- 
gischen Wiſſenſchaften weiter zu fördern, zugleich zu ver: 
binden fei mit der richtigen Werthfchäzung der bisheri- 
gen Ergebniffe und mit treuer Bewahrung des dadurch 
in der Kirche niedergelegten guten, 
Eine gleiche Erfahrung bewährt hier denfelben Mangel, und 
“ unläugbar kommt von der allzufcharfen Spannung zwifchen 
denen welche neued bevormworten und denen welche fidy vor 
dem alten beugen, vieled Auf Rechnung ber Lehrweiſe. 
§. 332, Sofern die fehriftftellerifche Thaͤtigkeit auf 
Beftreitung des falfchen und verderblichen gerichtet ift: 
fo ift dem theologiſchen Schriftfteller befonders die Me⸗ 
thode anzugeben, wie er fowol das wahre und gute, 
woran fich jenes findet und womit es zufammenhängt, 
nicht nur auffinden fondern auch zur Anerkenntniß bringen 
Tann, als auch dem eigenthünlichen, worin es erfcheint, 
feine Beziehung auf das kirchliche Beduͤrfniß anweifen. 


131. $. 332—335. 
Der Saz, daß aller Irrthum nur an ber Wahrheit ift, und 
. alles fchlechte nur am guten, ift die Grundbedingung alle 

Streited und aller Eorrection. Der legte Theil der Aufgabe 

ruht einerfeitd auf der Vorausfezung, daß irriged und ſchaͤd⸗ 

liches, wenn nicht durch Eigenthümlichkeit getragen, wenig 

Einfluß ausüben kann, anbererfeitö auf der, daß alle Gaben 

in der Kirche fich erweilen können zum gemeinen Nuz 

$. 333. ‚Sofern fie neues zur Anerkenntniß bringen 
und empfehlen will, wäre eine Formel zu finden, vie 
die Darftellung des Gegenfages zwifchen dem neuen 
und alten, und Die des Zufammenhanges zwifchen beis 
den fih am beften unterſtuͤzen koͤnnen. 

Denn ohne Gegenſaz waͤre es nicht neu, und ohne Zuſammen⸗ 
hang waͤre es nicht anzuknuͤpfen. 

$. 334. Da die öffentliche Mittheilung fich leicht 

weiter verbreitet: alö fie eigentlich verflanden wird: fo 
entfteht die Aufgabe, jene Darftellung fo einzurichten, 
daß fie nur für Diejenigen einen Reiz bat, von denen 
auch ein richtiger Gebrauch zu erwarten ift. 

Die fonft hiezu faft ausfchliegend empfohlene und augewendet 
Regel, ſich bei Darſtellungen von denen Mißdeutung oder 
Mißbrauch zu erwarten iſt, nur der gelehrten Sprache zu 

bedienen, iſt den Verhaͤltniſſen nicht mehr angemeſſen. 





Schlußbetrachtungen 
über die praktiſche Theologie. 


$. 335. Von der Scheidung zwifchen dem mas 
jedem obliegt, und dem was cine befondere Virtuofität 
conftituirt, konnte bier feine Erwähnung gefchehen. 
32 


$. 335238. 132... | | 
Denn fie kann nur auf zufälligen oder faft perfönlichen Beſchraͤn⸗ 
kungen beruben, und ergiebt ſich dann von felbft. An und für ſich 
betrachtet kann jeder zur Kirchenleitung berufene auf jede Weiſe 
wirkſam fein; und ed giebt nicht fowol verfchiebene trennbare 
Gebiete ald nur verfchiedene Srade erreichbarer Vollkommenheit. 
$, 336, Die Aufgaben, zumal im Gebiet des Kirchen: 
regiments, wird derjenige am richtigften ftellen, Der fich feine 
philofophifche Theologie am vollkommenſten durchgebildet 
hat. Die richtigften Methoden werden fich demjenigen dar 
bieten, der am vielfeitigften auf gefchichtlicher Bafis in der 
Gegenwart Iebt. Die Ausführung muß am meiften durch 
Naturanlagen und allgemeine Bildung gefördert werden. 
Wenn nicht alles, was in biefer encyclopäbifchen Darftellung aus: 
einander gelegt ift, bier geforbert würde, fo wäre fie unrichtig; 
fo wie die Forderung unrichtig wäre, wenn fie etwas enthielte, 
was in keiner encyclopädifchen Darftellung enthalten fein Bann. 
us % 337. Der Zuftand der praftifchen Theologie als 
Difeiplin zeigt, dab was im Studium jedes einzelnen 
das lezte ift, auch als das lezte in der Entwifllung der 
Theologie überhaupt erfcheint. 
Schon deshalb weil fie die Durhbildung ber philofophifchen 
Theologie (vergl. $. 66. u. 259.) vorausfezt. 
$. 338. Da fowol der Kirchendienft ale das Kirchen⸗ 
regiment in der evangelifchen Kirche mefentlich durch ihren 
Gegenſaz gegen Die römifche bedingt ift: fo ift es Die 
hoͤchſte Vollkommenheit der praftifchen Theologie beide 
jedesmal fo zu geftalten, wie es dem Stande Diefes Ge: 
genfazes zu feinem Culminationspunft angemeffen ift. 
Hiedurch geht fie befonderd auf bie hoͤchſte Aufgabe der Apo: 
logetif (vergl. $. 53.) zuruͤkk. 





— ⸗ 


Ueber die Religion. 
Reden 


Die gebildeten unter ihren Veraͤchtern. 


“ 


1799. 1806, 1821. 1831. 


“.. 


An 


Guftaf von Brinkmann. 


Laß es Dir auch unangekuͤndiget und wol unerwartet dennoch v 
gefallen, Freund, daß bei ihrer zweiten Erfcheinung diefe Schrift 
Dir befonderd dargebracht werde. Denn nicht ungefchikft ift fie 
fchon durch ihren Inhalt Di) an jene Zeit zu erinnern, wo fh 
gemeinfchaftlih unfere Denkart entwiftelte, und mo wir lodge: 
fpannt durch eigenen Muth aus dem gleichen Joche, freimüthig 
und von jedem Anfehn unbeftochen die Wahrheit fuchend, jene 
Harmonie mit der Welt in und hervorzurufen anfingen, welche 
unfer innered Gefühl und weiffagend zum Biel fezte, und welche 
das Leben nach allen Seiten immer vollkommener ausdrüffen fol. 
Derfelbe innere Gefang, Du weißt e8, war es auch ber in diefen 
Reden, wie in manchem andern was ich Öffentlich gefprochen, 
ſich mittheilen wollte; hier jedoch nicht fo, wie in wahren Kunfl: 
werfen höherer Art, auf eine ganz freie Weiſe; fondern Schema 
und Ausführung war mir abgedrungen von der Zeit und ben 
Umgebungen, und fand in der genaueften Beziehung auf bie 
welche mich zunächft hören follten. 

Diefed Verhältnig nun macht die Gabe welche ih Dir bar: 
bringe unbebeutender ald fie vieleicht fonft fein würde, fo daß 
ich hoffen muß, die ſchoͤne Erinnerung, zu welcher ih Dich auf 
fordere, fol länger leben, ald diefes Denkmal feiner Natur nad 


136 


vermag. Denn fehr vergänglich muß ein Werk fein, welches fih 
vı jo genau an ben Charakter eines beflimmten Zeitpunftes an: 
ſchließt, eines folchen zumal, wo. mit biefer Schnelligkeit, wie wir 
es jezt in Deutfchland gefehen haben, die Schulweisheit nicht 
nur, fondern auch die herrfchende Gefinnung und Empfindung®: 
weife wechfelt, und ber Schriftfteller nach wenigen Jahren einem 
ganz anderen Gefchlecht von- Lefern und Denkern gegenüberfieht. 
Darum hätte ich mich faft widerfezt dagegen, biefe Neben, nad): 
bem. fie ihren erſten Umlauf gemacht, zum zweiten Male aud 
zufenden, wenn ich nicht gefürchtet hätte, ob mir wol einfeitig 
noch ein Recht zuftände auf folhe Art über dasjenige abzufpre: 
hen, was einmal in den freien Gemeinbefiz aller bingegeben 
; war. Ob ich nun aber bei diefer zweiten Ausſtellung dad rechte 
getroffen magft Du beurtheilen. Was zuerft jenen allgemeinen 
Charakter betrifft der Beziehung auf den Zeitpunkt, in welchem 
das Buch zuerſt erfchien, fo mochte ich diefen nicht verwiſchen; 
ia ich bemerkte auch, zu meiner Freude geftehe ich Dir, daß ich 
es nicht Tonnte, ohne dad ganze fo völlig umzubilden, daß es 
wirklih ein andered geworden wäre. Daher habe ich mir in 
dieſer Hinficht nichtd erlaubt ald Einzelheiten zu ändern, welche 
allzuleicht bei denen, die an die Sprache des heutigen Tages ge: 
wöhnt find, dad .geftrige aber nicht kennen, Mißverfländniffe ver: 
urfachen Eonnten, zumal wo ed auf dad Berhältnig der Philoſo⸗ 
phie zur Religion ankam, und das Wefen der lezteren durch ihren 
Unterfchied von der erfteren follte bezeichnet werden. Was ich 
dagegen gern ganz verwifcht‘ hätte, wenn es mir möglich gemefen 
wäre, ift dad nur alzuflard dem ganzen Buch aufgedrüfte Ge: 
präge des ungeübten Anfängers, dem die Darftelung immer nicht 
fo klar gerathen will ald der Gegenftand ihm doch wirklich vor 
vır Augen flebt, und der die Grenzen des Sprachgebieted, in welchem 
er fich zu bewegen hat, nicht beflimmt erkennt. 
Du erinnerfi Dich, was wir über das leztere, ald wir und 
neulich fahen, gefprochen haben. Deiner Hülfe, die ich mir das 


137 


mals erbat, habe ich leider entbehrt, und gewiß zum Nachtheil 
meiner Arbeit. Indeß kannſt Du nun aud dem, wad an biefer 
geſchehen ift, ziemlich genau beurteilen, in wiefern wir einig 
find über die Grenzen der Profe, und das in ihr nicht zu dul⸗ 
dende poetifirende, und in wiefern ich Recht hatte zu fagen, daß 
oft fhon durch eine Aenderung in der Stellung ber Worte das 
richtige Verhaͤltniß Tonne ‚wiederhergeftellt werben. Meines Wiſ⸗ 
fend habe ich nichtd irgend ‚bedeutendes mein Gefühl in diefer 
Hinficht beleidigended unbewegt gelafien, und mich bei feiner 
Aenderung beruhiget, die jened Gefühl nicht befriediget hätte. 
Was aber bie an vielen Stellen fehr unklare Darftelung 
betrifft, fo war mir das Buch feit mehreren Jahren fremd ges 
worden, fo daß ich glaube fie jezt eben fo fehr gefühlt zu haben 
als irgend ein Zeler. Daß ich nicht ganz geringe Anftalten genug 
getroffen habe um hierin foviel irgend möglich war zu befjern, wird 
Dir fchon eine fluͤchtige Vergleihung zeigen. In wiefem ch 
meine Abficht erreicht habe, darüber habe ich jezt noch Fein rech⸗ 
tes Urtheil fondern erwarte dad Deinige. Zu manchen Mißver: 
fländniffen, deren dad Buch fo vielerlei ganz wunderliche erfahren 
hat, mag die Beranlaffung in jener Unvollfommenheit gelegen 
baden, und viele können nun wol gehoben werden. Nichts aber 
follte mir weher thun, als wenn in der Art, wie nun aufd neue 
über died Buch wird geurtheilt werben, jenes große Mißverftänd- 
niß nicht mehr hervorträte, an welchem wir und oft ergözt haben, 
dag wir nämlich mit unferer Denkart immer von den. ungläusvauu 
bigen für Schwärmer, van den abergläubigen aber und von de⸗ 
nen bie in der Knechtſchaft ded Buchflaben fich befinden, für 
ungläubige gehalten werden. Denn wenn mein Buch dieſes 
Zeichen nicht mehr an ficy trüge, fo.hätte ich ed, anftatt daran 
zu-befiern, gänzlich verunftaltet. 
Lebe wohl, und möge das Schikkſal uns bald wieder zufam- 
menführen. Nur fei auch diefe Bunft nicht die Kolge einer fols 


= 


138 


chen Ruhe von der nur feigherzige Gemüther etwas angenehme | 

und erfreuliches zu erwarten fähig find. 
Halle, den 29. Auguft 1806. Ä 

5. Schleiermacher. 


Noch einmal, mein geliebter Freund, uͤbergebe ich Dir dieſes 
Bud. Was ich darüber ben Lefern überhaupt zu fagen habe, 
das kannſt auch Du als folcher unten finden. Dir aber, dem 
auch ich wie Deutfchland und feine mannigfaltigen geiftigen Be⸗ 
wegungen fremder geworden bin durch lange Trennung — denn 
alles was Dir eine gefchwäzige Litteratur über die baltifche See 
hinüberbringt, giebt doch nicht das Hare Bild, das fich in dem» 
jenigen geftaltet, der unmittelbar anfchaut und mitlebt — Dir 
wünfche ich vorzüglich dadurch wieder nahe zu treten, ſo daß bie 
verblichenen Züge meines Bildes fih Dir wieder auffrifchen moͤ⸗ 
gen und Du nun den ehemaligen wieder erkennft, wenn gleich 
in der Zwifchenzeit Die manched vorgefommen fein mag, was 

ıx Dir fremd erfchien. Und wie wir damals ald Sünglinge nicht 
gern wollten eined einzelnen Schüler ‚fein, fondern alle Richtun- 
gen der Zeit auf’ unfere Weife aufnehmen, und diefes Buch wie 
meine andern früheren fchriftftelerifchen Erzeugniffe weber an 
eine Schule ſich anfchliegen wollte nody auch geeignet war eine 
eigne zu fliften: fo bin ich auch in meiner unmittelbaren Wirk: 
famfeit auf die Jugend: demfelbigen Sinne treu geblieben, und 
habe mir, nicht verlangend daß die Söhne fehlechter fein follten 
als die Väter, nie ein andered Ziel vorgefezt ald durch Darftel: 
(ung meiner eignen Denfart auch nur Eigenthümlichkeit zu wel: 
"ten und zu beleben, und im Streit mit fremden Anfichten und 
Handlungsweiſen nur dem am meiften entgegenzuwirten, was 


[OO ME Di 3A u En AD Fe. ee, > e u N - ME PE- TEE — Zi 


3 


139 


freie geiftige Belebung zu hemmen droht. Beide Beſtrebungen 
fander ja auch Du in dieſem Buche vereint, und fo ift auch 
in dieſer Beziehung durch daffelbe mein ganzes Lebensbekennt⸗ 
niß audgefprochen. | 

Ich Tann Dir aber died Buch nicht fenben ohne eine weh: 
müthige Erinnerung audzufprechen die auch in Dir anklingen 
wird. Als ich nämlidy daran gehen mußte ed aufd neue zu über: 
arbeiten, fchmerzte ed mich tief, daß ich es dem nicht mehr fen: 
den Eonnte, mit dem ich zulezt viel Darüber gefprochen, ich meine 
F. H. Jacobi dem wir beide fo vieled verdanken und mehr 
gewiß ald wir willen. Nicht über alles konnte ich mich ihm 
verfländigen in wenigen zerflreuten Zagen, und manches würde 
ich eigens für ihn theils hinzugefügt theild weiter ausgeführt ha- 
ben in den Erläuterungen. Habe ich mich ihm aber auch nicht 
ganz können aufichließen: fo gereicht ed doch zis dem liebſten in 
meinem Leben, daß ich noch kurz vor feinem Hingang fein per: 
fönliches Bild auffaffen und mir aneignen und ihm meine Ber: 
ehrung und Liebe Eonnte fühlbar machen. 

. Lebe wohl, und laß auch dad Land Deiner Erziehung und 
Entwilfelung bald etwas. von den anmuthigen und veifen Fruͤch⸗ 
ten Deined Geiſtes genießen. .. 

Berlin, im November 1821. 


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Borrede 


zur Dritten Ausgabe. 





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Als mein Freund ber Verleger mir ankuͤndigte, die Erempları 

diefer Reben wären vergriffen und. es bebürfe einer neuen Auf « 

lage: fo war ich faft erfchrekft, und hätte wünfchen Finnen, er ' 

möchte eine Anzahl im Stillen abgedrukkt haben ohne mein Wif « 

fen. Denn ic) war in großer Verlegenheit, was. zu thun fe. | 

Den Abdrukk weigern, wäre wol ein Unrecht gewelen gegen bie 
Schrift und gegen. mich; denn es würbe von den meiften fein 

audgelegt worben, als mißbilligte ich fie und möchte fie gem 

zurüffnehmen. Aber wozu auf der andern Seite ihn geflatten, 
ba die Zeiten fich fo auffallend geändert haben, daß bie Perſo⸗ 
nen, an welche biefe Reben gerichtet find, gar nicht mehr da zu 
xi fein fcheinen? Denn gewiß, wenn man ſich bei und wenigſtens, 
und von bier find doch auch urfprünglich diefe Reben ausgegan: 
gen, umfieht unter den gebildeten: fo möchte man eher nöthig 
finden, Reden zu fchreiben an frömmelnde und an Buchſtaben⸗ 
Inechte, an unmiffend und lieblos verdbammende abers und über 
gläubige; und ich Fönnte, zufrieden dag Voß fein flammenbes 
gezogen hält, dieſes ausgediente Schwerbt nicht unzufrieden mit 
feinen Thaten aufhängen in der Ruͤſtkammer der Litteratur. In: 
deß in welchem Maag nach meiner Ueberzeugung eine Schrift, ifl 
fie einmal öffentlich audgeftelt, ihrem Urheber noch gehört ober 
nicht, darüber habe ich mich ſchon in der Zueignung erklärt; und 
fo war ich auch bedenklich zu fagen, daß Diejenigen, welche. Died 
Buch noch ſuchten — ob es aber folche gebe oder nicht, das zu 


.141° 


‚ wiffen ift eigentlich die Pflicht nnd die Kunſt ded Verlegers — 


gar kein Recht an mich hätten, ja um fo weniger bürfte ich dies, 
da ich noch jezt eben indem ich meine Dogmatik fchreibe, ein und 
anderes Mal veranlagt geweſen bin, mich auf dieſes Buch zu 
berufen. Diefed nun überwog, wie ja immer überwiegen Toll 
was irgend aid Pflicht ericheinen kann; und ed blieb nur bie 
Frage, wie ich irgend dem Buche noch helfen koͤnnte unter ben 
gegebenen Umftänden. Auch hierüber konnte ich nicht anders ent: 
fheiden und Fein anderes Maaß anlegen ald bei der zweiten 
Ausgabe gefchehen war; und ich wünfche nur, daß man auf ber 
einen Seite die größere Strenge, welche bem reiferen Alter und 
der längeren Uebung geziemt, nicht vermiffe, auf der andern aber 
auch nicht Forderungen mitbringen möge, die ich nicht erfüllen 
konnte. Denn da nun einmal die Form, welche jener Zeit ber 
urfprünglichen Abfaflung angehört, beibehalten werben mußte, fo 
konnte ich auch nicht alled ändern, was bem mehr ald funfzig- xu 


. Hhrigen nicht mehr ganz gefallen Tann an dem erften Werfuch, 


mit welchem der dreißigiährige Öffentlich auftrat. Denn ed wäre 
eine Unmahrheit gewefen, wenn ich, der jezige, in die Damalige 
Zeit bineinfchreiben wollte. Darum find der Aenderungen in der 
Schrift ſelbſt zwar nicht wenige aber alle nur fehr äußerlich faft 
nur Gafligationen der Schreibart, bei denen indeß aud mein 
Zwekk nicht ‚fein konnte alles jugendliche wegzumifchen. Wed: 
halb mir aber vorzüglich wilfommen war noch einmal auf dieſes 
Buch zuruͤkkzukommen, das find die vielen zum Theil fehr wun⸗ 
derlichen Mißdeutungen die ed erfahren hat, und die Widerfprüche 
die man zu finden geglaubt hat zwifchen diefen Aeußerungen, 
und dem wad man von einem Lehrer bed Chriſtenthums nicht 
nur erwartet, fondern was ich auch ald folcher felbft gefagt und 
gefchrieben. Diefe Mißdeutungen aber haben ihren Grund vor: 
züglich darin, daß man bie rhetorifche Form, fo ſtark fie fich in 
dem Buche auch auf jeder Seite ausſpricht, doch faft überall ver: 


tannte, und auf bie Stellung welche ich in bemfelben genom: 


142 


- men, und welche doch auch nicht bloß auf Lem Titel angedeutet 
ift al’ ein müßiger Zufaz, ſondern überall will beobachtet fein, 
feine Ruͤkkſicht genommen. Hätte man biefed nicht vernachläßigt, 
fo würde man wol. alle haben zufammenreimen können, was 
hier gefchrieben fteht, mit andern faft gleichzeitigen fomol als. bes 
deutend fpäteren Schriften, und mich nicht fat in einem Athem 
bed Spinozismus und des Hermbutianigmus, ded Atheismus | 
und des Myſticismus befchuldigt haben. Denn meine Denkungs⸗ 
art über diefe Gegenftände ift Damals fchon mit Ausnahme deſſen 


xmwas bei jedem die Jahre mehr reifen und abklaͤren in eben ber 


Form audgebildet geweſen wie fie feitdem geblieben ift, wenn 
gleich viele welche damals biefelbe Strafe mit mir zu wandeln 
fhienen auf ganz andere Wege abgfirrt find. Jenen Mißdeu⸗ 
tungen nun vorzubeugen, und.auch die Differenzen zwiſchen mei⸗ 
ner jezigen und damaligen Anficht anzugeben, zugleich aber auch 


gelegentlich .manched zu fagen, was nahe genug lag und nicht 


unzeitig fchien, dazu find die Erläuterungen beftimmt, welche ich 
jeber einzelnen Rebe hinzugefügt habe; und fo ift es mir, vor 
züglich um der jüngern willen, die mir befreundet, find ober es 
werben möchten, befonders lieb, daß die neue Ausgabe diefer Res 
den zufammentrifft mit der Erfcheinung meines Handbuchs der 
riftlihen Glaubenslehre. Möge dann jedes auf feine Art beis 
fragen zur Verſtaͤndigung über das heiligſte Gemeingut der 
Menſchheit. 
Berlin, im April 1821. 


SR 5 : Dr. F. Schleiermacher. 





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Erfe Rede 


Rechtfertigung. 


&; mag ein unerwartetes Unternehmen fein, über welches Shr ı 
Euch billig wundert, dag noch einer wagen kann, gerade von 
denen, welche fich über da& gemeine erhoben haben, und von 
der Weisheit des Jahrhunderts burchdrungen find, Gehör zu vers 
langen für einen fo gänzlich von ihnen vernachläßigten Gegen: 
fland. Auch bekenne ich, daß ich nichtd anzugeben weiß, was 
mir nur einmal jenen leichteren. Ausgang weisfagete, meinen 
Bemühungen Euren Beifall zu gewinnen, vielmeniger den ers 
wünichteren, Euch meinen Sinn einzuflößgen, und die Begeiſte⸗ 
rung für meine Sache. Denn ſchon von Alterd ber ift der 
Glaube nicht. jedermanns Ding geweſen; und immer haben nur, 
wenige die Religion erkannt, indes Milionen auf mancherlei 
Art mit. den Umhuͤllungen gaufelten, welche fie fich lächelnd ges 
fallen läßt. Aber zumal jezt ift das Leben. der gebildeten Men: 
fchen fern. von allem was ihr auch nur ähnlich wäre. Ja ich 
weiß, daß Ihr eben fo wenig in heiliger Stille die Gottheit 
verehrt, als Ihr die verlaffenen Tempel befucht; dag in Euren 
aufgeſchmuͤkkten Wohnungen Feine anderen Heiligthümer ange ' 
troffen werden, ald die Flugen Sprüche unferer Weifen und Die 
herrlichen Dichtungen unferer Künftler, und dag Menfchlichkeit 
und GSefelligkeit, Kunft und Wiffenfchaft, wieviel Shr eben dafür 
zu thun meint und Euch davon anzueignen würdiget, fo völlig 


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von Eurem Gemüthe Befiz genommen haben, daß für dad ewige 
2 und heilige Weſen, welches Euch jenfeit der Welt liegt, nichts 
übrig bleibt, und Ihr Peine Gefühle habt für dies und von bie: 
ſem. Ich weiß, wie ſchoͤn ed Euch gelungen iſt, das irdifche 
Leben fo reich und vielfeitig auszubilden, daß Ihr der Ewigkeit 
nicht mehr bedürfet, und wie Ihr, nachdem Ihr Euch felbft ein 
Weltall gefchaffen habt, nun überhoben feid an dasjenige zu den: 
fen, welches Euch ſchuf. Ihr feid darüber einig, ich weiß es, 
daß nichtd neued und nichtd triftiges mehr gefagt werben kann 
über diefe Sache, die von Weifen und Sehern, und dürfte ich 
nur nicht hinzufezen von Spöttern und Prieftern, nah allen 
Seiten zur Genüge befprochen if. Am wenigſten — das kann 
niemanden entgehen — feid Shr geneigt, die lezteren darüber 
zu vernehmen, diefe längft von Euch auögefloßenen und Eure 
Vertrauend unwürbig erklärten, weil fie nämlich nur in den ver 
witterten Ruinen ihred SHeiligthumed am liebften wohnen, und 
auch dort nicht leben koͤnnen ohne ed noch mehr zu verunftalten 
und zu verderben. Died alled weiß ich; und dennoch, offenbar 
von einer innern und unmiberftehlichen Nothwendigkeit göttlich 
beherrfcht, fühle ich mich gedrungen zu reden, und kann meine 
Einladung, daß gerade Ihr mich hören mögt, nicht zurüßfnehmen. 
Was aber das lezte betrifft, fo Fönnte ich Euch wol fragen, 

wie ed denn komme, daß, da Ihr über jeden Gegenftand, er fei 
wenig oder gering, am liebften von benen belehrt fein wollt, 
welche ihm ihr Leben und ihre Geifteskräfte gewidmet haben, 
und Eure Wißbegierde deshalb fogar die Hütten des Landmannd 
und die MWerkflätten der niedern Künftler nicht feheuet, Ihr nur 
in Sachen der Religion alles für defto verbächtiger haltet, wenn 
es .von denen fommt, weldye die erfahrenen darin zu fein nicht 
nur felbft behaupten, fondern auch von Staat und Volk dafür 
angefehen werden? Oder folltet Ihr etwa, wunderbar genug, zu 
beweifen vermögen, daß eben biefe bie erfahrenern nicht find, 
vielmehr alles andre eher haben und anpreilen, ald Religion? 


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Mol ſchwerlich, Ahr beften Männer! Ein ſolches unberechtigtes s 
Urtheil alfo nicht fonderlich achtend, wie billig, befenne ich vor 
Euch, dag auch ich ein Mitglieb dieſes Ordens bins; und ich 
wage ed auf die Gefahr, dag ich von Euch, wenn Ihr mid 
nicht aufmerffam anhoͤret, mit dem großen Haufen beffelben; 
von dem Shr fo. wenig Ausnahmen geflattet, unter eine Benen⸗ 
nung geworfen werde. Died ift wenigſtens ein freiwillige Ge: 
ſtaͤndniß, da meine Sprache mich wol nicht leicht follte verrathen 
haben, und noch weniger, hoffe ich, die Lobfprüche, die meine 
Zunftgenofien diefem Unternehmen fpenden werben. . Denn was 
ich bier betreibe, liegt fo gut ald völlig außer ihrem Sreife, und 
dürfte dem wenig gleichen, was fie am liebflen fehen und hören 
mögen! !). Schon in daB Hülferufen der meiflen über den 
Untergang ber Religion ſtimme ich nicht ein, weil ich nicht wüßte 
daß irgend ein Zeitalter fie beſſer aufgenommen hätte als das 
gegenwärtige; und ich habe nichts zu fchaffen mit den altgläu- 
bigen und barbarifchen Wehklagen, wodurch fie die eingeflürzten 
Mauern ihres jüdifchen Zions und feine gothifchen Pfeiler wies 
der emporfchreien möchten. Deswegen alfo, und auch ſonſt bins 
teichend bin ich mir bewußt, daß ich in allem, was ich Euch zu 
fagen habe, meinen Stand völlig verläugne; warum follte ich 
ihn alfo nicht wie irgend eine andere Zufälligkeit befennen? Die 
ihm erwünfchten Worurtheile follen uns ja keinesweges hindern, 
und feine heilig gehaltene Grenzſteine alled Fragend und Mit- 
theilend follen nichts gelten zwifchen und. Als Menſch alfo rede 
ih zu Euch von den heiligen Geheimniffen der Menfchheit nach 
meiner Anficht, von dem was in mir war als ich noch in ju⸗ 
gendlicher Schwärmerei dad unbelannte fuchte, von dem was 
feitdem ich denke und lebe die innerfte Triebfeder meines Das 
feins ift, und was mir auf ewig bad hoͤchſte bleiben wird, auf 
welche Weiſe auch noch die Schwingungen ber Zeit und ber 
“ Menfchheit-mich bewegen mögen. Und daß ich rede, rührt nicht 
2 ber aud einem vernünftigen Entichluffe, auch nicht aus Hoffnung 
Schlelerm. ®. L 1. K ⸗ 


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4 ober Zurcht, noch gefchiehet es aus fonft irgend einem willkuͤhr⸗ 
lichen oder zufälligen Grunde; vielmehr iſt es die reine Noth: 
wendigkeit meiner Natur; es ift ein göttlicher Beruf; es ift dad 
wad meine Stelle in der Welt beflimmt, und mich zu dem 
macht, ber ich bin. Sei ed alfo weder ſchikklich noch rathſam 
von der Religion zu reden, dasjenige, was mich alfo drängt, er 
druͤkkt mit feiner himmlifchen Gewalt diefe Heinen Ruͤkkſichten. 

Ihr wißt dag die Gottheit durch ein unabänderliched Ges 
fez fich ſelbſt genöthiget hat, ihr großes Werk bis ind unendliche 
bin zu emtzweien, jeded beflimmte Dafein nur aus zwei ent: 
gegengefezten Thätigkeiten zufammenzufchmeljen, und jeben ihrer 
ewigen Gedanken in zwei einander feindfeligen und doch nur 
durch einander beftehenden und unzertrennlichen Zwillingsgeſtalten 
zue Wirklichkeit zu bringen. Diefe ganze koͤrperliche Welt, in 
deren innered einzubringen dad höchfte Ziel Eures Forfchens ift, 
erfcheint den unterrichtetften und befchaulichfien unter Euch nur 
ald ein ewig fortgefezted Spiel entgegengefezter Kräfte, Jedes 
Leben ift nur die gehaltene Erfcheinung eined fich immer erneuen⸗ 
den Aneignend und Zeifliegend, wie jedes Ding nur dadurch 
fein beſtimmtes Dafein hat, daß ed bie entgegengefezten Urkräfte 
ber Natur auf eine eigenthümlihe Art vereinigt und feſthaͤlt. 
Daher auch der Geift, wie er und im endlichen Leben erfcheint, 
ſolchem Gefez muß unterworfen fein. Die menſchliche Seele — 
ihre vorübergehenden Handlungen ſowol als die innern Eigen⸗ 
thümlichkeiten ihred Dafeind führen und darauf — hat ihr Be 
ſtehen vorzüglich in zwei entgegengefezten Trieben. Zufolge des 
einen nämlich firebt fie fich als ein befonderes hinzuftellen, und 
fomit, erweiternd ‚nicht minder als erhaltend, was fie umgiebt an 
fih zu ziehen, e3 in ihr Leben zu verfiriffen, und in ihr eigened 
Weſen einfaugend aufzulöfen. Der andere hingegen iſt die bange 
Furcht, vereinzelt dem ganzen gegenüber zu ſtehen; die Sehn⸗ 
fucht, bingebend ſich ſelbſt in einem größeren aufzulöfen, und 
fihb von ihm ergriffen ‚und beſtimmt zu fühlen. Alles daher, 


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was. Ihr in Bezug auf Euer abgefonderte8 Dafeln empfindet 
oder thut, alled was Ihr Genug und Beſiz zu nennen pfleget, s 
wirket der erfie. Und wiederum, wo Ihr nicht auf das befon= 
dere Leben gerichtet feid, fondern in Euch vielmehr das in allen 
gleiche . für alle dafjelbige Dafein fucht und bewahrt, wo Ihr 
daher Ordnung und Geſez in Eurem Denken und Handeln ans 
ertennt, Nothwendigkeit und Zufammenhang, Recht und Schikk⸗ 
lichkeit, und Euch dem fügt und hingebt, das wirket der andere. 
So wie nun von ben EZörperlihen Dingen Fein einziges allein 
durch eine von den beiden Kräften der leiblichen Natur befleht, 
fo hat auch jede Seele einen Theil an den beiden urfprünglichen 
Berrichtungen ber geiftigen Natur; und darin befteht die Voll: 
Rändigfeit der lebenden Welt, daß zwifchen jenen entgegengefezten 
Enden — an deren einem diefe, an dem andern jene audfchlies 
end faft alles if, und der. Gegnerin nur einen unendlich kleinen 
Theil übrig läßt — alle Verbindungen beider nicht nur wirklich 
in der Menfchheit vorhanden feien, fondern auch ein allgemeines 
Band ded Bewußtfeind fie alle umfchlinge, fo daß jeder einzelne, 
opnerachtet er nichtd anderes fein kann ald was er iſt, dennoch 
jeden anderen eben fo deutlich erkenne als ſich felbft, und alle 
einzelne Darftelungen der Menfchheit vollkommen begreife. Allein 
diejenigen, welche an ben Außerfien Enden diefer großen Reihe 
liegen, find von ſolchem Erkennen ded ganzen am weiteften ent: 
fernt. Denn jenes aneignende Beflreben, von dem entgegen» 
fiehenden zu wenig durchdrungen, gewinnt die Geſtalt unerfätts 
licher Sinnlichkeit, welche, auf das einzelne Leben allein bedacht, . 
nur diefem immer mehrered auf irdifche Weife einzuverleiben und 
ed raſch und Eräftig zu. erhalten und zu bewegen trachtet; fo daß 
diefe in ewigem Wechfel zwifchen Begierde und Genuß nie über 
die Wahrnehmungen des einzelnen hinaus gelangen, und. immer 
nur mit felbftfüchtigen Beziehungen befchäftigt das gemeinfchafts 
liche und ganze Sein und Wefen ber Menfchheit weder zu em⸗ 
pfinden noch zu erkennen vermögen. Jenen anderen hingegen, 
2 


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6 welche von dem entgegenflehenden Zriebe zu gewaltig ergriffen, 
und der zufammenhaltenden Kraft entbehrend, felbft Feine eigen: 
thümlich beflimmte Bildung gewinnen koͤnnen, muß deshalb aud) 
das wahre Leben der Welt eben fo. verborgen bleiben, wie ihnen 
nicht verliehen iſt, bildend hinein zu wirken und etwas- eigen: 
thuͤmlich darin zu geftalten; fondern in ein gewinnloſes Spiel 
mit leeren Begriffen löfet fich ihre Thätigkeit auf; und weil fie 
nicht8 jemals lebendig fchauen, fondern ahgezogenen Vorfchriften 
ihren ganzen Eifer weihen, die alles zum Mittel herabwuͤrdigen 
und feinen Zweit übrig laffen, fo verzehren fie jich in mißver: 
flandenem Haß gegen jede Erfcheinung, die mit gluͤkklicher Kraft 
vor fie hintritt. — Wie follen diefe äußerften Entfernungen zu: 
fammengebracht werden, um bie lange Reihe in jenen gefchloffe: 
nen Ring, dad Sinnbild der Ewigkeit und Vollendung, zu ge 
falten? Sreitich find folche nicht felten, in denen beide Richtun: 
gen zu einem veizlofen Gleichgewicht abgeflumpft find: aber Diele 
ftehen in Wahrheit niedriger ald beide. Denn wir verdanken 
diefe häufige, wiewol oft und von vielen hoͤher gefchäzte Er: 
fcheinung nicht einem lebendigen Verein ‚beider Triebe, fondern 
beide find nur verzogen und abgerichtet zu träger Mittelmäßig- 
keit, in der kein Uebermaaß hervortritt, weil fie alles frifchen Le⸗ 
bens ermangelt. Ständen nun gar alle, die nicht mehr an ben 
Außerfien Enden wohnen, auf diefem Punkte, den nur zu oft 
falihe Klugheit mit dem jüngern Gefchlecht zu erreichen fucht: 
fo wären alle vom rechten Leben und vom Schauen-der Wahr: 
heit gefchieden, der höhere Geiſt wäre von ber Welt gewichen, 
und der Wille der Gottheit gänzlich verfehlt. Denn in die Ge- 
beimniffe einer fo getrennten ober einer ſo zur Ruhe gebrachten 
Mifhung dringt faum der tiefere Seher. Nur feiner Anſchau⸗ 
ungskraft müffen fich auch die zerfireuten Gebeine beleben; für 
ein gemeined Auge hingegen wäre bie fo bevoͤlkerte Welt nur ein 
blinder Spiegel, der weder die eigene Geſtalt belehrend zuruͤkk. 
ſtrahlte, noch das bahinterliegende zu erblikken vergönnte. Darum 


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fenbet die Gottheit zu allen Zeiten hie und da einige, in denen 
ſich beides auf eine fruchtbarere Weile durchdringt; fei ed nun? 
mehr ald unmittelbare Gabe von oben oder ald dad Werk ans 
geſtrengter vollendeter Setbftbildung. Solche find mit wunder 
baren Gaben ausgerüftet, ihr Weg ift geebnet durch ein allmäche 
tiged einwohnended Wort; fie find Dolmetfcher der Gottheit und 
ihrer Werke, und Mittler desjenigen, was fonfl ewig wäre ge 
fchieden geblieben. Sch meine zuerft diejenigen, bie eben jenes 
allgemeine Weſen des Geiftes, deffen Schatten nur den mehreften 
erfcheint in dem Dunftgebilde leerer Begriffe, in ihrem Leben zu 
einer_befonderen_eigenthümlichen Geſtalt ausprägen, und eben 
darum jene entgegengefezten Thaͤtigkeiten vermählen. Diefe fuchen 
auch Ordnung und Zufammenhang, Recht und Schifflichkeit; aber 
weil fie fuchen ohne fich felbfi zu verlieren, fo finden fie auch. 
Sie hauchen ihren Trieb nicht in unerhörlichen Wünfchen aus, 
fondern er wirkt aus ihnen als bildende Kraft. Für diefe fchaf: 
fen fie, und eignen ſich an; nicht für jene des höheren entblößte 
thierifche Sinnlichkeit. Nicht zerflörend verfchlingen fie, fondern 
bitdend fchaffen fie um, hauchen dem Leben und feinen Werkzeu: 
gen überall den höheren Geift ein, ordnen und geftalten eine 
Welt, die dad Gepräge ihres Geiſtes trägt. So beherrfchen 
fie vernünftig die irdifchen Dinge, und ftellen ſich dar als Geſez⸗ 
geber und Erfinder, als Helden und Bezwinger der Natur, oder 
auch als gute Daͤmonen, die in engern Kreiſen eine edlere Gluͤkk⸗ 
ſeligkeit im Stillen ſchaffen und verbreiten. Solche beweiſen ſich 
durch ihr bloßes Daſein als Geſandte Gottes, und als Mittler 
zwiſchen dem eingeſchraͤnkten Menſchen und der unendlichen Menſch⸗ 
heit. Auf ſie demnach moͤge hinblikken wer unter der Gewalt 
leerer Begriffe gefangen iſt, und möge in ihren Werken den Ge: 
genftand feiner unverfländlichen Forderungen erkennen, und in 
dem einzelnen, was er bisher verachtete, den Stoff, den er eigent: 
lich bearbeiten fol; fie deuten ihm die verfannte Stimme Got: 
tes, fie fühnen ihn aus mit der Erde und mit feinem Plaze aut 


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s berfelben. Noch weit mehr aber bedürfen die bloß irdiſchen und 
finnlicyen folcher Mittler, durch welche: fie begreifen lernen was 
ihrem. eignen Thun und Xreiben fremd iſt von dem höheren 
Weſen der Menfchheit. Eines folchen nämlich bedürfen fie, ber 
ihrem niederen thierifhen Genuß einen andern gegenuͤberſtelle 
defien Gegenſtand nicht dieſes und jenes ifl, fondern das Eine 
in allem und alles in Einem, und der feine andere - Gränzen 
kennt als die Welt, welche der Geiſt zu umfaflen gelernt bat; 
eined folchen, der ihrer Angftlichen rathloſen Selbflliebe eine an- 
dere zeigt, durch die der Menſch in und mit dem trdilchen Leben 
dad höchfte und ewige liebt, und ihrem unfläten und leibenichaft: 
lichen Anfichreißen einen ruhigen und fihern Beſiz. Erkennet 
hieraus mit mir, welche unfchäzbare Gabe die Erfcheinung eined 
folchen fein muß, in welchem das höhere Gefühl zu einer Be⸗ 
geifterung gefleigert ift, die fich nicht mehr verichweigen kann, 
bei welchem faft bie. einzelnen Pulsfchläge des geifligen. Lebens 
ſich zu Bild und Wort mittheilbar geftalten, und welcher faft 
unfreiwillig — denn er weiß wenig davon, ob jemand zuge 
gen ift oder nicht. — was in ihm vorgeht auch ‚für andre als 
Meifter irgend einer göttlichen Kunft darflelen muß. . Ein fol: 
her iſt ein wahrer Priefter ded Hhöchften, indem er ed :denjenigen 
näher bringt, die nur das enbliche und geringe zu faflen ge 
wohnt find; er ftelt ihnen das himmlifche und ewige dar als 
einen Gegenftand des Genuffes und der Vereinigung, als die 
einzige unerfchöpflihe Quelle desjenigen, worauf ihr ganzes 
Trachten gerichtet iſt. So ftrebt er den fchlafenden Keim ber 
befferen Menfchheit zu wekken, bie Liebe zum höheren zu ent: 
sünden, dad gemeine Leben in ein edleres zu verwandeln, bie 
Kinder der Erde auszuſoͤhnen mit dem Himmel, der ihnen ges 
hört, und bad Gegengewicht zu halten gegen des Zeitalters ſchwer⸗ 
fällige Anhänglichkeit an den gröberen Stoff. Dies iſt das hoͤ—⸗ 
here Priefterthum, welches das innere aller geifligen Geheim- 
niſſe verfündigt, und aud dem Reiche Gottes herabfpricht; dies 


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iſt ‚die Quelle aller Geſichte und Weilfagungen, aller heiligen 

Kunftwerke und begeifterten Reden, welche audgefireut werben o 
aufs Ohngefaͤhr, ob ein empfängliches Gemüth fie finde und bei 

fih Frucht bringen laffe. 

Möchte ed doch je geichehen, dag diefes Mittleramt aufhörte, 
und dad Prieſterthum der Menfchheit eine fchönere Beftimmung 
erhielte! Möchte die Zeit kommen, die eine alte Weiffagung fo 
befchreibt, daß Feiner bedürfen wird dag man ihn Iehre, weil alle 
von Gott gelehrt find! Wenn das heilige Feuer überall brennte, 
fo bedürfte es nicht der feurigen Gebete, um es vom Himmel 
herabzuflehen, fondern nur der fanften Stile heiliger Sungfrauen, 
um es zu unterhalten; fo bürfte ed nicht in oft gefürchtete Flam⸗ 
men auöbrechen, fondern dad einzige Beſtreben defjelben würbe 
fein, die innige und verborgene Gluth ind Gleichgewicht zu fezen 
bei allen. Jeder leuchtete dann in der Stille fich und den ans 
dern, und die Dittheilung heiliger Gedanken und Gefühle bes 
flände nur in dem leichten Epiele, die verfchiedenen Strahlen 
diefed Lichtes jezt zu vereinigen, dann wieder zu brechen, jezt es 
zu zerfireuen, und dann wieder hie und da auf einzelne Gegen» 
flände verflärkend zu fammeln. Dann würde das leifefte Wort 
verflanden, da jezt die deutlichfien Aeußerungen nicht der Miß⸗ 
beutung entgehen. Man koͤnnte gemeinfchaftlich ind innere des 
Heiligthums eindringen, da man fich jezt nur in den Vorhoͤfen 
mit den Anfangögründen befchäftigen muß. Mit Freunden und 
Theilnehmern vollendete Anſchauungen austaufchen, wie viel er 
freulicher ift die, .al& mit faum entworfenen Umriſſen hervortres 
ten müffen in die weite Dede! Aber wie weit find jezt diejenigen 
von einander entfernt, zwifchen benen eine folche Mittheilung 
ftatt finden Eönnte! Mit folcher weifen Sparfamteit find fie in 
der Menfchheit vertheilt, wie im Weltenraum die verborgenen 
Punkte, aus denen ber elaftifche Urftoff ſich nach allen Seiten 
verbreitet, fo nämlich, daß nur eben die Außerften Grenzen ihrer 
Wirkungskreife zuſammenſtoßen — damit doch nichtd ganz leer 


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fei — aber wol nie einer den andern antrifft. Weiſe freilich: 
denn um fo mehr richtet fich die ganze Sehnfucht nad) Mitthei⸗ 

so lung und Gefelligkeit allein auf diejenigen, die ihrer am meiften 
bedürfen; um fo unaufhaltiamer wirkt fie dahin, fich die Mits 
genofjen felbft zu verfchaffen, die-ihr fehlen. 

Eben diefer Gewalt nun unterliege ich, und von eben dieſer 
Art ift auch mein Beruf. Vergönnet mir von mir felbft zu re 
den: Ihr wißt, niemald kann Stolz fein was Frömmigkeit fpres 
chen Heißt; denn fie ift immer vol Demuth. Frömmigkeit war 
der mütterliche Leib, in deſſen heiligem Dunkel mein junges Les 
ben 'genährt und auf die ihm noch verfchloffene Welt vorbereitet 
wurde; in ihr athmete mein Geift, ehe er noch fein eigenthüms» 

liches Gebiet in Wiffenfchaft und Kebenderfahrung gefunden hatte; 
fie balf mir, als ich anfing den väterlihen Glauben zu fichten 
und Gedanken und Gefühle zu reinigen von dem Schutte ber 
Vorwelt; fie blieb mir, ald auch der Gott und die Unſterblichkeit 
ber Eindlichen Zeit ?) dem zweifelnden Auge verfchwanden; fie lei⸗ 
tete mich abfichtölos in das thätige Leben; fie zeigte mir, wie 
ich mich felbft mit meinen Vorzügen: und Mängeln in meinem 
ungetheilten Dafein heilig halten fole, und nur durch fie habe 
ich Freundfchaft und Liebe gelernt. Wenn von andern Vorzuͤgen 
der Menfchen die Rede ift, fo weiß ich wohl, daß ed vor Eurem 
Richterſtuhle, Ihr weilen und verfländigen deö Volks, wenig 
beweifet für feinen Befiz, wenn einer fagen Tann, was fie ihm 
gelten; denn er kann fie kennen aus Beſchreibungen, aud Beob⸗ 
achtung anderer, oder wie alle Zugenden gefannt werden, aus 
der gemeinen alten Sage von ihrem Dafein. Aber fo liegt die 
Sache der Religion und fo felten ift fie felbft, daß, wer von ihr 
etwas audfpricht, ed nothwendig muß gehabt haben, denn gehört 
bat er ed nirgend. Befonderd von allem, was ich ald ihr Werk 
preife und fühle, würdet ihr wol wenig heraudfinden felbft in 
den heiligen Büchern, und wem, der ed nicht felbft erfuhr, wäre 
es nicht ein Aergemiß oder eine Thorheit? 


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Wenn ich mun fo durchdrungen endlich von ihr reden und 
Zeugniß ablegen muß, an wen fol ich mich damit wenden, 1 
an Deutichlands Söhne? Oder wo irgend mären Hörer für 

ine Rede? Es iſt nicht blinde Vorliebe für den väterlichen 
den oder für die Mitgenoffen der Verfaſſung und der Sprache, 
8 mich fo reden macht; fondern die innige Ueberzeugung, daß 
e die Einzigen feid, welche fähig und alfo auch würdig find, 
3 der Sinn ihnen aufgeregt werde für heilige und göttliche 
nge. Jene flolzen Infulaner, von vielen ungebührlich verehrt, 
nen : feine andere Loſung ald gewinnen und genießen; 
Eifer für die Wiffenfchaft iſt nur ein leered Spielgefecht, ihre 
yennöweisheit ein -falfcher Edelftein, kuͤnſtlich und täufchend zu: 
nmengefest, wie fie pflegen, und ihre heilige Freiheit felbft 
ne nur zu oft. der Selbfifucht um billigen Preis, Nirgend ja 
es ihnen Ernft mit dem, was über den handgreiflichen Nuzen 
ausgeht °). Denn aller Wiſſenſchaft haben fie das Leben ge: 
mmen, und brauchen nur das todte Holz; zu Maſten und Ru⸗ 
m für ihre gewinnluftige Lebensfahrt. Und eben fo wiffen fie 
n der Religion nichts, außer bag nur jeber Anhänglichfeit 
edigt an alte Gebräuche und feine Sazungen vertheidiget, und 
8 für ein durch die Verfaſſung weislich ausgefparted Huͤlfs⸗ 
ittel anfleht gegen den Erbfeind des Staated. Aus andern Ur: 
sen bingegen wende ich mich weg von ben Franken, deren 
ablikk ein Verehrer der Religion kaum erträgt, meil fie in jeder 
andlung, in jedem Worte faft ihre heiligfien Gefeze mit Füßen 
ten. Denn bie rohe Sleichgültigkeit, mit der Millionen des 
olks, wie der wizige Leichtſinn, mit dem einzelne glänzende 
eifter der erhabeniten That der Geſchichte zufehen, die nicht nur 
ter ihren Augen vorgeht, fondern fie alle ergreift und jede 
jewegung ihres Kebend beftimmt, beweifet zur Genüge, wie we- 
g fie einer heiligen Scheu und einer wahren Anbetung fähig 
ab. Und was verabicheuet die Religion mehr, als den zügel: 
fen Uebermuth, womit. die Herrfcher des Volks den ewigen 


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Geſezen der Welt Troy bieten? Was fchärft fie mehr ein als die 
befonnene und demüthige Mäßigung, wovon ihnen auch nicht 
ı2 dad leifefte Gefühl etwas zuzuflüftern ſcheint? Was ift ihr bei; 
liger als die hohe Nemeſis, deren furchtbarfte Handlungen jene 
im Taumel der Verblendung nicht einmal verfiehen? Wo bie 
wechfelnden Strafgerichte, die fonft nur einzelne Familien. treffen 
durften, um ganze Voͤlker mit Ehrfurcht vor dem bimmlifchen 
Weſen zu erfüllen, und auf Sahrhunderte lang die Werke ber 
Dichter dem ewigen Schikkſal zu widmen, wo dieſe fich taufend: 
fältig vergeblic erneuern, wie würde da eine einfame Stimme 
bis zum lächerlihen ungehört und unbemerkt verhallen? Nur 
hier im heimathlichen Lande ift das beglüffte Klima, welches feine 
Frucht gänzlich verfagt; hier findet Ihr, wenn auch nur zerftreut, 
alles was die Menfchheit ziert, und alled was gedeiht bildet 
fich irgendwo, im einzelnen wenigftens, zu feiner fchönften Geſtalt; 
bier fehlt ed weder an weiler Mäßigung noch an fliller Betrach: 
tung. Hier alfo muß auch die Religion. eine Zreiftatt finden vor der 
plumpen Barbarei und dem falten irdifchen Sinne des Zeitalters. 
Nur dag Ahr mich nicht ungehört zu denen verweifet, auf 

die Ihr ald auf rohe und ungebildete herabfehet, gleich als wäre 
der Sinn für das heilige wie eine veraltete Tracht auf den nie 
deren Theil ded Wolfed übergegangen, dem es allein noch zieme 
in Scheu und Glauben von dem unfichtbaren ergriffen zu wer: 
ben. hr feid gegen diefe unfere Brüder ſehr freundlich gefinnt, 
und mögt gern, daß auch ven andern höheren Gegenftänden, 
von Sittlichfeit und Recht und Freiheit zu ihnen geredet, und 
fo auf einzelne Momente wenigftend ihr inneres Streben dem 
befferen entgegengehoben und ein Eindrukk von der Würde der 
Menfchheit in ıhnen gewekkt werde. So rede man denn auch 
mit ihnen von der Religion; man .errege biöweilen ihr ganzes 
Weſen, daß auch biefer heiligfle Trieb deffelben, wie verborgen 
er immer in ihnen fchlummern möge, belebt werde; man ent: 
zuͤkke fie durch einzelne Blize, die man aus ber Tiefe ihre Her 


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zens hervorlofft; man bahne ihnen aus ihrer engen Beſchraͤnktheit 
eine Ausficht ind unehdliche, und erhöhe auf einen Augenbliff 13 
ihre niedrige Sinnlichkeit zum hohen Bewußtſein eines menſch⸗ 
lichen Willens und Dafeins: es ‘wird immer viel gewonnen fein. 
Aber ich bitte Euch, wendet Ihr Euch denn zu ihnen, wenn Ihr 
den innerfien Zufammenhang und den höchfien Grund menſchli⸗ 
her Kräfte und Handlungen aufdekken wollt? wenn der Begriff 
and das Gefühl, dad Geſez und die That, bis zu ihrer gemein- 
fehaftlichen Quelle follen verfolgt, und. das wirkliche ald ewig 
and im Weſen der Menichheit nothwendig gegründet ſoll darge⸗ 
Helit werben? Oder wäre es nicht vielmehr glüfflicy genug, wenn 
Eure weifen dann nur von den beflen unter Euch verflanden 
würden? Eben das iſt es aber, was ich jezt zu erreichen wuͤnſche 
im Abfiht der Religion. Nicht einzelne Empfindungen will ich 
aufregen, die vielleicht in ihr Gebiet gehören; nicht einzelne Vor: 
ſtellungen mil ich rechtfertigen oder beftreiten: fondern in die 
innerfien Ziefen möchte ich Euch geleiten, aus denen überall eine 
jede. Seftalt derfeiben fich bildet; zeigen möchte ih Euch, aus 
weichen Anlagen’ der Menfchheit fie hervorgeht, und wie fie zu 
Dem gehört was Euch dad hoͤchſte und theuerſte ift; auf bie 
Binnen des Tempels möchte ich Euch führen, dag Ihr das ganze 
Heiligthum uͤberſchauen und feine innerften Geheimniffe entdekken 
tönnet. - Und wollet Ihr mir im Ernft zumuthen, zu glauben, 
daß diejenigen, die ſich täglih am muͤhſamſten mit dem irdifchen 
abquälen, am vorzüglichften dazu geeignet feien, fo vertraut mit 
dem Himmlifchen zu werden? daß diejenigen, die über dem naͤch⸗ 
ſten Augenblikk bange brüten, und an die näcften Gegenftände 
feft gefettet find, ihr Auge am weiteften über die Welt erheben 
können? und daß, wer in dem einfdrmigen Wechfel einer todten 
Sefchäftigkeit ſich felbft noch nicht gefunden hat, die lebendige 
Gottheit am hellften entdeffen werde? Keinedweges ja werdet 
Ihr dad behaupten wollen zu Eurer Schmach! Und alfo kann 
ih nur Euch felbft zu mir einladen, die Ihr berufen feid, ven 


156 . 
gemeinen Standort der Menichen zu verlaſſen, die Ihr den 


13 beſchwerlichen Weg in die Tiefen des menſchlichen Geiſtes nicht 


ſcheuet, um endlich ſeiner inneren Regungen und ſeiner aͤußeren 


Werke Werth und Zuſammenhang lebendig anzuſchauen. 
Seitdem ich mir dieſes geſtand, habe ich mich lange in der 
zaghaften Stimmung desjenigen befunden, der, ein liebes Kleinod 


vermiſſend, nicht wagen wollte, noch den lezten Ort, wo es ver⸗ 


⸗ 


borgen ſein koͤnnte, zu durchſuchen. Denn wenn es Zeiten gab, 
wo Ihr es noch fuͤr einen Beweis beſonderen Muthes hieltet, 
Euch theilweiſe von den Sazungen der ererbten Glaubenslehre 


loszuſagen, wo Ihr noch gern über einzelne Gegenſtaͤnde hin und 


wieder ſprachet und hoͤrtet, wenn es nur darauf ankam, einen 
jener Begriffe auszutilgen; wo es Euch demohnerachtet noch 
wohlgefiel, eine Geſtalt wie Religion ſchlank im Schmukk der 
Beredſamkeit einhergehen zu ſehen, weil Ihr gern wenigſtens dem 
holden Geſchlecht ein gewiſſes Gefuͤhl fuͤr das heilige erhalten 
wolltet: ſo ſind doch jezt auch dieſe Zeiten ſchon laͤngſt voruͤber; 
jezt ſoll gar nicht mehr die Rede ſein von Froͤmmigkeit, und 
auch die Grazien ſelbſt ſollen mit unweiblicher Härte die zarteſte 
Bluͤthe des menſchlichen Gemuͤthes zerſtoͤren. An nichts anders 
kann ich alſo die Theilnehmung anknuͤpfen, welche ich von Euch fors 
dere, als an Eure Verachtung ſelbſt; ich will Euch zunaͤchſt nur auf: 
fordern, in diefer Verachtung recht gebildet und vollfommen zu fein. 

Laßt und doc, ich bitte Euch, unterfuchen, wovon fie ei: 
gentlich ausgegangen ift, ob von irgend einer klaren Anfchauung 
oder von einem unbeſtimmten Gedanken? ob von den veifchiede: 
nen Arten und Secten der Religion, ‚wie fie in der Gefchichte 


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vorkommen, oder von einem allgemeinen Begriff, den Ihr Euch 


vielleicht willführlich gebildet habt? Ohne Zweifel werden einige 
fich zu dem Iezteren befennen; aber daß Died nur nicht auch hier, 
wie gewöhnlich, die mit Unrecht ruͤſtigen Beurtheiler find, Die 


m 


ihr Gefchäft obenhin treiben, und ſich nicht die Mühe genommen 
haben, eine genaue Kenntniß der Sache, was fie recht ift, zu 


157 


erwerben. Die Zurcht vor einem ewigen Weſen oder überhaupt ı5 
das Hinfehen auf den Einfluß bdeffelben in bie Begebenheiten 
dieſes Lebens, was Ihr Vorſehung nennt, und dann die Erwar- 
tung eines. künftigen Lebend nach diefem, was Ihr Unfterblichkeit 
nennt, bierum dreht fich doch Euer allgemeiner Begriff? Diefe 
beiden von Euch weggeworfenen Vorftelungen, meint Ihr doch, 
wären fo oder anderd ausgebildet die Angel aller Religion 2. Aber 
fagt mir doch, Ihr theuerften, wie habt Ihr nur dieſes gefun- 
den? Denn alles, was in dem Menfchen vorgeht, oder von ihm 
ausgeht, kann aus einem zwiefachen Standorte angefehen und 
erkannt werben. Betrachtet Shr ed von feinem Mittelpunkte 
aus, alfo nach feinem innern Weſen: fo ift ed eine Aeußerung 
der menfchlichen. Natur, „gegründet in einer von ihren nothwen⸗ 
digen‘ Handlungsweiſen oder Xrieben, oder ‚wie hr es nennen 
wollt, denn ich will jezt nicht über Eure Kunſtſprache rechten. 
Betrachtet Ihr es hingegen. von außen nach ber beftimmten Hals 
tung und Geftalt, die es hie und dort angenommen hat: fo ifl 
es ein Erzeugniß der Zeit und der Gefchichte. Won welcher Seite 
habt Ihr nun die Religion, diele große geiflige Erfcheinung, - 
angefehen, dag Ihr auf jene Vorftelungen gefommen feid, als 
auf den gemeinichaftlichen Inhalt alles defien, was man je mit 
diefem Namen bezeichnet hat? Ihr werdet fchwerlich fagen, durch 
eine Betrachtung der erften Art. Denn, Ihr guten! Alddann 
müßtet Ihr doch zugeben, diefe Gedanken wären irgend’ wie we: 
nigftend in der ‚menfchlihen Natur gegründet. Und wenn Ihr 
auch fagen wolltet, daß fie fo ‘wie man fie jezt antrifft, nur aus 
Migdeutungen oder falichen Beziehungen eines nothwendigen 
Strebens der Menfchheit entflanden wären: fo würde ed Euch 
doch ziemen, das wahre und ewige darin herauszufuchen und 
Eute Bemühungen mit den unfrigen zu vereinigen, damit die 
menfchliche Natur von dem Unrecht befreit werde, welches fie 
allemal erleidet, wenn etwas in ihr mißkannt oder mißleitet wird.. 
Bei allem was Euch heilig tft — und ed muß jenem Geftänt- 


158 


is niffe zufolge etwas Heiliged für Euch geben — befchwöre ich 
Euch, verabfaumt dieſes Geſchaͤft nicht, damit die Menfchheit, - 
die Ihr mit und verehrt, nicht mit dem größten Recht auf Euch 
zuͤrne ald auf folche, welche fie in einer wichtigen Angelegenheit 
verlaffen haben. Und wenn Ihr dann findet, aus dem, was 
Ihr hoͤren werdet, daß das Geſchaͤft ſchon fo gut ald gethan iſt: 
fo darf ich, Auch wenn es anders endiget als Ihr meintet, auf 
Euren Dank und Euere Biligung rechnen. — Wahrfcheinlich 
aber werdet Ihr fagen, Euere Begriffe vom Inhalt der Religion 
feien :nur die andere Anficht diefer geiftigen Erfcheinung. Von 
dem äußeren wäret Ihr auögegangen, von den Meinungen, 
Lehrfäzen, Gebräuchen, in denen ſich jede Religion darſtellt, und 
mit diefen laufe ed immer auf jene beiden Stüffe hinaus. Aber 
eben ein innered und urfprüngliched für dieſes Außere hättet 
Ihr vergeblich gefucht, und darum koͤnne alſo die Religion überall 
nichtd anders fein, ald ein leerer und faljcher Schein, der ſich 
wie ein trüber und drüffender Dunftfres um einen Theil ber 
Wahrheit herumgelagert habe. Died ift gewiß Euere ‚rechte und 
eigentliche Meinung. Wenn Ihr demnach in der That. jene beis 
den Punkte für den Inhalt der Religion haltet, in allen Formen 
unter denen fie in der Gefcichte erichienen iſt: fo ift mir doch 
vergönnet zu fragen, ob Ihr auch alle diefe Erfcheinungen richtig 
beobachtet und ihren gemeinfchaftlichen Inhalt richtig aufgefaßt 
habt? Ihr müßt Eueren Begriff, wenn er fo entſtanden ift, aus 
dem einzelnen rechtfertigen; und wenn Euch jemand fagt, daß 
gr unrichtig und verfehlt fei, und auf etwas anderes hinweifet in 
‚der Religion, was nicht hohl ift, fondern einen Kern hat von 
trefflicher Art und Abftlammung, fo müßt Ihr doch erfi hören 
und urtheilen, ehe Ihr weiter verachten dürft. Laßt ed Euch 
alfo nicht verbrießen, dem zuzuhören, was ich jezt zu denen reden 
will, weldhe glei von Anfang an, richtiger aber auch muͤh⸗ 
ſamer, an die Anfchauung des einzelnen ſich gehalten haben. 
Ihr feid ohne Zweifel bekannt mit der Gefchichte menfchs 


159 


licher Zhorheiten, und habt die verfchiebenen Gebäude der Reli: a7 
giondlehre durchlaufen, von den finnlofen Fabeln üppiger Völker 
bis zum verfeinertften Deismus, von dem rohen Aberglauben der 
Menfchenopfer bis zu jenen übelzufammengenähten Bruchftüffen 
von Metaphyſik und Moral, die man jezt geläuterted Chriftens 
thum nennt; und Ihr habt fie alle ungereimt und vernunftwidrig 
gefunden. Ich bin weit entfernt Euch hierin widerfprechen zu 
wollen, Vielmehr, wenn Ihr ed nur damit aufrichtig meint, daß 
die ausgebildetſten Religionsſyſteme diefe Eigenfchaften nicht we⸗ 
niger an fidy tragen al& die roheſten; wenn Ihr ed nur einfehet, 
daß dad göttliche nicht in einer Reihe liegen kann, die fih auf 
beiden Seiten in etwas gemeines und verächtliches endiget: fo 
will ich Euch gern die Mühe erlaffen, alle Glieder, welche zwis 
ſchen diefen Außerfien Enden eingereiht find, näher zu würdigen. 
Mögen fie Euch alle ald-Uebergänge und Annäherungen zu dem 
Iegteren ericheinen; jedes glänzender und gefchliffener aus ber Hand 
feines Zeitalters hervorgehend, bis endlich die Kunſt zu jenem volls 
endeten Spielwerk geftiegen ift, womit unfer Jahrhundert die 
GSefchichte befchenft hat. Aber diefe Bervolllommnung der Glau⸗ 
benslehren und der Syſteme iſt oftmals eher alles, nur nicht: Ver: 
volfommnung der Religion; ja nicht felten fchreitet jene fort ohne 
die geringfte Gemeinfchaft mit diefer. Sch kann nicht ohne Unmwillen 
davon reden; denn jammern muß ed jeden, ber Sinn hat für 
alles was aus dem innern bed Gemüths hervorgeht, und dem 
es Ernſt ift daß jede Seite des Menfchen gebildet. und darges 
fiellet werde, wie die hobe und herrliche oft von ihrer Beſtim⸗ 
mung entfernet ward, und ihrer Freiheit beraubt, um von dem 
ſcholaſtiſchen und metaphpfiihen Geiſte barbarifcher und Falter 
Zeiten in einer verächtlichen Knechtichaft gehalten zu werden, 
Denn was find doch diefe Lehrgebäude für fich betrachtet anders, 
| old Kunſtwerke des berechnenden Verſtandes, worin jedes ein» 
zeine feine Haltung nur hat in gegenfeitiger Befchräntung? Oder 
| gemahnen fie Euch anders, biefe Syſteme der Theologie, Del 


ee 5 —— — —— — 


160 


1» Theorien vom Urfprunge und Ende ber Welt, diefe Analyſen 
von der Natur eined unbegreiflichen Weſens; worin alles auf 
ein kaltes Argumentiren hinausläuft, und auch das höchfte nur 
im Zone eined gemeinen- Schulftreited kann behandelt werden? 

< Und dies wahrlich, ich berufe mich auf Euer eigenes Gekuͤhl, if 
doch nicht der Charakter der Religion. Wenn Ihr alfo nur bie 
veligiöfen Lehrfäze und Meinungen ind Auge gefaßt habt: fo 
kennt Ihr noch gar nicht die Religion felbfl, und was Ihr ver 
achtet, ift nicht fie. Aber warum feid Ihr nicht tiefer. eingedrum 
gen. bis zu dem, was das innere dieſes aͤußeren i * Ih be 
wundere Euere freiwillige Unwiffenheit, Ihr gutmüthigen For 
fcher, und die allzuruhige Genuͤgſamkeit, mit der Ihr bei dem 
verweilt, was Euch zunaͤchſt vorgelegt wird. Warum betrachtet 
hr nicht dad religiöfe Leben  felbft? jene frommen Erhebungen 
ded Gemuͤthes vorzüglich, in welchen alle andern Euch fonft bes 
kannten Zhätigkeiten zurüßlgedrängt oder faft aufgehoben find, 
und die ganze Seele aufgelöft in ein unmittelbared Gefühl des 
unendlichen und ewigen und ihrer Gemeinichaft mit ihm? Denn 
in folchen Augenblitten. offenbart ſich urfprünglih und anſchau⸗ 
slich die Gefinnung, welche zu verachten Ihr vorgebet. Nur wer 
in dieſen Bewegungen‘ den Menſchen beobachtet und wahrhaft 
erkannt hat, vermag dann auch in jenen äußeren, Darſtellungen 

| die Religion wiederzufinden, und wird etwas anderes in ihnen 
erbliften, als Ihr. Denn freilich liegt in ihnen allen etwas 
von dieſem geiftigen Stoffe gebunden, ohne welchen fie gar nicht 
koͤnnten entflanden fein; aber wer ed nicht verfteht ihm zu ent« 
binden, der behält, wie fein er fie auch zerfplittere, wie genau 
er auch alled durchluche, immer nur die tobte kalte Maſſe im 
Händen. Diefe Anweifung aber, Euren eigentlichen Gegenftand, 
den Ihr in dem auögebildeten und vollendeten, wohin man Euch 
wies, biöher nicht gefunden habt, vielmehr in jenen zerſtreuten 
und dem Anfchein nach ungebildeten Elementen zu fuchen, Tann 
Euch doch nicht befremblich fein, die Ihr mehr oder minder mit: 


| 161 
der Dhilofophie Euch zu ſchaffen macht, und mit ihren Schikt: ı0 
falen vertraut ſeid. Wiewol es ſich nämlich mit diefer ganz 
anders verhalten follte, und fie von Natur danach fireben muß, 
ſich im gefchloffenften Zuſammenhang zu geftalten, weil nur 
- durch die angelchaute Vollſtaͤndigkeit jede eigenthümliche Erkennt 
niß fich bewährt und ihre Mittheilung gefichert wird: fo werdet 
Ihr doch auf ihrem Gebiet oft eben fo müffen zu Werke gehn. 
Denn erinnert Euch nur, wie wenige von denen, welche auf 
rinem eigenen Wege in dad innre der Natur und des Geiſtes 
eingedrungen find und deren gegenfeitiged Verhältnig und innere 
Harmonie in einem wigenen Lichte angefchaut und dargeſtellt 
haben, wie dennoch nur wenige von ihnen gleich ein Syſtem 
ihres Erkennens bingeftelt, fondern vielmehr faft alle in einer 
zweteren, follte es auch fein. zerbrechlicheren, Form ihre Entdekkun⸗ 
| gen ‚mitgetheilt Haben. Und wenn Ihr dagegen auf die Syfteme 
feat in allen Schulen, wie oft diefe nichtd anders find als ber 
Siz und die’ Pflanzflätte ded todten Buchftabend; weil nämlich 
— mit feltenen Ausnahmen — der felbftbildende Geift der hohen 
Betrachtung zu flüchtig iſt und zu frei für'die firengen Formen, 
durch die fich eben am beften diejenigen zu helfen glauben, welche 
daB. fremde gern auffaffen und fich einprägen wollen: würbet 
Ir nicht, wenn jemand bie Werfertiger diefer großen Gebäude 
dee Philofophie ohne Unterfchied für die philofophirenden felbft 
hielte, an ihnen den Geift ihrer Forfchung wollte kennen lernen, 
würdet Ihr nicht diefem belehrend zurufen: „Vorgeſehen, Freund! 
Hdaß du nur nicht etwa an folche gerathen bift, welche nur nach» 
u|treten und zufammentragen, und bei dem, was ein anderer ges 
agben bat, flehen bleiben! Denn bei biefen würbeft du ja 
diden Geift jener Kunft nicht finden; fondern zu den Erfindern 

mußt du gehen, auf denen ruhet er ja gewiß.” Daflelbige nun 
Ammuß ich hier Euch zurufen, die Ihr die Religion fuchet, mit 
weicher ed ſich ja um fo mehr eben fo verhalten muß, da fie 
fie ihrem ganzen Weſen nach von allem foftematifchen eben \n 

Schleierm. ®. 1. 1. | ® 





162 


20 weit entfernt, als die Philofophie fich von Natur dazu hinneigt. 
Bedenket auch nur, von wem jene funftreihen Gebäude herruͤh⸗ 
ren, deren Wandelbarkeit Ihr verfpottet, deren fchlechted Eben: 
maaß Euch beleidigt, und deren Mißverhältniß gegen ihre klein⸗ 
liche Tendenz Euch faft, lächerlich if. Etwa von den Heroen 
der Religion? Mennt mir doch unter allen denen, die irgend eine 
neue Offenbarung beruntergebracht haben zu und, ober ed auch 
vorgeben, einen einzigen, von dem an, welchem zuerſt von einem 
Reiche Gotted das Bild vorfchwebte, wodurd gewiß, wenn durd 
irgend etwas im Gebiete der Religion ein Syſtem konnte herbei 
geführt werben, bid zu dem neueften Myſtiker oder Schwärmer, 
wie Ihr fie zu nennen pflegt, in dem vielleicht noch ein urfprüng- 
licher Strahl des innern Lichted glänzt, — denn, dag ich bie 
Buchftabentheolögen, welde glauben, dad Heil der Melt und 
dad Licht der Weisheit in einem neuen Gewand ihrer Formeln, 
oder in neuen Stellungen ihrer kunſtreichen Beweiſe zu finden, 
unter dieſe nicht mitzaͤhle, das werdet Ihr mir nicht verdenken — 
nennt mir unter jenen allen einen einzigen, der es der Muͤhe 
werth geachtet hätte, ſich mit ſolcher ſiſyphiſchen Arbeit zu befaſ⸗ 
ſen; ſondern nur einzeln bei jenen Entladungen himmliſcher Ge⸗ 
fuͤhle, wenn das heilige Feuer ausſtroͤmen muß aus dem uͤber⸗ 
fuͤllten Gemuͤth, pflegt der gewaltige Donner ihrer Rede gehoͤrt 
zu werden, welcher verkuͤndiget daß die Gottheit ſich durch ſie 
offenbart. Genau ſo iſt Begriff und Wort nur das freilich noth—⸗ 
wendige und von dem.innern unzertrennliche Hervorbrechen nach 
außen, und als ſolches nur verfländblich durch fein innered und 
mit ihm zugleih. Gar aber Lehre mit Lehre verknüpfen, das 
thun fie nur gelegentlich, wenn es gilt, Mißverftändniffe zu be 
ben oder leeren Schein aufzudekken. Und erft aus vielen folchen 
Verknüpfungen werden allmählig jene Syſteme zufammengetra; 
gen. Deöhalb nun müßt Ihr Euch ja nicht an dasjenige zw 
nächft halten, was gar nur der wiederholte vielfach gebrochen 
Nachhall iſt von jenem urfprünglichen Laute; fondern in dal 


163 


‚Innere einer frommen Seele müßt Ihr Euch verfegen, und ihre 2ı 
Begeiſterung müßt Ihe fuchen zu verflehen; bei ber That felhf 
‚müßt Ihr jene Licht- und Wärme: Erzeugung in einem dem 
Weltall ſich hingebenden Gemüth *) ergreifen: wo nicht, fo ers 
fahrt Ihr nichts von der Religion, und. ed ergeht Euch wie dem, 
ber zu fpat mit dem entzündlichen Stoff dad Zeuer auffucht, 
welches der Stein dem Stahl entloflt hat, und dann nur ein 
kaltes unbedeutended Stäubchen groben Metalle findet, an dem 
er nichts mehr .entzünden kann. 

Sch fordere alſo, daß Ihr von allem fonft zur Religion ge: 
rechneten .abfehend Euer Augenmerd nur auf die inneren Erre: 
gungen und Stimmungen richtet, auf welche alle Aeußerungen 
und Thaten gottbegeifterter Menſchen hindeuten. Erfi wenn 
Ihr auch dann nichts wahred und wefentliched daran entdekkt, 
noch eine andere Anficht von der Sache gewinnt, jedoch hoffe 
ih ed zur guten Sache ohngeachtet Eurer Kenntniffe, Eurer 
Bildung und Eurer Vorurtheile; wenn fie auch dann nicht Eure 
Heinliche Vorſtellung erweitert: und verwandelt, die ja nur von 
einer überfichtigen Beobachtung erzeugt ward; wenn Ihr auch 
dann noch diefe Richtung ded Gemüths auf dad ewige verachten 
koͤnnt, und es Euch lächerlich fcheint, alles, wad dem Menfchen 
wichtig iſt, auch aus diefem Geſichtspunkte betrachfet zu fehen: 
dann freilic will ich verloren haben, und endlidy glauben, Eure 
Verachtung der Religion fei Eurer Natur gemäß, und dann habe 
ih Euch nichtd weiter zu fagen. 

Beforget nur nicht etwa, ich möchte am Ende doch noch 
zu jenen gemeinen Mitteln meine Zuflutht nehmen, Euch vorzuftel: 
len, wie nothwendig die Religion doch fei, um Recht und Ordnung 
in der Welt zu erhalten, und mit dem Andenken an ein allieben> 
des Auge und an eine unendliche Macht der Kurzfichtigfeit menfchli- 
cher Aufficht und den engen Schranken menfchlicher Gewalt zu Hülfe 
zu kommen; oder wie-fie eine treue Freundin und eine heilfame Stüze 
der Sittlichfeit fei, indem fie mit ihren heiligen Gefühlen und ihren 

T2 


164 


* glänzenden Audfichten dem fchwachen Menfchen den Streit "mit 
fich felbft und das Wollbringen des guten gar mächtig erleichtere, 
2:&o reden freilich diejenigen, welche die beſten Freunde und bie 
eifrigften Vertheidiger der. Religion zu fein vorgeben; ich aber 
will nicht entfcheiden, gegen welches von beiden in dieſer Ges 
dankenverbindung die meifte Verachtung liege, gegen Recht und 
Sittlichkeit, welche als einer Unterflüzung bedürftig vorgeftellt 
werden, ober gegen die Religion, welche fie unterftüzen ſoll, oder 
auch gegen Euch, zu denen alfo gefprochen wird. Denn mit 
welcher Stirne Fönnte ih, wenn anders Euch felbft diefer weile 
Rath „gegeben werden fol, Euch wol zumuthen, bag Ihr mit’ 
Euch felbft in Eurem innern ein lofed Spiel treiben, und durch 
etwas, das Ahr fonft keine Urfache haͤttet zu achten und zu lies 
ben, Euch zu etwad anderem ſolltet antreiben laſſen, was Ihr 
ohnedies ſchon verehrt, und deſſen Ihr. Euch befleißiget? Oder 
wenn Euch etwa durch dieſe Reden nur ins Ohr geſagt werden 
ſoll, was Ihr dem Volke zu Liebe zu thun habt: wie ſolltet 
dann Ihr, die Ihr dazu berufen ſeid, die andern zu bilden und 
fie Euch aͤhnlich zu machen, damit anfangen, daß Ihr ſie betrügt, 
und ihnen etwas ald heilig und weſentlich nothwendig hingebt, 
wad Euch ſelbſt hoͤchſt gleichgültig ift, und was nad „Eurer 
Ueberzeuguflg auch fie wieber wegwerfen koͤnnen, fobald fie fi 
auf diefelbe Stufe erhoben haben, die Ihr fchon einnehmt? Ich 
wenigftend kann zu einer folchen Hondlungsweife nicht Auffors 
dern, in welcher ich die verderblichfte Heuchelei gegen die Welt 
und gegen Euch felbft erbliffe; und wer fo die Religion empfeh. 
In will, muß nothwendig die Verachtung vergrößern, ber fie 
ſchon unterliegt. Denn zugegeben auch, daß unfere bürgerlichen 
Einrichtungen noch unter einem hohen Grade der Unvollkommen⸗ 
beit feufzen, und noch. wenig Kraft bewiefen haben, der Untecht⸗ 
lichkeit zuvorzukommen oder ſie auszurotten; welche ſtrafbare 
Verlaſſung einer wichtigen Sache, welcher zaghafte Unglaube an 
die Annaͤherung zum beſſeren waͤre es, wenn deshalb muͤßte 


165 


nach der fonft an: fich nicht wäünfchendwerthen Religion gerufen 
werben! Beantwortet mir nur. dies Eine), hättet Ihr denn 
einen rechtlichen Zufland, wenn fein Beſtehen auf der Froͤmmig⸗ 
keit berubete? und verfchwindet Euch nicht, ſobald Ihr davon 25 
ausgehet, der ganze Begriff unter den Haͤnden, den Ihr doch fuͤr 
ſo heilig haltet? So greifet doch die Sache unmittelbar an, wenn 
ſie Euch ſo uͤbel zu liegen ſcheint; beſſert an den Geſezen, ruͤt⸗ 
telt die Verfaſſungen untereinander, gebt dem Staate einen eiſer⸗ 
nen Arm, gebt ihm hundert Augen, wenn er ſie noch nicht hat; 
nur ſchlaͤfert nicht die, welche er hat, mit einer truͤgeriſchen Leier 
ein. Schiebt nicht ein Geſchaͤft wie dieſes in ein anderes ein, 
denn Ihr habt es ſonſt gar nicht verwaltet; und erklaͤrt nicht 
zum Schimpfe der Menfchheit ihr erhabenſtes Kunſtwerk für eine 
Bucherpflanze, die nur von fremden Säften ſich nähren kann. 
Nicht einmal, ich fpreche dies aud Eurer eigrien Anficht, 
nicht einmal der Sittlichkeit, die ihm doch weit näher liegt, muß 
das Recht bedürfen, um fich die unumfchränttefte Herrſchaft auf 
feinem Gebiete zu fichern, es muß ganz für fich allein ſtehen. 
Die Staatömänner. müffen es überall hervorbringen können, und 
jeder, welcher behauptet, daß dies nur geichehen fann, indem 
Religion mitgetheilt wird — wenn .anderd dasjenige ſich wills: 
kuͤhrlich mittheilen läßt, was nur da iſt, in fofern es aus dem 
-Gemüthe hervorgeht —, der behauptet zugleich, daß nur diejeni⸗ 
gen Staatömänner fein follten, welche geſchikkt find der menſch⸗ 
lichen Seele den Geift der Religion einzugießen und in welche 
finftere Barbarei unheiliger Zeiten würde und das zurüffführen! 
Eben fo wenig aber kann auch auf diefe Art die Sittlichkeit der 
Religion bedürfen. Denn wie meinen fie es anders, ald daß ein: 
ſchwaches verfuchtes Gemüth ſich Hülfe fuchen fol in dem Ges 
danken an eine künftige Welt? Wer aber einen Unterfchied macht 
zwifchen diefer und jener Welt, bethört fich felbft; alle wenig⸗ 
ftend, welche Religion haben, Eennen nur Eine. Wenn alfo der 
Sittlichkeit dad Verlangen nach Wohlbefinden etwas fremdes 


166 


it, fo. darf das fpätere nicht mehr gelten ald bad frühere; und 
wenn: fie ganz unabhängig fein fol vom Beifall, fo gilt ihr 
‚auch bie Scheu vor dem ewigen nicht etwas anbered, ald bie. 
vor einem meilen Manne. Wenn die Sittlichkeit durch jeden 
24 Zufaz ihren Glanz und ihre Feſtigkeit verlieret: wie viel mehr 
durch einen folchen, der feine hohe und ausländifche Farbe nies 
mald verleugnen kann. Doch died habt Ihr genug von denen 
gehört, welche die Unabhängigkeit und die Allgewalt der fittlis 
chen Geſeze vertheidigen; ich aber füge hinzu, daß ed auch gegen 
bie Religion die größte Verachtung beweifer, fie in ein andered 
Gebiet verpflanzen zu wollen, daß fie da diene und arbeite. Auch 
berrichen möchte fie nicht in einem fremden Reiche: denn. fie- tft. 
nicht fo eroberungsfüchtig, das ihrige vergrößern zu wollen, Die 
Gewalt, die ihr gebührt, und bie fie fich in jedem Augenblikk 
aufs neue verdient, genügt ihr; und ihr, ‚die alles heilig hält, 
ift weit mehr noch das heilig, was mit: ihr gleichen Rang in 
der menfchlichen Natur behauptet °). Aber fie fol ganz. eigent- 
lich dienen, wie jene ed wollen; einen Zwekk fol fie haben, und 
nüzlich fol fie fich ermeifen. Welche ‚Erniedrigung! Und ihre 
Vertheidiger follten geizig darauf fein, ihr diefe zu verfchaffen? 
Daß doch diejenigen, die fo auf den Nuzen ausgehen, und denen 
doeh am Ende audy Sittlichkeit und Recht um eined andern Bor: 
theild willen da fein müffen, daß fie doch lieber felbft untergehen - 
möchten in dieſem ewigen Kreislaufe eines. allgemeinen Nuzens, 
in welchem fie alle gute untergehen laffen, und: von dem Eein 
Menſch, der felbft für fich etwas fein will, ein gefundes Wort 
verfteht, lieber als daß fie fich zu Vertheidigern der, Religion 
aufzuwerfen wagten, deren Sache zu führen fie gerade die uns 
geichikfteften find! Ein fchöner Ruhm für die himmlische, wenn 
fie nun die irdifchen Angelegenheiten der Menfchen fo leiblich 
verſehen könnte! Biel Ehre für die freie und forglofe, wenn 
fie nun das Gewiffen der Menfchen etwas fchärfte und wachſa⸗ 
mer machte! Für fo etwas fleigt fie Euch. noch nicht vom Him- 


Aus 


mel herab. Was nur um eines außer ihm felbft liegenden Vor: 
theild willen geliebt und gefchäzt wird, dad. miag wohl Noth 
thun, "aber es ift nicht in fich nothwendig; und ein vernünftiger 
Menſch legt Peinen andern Werth darauf, ald nur den Preis, der 
dem Zwekk angemeffen ift, um beffentwillen es gemwünfcht wird. 
Und diefer würde ſonach für die Religion gering genug ausfal: 25 
len; ich wenigftend würde Färglich bieten; benn ich muß ed nur 
geftehen, ich glaube nicht, daß es viel auf ſich hat mit den un- 
rechten Handlungen, welche fie auf ſolche Weife verhindert, und 
mit ben fittlichen, welche fie erzeugt haben fol. Sollte Died alſo 
das einzige fein, was ihre Ehrerbietung verichaffen könnte: fo 
mag.ich mit ihrer Sache nichts zu thun haben. Selbft um fie 
nur nebenher zu empfehlen, ift es zu unbedeutend. Ein einge 
bildeter Ruhm, welcher verfchwindet wenn man ihn näher be 
trachtet, kann derjenigen nicht helfen, die mit höheren Anfprüchen . 
umgeht. Daß die Zrömmigkeit aus dem innern jeder beffern 
Seele nothwendig von felbft entipringt, daß ihr eine eigne Pro⸗ 
vinz im Gemüthe angehört, in welcher fie unumſchraͤnkt herrſcht, 
daß fie ed würdig ift durch ihre innerfle Kraft die edelften und 
vortrefflichften zu beleben und ihrem innerften Wefen nach von 
ihnen aufgenommen und erfannt zu werden; das ift ed, was ich 
behaupte, und was ich ihr gern fichern möchte; und Euch liegt 
ed nun ob, zu enticheiden, ob es der Mühe werth fein wird, 
mich zu hören, ehe Ihr Euch in Eurer Verachtung noch mehr 
befeftiget. j 


Erläuterungen zur erſten Rede. 


1) Seite 145. Meine Befanntfchaft mit den Männern meines Stan: 
des war, als ich dieſes zuerft fchrich, noch fehr gering; denn ich fland, wie- 
wol fchon feit mehreren Jahren im Ant, unter meinen Amtsgenofien fehr 
vereinzelt. Was hier mehr angedeutet als ausgefprochen ift, war alfo das 
mals mehr Ahnung aus der Berne, als anfchauliche Erkenntniß. Allein auch 


100 


eine längere Erfahrung und eine befreunbetere Stellung hat das Urtheil nur 
befeftiget, daß fowol ein tieferes Gindringen in das Weſen der Religion 
überhaupt, als eine Acht gefchichtlihe und naturgemäße Betrachtungsweiſe 
der jevesmaligen Inflände der Neligiöfität unter den Mitgliedern unferes 
geiftlihen Standes, und das find die beiden Punfte, worauf e8 in dieſer 
Stelle vorzüglich ankommt, viel zu felten find. Wir würden nicht fo viel 
zu Hagen finden über zunehmenden Sertengeift und parteigängerifche Fromme 
Verbindungen, wenn nicht fo viele geiftlihe wären, welche die religiöfen 

26 Bedürfniſſe und Negungen der Gemüther nicht verfiehen, weil der Stand⸗ 
punft überhaupt zu niedrig iſt, auf dem fie ftehn; daher denn auch, worauf 
bier angefpielt wird, die dürftigen Anfichten, welche jo häufig ausgefprochen 
werden, wenn von den Mitteln die Rede ift, dem fogenannten Berfall 
des Religionsweiens aufzuhelfen. Es ift eine Meinung, weldye vielleicht 
nicht viel Beifall finden wird, welche ich aber doch zum rechten Berftänpnig 
diefer Stelle nicht verfchweigen kann, daß es nämlich gerade eine tiefere ſpe⸗ 
eulative Ausbildung ift, welche diefem Uebel am beften abhelfen würde; bie 
Nothwendigfeit derfelben wird aber aus dem Wahn, als ob fie dadurch nur 
um fo unpraftifcher werden würden, von ben meilten geiftlichen und denen, 
welche die Ausbildung derfelben zu leiten haben, nicht anerkannt. 

2) ©. 152. Die erfte allemal fehr finnliche Auffaſſung beider Vorſtel⸗ 
lungen zu einer Zeit, wo die Seele noch ganz in Bildern lebt, verfchwindet 
feinesweges allen, fonvern bei den meiften läutert und erhöht fie fich alls 
mählig, fo jedoch dag die Analogie mit dem menfhlichen in der Vorſtellung 
bes höchften Wefens und die Analogie mit dem irdifchen immer noch bie 
Haltung bleibt für den verborgenern tiefern Schalt. Für Diejenigen aber, 
welche fich zeitig in ein rein betrachtendes Beftreben vertiefen, giebt es einen 
andern Weg. Denn indem fie fich felbft fagen, daß in Gott nichts entgegen: 
geſezt, getheilt, vereinzelt fein kann und alfo nichts menfchliches von ihm 
gefagt werden darf; indem fle fich geftehen müflen, doß fie fein Recht haben, 
irgend etwas irdifches aus der Irbifchen Welt, durch Die es in unferer Seele 
ift geboren worden, hinauszutragen, fo fühlen fie die Unhaltbarkeit beider 
Borftellungen in der Form; in der fie fie urfprünglich aufgenommen hatten, 
fie find nicht mehr im Stande fie in diefer lebendig zu productren, alfo ver: 
ſchwinden fie ihnen. Hiermit aber ift fein pofitiver Unglaube, ja nicht 
einmal ein pofitiver Zweifel ausgefprochen, fondern indem jene kindliche 
Form gleihfam als der befannte finnliche Eoefficient verſchwindet, bleibt in 
der Seele die unbelannte Größe zurüf, als dasjenige, wovon jene Eoefficient 
war, und fie giebt fih als etwas wefentliches zu erkennen durch das Bes 
fireben, fie mit irgend einem andern zu verbinden und fo zu einem höheren 
wirklichen Bewußtfein zu erheben. Im diefem Beftreben aber ift wefentlich 
der Glaube gefezt, felbft wenn niemals eine ven fireng betrachtenden befrie⸗ 
dDigende Löfung zu Stande Täme, Denn wenn auch nicht für fich in einem 
beftimmten Werth erfcheinend, ift doch die unbefannte Größe in allen Opera: 
tionen des Geiftes mitwirfend. Der Verfaſſer ift alfo weit entfernt davon 
gewefen, in diefen Worten andenten zu wollen, es habe wenigftens eine Zeit 


—— \ 


10/ 


mel herab. Was nur um eines außer ihm felbft liegenden Vor⸗ 
theild willen geliebt und gefchäzt wird, dad mag wohl Noth 
thun, "aber es ift nicht in fich nothwendig; und ein vernünftiger 
Menſch legt feinen amdern Werth darauf, ald nur den Preis, der 
dem Zwekk angemeffen ift, um deffentwillen es gewünfcht wird. 
Und diefer würde fonach für die Religion gering genug ausfal⸗ 25 
len; ich wenigftend würde Färglich bieten; benn ich muß es nur 
geftehen, ich glaube nicht, daß es viel auf fich hat mit den un: 
rechten Handlungen, welche fie auf folche Weife verhindert, und 
mit den fittlichen, welche fie erzeugt haben fol. Sollte dies alfo 
das einzige fein, was ihr Ehrerbietung verfchaffen könnte: fo 
mag.ich mit ihrer Sache nichts zu thun haben. Selbſt um fie 
nur nebenher zu empfehlen, ift ed zu unbedeutend. Ein einge: 
bildeter Ruhm, welcher verfchwindet wenn man ihn näher be: 
trachtet, kann derjenigen nicht helfen, die mit höheren Anfprüchen . 
umgeht. Daß die Frömmigkeit aus dem innern jeder beffern 
Seele nothmwendig von felbft entipringt, daß ihr eine eigne Pro: 
vinz im Gemüthe angehört, in welcher fie unumfchränkt herrfcht, 
daß fie es würdig iſt durch ihre innerfle Kraft die ebelften und 
vortrefflichften zu beleben und ihrem innerften Wefen nach von 
ihnen aufgenommen und erkannt zu werden; das ift ed, was ich 
behaupte, und was ich ihr gern fichern möchte; und Euch liegt 
ed nun ob, zu entfcheiden, ob ed der Mühe werth fein wird, 
mich zu hören, ehe Ihr Euch in Eurer Berachtung noch mehr 
befefliget. | 


Erläuterungen zur erſten Rede. 


1) Seite 145. Meine Befanntfchaft mit den Männern meines Stan: 
des war, als ich dieſes zuerft fchrich, noch fehr gering; denn ich fand, wie: 
wol fehon feit mehreren Jahren im Amt, unter meinen Amtsgenofien fehr 
vereinzelt. Was hier mehr angedeutet als ausgefprochen iſt, war alfo das 
mals mehr Ahnung aus der Berne, ald anfchauliche Erfenntnig. Allein auch 


0 200 4 


eine längere Erfahrung und eine befreunbetere Stellung hat. das Urtheil unt 
befefliget, daß fowol ein tieferes Eindringen in das Weien der Religion 
überhaupt, als eine Acht gefchichtlihe und nalurgemäße Betrachtungsweiſe 
der jedesmaligen Zuſtaͤnde der Religiöfität unter den Mitgliedern unſeres 
geiftlichen Standes, und das find die beiden Punkte, worauf es in biefer 
Stelle vorzüglich anfommt, viel zu felten find. Wir würden nicht fo viel 
zu Hagen finden über zunehmenden Sectengeift und parteigängerifche fromme 
Verbindungen, wenn nicht fo viele geiftlihe wären, welche die religiöfen 

26 Bevürfniffe und Regungen der Gemüther nicht verfiehen, weil der Stands_ 
punft überhaupt zu niedrig ift, auf dem fie ftehn; daher denn auch, worauf 
bier angefpielt wird,. die dürftigen Anfichten, welche fo hänfig ausgefprochen 
werben, wenn von den Mitteln die Rebe if, dem fogenannten Berfall 
bes Religionswefens aufzuhelfen. Es iſt eine Meinung, weldye vielleicht 
nicht viel Beifall finden wird, welche ich aber doch zum rechten Verſtändniß 
diefer Stelle nicht verfchweigen kann, daß ed nämlich gerade eine tiefere ſpe⸗ 
eulative Ausbildung ift, welche biefem Uebel am beften abhelfen würde; bie 
Nothwendigkeit derfelben wird aber aus dem Wahn, als ch fie dadurch nur 
um fo unpraftifcher werden würben, von den meilten geiftlichen unb denen, 
welche die Ausbildung derfelben zn leiten haben, nicht anerkannt. 

2) ©. 152. Die erfie allemal fehr finnliche Auffaflung beider Vorftel- 
Tungen zu einer Zeit, wo bie Seele noch ganz in Bildern lebt, verſchwindet 
feinesweges allen, fondern bei ben meiften läutert und erhöht fie ſich all 
mählig, fo jedoch dag die Analogie mit dem menschlichen in der Vorſtellung 
bes höchſten Weſens und die Analogie mit dem irdiſchen immer noch die 
Haltung bleibt für den verborgenern tiefern Gehalt. Zür diejenigen aber, 
welche fich zeitig. in ein rein betrachtendes Beftreben vertiefen, giebt es einen 
andern Weg. Denn indem fie fich jelbft jagen, daß in Gott nichts entgegen- 
geſezt, getheilt, vereinzelt fein Tann und alfo nichts menfchliches von ihm 
gefagt werben darf; indem fle fich geftehen müflen, doß fie fein Recht haben, 
irgend etwas irdifches aus der Irbifchen Welt, durch Die es in unſerer Seele 
tft geboren worden, hinauszutragen, fo fühlen fie die Unhaltbarkeit beider 
Borftellungen in der Form; in der fie fie urfprünglich aufgenommen hatten, 
fie find nicht mehr im Stande fle in diefer lebendig zu produckren, alfo ver: 
fhwinden fie ihnen. Hiermit aber ift Tein pofitiver Unglaube, ja nicht 
einmal ein pofitiver Zweifel ausgefprocdhen, fondern indem jene kindliche 
Form gleichfam als der befannte finnliche Eoefficient verfchwindet, bleibt in 
der Seele die unbelannte Größe zurüf, als dasjenige, wovon jene Eoefficient 
war, und fie giebt fih als etwas wefentliches zu erfennen durch das Bes 
fireben, fie mit irgend einem andern zu verbinden und fo zu einem höheren 
wirklichen Bewußtfein zu erheben. In diefem Beftreben aber iſt wefentlich 
der Glaube gefezt, felbft wenn niemals eine den fireng betrachtenven befrie⸗ 
digende Löfjung zu Stande käme. Denn wenn auch nicht für fich in einem 
beflimmten Werth erfcheinend, ift doch die unbelannte Größe in allen Operas 
tionen des Geiſtes mitwirkend. Der Verfaſſer ift alfo weit entfernt davon 
gewefen, in biefen Worten andenten zu wollen, e& habe wenigftens eine Zeit 


— 
— 


169 


gegeben, wo er ein ungläubiger oder ein Atheift geweſen fei, fondern nur 
wer nie den Drang der Speculation gefühlt hat, ven Anthropomorphismus 
in ter Borftellung des hödjften Weſens zu vernichten, welchen Drang doch 27 
die Schriften der tieffinnigften chriftlichen Kirchenlehrer auf das beflimmtefte 
ansfprechen, hat ihn fo mißverfiehen können. 

38) ©. 153. Man bevenfe, daß biefes firenge Urtheil über das englifche 
Volk theild aus einer Zeit if, wo es angemeflen fcheinen founte, gegen die. 
überhandnehmende Anglomanie mit ber überbietenden Strenge aufzutreten, 
welche der rhetorifche Vortrag geftattet, theils auch, dag damals das große 
volfsthümliche Intereffe für tas Miffionswefen und für die Bibelverbreitung 
fih anf jener Infel noch nicht fo gezeigt hatte wie jezt. Biel aber möchte 
ih doch um biefer lezteren Erfcheinungen willen nicht zurüffnehmen von dem 
früheren Urtheil. Denn einmal ift dort die Gewöhnung fa groß, auf orga= 
nifche Privatvereinigung der Kräfte der einzelnen bedeutende Unternehmuns 
gen zu gründen, und die auf biefem Wege erreichten Erfolge find fo groß, 
dag auch. diejenigen, welche an nichts anderm als an dem Fortgang ber 
Gultur und ihrem Gewinn aus derſelhen ernftllich Theil nehmen, ſich doch 
nicht ausſchließen mögen von der Theilnahme an jenen Unternehmungen, 
bie von der bei weitem Eleineren Anzahl wahrhaft frommer ausgegangen 
find, ſchon um das Princip nicht zu ſchwächen. Dann aber ift auch 
nicht zu laͤngnen, daß jene Unternehmungen felbft von einer großen Ans 
jahl mehr aus einem politifchen und mercantilifhen Geſichtspunkt angefehen. 
werden. Denn daß hier nicht das reine Intereffe chriftlicher Frömmig⸗ 
keit vorwaltet, geht wohl ſchon daraus hervor, Daß man weit fpäter und 
wie es auch fcheint mit weniger glänzendem Erfolg für die großen Bes 
türfniffe des religiöfen Intereſſe wirffam gewefen ift, welche zu Haufe 
zu befriedigen waren. Doch dies find nur Andeutungen, durch die ich 
mich zu dem Glauben befennen will, daß auch eine genauere Erörterung 
bes Zuſtandes der Religiofität in England jenes Urtheil mehr beftätigen 
würde, als widerlegen. Und daſſelbe gilt von dem, was über den wiflens 
ſchaftlichen Geiſt gefagt iſt. Da Eranfreih und England damals die Län⸗ 
der waren, für welche wir uns faft ausfchlieglich intereffirten, und welche 
allein einen großen Einfluß auf Deutichland ausübten, fo ſchien es übers 
füffig, andy anderwärts hin.ähnliche Blikke zu werfen. Jezt möchte es nicht 
übel geweien fein, auch über die Gmpfänglichkeit für folhe Unterfuchungen 
im &ebiet der griechifchen Kirche ein Paar Worte zu fagen, wie nämlich 
dort, was für einen zarten Schleier auch die verunglüfften blendenden Lob⸗ 
yreifungen eines Stourdza darüber geworfen haben, alles tiefere erflorben 
it im Mechanismus ber veralteten Gebräuche und liturgifchen Formeln, und 
wie dieſe Kirche in allem, was einem zur Betrachtung aufgeregten Gemüth 
das bedentempfte iſt, noch weit hinter der Tatholifchen zurüfffteht. 

4) S. 163. Wenn doch ein frommes Gemüth, wovon hier unftreitig 
tie Rede iR, überall fonft heißt ein fih Gott Hingebendes Gemüth, hier aber 
ſtatt Bott Weltall gefezt ift: fo iſt Doch der Pantheismus des Verfaſſers in 28 
diefer Stelle unverkennbar. Das ift die nicht. feltene nicht Auslegung fons 


a 


170 


dern Einlegung oberflächlicher und dabei argwöhnifcher Lefer, welche nicht 
bedachten, daß Hier von der Licht: und Mürme-Erzeugung in einem folchen 
Gemüth, d. h. von dem jedesmaligen Entftehen folcher frommer ‚Erregungen 
die Rede ift, welche unmittelbar in religiöfe Borflellungen und Anfichten 
(Licht) und in eine Gott ſich Hingebende Gemüthsverfaffung (Wärme) über: 
gehn; und daß es deshalb zweffmäßig war, auf die Entftehungsart folcher 
Erregungen aufmerffam zu machen. Sie entitehen aber eben dann, wenn 


der Menfch fih dem Weltall Hingiebt, und find alfo auch nur hakituell in’ 


einem Gemüth, in welchem biefe Hingebung habituell if. Denn nicht nur 


überhaupt, fondern jedesmal ‚nehmen wir Gottes und feine ewige Kraft und - 
Gottheit wahr an ven Werken der Schöpfung, und zwar nicht nur an diefem | 
oder jenem einzelnen an und für ſich, fondern nur fofern e8 in die Einheit 


und Allheit aufgenommen ift, in welcher allein fi Gott unmittelbar offens 
bart. Die weitere Ausführung hiervon nach meiner Art ift zu lefen in mei⸗ 
ner chriftlichen Blaubenelchre $. 8, 2 und $. 36, 1. 2. 

5) S. 165. Wenn behauptet wird, daß ber Staat fein rechtlicher Zu⸗ 


fland fein würde, wenn er auf der Brömmigfeit beruhte: fo foll damit nicht‘ 
gefagt werden, daß der Staat, fo lange er noch in einer gewifien Unvoll⸗ 


fommenheit ſchwankt, nicht der Brömmigfeit entbehren könnte, die das allges 
meingültigfte Supplement ift für alles noch in ſich mangelhafte und unvoll- 
fommene. Allein wenn wir dies zugeben, heißt es doch nichts anders, als 
es ift in dem Maag politifh nothwendig, daß die Staatsmitglieder fromm 
feien, als noch nicht alle gleichmäßig und hinreichend von dem befonderen 
Rechtsprincip des Staats durchdrungen find. Wäre dieſes aber einmal der 
Ball, was aber menfrhlicher Weife nicht denkbar ift, fo müßte der Staat, fo: 
fern er nur auf feinen beftimmten Wirfungsfreis fühe, der Frömmigkeit fei: 
ner Glieder in der That entbehren fünnen. Daß ſich diefes fo verhält, ficht 
man auch daraus, daß diejenigen Staaten, in welchen der Rechtszuſtand noch 
nicht ganz über die Willführ gefiegt hat, theild am meiſten das Verhältniß 
der Vietät zwiſchen den regierenden und regierten herausheben, theils- auch 
fi der religtöfen Anftalten überhaupt am meiften annehmen; je mehr aber 
der Rechtszuſtand befeftiget if, um deſto mehr hört dieſes beides auf, fofern 
nicht etwa das legte auf eine befondere Weile gefchichtlich begründet if. — 
Wenn aber hernach (S. 165.) gelagt wird, die Staatsmänner müßten über: 
all das Recht in den Menfchen hervorrufen können, fo muß das freilich je: 
dem lächerlich dünken, der dabei an die Staatsdiener denft. Allein das Wort 
Staatsmann ift bier in dem Sinn des antiken nokırınös genommen, und 
29 08 foll dabei weniger daran gedacht werben, daß einer etwas beftimmtes im 
Staat zu verrichten hat, was völlig zufältig if, als daß einer vorzugsweiſe 
in der Idee des Staates lebt. Und die finftern Zeiten, in welche uns die 
befprochene Boransfezung zurüffführen würde, find die theofratifchen. Ich 
winfte damals hierauf Hin, vorzüglich weil der mir übrigens innerlich fehr 
befreundete Novalis die Theofratie aufs neue verherrlichen wollte. Es ift 
aber jezt volllommen meine Wcberzeugung, daß es eine der. wefentlichiten 
Tendenzen des Chriſtenthums ift, Staat und Kirche völlig zu trennen, und 


171 


‚ Tann eben fo wenig als jener Verherrlichung ber Theofratie der entgegen: 
fezten Anfidyt beitreten, daß bie Kirche je länger je mehr im Staat auf: 
ben folle. 
6) S. 166. So wollte ich doch die Vorrechte des redneriſchen Vortra⸗ 
8 nicht gebrandhen, daß ich den Verächtern der Religion gleich an der 
chwelle fägte, die Brömmigfeit ſtehe über der Sittlichfeit und dem Recht. 
uch konnte es mir an diefer Stelle nicht darauf anfonımen, den Primat 
rauszuheben, den, meiner Ueberzeugung nad), Srönmigfeit und wiflenfchaft: 
de Speculation miteinander theilen, und der beiden um fo mehr zufommt, 
inniger fie fich mit einander verbinden. Auseinandergefezt aber finden die 
erehrer der Religion dieſes in meiner Glaubenslehre. Hier aber muß ich 
is gefagte von dem gleichen Range, der der Sittlichfeit und dem Recht 
. der menfchlicden Natur mit der Srömmigkeit zufomme, vertheidigen. Aller: 
ngs ift in den erften beiden Feine unmittelbare Verbindung des Menfchen 
it dem höchften Wefen gefezt, und in fofern fteht die dritte über, ihnen. 
Heim jene beiven bedingen eben ſo weſentlich das ausgezeichnete und eigens 
vümliche der menschlichen Natur, und zwar als ſolche Functionen derfelben, 
ie nicht felbft wieder unter andere als höhere zu fubfuniren find, und in 
fern find fie ihr glei. Denn der Menſch Fann eben fo wenig ohne ſitt⸗ 
iche Anlagen gedacht werden und ohne das Beftreben nach einem rechtlichen 
zuſtande, als ohne die Anlage zur Froͤmmigkeit. 


Bweite Rede 


Ueber das Wefen der Religion. 


20 Ihr werdet wiflen, wie der alte Simonides durch immer wie⸗ 
berholted und verlängertes Zögern ‚denjenigen zur Ruhe, verwoieß, 
der ihn mit ber Frage beläfliget hatte, was wohl bie Götter 
feien. Ich möchte nicht ungern bei der unfrigen, jener fo genau 
entfprechenden und nicht minder umfaffenden,- was Religion fei, 
mit einer ähnlichen Zögerung anfangen. Natürlich nicht in der 
Abfiht, um zu fehweigen und Euch wie jener in der Verlegen: 
beit zu laffen; fondern ob Ihr etwa, um auch für Euch ſelbſt 


etwad zu verfuchen, Euere Bliffe eine Zeitlang unverwandt auf 


den Punkt, den wir fuchen, wolltet gerichtet halten, und Euch 


aller. andern Gedanken indeß gänzlich entfchlagen. Iſt es doch 


bie erſte Forderung auch derer, welche nur gemeine Geiſter be: 
fhwören, daß der Zufchauer, der ihre Erfcheinungen fehen und 
in ihre Geheimniffe will eingeweiht werden, fich Durch Enthalt: 
famfeit von irdifhen Dingen und durch heilige Stille vorbereite, 
und dann, ohne fich durch den Anblikk fremder Gegenftände zu 
zerfireuen, mit ungetheilten Sinnen auf den Ort binfchaue, wo 
die Erfcheinung fich zeigen fol. Wie viel mehr werde ich eihe 
ſolche Folgſamkeit verlangen dürfen, der Euch einen feltenen Geiſt 
hervorrufen fol, welchen Shr lange mit angefirengter Aufmerk⸗ 
ſamkeit werdet beobachten müffen, um ihn für den, den Shr bes 
gehrt, zu erkennen und feine bedeutfamen Züge zu verftehen. Ja 


173 


gewiß, nur wenn Ihr vor den heiligen Kreifen ſtehet mit jener 3 
unbefangenen Nüchternheit des Sinnes, die jeden Umriß Har und 
richtig auffaßt, und weder von alten Erintterungen verführt, noch 
von vorgefaßten Ahnungen beſtochen, nur aus ſich felbft das 
dargeftellte zu verfichen trachtet, nur dann kann ich hoffen, daß 
Ihr die Religion, die ich Euch zeigen will, wo nicht liebgewin⸗ 
nen, doc) wenigftend Euch über ihre Bedeutung einigen und ihre 
höhere Natur anerkennen werdet. Denn ich wollte wol, ic 
Fönnte fie Euch unter irgend einer wohlbefannten Geſtalt dar: 
ftelen, damit Ihr fogleih an ihren Zügen, ihrem Gang und 
Anfland Euch erinnern möchtet, dag Ihr fie hier oder dort fo 
gefehen Habt im Leben. Aber ed will nicht angehen; denn fo 
wie. ich fie Euch zeigen möchte in ihrer urfprünglichen eigenthüms 
lichen Gefialt, pflegt fie ‚Öffentlich. nicht aufzutreten, fondern nur 
im verborgenen TABt fie fich fo fehen von denen bie fie liebt. 
Auch ‚gilt ed ja nicht etwa von der Religion allein, daß daß, 
worin fie Öffentlich "Dargeftelt und vertreten wird, nicht mehr 
ganz fie felbft ift, fondern von jedem, was Ihr feinem innern 
Weſen nach ald ein eigenthümliched und befondered für fich 
annehmen. möget, Tann daffelbe mit Recht gefagt werden, daß, 
in was für einem aͤußerlichen es fich auch darftelle, diefed nicht 
mehr ganz fein eigen ift, noch ihm genau entipriht. Iſt doch 
nicht_sinmal die Spradye das reine Werk der der. Erkennmiß, noch 
bie Sitte dad reine Wert ber Geſi efinnung. Zumal jezt und unter 
und 8 ift dieſes wahr. Denn ed gehört zu dem fſich noch immer 
weiter bildenden Gegenfaz der neuen Zeit gegen bie alte, daß 
nirgend. mehr einer eines ift, fondern jeder alles. Und daher 
ift, wie die gebildeten Voͤlker ein fo vielfeitiged Verkehr unter 
einander eröffnet haben, daß ihre eigenthämliche Sinnesart in 
ben einzelnen Momenten des Lebens nicht mehr unvermifcht ber: 
austritt, fo audy innerhalb des menfchlichen Gemüthes eine fo 
audgebreitete und vollendete Gefelligkeit geftiftet, daß, was Ihr 
auch abforidern möget in der WBetrachtung ald einzelnes Talent 


174 


und Vermögen, dennoch keinesweges eben fo abgeſchloſſen feine. 
Werke bervorbringt; fondern, ich meine es im. ganzen‘, verfteht 

32 fich, jede wird bei jeder Verrichtung dergeſtalt von der zuvor 
tommenden Liebe und Unterflügung der andern bewegt und durch 
drungen, daß Ihr nun in jedem Werk .alled findet, und fchon 
zufrieden fein müßt, wenn es Euch nur gelingt, die herrſchend 
bervorbringende Kraft zu unterſcheiden in dieſer Verbindung. 
Darum kann nun jeder jede Thaͤtigkeit des Geiſtes nur in ſofem 
verſtehen, als er ſie zugleich in ſich ſelbſt finden und anſchauen 
kann. Und da Ihr auf dieſe Weiſe die Religion nicht zu kennen 
behauptet, was liegt mir näher, als Euch vor jenen Verwechſe 

lungen vornehmlich zu warnen, welche aus der gegenwärtigen 
Lage der Dinge fo natürlich. hervorgehn? Laßt und deshalb recht 
bei den Hauptmomenten: Eurer eignen Anficht anheben, und fie 
ſichten, ob fie wol die rechte fei,. oder wenn nicht, wie wir viel 
leicht. von ihr zu diefer- gelangen koͤnnen. 

Die Religion ift Euch bald eine Denkungsart, ein 1 Glaube, 
eine eigne Weife, die Melt zu betrachten, und was uns in ihr 
‚begegnet, in Verbindung zu bringen; bald eine Handlungsweile, 
eine eigne Luft und Liebe, eine befondere Art, fich zu betragen 
und fich innerlich zu bewegen. Ohne diefe Trennung eines theo: 
retifchen und praktiſchen Fünnt Ihr nun einmal fchwerlich ben: 
ken, und wiewol die Religion. beiden Seiten angehört, ſeid Ihr 
doch gewohnt jedesmal. auf eine von beiden vorzüglich zu achten. 
Sp wollen wir fie denn von beiden Punkten aus genau ind 
Auge faſſen. 

Fuͤr das Handeln zuerft fest Ihe doch ein zwiefaches, das 
Leben naͤmlich und die Kunſt; Ihr moͤget nun mit dem Dichter 
Ernſt dem Leben, Heiterkeit der Kunſt zuſchreiben, oder anders⸗ 
wie beides entgegenfezen, trennen werdet Ihr doch gewiß eines 
vom andern. Für das Leben fol die Pflicht die Lofung fein, 
Euer Sittengefez fol ed -anorbnen, die Tugend fol ſich darin 
ald das waltende beweilen, damit der einzelne mit’ den allge 


175 


- meinen Ordnungen ber Welt harmonire und nirgends flörend 
oder verwirrend eingreife. Und fo, meint Ihr, koͤnne ſich ein 
Menſch beweiſen, ohne daß irgend etwas von Kunſt an ihm zu 
ſpuͤren ſei; vielmehr muͤſſe dieſe Vollkommenheit durch ſtrenge 
Regeln erreicht werden, die gar nichtd. gemein hätten mit ben 33 
freien beweglichen Borfchriften der Kunft. Sa, Ihr fehet eö felbft 
faft ald eine Regel an, daß bei denen, welche fich in der Anordnung 
des Lebens am genaueflen bemeifen, die Kunft zurüßfgetreten fei 
und fie ihrer entbehren. Wiederum den Künftler fol die Phan⸗ 
tafie befeelen, dad Genie fol überall in ihm walten, und dies 
ift Euch etwas ganz anderes als Tugend und Sittlichkeit; das 
böchfie Maaß von jenem fönne, meint Shr, wohl beftehen bei 
einen weit geringeren von dieſer; ja Ihr feid geneigt dem Künft: 
ler von den firengen Forderungen an bad Keben etwas nachzus 
loffen, weil die befonnene Kraft gar oft ind Gedränge gerathe 
durch jene feurige, Wie fleht es nun aber mit dem, was Ihr 
Srömmigfeit nennt, in wiefern Shr fie ald eine eigne Hand: 
lungsweiſe anfeht? Faͤllt fie in jenes Gebiet ded Lebens, und ifl 
darin etwad eigned, alfo dach auch gutes und löbliches, doch 
- aber auch ein von ber Sittlichkeit verfchiedened; denn für einer: 
lei wollt Ihr doch beides nicht ausgeben? Alfo erichöpfte die 
Sittlichfeit nicht dad Gebiet, welches fie regieren fol, wenn noch 
eine andere Kraft darin wirkſam ift neben ihr, und zwar bie 
auch gerechte Anfprüche daran hätte und neben ihr bleiben Eönnte? 
Oder wollt Ihr Euch dahin zurüffziehen, daß die Frömmigkeit 
eine einzelne Tugend fei, und die Religion eine einzelne Pflicht, 
oder eine Abtheilung von Pflichten, alfo der Sittlichkeit einver: 
leibt und untergeordnet, wie ein Theil feinem ganzen einverleibt 
ift, wie man auch annimmt, befondere Pflichten gegen Gott, des 
ren Erfüllung dann die Religion fei und alfo ein Theil der 
Sittlichkeit, wenn alle Pflichterfülung die gefammte Sittlichkeit 
ift? Aber fo meint Shr es nicht, wenn ich Eure Reden recht vers 
fiehe, wie ich fie zu hören gewohnt bin und aud) jet Eu wir 


176 


dergegeben habe; denn fie wollen fo klingen, als ob ber fromme 
durchaus und überall noch etwas eigried hätte in feinem Thun 
und Laſſen, ald ob ber fittliche ganz und vollkommen ſittlich fein 
tönnte, ohne auch fromm zu fein deshalb. Und wie verhalten 
% fi doch nur Kunft und Religion? Doc ſchwerlich fo dag fie 
einander ganz fremd wären; denn von jeher hatte doch das 
größte in der Kunft ein religiöfed Gepräge. Und wenn Ihr den 
Künftler fromm nennt, geftattet Ihr ihm dann auch noch. jenen 
Nachlaß von den firengen Sorderungen der Tugend? Mol fchwer: 
ih, fondern unterworfen ift er dann dieſen wie jeder andere. 
Dann aber werdet Ihr auch wol, fonft fähe ich nicht wie eine . 
Gleichheit herausfäme, denen die dem Leben angehören, wenn 
fie fromm fein follen, verwehren ganz kunſtlos zu bleiben; fon- 
dern fie werden in ihr Leben etwas aufnehmen müffen aus die: 
fem Gebiet, und daraus entfteht vielleicht die eigne Geſtalt die 
ed gewinnt. Allein ich bitte Euch, wenn auf diefe Weife, und 
auf irgend fo etwas muß es doch herausfommen mit Eurer An« 
ficht, weil ein anderer Ausweg fi nicht darbietet, wenn fo die 
Religion ald Handlungsweife eine Miſchung ift aus jenen beiden, 
getrübt wie Mifhungen zu fein pflegen, und beide etwas durch 
einander angegriffen und abgeflumpft: fo erklärt mir das zwar 
Euer Mißfallen, aber nicht Eure Vorftelung. Denn wie wollt 
Ihr doch ein ſolches zufälliges Durcheinandergerührtfein zmeier 
Elemente etwas eigned nennen, wenn auch die genauefte Mittel: 
mäßigkeit von beiden daraus entflände, fo lange ja doch beide 
darin unverändert neben einander beftehn? Penn ed aber nicht 
fo, fondern die Frömmigkeit eine wahre innige Durchbringung 
von jenen ift: fo fehet Ihr wohl ein, daß mein Gleichnig mid) 
dann verläßt, und daß eine folche hier nicht kann entflanden fein 
durch ein Hinzufommen des einen zum andern, fondern daß fie 
alddann eine uriprüngliche Einheit beider fein muß. Allein hütet 
Euch, ih will Euch felbft warnen, daß Ihr mir died nicht zu: 
gebt. Denn wenn es ſich fo verhielte, fo wären Sittlichleit und 


—— 


177 


Genie in ihrer Wereinzelung ja nur bie einfeitigen Zerſtoͤrungen 
ber Religion, das heraudtretende, wenn fie abflirbt; jene aber 
wäre in der That dad höhere zu beiden, und daB wahre goͤtt⸗ 
liche Leben -felbft. Kür dieie Warnung aber, wenn Ihr fie ans 
nehmt, feid mir aud) wieder gefällig, und. theilt mir mit, wenn 
Ihr irgendwo vieleicht einen Ausweg findet, wie Eure Meinung ss 
über die Religion nicht als nichtö erfcheinen. kann; bis dahin 
aber bleibt mir wol nichts. übrig, als anzunehmen, daß Ihr noch 
nicht recht unterfucht hattet, und Euch felbft nicht verflanden 


habt über diefe Seite der Religion. _ Vielleicht daß ed uns er: 


freulicher ergeht mit der andern, wenn fie nämlich angefehen wird 
als Denkungsart und Glaube. 

Das werdet Ihr mir zugeben, glaube ih, daß Eure Ein: 
fichten, . mögen fie nun noch fo vielfeitig erfcheinen, Euch doch 
indgefammt in zwei gegenüber flehende Wiffenfchaften hineinfal⸗ 
len. - Ueber die Art, wie Ihr dieſe weiter abtheilt, und über die 
Namen, die Ihr. ihnen beilegt, will ich mich nicht weiter audlaf- 
fen; denn das gehört in den Streit Eurer Schulen, mit dem ich 
bier nichtö zu thun habe. Darum folt Ihr mir aber auch nicht 
an den Worten mäfeln, mögen fie nun bald hieher kommen, 
bald daher, deren ich mich zu ihrer Bezeichnung bedienen werde. 
Wir mögen nun die eine Phyfif nennen oder Metaphyſik, mit 
Einem Namen, oder wiederum getheilt mit zweien, und die an- 
dere Ethik oder. Pflichtenlehre oder praftifche Philofophie, über 
den Gegenfaz, ben ich meine, find. wir doch einig, daß nämlich 
die eine die Natur der Dinge befchreibt, oder wenn hr davon 
nichtd wiſſen wollt und es Euch zu viel duͤnkt, wenigftens die 
Borftelungen des Menfchen von den Dingen, und was die Welt 
als ihre Gefammtheit für ihn fein, und mie er fie finden muß; 
die andere Wiffenichaft aber lehrt umgekehrt, was er für die 
Welt fein und. darin thun fol. Sn wiefern nun die Religion 
eine Denkungsart ift über etwas, und ein Wilfen um etwas in 
ihr vorkommt, hat fie nicht mit jenen Wiffenfchaften einerlei Ge: 

Schleierm. W. L 1. M 


"178 


genſtand? Was weiß ber Glaube anders. als das Verhaͤltniß des 
Menſchen zu Gott und zur Welt, wozu jener ihn gemacht hat, 
was dieſe ihm anhaben kann oder nicht? Aber wiederum nicht 
aus dieſem Gebiet allein weiß und ſezt er etwas, ſondern auch 
ss aus jenem andern, denn er unterfcjeidet auch nad) feiner. Weiſe 
ein gutes Handeln und 'ein. fchlechted. Wie nun, ift die Religion 
einerlei mit der Naturwiffenfchaft und der Sittenlehre? Ihr meint 
ja nicht; denn Ihr wollt nie. zugeben, daß unfer Glaube fo be: 
gründet wäre und fo ficher, noch daß er auf berfelben Stufe ber 
Gemißheit flände, wie Euer wiffenichaftliches Wiſſen; ſondern 
Ihr werft ihm vor, daß er erweisliches und wahrſcheinliches nicht 
zu unterfcheiden wiffe. Eben fo vergeßt Ihr nicht, fleißig zu be⸗ 
merken, daß oft gar wunderliche Borfchriften des Thuns und Kaf- 
ſens von ber Religion audgegangen find; und ganz recht mögt 
Ihr haben; nur vergeßt nicht, daß ed mit dem was Ihr Wif- 
fenfchaft nennt, ſich eben fo verhält, und daß Ihr’ vieles in bei- 
‚ ven Gebieten berichtiget zu haben meint, und - beffer zu fein als 
Eure Väter. Und was follen wir nun fagen, daß die Meligion 
fei? Wieder wie vorher eine Mifchung, alfo theoretifches Wiſſen 
und praftifched zufammen gemengt?. Aber noch viel unzuläffiger 
ift ja dies auf dem Gebiete des‘ Wiſſens, und am meiften wenn, 
wie ed doch fcheint, jeder von diefen beiden - Zweigen befjelben 
fein eigenthümliches Verfahren hat in der Gonftruetion feines 
Wiſſens. Nur aufs willkührlichfte entftanden könnte folch eine 
Miſchung fein, in der beiderlei Elemente fich entweder unorbent: 
lich durchkreuzen oder fich doch wieder abfezen müßten; und 
fchwerlich fünnte etwas anderes durch .fie gewonnen werden, als 
daß wir noch eine Methode mehr befäßen, um etwa Anfängern 
von den Refultaten des Wiflend etwas beizubringen und ihnen 
Luft zu machen zur Sache felbft. Wenn Ihr ed fo meint, warum 
fireitet Ihr gegen bie Religion? Ihr könntet fie ja, fo lange ed 
Anfänger giebt, friedlid; beſtehen laffen und ohne Gefährbe. Ihr 
- fönntet lächeln”über die wunderliche Täufchung, wenn :wir uns 


179 


etwa anmaßen wollten, ihretwegen Euch zu meiflern; denn Ihr 
wißt ja gar zu ficher, dag Ihr fie weit hinter Euch, gelaffen habs, 
und daß fie immer nur von Euch, den wifjenden, zubereitet 
wird für umd andere, fo daß Ihr übel thun würdet, nur ein 
ernfihafte® Wort hierüber zu verlieren. : Aber fo ſteht es nicht, 37 
denke ih. Denn Shr arbeitet fchon lange daran, wenn ich mich 
nicht ‚ganz irre, einen folchen Furzen Auszug Eures Wiffens der 
Maffe des Volkes beizubringen; ob Ihr ihn nun Religion nennt 
pder Yufllärung oder wie anders, gilt gleich; und dabei findet 
Ihr eben nöthig erſt ein anderes noch vorhandenes auszutreiben, 
oder wo es nicht wäre, ihm den Eingang zu verhindern, und 
dies ift eben was Ihr ald Gegenftand Eurer Polemik, nicht- als 
die Waare die Ihr felbft verbreiten wollt, Glauben nennt. Alſo 
Ihr lieben, muß doch der Glaube etwas anderes ſein, als ein 


— —— — — — ——· — — u. in — —— — 


ſolches Gemiſch von Meinungen über Gott und die Welt, und 
von Geboten für Ein Leben ober zwei; und die ie Frömmigkeit 
muß. etwas anderes fein ald ber Inſtinct, den nad diefem Ges 
mengſel vot von metaphyſiſchen und moraliſchen Broſamen verlangt, 
und der ſie ſich durcheinander ruͤhrt. Denn ſonſt ſtrittet Ihr 
wol ſchwerlich dagegen, und es fiele Euch wol nicht ein, von 
der Religion auch nur entfernt ald von etwas zu reden, dad 
"von Eurem Wiffen verfchieden fein koͤnnte; fondern der Streit 
der gebildeten und wiffenden gegen bie frommen wäre bann 
nur der Streit der Tiefe und Gründlichfeit gegen das oberfläch- 
liche Wefen, der Meiſter gegen die Lehrlinge, die fich zur übeln 
Stunde freifprechen wollten. Sollter Ihr es aber dennoch fo 
meinen, fo hätte ich Luft Euch durch allerlei fokratifche Fragen 
zu ängfligen, um mandye unter Euch endlich zu einer unverho- 
Ienen Antwort zu nöthigen auf die Frage, ob einer wol auf ir- 
gend eine Art weife und fromm. fein koͤnnte zugleih, und um 
allen die vorzulegen, ob Ihr etwa auch in andern gemeinen 
Dingen die Principien nicht kennt, nach denen das ähnliche zu: 
fammengeftelt und das befondere dem allgemeinen untergeordnet 
MR 








180 


wird; oder ob Ihr fie nur hier nicht anmenden wollef, "um lie: 
ber mit der Welt über einen ernſten Gegenfland Scherz zu frei: 
ben. Wie fol ed nun aber fein, wenn. es fo nicht ift? Wodurch 
wird doch im religioͤſen Glauben das, was Ihr in der Wiſſen⸗ 
ſchaft ſondert und in zwei Gebiete vertheilt, mit einander ver⸗ 

as knuͤpft und fo unaufloͤslich gebunden, daß ſich keins ohne das 
andere denken laͤßt? Denn der fromme meint nicht, daß jemand 
dad richtige Handeln unterſcheiden Tann, als nur in fofern er zu: 
gleich um die Verhältniffe des Menfchen zu Sort weiß, -und ſo 
auch umgekehrt. Iſt es das theoretiſche, worin dieſes bindende 
Princip liegt: warum ſtellt Ihr noch eine praktiſche Philoſophie 
jener gegenüber, und ſeht fie nicht vielmehr nur als einen Ab: 
ſchnitt derfelben an? und eben fo, wenn es fich umgefehrt- ver: 
hält. Aber es mag nun fo fein, oder jene beides, welches Ihr 
entgegenzufezen pflegt, mag nur in einem noch höheren urfprüng: 
lihen Wiffen eins fein, Ihr Eönnt doch nicht glauben, daß bie 
Religion diefe höchfte wiederhergeftellte Einheit des Wiſſens ſei, 
fie, die Ihr bei denen am meiften findet und beftreiten wollt, 
welche von der Wiffenfchaft am weiteften entfernt find. Hiezu 
will ich felbft Euch nicht anhalten; denn ich will feinen Plaz 
befezen, den ich nicht ‚behaupten koͤnnte!); aber dad werdet Ihr 
wol zugeben, daß Ihr auch mit diefer Seite der Religion Euch 
erfi Zeit nehmen müßt, um zu unterfuchen mas fie eigentlich 
bedeute. 

Laßt und aufrichtig mit einanher umgeben. Ihr mögt-bie 
Religim nicht, davon find wir fchon neulich ausgegangen; aber 
indem Ihr einen -ehrlihen Krieg gegen fie führt, der doch nicht 
ganz ohne Anftrengung ift, wollt Ihr doch nicht gegen einen 
Schatten zu fechten fcheinen, wie diefer, mit dem wir uns bis 
jezt herumgefchlagen haben. Sie muß dody etwas eigenes fein, 
was in der Menfchen Herz fich fo befonderd geftalten Eonnte, 
etwad denkbares, deſſen Weſen für ſich kann aufgeftellt werden, 
daß man darüber reden und fireiten kann; und ich finde es 


181 


ſehr unrecht, wenn Ihr felbfi aus fo disparaten Dingen, wie 
Erkenntniß und Handlungsweile, etwas unhaltbares zufammen: 
nähet, dad Religion nennt, und dann fo viel unnäze Umflände 
damit macht. Ihr werdet leugnen daß Ihr hinterliftig zu Werke 
gegangen feid; Ihr werdet ich auffordern, alle Urfunden der 39 
Religion — weil ich doch die Syſteme, die Commentare und die 
Apologien fchon verworfen habe — alle aufzurollen, von den 
fhönen Dichtungen der Griechen bis zu den heiligen Schriften 
der Chriſten, ob ich nicht überall bie Natur der Götter finden 
werde, und.ipren Willen, und überall ben heilig und felig ge: 
priefen, der die erflere erfennt und den leztern vollbringt. Aber 
dad iſt ed ja eben was ich Euch gefagt habe, dag die Religion 
nie: rein erfcheint, ſondern ihre äußere Geftalt auch noch durch 
etwas anderes beſtimmt wird, und daß es eben unfere —— 
if, ur uns hieraus ihr Weſen darzufiellen, nicht ſo kurz un d gra 

zu jenes fuͤr dieſes zu nehmen, wie Ihr zu thun ſcheint een 
Euch doch auch die Körpermwelt keinen Urftoff in feiner Reinpeit 
bargeftelt als ein freiwilliges Naturerzeugniß — Ihr Shr_müßtet 
denn, wie es Euch in ber intellectuellen ergangen iſt, ſehr grobe 


Dinge für etwas einfaches halten — fondern es iſt nur das 


unendliche Ziel der analytiſchen Kunſt, einen ſolchen darftellen- len zu 
tönnen. So if Euch auch in geiſtigen Dingen das urfprüng: 

liche nicht anders zu ſchaffen, ald wenn Ihr ed durch eine zweite 
gleichfam Fünftlihe Schöpfung in Euch erzeugt, und aud dann 
nur für den Moment, wo Ihr e3 erzeugt. Sch bitte Euch, ver: 
fiehet Euch felbft hierüber, Ihr werdet unaufhörlich daran erin: 
nert werden. Was aber die Urkunden und die Autographa ter 
Religion betrifft, fo iſt das Anfchließen derfelben an Eure Wiſ— 
fenfchaften vom Sein und vom Handeln oder. von der Natur und 
vom Geijt nicht bloß ein unvermeidliches Schikffal, weil fie nam: 
lih nur aus diefen Gebieten ihre Sprache hernehmen Tönnen, 
fondern ed ift ein wefentliched Erfordernig, von ihrem Zwekk 
ſelbſt unzertrennlich, weil fie, um fi) Bahn zu machen, an dad 





182 


mehr ober minder wiffenfchaftlich gedach e über diefe Gegenflände 
anknüpfen müffen, um dad Bewußtſein für ihren höheren Ge: 
genftand aufzufchliegen. Denn was ald dad erfte und lezte in 
einem Werke erfcheint, iſt nicht immer auch fein innerfled und 
so höchfles. Wüßtet Ihr doch nur zwifchen den Zeilen zu lefen! 
Alle heilige Schriften find wie die befcheidenen Bücher, welche 
vor einiger Zeit in unferem befcheidenen Vaterlande gebräuchlich 
waren, die unter einem bürftigen Zitel wichtige Dinge abhans 
delten, und nur einzelne Erläuterungen verheißend in die tiefften 
Tiefen hinabzufteigen verfuchten. So auch die heiligen Schrifs 
ten ſchließen fich freilich metaphyfiichen und moralifchen Begriffen 
an — wo fie fih nicht etwa ummittelbar dichterifcher, erheben, 
weiches aber dad für Euch am wenigften genießbare zu fein 
pflegt —, und fie fcheinen faft ihr ganzes Gefchäft in diefem 
Kreife zu vollenden; aber Euch wird zugemuthet, durch diefen 
Schein hindurdyzubringen, und hinter demfelben ihre eigentliche 
Abzwekkung zu erkennen. So bringt auch die Natur edle Mes 
talle vererzt mit geringeren Subftanzen hervor, und doch meiß 
unfer Sinn fie zu entdeffen und in ihrem herrlichen Glanze 
wieder herzuftellen. Die heiligen Schriften waren nicht für bie 
vollendeten gläubigen allein, fondern vornehmlich für die Kins 
der im Glauben, für die nengeweihten, für die welche an der 
Schwelle ftehen und eingeladen fein wollen. Wie konnten fie es 
alfo anderd machen, als jezt eben auch ich ed mache mit Euch? 
Sie mußten fich anfchliegen an das gegebene, und in diefem die 
Mittel fuchen zu einer folchen firengeren Spannung und erhoͤh⸗ 
ten Stimmung bed Gemüthes, bei welcher dann auch der neue 
Sinn, den fie erwekken wollten, aus dunkeln Ahnungen Fonnte 
aufgeregt werden. Und erkennt Ihr nicht auch ſchon an der Art 
wie jene Begriffe behandelt werden, an dem bildenden Treiben, 
wenn gleich oft im Gebiet einer armfeligen undankbaren Sprache, 
das Beſtreben, aus einem niederen Gebiet Durchzubrechen in ein 
höheres? Eine ſolche Mittheilung, das feht Ihr wol, Eonnte nicht 


183 


anderd fein” als. dichteriſch oder redneriſch; und was liegt wol 
dem leztern näher ats das dialektiſche? was iſt von jeher herr⸗ 
licher und gluͤkklicher gebraucht worden, um die hoͤhere Natur 
des Erkennens eben ſo wol als des inneren Gefuͤhls zu offen⸗ 
baren? Aber freilich wird dieſer Zwekk nicht erreicht, wenn je⸗ 
mand bei der Einkleidung allein ſtehen bleibt. Darum da ed sı 
fo fehr weit um fich gegriffen hat, dag man in den heiligen 
Schriften ‚vornehmlich Metappyfi k und Moral fuhrt, und nad) 
der Ausbeute, die ſie hiezu geben, ihren Werth ſchaͤzt, ſo ſchien 
es Zeit, die Sache einmal bei dem andern Ende zu ergreifen, 
und mit dem ſchneidenden Gegenſaz anzuheben, in welchem ſich 
unſer Glaube gegen Eure Moral und Metayhyſik, und unſere 
Froͤmmigkeit gegen das was Ihr Sittlichkeit zu nennen pflegt, 
befinde. Das war es was ich wollte, und wovon ich ab: 
ſchweifte, um erſt die unter Euch herrſchende Vorfiellung zu be: 
leuchten. Es iſt gefchehen und ich kehre nun zuruͤkk. 

E Um Euch allo ihren urfprünglichen und eigenthämlichen 
Befiz recht beflimmt zu offenbaren und darzuthun, entfagt die 
Religion vorläufig allen Anfprühen auf irgend etwas das jenen 
beiden Gebieten der Wiffenfchaft und der Sittlichkeit angehört, 
und will alles zurüffgeben, was fie von borther fei es nun ge: 
lieben bat oder fei e& daß es ihr aufgedrungen worden. Denn 
wonach firebt Eure Wiſſenſchaft des Seins, Eure Naturwiſſen⸗ 
ſchaft, in weldyer doch alles reale Eurer theoretiichen Philefophie 
fi vereinigen muß? Die Zinge, denke id, in ihrem eigenshüm: 
lichen Weſen zu erkennen; die beionderen Beziehungen aufgugei- 
gen, burdy welche jedes in was es iſt; jedem feine Stelle im 
ganzen zu beſtimmen und e5 von allem übrigen richtig zu unser 
ſcheiden; alies wirkliche in ſeiner gegen’eitigen bedinzien Neth⸗ 
wendigfeit hinzufelien und die Einerleihrit aller Erſcheinungen 
mis ihren ewigen Geſezen barzutbun. Ties iÄ ja wehrlih ſchoͤn 
unb tselich, und ih bin mid gemeint es berabzulegn;, Did, 
meht wenn End, meine Beſchteibung, bingewurie und angsbcu- 


184 


tet wie fie if, nicht genügt, fo will ich Euch das hoͤchſte und 
erfchöpfendfte zugeben, was Ihr nur vom Wiffen und von der 
Wiffenfchaft zu fagen vermögt: aber dennoch, und warn Ihr 
auch noch weiter geht und mir anführt, bie Naturwiffenfchaft 
führe Euch noch höher hinauf von den Geſezen zu dem hoͤchſten 
«2 und allgemeinen Ordner, in welchem die Einheit zu allem iſt, 
und’ Ihr erfenntet die Natur nicht ohne auch Bott zu begreifen, 
fo behaupte ich dennoch, daß die Religion. ed auch mit dieſem 
Wiſſen gar nicht zu thun hat, und daß ihr- Weſen auch ohne 
Gemeinſchaft mit” demſelben wahrgenommen wird. Denn. bad 
Maaß ded Wiſſens iſt nicht dad Maag der Frömmigkeit; - fons 
dern diefe kann ſich herrlich offenbaren, urfprünglid) - und eigen: 
thümlich auch in dem, der jenes Wiſſen nicht urſpruͤnglich in 
ſich ſelbſt hat, ſondern nur wie jeder, einzelnes davon durch die 
Verbindung mit den übrigen:. Ja. der fromme geſteht es Euch 
gern und willig zu, auch wenn Ihr etwas ſtolz auf ihn herab 
ſeht, daß er als folder, er "müßte denn zugleich auch ein weiler 
fein, dad Wiffen nicht fo in fich habe wie Ihr; - und ich will 
Euch ſogar mit klaren Worten dolmetſchen, was die meiſten pon 
ihnen nur ahnen, aber nicht son fih zu ‚geben wiffen, daß, 
wenn Shr Gott an bie Spize Eurer Wiſſenſchaft ſtellt ald den 
Grund alled Erkennens ober auch alles erfanniten zugleich, fie 
diefed zwar loben und ehren, died aber nicht daffelbige ift wie 
ihre Art Gott: zu haben und um ihn zu wiffen, aus welcher ja, 
wie fie gern geflehen und an ihnen genugſam zu fehen ift, das 
Erkennen und die Wifjenfchaft nicht hervorgeht. Denn freilich 
ift der Religion die Betrachtung weſentlich, und wer in 'zuger 
fchloffener Stumpffinnigfeit hingeht, wem .nicht der Sinn offen 
ift für das Leben der Welt, den. werdet Ihr nie fromm nennen 
“ wollen; aber diefe Beträchtung geht nicht wie Euer Wiffen um 
die Natur auf dad Wefen eined endlichen im Zufammenhang mit 
und im Gegenfaz gegen das andere endliche, noch auch wie Eure 
Sottederkenntniß, wenn ich hier beiläufig noch in allen Auss 


185 


drüßfen reden darf, auf das Weſen der höchften Urſache an fich 
und in ihrem Berhältnig zu alle dem, wa3 zugleich Urfache ifl 
und-Wirkung; fondern die Betrachtung des frommen iſt nur-bas 
unmittelbare Bewußtſein von dem allgemeinen Skin alles. endlichen 
im "unendlichen und Durch. das unendliche, alles zeitlichen im ewi⸗ 
gen. und nd durch d das ewige. Dieſes ſuchen unk__fibben „in allem 
was lebt und ind fich regt, in allem Werden und Wechſel, in_allem.aa 
Thun "und Leiden, und das Leben ſelbſt im unmittelbaren Wefuͤhl 
nur haben und- kennen als dieſes Sein, das iſt Religion. Ihre 
Befriedigung if mo fie dieſes findet; wo fich dies verbirgt, da 
iſt für fie Hemmung, und .Aengfligung, Noth und Tod. Und 
fo iſt ſie freilich ein Leben in der unendlichen Natur des ganzen, 
im einen und allen, in. Gott, habend und befizend alles in Gott 
und ind Gott in allen in allem. Aber ‘das Aber "dad Wiffen und und Erkennen iſt fie nicht, 
weder der veber der Welt n noch ) Gottes, ſonde „Sondern dies erfennt fe nur an, 
ohne es zu fein; es iſt ihr auch «ine Regung und Offenbarung 
— umenbiichen. im enbtichen, Die fie auch ſieht in Gott und Gott 
in ihr. — Eben fo, wonach firebt Eure Sittenlehre, Eure Wifs 
fenfchaft ded Handelns? Auch fie. will ja das einzelne des menſch⸗ 
lichen Handelnd und Hervorbringens aus einander halten in feiner 
Beitimmtheit, und auch dies zu einem in ſich gegründeten und 
gefügten ganzen ausbilden. Aber der fromme befennt Euch, daß 
er als ſolcher auch hievon nichts weiß. Er betrachtet ja frei. 
lich das menſchliche Handeln, aber feine. Betrachtung iſt gar nicht 
bie, aus welcher jened Syſtem entfieht; fondern er fucht und 
fpürt nur in allem daffelbige, nämlich das Handeln aud Gott, 
die Mirkfamkeit Gottes in den Menfchen. Zwar wenn Eure 
Sittenlehre die rechte ift, und feine Frömmigkeit die rechte, fo 
wird er fein andered Handeln für das göttliche anerkennen, als 
dadjenige welches auch in Euer Syſtem aufgenommen ift; aber 
diefed Syſtem felbft zu kennen und zu bilden, ift Eure, der wiſ— 
fenden, Sache, nicht feine. Und wollt Ihr die nicht glauben, 
fo feht auf die Frauen, denen Ihr ja felbft Religion zugeCeht. 


186 


nicht nur ald Schmuff und Zierde, fonbern von denen Ihr auch 
eben hierin dad feinfte Gefühl fordert,. göttliched Handeln zu ums 
terfcheiden von anderm, ob Ihr ihnen wohl anmuthet, Eure. 
Sittenlehre als Wifjenichaft zu verfiehen. — Und daffelbe, daß 
ich es gerade herausſage, iſt es auch mit dem Handeln felbfl, 
Der Künftler bildet, was ihm gegeben ift zu bilden,. kraft feines 
befondern Talents; und diefe find fo geichieden, daß, welches der 
4. eine befizt, dem andern fehlt, wenn nicht. einer wider den Willen 
ded Himmels alle befizen will; und niemald pflegt Ihr zu fra 
gen, wenn Euch jemand ald fromm gerühmt wird, - welche von 
diefen Gaben ihm wohl einwohne Eraft. feiner Frömmigkeit. . Der 
bürgerliche Menſch, in dem Sinne der alfen nehme ich es, ‚nicht 
in dem dürftigen von heut zu Tage, ordnet, leitet, bewegt kraft 
feiner Sittlichkeit. Aber biefe ift etwas anderes ale feine Froͤm⸗ 
migfeit; denn: die lezte hat auch eine leidende Seite, fie erſcheint 
auch als ein Hingeben, ei ein ſich Bewegeniafſen von dem ganzen, 
welchem der Menſch gegenüberfieht, wenn die erſte ſich immer 
nur zeigt als ein Eingreifen in daſſelbe, als ein Selbſtbewegen. 
und die Sittlichkeit hängt. daher ganz an dem Bewußtſein der 
Freiheit, in deren Gebiet auch alles fällt mas fie hervorbringt; 
die Froͤmmigkeit dagegen if gar nicht an dieſe Seite des Lebens 
gebunden, fondern eben fo rege in. dem entgegengefezten Gebiet. 
der Nothwendigkeit, wo kein eignes Handeln eines eimelnen er⸗ 
ſcheint. Alſo ſind doch beide verſchieden von einander, und wenn 
freilich auf jedem Handeln aus Gott, auf jeder Thaͤtigkeit durch 
welche ſich das unendliche im endlichen offenbart, die Froͤmmig⸗ 
keit mit Wohlgefallen verweilt, fo iſt fie doch nicht dieſe Thaͤ⸗ 
teit felbft. So behauptet fie denn ihr eigenes Gebiet und ihren 
eigenen Charakter nur dadurch, daß fie aus dem der Wiffenfchaft 
fowol ald aus dem der Praris gänzlich herauögeht, und indem 
fie fich neben beide hinftelt, wird erft das gemeinfchaftliche Feld 
vollkommen ausgefüllt und die menfchliche Natur. von dieſer 
Seite vollendet. Sie zeigt fi Euch ald das nothwendige und 


187 


unentbehrliche dritte zu jenen beiden, als ihr natürliches Gegens 
füeR, nicht geringer an Würde und Herlichkeit, als welches von 
jenen Ihr wollt. 

Verſteht mich aber nur nicht wunderlich, ich bitte Euch, als 
meinte ich etwa, etwas von dieſen koͤnnte ſein ohne das andere, 
und es koͤnnte etwa einer Religion haben und fromm ſein, dabei 
aber unſittlich. Unmoͤglich iſt ja dieſes. Aber eben fo unmöglich, 
bedenkt es wohl, ift ja nach meiner Meinung, daß einer fittlidy 
rein kann ohne Religion, -oder wifjenfchaftlih ohne fi. Une « 
wenn Ihr etwa, nicht mit Unrecht, aud dem was ich ſchon ges 
ſagt fchliegen wolltet, einer koͤnnte doch meinetwegen Religion 
haben. ohne Wiſſenſchaft, und fo hätte ich doc die Trennung 
ſelbſt angefangen: fo laßt Euch erinnern, daß ich auch hier nur 
daffelbe gemieint, daß die Frömmigkeit nicht das Maa der Wis 
fenfchaft ift. Aber fo wenig einer wahrhaft wiffenihaftlich fein 
kann. ohne fromm: fo gewiß kann auch der fromme zwar wol 
unwifjend fein, aber nie falfch wiſſend; denn fein eignes Sein if 
nicht von. jener untergeordneten Art, welche, nach dem alten 
Srundfaz daß nur von gleichem gleiches kann erfannt werben, 
nichts erkennbares haͤtte als das nichtſeiende unter dem truͤglichen 
Schein des Seins. Sondern es iſt ein wahres Sein, welches auch 
wahres Sein erkennt, und wo ihm dieſes nicht begegnet, auch 
nicht glaubt etwas zu ſehen. Welch ein koͤſtliches Kleinod der 
Wiffenfchaft aber nach meiner Meinung die Unwiſſenheit fei für 
den, ber noch. von jenem falfchen Schein. befangen ift, das wißt 
Ihr aus meinen Reben, und wenn Ihr felbft e& für Euch noch 
nicht .einfeht, fo geht und lernt ed von Eurem Sokrates. Alſo 
gefleht nur, daß ich wenigflend mit mir ſelbſt einig bin, und daß 
das eigentliche und wahre Gegentheil des Wiflend, denn mit 
Unwifjenheit bleibt Euer Wiſſen auch immer vermiſcht, je⸗ 
nes Duͤnkelwiſſen aber wird ebenfalls und zwar am ſicherſten 
aufgehoben durch die Froͤmmigkeit, ſo daß ſie mit dieſem zuſam⸗ 
men nicht beſtehen kann. Solche Trennung alſo des Wiſſens 


188 


von ber Frömmigkeit und des Handelns von der Krömmigfeit gebt 
mir nicht Schuld daß ich fezte, und Shr koͤnnt es nicht, ohne mir unver 
dient Eure eigne Anficht unterzufchieben, und Eure eben fo gewohnte 
als unvermeidliche Verirrung, diefelbe die ich Euch vorzüglich zeigen 


möchte im Spiegel meiner Rede. Denn Euch eben, weil Ihr die 


Religion nicht anerkennt als das. dritte, treten Die.andern beiden, das 
MWiffen und das Handeln, fo auseinander, daß Ihr deren Einheit 
nicht erblikkt, fondern meint, man koͤnne das rechte Wiffen haben 
66 ohne dad rechte Handeln, und umgekehrt. Eben weil Shr die 


Trennung, die ich nur für die Betrachtung gelten laffe, wo fie 


nothwendig ift, für dieſe zwar gerade -verfchmäht, Dagegen aber 
auf das Leben .fie übertragt, ald ob dad ‚wovon wir reden im 
Leben felbft getrennt könnte vorhanden fein und unabhängig eined 
vom andern; deshalb eben Habt Ihr von keiner dieler Thaͤtig⸗ 
keiten eine lebendige Anſchauung, ſondern es wird Euch jel jede ei ein 
getrennte, ein abgetiffenes, und Eure Voꝛſtellung iſt überall 
dürftig, dad Gepräge der Nichtigkeit an ſich tragend, weil Ihr 


nicht lebendig in dad lebendige eingreift. Wahre Wiſſenſchaft iſt 


vollendete Anſchauung; wahre Praxis iſt felbfterzeugte Bildung 
und Kunſt; wahre Religion iſt Sinn und Geſchmakk fuͤr das 
“ unendliche. Eine von jenen haben zu mollen ohne Diefe, ober 
fich duͤnken laſſen, man. habe fie fo, das if verwegene übermüthige 
Taͤuſchung, frevelnder Irrthum, hervorgegangen aus bem unhei⸗ 
ligen Sinn, der, was er in ſicherer Ruhe fordern und erwaͤrten 


pen rg Bw" 11 — er A 


fonnte, ‚lisber feigherzig frech entwendet, um es dann. dad nur 
fcheinbar zu befizen. Mas kann mol. der. Menfch. bilden wollen 
der Rede mwerthed im Leben und in der Kunft, ald was durch 


die Aufregungen jenes Sinnes in ihm.felbft geworden ifi? oder 
wie fann einer die Welt wiflenfchaftlich umfaſſen wollen, oder 
wenn ſich auch die Erkenntniß ihm aufdrängte in einem beſtimm⸗ 
ten Talent, felbft diefed üben ohne jenen? "Denn was ift alle 
Biffenfchaft, als dad Sein der Dinge in Euch, in Eurer Ver 


— 


nunft? was iſt alle Kunſt und Bildung, als Euer Sein in den 


189 


Dingen, denen ihr Maag Geftalt und Ordnung gebet? und wie 
fann beides in Euch zum Leben gedeihen, ald nur fofern bie 
ewige Einheit der Vernunft und Natur, fofern das allgemeine 
Sein alles endlichen im unendlichen unmittelbar in Euch lebt? ?) - 
Darum werdet Ihr jeden wahrhaft wifjenden auch andächtig fin: 
den und fromm, und wo Ihr Wiffenfchaft feht ohne Religion, 
da glaubt ficher, fie‘ ift entweder nur übergetragen und angelernt, 
oder fie iſt krankhaft in ſich, wenn fie nicht gar jenem leeren 
Schein: felbft zugehört, der gar kein Wiſſen ift, fondern nur dem 
Bedürfnig dient. Oder wofür haltet Ihr dies Ableiten und In: a7 
einanberflechten von Begriffen, das nicht beffer felbft lebt als es 
dem lebendigen entfpricht? wofür auf dem Gebiet der Sitten: 
lehre diefe armfelige Einförmigkeit, die dad höchfte menfchliche 
Leben in einer einzigen tedten Formel zu begreifen meint? Wie 
Tann dieſes nur aufkommen, ald nur weil es an-dem Grund⸗ 
gefühl der lebendigen Natur fehlt, die uͤberall Mannigfaltigkeit 
und Eigenthuͤmlichkeit aufſtellt? wie jenes, als weil der Sinn 
fehlt, dad Wefen und die Grenzen des endlichen nur aus dem 
unendlichen zu beflimmen, damit ed in diefen Grenzen felbfi un- 
endlich fei? Daher die Herrfchaft des bloßen Begriffs; daher ſtatt 
| des organifchen Baued die mechanischen Kunſtſtuͤklke Eurer Sy⸗ 
ſteme; daher das leere Spiel mit analytiſchen Formeln, ſeien fie 
kategoriſch oder hypothetiſch, zu deren Feſſeln fich dad Leben nicht 
bequemen will. Wollt Ihr die Religion verfchmähen, fürchtet 
Ihr der Sehnſucht nad dem urfprünglihden Euch hinzugeben, 
und der Ehrfurcht vor ihm: fo wird auch die Wiffenfchaft Eurem 
Ruf nicht erfcheinen; denn fie müßte entweder fo niedrig werden 
ald Euer Leben ift, oder fie müßte fich abfondern von ihm, und 
allein flehn; und in folhem Zwielpalt ann fie nicht gedeihen. 
Wenn der Menfch nicht in der unmittelbaren Einheit der An: 
(hauung und des Gefühld eind wird mit dem ewigen, bleibt er 
in der abgeleiteten ded3 Bewußtſeins ewig getrennt von ihm. 
e Darum, wie foll es werben mit der höchflen Aeußerung der 


vr 


1% 


“ Speculation unferer age, dem vollendeten gerundeten Idealis⸗ 
mus, wenn ev fich nicht wieber in dieſe Einheit verſenkt, daß 
die Demuth der Religion ſeinem Stolz einen andern Realismus 

ahnen laſſe, als den welchen er ſo kuͤhn und mit ſo vellen 

Rechte ſich unterordnet? Er wird das Univerfum vernichten, in⸗ 
dem er es bilden zu wollen ſcheint; er wird es herabwuͤrdigen 
zu einer bloßen Allegorie, zu einem nichtigen Schattenbilde der 
einſeitigen Beſchraͤnktheit ſeines leeren Bewußtſeins. Opfert mit 
mir ehrerbietig eine Lokke den Manen des heiligen verflogenen 

es Spinogal Ihn durchdrang der hobe Weltgeiſt, dad unenblick 
war fein Anfang und Ende, dad Univerfum feine einzige und 
ewige Liebe; in heiliger Unſchuld und tiefer Demuth. fpiegelte er 
fi) in der ewigen Welt, und fah zu wie audh Er’ihr liebens⸗ 
würdigfter Spiegel warz voller Religion war Er und voll hei: 
ligen Geiſtes; und darum’fteht Er auch da allein und unerreicht, 
Meifter in feiner Kunſt, ‚abet erhaben über die profane ‚Zunft, 

ohne Jünger und ohne Buͤrgerrecht. 

Warum ſoll ich Euch erſt zeigen, wie doffelbe gitt auch von 
der Kunft? wie Ihr auch bier taufend Schatten und Blendwerke 
und Irrthuͤmer habt aus derſelben Urſache? Nur ſchweigend, denn 
der neue und tiefe Schmerz hat keine Worte, will ich Euch ſtalt 
alles andern hinweiſen auf ein herrliches Beiſpiel, das Ihr alle 
kennen ſolltet, eben fo gut als jenes, auf den zu früh entfchlafe 
nen göttlichen Süngling, dem alles Kunft ward was fein Geiſt 

beruͤhrte, feine ganze Weltbetradhtung unmittelbar zu Einem gro 
Ken Gedicht, den Ihr, wiewol er faum mehr als die erſten Laute 
wirklich auögefprochen hat, den reichften Dichtern beigefellen müßt, 
jenen feltenen, die eben fo tieffinnig find als Elar und lebendig. 
An ihm fchauet die Kraft der Begeifterung und der Befonnen 
heit eined frommen Gemüths, und befennt, wenn die Philoſophes 
werben religiöß fein und Gott fuchen wie Spinoza, und de 
Künftler fromm fein und Chriftum lieben wie Novalis, dam 
wird die große Auferfiehung gefeiert werden fiir beide Welten u" 


| 191 
- Damit ihr aber verflehet wie ich es meine mit biefer Ein 


‚beit der Wiſſenſchaft der Religion und der Kunft, und mit ihrer 


Verfchiedenheit zugleich: fo verfucht mit mir hinabzufleigen in 
das innerfte Heiligthum des Lebens, ob wir und dort vielleicht 


gemeinſchaftlich zurocht finden koͤnnen. Dort allein findet Ihr das 


urfprüngliche Verbaͤltniß des Gefuͤhls un und der Anſchauung, wor⸗ 


aus allein ihr. Einsſein und ihre ‚Trennung zu ‚verfiehen ift. 
Aber an Euch fi ſelber muß ich Euch verweiſen, an das Auffaſſen 
eines lebendigen "Momentes. Ihr müßt ed verſtehen Euch ſelbſt 


gleichſam vor Eurem Bewußtſein zu belaufchen, oder wenigſtens 49 
diefen Zuſtand für Euch aus jenem wieder herſtellen. Es ift das 
Werden Eured Bewußtfeind, was Ihr bemerken ſollt, nicht: etwa 
follt Ihr über ein ſchon gewordened reflectiren. Sobald ihr. eine 
gegebene beſtimmte Thätigkeit Eurer Seele zum Gegenflande der 
Mittheilung oder der Betrachtung machen wollt, feid Ihr ſchon 


innerhalb der Scheidung, und nur das getrennte kann Euer 


Gedanke umfaſſen. Darum kann Euch meine Rede auch an kein 
beſtimmtes Beiſpiel fuͤhren; denn eben ſobald etwas ein Beiſpiel 


"ft, iſt auch das ſchon vorüber, was meine Rede aufzeigen will, 
amd nur noch eine leife Spur von dem urfprünglichen Einsſein 
des getrennten Eönnte ich Euch daran nachmweifen. Aber auch 


die wi ich vorläufig nicht verfhmähen,, Ergreift Euch dabei, 
wie Ihr ein Bild von irgend einem Gegenftand zeichnet, ob Ihr 
nicht noch damit verbunden findet ein Erregt: und Beſtimmtſein 
Eurer felbft gleichfam durch den Gegenftand, welches eben Euer 
Dafein zu einem befondern Moment bildet. Se beflimmter Euer 
Bild ſich auszeichnet, je mehr Ihr auf diefe Weile der Gegen- 
fland werdet, um deſto mehr verliert Ihr Euch felbft. Aber eben 
weil Ihr das Uebergewicht von jenem und das Zurüfftreten von 
diefem in feinem Werden verfolgen koͤnnt, müffen nicht jened und 
diefes eins und gleich geweſen fein in dem erften urfprünglichen 
Moment, der Euch entgangen iſt? Oder Ihr findet Euch ver: 
funten in Euch felbft, alles was Ihr fonft ald ein mannigtal- 


192 


tiged getrennt in Euch betrachtet in biefer Gegenwart unzertrenn: 
lich zu einem eigenthümlichen Gehalt Eures Seins verknüpft. 
Aber fehet Ihr nicht beim Aufmerken: noch im Entfliehen das 
Bild eined Gegenflandes, von deffen Einwirkung auf Euch, von 
defien zauberifcher Berührung diefed beflimmte Selbftbemußtfein 
audgegangen ift? Ie mehr Eure Erregung und Euer Befangen: 
fein in diefer Erregung mächft und Euer ganzes Daſein durch⸗ 
dringt, um, vorübergehend wie fie fein muß, für die Erinnerung 
eine unvergängliche Spur zurüffzulaffen, damit was Euch auch 
neues zunächfi ergreife ihre Farbe und ihr Gepräge tragen muß, 
so und fo zwei Momente ſich zu einer Dauer vereinigen; je mehr 
Euer Zuftand Euch fo beherrfcht, um befto bleicher und unfennt: 
licher wird jene Geſtalt. Allein eben weil fie verbleicht und ent: 
flieht, war fie vorher näher und heller, fie war urfprünglich eins 
“und baffelbe mit Eurem Gefühl. Doc, wie gefagt,- dies find 
nur Spuren, und Ihr Fönnt fie faum verftehen, wenn Ihr nicht 
‚auf den erftien Anfang jenes Bewußtſeins zuruffgehen wollt. -Und 
foltet Ihr dies nicht koͤnnen? Sprecht doch, wenn Ihr es ganz 
im allgemeinen und ganz urſpruͤnglich erwaͤgt, was iſt doch jeder 
Act Eures Lebens ohne Unterſchied von andern, in ſich ſelbſt? 
Doc unmöglich etwas anderes, als das ganze auch iſt, nur als 
Act, ald Moment: Alfo wohl ein Werden- eined Seins für ſich, 
und ein Werden eines Seins im ganzen, beides zugleich; ein Stre: 
ben in das ganze zurüffzugehn, und ein Streben für fich zu. be: 
ſtehn, beides zugleich; das find die Ringe, aus denen die ganze 
Kette zufammengefezt iſt; denn Euer ganzes Leben iſt ein ſolches 
im ganzen ſeiendes fuͤr ſich Sein. Wodurch nun ſeid Ihr im 
ganzen? Durch Eure Sinne, hoffe ich, wenn Ihr doch bei Sin⸗ 
nen ſein muͤßt um im ganzen zu ſein. Und wodurch ſeid Ihr 
fuͤr Euch? Durch die Einheit Eures Selbſtbewußtſeins die die Ihr 
zunaͤchſt in der Empfindung habt, in dem vergleichbaren Bechfel | 
ihred Mehr und Weniger. Wie nun eind nur mit dem andern | 


— 


zugleich werden kann, wenn beides zuſammen jeden Act des Le⸗ 


193 


bend bildet, das ift ja leicht zw fehn. Ihr werdet Sinn und 
das ganze wird Gegenſtand, und dieſes Ineinandergefloſſen⸗ und 
Einsgewordenfein von Sinn und Gegenſtand, ehe noch jedes an 
ſeinen Ort rt zurüßtehrt, und der Gegenſtand wieder losgeriſſen 
vom Sinn Euch zur Anfhauung wird und Ahr felbft wieder 
loögeriffen. vom Gegenſtand Euch zum Gefuͤhl werdet, dieſes 
fruͤhere iſt es was ich meine, das iſt jener Moment den Ihr 
jedesmal erlebt aber aud nit erlebt, denn Die Erſcheinung 
Eures Lebens iſt nur das Refultat feines beftänbigen zus ) 
und MWiederkehrend. Eben darum if er kaum in ber Zeit, fo 
fehr eilt er vorüber; und kaum Tann er beſchrieben werben, fo 
wenig Ifi er eigentlich de da für uns, Ich wollte aber, Ihr koͤnn⸗ sı 
tet ihn feſthalten und jede, , die 2 gemeinfte fo wie die hoͤchſte Art 
Eurer Thaͤtigkeit, denn ‚alle find fid ſich darin gleich, auf ihn zuruͤkk⸗ 
fuͤhren. Wenn ich ihn wenigſtens vergleichen duͤrfte, da ich ihn 
nicht befchreiden kann, jo wuͤrde ich ſagen, er ſei flüchtig und 
durchſichtig wie jener Duft, den der Thau Blüthen und Fruͤch⸗ 
ten anhaucht, er fei ſchamhaft und zart wie ein jungfräulicher 
Kuß, und heilig. und fruchtbar wie eine bräutliche Umarmung. 
Auch ift er wohl nicht nur wie dieſes, fondern- man kann fagen 
died alles felbfl. Denn er ift dad erſte Zufammentreten des all- 
gemeinen Lebens mit einem befonderen, und erfüllt Feine Zeit 
und bildet nichts greifliched; er ift die unmittelbare über allen 
Irrthum und Mißverſtand hinaus heilige Vermaͤhlung, des uni⸗ 
verfum mit der fleifchgewordenen Bernunft zu ſchaffender zeugen: 
der Umarmung. Ihr liegt dann unmittelbar an dem Buſen der 
unendlichen Welt, Ihr ſeid in dieſem Augenblikk ihre Seele, 
denn Ihr fühlt, wenn gleich nur durch einen ihrer Theile, doch 
alle ihre Kräfte und ihr unendliches Leben wie Euer eigened; 
fie ift im diefem Augenblikk Euer Leib, dein Ihr durchdringt 
ihre. Muskeln und Glieder wie Eure eignen, und Euer Sinnen 
und Ahnen fezt ihre innerfien Nerven in Bewegung. So be: 
fchaffen ift die erfie Empfängniß jedes lebendigen und urſpruͤng⸗ 
Schleierm. W. 11. XX 


194 


lichen Momentes in: Eurem Leben, welchem Gebiet er auch an⸗ 
gehöre, und aus folcher erwaͤchſt alſo auch jede religioͤſe Erre⸗ 
gung. Aber ſie iſt, wie geſagt, nicht einmal ein Moment; das 
Durchdringen des Daſeins in dieſem unmittelbaren Verein loͤſet 
fich auf, ſobald das Bewußtſein wird, und nun tritt entweder 
lebendig und immer heller die Anſchauung vor Euch hin, gleich⸗ 
ſam die Geſtalt der ſich entwindenden Geliebten vor dem Auge 
des Juͤnglings; oder es arbeitet ſich das Gefuͤhl aus Eurem 
innern hervor und nimmt verbreitend Euer ganzes Wefen ein, 
wie die Röthe.der Schaam und der Kiebe fih über dem. Antliz 
der Jungfrau verbreitet. Und, wenn fich erſt als eines von bei⸗ 

2 den, als Anſchauung oder Gefühl Euer Bewußtſein feſtgeſtellt 
hat, dann bleibt Euch, falls Ihr nicht ganz in dieſer Trennung 

befangen, das wahre Bewußtſein Eures Lebens im einzelnen ver⸗ 
loren habt, nichts anders übrig, als das Wiſſen um die urſpruͤng⸗ 
liche Einheit beider getrennten, um ihr gleiches Hervorgehn aus 
dem Grundverhaͤltniß Eures Daſeins. Weshalb denn auch in 
dieſem Sinne wahr iſt, was ein alter weiſer Euch gelehrt bat, 
daß jedes Wiffen eine Erinnerung ift, an das nämlich, was außer 
der Zeit if, eben daher aber mit Recht an die e Spize jedes Bit: 
lichen geſtot wird. 

Wie es fich nun auf der einen Seite mit der Anſchaumg 
und.dem Gefühl verhält, fo auch auf der andern mit dem Wil: 
fen, als jene beide unter fich begreifend, und mit dem Handeln. 
Denn dies find die Gegenfäze, durch deren beſtaͤndiges Spiel und 
wechfelfeitige Erregung Euer- Leben ſich in der Beit ausdehnt und 
Haltung gewinnt. Naͤmlich eins von beiden iſt immer ſchon 
von Anfang an Euer Einswerdenwollen mit dem Univerſum 
durch einen Gegenſtand; entweder überwiegende Gewalt der Ge: 
genftände über Erich, daß. fie Euch wollen in den Kreis ihres 
Daſeins bineinziehn, indem fie felbft, gedeihe es Euch nun zur 
Anfchauung oder zum Gefühl, in Eud..hineintreten, ein Wiſſen 

wird e6 immer; oder überwiegende Gewalt von ‚Eurer Seite, 


195 


daß Ihr ihnen Euer Dafein einprägen und Euch in fie einbilden 
wolt. Denn das ift ed doch, was Ihr im engern Sinne han- 
bein nennt, wirken nach außen. Aber nur als ein erregted und 
als ein beflimmted könnt Ihr Euer Dafein den Dingen mitthei- 
len; alfo gebt Ihr nur zuruͤkk und befeftiget, und legt nieder in 
bie Welt, was in Euch ift gebildet und gemwirft worden durch 
jene urfprünglichen Acte ded gemeinfchaftlichen Seins, und eben 
fo kann auch, was fie in Euch hineinbilden, nur ein ſolches fein. 
Daher muß wechfelfeitig eines dad andere erregen, und nur im 
Wechſel von Wiffen und Handeln fann Euer Leben beftehen. 
Denn ein ruhiges Sein, worin eins das andere nicht thätig er- 
regte, fondern beides ſich bindend aufhöbe, ein folches wäre nicht 
Euer Leben, fondern es wäre das woraus fich Diefes entwikfelt, 
und worin e5 wieder verfchwindet. 

Hier alfo habt Ihr diefe drei, um welche fi meine Nebe 
bis jezt gedreht hat, dad Erkennen, das Gefühl und das Han: 53 
deln, und fönnt verflehen, wie ich es meine, daß fie nicht einer: 
lei find-und doch unzertrennlih. Denn nehmt nur alles gleich. 
artige zufammen und betrachtet es für ſich, fo werden doch alle 
jene Momente, worin Ihr Gewalt ausübt über die Dinge, und 
Euch felbft in ihnen abdrüfft, diefe werben bilden was hr 
Euer praftifches oder im engern Sinne fittliches Leben nennt. 
Und wiederum jene beichaulihen, worin die Dinge ihr Dafein 
in Euch hervorbringen ald Anfchauung, Diefe gewiß nennt Ihr, 
eö fei nun viel oder wenig, Euer wiffenfchafliches Leben. Kann 
nun wohl eine allein von diefen Reihen ein menfchliches Leben 
bilden, ohne die andere? Oder müßte es der Tod fein, und jede 
Thätigkeit ſich verzehren in fich felbft, wenn fie nicht aufgeregt 
und erneuert würde durch die andere? Aber ift deshalb eine auch 
die andere felbfi, oder müßt Ihr fie doch unterfcheiden, wenn 
Shr Euer Leben verftehn und vernehmlidy darüber reden wolt? 
Wie ed nun mit diefen beiden fich verhält unter fih, fo muß 
ed fich doch auch verhalten mit der dritten in Beziehung auf jene 

Nr 


196 


beiden. Und wie wolle Ihr diefe dritte wohl nennen, die Reihe 
des Gefühl? Mas für ein Leben fol fie bilden zu den beiden 
andern? Das religiöfe, denke ich, und Ihr werdet gewiß nicht 
anderd fagen Fünnen, wenn Ihr ed näher erwägen wollt. 

So ift denn dad Hauptwort meiner Rede geſprochen; denn 
dieſes ift das eigenthümliche Gebiet, welches ich der Religion 
anweiſen will, und zwar ganz und allein, und welches Ihr ge⸗ 
wiß auch für fie abfteffen und einräumen werdet, Ihr müßtet 
denn die alte Verworrenheit vorziehn der klaren Auseinander⸗ 
fejung, ober. | ich weiß nicht was anderes noch neues und ganz 
wunderliches vorbringen. Euer Gefühl, in ſo fern es Euer und 
des All gemeinſchaftliches Sein und Leben auf die beſchriebene 
Weiſe ausdruͤkkt, in ſo fern Ihr die einzelnen Momente deſſelben 
habt als ein Wirken Gottes in Euch vermittelt durch das Wir⸗ 
ken der Welt auf Euch, dies iſt Eure Froͤmmigkgit, und was 

sa einzeln als in dieſe Reihe gehoͤrig hervoririit, das ſind nicht Eure 
Erkenntniſſe oder die Gegenſtaͤnde Eurer Erkenntniß, auch nicht 
Eure Werke und Handlungen oder die verſchiedenen Gebiete 
Eures Handelns, ſondern lediglich Eure Empfindungen ſind es, 
und die mit ihnen zuſammenhaͤngenden und ſie bedingenden Ein⸗ 
wirkungen alles lebendigen und beweglichen um Euch her auf 
Euch. Dies find ausfchliegend die Elemente der Religion, aber 

dieſe gehören auch alle hinein; es giebt Feine Empfindung die 
nicht fromm wäre *), außer fie deute auf einen. krankhaften ver⸗ 

derbten Zuſtand des Lebens, der ſich dann auch den andern Ge: 
bieten mittheilen muß. Woraud denn von felbft folgt, dag im 
Gegentheil Begriffe und Grundfäze, alle und jede. durchaus, der 
Religion an ſich fremd find, welches und nun fchon zum zweiten 
Male hervorgeht. Denn diefe, wenn jie etwas fein follen, ge: 
hören ja wohl dem Erkennen zu, und was diefem angehört, liegt 
doch in einem andern Gebiete ded Lebens als das religidfe ift. 

Nur muß es und, weil wir doch jezt einigen Grund unter 
und haben, nun fchon näher liegen, zu erforfchen, woher doc) 


197 


die Verwechfeluug fommen mag, und ob benn gar nichts fei an 
der Verbindung, in die man doch Grundfäze und Begriffe immer | 
gebracht hat mit der Religion, auch wie es wohl mit dem Han: 
deln ftehe in derfelben Hinfiht. Sa, ohnedied wäre es wunder: 
lich weiter zu reden, denn Shr fest doch in Eure Begriffe um, 
was ich fage, und ſucht Grundſaͤze darin, und fo würde das 
Migverftändnig nur immer tiefer wurzeln. Wer weiß nun, ob -- 
Ihr mir folgen ‘werdet, wenn ich die Sache fo erfläre. Kenn 9 
Ihr naͤmlich die verſchiedenen Functionen des Lebens, die ich 
aufgezeigt, noch im Sinne habt, was hindert wol daß nicht 
eine jede von dieſen auch Gegenſtand werden koͤnnte für die an- 
dern, an denen dieſe fi üben und befchäftigen? Dder gehört 
nicht vielmehr offenbar auch diefeß zu ihrer innern Einheit und 
Gleichheit, daß fie auf ſolche Weife fireben in einander uͤber⸗ 
zugehen? Mir wenigftensd erfcheint ed fo. Auf diefe Art alfo 
koͤnnt Ihr ald fühlende Euch felbft Gegenftand werben und Euer ss. 
Gefühl betrachten. Ja, auch fo koͤnnt Ihr ald fühlende Euch) 
Gegenftand werden, daß Ihr auf ihm bildend wirft, und ihm 
mehr und mehr Euer inneres Dafein eindruͤkkt. Wolt Ihr nun 
das Erzeugnig jener Betrachtung, die allgemeine Beichreibung 
Eured Gefühle nach feinem Weſen, Grundfaz nennen, und bie 
Beichreibung jedes einzelnen darin hervortretenden Begriff, und 
zwar religiöien Grundſaz und religiöfen Begriff: fo fleht Euch 
dad allerdings frei, und Ihr habt Hecht daran: Aber vergeßt nur. 
nicht, daß dies eigentlich die wiffenfchaftliche Behandlung der 
Religion ift, das Wiſſen um fie, nicht fie felbfl, und daß dieſes 
Wiſſen als die Beſchreibung des Gefuͤhls unmoͤglich in gleichem 
Range ſtehen kann mit dem beſchriebenen Gefuͤhle ſelbſt. Viel: 
mehr Tann dieſes i in- - feiner vollen Gefundheit und Stärke man: 
chem einwohnen, wie denn falt alle Frauen hievon Beifpiele find, 
ohne daß es befonders in Betrachtung gezogen werde; und Ihr 
dürft dann nicht fagen, daß Frömmigkeit fehle. und Religion, 
fondern nur das Wiffen darum. Vergeßt aber nur nicht wieder, 


198 


was uns fchon feftfteht, daß dieſe Betrachtung ſchon jene ur: 
fprüngliche Thätigkeit vorausfezt und ganz auf ihr beruht, und 
daß jene Begriffe und Grundfäze gar nichts find als ein von 
außen angelernted leeres Weſen, wenn fie nicht eben die Reflerion 
find über de3 Menfchen eignes Gefühl. Alfo das haltet ja feft, 
wenn jemand diefe Grunbfäze und Begriffe noch fo vollfommen 
bineht, wenn einer ſie inne zu haben glaubt im klarſten Be⸗ 
mann weiß aber nicht und fann nicht aufzeigen daß fie aus 
den Acußerungen feines eigenen Gefühl in ihm ſelbſt entftanden 
und urfprünglich fein eigen find; fo laßt Euch ja nicht überre: 
den, daß ein folcher fromm, und ſtellt ihn mir nicht als einen 
frommen dar, denn es iſt dem nicht ſo; ſeine Seele hat nie em: 
pfangen auf dem Gebiete der Religion, und feine Begriffe find 
nur untergefchobene Kinder, Erzeugniffe anderer Eeelen, die er 
im heimlichen Gefühl der eignen Schwäche adoptirt hat. Als 
55 unheilige und entfernt von allem göttlichen Leben bezeichne ic) 
immer aufd neue diejenigen, die alfo herumgehen und fich brüften 
init Religion. Da bat ber eine Begriffe von den Ordnungen 
‚der Welt und Formeln, welche fie. ausdrüffen folen, und der 
andere bat Vorſchriften, nach denen er ſich ſelbſt im- Ordnung 
haͤlt, und innere Erfahrungen, wodurch er fi e documentirt. Sener 
flicht feine Formeln in und durch einander zu einem Syſtem des 
Glaubens, und dieſer webt eine Heilsordnung aus feinen Vor⸗ 
ſchriften; und weil ſie beide merken, daß dies keine rechte Hal⸗ 
tung hat ohne das Gefuͤhl, ſo iſt Streit, wie viel Begriffe und 
Erklaͤrungen man nehmen muͤſſe, oder wie viel Vorſchriften und 
Uebungen, unter wie viel und was fuͤr Ruͤhrungen und Em⸗ 
pfindungen, um daraus eine tüchtige- Religion jufammen: 
zufezen, die vorzüglich weder kalt noch ſchwaͤrmerifch waͤre, 
und weder trokken noch oberflaͤchlich. Die Thoren und traͤges 
Herzens! Sie wiſſen nicht, daß jenes alles nur Zerſezungen des 
religioͤſen Sinnes ſind, die ſie ſelbſt muͤßten gemacht haben, wenn 
ſie irgend etwas bedeuten ſollten! Und wenn ſie ſich nun nicht 


199 


bewußt find, etwas gehabt zu haben, was ſie zerfezen fonnten, 
wo haben fie denn jene Begriffe und Regeln her? Gedaͤchtniß 
haben fie. und Nachahmung, daß fie aber Religion haben, glaubt 
‚ihnen nur nicht; denn ſelbſt erzeugt haben ſie die Begriffe nicht, 
wozu ſie die Formeln wiſſen, ſondern dieſe ſind auswendig ge⸗ 
lernt und aufbewahtt, und was ſie von Gefuͤhlen ſo mit auf: 
nehmen wollten unter jene,’ das vermögen fie gewiß nur mimiſch 
nachzubilden, wie man fremde Geſichtszuͤge nachbildet, immer 
naͤmlich als Garicatur. Und aus diefen abgeftorbenen. verderbten ER 
. Erzeugniffen aus der zweiten Hand follte man koͤnnen eine Re⸗ 
ligion zuſammenſezen? Zerlegen kann man wol die Glieder und 
Säfte eines organifchen Körper3 in ihre nächften Beftandtheile; 
aber nehmt nun diefe außgefchiedenen Elemente, miſcht fie in je: 
dem Verhältnig, behandelt fie auf jedem Wege, werdet Ihr wies 
der Herzenöblut daraus machen Finnen? Wird das, was einmal 
todt ift,-fich wieder in einem lebenden Körper bewegen und mit 
ihm einigen koͤnnen? Die Erzeugniſſe der lebendigen Natur aus 57 
ihren getrennten Beſtandthetlen wieder darzuftellen, Daran fcheitert 
jede menſchliche Kunft, .und fo wird es jenen auch mit der Res 
ligion nicht gelingen, wenn fie ſich ihre einzelnen verwandelten Eles 
mente auch noch fo vollfommen von außen an: und eingebildet 
haben. Sondern yon innen. hexqus und in ihrer urfprünglichen 
eigenthuͤmlichen Geſtalt muͤſſ en die Regungen der Froͤmmigkeit 
hervorgegangen ſein: alfo als eigne Gefühle unftreitig , nicht als 
ſchale Beſchreibung fremder, die nur au einer. klaͤglichen Nach: 
ahmung f ühren Eann., Und nichts anders als eine. folde Be: 
fchreibung können und follen die religioͤſen Begriffe fein, welche 
jene Syſteme bilden; denn urfprüngliche rein, aus dem Triebe 
nad) Wifferp_hervorgehente Erkenniniß kann nun einmal und 
will die Religion nicht ſein. Was wir in ihren Regungen fuͤh⸗ 
len und inne werden, das iſt nicht die Natur der Dinge, ſondern 
ihr Handeln auf Euch. Was hr über jene wißt oder meint, 
liegt weit abwärts von dem Gebiete der Religion, Das Unten 


200 


ſum ift in_einer ununterbrochenen Thaͤtigkeit, und offenbart. fich 
uns jeden Augenblikt. Jede Form die es hervorbringt, jedes 
Weſen dem ed nah. der Fuͤlle des Lebens ein abgeſondertes Da⸗ 
ſein giebt, jede Begebenheit die ed aus feinem reichen „immer. 
fruchtbaren Schooße herausſchuͤttet iſt ein Handeln deſſelben auf 
uns; und in dieſen Einwirkungen und dem’ mas dadurch in und ı 
wird, alles einzelne nicht „für fi, fondern als einen Theil des 
ganzen, alles beſchraͤnkte nicht in ſeinem Gegenſaz gegen anderes, 
ſondern als eine Darſtellung des unendlichen in unſer Leben auf⸗ 
nehmen ı und und davon bemegen laſſen, das ift Religion 5); was 
äber hierüber hinaus will, und etwa tiefer eindringen in die 
Natur und Subftanz der Dinge, ift nicht mehr. Religion, fondern 
will irgendwie Wiffenfchaft werden; und wiederum wenn, was 
nur unfere Gefühle bezeichnen und in Worten darftellen fol, für 
Wiffenfchaft von dem Gegenftande, für geoffenbarte etwa und 
ss aud der Religion bervorgegangene, ader auch für Wiffenfchaft 
und Religion zugleich will angefehen fein, dann finft es unver 
meidlich zurüft in Myſticismus und leere Mythologie. So war 
ed. Keligion, wenn die alten, die Beſchraͤnkungen der Zeit und 
des Raumes vernichtend, jede eigenthuͤmliche Art des Lebens durch 
die ganze Welt hin ald dad Merk und Reich eines auf diefem 
Gebiet allmächtigen und allgegenwärtigen Wefens anfahen; fie 
hatten eine eigenthümliche Handelöweife des Univerfum ald ein 
beftimmtes Gefühl in fi aufgenommen, und bezeichneten dieſes 
fo. Es war Religion, wenn fie für jede huͤlfreiche Begebenheit, 
wobei die ewigen Gefeze der Welt fi wenn auch im zufälligen 
auf eine einleuchtende Art offenbarten, den Gott dem fie anges 
hörte, mit einem eigenen Beinamen begabten und einen eignen 
Tempel ihm bauten; fo hatten fie etwas einzelnes zwar aber als 
eine That ded Univerfum aufgefaßt, und bezeichneten nach ihrer 
Weiſe deren Zufammenhang und eigenthümlichen Charakter. Es 
. war Religion, wenn fie ſich über dad fpröde eiferne Zeitalter 
voller Riffe und Unebenen erhoben, und das goldene wieder fuch 


- 
— 


201 


ten im Olymp unter dem fröhlichen Leben der Götter; fo fühl: 
ten fie in fi bie immer rege immer lebendige und heitere Thaͤ⸗ 
tigfeit ber Welt und ihred Geiſtes, jenſeit alles Wechſels und 


alled fcheinbaren Uebeld, das nur aus dem Streit endlicher For⸗ 


men hervorgehet. Aber wenn fie von den Verwandtſchaften die: 
fer Götter einen wunderſam verfchlungenen Stammbaum vir: 
zeichnen, oder wenn ein fpäterer Glaube und eine lange Reihe von 
‚Emanationen und Erzeugungen vorführt, das ift, wenn gleich 
feinem Urfprung nach religiöfe Darftelung von der Vermandt. 


ſchaft des menfchlichen mit dem göttlichen und der Beziehung 


des unvollkommnen auf das vollkommne, doch an und fuͤr ſich 
leere Mythologie und fuͤr die Wiſſenſchaft verderbliche Myſtik. 
Ja, um alles hieher gehörige in eins zuſammenzufaſſen, fo iſt es 


allerdings dag Ein und alles der Religion, alles im Gefuͤhl uns 


bewegende in feiner hoͤchſten Einheit als eind und Dafjelbe zu 
fühlen, und alles einzelne und befondere nur hiedurch vermittelt, 
alfo unfer Sein und Leben .ald ein Sein. und Leben in und 
durch Gott. Aber. die Gottheit dann ‚wieder ald einen” abgefons 
derten einzelnen Gegenftand hinzuftellen, fo daß der Schein nicht 
leicht vermieden werden kann, als fei ſie auch des Leidend em» 
pfaͤnglich wie andere Gegenſtaͤnde, das iſt ſchon nur eine Bezeich⸗ 
nung, und wenn 'gleich vielen eine unentbehrliche und allen eine 


a 


willkommne, doch, immer eine bedenkliche und fruchtbar an Schwie⸗ 


rigkeiten, aus Denen Die gemeine Sprache fi vielleicht nie. lo8s 
wikkeln wird. Diele gegenftändlidhe Vorſtellung der- Gottheit 


aber gar ald eine Erkenntniß behandeln, und fo abgefondert von- 


ihren Einwirkungen auf und durch die Welt dad Sein Gotted 
vor ber Welt und außer der Welt, wenn gleich für Die Welt, 


als Miffenfchaft durch die Religion oder in der Religion- aus: 
bilden und darſtellen, dad vorzüglich ift gewiß auf dem Gebiet. 


der Religion nur leere Mythologie °), eine nur zu leicht mißver- 
fändliche „weitere Ausbildung desjenigen was nur Hülfdmittel 


202 


der Darftelung ift, als ob es felbft das wefentliche wäre, ein 
voͤlliges Herausgehen aus dem. eigenthuͤmlichen Boden. 

Hieraus koͤnnt Ihr auch zugleich ſehen, wie die Frage zu 
behandeln iſt, ob die Religion ein Syſtem ſei oder nicht; eine 
Frage, die ſich fo gänzlich verneinen, aber auch fo ſchlechthin be: 
jahen läßt, wie Ihr es vielleicht faum erwartet. Meint hr 
nämlich damit, ob fie fih nach einem innern nothwendigen Zu: 

fammenhang geftaltet, fo daß die Art, wie der eine fo der andere 
anderd in religiöfem Sinne bewegt wird, ein ganzes in fich. aus: 
macht, und nicht etwa zufällig in einem jeden jezt diefes jezt 
etwas anderes durch denſelben Gegenſtand erregt wird: meint 
Ihr dies, ſo iſt ſie gewiß ein Syſtem. Was irgendwo, ſei es 
unter vielen oder wenigen, als eine eigne Weiſe und Beſtimmt⸗ 
heit des Gefuͤhls auftritt, das iſt auch ein in ſich geſchloſſenes 
und nothwendiges durch ſeine Natur, und nicht etwa konnte eben 
ſo gut unter den Chriſten vorfommen. was Shs als religioͤſe 
. Erregung bei den-Zürfen findet oder bei den Indiern. Aber in 
einer großen Mannigfaltigfeit von Kreifen. dehnt’ fich. dieſe innere 
Einheit der Religiofität aus und zieht ſich zufammen, deren "jeder 
je enger und kleiner um deſto mehr befonderes als ‚notbwendig 
in fih aufnimmt, und aus ſich ausicheidet als unvertraͤglich. 
Denn wie zum Beiſpiel das Chriſtenthum in ſich ein ganzes iſt, 
ſo iſt auch jeder von den Gegenſaͤzen, die zu verſchiedenen Zeiten 
darin aufgetreten ſind, bis auf die neueſten des Proteſtantismus 
und Katholicismus, ein abgeſchloſſenes fuͤr ſich. Und ſo iſt zu— 
lezt die Froͤmmigkeit jedes einzelnen, mit der er ganz in jener 
groͤßeren Einheit gewurzelt iſt, wieder in ſich eins und als ein 
ganzes gerundet und gegruͤndet in dem was Ihr⸗ ſeine Eigen: 
thuͤmlichkeit nennt oder ſeinen Charakter, deſſen eine Seite ſie 
eben ausmacht. Und ſo giebt es in der Religion ein unendliches 
fi ch Bilden und Geſtalten bis in die einzelne Perfönlichkeit hinein, 
und jede von dieſen ift wieder ein ganzes und einer Unendlichkeit 


203 


“= 


eigenthümlicher Aeußerungen faͤhig. Denn Ihr werdet doch nicht, 
als ob das Sein und Werden der einzelnen aus dem ganzen auf 
eine endliche Weife in beflimmten Entfernungen fortfchritte, daß 
eins fich durch die übrigen beſtimmen ließe, conftruiren und anf: 
zählen, und das charafteriftifhe im Begriff genau: beflimmen 
wollen? Wenn ich die Religion in diefer Beziehung vergleichen 
fou, fb weiß ich fie mit nichts fchöner zufammenzuftellen als mit 
einem ihr ohnedies innig verbundenen, die Tonkunſt meine ich. 
Denn wie diefe gewiß ein großes ganze bildet, eine befondere in 
fib gefchloffene Offenbarung der Welt, und doch wiederum die 
Muſik eined jeden Volkes ein ganzes für fich iſt, und Died wies 
derum in verfchiedene ihm eigenthümliche Geftalten fich gliedernd 
biß zu dem Genie und Styl des einzelnen herab, und dann doch 
jedes lebendige Hetvortreten diefer innern Dffenbarung in dem 
einzelnen, zwar alle jene Einheiten in fich hat, und eben in ihnen 
und durch fie doch aber“ mit aller Luft und Fröhlichkeit der uns 
gehemmten Willführ, wie eben fein Eeben ſich regt und die Welt 
ihn berührt, in dem Zauber ber Zöne darſtellt: fo ift auch Die 
Religion, ohnerachtet jenes nöthwendigen in ihrer lebendigen Ges 6ꝛ 
flaltung, dennoch in ihren einzelnen Aeußerungen, wie fie unmits 
telbar im Leben heraustritt, von nichts weiter entfernt ald von 
jedem Scheine des Zwanges und der Gebundenheit. Denn in 
das Leben ift alles nothmwendige aufgenommen, und fomit aud) 
in die Freiheit, und jede äinzelne Negung tritt auf ald eine freie 
Selbſtbeſtimmung gerade dieſes Gemuͤths, in der ſich ein vorüber: 
gehender "Moment der Welt abſpiegelt. Ein unheiliger wäre, 
wer bier ein im Zwange gehaltene, ein aͤußerlich gebundenes 
und beflimmtes fordern wollte; und wenn fo etwas liegt ın 
Eurem Begriff von Syftem, fo müßt Ihr ihn hier gänzlich ent: - 
fernen. Ein Syftem von Wahrnehmungen und Gefühlen, ver: 
möget Ihr felbft etwas wunderlichered zu denken? Denn geht ed 
Euch etwa fo, daß, indem Ihr etwas fühlt, Ihr zugleich die 
Nothmendigkeit mitfühlt oder mitdenkt, nehmt welches Shr lieber 


204 


mögt, dag Ihr bei diefem und jenem, was Euch jezt grade nit 
gegenwärtig bewegt, jenem Gefühl zufolge, fo und nicht anders 
würdet fühlen müffen? Ober wäre ed nicht um Euer Gefühl ge: 
fhehen, und ed müßte ‘etwas ganz andered in Euch fein, ein 
falted Rechnen und Klügeln, fobald Ihr auf eine ſolche Betrach: 
tung geriethet? Darum iſt es nun offenbar ein Irrtum, daß es 
zur Religion gehöre, ſich dieſes Zufammenhanges ihrer eingelnen 
Aeugerungen audy noch bewußt zu fein, und. ihn nicht nur in ſich 
zu haben und aus fich zu entwikkeln, fondern auch noch befchrie: 
ben vor fich zu ſehen, und fo von außen aufzufaſſen, und es iſt 
eine Anmaßung, wenn man die fuͤr eine mangelhafte Froͤmmig⸗ 
keit halten will, der es daran fehlt. Auch laſſen ſich die wahren 
frommen nicht ſtoͤren in ihrem” einfachen Gange, und nehmen 
wenig Kenntniß von allen fo ſich nennenden’ Religionsſyſtemen, 
die von diefer Anficht aus find aufgeführt worden. Und wahr: 
lich fie find auch größtentheils fehledht genug, und bei weiten 
nicht etwa zu vergleichen mit den Theorien über die Tonkunſt, 
- mit der wir die Religion eben verglichen haben, wieviel auch in 
o2 diefen ebenfalld verfehlted fein mag. „Denn weniger als irgentwo 
ift bei diefen Syſtematikern in der Religion ein andächtiged Auf: 
merken und Zuhören, um das was fie befchreiben follen wo 
möglich in feinem innern Weſen zu belaufchen. Auch wollen fie _ 
freilich weniger Died, ald nur mit den Zeichen rechnen, und nur 
die Bezeichnung abfchliegen und vollenden, die grade das zufäl: 
lige iſt; faft fo zufällig als jene Bezeichnung der Geflirne, worin 
Ihr die fpielendfte Willkuͤr entdekkt, und die nirgends zureicht, 
weil immer wieder neues gefehen und entdekkt wird, welches ſich 
nicht hineinfuͤgen will. Oder wollt Ihr hierin ein Syſtem fin: 
den? irgend etwas bleibendes ‚und feſtes, das es feiner. Natur 
nach wäre, und nicht bloß durch die Kraft, der Willfür und ber 
Tradition? Grade fo auch hier. Denn fo fehr jede Geftaltung 
ber Religion’ innerlich durch fich felbft begründet ift, ſo hängt 
doch grade die Bezeichnung immer vom Außerlihen ab, Es 


205 


koͤnnten Zaufende auf diefelbe Art religiös erregt fein, und jeder 
würde vielleicht fich andere Merkzeihen machen um fein Gefühl 
zu “bezeichnen, nicht durch fein Gemuͤth fondern durch Außere 
Berhältniffe geleitet 7). — Sie wollen ferner weniger dad ein: 
zelne in der Religion darftelen diefe Syſtematiker, ald eins dem 
andern unterordnen, und aud dem höheren ableiten. Nichtd aber 
ift weniger als dies im Intereffe der Religion, welche nichts 
weiß von Ableitung und Anfnüpfung. In ihr ift nicht etwa 
nur eine einzelne Thatſache, die man ihre urfprüngliche und 
erfte nennen koͤnnte; fondern alles und jedes ift in ihr unmittel⸗ 
bar und für fi wahr, jedes ein für fich beftchended ohne Ab- 
hängigfeit von einem andern. Freilich ift jede beſonders geftal: 
tete Religion eine folche nur vermöge einer beflimmten Art und 
Meife des Gefühld; aber wie verkehrt ift es doch diefe als einen 
Grundſaz, wie Ihr ed nennt, behandeln zu wollen, von dem das 
andere fich ableiten ließe. Denn diefe beftimmte Form einer Re: 
ligion ift eben auf gleiche Weile in jedem einzelnen Element der 
Religion, jened befondere Gepräge trägt jede Aeußerung des Ge: 
fühls unmittelbar an fich, und abgelondert von diefen kann ed 
fi) nirgends zeigen, und niemand kann es fo haben: ja auch 63 
begreifen kann man die Religion nicht, wenn man fie nicht fo 
begreift. Nicht kann oder darf in ihr aus dem andern bewie- 
fen werden, und alles allgemeine, worunter das einzelne befaßt 
werden fol, alle Zufammenftellung und Verbindung diefer Art 
liegt entweder in einem fremden Gebict, wenn fie auf das innere 
und wefentliche bezogen werden fol, oder iſt nur ein Merk der 
Ipielenden Fantaſie und der freieſten Willkuͤr. Jeder mag ſeine 
eigne Anordnung haben und ſeine eigene Rubriken, das weſent— 
liche kann dadurch weder gewinnen noch verlieren; und wer wahr: 
haft um feine Religion und ihr Wefen weiß, wird jeden fchein: 
baren Zufammenhang dem einzelnen tief unterordnen, und jenem 
nicht daS kleinſte von diefem aufopfern. 
Auf diefem Wege ift man auch zu jenem wunderiihen Sr- 


206 


danken gefommen von einer Allgemeinheit einer Religion: umd 
von einer einzigen Form, zu welcher fich alle andern verhielten 
wie faliche zu wahren; ja wenn nicht gar zu fehr zu beforgen 
wäre dag Ihr ed mißverfiändet, fagte ich gern, man fei audı 
nur auf diefem Wege überhaupt zu einer folchen Vergleichung 
gekommen, wie wahr und falſch, die fich nicht fonderlich eignet | 
für die Religion. Denn eigentlich gehört alles dies zufammen, | 
und gilt nur da wo man ed mit Begriffen zu thun hat, un 
wo die negativen Geleze Eurer Logik etwas ausrichten Fönnen, 
fonft nirgends. Unmittelbar in der Religion ift alles wahr; 
denn wie könnte es fonft geworden fein? unmittelbar aber iſt nur, 
was noch nicht durch den Begriff hindurch gegangen ift, fondern 
rein im Gefühl erwachen. Auch alles, was jich irgendwo re 
ligiös geftaltet, ift gut; denn es geflaltet fich ja nur, weil es ein . 
gemeinichaftliched höheres Leben auöfpricht. Aber ber ganze Um: 
fang der. Religion ift ein unendliche und nicht, unter, einer ein: 
zelnen Form, fondern nur unter dem Inbegriff aller zu befaſſen ®). 
Unendlich, nicht nur weil jede einzelne teligiöfe Drganifation einen 
beſchraͤnkten Geſichtskreis hat, in dem fie nicht alles umfaſſen 
‚ fann, und alfo auch nicht glauben Fann, es fei jenfeit defjelben 
6 nichts mehr wahrzunehmen; fendern vornehmlich weil. jede eine 
andere ift, und alſo auch nur auf eine eigene Weile erregbar, 
fo dag auch innerhalb ihres eigenthümlichten Gebietes für eine 
andere die Elemente der Religion ſich anders würden geftaltet 
haben. Unendlich, nicht nur weil Handeln und Keiden auch zwi: 
fchen demfelben befchränften Stoff und dem Gemüth ohne Ente 
wechfelt, und alio auch in .der Zeit immer wieder neued geboren 
wird; nicht nur weil fie als Anlage unvollendbar ift und fih 
alfo immer neu entwikkelt, immer fchöner reproducirt, immer 
tiefer der Natur des Menfchen einbildet: fondern die Religion iſt 
unendlich nach allen Seiten. Diefed Bewußtfein ift eben fo -un: 
mittelbar mit der Religion zugleich gegeben, wie mit dem Wiffen 
zugleich aud dad Wiſſen um feine ewige Wahrheit und Untrüg: 


207 


lichkeit gegeben iſt; es ift das Gefühl der Religion felbft, und 
muß daher jeden begleiten der wirklich Religion hat. Jeder 
muß fich bewußt fein, daß die feinige nur ein Theil des ganzen 
ift, daß ed über diefelben Verhaͤltniſſe, die ihn religiös afficiren, 
Anfichten und Empfindungen giebt, die eben fo fromm find und 
dod) von den feinigen ganzlich verfchieden, und daß andern Ge: 
flaltungen der Religion Wahrnehmungen und Gefühle angehören, 
für die ihm vielleicht gänzlich der Sinn fehlt. Ihr feht wie 
unmittelbar diefe fchöne Befcheidenheit, diefe freundliche einladende 
Duldjamkeit aus dem Weſen der Religion Entfpringt, und wie 
wenig ſie fih von ihr trennen läßt.- Wie unrecht wendet Ihr 
Euch alfo an die Religion mit Eueren Vorwürfen, daß fie ver: 
folgungsfüchtig fei und gehäffig, daß fie die Gefellichaft zerrütte 
und Blut fließen laffe wie Wafjer. Klaget defjen diejenigen an, 
welche die Religion verderben, welche fie mit einem Heer von 
Formeln und Begrifföbeflimmungen uͤberſchwemmen und ſie in 
die Feſſeln eines ſogenannten Syſtems ſchlagen wollen. Woruͤber 
denn in der Religion hat man geſtritten, Parthei gemacht und Kriege 
entzuͤndet? Ueber Begriffsbeſtimmungen, die praktiſchen bisweilen, 
die theoretifchen immer, und beide gehören nicht hinein. Die 
Philoſophie wol ſtrebt diejenigen, welche wiffen wollen, unter cs 
ein gemeinichaftliches Wiſſen zu bringen, wie Ihr das taͤglich 
ſehet, wiewol auch ſie, je beſſer ſie ſich verſteht, um ſo leichter 
auch Raum gewinnt fuͤr die Mannigfaltigkeit; die Religion be: 
gehrt aber auch fo nicht einmal diejenigen, welche glauben und 
fühlen, unter Einen Glauben zu bringen und Ein Gefühl. Sie 
firebt „wol_benen, welche religiöfer Erregungen noch nicht fü: 
big find, den Sinn für die ewige Einheit ded urfprünglicyen 
Lebensquelles au öffnen, denn jeder fehende ift ein neuer Priefter, 
ein neuer Mittler, ein neued Organ; aber eben deswegen flieht 
fie mit Wiberwillen die Fahle Einförmigfeit, welche diefen gött- 
lichen Ueberfluß wieder zerflören würde. Jene dürftige Syftem: 
fucht ?) freilich flößt das fremde von ſich, dit ohne \kine Inigrüiir 


208 


gehörig zu unterfuchen, ſchon weil es die wohlgefchloffenen Rei- 
ben des eigenen verderben und den fchönen Zufammenhang ftören 
fönnte, indem es feinen Pla; fordert; in ihr ift der Siz der 
Streitfunft und Streitfucht, fie muß Krieg führen und verfolgen; 
denn infofern das einzelne wieder auf etwas einzelnes und end: 
liched bezogen wird, kann freilich eins das andere zerftören durch 
fein Dafein; in der unmittelbaren Beziehung auf das unendliche 
aber flieht alles urſpruͤnglich innerliche ungeflört neben einander, 
alles ift eind und alles ift wahr. Auch haben. nur dieſe Syſte⸗ 
matifer dies alled angerichtet. Das neue Rom, bad gottlofe 
. aber confequente, fchleudert Bannſtrahlen und flößt Kezer auß!°); 
das alte, wahrhaft fromm und religiös im hohen Styl, war 
gaſtfrei gegen jeden Gott, und fo wurde‘ es der Götter voll. Die 
Anhänger ded todten Buchftabens, den die Religion auswirft, 
haben die Welt mit Gefchrei und Getümmel erfüllt, die wahren 
Beichauer ded ewigen waren immer ruhige Seelen, entweder 
“allein mit fih und dem unendlichen, oder wenn fie fi) umfahen, 
jedem der. dad große Wort nur verftand feine eigne Art gern 
vergönnend. Mit diefem weiten Blikk und diefem Gefügl des 
unendlichen fieht fie ‘aber auch dad an, was außer ihrem eigenen 
Gebiete liegt, und enthält in ſich die Anlage zur unbeichräntteften 
66 Bielfeitigfeit im Urtheil und in der Betrachtung, welche in der 
That anderdmwoher nicht zu nehmen ift. Laffet irgend etwas 
anderes den Menfchen befeelen, — ich will Sittlichkeit und Phi- 
lofophie, fo viel nämlich davon übrig bleiben kann wenn Shr 
die Religion davon trennt, nicht auafchließen, fondern berufe mich 
vielmehr ihretwegen auf Eure eigne Erfahrung — fein Denken 
und fein Streben, worauf ed auch gerichtet fei, zieht einen engen 
Kreid um ihn, in welchem fein höchftes eingefchloffen liegt, und 
außer welchem ihm alled gemein und unmwürdig erfcheint. Wer 
nur fchulgerecht denken und nach Grundfaz und Abſicht handeln 
und dies und jened ausrichten will in der Welt, der umgränzt 
unvermeidlich fich felbit und fezt immerfort dasjenige fich entgegen 


zum Gegenflande ded Wiberwillens, was fein Thun und Treiben - 
nicht fördert, Nur die freie Luft ded Schauen und des ‚Lebens, 
wenn fie ins unendliche ‚geht, aufs unendliche gerichtet iſt, ſezt 
dad Gemüth in- unbefchränkte Freiheit; nur die Religion rettet 
es aus den druͤkkendſten Feſſeln der Meinung und der Begierde. 
Alles was ift, ift für. fie nothwendig, und alled was fein kann, 
iſt ihr ein wahres: umentbehrliched Wild ded unendlichen; wer 
nur den Punkt findet, woraus feine Beziehung auf daſſelbe ſich 
entdekken läßt. Wie verwerflich auch etwas in andern. Bezie⸗ 
bungen ‚oder an fich felbft fei, in dieſer Ruͤkkſicht iſt es immer 
werth zu ſein und aufbewahrt und betrachtet zu werden. Einem 
frommen Gemuͤthe macht die Religion alles heilig und werth, 
fogar die Unpeiligkeit und die Gemeinheit felbfi, alles mas es 
faßt und nicht faßt, wad in dem Syſtem feiner eigenen Gedan⸗ 
fen liegt und mit feiner eigenthuͤmlichen Handelsweiſe überein 
ſtimmt und was nicht; fie ift die urfprüngliche und geichworne 
Feindin aller Kleinfinnigkeit und aller Einfeitigkeit. 

Wie nun die Religion. felbft die Vorwuͤrfe nicht treffen, 
welche nur auf ihrer Werwechfelung beruhen mit jenem Wiſſen, 
wie viel oder wenig es auch werth fein mag, ein Wiſſen wil e8 
doch immer fein, das ihr eigentlich nicht angehört, fondern nur e7 
ber Theologie, die Ihr doch von der Religion immer unterfcheis 
den folltet, ſo treffen biefe auch jene Wormürfe eben fo wenig, 
welche ihr wol von ‚Seiten des Handelns find gemacht worden. 
Zwar etwad davon habe ich nur eben fchon berührt; aber laßt 
und auch: died im allgemeinen ind Auge faflen, damit wir es 
ganz befeitigen, und Ihr recht erfahret wie ich ed meine. Nur 
zweierlei muͤſſen wir babei genau unterfcheiden. Einmal befchuls 
digt Ihr die Religion, fie veranlaffe nicht felten unanfländige 
ſchrekkliche ja unnatürlihe Handlungen auf dem Gebiete des 
gemeinfamen bürgerlichen fittlihen Lebens, Ich will Euch nicht 
erfi den Beweis auflegen, baß ſolche Handlungen von frommen 
Menfchen herrührenz diefen will ich Euch vorläufig \äyenten. ok, 

Säleierm. ®. I. 1. | D 


4 


210 


Aber indem Ihr Eüre Beichuldigung ausfprecht, trennt Ihr doch 
ſelbſt Religion und Sittlichleit von einander. Meint Ihr dies 
nun fo, die Religion fei die Unfittlichkeit ſelbſt oder ein Zweig 
von ihr? Wol fchwerlich; denn fonft müßte Euer Krieg ‚gegen 
fie noch ein ganz anderer(fein, und Ihr müßte ed als einen 
Maaßſtab der Sittlichkeit anfehn, wie weit fie-auch die Brom: 
migkeit fchon überwunden hätte. - Und fo feid Ihr doch nicht 
aufgetreten gegen fie, wenige von Euch abgerechnet, bie fich frei: 
lich faft wahnfinnig gezeigt haben in ihrem mißverftandenen Eifer 
. um folden Mißverfland. Oder meint Ihr ed wol nur fo, bie 
Froͤmmigkeit fei ein anderes ald die Sittlichkeit, gleichgültig gegen 
diefe, und Eönne alfo wol zufälliger Weife auch unfittlich. wer: 
ben? Dann habt Ihr freilich Recht in dem erſten; nämlich in 
wiefern man Frömmigkeit und Sittlichkeit trennen kann in ber 
Betrachtung, find fie auch‘ verfchieden, wie ich Euch auch fchon 
zugegeben und geſagt habe, daß bie eine im. Gefühl ihr Weſen 
bat, die andere aber im Handeln. Allein wie kommt Ihr doc) 
von dieſem Gegenfaz aus dazu, die Religion für dad Handeln 
verantwortlich zu machen, und es ihr zuzufchreiben? Wäre es 
dann nicht richtiger, zu fagen, ſolche Menfchen wären eben nicht 
fittlich genug geweſen, und wäre dies nur, fo fonnten fie immer 
eben fo fromm geweſen fein ohne Schaden. Denn wenn Ihr 
und vorwärtd bringen wollt, und das wollt Shr ja, fo ift es 
nicht rathfam, wo zweierlei in uns ungleich geworben .ift, was 
eigentlich gleich fein follte, dad voraneilende zurüffzuführen; fon: 
dern treibet lieber das zurüffgebliebene vorwärts, dann gedeihen 
‚wir weiter. Und damit Ihre mich nicht etwa anklagt daß ich 
Silbenftecherei treibe, fo laßt Euch aufmerffam darauf machen, 
daß die Religion an’ fich den Menfchen gar nicht zum Handeln 
treibt, und dag, wenn Ihr fie denken könntet irgend einem Mens 
ſchen allein eingepflanzt, ohne daß fonft etwas in ihm lebte, die 
fer alöbann weder folche noch andere Thaten bervorbringen würde, 
fondern gar Feine, weil er eben, wenn Ihr an. das vorige zurüff: 


211. 


denken wollt, und es nicht wieder umwerfen, gar nicht handeln 
würde, fondern mur fühlen. Daher eben, worüber Ihr ja genug 
Hast, und auch mit Recht, von jeher viele von ben religioͤſeſten 
Menfchen, in denen aber das fittliche zu ſehr zurüßfgebrängt war, 
and denen ed. an ben eigentlichen Antrieben zum Handeln fehlte, 
die Welt verließen, .und in der Einſamkeit fih müßiger Beſchau⸗ 
ung ergaben, Merket wol, died kann die Religion, wenn fie fi) 
ifolirt und alfo krankhaft wird, bewirken, nicht aber graufame 
und fchreffliche Zhaten. Sondern auf: Diefe Weife läßt fich ber 
- Vorwurf, den Ihr der Religion machen wollt, grade umwen⸗ 
den und in einen Lobſpruch verwandeln. Nämlich die Hand: 
Jungen welche Ihr tabelt,. wie verfchieben fie auch im. einzelnen 
mögen beichaffen geweſen fein, haben. doch das mit einander ge⸗ 
"mein, daß fie unmittelbar aus einer einzelnen Regung des Ge: 
fuͤhls fcheinen hervorgegangen zu fein. Denn. bied tadelt Ihr ja 
allemal, Ihr mögt dieſes beflimmte ‚Gefühl nun religiös nennen 
oder nicht; und-ich, weit entfernt hierin von Euch abzumeichen, 
lobe Euch um ſo mehr, je gruͤndlicher und unparteiiſcher Ihr 
dies tadelt. Ich bitte Euch es auch da zu tadeln, wo nicht 
grade die Handlung Euch als boͤſe erſcheint, vielmehr ſogar auch) 
wo fie ein guted Anſehn bat. Denn dad Handeln, wenn es 
einer einzelnen. Regung folgt, geräth dadurch in eine Abhängig: 
keit, die ihm nicht ziemt, unter einen viel zu beflimmten Einfluß co 
ſelbſt äußerer Gegenflände, die auf die einzelne Erregung ein⸗ 
wirken. Das Gefühl iR feiner Natur nach, fein Inhalt fei wel: 
cher er wolle, wenn ed nicht einfchläfernd-ift, heftig; es iſt eine 
Erſchuͤtterung, eine Gewalt, der dad Handeln. nicht unterliegen 
und aus der ed nicht hervorgehn foll, fondern aus der Ruhe und 
Befonnenheit, aus dem Totaleindrukk unfered Daſeins ſoll es 
bervorgehn und dieſen Charakter fol es an fich tragen. Auf 
gleiche Weile wird Died gefordert im gemeinen Leben wie im 
Staat und in ber Kunft. Allein jene Abweihung kann doch 
nur daher kommen, daß der handelnde — alfo doch wol um 
92 


212 


zu handeln, und alfo doch das fittliche in ihm — bie Krömmig: 


feit nicht genug und ganz bat gewähren laſſen; fo daß es vid: 
mehr fcheinen muß, wenn er nur froͤmmer geweien wäre, würde 
er auch fittlicher gehandelt haben. Denn aus zwei Elementen 
befteht das ganze religiöfe Leben; daß der. Menſch üch hingebe 
dem Univerfum und ſich erregen laſſe von ber Seite befjelben, 
die er es ihm eben zuwendet, und dann daß er diefe Berührung, 
die als folche und. in ihrer. Beflimmtheit ein- ‚einzelnes Gefuͤhl iſt, 


nach innen zu fortyflanze und in die innere Einheit feines Le⸗ 


bens und Seins aufnehme; und bad religioͤſe Leben i ie nichts 
anderes als die beſtaͤndige Erneuerung dieſes Verfahrens. Wenn 
alſo einer erregt worden iſt, auf eine beſtimmte Weiſe von ber 
Melt, ift ed etwa feine Frömmigkeit, die ihn mit biefer Erregung 
gleich. wieder nach außen treibt in ein Wirken und Handeln, 
welched dann freilich die Spuren der Erfehütterung tragen und 
‚den reinen -Zufammenhang des fittlihen Zebend trüben muß? 
Ohnmoͤglich; fondern im Gegentheil feine Froͤmmigkeit lud ihn 


ein nach innen zum Genuß des erworbenen, ed in das innerfle 


feines Geifted aufzunehmen und damit in Eins zu verfchmelzen, 
daß ed fich des zeitlichen entkleide und ihm nichtmehr ald ein 
einzelnes, nicht ald eine Erfchütterung einwohne, fondern als ein 
ewiged reined und ruhiged. Und aus diefer innern Einheit ent: 
ſpringt dann’ für fi als ein eigner Zweig des Lebens auch bad 
0 Handeln, und freilich, wie wir auch ſchon uͤbereingekommen, ald 
eine Ruͤkkwirkung des Gefühld; aber nur dad gefammte Handeln 
fol eine Ruͤkkwirkung fein von der Gefammtheit ded Gefühle; 
bie einzelnen Handlungen aber müffen von ganz etwas anderem 
abhängen in ihrem Zufanimenhang und ihrer Folge ald vom 
augenblikklichen Gefühl; nur fo flellen fie jede in ihrem Zufams 
menhang ‚und an ihrer Stelle auf eine freie und eigne Weiſe die 
ganze innere Einheit des Geifted dar, nicht aber wenn fie ab: 
haͤngig und Enechtifch irgend einer einzelnen Erregung entfprecyen. 
So ift demnach gewiß dag Euer Tadel die Religion nicht trifft, 


213 


wenn Ihr nicht von einem Erankhaften Zuftande redet, und daß 
auch diefer. krankhafte Zuftand nicht etwa in dem religiöfen Sys 
fiem urfprünglich und auf eigne Weiſe feinen Siz hat, fondern 
ein ganz allgemeiner ift, aus welchem alſo gar nicht beſonderes 
gegen.die Religion kann gefolgert werden. Es ift gewiß endlich 
und muß Euch einleuchten, daß im gefunden Zuſtande, in wies 
fern wir Frömmigkeit und Sittlichfeit abgelondert betrachten wol: 
Im, der Menſch nicht angefehen werden kann ald aus Religion 
handelnd, und von der Religion zum Handeln getrieben; fondern 
diefes bildet feine Reihe für fich, und jene auch, ald zwei ver 
ſchiedene Functionen eines und deſſelben Lebens. Darum wie 
nichts aus Religion, ſo ſoll alles mit Religion der Menſch han⸗ 
deln und verrichten, ununterbrochen ſollen wie eine heilige Muſik 
die religioͤſen. Gefühle ‚fein thaͤtiges Leben begleiten, und er 
fol nie und nirgends erfunden werden ohne fi. Daß ich aber 
in diefer Darftelung weder Euch noch mich hintergangen, koͤnnt 
Ihr auch daraus fehen, wenn Ihr Achtung geben wollt, ob nicht 
jedes Gefühl, je mehr Ihr felbit ihm den Charakter der Froͤm⸗ 
migkeit beilegt, um deſto flärker auch die Neigung hat nach 
innen zurüffzufehren, nicht aber nach außen in Thaten hervor _ 
zubrechen; und ob nieht ‘ein frommer den. Ihr recht innig bes 
wegt fändet fich, in der größten Verlegenheit befinden, oder Euch 
wol gar nicht verſtehn würde, wenn Ihr ihn fragtet, was für 
‚eine einzelne Handlung er denn nun zu verrichten gefonnen wäre 
in Zolge feines-Gefühld, um ed zu beurfunden und audzulaffen. 71 
Nur böfe Geifter, nicht gute, befizen den Menfchen und treiben 
ihn, und die Legion von Engeln, womit der himmlifche Vater 
feinen Sohn „ausgeftattet hatte, übten Feine Gewalt "über ihn 
aus, fie halfen ihm auch nicht in feinem einzelnen Thun und 
Laſſen, und follten es auch nicht, aber fie flößten Heiterkeit und 
Ruhe in die von Thun und Denken erfchöpfte Seele; biöweilen 
wol verlor er die vertrauten Geiſter aus den Augen, in Augen» 
blikken wo feine ganze Kraft zum Handeln aufgeregt war, aber 


214 


dann umfchwebten fie ihn wieder in fröhlichem Gebränge, und 
dienten ihm. Doch, warum führe ih Euch auf folche Einzels 
heiten, und rede in Bildern? Am beutlichften zeigt fich ja mein 
Recht darin, daß ohmerachtet ich mit Euch ausging von der. 
Trennung bie Ihr feztet zwiſchen Religion und Sittlichkeit, und 
nur, indem wir diefe recht genau verfolgten, wie von felbft auf 
beider wefentliche Vereinigung im wahren Zeben zurüffgefommen 
find, und gefehen haben, daß was fich. ald ein Verderbniß in bet 
einen zeigt, auch eine Schwäche in ber andern voraudfeit, und 
dag wenn nicht‘ auch bie andere ganz das-ift was fie fein vol, 
feine von beiden vollkommen fein’ Tann. 

° Hiermit alfo verhält‘ ed ſich gewiß fo. Ihr redet aber oft 
noch von andern Handlungen, welche beſtimmt die Religion her⸗ 
vorbringen muͤſſe, weil ſie fuͤr die Sittlichkeit nichts waͤren, und 
alſo aus Ihr unmoͤglich koͤnnten hervorgegangen ſein, eben ſo 
wenig aber aus demſelben Grunde auch qus der Sinnlichkeit, 
wie man biefe der Sittlichkeit -entgegenfezt, weil ſie nämlich für 
diefe auch nichts wären; verberblich aber wären fie doch, weil 
fie den Menfchen gewöhnten fih an das leere zu halten und 
auf das nichtige einen Werth zu ſezen, und weil ſie, wenn auch 
noch fo gedankenleer und bedeutungslos, nur allzuoft die Stelle 
des fittlichen Handelns ‚vertreten und den Mangel deſſelben .be: 
deffen follten. Ich weiß, was Ihr meint; erfpart mir .nur daB 
lange Verzeichniß von Außerlicher Zucht, »geifligen Uebungen, 

72 Entbehrungen, Kaſteiungen und was fonft noch, was Ihr in 
diefem Sinn ber Religion als ihr Erzeugniß vorwerft, wovon . 
aber, was Ihr doch ja ‚nicht überfehen moͤgt, grade.die größten 
Helden der Religion, die Stifter und Erneuerer der Kirche, auch 
ſehr gleichgültig urtheilen. Hiermit freilich verhält es ſich anders; 
aber auch bier meine ich wird die Sache die ich vertheidige 
fich ſelbſt rechtfertigen... Nämlich wie jenes Wiſſen, wovon wir 
vorher ſprachen, jene Lehrſaͤze und Meinungen, welche ſich naͤher 
an die Religion anſchließen wollten als ihnen zukam, nur Be | 


215 


zeichnungen und Beſchreibungen des Gefühl waren, kurz ein 
Wiſſen um das Gefühl, keinesweges aber ein unmittelbared Wiſ⸗ 
fen um bie Handlungen des Univerfum, durch welche das Gefühl 
erregt wurde, und wie jened nothwendig zum Uebel ausfchlagen 
mußte, wo es an bie Stelle entweder -dbed Gefühld ober ber 
eigentlichen und uriprünglichen Erkenntniß follte gefezt werden: . 
fo iſt auch dieſes Handeln, das ald Uebung und Leitung ded 
Gefühls unternommen fo oft leer und gehaltlos ausſchlagende — 
denn von einem anderh fomBolifchen und bedeutenden, nicht als * 
Uebung fondern als Darſtellung des Gefuͤhls fih gebenden reden 
wir doch nicht — jened .aber iſt ebenfalls sin Handeln gleichſam 
aus der zweiten Hand, welches ſich eben- fo auf feine Weiſe daB 
Gefühl zum Gegenftand macht, und bildend darauf wirken will, 
wie jenes Wiffen ed ſich zum Segenftande macht und es bes 
trachtend auffaffen will. Wie viel Werth nun biefed haben mag 
an fi, und ob ed nicht eben fo unmelentlich iſt als jenes Wiſ⸗ 
fen, das will ich hier nicht entſcheiden, wie es denn auch ſchwer 
iſt recht zu faſſen, und- wol ſehr genau will erwogen fein, in 
welchem. Sinn doch der Menfch. fich' ſeloſt und zumal ſein Gefuͤhl 
kann behandeln wollen, als welches mehr dad Geſchaͤft des gan⸗ 
zen zu ſein ſcheint, und alfo ein von ſelbſt ſich ergebendes Pro⸗ 
duct ſeines Lebens, als ein abſichtliches, und ſein eignes. Doch 
dies, wie geſagt, gehoͤrt nicht hieher, und ich moͤchte es lieber 
mit den Freunden der Religion beſprechen als mit Euch. So⸗ 
viel aber iſt gewiß, und ich geſtehe es unbedingt, wenig Irrun⸗ 
gen ſind ſo verderblich, als wenn jene bildenden Uebungen des 3 
Gefuͤhls an die Stelle des urſpruͤnglichen Gefuͤhls ſollen geſezt 
werben; nur iſt es offenbar eine Irrung, in welche teligiöfe Mens 
ſchen nicht gerathen koͤnnen. Bielleicht gebt Shr ed mir fchon- 
gleich zu, 'wenn id Euch nur daran erinnere, daß etwas ganz 
ähnliches fi) findet auf der Seite der Sittlihkeit. Denn es 
giebt auch ein folched Handeln auf fein eigned Handeln; Uebun⸗ 
gen des fittlichen, die ber Menfch, wie fie fich ausbrüffen, mit. 


216 


ſich ſelbſt anſtellt, damit er beffer werde; und diefe an die Stelle 
des unmittelbaren -fittlichen Handelns, des Gutfeind und Hecht 
thuns felbft zu fezen, dies gefchieht freilich, aber Ihr werdet nicht 
zugeben wollen daß es von den ſittlichen Menſchen geſchehe. 
Bedenkt es aber auch ſo. Ihr meint es doch eigentlich ſo daß 
die Menſchen allerlei thun, einer vom andern es annehmend und 
fortpflanzend auf die ſpaͤteren, was bei vielen ſich gar nicht ver⸗ 
ſtehen laͤßt und nichts bedeutet, immer aber ſich nur ſo begreifen 
laͤßt, daß es geſchehe um ihr religioͤſes Gefuͤhl zu erregen und 
zu unterflüzen "und auf dieſe oder jene Seite zu lenken. Wo 
alfo diefes Handeln ein. felbflerzeugtes if, und wo es diefe Bes 
. deutung wirklich hat, da bezieht es ſich ja offenbar auf das eigne 
Gefühl des Menſchen, und ſezt einen beſtimmten Zuſtand deſſelben 
voraus, und daß dieſer mitgefühlt werde, und der Menſch feiner 
ſelbſt und ſeines inneren Lebens auch mit ſeinen Schwaͤchen und 
Unebenheiten inne werde. Ja auch ein Intereſſe Daran ſezt es 
voraus, eine höhere Selbſtllebe, deren Gegenſtand eben der Menſch 
iſt, ald ber fittlich fuͤhlende, als ein eingebilbeter Theil ded gan: 
zen der geifligen Welt; und offenbar, ſo wie diefe Liebe aufhörte, 
müßte auch, jened Handeln aufhören. Kann es alſo jemals ver⸗ 
kehrter und thoͤrichter Weiſe an die Stelle des Gefuͤhls geſezt 
werden, und dieſes verdraͤngen wollen, ohne zugleich ſich ſelbſt 
aufzuheben? Sondern nur unter denen, bie in ihrem tiefften in⸗ 
nern ein Gegenfaz gegen die Frömmigkeit bilden, Tann diefe Irs 
rung entfliehen. Für diefe nämlich haben-foldye Gefuͤhlsuͤbungen 
seinen eigenen Werth, weil fie ſich dadurch das. Anfehn geben 
koͤnnen, als halten fie auch einen Theil von dem verborgenen; weil 
fie daffelbe was in andern eine tiefe Bedeutung hat aͤußerlich 
nachäffen können, wenn ed ihnen bewußt oder unbemwußt darum 
zu thun ifl, andere, oder ich felbft mit dem Schein eined höheren 
Lebens, das nicht wirklich in ihren if, zu taͤuſchen. So ſchlecht 
in der That iſt das, was Ihr in dieſem Sinne tadelt; es iſt 
immer entweder niedrige Heuchelei oder elende Superſtition, die 


217 


ih Eud willig preisgebe und nicht vertheidigen will. Auch 
fommt nichts darauf an, was in diefem Sinne geuͤbt werde, nnd 
wir wollen nicht nur das verwerfen, was ſchon für fih ange 
fehen leer unnatürlih und verkehrt iſt, fondern ‚alles was auf 
gleichem Wege entfieht, welch ein gutes Anfehen es auch habe; 
wilde Kaſteiungen, geſchmakkloſes Entbehrei des fchönen, leere 
Worte und Gebräuche, wohlthätige Spenden, alle gelte uns 
gleichviel, jede Superflition fei und gleich unbeilig. Aber nie 
wollen wir auch diefe verwechieln. mit dem wohlgemeinten Stre⸗ 
ben frommer Gemüther. Auch unterfcpeidet fich . beides warlich 
fehr leicht; denn: jeder veligiöfe Menfch bildet fich feine Aſcetik 
felbft, wie er fie bedarf, und fieht fich nicht um nach irgend einer 
Norm, als die er in fi hat. ‘Der. abergläubige aber und der 
Heuchler halten ſich fireng an ein gegebenes und hergebrachteß, 
und eifern dafür ald für ein allgemeines und heiliges. Natürs 
li; denn ‚wenn jedem zugemuthet würde, fich feine äußere Zucht 
und Webung, feine Gymnaſtik des Gefuͤhls ſelbſt auszuſinnen in 
Beʒiehung auf ſeinen perföhlichen Zuftand, fo wären- fie übel 
daran, und ihre innere. Armuth koͤnnte fich nicht länger. verbergen. 

Lange habe: ich Euch verweilt bei dem allgemeinften, fafl 
nur vorläufigen, und was fich von ſelbſt follte verftanden. haben. 
Aber weil es ſich eben nicht verſtand, weder für Euch noch für 
viele die am wenigften zu ‚Euch werben. gezählt fein wollen, wie 
die Religion. fich verhält zu-den andern Zweigen bed Lebens; fo 
war ed wol nöthig die Quellen der gewoͤhnlichſten Mißverſtaͤnd⸗ 


niffe, damit fie uns nicht hernach auf unferm Wege aufhielten, 1 


gleich anfangs abzuleiten. Diefes Habe ich nun nach Vermögen 
gethan, und hoffe, wir haben feflen Boden unter uns, und find 
überzeugt, dag. wenn wir nun anknüpfend an jenen Augenblikk, 
welcher felbfi rtie unmittelbar angefchaut wird, in welchem ſich 
aber alle verfchiedne Aeußerungen des Lebens gleihmäßig bilden, 
fo wie manche Gewaͤchfe ſich ſchon in der verſchloſſenen Knospe 
befruchten und bie Frucht gleichſam ſchon mitbringen zur Bluͤthe, 


Mi 


218 


wenn wir an dieſen anfnüpfend nun fragen, wo vorzüglich unter - 


“allen feinen Erzeugniffen die Religion zu fuchen fei, Feine andere 
Antwort die rechte fein und. mit-füch felbft beſtehen könne, als 
da wo vorzüglich als Gefuͤhle die lebendigen Berührungen "bed 


Menſchen mit der Welt ſich geflalten, und daß dieſes die ſchoͤnen 


und duftreichen Blüthen der Religion find, welche’ zivar, wie fie 
ſich nach jener verborgenen Handlung geöffuet haben, auch balb 
wieder abfallen, Deren aber das göttliche. Gewaͤchs aus der Fülle 
bed Lebend immer neue hervortreibt, ein paradieſiſches Klima um 
ſich ber erfchaffend, in "welchem Fein duͤrftiger Wechfel die Ent: 
wikkelung ſtoͤrt, noch ‚eine rauhe Umgebung. den zarten Lichtern 


und dem feinen Gewebe der Blumen ſchadet, zu welchem ich jezt 


eben. Eure ‚vorläufig gereinigte ind‘ bereitete Betrachtung binfüh⸗ 
ren will. 

| Und zwar folge mir ie zuerſ zur äußeren Natur,. welde von 
fo vielen für den erften oder einzigen Tempel der Gottheit, und 
vermöge ihrer eigenthümlichen Art das: Gemüth zu herübren,-für 


das innerfle Heiligthum der Religion gehalten wird, jezt aber, 


wiewel fie mehr fein ſollte, faft nur :der Vorhof berfelben- iſt. 
Denn ganz verwerflich iſt wol die Anficht, welche mir zunächk 
von Euch entgegentritt, ald ob die Furcht vor den Kräften wie 


in der Natur walten und, wie fie auch nichtd anders verfchonen, . 


felbft das Leben und die Werke ded Menfchen bebrohen, als 04 


diefe Furcht ihm das erfte Gefühl des unendlichen ‘gegeben hätte, 


ober gar bie einzige Baſis aller Religion wäre. Oder müßt Ihr 
nicht geftehen, daß wenn es ſich fo verhielte, und die Froͤmmig⸗ 


76 keit mit der Furcht gekommen wväre, fie auch mit der Furcht 


wieder gehen müßte? Freilich müßt Ihr das; -aber vielleicht ſcheint 
es Euch gar fo, darum laſſet und zufehn. Offenbar iſt doch die 
ſes das große Biel alled Fleißes, ber auf Die Bildung der Erde 
verwendet wird, daß die Herrfchaft der. Naturfräfte über ben 
Menſchen vernichtet werde, und- ale Furcht vor ihnen aufhöre. 


Und in ber That ift ſchon bewundernswuͤrdig viel hierin gefche 


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219 


hen. Zeus Blize ſchrekken nicht mehr, ſeitdem und Hephaiftos 
einen Schild dagegen verfertiget hat; Heftia fchüzt, was fie dem 
Pofeidon abgewann, auch gegen bie zomigften Schläge feines 
Tridents, und. die Söhne des Ares vereinigen fich mit benen des 
Asklepios, um die fchneltödtenden Pfeile Apollons von uns ab» 
zuwehren.. Immer mehr. lernt der Menſch einen dieſer Götter 
durch den andern zu beftehen und zu verberben, und ſchikkt ſich 
an bald nur ald Sieger und ald Herr diefem Spiele lächelnd 
zuzufehn. Wenn fie alfo ‚einander wechſelſeitig als zerfiörend zers- 
flören, und die Zurcht'wäre der Grund ihrer Verehrung gewes 
fen: fo ‚müßten fie allmaͤhlig als ein alltägliched und gemeines 
erfcheinenz benn was der Menfch bezwungen hat oder zu bezwins. 
gen trachtet, dad kann er auch meffen, und ed kann ihm nicht 
mehr atd- das unendliche fürchterlich gegenüber flehen, fo daß alfo 
je länger je mehr der Religion ihre Gegenſtaͤnde müßten untreu 
werben. Aber gefchah died wol je? wurden jene Götter ‚nicht 
eben fo eifrig-verehrt, in wiefern fie einander hielten und trugen 
als Brüder und Verwandte? und in wiefern fie auch den Mens . 
ſchen tragen und-verforgen, als den jüngften. Sohn deffelben Wa: 
ters? Ja, ‚Ihr ſelbſt, wenn Ihr von Ehrfurcht noch. ergriffen 
werden koͤnnt vor den großen Kräften ber Natur, hängt dieſe ab 
von Eurer Sicherheit oder Unfiherheit? und habt-Ihr etwa ein 
Gelächter bereit, um dem Donner nadyzufpotten, wenn Ihr unter 
Euren Wetterflangen fleht? Und ift nicht überhaupt. das fchligende 
und :erhaltende: in der Natur eben fo ſehr ein Gegenfland der 
Anbetung? Ermäget ed aber aud) fo. Iſt denn das, was dem 
Dafein und Wirken ded Menſchen trozt und droht, nur dad 7 
große und unendliche, oder thut nicht dafjelbe auch gar vieles 
Heine und Eleinlihe, was Ihr nicht beſtimmt auffaffen und zu 
etwas großem geftalten koͤnnt, und eben deshalb den Zufall nennt 
und dad zufällige? Und iſt nun dieſes wol jemald ein Gegen» 
fland der Religion und angebetet worden? Oder falls Ihr Euch 
etwa eine fo Heintiche Vorſtellung bilden wolltet von dem Schikk⸗ 


220 


fal der alten, fo müßt Ihr wenig verflanden haben von ihrer 
dichtenden Frömmigkeit. Denn unter dieſem hehren Schikkſal war 
auf gleiche Weiſe das erhaltende befaßt wie dad zerflörende; und 
fo war benn auch die heilige Ehrfurcht vor ihm, deren Verlaͤug⸗ 
nung in den fchönften und gebilbeiflen Zeiten ded Alterthums 
allen befferen für die vollendetſte Ruchlofigkeit galt, weit etwas 
anderes ald jene Enechtifche Furcht, welche zu verbannen ein Ruhm 
war und eine Zugend 21). . Won jener heiligen Ehrfurcht nun, 
wenn Ihr fie verftehen koͤnnt, will ich Euch gern zugeben, daß 
fie das. erfie Element. der Religion iſt. Die Furcht aber, bie 
Ihr meintet, iſt nicht nur ſelbſt nicht Religion, fondern fie vers 
mag auch nicht einmal "darauf vorzubereiten oder binzuführen. 
- Bielmehr wenn etwas von ihr fol gerühmt werden, ſo müßte 
ed nur fein, daß fie den Meuſchen in die.weltliche Gemäinfchaft 
bineinnöthiget, in ben Staat, um ihres bort (08 zu werben; feine 
Froͤmmigkeit aber fängt erft an, wenn er jene fchon abgelegt 
bat. Denn den Weltgeift 12) zu. lieben und ‚freudig feinem Bir 
ten zuzufchauen, das iſt das Ziel aller Religion, und Furcht iſt 
nicht dr der Liebe. Eden fo wenig aber glaubt auch, daß jene 
Freude an der Natur, welche fo viele dafür. anpreifen, die wahre 
religiöfe fei._ Es if mir faft zuwider davon zu- reden, wie fie 
ed treiben, wenn fie hinaudeilen in die große herrliche Welt, um 
ſich da kleine Ruͤhrungen zu holen; wie. fie in die zarten Zeich— 
nungen und Zinten der Blumen bineinfchauen, ‚oder in dad mas 
gilche Farbenfpiel eines glühenden. Abenphimmeld, und wie fie 
den Geſang der Vögel bewundern und eine fchöne Gegend. Sie 
78 find freilich ganz voll Bewunderung und Entzüffen, und meinen 
fein Inſtrument koͤnne doch diefe Töne hervorzaubern, und fein 
Pinfel diefen Schmel; und dieſe Zeichnung erreichen. Wollte man 
“fi aber mit ihnen einlaſſen und ganz in ihrem eignen Sinne 
vernünfteln, fo müßten fie ſelbſt ihre Freude verdammen. Denn 
was iſt es doch, kann man ſprechen, was Ihr bewundert? Er—⸗ 
zieht die Pflanze im dunkeln Keller, ſo koͤnnt Ihr, wenn es 


221 


gluͤkkt, fie allex dieſer Schönheiten berauben, ‚ohne daß fie im min: 
deften ihre Natur ändert. Und denkt Euch die Dünfte über uns etwas 
anders gelagert, fo werdet: Ihr ftatt jener Herrlichkeit nur einen 
grauen unangenehmen Flor vor Augen haben, und die Begebenheit 
die Ihr eigentlich betrachtet bleibt doch ganz dieſelbe. Ja ver 
fucht es einmal Euch vorzuftellen, dag doch biefelben mittäglichen 
Stralen, deren Blendung Ihr nicht ertragt, denen gegen Often 
fhon als die flimmernde Abendräthe 'erfcheinen — und dad müßt 
Ihr doch bedenken, wenn Ihr diefe Dinge im ganzen anfehn 
wollt — und wenn Ihr dann doch offenbar nicht biefelbe Ems 
pfindung habt: fo müßt Ihr dvoch inne werden, daß Ihr nur 
einem leeren Scheine nachgegangen feid. Das glauben fie dann 
nicht nur, fondern es ift auch wirklich wahr ‚für fie, weil fie in 
einem Streite befangen find zwilchen. dem Scheinen und bem 
Sein, und was in. biefen fält Tann freilich feine religiöfe Er: 
regung fein und Fein aͤchtes Gefühl hervorrufen. Ja wenn fie 
Kinder wären, .. die wirklich ohne etwas -anderd zu ſinnen 
und zu wollen, ohne Vergleichung und Reflerion dad Licht und 
den Stanz. in fih aufnehmen, und fid ſo durch die Seele der 
Welt aufſchließen laſſen fuͤr die Welt, und dies andaͤchtig fuͤhlen, 
und immer nur hiezu aufgeregt werden durch die einzelnen Ge⸗ 
genſtaͤndez oder wenn ſie Weiſe waͤren, denen in lebendiger An⸗ 
ſchauung aller Streit aufgeloͤſet iſt zwiſchen Schein und Sein, 
die eben deshalb wieder kindlich können bewegt werben, und für | 
bie jene‘ Vernümfteleien nichts waͤren was fie ftören koͤnnte: dann 
wäre ihre Freude ein wahrhaftes und reines Gefühl, ein Moment 
lebendiger froh ſich kundgebender Beruͤhrung zwiſchen ihnen und 
der Welt. Und wenn Ihr diefes fchönere verfteht, fo laßt Euch 
fagen, daß auch .died ein urfprüngliches und unentbehrliches Ele⸗ 70 
T ment der Religion iſt. Aber nicht mir jenes leere erkünftelte Bde: 
' fen für Regung ber Frömmigkeit auögegeben, da ed fo lofe auf 
liegt und nur eine bürftige Larve ift für ihre kalte gefühllofe 
' Bildung oder Verbildung. Schiebt alfo auch hier wüdyt, ine 


Idhr die Religion beflreitet, ihr dad zu, was ihr nicht angehört; 
und fpottet nicht, ald ob durch Herabwürdigung zur Furcht vor 
dem vernunftlofen und durch leere Spielerei mit niehtigem Schein 
der Menſch am leichteflen in dies fogenannte Heiligthum gelangte, 

. und ald ob bie Frömmigkeit in keinem fo leicht entflände, ‚und 
feinen fo gut Fleibete, — als feighergige ſchwaͤchliche empfinbfam 

Seelen. 

| Meiter tritt und entgegen in der körperlichen Ratur ihre 
materielle Unendlichkeit, die ungeheisren Maſſen, ausgeſtreut in 
jenen unüberfehlichen Raum, durchlaufend: jene unermeßliche Bah— 
nen, und wenn dann bie Fantaſie unter dem Geſchaͤft erliegt, 
die verkleinerten Wilder zu ihrer natürlichen Größe audzudehnen: 

ſo meinen viele, diefe Erfchöpfung fei dad Gefühl von der Größe 
und Majeftät ded Univerfumd. ‚Ihr habt Recht, dles arithmetiſche 
Erſtaunen etwas kindiſch zu finden, und dem keinen großen 

Werth ‚beizulegen, was bei den unmuͤndigen und unwiſſenden, 
eben ber Unwiſſenheit wegen, am leichteſten iſt zu erregen. Allein 
der Mißverſtand iſt auch leicht zu heben, als ob jenes Gefuͤhl 
religioͤs wäre in dieſer Bedeutung. Oder würden diejenigen ſelbſt, 
die gewohnt find es fo anzufehn, und zugeben, dag als man 
jene großen Bewegungen noch-nicht berechnet hatte, als noch nicht 
die Hälfte jener Welten entbefft war, ja. ald man noch gar 
nicht wußte daß leuchtende Punkte Weltkoͤrper wären, die Froͤm⸗ 
migkeit nothwendig geringer geweſen waͤre, weil ihr naͤmlich ein 
weſentliches Element gefehlt haͤtte? Eben ſo wenig werden ſie 
laͤugnen koͤnnen, daß das unendliche von Maaß und Zahl, ſofern 
es wirklich in unſere Vorſtellung eingeht, und ſonſt iſt es ja fuͤr 
uns nicht, doch immer nur ein endliches wird, daß der Geiſt jede 
Unendlichkeit dieſer Art in kleine Formeln zuſammenfaſſen und 
eo damit rechnen kann, wie ed alltäglich. geſchieht. Aber gewiß wer 
den fie das nicht zugeben wollen, daß von ihrer Ehrfurdt vor 
ber Größe und Majeſtaͤt des Weltalls etwas verloren gehen 
koͤnne durch fortfchreitende Bildung und Fertigkeit. Und doch 


223 

müßte jenes Zauber ber Zahl-und ber Maſſe verſchwinden, fobalb 
wie es dahin brädten, die Einheiten, die dad Maaß unferer 
Größe und unferer Bewegungen find, immer im Berbältniß bar: 
zuflellen gegen jene große Welteinheiten. Darum fo lange dad 
Gefühl ‚nur an diefer Differenz ded Maaßes haftet, ift ed auch 
num dad Gefühl einer perfönlichen Unfähigkeit; auch ein religioͤ⸗ 
ſes freitich, aber nur von ganz anderer Art. Jene Ehrfurcht 
aber, jenes herrliche eben fo erhebende ald demuͤthige Gefühl 
unfered Verhaͤltniſſes zum ganzen muß ganz daſſelbe fein, nicht 
nür ba wo dad Maaf einer Welthandlung zu groß if für unfere 
Organiſation, oder auch wo es ihr zu Hein ift, fondern nicht 
mimder dba wo es ihr gleich ifi und angemeflen. Kann ed aber 
dann wohl ber Gegenfaz fein zwiſchen Flein und groß, was und 
fo wunberbar bewegt? oder ift ed nicht vielmehr das Weſen ber 
Größe, jened ewige. Geſez, vermöge deffen überhaupt erſt Größe 
und Zahl, auch wir als foldye, werden unb find? Nicht alfo auf 
eine eigenthümliche Weile kann dad von der Schwere befangene 
und in fofern ertödtete auf und wirken, fondern immer nur dad 
Leben; und was in ber That ben, religiöfen Sinn anfpricht. in 
der äußern Belt, dad find nicht ihre Maffen, fondern ihre ewis 
gen Geſeze. Grheht Euch zu dem Blikk, wie diefe gleichmäßig 
alles umfafien, das größefte und das kleinſte, die Weltſyſteme und 
das Staͤubchen welches unſtaͤt in der Luft umherflattert, und 
dann ſagt, ob Ihr nicht inne werdet die goͤttliche Einheit und 
Die ewige Unwandelbarkeit der Welt. Allein was uns am be 
fländigften wiederfehrend berührt won dieſen Gefezen, und deshalb 
auch der gemeinen Wahrnehmung nicht entgeht, die Ordnung 
naͤmlich, in der alle Bewegungen wieberkehren am Himmel und 
auf der Erde, dad beftimmte Kommen und Gehen aller organis 
ſchen Kräfte, die immerwährende -Untrüglichkeit in der Regel des 
Mechanismus, und die ewige Gleichförmigkeit in dem Gtreben sı 
der plaftifchen Natur: bad gewährt und eben deshalb aud ein 
minder lebendiges und "großes veligiöfes Gefühl, wenn nämlud | 


224 


und in wie fern ed erlaubt iſt fo eines mit dem andern zu ver 
gleichen. Und dad darf Euch nicht Wunder nehmen; denn wenn 
Ihr von einem großen Kunſtwerke nur ein einzelnes Stuͤkk be: 
trachtet, und in den einzelnen Theilen dieſes Stuͤkks wiederum 
ganz für ſich fchöne Umriffe und Verhaͤltniſſe wahrnehmt, bie in 
ihn felbft abgeichloffen find, :und deren Beſtimmtheit fich aus 
ihm ganz verfiehen läßt: wird Euch dann nicht dad Stuͤkk mehr | 
felbft ein Werk für fich zu fein fcheinen, al& ein Theil eined gri | 
ßeren Werkes? werdet Ihr nicht urtheilen, daß es dem ganzen, | 
wenn es durchaus in dieſem Styl gearbeitet wäre, an Schwung | 
und Kühnheit und allem mas -einen großen Geiſt ahnen läßt ; 
fehlen müßte? Wo wir. eine erhabene Einheit, einen geoßgebad- q 
ten Zuſammenhang ahnen follen, da muß es neben ber allge 5 
meinen enden; zur Ordnung und Harmonie nothwendig im 5 
einzelnen Berhältniffe geben, die fi aus ihm ſelbſt nicht völlig | 
verſtehen laſſen. Auc die Welt ift ein Werk, wovon Ihr nur ; 
einen Theil überfeht, und wenn diefer vollfommen, in ſich ſelbſt 
georbnet und vollendet wäre, fo würdet Ihr die Größe bed gan m 
zen nur auf eine: befchränkte "Art inne werden. Ihr fehet, daß " 
jene Unregelmäßigfeit der Welt, welche oft bazu dienen foll die z 
Religion zuruͤkkzuweiſen, vielmehr einen größern Werth für fie y 
bat, ald die Dibnung, die fi und in der Weltanfhauung zuefl m 
darbietet und ſich aud einem kleinern Theil überfehen läßt Die z 
Perturbationen in dem Laufe der Geflirne deuten auf eine höhere „ 
Einheit, auf eine Fühnere Verbindung, ald die, welche wir fchen 5 
in der Regelmäßigkeit ihrer Bahnen gewahrt werben, und bie ⸗ 
Anomalien, die müßigen Spiele der plaſtiſchen Natur, zwingen 4 
und zu fehen, daß fie auch ihre. beflimmteften Formen mit einer 5 
man möchte fafl- fagen freien ja willkuͤhrlichen Willkuͤhr, mit m 
einer Fantaſie gleichfam behandelt, ‚deren Regel wir nur aus . 
e2einem höheren Standpunkte entdekken könnten. Daher denn hat: g 
ten auch in der Religion der alten nur niebere Gottheiten, die it 
nende Jungfrauen, die Auffiht über das gleichförmig wieberfeh- « 


225 


rende, deſſen Ordnung fchon gefunden war; aber die Abweichuns 
gen bie man nicht begriff, die Mevolutionen für die es Feine 
Sefeze gab, biefe eben waren bad Werk bed Vaters der Götter. 
Und fo unterfcheiden wir auch leicht in unferm Gefühl von dem 
ruhigen und gefezten Bewußtfein, welches die verfiandene Natur 
bervorbringt ald ein höheres worin fich eben dad Verwikkeltſein 
des einzelnen in die entfernteflen. Combinationen des ganzen, das 
Beftimmtfein des befonderen durch das noch unerforfchte allges 
meine Leben offenbart, jene wunderbaren fchauerlichen geheims 
nigvollen Erregungen, welche ſich unferer bemächtigen, wenn bie 
Santafie und daran mahnt, dag was ſich ald Erkenntniß der 
Natur ſchon in und gebildet hat, ihrem Wirken auch auf uns 
noch gar nicht entfpricht, jene räthielhaften Ahnungen meine ich, 
welche eigentlich in allen diefelben find, wenn gleich fie nur in 
ben wiffenden, wie es recht if, fi abzuklaͤren fuchen und in 
eine lebendigere Tchätigkeit der Erkenntniß übergehn, in den ans 
den aber oft von Unwiffenheit und Mißverſtand aufgefaßt einen 
Wahn abfezen, den wir zu unbedingt Aberglauben nennen, da 
ihm doch offenbar ein frommer Schauer, deſſen wir uns felbft 
nicht fhämen, zum Grunde liegt... — Gebet ferner auch darauf 
Acht, wie Ihr Euch 'felbft ergriffen fühlt von dem allgemeinen. 
Gegenfaz alles lebenden gegen das, was in NRüfkficht defjelben 
für todt zu halten ift, von diefer erhaltenden. fiegreichen Kraft 
durchdrungen, vermöge deren alles ſich nährt und gewaltſam das 
todte gleichfam wiedererwekkend mit hineinzieht in fein eigned 
Leben, damit es den Kreidlauf neu beginne; wie fi und von 
allen Seiten entgegendrängt der bereite Vorrath für alled lebende, 
der nicht todt da liegt, fondern felbft lebend ſich überall aufs 
neue wieder erzeugt; wie bei aller Mannigfaltigkeit der Lebens: 
formen und der ungeheuren Menge von Materie, den jede wech 
felnd verbraucht, dennoch jede zur Genüge hat, um den Kreiß. 
ihred Dafeind zu durchlaufen, und jede nur einem innern Schiff: 
fal unterliegt, und nicht einem Außeren Mangel, welche unend: sı 
Schleierm. W. 1.1. VP 


226 


liche Fülle enthält dieſes Gefühl in fi, und weichen überfließen: 
ben Reichtum! Wie werben wir ergriffen von dem Eindruff 
einer allgemeinen väterlichen Vorſorge, -und von kindlicher Zuver: 
fiht, das füße Leben ſorglos wegzufptelen in der vollen und 
seichen Welt. Sehet die Lilien auf dem Felde, fie fäen nicht 
und ärndten nicht, und Euer himmlifcher Water ernährt fie doch; 
darum forget nicht. Diefe fröhliche Anficht, dieſer heitere leichte 
Sinn war ſchon für einen der größten Heroen der Religion bie 
ſchoͤne Ausbeute aus einer noch fehr befchränften und dürftigen 
Gemeinfchaft mit der Natur: wie viel mehr alfo follten nicht wir 
burch fie gewinnen, denen ein reichered Zeitalter tiefer in ihr in: 
nerſtes zu dringen vergönnt hat, fo bag wir fehon .befjer die all 
verbreiteten Kräfte, die ewigen Geſeze kennen, nach denen alle 
einzelnen Dinge, auch die welche in einem beftimmteren Umfange 
fid) abfondernd ihre Seelen in ſich felbft haben, und welche wir 
Leiber nennen, gebildet und zerfliört werden. Sehet wie Neis 
‚gung und Widerfireben, überall ununterbrochen thätig, alled be: 
fiimmt; wie alle WBerfchiedenheit und ale Entgegenfezung ſich 
wieder in höhere innere Einheit auflöfen, und mit einem gan; 
abgefonderten Dafein nur fcheinbar irgend etwas endliches fid 
brüften kann; feht wie alles gleiche fich in taufend verfchiebene 
Geſtalten zu verbergen und zu vertheilen ſtrebt, und wie Ihr 
nirgends etwas einfaches findet, ſondern alles kuͤnſtlich zuſam⸗ 
mengeſezt und verſchlungen. Aber nicht nur ſehen moͤgen wir, 
und jeden der einigen Antheil nimmt an der Bildung des Zeit⸗ 
alters auffordern, daß er beachte wie in dieſem Sinne der Geiſt 
der Welt ſich im kleinſten eben ſo ſichtbar und vollkommen offen⸗ 
bart als im größten, und nicht ſtehen zu bleiben bei einem fol: 
chen Innewerden befielben, wie es fich überall und aus allem 
entwillelt und dad Gemüth ergreift; wie der Weltgeift, ohn⸗ 
erachtet des Mangeld aller Kenntniffe, die unfer Jahrhundert 
verherrlichen, ſchon den älteften Weiſen früher Zeit aufgegangen 
war, und fich in ihnen nicht nur das erfte reine und fprechende 


N 227 


Bild der Welt im der Anſchauung entwilfelt hatte, fonbern auch sꝛ 
in ihrem Herzen eine noch und liebenswürdige und erfreuliche 
Freude und Liebe für die Natur entzündet hatte, durch welche, 
wenn fie- zu den Voͤlkern bindurchgebrungen wäre, wer weiß 
welchen Fräftigen und erhabenen Gang die Religion ſchon von 
Anfang an würde genommen haben. Sondern wie jezt dieſes 
wirklich geichehen iſt, daß durch die allmählig. wirkende Gemein 
ſchaft zwiſchen Etkenntniß und Gefühl alle, welche gebildet hei⸗ 
fen wollen, dieſes ſchon im unmittelbaren Gefuͤhl haben, und in 
ihrem’ Dafein felbfi nichts finden als ein Werk dieſes Geiftes 
und eine Darfielung und Ausführung dieſer Gefege, und kraft 
diefed Gefühl alled was in ihre Leben eingreift ihnen auch 
wirklich Welt geworben iſt, gebildet, von der Gottheit durchdrun⸗ 
gen, und Eins: fo follte nur billig auch wol in ihnen allen eben 
jene Liebe und Freude fein, eben jene innige Andacht zur Natur, 
durch welche und die Kunft und dad Leben bed Alterthums heis 
lig wird, und aus der ſich dort zuerſt jene Weisheit entwifkelte, 
bie wir zurüßlgebehrt zu ihr endlich anfangen durch fpäte 
Früchte zu preifen und zu verherrlichen. Und dad wäre freilich 
der Kern aller veligiofen Gefühle von dieſer Seite, ein folches 
ganz fih Eines fühlen mit der Natur, und ganz eingewurzelt 
fein in fie, dag wir in allen wechfelnden Erſcheinungen des Lea 
bens, ja in dem Wechſel zwifchen Keben und Tod ſelbſt, der 
auch uns trifft, mit Beifall und Ruhe nur die Ausführung jener 
ewigen Geſeze erwarten. 

Allein dad ganze, wodurch erſt jenes Gefühl in und erregt 
werben fönnte, die Liebe und dad MWiderfireben, die Eigenthuͤm⸗ 
lichkeit und Einheit in der Natur, durch welche fie und erſt jenes 
ganze wird ift ed denn wol fo leicht eben diefe urſpruͤnglich in 
ihr zu finden? Sondern das ifl ed eben, und daher giebt ed fo 
wenig wahrhaft religiöfen Genuß der Natur, weil unfer Sinn 
ganz auf die andere Seite hinüberneigt, und wir bied unmittel 
bar vornehmlid im inneren bed Semüthed wahrnekrn, WM 

92 


228 / 


ss dann erfi von da auf die körperliche Natur deuten und uͤbertra⸗ | 
gen. Darum iſt au das Gemüth für und wie der Siz fo 
auch die nächfte Welt der Religion 7°); im innern Leben bildet 
fi) das Univerfum ab, und nur durch die geiflige Natur, das 
innere, wird erſt bie Börperliche verfländlich. Aber auch das Ges 
müth muß, wenn e3 Religion erzeugen und nähren fol, als Welt 
und in einer Welt auf und wirken. Laßt. mi Euch ein Ge 
heimniß aufdeffen, welches in einer ber Alteflen Urkunden ber 
Dichtlunft und der Religion faft verborgen liegt. So -lange ber 
erfte Menfch allein war mit fi) und der Natur, waltete freilich 
die Gottheit über ihm, fie fprach ihn an auf- verichiedene Art, 
aber er verftand fie nicht, denn er antwortete ihr nicht; fein Pas 
radied war fhön, und von einem fchönen Himmel glänzten ihm 
die Geſtirne herab, aber der Sinn für die Welt ging ihm nicht 
auf; auch aus dem innern feiner Seele entwikkelte er ſich nicht, 
fondern .nur von der Sehnfucht nad) einer Welt wurde fein Ges 
müth bewegt, und fo trieb er vor fich zufammen bie thierifche 
Schöpfung, ob etwa fi) eine daraus bilden möchte. Da er: 
kannte die Gottheit, daß ihre Welt nichts fei, fo lange der Menfch 
allein wäre, fie ſchuf ihm die Gehülfin, und nun erſt regten ſich 
in ihm lebende und geiftvolle Töne, nun erſt geftaltete fich vor 
feinen Augen die Welt. In dem Fleifche von feinem Fleiſche, 
und Bein von feinem Beine entdekkte er die Menfchheit, ahnend 
alle Richtungen und Geftalten der Liebe ſchon in diefer urfprüng» 
lichen, und in der Menfchheit fand er die Welt; von biefem 
Augenblikk an wurde er fähig, die Stimme der Gottheit zu hören 
und ihr zu antworten, und die frevelhaftefle Uebertretung ihrer 
Sefeze fchlog ihn von num an nicht mehr aus von dem Umgange 
mit dem ewigen Wefen 4). Unfer aller Gefchichte ift erzählt im 
diefer heiligen Sage. Umfenft ift alles für denjenigen da, der ſich 
ſelbſt allein fteNt; denn um des Weltgeijtes Leben in ſich aufzunehs 
men und um Religion zu haben, muß der Menfch erft die Menfch: 
heit gefunden haben, und er findet fie nur in Liebe und durch Liebe, 


900 
Darum find beide fo innig und ungertrennlich verknuͤpft; Sehn⸗ 660 
fucht nach. Ziebe, immer erfüllte und immer wieder ſich erneu⸗ 
ernde, wird ihm zugleich Religion. Den umfängt jeder am hei⸗ 
Beften, in dem die Welt fih am klarſten und reinften ihm abs 
fpiegelt; den liebt jeder am zärtlichfien, in dem er alles zufam- 
mengebrängt zu finden glaubt, was ihm felbft fehlt um bie 
Menichheit auszumachen, fo wie auch die frommen Gefühle 
jebem die heiligfien find, welche das Sein im ganzen der Menſch⸗ 
heit, fei ed als Seligkeit oder ald Bedürfniß, ihm ausbrüffen. 
Um alfo die herrfchenden Elemente der Religion zu finden, 
laßt uns in dieſes Gebiet hineintreten, wo auch Ihr in Eurer 
eigentlichften und liebften Heimath feid, wo Euer innerfled Leben 
Euch aufgeht, wo Ihr das Ziel alles Eured Strebens und Thuns 
vor Augen fehet, und zugleich das innere Treiben Eurer Kräfte 
fühlet,; welches Euch immerfort auf diefed Ziel zuführt. Die 
Menſchheit felbft iſt Euch eigentlich das Univerfum, und Ihr 
rechnet alles andere nur in fo fern zu diefem, als es mit jener 
in Beziehung kommt oder fie umgiebt. Ueber dieſen Gefichtds 
punkt will auch ih Euch nicht hinausführen; aber ed hat mic 
oft geichmerzt, daß Ihr bei” allem Intereffe an der Menfchheit 
und allem Eifer für fie doch immer mit ihr verwikkelt und uns 
eind feid, und die reine Liebe nicht recht heraußtreten kann in 
Euch. Ihr quält Euch, am ihr zu beffern und zu bilden, jeder 
nad feiner Weife, und am Ende laßt Ihr unmuthsvoll liegen, 
was zu feinem Ziele kommen will. Ich darf fagen, auch das 
kommt von Eurem Mangel an Religion. Auf die Menfchheit 
wollt Ihr wirken und die Menichen, die einzelnen, wählt Ihr 
Euch zur Betrachtung. Diefe mißfallen Euch hoͤchlich; und unter 
den taufend Urfachen, die das haben Bann, ift unftreitig die fchönfte 
und welche den befferen angehört die, daß Ihr gar zu moraliſch 
feid nach Eurer Art. Ihr nehmt die Menfchen einzeln, und fo 
habt Ihr auch ein Ideal von einem einzelnen,ebem aber niemand 
entfpricht. Dies alles zufammen ift ein Vertetted Beguuen, 


230 


und mit ber Religion werdet Ihe Euch weit beſſer befinben. 
87 Möchtet Ihr nur verfuchen bie Gegenſtaͤnde Eured Wirken und 
Eure Betrachtung zu wechſeln! Wirkt auf die einzelnen; aber 
mit Eurer Betrachtung hebt Euch auf den Flügeln ber Religion 
höher zu der unendlichen ungetheilten Menfchheit; nur fie fuchet 
in jedem einzelnen; feht dad Daſein eined jeden an ald eine Dfs 
fenbarung von ihr an Euch, und es fann von allem was Euch 
jezt druͤkkt Peine Spur zurüffbleiben. Ich wenigſtens ruͤhme 
mich auch einer fittlichen Geſinnung, auch ich verftehe menfchliche 
Bortrefflichkeit zu fchäzen, und ed kann das gemeine für ſich be⸗ 
teachtet mich mit dem unangenehmen: Befühl der Geringſchaͤzung 
beinahe uͤberfuͤllen; aber mir giebt die Religion von dem allen 
eine gar große und herrliche Anficht. Betrachtet nur den Genius 
der Menfchheit ald den vollendetften und alfeitigften Kuͤnſtler. 
Er kann nichtd machen was nidt ein eigenthümliches Daſein 
haͤtte. Auch wo er nur die Farben zu verſuchen und den Pinſel 
zu ſchaͤrfen ſcheint, entſtehen lebendige und bedeutende Zuͤge. Un⸗ 
zaͤhlige Geſtalten denkt er ſich fo und bildet fie. Millionen tra⸗ 
‚gen das Kaoſtum der Zeit und find treue Bilder ihrer Beduͤrf⸗ 
niffe und ihres Geſchmakks; in andern zeigen fi Erinnerungen 
ber Vorwelt oder Ahnungen einer fernen Zukunft. Einige find 
der erhabenfte und treffendfte Abdrukk des ſchoͤnſten und goͤttlich⸗ 
fien; andre find wie groteäfe Erzeugniffe der originelleften und 
flüchtigften Laune eines Meifters, Es ift wol cher eine unfromme 
Anfiht, wie man ed allgemein verfieht, und nicht genug verflans 
den die heiligen Worte, worauf man fie gründet, daß es Gefäße 
der Ehre gebe und Gefäße der Unehre, Nur wenn Ihr einzelnes 
mit einzelnem vergleicht, kann Euch ein folcher Gegenfaz erfcheis 
nen; aber einzeln müßt Ihr nichtd betrachten, erfreut Euch viel 
mehr eines jeden an der Stelle wo es fieht. Alles was zur 
gleich wahrgenommen werden kann und gleichlam auf einem 
Blatte flieht, gehoͤrt zu einem großen hiftorifchen Wilde, welches 
einen Moment der Gefammtwirkung des ganzen barftellt. Wollt 


231 


She dasjenige verachten, wad die Haupfgruppen hebt und dem _ 
ganzen Leben und Fülle giebt? Sollen nicht die einzelnen himm⸗ 
lifchen Geſtalten dadurch verherrlicht werben, dag taufend andere ss 
fih vor ihnen beugen, und dag man jieht wie alles auf fie hin⸗ 
blikkt und fih auf fie bezieht? Es ift in der That etwas 
mehr in diefer Darfielung, als ein ſchales Gleichniß. Die 
ewige Menfchheit ift unermüdet gefchäftig aus ihrem innern ges 
heimnißvollen Sein and Licht zu treten, und fich in der vorüber: 
gehenden Erfcheinung des endlihen Lebend aufs mannigfaltigfle 
barzuftelen. Das ift die Harmonie des Univerfum, das ift Die 
wunderbare und unvergleichliche Einheit jenes ewigen Kunftwer: 
ked; Ihr aber läftert; diefe Herrlichkeit mit Euren Forderungen 
einer jaͤmmerlichen Wereinzelung, weil Ihr im erfien Vorhofe der 
Moral, und aud bei ihr noch mit den Elementen befchäftigt, 
immer für Eure Einzelheit forgend und bei einzelnem Euch be: 
ruhigend die hohe. Religion verfhmähe. Euer Bebürfnig iſt 
deutlich genug angezeigt, möchtet Ihr ed nur erkennen und be: 
friedigen! Sucht unter allen den Begebenheiten, in denen fie 
jene himmlifche Ordnung abbildet, wie wol jeder feine Lieblinge: 
fielen bat in der Geſchichte, ob Euch nicht eine aufgehen wird 
als ein göttliches Zeichen, daß Ihr nämlich darin leichter erfennet 
wie lebendig in fi) und wie wichtig für das ganze auch das 
geringe fei, damit was ihr fonft kalt oder verachtend überfehet 
Euch mit Liebe anziehe. Der laßt Euch einen alten vermworfe: 
nen Begriff gefallen, und fucht unter allen den heiligen Mäns 
nern, in denen.die Menfchheit fich auf eine vorzügliche Weiſe 
offenbart, einen auf, der der Mittler fein könne zwifchen Eurer 
eingefhränkten Denkungsart und den ewigen Gefezen der Welt; 
und wenn Shr einen folchen gefunden habt, der auf die Euch 
verftändliche Art durch fein mittheilendes Dafein das. fchwache 
flärkt und das todte belebt, dann durchlauft die ganze Menfchheit, 
und laßt alles wad Euch biöher unerquikklich fchien und dürftig 
von dem Widerfchein diejes neuen Lichted erhellt werden. Was 


232 


wäre wol die einförmige Wiederholung eined höchften Ideals, 
wobei die Menfchen doch, Zeit und Umfiände abgerechnet, eigent: 
lich einerlei find, diefelbe Hormel nur mit andern Goefficienten 
wyerbunden, was märe fie gegen dieſe unendliche Verſchiedenheit 
menfchlicher Erfcheinungen? Nehmt welches Element der Menſch⸗ 
beit Ihr wollt, Ihr findet jedes in jedem möglichen Zuflande, 
faft von feiner Reinheit an — denn ganz foll diefe nirgends zu 
finde fein — in jeder Mifchung mit jedem andern,. bis faft zur 
innigften Sättigung mit allen übrigen — denn auch diefe ift ein 
unerreihbared Ertrem — und die Miſchung auf jedem möglichen 
Wege bereitet, jede Spielart und jede feltene Combination. Und 
wenn Ihr Euch noch Verbindungen denken könnt, die Ihr nicht 
fehet, fo ift auch diefe Luͤkke eine negative Offenbarung beö Unis 
verfum, eine Andeutung, daß in dem geforderten Grade in der 
gegenwärtigen Temperatur der Welt diefe Miſchung nicht mögs 
lich ift, und Eure Fantaſie darüber ift eine Ausficht über bie 
gegenwärtigen Grenzen ber Menfchheit hinaus, eine wahre höhere 
Eingebung, ſei fie nun ein Wiedererfcheinen entflohener Vergan⸗ 
genheit oder eine unmwilltürlibe und unbewußte - Weiffagung 
über das was fünftig fein wird. Aber fo wie dies, was der 
geforderten unendlichen Mannigfaltigkeit abzugeben Scheint, nicht 
wirklich ein zn wenig ifl, fo iſt auch das nicht zu viel, was Euch 
auf Eurem Standpunkt fo erfcheint. Senen fo oft beklagten 
Veberfluß an den gemeinften Formen der Menfchheit, die in taus 
fend Abdruͤkken immer unverändert wiederkehren, erkennt der aufs 
merkfamere fromme Sinn leicht für einen leeren Schein. Der 
ewige Verſtand befiehlt es, und auch der endliche kann es ein: 
ſehen, daß diejenigen Geftalten, an denen das einzelne am fchmer: 
flen zu unterfcheiden tft, am dichteflen an einander gedrängt fle 
ben müffen; aber jede hat etwas eigenthuͤmliches; keiner iſt dem 
andern gleich, und in dem Leben eines jeden giebt es irgend einen 
Moment, wie der Silberblikk unedlerer Metalle, wo er, fei es 
burch die 'innige Annäherung eined hoͤhern Weſens oder durch 


233 


irgend einen elektriichen Schlag, gleichfam aus fich heraus geho- 
ben und auf ben höchften Gipfel. desjenigen geftellt wird, was 
er fein kann. Für diefen Augenblikk war er geſchaffen, in die 
fem erreichte er feine Beflimmung, und nad ihm finft die er: 
ſchoͤpfte Lebenskraft wieder zuruͤkk. Es ift ein beneidenswerther su 
Genug, in bürftigen Seelen diefen Moment bervorzurufen, ja 
auch fie darin zu betrachten; aber wen dieſes nie geworden: ift, 
ben muß freilich ihr ganzes Dafein. überfläffig und verächtlich 
ſcheinen. So hat die Eriftenz eines jeden einen doppelten Sinn 
in Beziehung auf dad ganze. Hemme ich in Gedanken den 
Lauf jenes vafllofen Getriebes, wodurd alles menfchliche in eins 
ander verfhhlungen und von einander abhängig gemacht wird, 
fo--ift jedes Individuum feinem innern Wefen nach ein noth: 
wendiged Ergänzungsftüll zur volllommnen Anfchauung der 
Menichheit. Der eine zeigt mir, mie jedes obgeriffene Theilchen 
berfelben, wenn nur. der innere Bildungstrieb, der dad ganze 
befeelt, ruhig darin fortwirken kann, fich geflaltet in zarte und 
regelmäßige Formen; ber andere, wie aus Mangel an-belebender 
und vereinigender Wärme die Härte des irdifchen Stoffs nicht 
bezwungen werden kann, oder wie in einer zu heftig bewegten 
Atmofphäre der innerfte Geiſt in feinem Handeln geflört wird, 
daß alled unfcheinbar und unfenntlich ans Licht kommt; der eine 
erfcheint ald der rohe und thierifche Theil der Menfchheit nur 
eben von den erſten unbeholfenen Regungen der Humanität be: 
wegt, der andere ald ber reinſte dephlegmirte Geiſt, der von 
allem niedrigen und unmwürdigen getrennt nur mit leifem Zuß 
über der Erde ſchwebt; aber auch alle zwifchen diefen Endpunf. 
tem bezeichnen in irgend einer Hinſicht eine eigene Stufe und be: 
Funden eine eigene Art und Weife, wie in den abgefonderten 
Fleinen Erſcheinungen des einzelnen Lebens die verichiedenen Ele⸗ 
mente der menfchlichen Natur ſich ermweifen. Iſt es nun nicht 
genug,. wenn ed unter dieſer unzähligen Menge doch immer einige 
wenigftend giebt, die ald audgezeichnete und höhere Reyrbienten- 


234 


ten der. Menfchheit, der eine den, der andre jenen von den me 
lodiſchen Accorden anfchlagen, bie Beiner fremden Begleitung und 
keiner fpätern Auflöfung bedürfen, fondern Durch ihre innere Has 
monie bie ganze Seele in einem Ton entzuͤkken und zufrieden 
ftellen? Aber wie auch die edelften doch nar auf Eine Weife die 
oı Menfchheit darftellen, und in einem ihrer Momente: fo iſt auch 
von jenen andern jcder Doch in irgend einem Sinne daſſelbe, 
jeber eine eigene Darfielung der Menfchheit, und wo ein eim 
zelned Bild fehlte in diefem großen Gemälde, ‚müßten wit es 
aufgeben fie ganz und pollftändig- aufzunehmen in unfer Be 
wußtſein. Wenn nun jeder ſo weſentlich zuſammenhaͤngt mit 
dem was der innere Kern unſeres Lebens iſt, wie koͤnnen wis 
anders als dieſen Zuſammenhang fuͤhlen, und nit inniger Liebe 
und Zuneigung alle ſelbſt ohne Unterſchied der Gefinnung. und 
der Geifteöfraft umfaflen, und das ift der. eine Sinn, den jeder 
einzelne bat in Bezug. auf das ganze. Beobachte ich hingegen 
die ewigen Mäder der Menfchheit in ihrem Gange, fo muß auf 
der andern Seite dieſes unüberfehliche Ineinandergreifen, wo 
nichtö bewegliched ganz durch fich felbft bewegt wird, und. nich 
bewegendes nur-fich allein bewegt, mich mächtig. beruhigen übe 
Eure Klage, daß Vernunft und Seele, Sinnlichkeit. und Sitb 
lichkeit, Verſtand und blinde Kraft in fo getrennten Maflen x 
fcheinen. Warum ſeht Ihr alles einzeln, was doch micht einzels 
und fuͤr ſich wirkt? Die Vernunft der einen und das Gemuͤth 
der andern afficiren einander doch ſo innig, als es nur in einen 
und demſelben Subject geſchehen koͤnnte. Die Sittlichkeit, welche 
zu jener Sinnlichkeit gehoͤrt, iſt außer derſelben geſezt; iſt die 
Herrſchaft jener deswegen mehr beſchraͤnkt, und glaubt Ihr, dieſe 
würde beſſer regiert werden, wenn jene ohne ſich irgendwo ber, 
fonderd anzuhäufen jedem Individuo in Heinen kaum merkög 5 
ren Portionen zugetbeilt wäre? Die blinde. Kraft, welche dem 
großen Haufen zugetheilt ift, ift doch in ihren Wirkungen auf k 
das ganze nicht ſich felbft und einem rohen Dhngefähr überlaffen, Ik 


235 


fondern oft ohne ed zu wiffen leitet fie doch jener Verſtand, ben 
hr an andern Punkten in fo großer Mafle aufgehäuft findet, 
und eben fo unbewußt folgt fie ihm in unfichtbaren Banden, 
So verwifchen fich. mir auf meinem Standpunkt bie Euch fo 
beftimmt erfcheinenden Umriffe der Perfönlichkeit; ber. magifche 
Kreis herrfchender Meinungen und epidemiicher Gefühle umgiebt 
und umifpielt alled, wie eine mit auflöfenden und magnetifchen 02 
Kräften angefüllte Atmoſphaͤre; fie verfchmilzt und vereinigt alles, 
und fegt durch die lebendigſte Verbreitung auch das entferntefte 
in eine thätige Berührung, und die Ausflüffe derer, in denen 
| Licht und Wahrheit felbfifländig wohnen, trägt fie gefchäftig ums 
| per, daß fle einige durchdringen, und andern wenigftens bie Obers 
a fläche glänzend und täufchend erleuchten. In biefem Zuſammen⸗ 
A hang alled einzelnen mit der Sphäre ber es angehört und in 
Bilder ed Bedeutung hat, ift alles gut und göttlich, und eine Fülle 
von Freude und Ruhe dad Gefühl deſſen, der nur in-diefer gro 
ul gen Verbindung alled auf ſich wirken läßt. Aber aud dad Ges 
8 fühl wie die Betrachtung ifolirt dad einzelne in einzelnen Mo⸗ 
menten; und wenn wir jo auf eine ganz entgegengefezte Art bes 
wegt merden van dem gewöhnlichen Zreiben der Menfchen, bie 
won dieſer Abhängigkeit nichts willen, wie fie died und das ers 
greifen und fefihalten, um ihr Ich zu nerichanzen und mit mans 
herlet Außenwerken zu umgeben, damit fie ihr abgefondertes 
iM Daſein nach eigner Wilfür leiten mögen, ohne daß der ewige 
el Strom der Welt ihnen etwas daran zerrütte, und wie dann 
Löinothwendiger Weile dad Schikkſal died alles verſchwemmt und 
fie felbit auf taufend Arten verwundet und quält: was ift dann 
An ni als das herzlichſte Mitleid mit alem fchmerzlichen Lei: 











ben, welches aus diefem ungleichen Streit entfleht, und mit allen 
Streichen, melche die furchtbare Nemefid auf allen Seiten austheilt? 
u Von Hiefen Wanderungen durch bad ganze Gebiet der Menfch: 
6 heit Sehrt dann das fromme Gefühl gefchärfter und gebildeter 
ſo in das eigne Ich zuruͤkk, und findet zulest alles, was fonft aus 


236 ' 


den entlegenften Gegenden zufammenftrömend es erregte, bei fid 
felbft. Denn freilich wenn wir zuerft und noch neugemweiht von 
der Berührung mit der Welt zurüffehrend Acht haben, wie wir 
denn und felbft finden in diefem Gefühl, und danıt inne werben 
wie unfer Ich gegen ben ganzen Umfang der Menfchheit nicht 
nur ind Eleine und unbedeutende. fondern auch in dad einfeitige 
w in fich felbft unzulänglicye und nichtige verfchwinbet,: was kam 
dann bem fterblichen näher ‚liegen als wahre ungefünftelte Debs 
muth? Und wenn  allmählig erft lebendig und wach wird in 
unferm Gefühl, was eigentlich dasjenige ift was im Gange der 
Menfchheit überall aufrecht erhalten und gefördert wird, und 
was im’ Gegentheil daB was unvermeidlich früher ober fpätes 
befiegt und zerflört werden muß, wenn es ſich nicht umgeftalten 
und verwandeln läßt; und wir von biefem Gefez auf unfer eignes 
Handeln in der Welt hinfehen: was kann alddann natürliches 
fein, als zerknirfchende Reue über alles dasjenige in uns, wad 
dem Weſen der Menfchheit feind ifl, ald der dbemüthige Wunſch 
. die Gottheit zu verföhnen, als das fehnlichfte Verlangen ums: 
zufehren und uns mit allem was uns angehört in jenes heilige 
Gebiet zu retten, wo allein Sicherheit ift gegen Tod und Zen 
flörung. Und wenn wir wieder fortfchreitend wahrnehmen, wie 
und dad ganze nur hell: wird, und wir zur Anfchauung deſſelben 
und zum Einsfein mit ihm nur gelangen in der Gemeinfchaft mit 
andern, und durch den Einfluß ſolcher, welche von der Anhängs 
lichfeit an das eigene vergängliche Sein und dem Streben «0 
zu erweitern und zu iſoliren längft befreit, fich freuen ihr hoͤhe⸗ 
res Leben auch andern mitzutheilen: wie koͤnnen wir uns ba 
erwehren jened Gefühld einer befondern Verwandtſchaft mit bes 
nen, deren Handlungen unfre Eriftenz verfochten und durch bie 
Gefahren die ihr drohten fie gluͤkklich hindurch geführt haben? 
jened Gefuͤhls der Dankbarkeit, welches und antreibt fie zu ehren 
ald folche, die fich mit dem ganzen ſchon früher geeinigt haben, 
und fidy ihres Lebens in demfelben nun auch durch und bewußt 
| 


237 
find? — Nur durch diefe und dergleichen Gefühle hindurchgehend 
— denn nur beifpielöweile fei Died wenige angeführt — findet 
Ihr enblih in Euch ſelbſt nicht nur die Grundzüge zu dem 
fchönften und niedrigften, zu dem edelſten und verächtlichiten, . was 
Ihr ald einzelne Seiten der Menfchheit an andern wahrgenom- 
| men habt; entdekkt Ihr in Euch nicht nur zu verfchiedenen Zei⸗ 
ten alle die mannigfaltigen Grade menſchlicher Kräfte: ſondern d 
alle die unzähligen Mifchungen verfchiedener Anlagen, die Ihr 
in den Charakteren anderer angeichaut habt, erfcheinen Euch, 
wenn Ihr Euer Selbfigefühl ganz in Mitgefühl eintaucht, nur 
als feftgehaltene Momente Eured eigenen Lebens. Es gab Au: 
genbliffe, wo Ihr fo dadhtet, fo fühlte, fo handeltet, wo Ihr 
wirklich diefer und jener Menfch waret, troz aller Unterfchiede des 
Geſchlechts, der Bildung und ber äußeren Umgebungen. Ihr 
ſeid alle diefe verfchiebenen Geflalten in Eurer eignen Ordnung 
wirklich bindurchgegangen; Ihr felbft: feid ein Compendium ber 
Menfchheit, Euer einzelned Dafein umfaßt in einem gewiffen 
Sinn die ganze menfchlihe Natur, und diefe ift in allen ihrem 
Dorftelungen nichts ald Euer eigenes vervielfältigted, deutlicher 
ausgezeichnetes, und in allen feinen auch Eleinften und vorüber: 
u gehendſten Veränderungen gleichfam verewigted Ich. Alddann 
erft koͤnnt Ihr auch Euch ſelbſt mit der reinften. tabellofeften 
Liebe lieben, Eönnt der Demuth, die Euch nie verläßt, dad Ges 
fühl gegenüberfiellen, daß auch in Euch das ganze der Menſch⸗ 
beit lebt und wirkt, und koͤnnt felbft die Neue von aller Bitter: 
feit ausſuͤßen zu frendiger Selbſtgenuͤgſamkeit. Bei wen ſich 
die Religion fo ‚wiederum nach innen zurüßfgearbeitet und auch 
bort das unendliche gefunden hat, in dem ift fie von diefer Seite 
{tan er bedarf Feined Mittlerd mehr. für irgend eine Ans 
fhauung der Menfchheit, vielmehr wird er es felbft fein für viele. 
re Aber nicht.nur in dev Gegenwart fchwebt fo dad Gefühl 
in feinen Aeußerungen zwifchen der Welt und dem einzelnen 
dm es einwohnt, bald dem bald jener ſich näher annkaenn. 


238 


Sondern wie alled was uns bewegt ein werbenbed if, und aus 
wir felbft nicht anderd als fo bewegt werben und auffaflen: fi 
werben wir auch ald fühlende immer in die Vergangenheit zu 
rüffgetrieden; und man kann fagen, wie überhaupt unfere Froͤm 
migkeit fich mehr an ber Seite ded Geiſtes nährt, fo ift unmit 
telbar und zunächft die Gefchichte im eigentlichſten "Sinn bi 
reichſte Quelle für die Religion, nur nicht etwa um das Kor 
85 fehreiten der Menichheit in ihrer Entwikkelung zu befchlennige 
und 'zu regieren, fondern nur um fie ald die allgemeinfle um 
größte Dffenbarung bed innerften und heiligften .zu beobadıten. 
In diefem Sinne aber gewiß hebt Religion mit Gefchichte an, 
und endigt mit ihr — denn Weiffagung iſt in ihrem Sinn. auf 
Geſchichte, und beides gar nicht von einander zu unterſcheiden — ı 
ja alle wahre Gefchichte hat überall zuerft einen religiöfen Zweit 
gehabt, und ift von religiöfen Ideen ausgegangen; wie denn auch 
dad feine und zärtefte in ihr nie wiſſenſchaftlich mitgetheiltı 
fondern nur im Gefühl von “einem religiöfen Gemüth kann aufı | 
gefaßt werden. Ein foldhed erfennt die Wanderung der Geiſta 
‘und der Seelen, bie fonft nur eine zarte Dichtung fcheint, U 
mehr ald einem Sinn ald eine wundervolle Veranſtaltung de ı 
Univerfum, um bie verfchiebenen Perioden der Menfchheit nad | 
einem fihern Maaßſtabe zu: vergleichen. Bald kehrt nach einm| 
langen: Zwifchenraum, in welchem die Natur nichtd ähnliche | 
hervorbringen konnte, irgend ein ausgezeichnetes Individuum faf ı 
völlig daffelbe wieder zuruͤkk; aber nur die Geber erkennen ed, | 
und nur fie follen aus den Wirkungen, die es mun heeborbringt, ı 
die Zeichen verfchiedener Zeiten beurtheiln. Bald kommt einn 
einzelner Moment der Menfchheit ganz fo wieder, wie Euch cim 
ferne Vorzeit fein Bild zurüffgelaffen hat, und Ihr folk a 
den verfchiedenen Urſachen, durch bie er jezt erzeugt worden if, a 
den Gang der Entwikklung und die Formel ihres Geſezes erker : 
nen. Bald erwacht der Genius irgend einer. befondern menfd g 
lichen Anlage, der hie und da fleigend und fallend ſchon feine ı 


239 - 
Bauf vollendet hatte, wie aus dem Schlummer, und erfcheint 
an einem andern Ort und unter andern Umfländen in einem 
neuen Leben, und fein fchnellered Gedeihen, fein tiefered Wirken, 
feine ſchoͤnere Eräftigere Geſtalt fol anbeuten, um wie vieles das 
Klima der Menfchheit verbeffert und der Boden zum Nähren 
edlerer Gewaͤchſe geichißkter geworden fei.— Bier erfcheinen Euch 
Boͤlker und Generationen der fterblichen,. alle glei nothwendig 
für die Vollſtaͤndigkeit der Gefchichte, aber eben wie einzelne von 
dem verichiedenfien Werth neben einander beftehen muͤſſen, eben o6 
fo auch fie untereinander. verfchiedben an Bedeutſamkeit und 
Werd, Würdig und geiſtvoll einige und kräftig wirfend ins 
unendliche fort mit ihrer Wirkung jeden Raum durchdringend 
und jeder Zeit trogend. Gemein und unbedeutend andere, nur 
beſtimmt eine einzelne Form des Lebens oder der Bereinigung 
eigenthümlich zu nüanciren, nur in einem Moment wirklich lebend 
und merkwürdig, nur um einen Gedanken darzufiellen, einen 
Begriff zu erzeugen; und dann der Zerfiörung entgegen eilend, 
damit was ihr frifchefted Wachöthum hervorgebracht einem an: 
dern könne eingeimpft werden. Wie die vegetabilifche Natur 
durch den Untergang ganzer Gattungen und aus den Trümmern 
ganzer Pflanzengenerationen eine neue. hervorbringt und ernährt: 
fo ſeht Ihr bier auch die geiflige Natur aus den Muinen- einer 
herrlichen und fhönen Menfchenmwelt eine neue erzeugen, bie. aus 
den zeriezten und wunderbar umgeftalteten Elementen von jener 
ihre erſte Lebenskraft ſaugt. — Wenn bier in dem Ergriffenfein 
von einem allgemeinen Zufammenhange Euer Blikk fo oft un: 
mittelbar vom kleinſten zum größten und ‚von biefem wiederum 
zu jenem herumgeführt wird, und fich in lebendigen Schwin- 
gungen zwilchen beiden bewegt, biö er fhwindelnd weder großes 
noch Feined, weder Urfach noch Wirkung, weder Erhaltung noch 
Zerflörung weiter unterſcheiden kann; und bleibt Ihr in diefem 
Wechſel befangen, dann erfcheint Euch jene bekannte Geftalt eines 
ewigen Schikkſals, deffen Züge ganz dad Geyräge Veit Aulon- 


240 


des tragen, ein wunderbares Gemiſch von flarrem Eigenfinn 
tiefer_ Weisheit, - von roher fühllofer Gewalt Ind inniger ! 
wovon Euch bald das eine bald das andere wechfelrib er; 
und jet zu ohmmächtigem Troz, jezt zu Eindlicher Hinge 
einladet. Vergleicht Ihr tiefer dringend das abgejonderte 
diefen entgegengefegten Anfichten entfprungene Streben bes 
zeinen mit dem ruhigen und gleichförmigen Gang des ga 
fo feht Ihe wie ber hohe Weltgeift über alles lächelnd bin 
fchreitet, was fich ihm laͤrmend widerfezt; Ihr feht wie bie 
97 Nemefid feinen Schritten folgend unermübet die Erde durch 
wie fie Züctigung und Strafen den übermüthigen aust 
welche den Göttern entgegenftreben, und wie fie mit eif 
Hand aud den wakkerſten und trefflichſten abmaͤht, der 
vielleicht mit loͤblicher und bewunderungswerther Standhafti 
dem ſanften Hauch des großes Geiſtes nicht beugen ’w 
Moͤget Ihr endlich‘ den eigentlichen Charakter aller Veraͤnd 
gen und aller Fortfchritte der Menfchheit ergreifen: fo zeigt 
ficherer als alles Euer in der Gefchichte ruhendes Gefühl, 
lebendige Götter walten, weldye nichtd haſſen ald den Tod, 
nicht8 verfolgt und geflürzt werben fol als er, der erfte 
legte Feind des Geiſtes. Das rohe, dad barbarifche, das unf 
liche fol verfchlungen und in organiſche Bildung umgef 
werben. Michts fol todte Maſſe fein, die nur durch den Au; 
Stoß bewegt wird, und nur durch bewußtloſe Reibung n 
ſteht: alles ſoll eigenes zuſammengeſeztes, vielfach verſchlun⸗ 
und erhoͤhtes Leben ſein. Blinder Inſtinkt, gedankenloſe 
woͤhnung, todter Gehorſam, alles traͤge und leidentliche, alle 
traurigen Symptome des Todesſchlummers der Freiheit 
Menſchheit ſollen vernichtet werden. Dahin deutet das Gef 
des Augenblikks und der Jahrhunderte, das iſt das große ir 
fortgehende Erlöfungswerk der ewigen Liebe. 
Nur mit leichten Umriffen zwar habe ich hier einige 
bervorfiechenden Regungen der Religion aus dem Gebiet 


——— —— 


241 


Natur und der Menſchheit entworfen, aber doch habe ih Euch 
zugleich bis an die lezte Grenze Eures Gefichtskreifes geführt. 
Hier iſt das Ende und der Gipfel der Religion für alle, denen 
Menfchheit und Weltall gleichviel gilt; von hier Eönnte ich Euch 
nur wieder zurüßfführen ins einzelne und kleinere. Nur bedenkt 
daß ed in Eurem Gefühl etwas giebt, welches dieſe Grenze ver: 
fhmäht, vermöge deſſen es eigentlich hier nicht ftehen bleiben 
kann, fondern erft auf der andern Seite diefes Punktes recht ins 
unendliche hinausſchaut. Ich will nicht von den Ahndungen reden, 
die fih in Gedanken ausprägen und ſich Hügelnd begründen 
lafien, daß nämlich wenn die Menfchheit felbft ein bewegliches os 
und bildfames ift, wenn fie fih nicht nur im einzelnen anders 
darftelt, fondern auch bie und da anders wird, fie dann uns 
möglich das einzige und höchfle fein kann, was die Einheit des 
Geifte und der Materie darftelt. Vielmehr könne jie, eben wie 
die einzelnen Menfchen fich zu ihr verhalten, nur eine einzelne 
Form diefer Einheit darftellen, neben der ed noch andre ähnliche 
geben müfje, durch welche fie zum menigften doch innerlich um« 
grenzt, und denen fie alfo entgegengefezt wird. Aber in unferm 
Gefühl, und darauf will ih nur hinweifen, finden wir alle der⸗ 
gleichen. Denn unferm Leben ift auch eingeboren und aufges 
prägt der Erde, und alfo auch der höchften Einheit, welche fie 
erzeugt hat, Abhängigkeit von andern Welten. Daher diefe immer 
rege aber felten verfiandene Ahndung von einem andern auch er: 
fcheinenden und endlichen, aber außer und über der Menfchheit, 
von einer höheren und innigeren, fchönere Geftalten erzeugenden 
Vermählung des Geiſtes mit der Materie. Allein freilich wäre 
hier jeder Umriß den einer Eönnte zeichnen wollen fchon zu ber 
ſtimmt; jeder Widerfchein des Gefuͤhls kann nur flüchtig fein 
und lofe, und daher dem Mißverftand audgefezt und fo häufig 
für Thorheit und Aberglauben gehalten. Auch fei ed genug an 
dieſer Andeutung auf dasjenige, was Euch fo unendlidy fern 
liegt; jeded weitere Wort darüber wäre eine unverfländliche Arte, 
Sqhlelerm. @. 1. 1. Q | 


242 


A von ber ihr nicht wiffen würdet, woher fie fame noch wohin fie 
ginge. Hättet Ihr nur erſt die Religion, die Ihr haben könnt, 
und wäre Ihr Euch nur erft derjenigen bewußt, die Ihr wir 
lich ſchon Habt! denn in der That, wenn Ihr auch nur die wes 
nigen religiöfen Wahrnehmungen und Gefühle betrachtet, Die ich 
mit geringen Zügen jezt entworfen habe, fo werdet Ihr finden, 

daß fie Euch bei weiten nicht alle fremd find. Es ift wol eher 
etwas bergleihen in Euer Gemüth gefommen, aber ich weiß 
‚nicht, welched das größere Unglüßf if, ihrer ganz zu entbehren, 
oder fie nicht zu verftehen; denn auch fo verfehlen fie ganz ihre 
Wirkung, und hintergangen feid Ihr dabei auch von Euch felbft. 

9 Zweierlei möchte ih Euch befonderd zum Vorwurf machen in 
Abficht auf das dargeftellte, und was ihm fonft noch Ahnlicy if. 
Ihr fucht einiges aus und flempelt ed ald Religion ausſchließ⸗ 
lich, und anderes wollt Ihr ald unmittelbar zum fittliyen Hans | 
dein gehörig der Religion entziehn; beides wahrfcheinlicy aus 
gleihem Grunde Die Bergeltung welche alles trifft was 
dem Geift deö ganzen wiberfireben will, der überall thätige Haß 
gegen alled übermüthige und freche, das befländige Fortichreiten 
aller menſchlichen Dinge zu einem Biel, ein Fortichreiten, welches 
fo ficher ift, daß wir fogar jeden einzelnen Gedanken und. Ent 
wurf, der dad ganze bdiefem Ziele näher bringt, nach vielen ge 
fcheiterten Verſuchen dennoch endlich einmal gelingen fehen, des 
Gefuͤhls welches darauf hindeutet feid Ihr Euch bewußt, und 
möchtet e3 gern gereiniget von allen Mißbräuchen erhalten und 
verbreiten; aber dies, wollt Ihr denn, fol ausfchließend Religion 
fein; und dadurch wolt Ihr alles andre verdrängen, mas doch 
aus derfelben Handlungsweiſe ded Gemuͤths und völlig auf die: 
felbe Art entipringt. Wie feid Ihr doch zu diefen abgeriffenien 
Bruchſtuͤkken gekommen? Ich will e8 Euch fagen: Ihr haltet dies 
gar nicht für Religion, fondern für einen Widerfchein des fitt- 
lichen Handelns, und wollt nur den Namen unterfchieben, um 
der Religion ſelbſt, dem nämlich), was wir jezt gemeinfchaftlich 


— — rn. 


243 


dafuͤr halten, den lezten Stoß zu geben. Denn dieſes von uns 
fuͤr Religion erkannte entſteht uns gar nicht ausſchließend auf 
dem Gebiete der Sittlichkeit in dem engeren Sinne worin Ihr 
es nehmt. Das Gefuͤhl weiß nichts von einer ſolchen beſchraͤnk⸗ 
ten Vorliebe; und wenn ih Euch damit vorzuͤglich an dad Ge: 
biet des Geiftes felbft und an die Gefchichte verwielen: fo folgert 
mir nicht daraud, daß bie moraliihe Welt dad Univerfum ber 
Religion ſei; vielmehr was nur für diefe in Eurem befchränkten ' 
Sinne gilt, daraus würden ſich gar wenig religidfe Regungen 
entwifteln. In allem was zum menfchlihen Thun gehört, im 
Spiel wie im Ernft, im Eleinfien wie im größten, weiß der 
fromme die Handlungen des Weltgeiftes zu entdekken und wird 100 
dadurch erregt; was er hiezu bedarf, muß er überall wahrneh: 
men koͤnnen, denn nur dadurch wird ed das feinige; und fo fin 
det er auch hierin eine göttliche Nemefis, daß eben die, welche 
weil in ihnen feldft nur das fittliche oder vielmehr rechtliche vor 
berricht, auch aus der Religion einen unbedeutenden Anhang ber 
Moral madhen, und nur das aus ihr nehmen wollen, was ſich 
dazu geftalten läßt, ſich eben damit ihre Sittenlehre felbft, fo viel 
auch ſchon an. ihr gereinigt fein mag, unwiderbringlich verber 
ben, und den Keim neuer Jirthuͤmer hineinftreuen. Es klingt 
fehr fchön, wenn man beim fittlichen Handeln untergehe, fei es 
der Wille ded ewigen Weſens, und mad nicht durch und gefchehe 
werde ein andermal durch andere zu Stande fommen; aber auch 
diefer erhabene Zroft gehört nicht für das fittliche Handeln, fonft 
wäre e3 von dem Grade abhängig, in welchem jeder in jebem 
Augenblitf dieſes Troſtes empfänglich if. Gar nichtd darf das 
Handeln von Gefühl unmittelbar in ſich aufnehmen, ohne daß 
fogleich feine urfprüngliche Kraft und Reinigkeit getrübt werde. 
Auf die andere Weile treibt Ihr ed mit allen jenen Gefuͤh⸗ 
(en der Kiebe, der Demuth, der Freude und den andern die ich 
Euch gefchildert, und bei welchen fonft noch die Welt der eine, 
und auf irgend eine Art Euer eigned Ich der andre von ben 
Q2 


244 


Yunkten ift, zwifchen denen bad Gemüth ſchwebt. Die alten 
wußten wohl dad rechte; Froͤmmigkeit, Pietät, nannten fie alle 
diefe Gefühle, und rechneten fie unmittelbar zur Religion, deren 
ebelfter Theil fie ihnen waren. Auch Ihr Fennt fie, aber wenn 
Euch fo etwas begegnet, fo wollt Ihr Euch überreden, es fei 
ein unmittelbarer Beftandtheil Eures fittlihen Handelns, und 
aus fittlichen Grundfäzen möchtet ihr diefe Empfindungen recht: 
fertigen und auch in Eurem moralifchen Syſtem ihnen ihren 
Plaz anweiſen; allein vergeblih; denn wenn Ihr Euch treu 
bleiben wollt, werden fie dort weder begehrt noch gelitten. Denn 
dad Handeln fol nicht aus Erregungen der Liebe und Zunei: 
gung unmittelbar hervorgehn, fonft würde es ein unficheres und 
soı unbefonnenes, und ed fol nicht durch den augenblifflihen Ein: 
fluß eined äußeren Gegenftanded erzeugt fein, wie jene Gefühle 
es doch offenbar find. Deshalb erkennt, wenn fie fireng ift und 
. rein, Eure Sittenlehre Feine Ehrfurcht ald die vor ihrem Geſez; 
fie verdammt ald unrein ja faft als felbftfüchtig alles was aus 
Mitleid und Dankbarkeit gefchehen kann; fie demüthigt, ja ver: 
achtet die Demuth, und wenn Ihr von Reue fprecht, fo rebet 
fie von verlorner Zeit, die Ihr unmüz vermehrt. Auch muß Euer 
innerfted Gefühl ihr darin beipflichten, daß ed mit allen diefen 
Empfindungen nicht auf unmittelbares Handeln abgefehen  ift, 
fie kommen für ſich felbft und endigen in fich felbft als freie 
Verrichtungen Eures innerften und hoͤchſten Lebens 18). Mas 
windet Shr Euch alfo und bittet um Gnade für fie, da wo fie 
nicht hingehören? Lafjet ed Euch doch gefallen, fie dafür anzufes 
ben daß fie Religion find, fo braucht Ihr nichts für fie zu for: 
dern als ihr eigned ſtrenges Recht, und werdet Euch felbft nicht 
betrügen mit ungegründeten Anfprüchen, die Ihr in ihrem Na: 
men zu machen geneigt feid. Ueberall fonft wo Ihr diefen Ge: 
fühlen eine Stele anweifen wollt werden fie fich nicht halten 
koͤnnen; bringt fie der Religion zuruͤkk, ihr allein gehört dieſer 
Schaz, und ald Belizerin deffelben ift fie der Sittlichkeit und 


245 


allem andern, was ein Gegenfland des menfchlichen Thuns iſt, 
nicht Dienerin, aber unentbehrliche Freundin und ihre vollgültige 
Fürfprecherin und Vermittlerin bei der Menfchheit. Das ift die 
Stufe, auf welcher die Religion fteht, infofern fie der Inbegriff 
ift aller höhern Gefühle. Daß fie allein den Menfchen der Eins 
feitigfeit und Befchränttheit enthebe, habe ich ſchon einmal an- 
gedeutet; jezt kann ich ed näher erflären. In allem Handeln 
und Wirken, ed ſei fittlich oder Fünftlerifch, fol der Menſch nad 
Meifterfchaft fireben, und ale Meifterfchaft, wenn ber Menfch. 
ganz innerhalb ihres Gegenftandes feftgehalten ift, befchranft und 
erfältet, macht einfeitig und hart. Auf einen Punkt richtet fie 
zunächft dad Gemüth des Menfchen, und diefer eine Punkt kann 
ed nicht befriedigen. Kann der Menfch fortfchreitend von einem 
befchränkten Werk zum andern feine ganze Kraft wirklich ver: 10 
brauchen? oder wird nicht vielmehr der größere Theil derſelben 
unbenuzt liegen, und fich deshalb gegen ihn felbft wenden und 
ihn verzehren? Wie viele von Euch gehen nur deshalb zu Grunde, 
weil fie füch felbft zu groß find; ein Ueberfluß an Kraft und“ 
Zrieb, der fie nicht einmal zu einem Werk kommen läßt, weil boch 
keines ihm angemeſſen wäre, treibt fie unftät umher und ift ihr 
Berderben. Wollt Ihr etwa auch dieſem Uebel wieder fo fleus 
ven, daß der, welchem einer zu groß ift, alle Gegenflände bes 
menfchlichen Strebend, Kunft Wiffenfhaft und Leben, oder wenn 
Ihr deren noch mehr wißt auch dieſe, vereinigen fol? Das wäre 
freilich Euer alted Begehren, die Menfchheit überall ganz zu ba: 
ben, und auf einem Punkt wie auf dem andern, Eure Gleich: 
heitöfucht die immer wiederkehrt — aber wenn ed nur möglich 
wäre! wenn nur nicht jene Gegenftände, fobald fie einzeln ine 
Auge gefaßt werden, fo fehr auf gleiche Weile dad Gemüth ans 
regten und zu beberrfchen frebten! Jede diefer Richtungen geht 
auf Werke aus, welche vollendet werden follen, jede bat ein 
Ideal dem nachzubilden iſt, und eine Zotalität, welche umfaßt 
werden fol, und diefe Rivalität mehrerer Gegenftände kann nicht 


246 


anders endigen, als daß einer den andern verbrängt. Ja auch 
innerhalb jeder folchen Sphäre muß fich jeder um fo mehr auf 
ein einzelnes befchränfen, zu je trefflicherer Meifterfchaft er gelan: 
gen wil. Wenn nun diefe ihm ganz befchäftigt, und er nur in 
biefer Production lebt, wie fol er zu feinem vollftändigen Antheil 
an der Welt gelangen, und fein Leben ein ganzed werden? baher 
bie Einſeitigkeit und Dürftigkeit der meiften Virtuofen, oder auch 
daß fie außerhalb ihrer Sphäre in eine niedere Art des Dafeind 
verfunfen find. Und fein andered Heilmittel giebt ed für diefes 
Uebel, als daß jeder, indem er auf einem endlichen Gebiet auf 
eine beftimmte Weife thätig ift, fich zugleich ohne beſtimmte Thaͤ⸗ 
tigkeit vom unendlichen afficiren laffe, und in jeder Gattung re: 
ligiöfer Gefühle alles deffen, was außerhalb des von ihm unmit: 
103 telbar angebauten Gebietes liegt, inne werde. Sedem liegt dies 
nahe; denn welchen Gegenftand Eures freien und Funftmäßigen 
Handelns Ihr auc gewählt habt, ed gehört nur wenig Sinn 
dazu, um von jedem aus das Univerfum zu finden, und in Die 
ſem entdekkt Ihr dann auch die übrigen ald Gebot oder ald Eins 
‚gebung oder ald Offenbarung defjelben. So im ganzen fie aufs 
faffen und genießen, das ift die einzige Art wie Ihr Euch bei 
einer ſchon gewählten Richtung des Gemuͤths auch dad was 
außer derfelben liegt aneignen könnt, nicht wiederum aus Wil: 
tür als Kunft, fondern aus Inſtinkt für dad Univerfum als 
Religion; und weil fie auch in der religiöfen Form wieder riva⸗ 
lifiren, fo erfcheint auch die Religion, und das freilich ift menſch⸗ 
liche Mangelhaftigkeit, öfter vereinzelt in der Geftalt eigenthuͤm⸗ 
licher Empfänglicykeit und Geſchmakks für Kunft Philofophie 
oder Sittlichkeit, und eben daher oft verkannt; öfter, fage ich, 
erfcheint fie fo ald wir fie von aller Zheilnahme an der Einfeis 
tigkeit befreit finden, in ihrer ganzen Geftalt vollendet und alles 
vereinigend. Das hoͤchſte aber bleibt dieſes leztere, und nur fo 
fezt der Menfch mit ganzem und befriedigendem Erfolge dem 
endlichen, wozu er befonderd und beſchraͤnkend beſtimmt iſt, ein 


247 


unendliches, bem zufammenziehenden Streben nach etwas beſtimm 

- ten und vollendeten das erweiternde Schweben im ganzen ung$ - 
unerfchöpflichen an die. Seite; fo ftellt er dad Gleichgewicht und 

die Harmonie feines Weſens wieder her, welche unwiederbring⸗ 
lich verloren geht, wenn er ſich, ohne zugleich Religion zu haben, , 
irgend einer einzelnen Richtung, und wäre es die fchönfte und 
berrlichfte, überläßt. Der beflimmte Beruf eines Menſchen ift 
nur gleichlam die Melodie feines Lebens, und es bleibt bei einer 
einfachen dürftigen Reihe von Zönen, wenn nicht die Religion 
jene in unendlich reicher Abwechfelung begleitet mit allen Tönen, Fu 
die ihr nur nicht ganz widerfireben, und fo den einfachen Gefang 
zu einer volflimmigen und prächtigen Harmonie erhebt. 

Wenn nun dad, was ich hoffentlich für Euch alle verfländ: 
lich genug angedeutet habe, eigentlich das Weſen der Religion ıus 
ausmacht, fo. ift die Frage, wohin denn jene Dogmen und Lehr 
fäze, die vielen für dad innere Wefen der Religion gelten, eigents 
lich ‚gehören, und wie fie fich zu biefem . wefentlichen verhalten, 
nicht fchwer zu beantworten; oder vielmehr ich habe fie Euch 
fehon oben beantwortet. Denn alle diefe Säze find nichtd andes 
red ald dad Mefultat jener Betrachtung des Gefühld, jener ver: 
gleichenden Reflexion darüber, von welcher wir ſchon gerebet | 
haben. Und die Begriffe, welche diefen Sägen zum Gründe 
liegen, find, wie ſich dad mit Euren Erfahrungäbegriffen Bin . 
falls ſo verhaͤlt, nichts anderes als fuͤr ein beſtimmtes Gefuͤhl J 
der gemeinſchaftliche Ausdrukk, deſſen aber die Religion für ſich 
nicht bedarf, kaum um fich mitzutheilen, aber die Neflerion bes 
darf und erfchafft ihn. Wunder, Eingebungen, DOffenbarungen, 
übernatürlihe Empfindungen. — man Tann viel Froͤmmigkeit 
haben, obne irgend eines diefer Begriffe benöthiget zu fein — 
aber wer über feine Religion vergleichend reflectirt, der findet 
fie unvermeidlich auf feinem Wege und kann fie unmöglich ums 
gehen. In diefem Sinn gehören allerdings alle dieſe Begriffe 
in dad Gebiet der Religion, und zwar unbedingt, ohne daß man 


248 


über die Grenzen ihrer Anwendung das geringfte beflimmen bürfte, 

- Das Streiten, welche Begebenheit eigentlich ein Wunder fei, und. 
worin bey, Charakter eines ſolchen eigentlich beftehe, wie viel 
Dffenbarung es wol gebe, und wiefern und warum man eigents 
uch daran glauben duͤrfe, und das offenbare Beſtreben, ſo viel 
Bi mit Anftand und Ruͤkkſicht thun lößt, davon abzuläugnen 
und auf die Seite zu fchaffen, in der thörichten Meinung .der 
Philofophie und der Vernunft. einen Dienfl damit zu leiften, das 

ift eine von den kindiſchen Operationen_ der Metaphyfiter und 

DR Moraliften in der Religion. Sie werfen alle Gefichispunfte unter 
einander und bringen bie Religion in das Geſchrei, ald ob fie 
der allgemeinen Gültigkeit wiſſenſchaftlicher und phyſiſcher Urtheile 

zu nahe trete. Sch bitte, laßt Euch nicht durch ihr fophiftifches 
Diöputiren oder, denn auch das mag es bisweilen fein, durch 
ihr feheinheiliges Verbergen dejenigen, was fie gar zu gern und 
os machen möchten, zum Nachtheil der Religion verwirren. Diefe 
läßt Euch, fo laut fie auch alle jene verfchriene Begriffe zuruͤkk⸗ 
fordert, Eure Phyſik, und fo Gott will, auch Eure Pſychologie 
unangetaftet. Was ift denn ein Wunder? Wißt Ihr etwa nicht, 
daß, was wir fo nennen im religiöfen Sinn; fonft überall ſoviel 
beißt ald Zeichen, Andeutung, und daß unfer Name, der ledig: 
lih den Gemüthszuftand ded fchauenden trifft, nur in fofern 
ſchikklich iſt, als ja freilich, was ein Zeichen fein fol, zumal wenn 
es noch irgend etwas anderes ift, fo muß geartet fein, daß man 
auch darauf und auf feine begeichnende Kraft merken wird. Jedes 
" endliche ift aber in diefem Sinne ein Zeichen des unendlichen; 
und fo befagen alle jene Ausdrüffe nichts als die unmittelbare 
Beziehung einer Erfcheinung auf das unendlihe und ganze; 
fchließet da8 aber aus, daß nicht jede eine eben fo unmittelbare 
Beziehung aufs endlihe und auf die Natur babe? Wunder ift 
nur der religiöfe Name für Begebenheit: jede, auch die aller: 
natürlichfte und gewöhntichfte, fobald fie fich dazu eignet daß die 
religiöfe Anjicht von ihr die herrfchende fein Tann, ift ein Wun⸗ 


249 


der. Mir ift alles Wunder; und in Eurem Sinn ifl mir 
nur dad ein Wunder, nämlich etwas unerklärliches und frems 
des, was Feines ift in meinem. Se religiöfer Ihr wäret, deſto 
mehr Wunder würdet Shr überall fehen, und jedes Streiten hin 
und ber über einzelne Begebenheiten, ob fie fo zu heißen ver: 
dienen, giebt mir nur den fchmerzhaften Eindrukk wie arm und 
dürftig der religiöfe Sinn der fireitenden if. Die einen beweis 
fen diefen Mangel dadurch, daß fie überall proteſtiren gegen 
Wunder, durch welche Proteftation fie nur zeigen daß fie von 
der unmittelbaren Beziehung auf das unendliche und auf die 
Gottheit nichtö fehen wollen; die andern bemeifen denfelben Manz 
gel dadurch, daß ed ihnen auf diefed und jened befonderd ans 
fommt, und daß eine Erfcheinung grade wunderlich geflaitet 
fein muß um ihnen ein Wunder zu fein, womit fie nur beur- 
kunden daß fie eben fchlecht aufmerten 10). — Was heißt Of: 
fenbarung? Jede urfprünglihe und neue Mittheilung des Welt: 106 
alls und feines innerften Lebens an den Menfchen ift eine, und 
fo würde jeder folhe Moment, auf welchen ich oben gedeutet, 
‚ I wenn Ihr Euch feiner bewußt würdet, eine Offenbarung fein; 
I A nun aber ift jede Anfchauung und jedes Gefühl, wo fie fih urs 
: 1 fprünglich aud einem folchen entwikkeln, aus einer Offenbarung 
ı $ hervorgegangen, die wir freilich als eine folche nicht vorzeigen 
t | können, weil fie jenfeit des Bewußtſeins liegt, die wir aber doch 
ı | nicht nur vorauöfezen müflen im allgemeinen, fondern auch im 
5 I befondern muß ja jeder wol am beiten wiſſen, was ihm ein wie: 
derholted und anderwärtd ber erfahrenes iff, oder was urfprüng» 
lich und neu, und wenn von dem lezteren etwas fich in Eudy 
noch nicht eben fo erzeugt hatte, fo wird feine Offenbarung aud 
für Euch eine, und id will Euch rathen fie wohl zu erwägen. — 
Was heißt Eingebung? Es ift nur der allgemeine Ausdrukk für 
dad Gefühl der wahren Sittlichleit und Zreiheit, nämlich, ver 
fteht mich wohl, nicht jener wunderlichen vielgepriefenen, welche 
fe : nur verfieht dad Handeln mit Ueberlegungen hin und her zu 


nr mn“ 


250 


begleiten und zu verzieren, fondern für jenes Gefühl, daß das 
Handeln troz aller oder ohnetachtet aller äußeren Beranlaffung 
aud dem inneren ded Menfchen hervorgeht. Denn in dem Maag, 
als ed der weltlichen Verwikkelung entriffen wird, wird es ald 
ein göttliched gefühlt, und auf Gott zusüßfgeführt. — Was ifl 
MWeiffagung? Jedes religioͤſe Vorausbilden der andern Hälfte 
einer religiöfen Begebenheit, wenn die eine gegeben war, ifl 
Weiffagung, und ed war fehr religiöd® von den alten Hebräern, 
die Göttlichkeit eined Propheten nicht danach abzumefjen, wie 
ſchwer dad Weiffagen war, oder wie groß der Gegenfland, fon 
dern ganz einfältig nad) dem Audgang; denn eher kann man 
aus dem einzelnen nicht wiffen wie vollendet das Gefühl ſich in 
jedem gebildet hat, bis man fieht ob er die religiöfe Anficht 
grade dieſes beflimmten Verhaͤltniſſes, welches ihn bewegte, auch 
richtig gefaßt hat. — Was heißt Gnadenwirkung 17)? Nichte 
107 anderes ift dies offenbar, als ber gemeinfchaftliche Ausdrukk für 
Offenbarung und Eingebung, für jenes Spiel zwifhen dem Hin⸗ 
eingehen der Welt in den Menfchen durch Anfchauung und Ge— 
fühl und dem Eintreten des Menfchen in die Welt durch Handeln 


und Bildung, beides in feiner Urfprünglichkeit und feinem göttlichen 


Charakter, fo daß das ganze Leben des frommen nur Eine Reihe 
vor Gnadenwirkungen bildet. Ihr feht, alle diefe Begriffe find, 
infofern al3 die Religion der Begriffe bedarf ‘oder fie aufnehmen 
kann, die erfi.n und weſentlichſten; fie bezeichnen auf die eigens 
thbümlichfte Art das Bewußtſein eined Menfchen von feiner Re 
ligion; weil fie grade dasjenige bezeichnen, was nothmwendig und 
allgemein fein muß in ihr. Sa, wer nicht eigene Wunder fieht 
auf feinem Standpunkt zur Betrachtung der Welt, in weflen 
innern nicht eigene Offenbarungen auffteigen, wenn feine Seele 
fih fehnt die Schönheit der Welt einzufaugen und von ihrem 
Geiſte durchdrungen zu werden; wer nicht in den bebeutendflen 
Augenblikken mit der lebendigften Ueberzeugung fühlt, daß ein 
göttlicher Geift ihn treibt und”daß er aus heiliger Eingebung 


| 


151 - 


—W 


redet und handelt; wer ſich nicht wenigſtens — denn noch ge⸗ 
ringeres koͤnnte in der That nur fuͤr gar nichts gehalten werden 
— feiner Gefühle als unmittelbarer Einwirkungen des Weltalls 
bewußt iſt, dabei aber doch etwas eigenes in ihnen kennt, was 
nicht nachgebildet ſein kann, ſondern ihren reinen Urſprung aus 
ſeinem innerſten verbuͤrgt, der hat keine Religion. Aber in dieſem 
Beſiz ſich zu wiſſen, das iſt der wahre Glaube; glauben hin⸗ 
gegen, was man gemeinhin ſo nennt, annehmen was ein ande⸗ 
rer geſagt oder gethan hat, nachdenken und nachfuͤhlen wollen, 
was ein anderer gedacht und gefuͤhlt hat, iſt ein harter und un⸗ 
wuͤrdiger Dienſt, und ſtatt das hoͤchſte in der Religion zu ſein, 
wie man waͤhnt, muß er gerade abgelegt werden von jedem der 
in ihr Heiligthum dringen will. Einen ſolchen nachbetenden 
Glauben haben und behalten wollen, beweiſet daß man der Res 
ligion unfähig iflz ihn von andern fordern, zeigt dag man fie 
nicht verfteht. Ihr wollt überall auf Euren eignen Füßen fie 


ben und Euern eignen Weg gehn, und diefer würdige Wille ıus 
ſchrekke Euch nicht zuruͤkk von der Religion. Sie ift fein Sklas 


vendienſt und feine Gefangenſchaft, am wenigften für Eure Vers 
nunft, fondern auch bier follt Ihr Euch felbit angehören, ja dies 
ift fogar eine unerlaßlihe Bedingung um ihrer theilhaftig zu 
werden. Jeder Menſch, wenige auderwählte ausgenommen, bes 
darf allerdings eines leitenden und aufregenden Anführerd, der 
feinen Sinn für Religion aus dem erften Schlummer wekke und 
ihm feine erfie Richtung gebe; aber dies gebt Ihr ja zu für alle 
andern Kräfte und Berrichtungen der nienfchlichen Seele, warum 
nicht auch für diefe? Und, zu Eurer Beruhigung fei ed geſagt, 
wenn irgendwo, fo vorzüglich hier fol diefe Wormundfchaft nur 


ein vorübergehender Zuſtand fein; mit eignen Augen fol dann’ 


jeder fehen und felbft einen Beitrag zu Tage fördern zu den 
Schäzen der Religion, fonft verdient er feinen Pla; in ihrem 
Reich, und erhält auch Beinen. Ihr habt Recht die bürftigen 


Nachbeter gering zu achten, die ihre-Religion ganz von einem 


252 


andern ableiten, oder an einer todten Schrift hängen, auf biele 
ſchwoͤren und aus ihr beweiſen. Jede heilige Schrift iſt an fi 
ein herrliches Erzeugniß, ein redendes Denkmal aus der heroiſchen 
Zeit der Religion; aber durch knechtiſche Verehrung wird ſte nur 
ein Mauſoleum, ein Denkmal daß ein großer Geiſt da war, 
der nicht mehr da iſt; denn wenn er noch lebte und wirkte, ſo 
wuͤrde er mehr mit Liebe und mit dem Gefuͤhl der Gleichheit auf 
fein fruͤheres Merk ſehen, welches doc immer nur ein ſchwacher 
Abdrukk von ihm ſein kann. Nicht jeder hat Religion, der an 
eine heilige Schrift glaubt, ſondern nur der, welcher ſie lebendig 
und unmittelbar verſteht, und ihrer daher für fich allein auch am 
leichteften entbehren koͤnnte. 

Eben diefe Eure Verachtung nun gegen die armfeligen und 
kraftlofen Werehrer der Religion, in denen fie aus Mangel an 
Nahrung vor der Geburt ſchon geftorben ift, eben dieſe beweifet 
mir, bag in Euch felbft eine Anlage ift zur Religion, und bie 
Achtung die Ihr allen ihren wahren Helden für ihre Perfon 
immer erzeiget, — denn die auch diefe nur mit flahem Spotte 
“109 behandeln und dad große und Fräftige in ihnen nicht anerkennen, 
vechne ich Faum noch zu Euch, — dieſe Achtung der Perfonen 
beftätigt mich in dem Gedanken, bag Eure Verachtung der Sache 
nur auf Mißverfiand beruht, und nur die kuͤmmerliche Geftalt 
zum Gegenftand hat, welche die Religion bei der großen unfäs 
bigen Menge annimmt, und den Mißbrauch, welchen anmaßende 
Leiter bamit treiben. — Ich habe Euch darum nun nach Ber: 
mögen gezeigt, was eigentlich Religion iſt; habt Ihr irgend etwas 
darin gefunden, was Eurer und der höchften menfchlichen Bil⸗ 
dung unwuͤrdig wäre? Müßt nicht vielmehr Ihr Euch um fo 
mehr nach jener allgemeinen Verbindung mit der Welt fehnen, 
welche nur durch dad Gefühl möglich ift, je mehr eben Ihr am 
meiften durch die beftimmte Bildung und Individualität in ihm 
geſondert und ifolirt feid? und habt Ihr nicht oft diefe beilige 
Sehnſucht ald etwas unbekanntes gefühlt? Werdet Euch doch, 


253 


ich befchwöre Euch, des Rufs Eurer innerften Natur bewußt, 
und folget ihm. Verbannet die falfche Schaam vor einem Zeit: 
alter, welches -nicht Euch beflimmen, fondern von Euch beflimmt 
und gemacht werden fol! Kehret zu demjenigen zuruͤkk, was 
Euch, gerade Euch, fo nahe liegt, und movon bie gemwaltiame 
Trennung doch unfehlbar den [chönften Theil Eures Dafeins zerftört. 

Es fcheint mir aber ald ob viele unter Euch nicht glaub: 
ten, daß ich mein gegenwärtiges Gefchäft hier koͤnne endigen 
wollen, und daß ich gründlich könne vom Wefen der Religion 
geredet zu haben glauben, da ich von der Unfterblichfeit gar nicht, 
und von Gott nur wie im Vorbeigehen weniged gefprochen, 
fondern ganz vorzüglich müßte mir ja wol obliegen von dieſen 
beiden zu reden, und Euch vorzuhbälten wie unfelig Ihr wäret, 
wenn Ihr etwa auch biefed nicht glaubtet, weil ja für die mei: 
ten frommen bdiefes beides die Angel und Hauptſtuͤkke der Re 
ligion fein ſollen. Allein ich bin über beides nicht Eurer Mei: 
nung. Nämlich zuerft glaube ich. keinesweges von ber Unſterb⸗ 
Kichkeit gar nicht und von Gott nur fo weniged. geredet zu haben; 
Tondern daß beides in allem und jedem geweſen ift, glaube ich, 
was ih Euch nur ald Element der Religion aufgeftelt habe, 
und daß ich von allem nichtd hätte fagen koͤnnen was ich ges 
ſagt babe, wenn ich nicht Gort und Unfterblichfeit immer zum 
voraus gefezt hätte, wie denn auch nur göttliche und unfterb 
ched Raum haben kann, wo von Religion geredet wird. Und 
eben fo wenig duͤnken mich zweitens die Necht zu haben, welche 
fo, wie beides gewöhnlich genommen wird, die Vorftelungen und 
Lehren von Gott und Unfterblichkeit für die Hauptfache in ber 
Meligion halten. Denn zur Religion kann von beiden nur ge: 
Hören was Gefühl iſt, und unmittelbared Bewußtſein; Gott 
aber und Unfterblichkeit, wie fie in folchen Lehren vorkommen, 
ind Begriffe, wie benn viele ja wol die meiften unter Euch 
Yon beiden oder wenigfiens von einem glauben feft überzeugt zu 
ein, ohne daß Ihr deöhalb fromm fein müßtet oder Religion 


0 


254 


baben — und als Begriffe können alfo auch diefe Feinen größe 
ven Werth haben in der Religion, als welcher Begriffen übers 
haupt, wie ich Euch gezeigt habe, darin zufommmt. Damit Ihr 
aber nicht denket, ich fürchte mich ein ordentliches Wort über 
diefen Gegenfland zu fagen, weil es gefährlich werden will da— 
von zu reden, bevor eine zu Recht und Gerjcht beſtaͤndige Def: 
nition von Gott und Dafein and Kicht geſtellt und im deut⸗ 
chen Reich als gut und tauglich allgemein angenommen worden 
ift; oder damit Ihr nicht auf der andern Seite vielleicht glaubt, 
ich fpiele mit Euch einen frommen Betrug, und wolle, um allen 
alles zu werden, mit fcheinbarer Gleichgültigkeit dasjenige herabs 
fegen, was für mich von ungleich größerer Wichtigkeit fein müffe 
als ich geftehen will; fo will ih Euch ‚gern auch hierüber Rebe 
fiehen, und Euch deutlich zu machen fuchen, daß es fich nach meis 
ner beften Ueberzeugung wirklich fo verhält wie ich jezt eben bes 
hauptet habe. - 

Zuerft erinnert Euch, daß und jeded Gefühl nur in fo fern 
für eine Regung ber Frömmigkeit galt, ald in bemfelben nicht 
irgend ein einzelned als folches,. fondern in und mit diefem das 

1u ganze als die Dffenbarung Gottes und berührt, und alfo nicht 
einzelnes und endliched, fondern eben Gott, in welchem ja allein 
auch das befondere ein und alled ift, in unfer Leben eingeht, umd 
fo auch in und felbft nicht etwa dieſe oder jene einzelne Function, 
fondern unfer ganzes Wefen, wie wir bamit der Welt gegenüber 
treten und zugleich in ihr find, alfo unmittelbar dad göttliche in 
uns, durch dad Gefühl erregt wird und heroortritt 1%). . Wie 
koͤnnte alfo jemand fagen, ich habe Euch eine Religion gefchildert 
ohne Gott, da ich ja nichtd anders dargeftellt ald eben dad um 
mittelbare und urfprüngliche Sein Gotted in und durch dad Gefühl, 
Oder ift nicht Gott die einzige und höchfte Einheit? Iſt ed nicht 
Gott allein, vor dem und in dem alles einzelne verfchwindet? Und 
wenn Ihr die Welt ald ein ganzed und eine Allheit ſeht, koͤnnt 
Ihr dies anderd als in Gott? Sonft fagt mir doc irgend etwal 


255 


anderes, wenn es biefed nicht fein fol, wodurch ſich das höchfte 
Weſen, dad urfprüngliche -und ewige Sein unterfcheiden fol von 
bem einzelnen: zeitlichen und abgeleiteten. Aber auf eine andere 
reife ald durch dieſe Erregungen, welche die Welt in uns 
bervorbringt, maßen wir und nicht an Gott zu haben im 
Gefühl, und darum ift nicht anders - ald fo von ihm geredet 
worden. Wollt Ihr daher dieſes nicht gelten lafien als ein 
Bewußtſein von Gott, als ein Haben Gottes: fo kann ich 
Euch weiter nicht belehren oder bedeuten, fondern nur fagen, 
daß wer diefed läugnet, über deffen Erkennen, wie ed damit fleht, 
will ich nicht aburtheilen, denn ed kommt mir hier nicht zu, aber 
in feinem Gefühl und feiner Empfindungsart betrachtet, wird. ein 
folder mir gottlos fein. Denn der Wiſſenſchaft wird freilich 
auch nachgeruͤhmt, ed gebe in ihr ein unmittelbared Wiſſen um 
Gott, welches die Quelle ift alles andern, nur wir fprachen jezt 
nicht von der Wiffenfchaft fondern von der Religion. Jene Art 
aber von Gott etwad zu wiſſen, deren fich die meiften rühmen 
und die ich Euch auch anrühmen follte, ift weder die Idee Got: 
tes, die Ihr an die Spize alles Wiſſens ſtellt ald die unges 
fhiedene Einheit aus der alles hervorquillt und aus der alles 
Sein ſich ableitet, noch ift fie dad Gefühl von Gott, deſſen wir 
und rühmen in unferm innen; und wie fie gewiß hinter den un 
Forderungen der Wiffenfchaft weit zuruͤkkbleibt, fo ift fie auch für 
die Frömmigkeit etwas gar untergeorbneted, weil fie nur ein Ber 
griff iſt. Ein Begriff, aus Merkmalen zufammengefest, die jie 
Botred Eigenfchaften nennen, und die fämmtlich nichtd anders 
ind ald das Auffaffen und Sondern der verfchiedenen Arten wie 
m Gefühle die Einheit ded einzelnen und des ganzen fich aus: 
pricht. Denn daß grade auf diefe Weile die einzelnen Eigen: 
haften Gottes den einzelnen oben aufgeftelten und andern aͤhn⸗ 
hen bier aber übergangenen Gefühlen entiprechen, dies wird 
jemand läugnen. Daher kann ich ſchon nicht anders als auf 
iefen Begriff auch anwenden, was ich im allgemeinen- von Be 


256 


griffen in Beziehung auf die Religion gefagt, daß nämlich viel 
Frömmigkeit fein kann ohne fie, und daß fie fich erft bilden, 
wenn diefe felbft wieder ein Gegenitand wird, den man in Be 
trachtung zieht. Nur daß ed mit dieſem Begriff von Gott, wie 
er gewöhnlich gebacht wird, nicht diefelbe Bewandtnig hat, wie 
mit den andern oben angeführten Begriffen; weil er nämlich der 
höchfte fein und über allen fiehen will, und doc felbft, indem 
Gott und zu ähnlich gedacht wird, und als ein perfönlich dem 
kendes und wollended, in dad Gebiet des Gegenfazed berabgezo 
gen wird. Daher ed auch natürlich fcheint, daß, je. menfchen: 
ähnlicher Gott im Begriff dargeftelt wird, um fo leichter fi 
eine andere Vorſtellungsart diefer gegenüberftellt, ein Begriff des 
hoͤchſten Weſens nicht als perſoͤnlich denkend und wollend, fon- 
dern als die über ale Perſoͤnlichkeit hinausgeſtellte allgemeine 
alles Denken und Sein hervorbringende und verknuͤpfende Noth⸗ 
wendigkeit. Und nichts ſcheint ſich weniger zu ziemen, als wenn 
die Anhaͤnger des einen die, welche von der Menſchenaͤhnlichkeit 
abgeſchrekkt, ihre Zuflucht zu dem andern nehmen, beſchuldigen 
ſie ſeien gottlos, oder eben ſo wenn dieſe wollten jene wegen der 
Menſchlichkeit ihres Begriffes des Goͤzendienſtes beſchuldigen und 
ihre Froͤmmigkeit für nichtig erklaͤen. Sondern fromm Tann 
sız jeder fein, er halte fich zu diefem oder zu jenem Begriff; abe 
feine Frömmigkeit, das göttliche in feinem Gefühl, muß beffer | 
fein ald fein Begriff, und je mehr er in dieſem fucht, und ihn ‘ 
für dad Weſen der Frömntigkeit hält, um deſto weniger verfteht ! 
er fih ſelbſt. Seht nur wie befchränkt die Gottheit in dem | 
einen dargeftellt wird, und wiederum wie tobt und flare im dem | 
andern, beides je mehr man fich in jedem an den Buchftaben | 
halt; und geiteht daß beide mangelhaft find, und. wie Peiner von I 
beiden feinem Gegenftand entfpricht, fo auch Feiner von beiden A 
ein Beweis von Frömmigkeit fein kann, außer in fo fern ihm im ! 
Gemuͤth felbft etwas zum Grunde liegt, hinter dem er aber weit } 
zurüßfgeblieben iſt; und daß, richtig verflanden, auch jeder von 


267 


beiden Ein Element wenigſtens des Gefuͤhls darſtellt, nichts werth 
aber beide find, wenn fich dies nicht findet. Oder iſt es nicht 
offenbar, daß gar viele einen folchen Gott zwar glauben und 
annehmen, aber nichts weniger find ald fromm, und daß auch 
nie diefer Begriff der Keim ift, aus welchem ihre Froͤmmigkeit 
| masten kann, weil er nämlich Fein Leben hat in fich felbft, 
; fondern nur duch dad Gefühl 22). So kann auch nicht bie 
| Rede davon fein, daß ben einen oder den andern von beiden Be⸗ 
griffen zu haben, an und für fich ‘dad Zeichen fein könne von 
einer vollfommneren oder unvolllommneren Religion. Vielmehr 
werben beide auf gleiche Weiſe verändert nach Maaßgabe deſſen 
was wir wirklich als verichiedene Stufen anfehen koͤnnen, nad 
denen ber religioͤſe Sinn ſich ausbildet. Und dies hoͤret noch an 
bon mir; denn weiter weiß ich über diefen Gegenfland nichts 
ſagen um uns zu verſtaͤndigen. 
Da wo das Gefuͤhl des Menſchen no ein dunkler Ins 
I'finkt wo fein gefammtes BVerhältnig zur Welt noch nicht zur 
Klarheit gediehen ift, kann ihm auch die Welt nichtd fein als 
eine vermorrene Einheit, in der nicht mannigfaltiged beſtimmt 
zu unterfcheiden ift, ald ein Chaos gleichförmig in der Verwir⸗ 
rung, ohne Abtheilung Ordnung und Geſez, woraus, abgefehen 
was fih am unmittelbarften auf das Beſtehen des Menfchen 14 
felbft bezieht, nichts einzelne gefondert werden kann, als indem 
es willkuͤrlich abgefchnitten wird in Zeit und Raum. Und hier 
werdet Ihr natürlich wenig Unterfchied finden, ob der Begriff, 
in wiefern ſich doc auch Spuren von ihm zeigen, auf die eine 
Seite fih neigt oder auf die afdere. Denn ob ein blindes Ges 
ſchikk den Charakter ded ganzen darſtellt, welches nur durch mas 
giſche Verrichtungen kann bezeichnet werden, oder ein Weſen, das 
zwar lebendig fein fol, aber ohne beflimmte Eigenfchaften, ein 
Goͤze, ein Fetiſch, gleichviel ob einer oder mehrere, weil fie doch 
durch nichtd zu unterfcheiden find ald durch die willfürlich ges 
fezten Grenzen ihred Gebiets, darauf wollt Ihr gewiß Teiıın 
Schleierm. W. J. 1. | R 


258 


verfchiebenen Werth fezen; fondern werdet biefes für eine eben fo 


unvollkommne Zrömmigfeit erfennen als jened, beides aber doch 
für eine Froͤmmigkeit. Weiter fortfchreitend wird dad Gefühl 
bewußter, die Verhältniffe treten in ihrer Mannigfaltigfeit und 
Beflimmtheit auseinander; daher tritt aber auch in dem Welt 
bewußtfein des Menfchen die beflimmte Vielheit hervor der he: 
terogenen Elemente und Kräfte, deren befländiger und ewiger 


Streit feine Erſcheinungen beflimmt. Gleihmäßig ändert ſich 


dann aud das Reſultat der Betrachtung dieſes Gefühle, auch 
die entgegengelezten Formen des Begriffö treten beflimmter aud- 
einander, dad blinde Geſchikk verwandelt fich in eine höhere Moth⸗ 
wendigkeit, in welcher Grund und Zufammenhang, aber un: 
erreichbar und unerforihlich ruhen. Eben fo- erhöht fich der Be: 
griff des perjönlichen Gottes, aber zugleich ſich theilend und vers 
vielfältigend; denn indem jene Kräfte und Elemente befonders 
befeelt werben, entſtehen Götter in unendliher Anzahl, unterfcheid: 
bar durch verfchiedene Gegenftände ihrer Thätigkeit, wie durch 
verfchiedene Neigungen und Gefinnungen. Ihr ‚müßt zugeben, 
daß diefes ſchon ein Fräftigered und ſchoͤneres Leben deö Unipen 
fum im Gefühl und darflellt, ald jener frühere Zuſtand, am 
fhönften wo am innigfien im Gefühl, dad erworbene mannig: 
faltige und die einwohnende hoͤchſte Einheit verbunden find, und 


115 dann auch, wie Ihr diefed bei den von Euch mit Recht fo ver 


ehrten Hellenen findet, in der Reflerion beide Formen fich eins 
gen, die eine mehr für den Gedanken ausgebildet, die andern 
mehr in der Kunft, diefe mehr die Vielheit darſtellend, jene mehr 
tie Einheit. Mo aber auch eine folche Einigung nicht ift, ge 
fieht Ihr doch, dag wer ſich auf diefe Stufe erhoben hat aud 
vollfonimner fei in der Religion, ald wer noch auf die erfte be: 
ſchraͤnkt it. Alſo auch, wer fich auf der höheren vor der ewigen 
und unerreichbaren Nothwendigkeit beugt und mehr in diefe bie 
Borftelung des höchften Wefend hineinlegt, als in die einzelnen 
Götter, auch der ift vollfommner als der rohe Anbeter eines 


259 


Fetiſch? Nun laßt und höher fleigen, dahin wo alles ftreitende 
ſich wieder vereinigt, wo das Sein fi) ald Xotalität, ald Ein: 
beit in der Bielheit, ald Syſtem darfielt, und fo erft feinen 
Namen verdient; follte nicht wer es fo wahrnimmt ald Eins und 
alles, und fo auf das volliländigfie dem ganzen gegenübertritt 
und wieder Eins wird mit ihm im Gefühl, follte nicht der für 
feine Religion, wie dieſe fih auch im Begriff abfpiegeln mag, 
glüfflicher zu preifen fein, alg jeder noch nicht fo weit gebiehene? 
Alſo durchgaͤngig und auc hier enticheidet die Art wie dem 
Menfchen die Gottheit im Gefühl gegenwärtig iſt, über den Werth 
feiner "Religion, nicht die Art wie er diefe, immer unzulänglich, 
in dem Begriff, von welchem wir izt handeln, abbildet. Wenn 
alfo, wie ed zu gefchehen pflegt, mit wie vielem Rechte will ich 
bier nicht entfcheiden, der auf diefer Stufe flehende, aber den Bes 
griff eined perſoͤnlichen Gotted verſchmaͤhende allgemein entweder 
ein Pantheift genannt wird oder noch befonderd nad) dem Namen 
des Spinoza: fo will ich nur bevorworten, daß dieſes Verſchmaͤ⸗ 
ben die Gottheit yperfönlich zu denken nicht entfcheidet gegen die 
Gegenwart der Gottheit in feinem Gefühl; fondern daß dies feis 
ven Srund haben koͤnne in einem demüthigen Bewußtfein von 
der Beſchraͤnktheit perfönlichen Daſeins überhaupt und befonders 
auch des an die Perfünlichkeit gebundenen Bewußtſeins. Dann 
aber ift wol gewiß, daß ein folder eben fo weit flehen könne 
über dem Verehrer .der zwölf großen Götter, wie ein frommer 1ıc 
auf‘ diefer. Stufe, den Ihr mit gleichem Recht nach dem Lucre, 
tius nennen fünntet, Uber einem Gözendiener. Aber das ift die 
alte Verwirrung, das ift dad unverfennbare Zeichen der Unbil: 
dung, -daß fie die am weiteſten verwerfen, die auf einer Stufe 
mit ihnen fliehen, nur auf einem andern Punkt berfelben. Zu 
welcher nun von diefen Stufen fich der Menfch erhebt, das be: 
urfundet feinen Sinn für die Gottheit, das ift der eigentliche 
Maaßſtab feiner Religiofität. Welchen aber von jenen Begrifs 
fen, ſofern er überhaupt für ſich noch des Begriffs bedarf, er 
R2 


-_ ET — ⸗ 


Bu mi WERE PERS — . 


260 
fi) aneignen wird, das hängt lediglich davon ab, wozu er feiner 
noch bedarf, und nach welcher Seite feine Zantafie vornehmlich) 
hängt, nach der des Seins und ber Natur, oder nach der bed 
Bemußtfeind und des Denkens. Ihr, Hoffe ich, werdet es für 
keine Läfterung halten und für Beinen Widerfpruch, daß das Hin: 
neigen zu dieſem Begriff eines perfönlichen Gottes oder das Ver⸗ 
werfen deffelben und dad Hinneigen zu dem einer unperfönlichen 
Allmacht abhängen foll von der Richtung der Zantafie; Ihr wer: 
det willen daß ich unter Zantafie nicht etwas untergeordnete 
und verworrenes verſtehe, fondern dad höchfte und urfprünglichkte 
im Menihen, und daß außer ihr alles nur Reflerion über fie 
fein kann, alſo auch abhängig von ihr; Ihr werdet es willen 
dag Euere Zantafie in diefem Sinne, Eure freie Gedankenerzeu⸗ 
gung es ift, durch welche Ihr zu der Borftellung einer Welt 
kommt, die Euch nirgend äußerlich kann gegeben werben und 
die Ihr auch nicht zuerfi Euch zufammenfolgert; und in biefer 
Borftelung ergreift Euch dann dad Gefühl der Allmacht. Wie 
einer fich aber dieſes bernach überfezt in Gedanken, das hängt 


davon ab, wie der eine fih willig im Bewußtſein feiner Ohn⸗ 


macht in das geheimnißvolle Dunkel verliert, der andere aber, 
auf die Beflimmtheit des Gedanfens vorzliglich gerichtet, nur 
unter der und allein gegebenen Form des Bewußtſeins und 
Selbſtbewußtſeins fich denken und fleigern Tann. Das Zuruͤkk⸗ 


fchreffen aber vor dem Dunkel des unbeſtimmt gedachten ift bie 


eine Richtung der Fantafie, und das Zurüfffchreifen vor dem 


Schein des Widerfpruhs, wenn wir dem unendlichen die Ge: 
ftalten des endlichen leihen, ift Die andere; ſollte nun nicht dies 
felbe Innigfeit der Religion verbunden fein können mit: der einen 
und mit der andern? Und follte nicht eine nähere Betrachtung, 
bie aber hieher eben deshalb nicht gehört, weil wir hier nur von 
dem innerften Weſen der Religion reden, ſollte eine folche nicht 


zeigen, daß beide Vorſtellungsarten gar nicht fo weit auseinander: 


liegen als es den meiften ſcheint, nur daß man in bie eine nicht 


261 


den Tod hineindenfen muß, aus ber andern aber alle Mübe 
veblich anwenden bie. Schranken hinwegzudenken. Diefes glaubte 
ich fagen zu muͤſſen damit ihr mich verfichet wie ich es meine 
mit dieſen beiden Vorſtellungsweiſen; vorzüglich aber auch damit 
Ihr und andere ſich nicht täufchen über unfer Gebiet, und Ihr 
nicht meint,. alle feien Veraͤchter der Religion, welche fich nicht 
befreunden wollen mit der Perfönlichkeit des höchiten Weſens, 
wie fie von den meiſten dargeſtellt wird. Und feft überzeugt bin 
id), daß durch das gefagte der Begriff der Perfönlichkeit Gottes 
niemanden wird ungewiſſer werben, der ihn in fich trägt; noch 
wird fich jemand von der faft unabänderlichen Nothwendigkeit 
fih ihn anzueignen um beflo beſſer losmachen, weil er darum 
weiß, woher ihm diefe Nothwendigkeit kommt. Auch gab «es 
unter ‚wahrhaft religiöfen Menfchen nie Eiferer Enthufiaſten ober 
Schwärmer für diefen Begriff; und fofern man, wie ed wol oft 
gefchteht, unter Atheismus nichts anders verfteht als die Zaghaf⸗ 
tigkeit und Bedenklichkeit in Bezug auf diefen Begriff: fo wür: 
den die wahrhaft frommen biefen mit großer Gelaffenheit neben 
fih fehen; und es bat immer etwas gegeben, was ihnen irre: 
ligiöfer fchien, nemlich, was es auch iſt, wenn einer bad ent» 
behrt, die Gottheit unmittelbar gegenwärtig zu haben in feinem 
Gefühl. Nur dad werben fie immer am meiften zaubern zu 
glauben dag Einer in der That ganz ohne Religion fei, und ſich 
nicht darüber nur. täufche, weil ein folcher ja auch ganz ohne 
Gefühl fein müßte, und ganz verfunfen mit feinem eigentlichen us 
Dafein ind thierifche: denn nur wer fo tief geſunken ifl, meinen 
fie, koͤnne von dem Gott in und und in der Welt, von dem 
göttlichen Leben und Wirken, wodurch alles befleht, nichts inne 
werben. Wer aber darauf beharrt, müßte er auch noch fo viele 
und vortreffliche Männer ausfchliegen, dad Wefen der Froͤmmig⸗ 
keit befiche in dem Bekenntnis, das höchfte Wefen fei perfönlich 
denkend und außerweltlich wollend, der muß ſich nicht weit ums 
geliehen haben in dem Gebiet der Frömmigkeit, ja die tiefſinnig⸗ 


262 


ſten Worte der eifrigften Vertheidiger feined eignen Glaubens 
müffen ihm fremd geblieben fein. Nur zu’groß aber ift die An 
zahl derer, welche von ihrem To gedachten Bott auch etwas wol: 
len was der Froͤmmigkeit fremd iſt, nemlich er ſoll ihnen von 
außen ihre Gtüfffeligkeit verbürgen, und fie zur Sittlichkeit rei: 
zen. Sie mögen zufehn wie dad angehe; denn ein freied Weſen 
kann nicht anderd wirken wollen auf ein freied Weſen, als nur 
daß es fich ihm zu erfennen gebe, einerlei ob durch Schmerz ober 
Luſt, weil Died nicht durch die Freiheit beflimmt wird, fondern 
durch die Nothwendigkeit. Auch kann es und zur Sittlichkeit nicht 
reizen; denn jeder angebrachte Reiz fei ed nun Hoffnung oder 
Furcht von was immer für Art iſt etwas fremdes, dem zu fol 
gen, wo es auf Sittlifichkeit ankommt, unfrei ift alfo unfittlich; 
das höchfie Weſen aber, zumal fofern es felbft als frei gedacht 
wird, kann nicht wollen die Freiheit felbft unfrei machen und 
unſittlich die Sittlichkeit. 20) 

Died nun bringt: mich auf das zweite, nemlich die Unſterb⸗ 
lichkeit, und ich kann nicht bergen, daß in der gewöhnlichen Art 
ſich mit ihr zu befchäftigen noch mehr ift, was mir nicht fcheint 
mit dem Weſen der Frömmigkeit zufammenzuhängen oder dus 
demfelben hervorzugehen. Die Art naͤmlich, wie jeder fromme 
ein unmwandelbares und ewige Dafein in fih trägt, glaube ich 
Eud) eben dargeftellt zu haben. Denn wenn unfer Gefühl nir: 
gend am einzelnen haftet, fondern unfere Beziehung zu Gott fein 

11 Inhalt ift, in welcher alles einzelne und vergängliche untergeht: 
fo ift ja auch nichts vergängliched darin, fondern nur ewige, 
und man Tann mit Recht ſagen, daß das religiöfe Leben dasje⸗ 
nige iſt, in welchen wir alles fterbliche fchon geopfert und vers 
aͤußert haben, und die Unfterblichkeit wirklich genießen. Aber die 

Art wie die meiften Menfchen fie fich bilden und ihre Sehnfucht 
darnach erfcheint mir irreligiöd, dem Geiſt der Frömmigkeit ge: 
trade zumider, ja ihr Wunſch unfterblich zu fein hat keinen an: 
bern Grund, ald die Abneigung gegen dad mad bad Ziel der 


2363 


Religion if. Erinnert Eudy wie dieſe ganz. darauf hinſtrebt, 
dag die fchärf abgefchnittenen Umriffe unfrer Perſoͤnlichkeit ſich 
erweitern und ſich allmälig verlieren follen ind unendliche, daß 
wir, indem wir des Weltalls inne werden, aud fo viel als 
möglich eind werben follen mit ibm; fie aber firäuben ſich hie: 
gegen; fie wollen aus ber gewohnten Beichräntung nicht hinaus, 
fie wollen nichts fein als deren Erfcheinung, und ſind aͤngſtlich 
beforgt um ihre Perfönlichkeit; alſo weit entfernt, daß fie follten 
die einzige Gelegenheit ergreifen wollen, die ihnen der Tod bar: 
bietet, um über diefelbe hinaus zu kommen, find fie vielmehr 
bange, wie fie fie mitnehmen werden jenfeit dieſes Lebens, unb 
fireben höchflend nach weiteren Augen und befferen Gliedmaßen. 
‚Aber Gott fpricht zu ihnen wie gefchrieben fleht: wer fein Leben 
verliert um meinetwillen, der wirb es erhalten, und wer es ers 
halten will, der wird e8 verlieren. Das Leben was fie erhalten 
wollen ift ein nicht zu erhaltendeß; denn wenn es ihnen um bie 
Ewigkeit ihrer einzelnen Perion zu thun ift, warum kümmern 
fie ſich nicht eben fo ängfttich um bad was fie gewefen ift, als 
um das was fie fein wird? und was hilft ihnen dad vorwärts, 
wenn fie doch nicht ruͤkkwaͤrts können? Je mehr fie verlangen 
nach einer Unfterblichfeit, die eine it, und über die fie nicht - 
einmal Herren find fie fih zu denten — denn wer kann den 
Verfuch beftchen fich ein zeitförmiged Daſein unendlich vorzufel: 
len? — deſto mehr verlieren fie von der Unfterblichkeit welche fie 
immer haben können, und verlieren das fterbliche Keben dazu, mit 
Gedanken die fie vergeblich ängfligen und quälen. Möchten fie 
doch verfuchen aus Liebe zu Gott ihr Leben aufzugeben. Möchs 
ten fie damach fireben, fchon hier ihre Perfönlichkeit zu vernich- 
ten, und im Einen und allen zu leben. Wer gelernt hat mehr 
fein alö er felbft, der weiß, dag er wenig verliert, wenn ex fich 
felbft verliert; nur wer fo fich felbft verläugnend mit dem gan⸗ 
zen Weltall foviel er dabon erreichen kann zufammen geflofien, 
und in weſſen Seele eine größere und heiligere Scehnludht umt- 


264 “ 
flanden ift, nur der hat ein Recht dazu, und nur mit dem auch 
läßt fich wirklich weiter reben über die Hoffnungen die und ber 
Tod giebt, und über die Unendlichkeit zu der wir und durch ihn 
unfehlbar emporfchwingen. 21) 

Dies alſo iſt meine Geſinnung uͤber dieſe Gegenſtaͤnde. Die 
gewoͤhnliche Vorſtellung von Gott als einem einzelnen Weſen 
außer der Welt und hinter der Welt, iſt nicht das Eins und 
alles fuͤr die Religion, ſondern nur eine ſelten ganz reine immer 
aber unzureichende Art fie auszuſprechen. Wer ſich einen ſolchen 
Begriff geftaltet, auf eine unreine Weiſe, weil. ed nämlich grabe 
ein folches Weſen fein muß, dad er fol brauchen können zu Troſt 
und Hülfe, der kann einen ſolchen Gott glauben ohne fromm zu 
fein wenigfiens in meinem Sinne, ich denke aber auch in dem 
wahren und richtigen ift er es nicht. Wer fich hingegen biefen 
Begriff geftaltet, nicht willfürlich fondern irgend wie durch feine 
Art zu denken genöthiget, indem er nur an ihm feine Froͤmmig⸗ 
keit fefthalten Tann, dem werben audy die Unvolllommenbeiten, 
die feinem Begriff immer ankleben bleiben, nicht hinderlich fein 
noch feine Frömmigkeit verunreinigen. Das wahre Weſen ber 
Religion aber ift weder diefer noch ein anderer Begriff, fondern 

- dad unmittelbare Bewußtfein der Gottheit, wie wir fie finden, 
eben fo fehr in uns felbft als in der Welt. Und eben fo ift das 
Ziel und der Charakter eines religiöfen Lebens nicht die Unſterb⸗ 
lichkeit, wie viele fie wiünfchen und an fie glauben, oder auch nur 
zu glauben vorgeben, denn ihr Verlangen, zu viel davon zu wil; 
fen, macht fie ſehr des lezten verdächtig, nicht jene Unfterblichfeit 

121 außer der Zeit und hinter der Zeit, oder vielmehr nur nach dieſer 

Zeit aber doch in der Zeit, fondern die Unfterblichkeit, die wir fchon 
in diefem zeitlichen Leben unmittelbar haben fönnen, und die eine 
Aufgabe ift, in deren Löfung wir immerfort begriffen find. Mitten 
in der Endlichkeit Eind werben mit dem unendlichen und ewig 
fein in jedem Augenblikk, das iſt die Unfterblichkeit der Religion. 


265 


Erlänterungen zur zweiten Rebe. 


1) S. 180. Bei dem redueriſchen Charakter dieſes Buchs und da bie 
Sache hier doch nicht weiter ausgeführt werben Tonnte, würde es wol er- 
Ianbt gewefen fein, diefes mit einer fehr leife gehaltenen Ironie — und wie 
leicht konnte ein Lefer die in den Worten finden — zu fagen, wenn. andh 
meine Meinung: wirklich gewefen wäre, die Religion fei felbit diefe wieder 
hergefiellte Einheit des Wiffens. Die Worte hätten dann nur gefagt, daß 
ich dieſe Meberzeugung meinen Gegnern nicht aufbringen wollte, weil ich 
zwar wol anderwärts und unter einer andern Form, aber nicht. gerade hier 
fie ſiegreich durchfechten könnte. Daher fcheint es mir nöthig, mich gegen 
biefe Auslegung noch befonders zu verwahren, und zwar um fo mehr, als 
jezt von vielen Theologen fo feheint verfahren zu werden, als fei die Reli: 
gion, aber freilich nicht überhaupt fondern nur die hriftliche, wirklich das 
höchſte Willen, und nicht nur der Dignitäs fondern auch der Form nad 
iventifch mit der- metaphyfifchen Speculation, und zwar fo, baß fie die ges 
Iungenfte und vortrefflichfte fei, alle Speeulation aber, welche nicht dieſelben 
Refultate herans brächte, und z. B. nicht die Dreieinigkeit deduciren könne, 
fei eben verfehlt. Damit hängt auch gewiſſermaaßen zufammen die Behanp- 
inng auderer, dag die unvolllommnern Religionen und namentlich die polys 
theiftifchen auch der Art nach gar nicht daſſelbe wären wie die chriftliche, 
Bon beivem muß ich mich befonvers 108 fagen, wie ich denn, was das lezte 
betrifft, ſowol Im-weitern Verfolg diefes Buchs, als and) in der Einleitung 
zu meiner Glaubensichre zu zeigen fuche, wie auch bie unvollkommenſten 
Geftalten der Religion doch der Art nach daſſelbige find. Was aber das 
erſte betrifft, wenn ein Philofoph als ſolcher es wagen will eine Dreiheit in 
dem höchften Weſen nachzumeifen, fo mag er es thnn auf feine Gefahr; ich 
werde aber dann meinerfeit3 behaupten, diefe Dreiheit fei nicht unfere chriſt⸗ 
liche, und habe, weil fie eine fpeculative Idee fei, gewiß an einem andern 172 
Drt in der Seele ihren Urfprung, als unfre chriſtliche Vorftellung der Dreis 
einigfeit. Wäre aber die Religion wirklich das höchſte Wiſſen, fo müßte 
auch die wiflenfchaftliche Methode die’ einzig zweflmäßige fein zu ihrer Ver: 
breitung, und die Religion felbft müßte können erlernt werben, was noch nie 
ift behauptet worden, und es gäbe dann eine Stufenleiter zwifchen einer 
PHilofophie, welche nicht diefelben Refultate wie unfre chriftliche Theolögie 
brächte, und dies wäre die unterfte Stufe; dann käme die Religion der chrifts 
lichen Laien, welche ale nlorss eine unvollfommne Art wäre das höchfte 
Wiſſen zu haben, endlich die Theologie, welche als yrwaıc die vollfommne 
Art wäre daffelbe zu haben und obenan flände, und feine von dieſen dreien 
wäre mit ber andern verträglid. Diefes nun kann ich eben gar nicht am 
nehmen, eben deswegen auch die Religion nicht für das höchſte Wiſſen hal: 
ten, und alfo auch überhaupt für Feines, und muß deshalb auch glauben, 
daß das, was der chriftliche Laie unvollfommmer hat als der Theologe, und 
was offenbar ein Wiſſen ift, nicht die Religion ſelbſt fei, fondern etwas ihr 
anhängendes, 


266 

2) S. 189. Mie man dem rebnerifchen Vertrag überhanpt die firen: 

gen Definitionen erläßt und ihm flatt deren die Beſchreibungen geftattet, fo 
it eigentlich diefe ganze Rede nur eine ausgeführte, mit Beſtreitungen ande: 
rer nach meiner Ueberzengung falicher Vorſtellungen untermiſchte Beſchrei⸗ 
bung; deren Hanptmerfmale alfo zerftrent find und ſich zum Theil unvermeid- 
lich an verfchievenen Stellen unter verfchiedenen Ausdrüffen wiederholen. 
Diefe Abwechfelung des Austruffs, wodurch dach jedesmal eine andere Seite 
der Sache ins Licht gefezt wirt, und welche ich jelbft in wiſſenſchaftlicheren 
Vorträgen, wenn nur die verichiedenen Formen zufammenfimmen und fich in 
einanter auflöfen laſſen, zweffmäßig finde, um bie bevenflichen Wirkungen 
einer zn flarren Terminologie zu vermeiden, fchien dieſer Echreibart beſenders 
angemefien. So fommen bier kurz hintereinander für denfelben Werth brei 
verfchiedene Ausdrüffe vor. In der bier zunächit angezugenen Stelle wird 
der Religion zugefchrieben, dag durch fie Das allgemeine Sein alles envlichen 
Im unendlichen unmittelbar in uns lebe, und Seite 188 flieht, Religion fei 
Sinn und Geſchmakk für das unendliche. Sinn aber it Wahrnehmunge: 
oder Empfindungsvermögen und hier das Teztere, wie denn auch in ben fr 
heren Ausgaben, wiewel nicht ganz Iprachrichtig, ſtatt Sinn und Geſchmalf 
für das umendliche fand Empfindung und Geſchmakf. Was ich aber wahr: 
nehme oder empfinde, das bildet ſich mir ein, und eben dieſes nenne ich das 
Leben des Gegenſtanded in mir. Des unendlichen aber, worunter hier nicht 
irgend etwas unbeſtimmtes jondern die Unendlichkeit des Seins überhunpt 
verftanden wird, Fönnen wir nicht unmittelbar und durch fich ſelbſt inne wer: 
123 den, fonbern immer nur mittelft des endlichen, indem unfre weltſezende und 
ſuchende Richtung uns vom einzelnen und Thell anf das All und ganze 
hinführt. So ift demnach Sinn für das unendlihe und unmittelbares in 
uns Leben des endlichen, wie es im unendlichen if, eins "und daſſelbe. 
Wenn aber in ven erſteren Ausdrukk zu dem Sinn noch hinzugefügt wird 
der Geſchmafk und in dem lezten ausdrükklich das allgemeine Sein alles end: 
lichen im unendlichen: fo find wiederum beide Iufäze im wejentlichen gleich: 
betentent. Denn Gefchmaft für etwas haben, das fchließt außer dem Sinn, 
als der bloßen Fähigfeit, auch noch die Luft dazu in ſich, nnd eben’ dieſe 
Luſt und Verlangen durch alles endliche nicht nur veſſen felbft fondern and) 
des unendlichen inne zu werben, ift es, vermöge deren der fromme jenes Sein 
des endlichen im unendlichen aud) allgemein findet. Aehnliches dieſer Stelle 
ſteht ſchon S. 187, wo nur dem Zufammenhange nad) der Ausdrukk Betrach⸗ 
tung in ben weitern Sinne genomnien werden muß, wie nicht nur bie eigent, 
lihe Speculation darunter zu begreifen ift, fondern alles von äußerer Wirk⸗ 
ſamkeit zurüffgezogene Erregtfein des Geiſtes. — Was aber den meiften hier 
am meiften aufgefallen fein wirb, ift diefes, dag das unendliche Sein doch 
bier nicht das höchfte Wefen als Urfache der Welt zu fein fcheint, fondern 
die Melt ſelbſt. Dieſen aber gebe ich zu bevenfen, daß meiner Ueberzeugung 
nach in einem ſolchen Zuflande unmöglich Gott nicht Taun mitgefezt fein, 
und gebe ihnen den Verſuch anheim, fich die Melt als ein wahres All umd 
ganzes vorzuftellen ohne Gott. Darum bin ich hier bei jenem ftehen geblie- 


267 


ben, weil fenft Teicht mit ver Idee felbft eine beſtimmte Vorfiellungsart her: 
vorgetreten wäre, und aljo cine Enticheitung gegeben oder wenigfiens eine 
Kritik geubt werden wire uber die verſchiedenen Arten Gott und Welt zn: 
fammen und außer einander zu denken, weldyes gar nicht hierher gehörte, 
und nur den Geſichtskreis anf eine nachtheilige Weiſe beſchränkt hätte. 

3) S. 190. Diele Stelle. über den verewigten Novalis ift erft In ver 
zweiten Ausgabe hinzugefemmen, und ic; glaube wol, baß ſich manche über 
biefe Zuſammenſtellung werten gewundert haben, indem ihnen weder eine un: 
mittelbare Achnlichteit beider Geifter einleuchten wird, noch and) daß ber eine 
ſich zur Kunit anf cine chen fo eremplarifche Weife verhalte wie ich von dem 
andern behauptet In Bezug anf die. Wiſſenſchaft. Allein dergleichen ift zu 
individuell um mehr ald angedeutet werden zu fünnen, nnd ich Tonnte es 
nicht anf einen fche ungewiſſen Erfolg wagen einen fpäteren Zufaz über die 
Gebühr auszudehnen und dadurd das Ebenmaaß der Rede zu verderben. 
Auch hier kann ich aus bemfelben Grunde nicht in weitere Erörterungen hin: 
eingehen und auch aus noch) einem andern, weil nänlich feit tiefen 15 Jah⸗ 
ren fowel die Aufmerkſamkeit auf Spinoza wieder eingefchlafen zu fein ſcheint, 
welche durch die jafobifchen Schriften angeregt, deren Wirkung noch durch 
manche fpätere Anregung verlängert ward, bei ber Erfcheinung dieſes Buches 124 
noch ziemlich rege war, als and Novalis ſchon nur zu vielen wieder fremd 
geworten il. Damals aber ſchien mir die Erwähnung beventend nnd wichtig. 
Denn cben fo viele tändelten damals in fladyer Poeſie mit Religion, und 
glaubten tamit dem tieffinnigen Nevalis verwantt zu fein, wie es All Ein: 
Yeitler genng gab, welche dafür gehalten wurden oder felbit hielten anf der ' 
Bahn des Spincza zu wandeln, ven dem fie wo möglich noch weiter entfernt 
waren, als jene Dichterlinge ven ihrem Urbilde. Und Novalis wurde von 
den Rüchterlingen eben fo als fhwärmerifcher Myftifer verjhrieen, wie Spt: 
noza vpn den Buchſtäblern als gottlofer. Gegen das lestere nun zu pro- 
teftiven Tag mir ob, da ich Tas ganze Gebiet ver Frömmigkeit ansmeflen 
wollte. Denn es hätte etwas weientliches gefehlt an der Darlegung meiner 
Anficht, wenn ich nicht Irgendwie. gefügt Hätte, daß diejes großen Mannes 
Gefimung ung Gemüthsart mir ebenfalls von Frömmigkeit durchdrungen 
ſchien, wenngleich es nicht die chriftliche war. Und doch möchte ich nicht 
dafür fichen, was fie würte geworben fein, wenn nicht zu feiner Zeit das 
Chriftenthum jo verkleidet geweſen wäre und unfenntlich gemacht durch troffne 
Formeln und leere Spisfindigfeiten, daß einem fremden nicht zuzumufhen 
wär die himmlifche Geftalt lieb zu gewinnen. Diefes nun fagte ich in ver 
eriten Ausgabe etwas jünglingsartig zwar, aber doch fo daß Ih auch jezt 
nichts zn ändern nöthig gefunden Habe, indem ja feine Beranlaffung war zu 
glanben, daß ich dem Spinoza den heiligen Geift in dem eigenthümlich chriſt⸗ 
lichen Sinne des Wortes zufchreiben wollte; und da zumal in jener Zeit das 
Einlegen ſtatt auszulegen nicht fo an der Tagesordnung war, noch fo vor: 
nehm einherging wie jezt, fo durfte ich glauben, einen Theil meines Gefchäfts 
gut verrichtet zu haben. Wie Eonnte ich auch erwarten was mir gefchah, 
daß ich nämlich, weil ich dem Spincza die Brömmigteit zugeiägcieben, nun 


r 


268 


ſelbſt für einen Spinoziften gehalten wurde, ohnerachtet ich fein Syftem auf 
keine Weife yerfochten hatte, und, was irgend in meinem Buche philofophifch 
if, fi) offenbar genug gar nicht reimen läßt mit dem eigenthümlichen fel: 
ner Anficht, die ja ganz andere Angeln bat, um bie fie fich dreht, als mu 
die fo gar vielen gemeinfame Cinheit der Subftanz. Ja auch Jakobi hat 
An feiner Kritik das eigenthümlichfte am wenigiten getroffen. Wie ich mid 
aber erholt hatte von der Betäubung, und bei Beatbeitung der zweiten Ans 
gabe mir die Parallele wie fie num hier ſteht für fich einleuchtete: ſo hoffte 
ich ziemlich gewiß, da es ja befannt genug ift, daß Rovalis von manchen 
Punkten aus etwas in den Katholicismus binüberfpielte, man ‚follte mid, 
weil ich feine Kunft lobte, auch noch feines religiöfen Abweges zeihen neben 
dem Spinozismns, dem ich huldigen follte, weil ih Spinozas Trömmigkeit 
rühmte, und ich weiß noch nicht vecht warum mid biefe Erwartung ge 
‚täufcht bat. . 
25° 4) ©. 196. Woahrfcheinli werden auch unter ben wenigen, bie ſich 
noch gefallen laflen daß vie Religion urfprünglich. das in der höchften Nic: 
tung aufgeregte Gefühl ſei, doch noch genng fich finden, denen diefes. viel zu 
viel behanptet fcheisit, daß alle gefunden Empfindungen fromm find, oder daß 
alle es wenigftens fein follten um wicht Frankhaft zu fein; denn wenn man 
‚dies auch allen gefelligen Empfindungen zugeftehen wollte, fo ſei doch nicht 
abzufehn, wie die, Brömmigfeit auch in allen denen Empfindungen gefunden 
werben Fünne, welche zu einem höheren oder auch finnlicheren Lebensgennf 
die Menfchen vereinigen. Und doch, weiß ich von ber Allgemeinheit der Be 
hanptung nichts zurüffzunehmen, und will fie Feinesweges als eine vebnerifche 
Dergrößerung verftanden haben. Um nur einen feften Grund zu legen von 
einem Punkt aus, fo muß wol einlendhten, daß der Proteſtantismus bie 
Hansväterlichfeit der Geiftlichen gegen den trübfinnigen Wahn von einer vor 
züglichen Heiligfeit des ehelofen Lebens nur vollftändig und folgerichtig be 
haupten fann, wenn er annimmt und nachweifet,, daß auch die eheliche Liebe 
und alfo auch alle ihr vorangehenden natürlichen Annäherungen der Ge 
feglechter nicht der Natur der Sache nad ben frommen Gemüthszuftaud ab- 


ſolut abbrechen, fondern dag dies nur gefchicht nach Maaßgabe als der Em 


pfindung etwas Eranfhaftes, und, um es recht auf die Spize zu fiellen, eine 
Anlage zur. bachhifchen Wuth oder zur narciffiichen Thorheit fich beigemifcht 
hat. Nach diefer Analogie nun. wird ſich, glaube ich, daſſelbe nachweiſen 
lafien von jedem Empfindungsgebiet, welches man irgend als ein am fich ber 
Sittlichkeit nicht widerflreitendes anzufehen gewohnt if. — Wenn aber un 
mittelbar nach biefer Stelle und aus berfelben gefolgert wird, dag eben fo 
twie alle ächt menfchlihen Empfindungen dem religiöfen Gebiet angehören, 
eben fo alle Begriffe und Grundſäze aller Art demfelben fremd feien: fo 
ſchien mir dieſe Zufammenftellung recht geeignet, um zu zeigen, wie das lezte 
gemeint fei, und wie in biefer Hinficht die Religion an fich ſtreng zu ſcheiden 
fei von dem was ihr angehört. Denn auch jene Empfindungen, welche man 
gewöhnlich von dem religiöfen Gebiete trennt, bedürfen, um ſich mitzutheilen 
und barzuftellen, was fie doch uicht entbehren können, ber Begriffe, und um 


269 
ihr richtiges Maaß anszufprechen der Grundfäge; aber diefe Grumbfüze nnd 
Begriffe gehören nicht zu den Empfindungen an fih. ben fo ift es mit 
dem dogmatifchen und afcetifchen in Bezug auf bie Religion, wie dies im 
folgenden weiter erörtert wird. 

5) S.200. Für das Verſtaͤndniß meiner ganzen Anficht kann mir nichts 
wichtiger fein, als daß meine Lefer zwei Darfiellungen, die ihrer Form nach 
fo fehr von einander verfchieden find, und von fo weit auseinander liegenden 
Buntten ansgehn, wie diefe Reden und meine chriſtliche Glanbenslehre, doch 
ihrem Inhalte nach vollfommen in einander mögen anuflöfen können. Allein 
es war unmöglich, die gegenwärtigen Reden zu dieſem Behuf mit einem voll: me 
Rändigen Commentar zu verfehen, und ich muß mich nur mit einzelnen Ans 
deutungen begnügen, au folhen Stellen, wo mir felhR vorfommt ale ob wol 
jemanden ein ſcheinbarer Widerfpruch oder wenigftens ein Mangel an Zus 
fanımenftimmung auffallen könnte. So möchte auch vielleicht nicht jeder die 
bier gegebene Befchreibung, daß allen religiöfen Erregungen ein Handeln der 
Dinge anf uns zum Grunde liege, übereinftimmend finden mit ver durch vie 
ganze Glaubenslehre hindurchgehenden Erklaͤrung, daß das Weſen der reli- 
giöfen Crregungen in dem Gefühl einer abſoluten Abhängigfeit beſtehe; bie 
Sache ift aber dieſe. Auch dort wird eingeräumt, daß diefes Gefühl nur 
wirklich In uns werden fonne anf Beranlafiung der Einwirkungen einzelner 
Dinge, und davon, daß die einzelnen Dinge viefes Gefühl veranlaflen nnd 
in wie fern, davon. ift auch hier die Rede. Sind uns aber die einzelnen 
Dinge in ihrer Cinwirkung nar einzelne, fo entſteht auch nur die im ber 
Staubensichre ebenfalls als Subſtrat der religiöfen Erregung poftulirte Bes 
flimmtheit des finnlichen Selbitbewußtjeims, Gegen das einzelne aber, fei 
es num groß oder Hein, fezt fich unfer einzelnes Leben immer in Gegenwir⸗ 
tung, und fo entiicht fein Gefühl ver Abhängigkeit, als unr zufälligerweife, 
wenn‘ die Gegehiwirfung nicht der Ginwirfung gleich Tommi. _Wirft aber das 
einzelne nicht als foldyes‘, ſondern als ein Theil des ganzen auf nus ein, 
welches lediglich anf der Stimmung und Richtung unferes Gemüthes beruht, 
und wird, es uns alfo in feiner Ginwirfung gleihfam nur ein Durchgangs⸗ 
punft des ganzen: fo exfcheint uns felbft nuſre Gegenwirkung durch daſſelbe 
uud auf diefelbe Art beftinimt wie die Cinwirfung, und unfer Zuſtand kaun 
dann fein audrer fein, als das Gefühl einer gänzlichen Abhängigfeit In dies 
fee Beftimmihelt. Und bier zeigt fih and, wie auf gleiche Weife bei ber 
einen vie bei der andern Darftellung Welt nnd Gott nicht könuen getrennt 
werden. Denn abhängig fühlen wir uns von dem ganzen nicht, fofern es 
ein zufammengefeztes ift aus einander gegenfeitig bedingenden Theilen, deren 
wir ja felbft einer find: fondern nur fofern diefem Zufammenhang eine alles 
und auch unfer Verhältniß zu allen übrigen Theilen bedingende Einheit zum 
Grunde Hegt; und auch nur unter eben biefer Bedingung kann, wie es hier 
heißt, das einzelne als eine Darftellung des unendlichen fo aufgefaßt wer: 
den, daß fein Gegenſaz gegen anderes babei ganz untergeht. 

6) S. 201. Unter Mythologie verfiche ich nämlich im allgemeinen, 
wenn ein rein ideeller Begenftand in gefhichtlicder Korm vorgetragen WM, 


270 


and je dünkt mi, haben wir ganz nach der Analogie ber polytheiſtiſchen 
auch eine menotheiftiiche und chriitlicde Mythologie. Und zwar bedarf es ta 
zu nicht einmal ber Gefpräche göttlicher Perſonen miteinander, wie fie in 
177 dem flopftedifchen Gedicht und font vorkommen; fondern auch in ber firen 
geren Lehrſerm, wo irgend etwas dargeſtellt wird als-in dem göttlichen We: 
fen geſchehend, göttliche Rathichläfle, welde gefaßt werden in Bezug anf 
etwas in der Welt vorgegangenes eder auch um andere göttliche Rathfchläfe 
alfo gleichſam frühere zu modificiren; nichts zu fügen vom dem einzeluen 
göttlichen Rathfchläilen, welche dem Begriff ber Gebetserhörung feine Realität 
"geben. Ja auch bie Darftellungen vieler göttlichen Gigenfchaften haben eben 
dieſe gefchichtliche Form, und find alſo mythologiſch. Die -göttliche Barm⸗ 
herzigteit 3. B. wie ber Begriff größtentheils gefaßt wird, iſt ur -eiwasd, 
wenn man dem götHichen Willen, weldyer das Uebel linvert, von demjenlgen 
trennt, welcher es verfügt hat; deun ficht man beide als eines an, fo if ber 
eine nicht einmal die Grenze bes andern, ſendern der das Uebel verhängende 
göttliche Wille verhängt es nur in einem beſtimmten Maaß, und baum if 
der Begriff der Barmherzigfeit ganz aufgeheben. Eben fo wird in dem. Be: 
griff ver Wahrhaftigkeit Gottes Verſprechen und Erfüllung getrennt; und 
beide zuſammen ftellen einen gefchichtlicden Verlauf dar. Denn wenn ‚man 
die verheißende Thätigfeit als diefelbe anficht, duch welche fchon die Erfül⸗ 
Inng wirklich geſezt it: fo iſt ter Begriff ver göttlichen Wahrhaftigfeit nur 
noch etwas, fefern manche göttliche Thätigfeiten mit einer Aeußerung der: 
felben verbunden jind oder nicht, und in dieſer Verſchiedenheit iſt auch-eine 
Geſchichte ansgedrüfft. Sicht man aber im allgemeinen die hervorbringende 
Thätigkeit und ihre Ncußerung als Cines an, fo findet ein befonderer Be 
griff götticher Wahrhaftigfeit faum noch Raum. Und fo ließe fich dieſes 
durch mehreres durchführen. Nun will ich dieſe Darfiellungen durch hen 
ihnen beigelegten Namen an und für fich Feineaweges tadeln, ich erfenne fc 
vielmehr für unentbehrlich, weil man fenft über ten Gegenitand nicht auf 
eine ſelche Weiſe reden könnte, Daß irgend eine Unterſcheidung bes richtigeren 
und mindet richtigen dadurch vermittelt waͤre. Auch iſt der Gebrauch der: 
felben auf dem Gebiet der willenichaftlicheren Darſtellung ter Religion mit 
feiner Gefahr verbunden, weil ta Die Aufgabe feſtſteht, die gefchichtliche um 
überhaupt tie Zeitform überall binwegzudenfen, und eben jo find fie ument 
behrlich auf dem Gebiet der religiefen Dichtkunſt und Nedekunſt, wo man es 
überall mit gleichgelinnten zu thun hat, für welche ber vornehmſte Werth 
diefer Darftellungen tarin beftebt, daß ſie ſich dadurch ihre veligiöfen Stim: 
mungen mittheilen und vergegenwärtigen, in benen dann die Berichtigung 
der mangelhaften Ausdrükke ſchon von felbit unmittelbar gegeben iR. Leere 
Mythologie aber nenne ich fie tabelnd, wenn man. fie für fich als eigentliche 
Erfenntniß betrachtet, und, was nur ein Nothbehelf ift, weil wir es nicht 
befier machen konnen, für das Weſen ber Religion ansgiebt. 
128 7) ©. 205. Wenn hier das Syitem von Bezeichnungen, welches in 
feiner vollkommenſten Geftalt ven theologiſchen Kehrbegriff bildet, fo dargeſtellt 
wird, dag cs mehr durch äußere Derhältnifie beſtimmt werde, als aus ber 


271 


seligiöfen Anlage ſelbſt hervorgehe: jo foll Tamit keincaweges vie jo oft wie: 
derholte allem geichichtlihen Zinn hehufprechende Behauptung aufs neue 
vorgebradht werben, daß bie religiofen Bewegungen, durch welche im Chriſten⸗ 
thum eine Menge ver. wichtigiten Begriffe beilimmt werben find, nur zufällig 
und oft aus ganz fremdartigen Iutereilen hervorgegangen wären. Sendern 
une daram habe ich erinnern wollen, was aud in meiner Furzen Darſtellung 
and in ber Binleitung zur Glaubenslehre amseinander gefezt iſt, dag die Be: 
griffsbildung auch auf dieſem Gebiet abhängt von der herrſchenden Sprache 
und von dem Grade und ber Art und Meife ihrer willenfchaitlichen Aus: 
bildung; worin watürlih die Art und Weiſe zu pbllofephiren mit einge: 
ſchloſſen iſt. Auch dieſes aber ſind für tie Religion an und für ſich betrach— 
tet nur äußere Verhältnifie, und abgefchen ven dem allgemeinen göttlichen 
Zufammenhang aller Dinge kann man alfe fagen, es liege fich denfen, daß 
bas. Chriſtenthum ohne wefentlich cin anderes zu fein in einem ganz andern 
Lehrtypus zufammmengefaßt werden wäre, wenn es 3. B. früher eine große 
und vorherrſchende orientaliihe Ausbreitung bekommen hätte und die helle: 
niſche und weitliche dagegen wäre zurüffgeträngt werden, 

8) S. 206. Auch tiefe Stelle Fönnte leicht zu mancherlei Mißverſtaäͤnd⸗ 
nifien Beranlaffung geben. Was nun zuerit den Gegenſaz von wahrer umd 
falfher Religion betrifft: fo berufe ich mich zunächit auf Das, was im mei 
ner Glaubensichre (Zte Ausg.) u. a. J. 7. u. 8. ausgeführt if, und füge unr 
nech für diefen Ort hinzu, daß anf dem religiofen Gebiet nicht nur ebenfalls 
der Irrthum nur an der Wahrheit ift, fondern mit Mecht gejagt werden 
fan, daß jedes Menfchen Religion feine höchſte Wahrheit üft; ſonſt wäre der 
Irrthum daran nicht nur Irrthum fendern Heuchelweſen. Iſt num dieſes, 
fo kann mit Recht gefagt werten, daß in ber Religion unmittelbar alles 
wahr it, va chen nichts in ihren einzelnen Momenten ausgejagt wird als 
bee religiöjen cigner Gemüthozuſtand. Und mit chen dem Rechte gilt auch 
son allen Geftaltungen religiöjer Gejelligfeit dag ſie gut ſind; Denn in ihnen 
muß ebenfalls das beſte in dem Tajein jetes Menſchen niedergelegt fein. 
Wie wenig aber diejes dem Vorzug einer Olaubensweile ver der antern Ein: 
trag thut, weil mänlich tie eine einen verzüglicheren Gemüthozuſtand aus: 
fagen, und chen jo in der einen religicien Gemeinfchaft eine höhere geiſtige 
Kraft und Liebe niedergelegt fein faun, das int ebenfalls theils dort ummittel: 
bar ausgeführt, theils aus dem dort gefagten leicht zu entnehmen. — Auch 
dag hier. der Gedanfe von ter Allgemeinheit irgend einer Religion verworfen 
und behauptet wird, nur ins Inbegriff aller Religienen jei der ganze Umfang 
dieſer Gemüthörichtung zu befallen, auch tiefes drüfft teinesweges einen 179 
Zweifel dagegen ans, daß das Chriſtenthum fich über das ganze menfchliche 
Geſchlecht werde verbreiten Fönnen, wenn gleich bei vielen Stämmen unferes 
Geſchlechtes erſt bedeutende Beränverungen diejer größten unter allen vorher: 
gehen müſſen; und chen fc wenig drükkt es einen Wunſch aus, dag andere 
Religionsfermen immer neben dem Chrißenthum befichen möchten. Denn 
wie der Einfluß bes Judenthbums und des hellenifchen Heidenthums anf das 
Chriſtenthum lange Zeit hindurch in enigegengefezt wogenden Bewegungen 


272 


fichtbar geweſen ifl, fo daß beide immer noch im Chriſtenthum erfchienen und 
alfo auch in der Geſchichte des Chriſteuthums mit erfcheinen: eben fo wärbe 
es auch gehen, wenn das Chriftenthum dereinſt das Gebiet aller bisherigen 
großen Religionsformen in fi aufnähme; und fonach würde ber Umfang 
des ganzen religiöfen Gebietes hiedurch nicht in engere Grenzen eingefchloflen, 
alfe anderen Religionen aber auf gefchichrliche Weile im Chriftenthun zu 
fehauen fein. Was aber das erfte betrifft, fo if ans dem Iufammenhange 
Mar, daß nur in Bezug auf den Gegenſaz zwifchen wahr und- falfch die Alt 
gemeinheit irgend einer Religion geläugnet wird, in dem Sinne nämlich, als 

ob alles was anßerhalb der einen befteht oder befianven hat, gar nicht Res 
liglon zu nennen fe. Eben fo iſt auch das folgende zu verfichen, daß näms 
lich jeder wahrhaft fromme gern anerfenne, daß anderen Geflaltungen ber 
Religion manches angehören koͤnne, wofür ihm der Sinn fehlt. Denn and 
wenn das Chriſtenthum alle andern Meligionsgebiete verbrängt hätte, fo baf 
fie fich nur noch gefchichtlich in Ihm ſelbſt fpiegelten: fo würde nicht jeder. 
ben Sinn haben für alles, was eben hiedurch im Chriſteuthum felbft gefegt 
fein würde; denn fo wenig jemals als jezt wird das Chriftentkum alter 
chriſtlichen Völker ganz baffelbe fein. Hat alſo niemand jezt der gleichen 
Einn für alles hriftliche, ſo auch nicht den Einn für alles das in andern 
Religionen, was den Keim einer fünftigen chriſtlichen Eigenthümlichkeit in 
ſich ſchließt. 

9) S. 207. Es giebt jezt noch chriſtliche Gottesgelehrte und gab ſie, 
als ich zuerſt dieſe Stelle niederſchrieb, in noch weit groͤßerer Anzahl, welche 
das ganze Unternehmen der chriſtlichen Dogmatik verwerfen, und meinen, das 
Chriſtenthhum würde eine geſundere Entwikklung und eine freiere und ſchoͤnere 
Geſtalt zeigen, wenn man niemals auf den Gedanken gekommen wäre, bie 
chriſtlichen Vorſtellungen in einem geſchloſſenen Zuſammenhange darzuſtellen; 
daher fie denn aus allen Kräften daran arbeiteten, dieſen Sufammenhang 
möglihft zu Lüften und zum löfen, und die chriſtliche Glaubensichre nur als 
eine Sammlung vos Monographien, als cin zufällig entflandenes Aggregat 
einzelner Size von ſehr ungleihem Werthe gelten zu laſſen. Allein fchon 
damals war ich weit entfernt diefen Männern beizuftimmen, deren gute Abs 

130 fichten ich übrigens nicht bezweifeln will. Und fo würde es ein großes Mif 
verſtaͤndniß fein, wenn jemand glauben wollte, dieſe Iuvertive gegen bie 
Snftemfucht Tonne mit dem Beſtreben einer Darfichtung des chriftlichen Glau⸗ 
bens den möglıchft genauen Zuſammenhang zu geben nicht zufammen Be: 
fliehen und eines von beiden nicht Ernft fein. Denn die Syflemfucht ift nur 
eine krankhafte Ausartung dieſes nicht nur an fich löblichen fonvern and 
heiffamen Beftrebens, und es folgt nur, daß diejenige ſyſtematiſche Behand: 
lung religiöfer Vorftellungen bie vorzüglichfte ift, welche auf der einen Selte 
die Vorftellung und den Begriff nicht für das urfprünglihe und conſtitutive 
ausgiebt auf dieſem Gebiet, und anf der andern Seite, damit der Buchflabe 
nicht erſterbe und den Geijt mit fich In den Tod’ ziche, die lebendige - Beweg⸗ 
lichkeit deſſelben ſicher ſtellt, umd innerhalb der großen Uebereinfiimmung bie 
eigenthämliche Verſchiedenheit nicht etwa nur zu dulden verfichert, ſondern zu 


273 


confirmiren verſucht. Wenn nun Jchermann tiefes für die Hauptrichtung 
meiner Darftellung tes chriũlichen Glanbens anerfenuen mus, fc darf ih 
auch glauben in vellfommener Uchereinitimmung mit mir felbit zu fein. 

10) S. 208. Einen zwiefachen jchwierigen Anſteß giebt, wie ich wel 
fühle, diefe Stelle. Zuerk daß ich Das heidniſche Rom wegen feiner grenzen: 
Iofen Religionsmengerei dem chrifilichen vorziche, und dieſes im Vergleich mit 
jenem gottlo6 neune; und dann, daß ich das Ansſtoßen ber Kezer verbanme, 
während ich doch felbft gewiſſe Aniichten als Fezerifch aufſtelle, ja fegar bie 
Kezerei zu foftematifiren ſuche. Ich fange bei’ dem lezten an, als dem in⸗ 
nerſten und für mich bedeutendſten. Mir fcheint es nicht möglich, daß es ein 
gefundes dogmatiſches Berfahren geben könne, wenn man nicht darauf aus: 
geht, als den Gharafter des chriftlichen eine ſelche Formel aufzuftellen, durch 
deren Anwentung es Möglich werde, von einem jeden Punkt der Abſciſſen⸗ 
linie aus die Ordinaten abzufchneiden, und fo den Umfang der chriftlichen 
Vorſtellungen durch Annäherung zu befchreiben, und darans folgt natürlich, 
daß, was außerhalb dieſes Umfangs liegt und tod, für chriſtlich will gehalten 
fein, eben das fein muß, was man in der chriftlichen Kirche feit langer Zeit 
fegerifh genannt hat. Deſſen Aufftellung alſo konnte ich in der Dogmatif 
nicht umgehen, fondetn muß nur wünfchen den dabei zum Grunde liegenden 
Zwed fo vollftändig ale möglich erreicht zu haben. Allein diefe Beftimmang 
über die Sache hat gar nichts gemein mit der Behandlung der Berfonen. 
Denn wie ſich mander im Streit gegen eine abweichende Meinung bei Ber: 
theidigung der feinigen bis zu einem häretifchen Ausdrulk verlieren kann chne 
irgend etwas häretifches zu meinen, das leuchtet ein, und babe ich mich anch 
hierüber in der Glaubenslehre $. 22, 3 u. Zuſaz, und $. 25 Zuſaz aus⸗ 
führlih erflärt. Ja feitdem von manchen Seiten in der evangelifchen Kirche 
der Wunſch ausgefprochen fft, die alte Kirchenzucht auf eine verfländige Art 
zu ernenern, damit eine chriftliche Gemeinde in Stand gefezt werbe, diejenigen 131 
anf ein geringeres Maaß von Gemeinfchaft zurüffguführen, welche die chrifte 
liche Gefiunung durch ihr Leben verläugnen, ſeit diefer Zeit fage ich thut 
es befonders Noth der Verwechſelung vorzubeugen, als ob damit auch ein 
Recht angeiprochen würde, diejenigen, die irgend jemand für fezerifch halten 
möchte, mit dem Bann zu belegen. DBielmehr wird die evangelifche Kirche 
gegen folche Menjchen, wenn nicht zugleich auch jenes von ihnen gefagt wers 
den Tann, feine andere Pflicht anerkennen, als die Gemeinſchaft mit ihnen 
zu unterhalten, damit fie um fo eher durch gegenfeitige Verſtaͤndigung auf 
die richtigen Wege Fönnen- zurüffgeleitet werben; und wenn Ginzelne ober 
Heine Gefellfchaften eine entgegengelezte Methode anwenden, und fo viel an 
ihnen ift, diejenigen, ohne weitere Rüfficht auf ihre Geſinnungen zu nehmen 
vom ihrer Gemeinfhaft ausfchliegen, welche nicht in demfelben Buchftaben 
der Lehre mit ihnen übereinftimmen, fo gefchieht dies nicht in evangelifchem 
Sinne, indem die Anmaßung eines Anfehens darin liegt, welches unfere 
Kirche niemanden zugefieht. — Was nun aber das erfie betrifft, den Bor 
zug, den ich dem heibnifchen Rom beilege vor dem chriftlihen, und von jenem 
fage, es fei durch aneignende Duldſamkeit voll der Götter geworben, das 


Schleierm. ®. 1.1. S 


274 


hriftliche aber wegen felnes Verkezerungsſyſtems gottlos nenne: fo geht 
zunächſt wel fchon aus den gewählten Ausprüffen hervor, daß dieſe Stelle 
den rheturifchen Charakter des Buches befonders an fih trägt; was aber 
darin ftreng foll genommen werden, ift diefes, dag die dogmatifirende Syſtem⸗ 
ſucht, welche, verfchmähend die Verfchiedenheit mit zu confiruiren, vielmehr 
alle Verſchiedenheit ausfchließt, allerdings die lebendige Erkenntniß Gottes, 
foviel an ihr ift, hemmet, und die Lehre in tobten Buchftaben verwandelt. 
Denn eine fo feſt aufgeftellte Regel, die alles anders lantende verbammt, 
drängt alle Broductivität zurül, in der doch allein die lebendige Erkenutniß 
fich erhäft, und wird alfo felbft zum todten Buchftaben. Man faun fagen, 
dies fei die Geſchichte der Bildung des römifch-katholifhen Lehrbegriffs ik 
feinem Gegenfaz gegen den proteftantifchen, und die Entflehnng der ewange: 
liſchen Kirche fei von dieſem Gefichtspunft aus ongefehen nichts anders als 
das Sichlosreißen der eigenen Productivität aus der Gemeinſchaft mit einer 
ſolchen Regel. Eben fo ift auch ernfllich zu nehmen, daß ich des alten Roms 
Empfänglichfeit für fremde Gottesvienfte. rühme. Denn fie hing tamit zu 
fammen, daß die Beichränftheit und Einfeitigfeit jedes individualiſirten Poly: 
theismus zur Anerfenuung gefommen war, und daß das religiüfe Bedürfniß 
fi von deu Schranfen der politifchen Formen befreien wollte, welches beides 
nicht nur an fidy Löblich ift, fondern auch der Verbreitung des Chriftenthums 
weit förberlicher gewefen ift, als das wenn gleich auch wohlgemeinte Ver: 
kezerungsweſen jemals der Befeſtigung und Sicherfiellung des Chriſtenthume 
werden konnte. 

132 11) ©. 220. Auch in der Glaubenslehre habe ich mich F. 8 Zuſdz 1. 
wie hier gegen die Meinung derer erflärt, welche die Spololatrie, worunter fie 
nach dem etwas perfpectivifchen Sprachgebrauch der heil. Schrift alle Arten 
des Polytheismus mitzählen, ang der Furcht entflehen laflen: Nur ging ih 
dort von einem andern Standpunkt aus, indem es darauf anfanr, auch die 
untergeorbneten Stufen der Srömmigfeit dennoch ihrem Weſen nach den -hö- 
heren gleichzuftellen, welches nicht gefchehen könnte, wenn jene nur in ber 
Furcht ihre Entitehung hätten, diefe aber nicht. Hier habe ich es mehr mit 
der Vorftellung zu thun, welche alle Srömmigfeit überhaupt aus der Furcht 
entftehen läßt, und beide Darftellungen ergänzen alfo- einander. Der bier 
im allgemeinen geführte Beweis. hätte auch dort für den befonvern Fall ge⸗ 
golten, ohnerachtet des ziemlich fchwanfenden Spracdhgebraudyg von desssdar- 
norla. Denn man kaun doch auch von den griechifchen und römiſchen Poly: 
theiften nicht fagen, daß ihnen der Glaube an die Götter ausgegangen wäre, 
wenn fie im muthigen Gebrauch des Lebens alle Furcht abgefchüttelt Hatten. 
Und eben fo ift das dort geſagte auch hier allgemein anwendbar. Denn 
wenn die Furcht auf Feine Weiſe eine Umbiegung der Liebe ift, fo kann fie 
ihren Gegenftand nur als übelmollend fezen; wo alfo höhere Wefen nicht als 
böfe angebetet — ober vielmehr abgebetet — werden, da kann auch nicht 
reine von Liche ganz gefonderte Furcht das Motiv fein. Und fo wird es 
dabei bleiben, daß in aller Religion ſchon ‚von Anfang an Liebe wirkam 
ift, und alles Anffteigen zum vollfommenen in der Religion nur eine fort 

gehende Reinigung der Liebe. 


275 


12) Ehbendaf. Kaum follte es wel nöthig ſein, ben Auedrukk Weltgeiſt 
zu rechtfertigen, wo e3 baranf anfam, dem für alle Menfchen felbigen Gegen: 
fand der fronimen Verehrung auf eine Weife zu bezeichnen, welche allen vers 
fhiedenen Formen und Siufen. der Religion genehm fein fann. Und befon- 
vers glaube ich nicht, daß mit Recht gejagt werben fonnte, ich hätte bei ber 
Wahl viefes Ausdruks das Jutereſſe der vollfommenften Religionsform dem 
ver umtergeorbnvten aufgeopfert; fonbern ich glaube, daß nicht nur auch wir 
Ehriften uns diefen Ausdrufk für das höchſte Weſen vollfommen aneignen 
können, fondern fogar, daß der Auspruff nur auf monotheififchem Boden 
babe entftchen- konnen, und daß er zugleich eben fo frei ift von dem jüdiſchen 
PBartienlarismus als von dem was ich in der Glanbensichre $. 8, 4. ale 
bie Unvolllommenheit des muhamedaniſchen Monotheismus verfuchsweife an: 
gegeben habe. Da er una auch feinesweges eine Wechfelwirfung zwifchen 
ver Welt und dem höchiten Weſen ansfagt, da ja wol niemand Weltgeiſt 
und Weltfeele mit einander verwechfeln wird, oder fonft irgend eine Art von 
Unabhängigfeit der Welt von demfelben in jich fchließt: fo glaube ih, Tann 
nian alle chriftlichen Schrijtfteller rechtfertigen, vie fich deſſelben bedient haben, 133 
wenn er gleich nicht aus ver Eigenthümlichen Anſicht des Chriſtenthums her⸗ 
vorgegangen iſt. 

13) S. 228. In meiner Glanbenslehre, deren Einleitung, weil fe die 
Grundzüge defien enthält was nach meiner Anficht unter Religionsphilofophie 
eigentlich foU verfianden werben, in munnigfaltigen Berührungen mit diefem 
Buche flieht, habe ich als die Hauptverfchiedenheit in dieſer Hinficht ange: 
geben, was ich bie üfthetifche und die teleologifche Borm genannt. Hier 
ſcheint ein anderer Eintheilungsgrund wiewol nicht. beflimmt ausgeſprochen 
boch ftillfchweigend zum Grunde zu Tiegen, und es wird alfo nicht unnüz fein 
auseinanderzufezen, wie beide gegen einander fichen. Nämlich es fcheint hier 
nur als etwas einzelnes, wozu alfo ein oder mehrere Gegenftüffe gebacht 
werden fünuen, aufgeführt zu fein, daß für uns, an unferem-Ort und auf 
unferer Bildungsftufe das Gemüth die eigentliche Welt der Religion fei: und 
das angedentete Gegenftüff ift, daß eben fo auf der andern Seite die äußere 
Natur es fein fünne. Was aber dort als der größte Unterſchied gefezt if, 
das fcheint hier beides auf der Seite der Gemüthsrcligion zu liegen; denn 
ob die thätigen Zuſtände auf die leidentlichen, oder die leidentlichen auf die 
thätigen bezogen werben: fo find es doch immer Gemüthszuftände, auf welche 
die religiöfen Erregungen fich beziehen, und fo feheint demnach bie hier aus 
gedeutete Unterfcheivung die höhere zu fein, dort aber ganz übergangen zu 
werben. Allein auch hier iſt nicht die Meinung, als ob es eine Naturreligion 
in dem Sinne gebe, daß die religiöfen Erregungen dem Menſchen fommen 
tönnten durch die Betrachtung der äußeren Welt. Sondern dieſe Betrachtung 
wird je höher gefteigert deſto mehr fpeculative Naturwiſſenſchaft, immer aber 
Wiſſenſchaft, und die religiöfen Erregungen entfiehn aus biefer nur, indem 
fh die Seele-igrer felbit in der Betrachtung bewußt wird, aljo wieder aus _ 
dem Gemüthszuftande; fo wie fie aus den unmittelbaren Beziehungen der " 
Natur auf unſer Leben und Dafein nur eutſtehn nach Maaßgabe wie fie auf 


S2 


. 276 


unfere jedesmalige Stimmung wirkt, alfo wieder aus dem Gemüthszuſtande. 
Die in der Glaubenslehre angegebene Eintheilung bleibt alfo die obere, und 
anch die durch die Natur wie die duch das gefhichtliche Leben vermittelten 
religiöfen Erregungen werben in jener zweifachen Form vorfommen Tünnen 
und den teleologifchen oder ethifchen Charakter an ſich haben, wenn der Ra: 
turbetrachtung Ginwirfungen auf die Seele auf die Seelenthätigfeit umb be 
ren Gefeze bezogen werden, eine äftbetifche aber in dem umgelchrten Fall. 
Der bier geltend gemachte Unterfchied aber iſt von der Art, daß dort nit 
nöthig war ihn in Betracht zu ziehen, da das Verhältnig des Ehriftenthums 
zu bemfelben erft in der Behandlung der chriftlichen gehe ſelbſt recht ins 
Licht kann gefezt werben. 
14) Ebendaſ. Diefes möge der Lefer nur als eine Anwendung jener 
13% Erzaͤhlung nehmen, keinesweges als ob zu verſtehen gegeben werden ſolle, 
der Schriftſteller habe dieſe Anwendung felbft gemacht und wolle fie allge: 
mein mitgebacht haben. Demohnerachtet. glaube ich läßt ſich vollkommen 
vertheidigen, daß fle nothwendig darin Liegt; und "daß weder das Bemwäßtfeln 
Gottes fi in dem Menſchen entwiffeln Fonnte, noch auch die Bildung all⸗ 
gemeiner Begriffe in ihm vor ſich geben, als nur indem er das Bewußtſein 
der. Gattung gewonnen hatte und ſich unmittelbar feiner als des einzelnen 
Unterordnung unter diefelbe und Differenz von berfelben bewußt geworben. 
Ehen fo gewiß aber iſt, daß weder das Bewußtfein des höchſteu Wefens 
noch auch das Beſtreben fi) die Welt zu orbnen je ganz verloren gehen 
kaun in der Seele, bis auch das der Gattung ganz verloren gegangen ift. 
Sch will bier noch ein Paar im Text nicht befonders bezeichnete Stellen 
erläutern. — 6.237. wird von der Demuth, welche vorher als eine natürs 
liche Form der religiöfen Erregung angegeben war, fo geſprochen, als ob ihr 
ein Hochgefühl des eigenen Dafeins gegenüberfichen müfle, und von ber 
Reue, die ebenfalls als natürlich und der Froͤmmigkeit wefentlih war ge⸗ 
fchildert worden, fo als ob fie nicht nur ohne Nachtheil der Krömmigfeit 
fönnte, fondern vielleicht auch als ob fie müßte zu freudiger Selbftgenügfam- 
feit umgewandelt werben. Beides ift indeß meiner Weberzeugung nach fo 
wenig ein Widerſpruch, daß vielmehr alle frommen Erregungen nur einge 
theilt werden fönnen in erhebende und in ni derbeugende. Jede Art bedarf 
der andern als ihrer Ergänzung, und jede ift nur wahrhaft fromm, fofern fie 
die andere mitfezt. Auch in vem Chriſtenthum, welches ſich felbft nur durch 
Verbreitung und Sortpflanzung der niederbeugenden Erregungen fortpflanzt 
und verbreitet, foll dennoch die Neue auslöfchen in dem Bewußtfein der gött, 
lichen DBergebung, wie denn das Wort, Laß dir an meiner Gnade genügen, 
eben die frendige Selbftgemügfamkeit ausdrüfft, von welcher hier die Rede if; 
and jenes der Demuth gegenübergeftellte Gefühl, daß im jedem das ganze 
der Menfchheit Tebt und wirkt, ift nichts anders als das. Bewußtfein, zu wels 
chem ver Chrift beſonders fich erheben foll, daß die gläubigen insgefammt 
ein lebendiges organifches ganze bilden, in welchem nicht nur — wie Baulus 
» die Sache vorzüglich von dieſer Seite darſtellt — jedes Glied allen andern 
mnentbehrfich ift, fondern auch in jedem die eigenthüuliche Mirffamfeit aller 


277 


andern mitgejezt if. — Wenn nun weiter ebendaſelbſt von dem, in welchem 
fih fo beide Formen der religiöfen Grregung in.cinander gearbeitet haben, 
gefagt wird, er bedürfe feines Mittlerd mehr, fondern koͤnne ſelbſt Mittler 
fein für viele: fo if dieſes Wort bier nur in der ſchon durch frühere Ans: 
einanderjezungen bevorworteten untergeorhueten Bedeutung genommen, daß 
namlich nicht jeder in fich felbft ven richtigen Schlüfiel hat zum Verſtändniß 
alles menſchlichen, fondern faft allen vieles fo fremd if, daß nur, wenn fie 
es in einer andern ihnen yermandteren Form finden ober verbunden mit ans 135 
derem, welches für fie einen bejonderen Werth hat, fie es. anerkennen. Daber 
in dieſem Sinne diejenigen die Berftändigung vermitteln, welche mit dem 
anerfannteften das fremdefte in fich verbinden. In jenem der Demuth gegens, 
übergeftellten Gefühl if nun vorzüglich das Selbſtbewußtſein in foldde Durchs 
fihtigkeit und Genauigkeit gebilvet, daß auch das entfernteftle aufhört fremd 
zu erfcheinen und abzuſtoßen. Diefes Gefühl aber wird am reinften fein, 
wenn alle menfchliche Einfeitigfeit. in demjenigen angefchaut wird, aus wels 
chem alle Ginfeitigfeit verbannt war, und fo ift hier der höheren Mittlerwürbe 
des Grlöfers fein Abbruch gefchehen. 

15) ©. 241. Ohne etwas zurükknehmen zu wollen von dem was im 
diefer ganzen Rede die Hauptſache ift, daß naͤmlich alle höheren Gefühle ver 
Religion angehören, fo wie audy von dem nicht, dag Handlungen nicht uns 
mittelbar aus den Erregungen des Gefühls einzelne aus einzelnen hervor: 
gehen follen, möchte ich doch bevorworten, daß das hier gefagte vorzüglich 
aur von ber Sittenlehre der damaligen Zeit gilt, nämlich der fantifchen und 
figtifchen, vornämlich aber von ber. erfteren. Denn fo lange die Sittenlehre 
bie in jenen Syftemen am firengften befolgte Imperativifche Methode feft hält, 
Sonnen Gefühle in der Moral gar feinen Plaz finden, weil es fein &ebot 
geben faun, bu follft dies oder. jenes Gefühl haben. Ja am folgerechteften 
bleibt immer für ein ſolches Syſtem anf fie alle anzuwenden, was im Sinne 
defielben von der Freundfchaft ift gefagt worden, daß man nämlich Feine Zeit 
haben müfle eine auzufnüpfen und aufrecht zu halten... Auf diefe enge Born 
allein follte fi aber wol die Sittenlehre nicht befchränfen, und in jeder ans 
derm liegt ihr allerdings ob, chen dadurch; daß fie den Ort diefer Gefühle 
in der menschlichen Seele nachweifet, auch den fittlichen Werth derſelben an- 
zuerkennen, nicht als etwas das einer fich machen faun oder foll zu irgend 
gem Behuf und wozu er eine Anleitung erhalten Eönnte In. der Moral, 
ondern als freie natürliche Function des höheren Lebens, deren Verbindung 
ber mit den höheren Handlungsweifen und Marimen ſich auf das beftimm- 
ste nachweiſen läßt. In fofern fönnte dann auch eine Sittenlehre die Re⸗ 
giom in ſich aufuchmen, eben fo wie eine Darflellung der Religion auch 
te Sittlichfeit in jenem engeren Sinne in ſich unfnehmen muß, ohne daß 
eshalb beides eines und vafielbe würde. 

16) S. 249. Der hier gegebene Auspraff, dag Wunder nur ber reli: 
iöfe Name für Begebenheit überhaupt, und alfo alles Wunder ſei was ge: 
hieht, Fönnte leicht in den Verdacht Tommen, als ob er doch eigentlich dar⸗ 
uf ausginge das wunderbare zu läugnen; denn freilich, weug ler dia 


278 


Wunder ift, fo ift auch wieder nichts cin Wunder. Er ſteht aber in ge 
.nanem Zufammenhange mit den in der Glaubenslehre F. 14. Iufaz, $. 34, 


136 2. 3. u. $. 47. gegebenen Erklärungen. Denn wenn Beziehung einer Bes 
gebenheit auf die göttliche mitwirkende Allmacht und Betrachtung. berfelben 
in ihrem Naturzuſammenhang einander nicht ausſchließen, ſondern miteinas 
der fleigen konnen und fallen: fo hängt nur, welche Anficht zuexft gefaßt 
wird, von der Richtung der Aufmerffamfeit ab; wie wir denn überall, wo 
die Beziehung einer Begebenheit anf unfere Zwekke uns am meiften, interef- 
firt, die Unterfuchung des Naturzufammenhanges aber zu fehr ind Fleinliche 
gehen würde, da am meiften bie göttliche Fügung bemerken, umgekehrt aber 
den Naturlauf. Welche aber von beiden Anfichten. uns dic meifte Befriedi⸗ 
gung gewährt, das hängt davon ab, auf der einen Seite, wie gewiß wir 
find die Begebenheit in ihrem innerfien Gehalt gefaßt zu haben, fo daß wir 
mit einiger Sicherheit fagen können, das iſt das ver Bott gewollte, auf -ver 
andern Seite aber’ hängt es davon ab, wie tief wir in den Naturzuſanimen⸗ 
bang eindringen fünnen. Dies alles nun, find nur fubjective Unterſchiede, 
und wenn auch alle Menfchen in jedem Bälle dieſer Art in ihrer Anſicht 
zufammenftimmten. Daher bleibt e6 "allerdings wahr, daß alle Begebenhei⸗ 
ten, die am meiften eine religiöfe Aufmerkjamfeit erregen, nud in benen zu: 
gleich) ber Naturzufammenhang ſich am meiften verbirgt, auch am meiflen 
von allen als Wunder angefehen werben, ‚ben jo wahr aber auch, daß an 
ſich und gleichfam von der göttlichen Urfächlichfelt aus angefehen alle gleich 
fehr Wunder find. Wie nun in den Auseinanderfezungen der Glaubenslehre 
ohmerachtet der Abkiugnung des abfeluten Wunders dennoch das religiöfe 
Intereſſe am wunderbaren wahrgenommen und geveift worden ift: fo geht 
anch bier de Abficht nur dahin, es in feiner Reinheit darzuſtellen, und alle 
frembartigen Beimiſchungen zu entfernen, "die mehr einem fiumpffinnigen 
Staunen verwandt find, als fie von der freudigen Ahnung einer höheren 
Debeutung zeugen. 

17) ©. 250.. Schwierig ift eg, einen Begriff wie den der Gnadenwir⸗ 
fungen, der uns faft nur in feiner eigenthümlich' hriftlichen Geſtalt gelänflg 
ift, auf eine fo allgemeine Weife zu behandeln, daß auch alles mit unter der 
Erflärung befaßt wird, was in andern Religionsformen analoges vorkommt. 
Dahin gehört aber alles, wodurch ein Menfch ala ein’ befonverer Liebling 
ber Gottheit ausgezeichnet erſchien. In dem Begriff der Offenbarung nım 
ift mehr die Receptivität, in dem der Gingebung mehr die Productivität. 
Beides aber gehört zufammen in den Begriff der Gnadenwirkung, indem jenes 

mehr die Gnade, diefes mehr die Wirkung andeutet, und überall werben die 


ausgezeichnet frommen durch biefes beides charafterifirt.- Wenn aber in dem 


folgenden dem Ausdrukk Offenbarung ber des Hinelngehens der Welt in den 
Menfchen fubftituirt wird, dem Ausdrukk Eingebung aber ver des urfprüng- 
lichſten Hineintretens des Menschen in vie Welt: fo wird das legte wol we: 
nigem Zweifel unterworfen fein, da jede Eingebung Hervortreien will umd 
etwas bewirken in der Welt, und alles urfpränglichfie, am wenigften von 
außen veranlaßte, immer am meißen iR als Gingehung angefehen worden. 


Pe — — — — — - 


279 


Das erfie aber if zwar and) ber bier voraugehenden Erllärung von fen: 
barung angemeflen, tie ebenfalls um ter bier notbwentigen Allgemeinheit 
willen nicht anters fonnte gefaßt werten; aber dech könnte auch ihr leicht 
ber Borwurf gemacht werben, daß fie den umvellfommneren Religiensjormen 
zu Liebe die chriſtliche zurüdjeze, and anf fie weriger paſſe. Allein es darf 
nicht überfehen werben, daß bie Idee der Gottheit nicht auders als mit ber 
der Welt zugleich in unfer Bewußtfein tritt; daß aber bier au fein Anffaflen 
berfelben, welches nicht religiös fei, fondern etwa ſpeculativ, gebacht werben 
Tonne, dafür fcheint durch die Zuſaͤze hinreichend gefergt zu fein. 

- 18) ©. 254. Durch das, was in meiner Glaubensichre 5. 3—5. ge: 
fagt ift, wirt, Hoffe ih, das bier gefagte, und vorzüglich tiefes, daß alle 
frommen Erregungen Tas unmittelbare. Sein Gpttet in uns durch das Ge: 
fühl darftellen, in ein helleres Licht gefezt fein. Denn kaum bevarf es wel 
noch der Grinnerung, dag das Sein Göttes überhaupt Fein anderes fein kann 
ale ein wirffames, wie denn hier auch von einem wirkſamen, nämlich erregen: 
den die Rede if, umd daß eben fo umgkkehrt die göttliche Wirkfamfeit anf 
einen Gegenſtand das ganze Sein Gottes in Bezichung auf denſelben it, 
da es ein leidendes Sein Gotteqe nicht geben kann. Nur diefes bedarf viels 
leicgt einer .Erörterung, daß ich hier die Binheit unferes Wefens im Gegen; 
faz gegen die Vielheit der Zunctionen, als das göttliche in uns darſtelle, und 
von diefer Einheit fage, daß fie in den Erregungen ber Frommigkeit hervor⸗ 
tritt, da doch aus andern Heußerungen gefchlofien werben fünnte, daß das 
Selbfibewußtfein auch nur eine einzelne Function iſt; was aber das erſte be: 
trifft, wol Zweifel dagegen erhoben werben Eönnten, daß bie Cinheit unferee 
Weſens das göttliche in uns fei, ſondern wenn etwas fo genannt werden 
könne, fei- ed wol nur dasjenige, worin die Fähigfeit uns Gottes bewußt zu 
werben ihren Siz habe. Auch wenn diefe Ausftellungen gegründet wären, 
bliebe es immer babei,; daß in den frommen Erregungen grade das göttliche 
in uns aufgeregt fei, und dieſes wäre doch hier die Hauptſache. Was aber 
das übrige betrifft, fo kann freilich die Einheit uufers Weſens, weil fie das 
ſchlechthin innerliche if, nie an und für fich allein hervortreten, am unmittel- 
barſten aber erfcheint fie doch in dem Selbfibewußtfein, fofern in demfelben 
die einzelnen Beziehungen zurüfftveten; fo wie auf der andern Seite auch das 
Selbfibewußtfeiu am meiften dann, wenn bie einzelnen Beziehungen in dem: 
ſelben hervortreten, auch am meiften als einzelne Function erfcheint. 

19) ©. 257. Anch diefe ganze Auseinanderfezung wird Hoffentlich durch . 
das, was in der Glaubenslehre vorzüglich $. 8, Zufaz 2. geſagt ifl, mehr 138 
Licht erhalten, fo wie wiederum hier das dort gefagte ergänzt wird, Und 
da nun jeder beides zufammenftellen kann: fo ift wol nicht mehr nöthig noch 
eine DBertheidigungsrede zu halten gegen die Bermuthung, denn Befchuldigung 
will ich es nicht gern nennen, welche aus diefer Rede fogar einige mir fehr 
verehrte nun zum Theil ſchon binübergegangene Männer gefchöpft haben, 
als ob ich für mich die nnperfünliche Form das höchſte Weien zu denken 
vorzöge, und dies hat man denn bald meinen Atheismus bald meinen Epi: 
nozismus genannt Ich aber meinte, es fei Acht hriftlich, die Frömmigkeit 


280 


überall aufzufuchen, und unter welcher Geſtalt es auch fel anzuerfennen ; we 
nigftens finde ich dag Chriſtus dies ſelbſt feinen Sängern anbefohlen, und - 
daß auch Panlus nicht nur unter den Juden und Judengenofien, fondern 
auch zu Athen unter ven Heiden es alfo gehalten hat. Indem. ich aber 
ganz unbefangen fagte, wie es doch feinesweges einerlei fei, ob einer fich eine 
beftimmte Form das höchfte Weſen vorzuftellen nicht aneignen könne, oder 
ob einer es ganz lingne, und überhaupt die Frönimigkeit In ſich wicht auf 
fommen lafte: fo dachte ich nicht daran, gegen alle Gonfequenzen befonders 
zu proteſtiren, und erinnerte mich nicht, wie oft derjenige, der grabeaus geht, 
von den rechts gehenden dafür angefehen wir, links zu gehn. Wer am 
. die wenigen Worte wenigftens beherzigt, vie a. d. a, DO. über den Bantheis 
mus gejagt find, der. wird mir doch feinen materialiftifchen Pantheismus zu⸗ 
trauen, und wird auch wol bei einigem guten Willen finden, wie jemand 
auf der einen Seite t6 als faſt unabaͤnderliche Nothwendigkelit für bie hoͤchſte 
Stufe der Frömmigkeit erkennen kann, ſich die Vorftellung ˖eines perfönlichen 
Gottes anzueignen, nämlich überall wo es daranf anfonımt fich ſelbſt oder 
andern bie unmittelbaren religiöfen Erregungen zu dolmetfchen, oder wo 
das Herz im unmittelbaren Geſpraͤch mit dem höchften Wefen begriffen ifl, 
und wie derfelbe doch auf: der andern Seite die weſentlichen Unvollkommen⸗ 
beiten in ver Vorſtellung von einer Perfönlichkeit des hoͤchſten Weſens aner: 
fennen, ja das bevenfliche daran, wenn fie nicht auf das vorfichtigfte gerei- 
nigt wird, andenten kann. Auf diefe Reinigung find denn auch die tieffin- ' 
nigften unter den SKirchenlehrern immer bevacht geweſen, und wenn man 
dieſe das menfchliche und befchränfte in der Form der Perſonlichkeit hinweg 
zu tilgen beſtimmte Aeußerungen zufammenftellte: fo würde ſich zeigen, daß 
man alles zufammengenommen eben ſowol fagen könnte, ſie ſpraͤchen Gott 
Die Perfönlichkeit ab, als fie legten fie ihm bei; und daß, da es fo ſchwer 
fel eine Perfönfichfeit wahrhaft unendlich und Feidensunfühlg zu Senken, man 
einen großen Unterſchied machen follte zwifchen einem perfönlichen Gott und 
einem lebendigen. Das leztere allein ift eigentlich der vom materialiftifcgen 
Pantheismus und von der atheiftifchen blinden Nothwendigkeit ſcheidende Bes 
139 griff. Wie aber einer innerhalb dieſes Kanons fchwanft In Bezug anf bie 
Perfönlichkeit, das: muß man feiner vergegenwärtigenden Fantaße und feinem 
dialeftifchen Gewiſſen überlaflen; und ift der fromme Sinn vorhanden, fo 
werden dieſe einander gegenfeitig hüten. Bill jene eine zu menfchliche Ber: 
fönlichfeit bilden, fo wird dieſes ein Schreffbild bevenklicher Bolgerungen vor 
halten; will diefes die Vergegenwaͤrtigung zu ſehr hemmen durch negative 
Formeln, fo wird jene ſchon ihr Bedürfniß geltend zu machen wiſſen. Hier 
lag mir in diefer Hinficht befonders ob, aufmerkſam darauf zu machen, daß 
wenn bie eine Form ber Vorftellung nicht an und für ſich alle Brömmigfeit 
anschließt, diefe eben fo wenig durch die andere Form ſchon an und für fich 
gefezt if. - Wie viele Menſchen giebt es nicht auch, in deren Leben die Froͤm⸗ 
migfeit wenig Gewicht und Einflug Hat, und denen doch diefe Vorftellung 
unentbehrlich ift, als allgemeines Eupplement ihrer nach beiden Seiten hin 
abgebrochenen Banfalitätsreihen! Und wie viele Dagegen offenbaren die tieffle 


281 


Frömmigkeit, vie in ihren Aenferungen über das höchfle Wefen ven Begriff 
der Berfönlichfeit immer nicht recht entwiffeln. 


20) S. 262. Diefe Stelle weicht von der vorigen Ausgabe ab. Theils 
ſchien mir der Saz, daß auf die Sittlichfeit überhaupt nicht gehandelt wer: 
den könne, wiewol zichtig im Zuſammenhang mit dem vorigen, tech um nicht 
Mißverftänduifle hervorzubringen einer näheren Beflimmung bebürftig, die 
nicht hieher gehört hätte; theils ſcheint mir die ganze Betrachtung erft recht 
vollendet zu werden durch den Zuſaz, daß Freiheit und Sittlichkeit durch 
Borhaltung göftlicher Belohnungen geführbet werten. In dem Streit über 
diefe Sache, wie er zwifchen den Kantianerh vornehmlich und den Eubämo: 
niften ift geführt worden, hat man nicht felten überfehen, welch ein großer 
Unterfchied es ift, göttliche Belohnungen als Reizmittel vorhalten, und fie 
theoretifch gebrauchen um fich und andere über die Welterbnung zu verflän- 
digen. Das erfte ift wie ein umfittliches, fo auch vorzüglich ein unchriftlicheg 
BDerfahren und von ädyten Verkündigern nes Chriſtenthums auch gewiß nies 
mals angewendet worden, wie es denn auch in: der Schrift ganz feinen Grund 
bat. Das lezte ift natürlid) und nothwendig, indem nur dadurch eingefehen 
werben. kann, wie das göttliche Gefez fich über die ganze Natur des Men: 
ſchen eritreffe, und weit entfernt einen Zwieſpalt in derfelben zu veranlaflen, 
ihre Einheit auf das vollfommenfte bewahre. Aber dicfe Verfländigung iſt 
freilich fehr verfchieden, je nachdem Wahrheitsliebe und Wißbegierde fchon 
von allen fremden Einmifchnngen frei, oder denfelben noch unterworfen ift, 
Und da wird fchwerlich abzuläuguen fein, daß die Forderungen der Eigenliebe 
am meiften Willkür für die göttlichen Belohnungen in Anfpruch nehmen, 
und daß eben damit auch die beichränfteften Vorftellungen von göttlicher 140 
Berfönlichfeit zufammenhängen, weil nur in ver Perſoͤnlichkeit die Willfür 
ihren Siz haben kaun. 


21) ©. 264. Sehr ähnlich dem über die Perfönlichfeit Gottes gefagten 
iR es auch dieſer Stelle ergangen, welche eben fo gegen bejchränfte und in 
ihren tiefften Grunde unreine Borftellungen gerichtet ift, und eben folche 
Mißverſtaͤndniſſe erregt hat. Denn auch bier hat man zu finden gemeint, 
daß ich die Hoffnung der Unfterblichfeit in dem herefchenden Sinne des Wor- 
tes herabfezen, und indem ich ſie als eine Schwachheit darftelle, ihr entgegen: 
arbeiten wolle. Es war aber bier gar nicht der Ort über die Wahrheit ber 
Sache mich zu erklaͤren, oder die eigne Anſicht die ich davon als Chriſt habe 
vorzutragen, fondern dieſe wird man im zweiten Theile meiner Glaubenslehre 
finden, und auch viefes beides foll einander ergänzen. Hier aber war nur bie 
Frage zu beantworten, ob diefe Hoffnung fo wefentlich mit der frommen Rich: 
tung des Gemüthes verbunden fei, dag eines mit dem andern fiche und falle. 
Wie fonnte ich aber anders als dieſes verneinen, da von den meiften heuti- 
ges Tages angenommen ift, daß auch das alte Bundesvolf in früheren Zei- 
ten dieſe Hoffnung nicht gefannt habe, und da leicht nachzuweifen.ift, daß 
in dem Zuftand frommer Grregung die Seele mehr im Augenblikk verſenkt 
als der Zukunft zugewendet if, Nur feheint es hart, dan tiele Kcıe Te 


282 


unter ten edelſten Menſchen fc weit verbreitete Hoffnung anf die Grueue: 
rung des dann nicht wieder abzubrechenden Ginzellebens michi undeuntlich aus 
ber niedrigſten Stufe ver Selbftliche ableiten will, da es fo nahe lag, fie 
mehr aus dem Interefle der Liche an den geliehen Gegenftänden abzuleitsa. 
Allein indem mir alle Formen, nuter' denen bie Hoffnung der Unfterblichteit 
als das höchfte Selbfigefühl des Geiſtes verlommen kann, vor Augen ſchweb⸗ 
ten: fo fehlen es mir eben gegenüber den Gegnern bes Glanbens watürlid 
and nothwentig, andy hier dagegen zu warnen, daß nicht eine - bekimmte 
Vorftellungsweife und gerade diejenige, welche die unverfennbarften Spur 
eines fi dahinter verbergenden untergeorbneten Interefie an fich trägt, mil 
der Sache felbft verwechfelt werde, und die Aufgabe vorzubereiten, daß ma 
die Frage fo faſſe, wie fle nicht dem ganz auf die PBerfönlichkeit beſchraͤnkten 
oder an einzelne Wahlverwantichaften geketteten Selbfibewngtfein, fondern fi 
wie fie demjenigen natürlich ift, im welchem bas perfönliche Jutereſſe ſcho 
durch Unterordnung unter das zum Bewußtfein ver menfchlidyen Gattung 
und Natur verevelte GSelbftbewußtfein gereinigt if. Auf der andern Seitt 
aber war es nöthig, um endlofe und, je weiter fie fi) hinaus fpinnen mid: 
ten, defto mehr dem Hauptgegenſtand fremdere Anseinanderfezungen zu ver: 
meiden, daß eben die Gegner des Glaubens aufmerffam darauf gemacht wär: 
den, es fönne von diefer Sache auf eine rein religiöfe Weife nur unter benen 
die Rede fein, welche das allein des Sieges über den Tod würdige höher 
141 Leben, welches tie wahre Frömmigkeit giebt, ſchon -in ſich erbaut haben. St. 
nun hier der Widerwille etwas ftark aufgetragen gegen die Selbfttänfchung 
einer geringen Denfungsart und Gefinnung, welche fich etwas damit weih, 
dag fie die Unfterblichfeit auffaffen fünne, und daß fie durch die damit we: 
bundene Hoffnung und Zurcht geleitet werde: fo weiß ich dies nur davırd 
zu rechtfertigen, daß cs nichts rednerifch erfünfteltes if, fondern daß dieſes in 
der That in mir ein fehr flarfes Gefühl immer gewefen ift, und daß id 
nichts mehr wünfche, als jeder Menſch möge, wenn er fich über feine Kram 
migfeit prüfen will, ſich felbft fehen, nicht nur wie Plato fagt daß vie Cr 
Ien vor den Richtern der Unterwelf erfcheiuen, entfleivet von allem fremden 
Schmuff, ven fe den äußern Lebensverhältnifien verdauken, ſondern and 
nachdem er dieſe Anfprüche auf unendliche Bortvauer abgelegt, damit er dam, 
wenn er fich felbft ganz wie er Ift betrachtet, entfcheiden möge, ob jene In 
fprücdhe etwas mehr find als bie Titel, womit oft die mächtigen der Erde ſich 
fchmüffen zu müflen meinen, von Ländern die fie nie weder befefien haben 
noch befizen werden. Wer.nun dann fo entkleidet doch das ewige Leben bei 
fich findet, worauf dad Ende diefer Rede deutet, mit dem wird es Leicht fein 
fih fo zu verfländigen, wie meine. Darftellung des chriftlichen Glaubens & 
verſucht. — Mebrigens aber ift die auch hier angebeutete Parallele zwiſchen 
beiden Ideen, Gott und Uinfterblichkeit, in Abficht der verſchiedenen Vorſtel⸗ 
lungsarten nicht zu überfehen. Denn fo wie die menfchenähnlichfte Perſon 
lichfeit Gottes fidy vorftellen ein gewöhnlich auch fittlich verunreinigtes Be 
wußtſein vorausſezt: fo iſt es daſſelbe mit einer foldhen Borftellung ver Us 
Sterblichkeit, welche wie die elyfeifchen Gefilde nur eine verſchonerte und et⸗ 


\ 


283 


“ weiterte Erbe abbildet. Und wie ein großer Unterfchieb iR zwiſchen Gott 
'-amf eine ſolche Weiſe perfönlich nicht venfen fünnen, uud dem gar feinen Ic 
bendigen Gott venfen, und nur tiefes erſt den Atheismus bezeichnet: fo andh 
iſt derjenige, der am einer ſolchen Aunlichen Borftellung der Unfterblichfeit 
nicht Hängt, noch weit entfernt davon, gar feine Unferblichfeit zn hoffen. 
Und wie wir jeden fromm nennen wollen, ver einen Ichenbigen Bott glaubt, 
fo andy jeven der ein ewiges Leben des Geiftes glaubt, ohne irgent eine Art 


und Weife ansfchliegen zu wollen: 


Dritte Nede 


Ueber die Bildung zur Religion. 


u DICH: ich felbft bereitwillig eingeftanden habe, als tief im Cha 
rakter der Religion liegend, dad Beſtreben Profelyten machen, zu 
wollen aus den ungläubigen, das ift es doch nicht, was mic) 

jezt antreibt auch ‚über die Bildung der Menfchen zu diefer er: 
babenen Anlage und über ihre Bedingungen zu Euch zu reden. 

Zu jenem Endzwekk kennen. wir.gläubigen fein anderes Mit: 
tel, ald nur dieſes, daß die Religion fich frei äußere und mit 
theile. Wenn fie fich in einem Menfchen mit aller ihr eignen 
Kraft: bewegt, wenn fie alle Vermögen feines Geiſtes in den 
Strom diefer Bewegungen gebieterifh mit fortreißt: fo erwarten 
wir dann auch, daß fie hindurchdringen werde bis ind innerfle 
eines jeden einzelnen, der in ſolchem Kreife lebt und athmet, ba 
jedes gleichartige in jedem werde berührt werden, und von ber 
belebenden Schwingung ergriffen zum Bewußtſein feines Dafeind 
gelangend durd einen antwortenden verwandten Zon dad har: 
rende Ohr des auffordernden erfreuen werde; Nur fo, durch bie 

- natürlichen Yeußerungen des eignen Lebens will der fromme das 
ähnliche aufregen, und wo ihm dies nicht gelingt, verſchmaͤht er 
vornehm jeden fremden Reiz, jedes gewaltthätige Verfahren, bes 
rubigt bei der Ueberzeugung, die Stunde fei noch nicht da, wo 
fi) bier etwas ihm verfchwiftertes vegen könne. Nicht neu ifl 
uns allen dieſer mißlingende' Ausgang. Wie oft habe auch ich 


285 


bie Mufit meiner Religion angeſtimmt um bie gegenwärtigen. zu 
bewegen, von einzelnen leifen Tönen anhebend, und bald durch 
jugendlichen Ungeftüm fortgeriffen bis zur volleften Harmonie ber ı2 
religiöfen Gefühle! aber nichtd regte fich und antwortete in ben 
Hörern.- Bon wie vielen werben auch diefe Worte, die ich einem 
größeren und beweglicheren Kreife vertraue, mit allem was fie 
guted darbieten folten, ‚traurig zu mir ‚zurüflehren, ohne vers 
fanden zu fein, ja ohne auch nur. die leifefte Ahndung von ihrer 
Abficht erwekkt zn haben! Und wie oft werden alle Verkuͤndiger 
der Religion, und ich mit ihnen, dieſes und von Anbeginn bes 
ſtimmte Schikkſal noch erneuern! Dennod wird und dies nie 
quälen, denn wir wiflen daß ed nicht. anderd begegnen darf, 
und nie werben wir aus unferm rubigen Gleichgewicht heraus» 
geriffen den Werfuch machen unfere Sinnedart aufzubringen auf 
irgend einem andern Wege weber dieſem noch dem Fünftigen Ge- 
fchlechte. Da jeder von und ‚nicht weniged an fich felbft vermißt, 
was zum ganzen der Menfchheit gehört; da fo viele vieles ent: 
behren: welches Wunder, wenn auch die Anzahl derer groß ift, 
denen die Religion in fich auszubilden verfagt wurde! Und fie 
‚muß nothmendig groß fein: denn wie kaͤmen wir fonft zu einer 
Anichäuung von ihr felbft in ihrem, daß ich fo fage, fleilchgewors 
denen gefchichtlichen Dafein und von. den Grängen, welche fie 
nach allen Seiten hinaus den übrigen Anlagen des Menfchen 
abſtekkt, von ihnen wieder auf mannigfaltige Weiſe begrenzt? 
woher wüßten wir, wie weit der Menſch ed hier und dort brin 
gen kann ohne fie, und wo fie ihn aufhält und fördert? woher 
ahndeten wir, wie fie, auch ohne daß er es weiß, in ihm gefchäf- 
tig iſt? Beſonders iſt es der Natur der Dinge gemäß, daß in 
diefen Zeiten allgemeiner Verwirrung und Ummwälzung ihr fchlum: 
mernder Funke in vielen nicht aufglüht, und, wie liebevoll und 
longmüthig wir fein auch pflegen möchten, doch felbft in folchen 
nicht zum Leben gebracht wird, in denen er unter glüfflichern 
Umftänden fi durch alle Hinderniffe würde hindurchgearbeitet 


286 


haben. Wo nicht8 unter allen menfchlichen Dingen unerſchuͤttert 
bleibt; wo jeder grade das, was ſeinen Plaz in der Welt beſtimmt 
1 und ihn an die irdiſche Ordnung ber Dinge feſſelt, in jedem 
Augenblikk im Begriff fieht nicht nur ihm zu entfliehen und ſich 
von einem andern ergreifen zu laffen, fondern..unterzugehen im 
Allgemeinen Strudel; wo bie einen nicht nur Feine Anſtrengung 
ihrer eigenen Kräfte fcheuen, fonderh auch noch nach allen Sei⸗ 
ten um Huͤlfe rufen, um dasjenige feſtzuhalten, was ſie fuͤr die 
Angeln der Welt und der Geſellſchaft, der Kunſt und der Wil: 
fenfchaft anfehen, die ſich nun durch ein unbefchreibliched Schikk⸗ 
fal wie von felbft aus ihren innerften Gründen ploͤzlich empor: 
heben, und fallen laſſen was fich fo lange um fie bewegt hatte; 
wo die andern mit eben dem rafllofen Eifer gefchäftig find die 
Trümmern eingeflürzter Jahrhunderte aud dem Wege zu räumen, 
um unter den erften zu fein, die fich anfledeln auf dem frucht: 
baren Boden, der. fich unter ihnen bildet aus der. [chnel erkal⸗ 
tenden Lava des fchrefflihen Wulcand; wo jeder,. auch ohne feine 
Stelle zu verlaffen, von den heftigen Erfchütterungen. des ganzen 
fo gewaltig bewegt wird, daß er in dem allgemeinen Schwindel 
froh fein muß irgend einen einzelnen Gegenftand feſt genug ind 
Auge zu faffen, um fih .an ihn halten und fich allmaͤhlig über 
zeugen zu koͤnnen daß doch etwas noch flehe: in einem ſolchen 
Zuftande wäre es thöricht zu erwarten, daß viele geſchikkt fein 
koͤnnten religioͤſe Gefuͤhle auszubilden und feſtzuhalten, die am 
beſten in der Ruhe gedeihen. Zwar iſt mitten in dieſer Gäh: 
rung der Anblikk der fittlichen Welt.mehr ald je majeflätifch und 
erhaben, und in Augenbliften laffen ſich jezt bedeutendere Zuͤge 
ablauſchen, als ſonſt wol in Jahrhunderten: aber wer kann ſich 
retten vor dem allgemeinen Treiben und Drängen! wer kann der 
Gewalt jedes beſchraͤnkteren Intereſſe entfliehen? wer hat Ruhe 
genug um ſtill zu ſtehen, und Feſtigkeit um unbefangen anzw 
Ihauen? Jedoch auch die gluͤkklichſten Zeiten voraudgefezt, und 
den beften Willen, die Anlage zur Religion nicht nur da wo fit 


nad 4 Ir. mi —o E27 P 1 u Zum * pP Bu au pe . u — — — — — 


287 


ift durch Mittheilungen aufzuregen, fondern fie auch einzuimpfen 
und anzubilden: auf. jedem Wege der -dazu führen- könnte: wo 
giebt es denn einen folhen Weg? Mas durch eines andern Thaͤ⸗ 145 
tigkeit und Kunſt in den Menfchen gewirkt werben kann, ift nur - 
diefes, ihnen feine Vorſtellungen mittheilen, und fie zu einer 
Niederlage feiner Gedanken machen, fie fo weit’ in die feinigen 
verflechten, daß er fich deren erinnere zu gelegener Zeit; dieſes 
möchte wol einer vermögen, aber nie Tann einer bewirken, daß - 
andere die Gedanken, welche er will, auß fich hervorbringen. — 
Ihr feht den Widerſpruch, der fhon ans den Worten nicht her: 
audgebracht werden kann. Nicht einmal dazu läßt fich einer ge: 
wöhnen, daß er Auf einen beſtimmten Eindrukk, fo oft er ihm 
fommt, eine beflimmte Gegenwirkung erfolgen laffe; viel weniger 
wird man einen dahin bringen, über dieſe Berbindung hinaus 
zu gehen, und. eine innere Thätigkeit, welche. man will, frei zu 
erzeugen. Kurz, auf den Mechanismus des Beiftes kann jeder 
wol einigermaßen wirken, aber in die Drganifation defjelben, in 
dieſe geheiligte Werkſtaͤtte des Univerfum, kann feiner nach Will⸗ 
kuͤr eindringen; da vermag keiner irgend etwas zu aͤndern oder 
zu verſchieben, wegzuſchneiden oder zu ergaͤnzen, nur vielleicht 
gewaltſam zuruͤkkhalten laͤßt ſich, eben’ vermoͤge des Mechanis⸗ 
mus, die Entwikkelung des Geiſtes. So kann man denn frei⸗ 
lich einen Theil des Gewaͤchſes gewaltſam verſtuͤmmeln, bilden 
aber nicht; denn eben aus dieſem jeder Gewalt unerreichbaren 
innerſten ſeiner Organiſation muß alles hervorgehen, was zum 
wahren Leben. des Menſchen gehören und ein immer reger und 
wirkjamer Zrieb in ihm fein fol. Und von diefer Art ifl. die. 
Religion, in dem Gemüth welches fie bewohnt ift fie ununter: 
brochen wirkſam und lebendig, macht alles zu einem Gegenftande 
für fich, und jedes Denken und Handeln zu einem Thema ihrer 
bimmlifchen Fantafie. Eben deshalb alfo liegt fie, wie alles 
was wie fie ein intmer gegenwärtiges und  lebendigeö fein  foll 
im menfchlihen Gemüth, weit außer dem Gebiet ded Lehrens 


288 


und Anbildend. Darum if iedem, der die Religion fo anfieht, 
Unterricht in ihr, in dem Sinn, ald ob die Frömmigkeit felbft 
lehrbar wäre, ein abgefchmakftes und finnleered Wort: LUnfere 
146 Meinungen und Lehrfäze können wir andern wol mittheilen,. bazu 
bebürfen wir nur der Worte, und fie nur der auffafienden und 
nachbildenden Kraft ded Verſtandes: ‚aber wir willen fehr wohl, 
daß dad nur die Schatten unferer religiöfen Erregungen find; und 
wenn unfere Schüler diefe nicht mit und theilen, fo haben fie, 
auch wenn fie dad mitgetheilte ald Gedanken wirklich verftehen, 
‚doch daran feinen wahrhaft lohnenden Beſiz. Denn diefed In 
fich ergriffen fein und darin fein felbft inne werden läßt fich nicht 
lehren; ja audy der erregtefte, der, vor welchen Gegenſtaͤnden er 
ſich auch befinde, ‚dennoch überall das urfprüngliche- Kicht des 
Univerfum aus ihnen einzufaugen weiß in fein Organ, vermag doch 
nicht durch dad Wort der Lehre die Kraft und Fertigkeit dazu 
aus fich in andere zu übertragen. Es giebt zwar ein nachah: 
mended Talent, welches wir in einigen "vieleicht fo weit aufres 
gen koͤnnen, daß ed ihnen leicht wird, wenn heilige Gefühle 
ihnen in Eräftigen Toͤnen bargeftelt werden, einige Regungen 
in fi bervorzubringen, die dem von ferne gleichen, wovon 
fie unfre Seele erfüllt fehen: aber durchdringt das ihr inner: 
ſtes Wefen? ift das im wahren Sinne.ded Wortes Religion? 
Wenn ‚Ihr den Sinn für dad Univerfum mit dem für die 
Kunft vergleichen wollt, fo müßt Ihe diefe Inhaber einer yafı 
fiven Religiofität — wenn man ed noch fo nennen will — nicht 
etwa benen gegenüberitellen, die ohne felbft Kunſtwerke her 
vorzubringen dennoch von jedem was zu ihrer Anfchauung 
kommt gerührt und ergriffen werben. Denn die Kunftwerfe der 
Religion find immer. und überall ausgeftellt; die ganze Welt if 
eine Gallerie religiöfer Anfichten, und ein jeder befindet ſich mit. 
ten unter ihnen. Sondern denen müßt Ihr fie vergleichen, bie 
nicht eher zur Empfindung gebracht werden, bis man ihnen Som: 
mentare und Fantafien über Werke der Kunft ald ärztliche Reiz 


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we. 


289 . 2} 


mittel für das abgeflumpfte Lebensgefühl beibringt, und die auch 
dann in einer uͤbel verſtandnen Kunſtſprache nur einige unpaſ⸗ 
ſende Worte herlallen wollen, die nicht ihr eigen ſind. So weit 


und weiter nicht koͤnnt ihr es bringen durch die bloße Lehre; dies 147 


iſt das Ziel alles abfichtlichen Bildens und Uebens in dieſen 
Dingen. Zeigt mir jemand, dem Ihr Urtheilskraft, Beobachtungs⸗ 
geiſt, Kunſtgefuͤhl oder Sittlichkeit angebildet und eingeimpft habt; 
dann will ich mich anheiſchig machen auch Religion zu lehren. 
Es giebt freilich in ihr ein Meiſterthum und eine Juͤngerſchaft, 
es giebt einzelne, an welche tauſende ſich anſchließen: aber dieſes 
Anſchließen iſt keine blinde Nachahmung, und Juͤnger ſind das 
nicht weil ihr Meiſter ſie dazu gemacht hat, ſondern er iſt ihr 
Meiſter weil fie ihn dazu gewaͤhlt haben). Wer aber auch 
durch die Aeußerungen feiner eignen Religion fie in andern aufs 

geregt hat, der hat nun doch dieſe nicht mehr in feiner Gewalt " 
fie bei fich. feflzuhalten: frei ift auch ihre Religion, fobald fie 
lebt, und geht ihres eigenen Weges. Sobald der heilige Funken 
aufglüht in einer Seele, breitet er ſich aus zu einer freien und 
lebendigen Slamme, die aus ihrer eignen Atmofphäre ihre Nah⸗ 
rung faugt. Mehr oder weniger erleuchtet fie der Seele den 
ganzen Umfang der Welt, und nach eignem Triebe kann biefe 
fi) anfiedeln, aud fern von dem Punkt, auf welchem fie zuerft 
entzündet ward für dad neue Leben. Nur vom Gefühl ihres 
Unvermögensd und ihrer Endlichkeit, von einer urfprünglichen ins 
nern Beflimmtheit gedrungen. fich in irgend eine beflimmte Ge⸗ 
gend niederzulaffen, wählt fie, ohne deshalb undankbar zu wer: 
den gegen ihren erſten Wegweifer, jedes Klima, welches ihr am 
befien zufagt; da fucht fie ſich einen Mittelpunkt, bewegt ſich 
durch freie Selbftbeichränfung in ihrer neuen Bahn, und nennt den 
ihren Meifter, der diefe ihre Lieblingdgegend zuerfi aufgenommen 
und in ihrer Herrlichkeit dargeftellt hat, feine Juͤngerinn durch 
eigne Wahl und freie Liebe 2). Nicht alſo als ob ich Euch ober 
andere bilden wollte zur Religion, oder Euch lehren wie Ihr 

Schleierm. W. J. 1. X | 


x 


N 200 


Euch felbft abfichtlich oder kunſtmaͤßig dazu bilden möge: nein, 
ich will nicht aus dem Gebiet der Religion herausgehn, was id 
fomit thun würde, fondern noch länger mit Euch innerhalb dei. 
ſelben verweilen. Das Univerfum bildet fich felbft feine Betrach⸗ 
13 ter und Bewunderer, und wie das gefchehe, wollen wir nur ans 
ſchauen, fo weit ed ſich anfchauen läßt. 

Ihr wißt, die Art, wie jedes einzelne Element der Menſch⸗ 
heit einem Individuum einwohnt, giebt fich daran zu erkennen, 
wie es durch die übrigen begrenzt oder freigelaflen wird; nur 
durch dieſen allgemeinen Streit erlangt jedes in jedem eine be 
flimmte Geftalt und Größe, und diefer wiederum wird nur durch 
die Gemeinfchaft der einzelnen und durch die Bewegung des 
ganzen unterhalten. So ift jeder und jedes in jedem ein Werk 
des ganzen, und nur fo fann der fromme Sinn den Menfchen 
auffaffen. Auf diefen Grund der unleugbaren von Euch geprie 
fenen, von mir aber beklagten religiöfen Beſchraͤnkung unferer 
Zeitgenoffen möchte ich Euch zurüffführen; ich möchte Euch deut 
lich machen, warum wir fo und nicht anders find, und was ge 
fhehen müßte, wenn, wie es mir hohe Zeit ſcheint, unſere Graͤn⸗ 
zen auf dieſer Seite wieder ſollten erweitert werden. Und ich 
wollte nur, Ihr koͤnntet Euch hiebei bewußt werden, wie auch 
Ihr durch Euer Sein und Wirken zugleich Werkzeuge des Unis 
verfum feid, und wie Euer auf ganz andre Dinge gerichtete 
Thun Einfluß hat auf die Religion und ihren nächften Zuſtand. 

Der Menſch wird mit der religiöfen Anlage geboren, wie 
mit jeder andern, und wenn nur fein Sinn für feines eignen 


Mefend innerſte Ziefe nicht gewaltſam unterbrüßft, wenn nur 


nicht jede Gemeinfchaft zwifchen ihm und dem Urweſen gefperret 
und verrammelt wird, denn Died find eingeflanden die beiden 
Elemente der Religion, fo müßte fie fih auch in jedem unfehls 
bar auf feine eigne Art entwilleln; aber das ift e8 eben, was 
leider von der erſten Kindheit an in fo reihem Maaße gefchieht 
zu unferer Zeit, Mit Schmerzen fehe ich es täglich, wie bie 


291 


Wuth des Berechnens und Erklären den Sinn gar nicht aufs 
kommen läßt, und wie alled fich vereinigt ben Menfchen an das 
enbliche und an einen fehr Beinen Punkt deffelben- zu befefligen, - 
damit dad unendliche ihm fo weit ald möglich aud den Augen 
gerüfft werde. Wer hindert dad Gedeihen der Religion? Nicht 10 
Hr, nicht die Zweifler und Spötter; wenn Ihr auch, wie biefe, 
gern den Willen mittheiltet, Feine Religion zu haben: fo flöret 
Ihr doch, weil Eure Einwirkungen erft fpäter einen empfängs 
lichen Boden finden, die Natur nicht, indem fie aus dem in: 
nerften Grunde der Seele der Frömmigkeit herausarbeiten will, 
Auch nicht die fittenlofen hindern am meiften dad Gebeihen 
der Religion, wie man wol meint; ihr Streben und Wir 
fen ift einer ganz andern Kraft entgegengefezt ald diefer. Aber 
die verftändigen und praktiſchen Menfchen von heut zu Rage, 
biefe find in dem jezigen Zuſtande der Welt das feindfelige gegen 
die Religion, und ihr großes Uebergewicht ift die Urfache, warum 
fie eine fo dürftige und unbedeutende Rolle fpielt. Von ber 
zarten Kindheit an mißhandeln fie den Menſchen, und unter: 
druͤkken fein Streben nach dem höheren. Mit großer Andacht 
kann ich der Sehnfucht junger Gemüther nady dem wunderbaren 
und übernatürlichen zufehen. Wie freudig fie auch den bunten 
Schein der Dinge in fi aufnehmen, doch fuchen fie zugleich 
etwas anbered, was fie ihm entgegenfezen fönnen; auf allen Seis 
ten greifen fie umher, ob nicht etwas tiber die gewohnten Er: 
ſcheinungen und das leichte Spiel ded Lebens hinausreiche; und 
wie viel auch ihrer Wahrnehmung irdifche Gegenftände dargebo: 
ten werden, ed ift immer ald hätten fie außer diefen Sinnen 
noch andre, welche ohne Nahrung vergehen müßten. Das ift bie 
erfte Regung der Religion. Cine geheime unverflandene Ahn: 
dung treibt fie über den Neichthum dieſer Welt hinaus; daher 
ift ihnen jede Spur einer andern fo willfommen; daher ergözen 
fie fih an Dichtungen von überirdifchen Wefen, und alled wovon 
ihnen am klarſten ift, daß ed hier nicht fein kann, umfaffen fie 
Tr 


292 


am ſtaͤrkſten mit jener eiferfüchtigen Liebe, die man einem Ge 
genflande widmet, auf welchen man ein tief gefühltes aber nicht 
äußerlich geltend zu machendes Recht hat. Zreilich iſt ed eine 
Zäufchung, dad unendliche grade außerhalb ded endlichen, dad 
geiftige und höhere außerhalb des irdifchen und finnlichen zu - 
150 fuchen; aber ift fie nicht höchft natürlich bei denen, welche aud 
das endliche und finnliche ſelbſt nur nody ganz von der Ober 
fläche kennen? und ift ed nicht die Zäufchung ganzer Voͤlker, 
und genzer Schulen der Weisheit? Wenn ed Pfleger der Reli: 
gion ‚gäbe unter denen, die fich ded jungen Gefchlechtes anne: 
men, wie leicht wäre biefer von ber Natur felbft veranftaltee 
Irrthum hernach berichtigt, und wie begierig würbe dann in hei: 
leren Zeiten die junge Seele fich den Eindrüffen des unendlihen ' 
in feiner Algegenwart überlaffen! Ehedem lieg man hierin bad 
Leben felbft ruhig walten; der Geſchmakk an groteöten Figuren, . 
meinte man, fei der jungen Fantafie eigen in der Religion wie 
in der Kunftz man befriedigte ihn in reihem Maaß, ja man 
knuͤpfte unbeforgt genug die ernfle und heilige Mythologie, dad 
was man felbft für das innerſte Wefen der Religion hielt, um 
mittelbar an diefe Iuftigen Spiele der Kindheit an: der Hmm 
lifche Water, der Heiland und die Engel waren nur eine andre 
Art von Feen und Silfen. Und wurde auch durch manches in 
biefen Eindlichen Vorftellungen bei vielen der Grund gelegt zu 
einer leichteren Herrichaft eines unzureichenden und todten Buch 
ftaben, wenn die früheren Bilder erbleichten, dad Wort aber, 
als der leere Rahmen, in dem fie befeftigt gewefen waren, hängen 
blieb: dennoch "blieb bei jener Behandlung der Menfch mehr fi 
jelbft überlaffen, und leichter fand ein grabfinniges unverdorbened 
Gemuͤth, das fich frei zu halten wußte von dem Kizel ded Gruͤ⸗ 
belns und Klügelnd, zu rechter Zeit den natürlichen Ausgang 
aus dieſem Labyrinth. Jezt hingegen wird jene Neigung von 
Anfang an gewaltiam unterbrüfft, alled geheimnißvolle und wun⸗ 
berbare ift geächtet, die Zantafie ſoll nicht mit Iuftigen Bildern 


/ 
\ 


293 


angefüllt werden; man kann ja, fagen fie, unterdeß eben fo leicht 
dad Gebächtnig mit wahren Gegenftänden anfüllen und Borbe 
reitungen treffen aufs Leben. So werden die armen jugenblis 
chen Seelen, die. nach ganz anderer Nahrung verlangt, mit mo: _ 
zalifchen Sefchichten gelangweilt, und follen lernen wie ſchoͤn und 
nüzlich es ift, fein artig und verfländig zu fein; von einzelnen ısı 
Dingen, die ihnen bald genug von ſelbſt entgegentreten würden, 
werben ihnen die überall geläufigen Vorftelungen, ald ob es große 
Eile damit hätte, je eher je lieber eingeprägt, und ohne Ruͤkkſicht 
auf das zu nehmen was ihnen fehlt, reicht man ihnen noch immer 
mehr von dem, wovon fie nur gar zu bald zuviel haben werben. 
In dem Maag, ald der Menſch fich mit dem einzelnen auf eine 
befchränkte Weife befchäftigen muß, regt ſich auch, damit die AU. 
gemeinheit des Sinned nicht untergehe, in jedem der Trieb, bie. 
berrfchende und jede ähnliche Tchätigkeit ruhen zu laffen, und 
nur alle Organe zu öffnen, um von allen Eindruͤkken durchdruns 
gen zu werden; und durch eine geheime höchft wohlthätige Sym⸗ 
pathie ift diefer Trieb grade dann am flärkften, wann ſich das 
allgemeine Leben in der eignen Bruft und in der umgebenden 
Belt am vernehmlichiten offenbart: aber dag ed ihnen nur nicht 
vergönnet wäre, dieſem Zriebe in behaglicher unthätiger Ruhe 
nachzuhängen! denn aud dem Standpunkt ded bürgerlichen Les 
bend wäre Died Trägheit und Müßiggang. Abficht und Zweit 
muß in allem fein, fie müffen immer etwas verrichten, und wenn 
der Geift nicht mehr dienen kann, mögen fig den Leib üben; Ar 
beit und Spiel, nur Feine ruhige hingegebene Beſchauung. — 
Die Hauptfache aber ift die, daß fie alled zerlegend erklären fol: 
fen, und mit diefem Erklären werben fie völlig betrogen um ihren 
Sinn; denn fo wie jened betrieben wird, ift ed diefem fchlechthin 
entgegengefezt. Der Sinn fucht ſich Gegenftände felbfithätig auf, 
er geht ihnen entgegen und bietet fich ihren Umarmungen bar; 
er theilt ihnen etwas mit, was fie auch wieber al& fein Eigen 
thum, als fein Werk bezeichnet, er will finden und A Kitten 


294 


laſſen; jened Erklären aber weiß nichts von diefer lebendigen An- 
eignung, von diefer lichtenden Wahrheit und diefem wahrhaften 
Erfindungsgeift in der Eindlichen Anfchauung. Sondern von An 
fang an follen fie alle Gegenftände als ein fchlechthin gegebene 
nur genau abfchreiben in Gedanken, fo wie fie ja wirklich Gott 
fei Dank da find, für alle immer daffelbe, ein wohlerworbenes 
162 angeerbted Gut für jedermann, wer’ weiß wie lange fchon in 
guter Ordnung aufgezählt und nach allen ihren Eigenſchaften 
beftimmt. Darum nehmt fie nur, wie das Leben fie Bringt; 
denn grade die, die es bringt, müßt Ihr verftehen, felbft aber 
fuchen und gleichfam lebendiges Gefpräch mit den Dingen füh 
ren wollen, ift excentrifch und hochfahrend, es iſt ein vergeb: 
liches reiben, nicht fruchtend im menfchlichen Leben, wo 
alles nur fo angefehen und behandelt wird wie es ſich Eud 
fchon von felbft darbietet. Freilich nichts frushtend dort, nur 
daß ein reged Leben auf wahrer innerer Bildung ruhend nicht 
‚gefunden wirb ohne dies. Der Sinn ſtrebt den ungetheilten - 
Eindruff von etwas ganzem zu faffen; was und wie etwas 
für fi ift will er anfchauen, und jedes in feinem eigenthüm- 
lichen Charakter erkennen: daran ift ihnen für ihr Verſtehen 
nicht8 gelegen; das Was und Wie liegt ihnen zu weit, e8 iſt nur 
dad Woher und Wozu, in welchem fie ſich ewig berumdrehen, 
nicht an und für ſich, fondern nur in beflimmten einzelnen Be 
ziehungen, und eben darum nicht ganz fondern nur ſtuͤkkweiſe 
wollen fie etwad begreifen. Denn freilich danach fragen oder 
gründlich unterfuchen, ob und wie dad was fie verſtehen wollen 
ein ganzes iſt, dad würde fie viel zu weit führen, und wenn fit 
dies begehrten, würden fie auch fo ganz ohne Religion wol nicht 
abkommen, fondern gebrauchen wollen fie nur zu was immer für 
trefflichen Zwekken, und zum Behuf des Gebrauchd zerſtuͤkkeln 
und anatomiren. Und auf dieſe Art gehen ſie ſogar mit demje 
nigen um, was vorzuͤglich dazu da iſt den Sinn auf ſeiner hoͤch 
ſten Stufe zu befriedigen, mit dem was gleichſam ihnen zum 


295 


Troz ein ganzes ift im fich felbft, ich meine.mit allem was Kunft 
ift in der Natur und in den Werken des Menfchen: fie vernic: 
ten es, che ed feine Wirkung thun kann, weil fie e8 im einzel: 
nen erklären, es durch Auflöfung erft feines Kunſtcharakters be 
rauben, und dann died und jenes aus abgeriffenen Stuͤkken leh⸗ 
ren und eindruͤkklich machen wollen. Ihr werdet zugeben müffen, 
daß died in der That die Praris unferer verfiändigen Leute iſt; 
Ihr werdet geftehen, daß ein reicher und Eräftiger Ueberfluß an 
Sinn dazu gehört, wenn auch nur etwas davon dieſer feindfeligen 15 
Behandlung entgehen fol, und daß fchon um deöwillen die An: 
zahl derer nur gering fein kann, welche fich zu einer folchen Be: 
trachtung irgend eines Gegenflanded zu erheben ‚vermögen, bie 
etwas religiöfed in ihnen aufregen kann. Noch mehr aber wird 
dieſe Entwikklung dadurch gehemmt, daß nun noch das mögliche 
gefchieht, damit der Sinn, welcher noch übrig blieb, fich nur nicht 
aufd Univerfum binwende. In den Schranken ded bürgerlichen 
Lebens muß die Jugend feflgehalten werden mit allem was in 
ihr iſt. Alles Handeln fol ſich ja doch auf diefed beziehn, und 
fo, meinen fie, beftehe auch die gepriefene innere Harmonie des 
Menſchen in nichts anderm, als daß ſich alles wieder auf fein 
. Handeln beziehe. Nur bedenken fie nicht, daß doch das Sein 
eines jeden im Staate ihm auch lebendig und aus dem ganzen, 
wie ber Staat felbft eniftanden ift, muß entftanden fein, wenn 
8 ein wahres und’ freied Leben fein fol. Sondern in eine blinde 
Bergötterung des gegebnen bürgerlichen Lebens verſunken, find 
‚fie auch überzeugt, daß in demfelben jeder Stoff genug finde für 
feinen Sinn, und reiche Gemälde vor fich fähe, und daß fie des⸗ 
balb fchon Recht hätten Tieber zu verhüten daß nicht einer noch 
‚etwas andered fuche und ungenügfam herauötrete aus diefem Ge: 
fichtöpunft, der zugleich fein natürlicher Stand» und Drehpunkt 
it. Daher dünfen ihnen alle Erregungen und Verſuche, welche 
hiemit nichtö zu thun haben, gleichlam unnüze Ausgaben, die nur 
erſchoͤpfen, und von benen bie Geele möglichit abgehalten werhen 


26 | 


muß durch zwekkmaͤßige Thätigkeit. Daher ift reine Liebe zur | 
Dichtung und zur Kunft, ja auch zur Natur, ihnen eine Aus | 
fhweifung, die man nur buldet, weil fie nicht ganz fo arg iſt 
als andere, und weil mande darin Troſt und Erfaz finden für 
allerlei: Uebel. So wird aud dad Wiffen mit einer weifen und 
nüchternen Mäßigung und nie ohne Beziehung auf das Leben 
betrieben, damit es dieſe Grenzen nicht überfchreite; und indem 
auch das kleinſte was auf diefem Gebiet Einfluß hat nicht and 
1a der Acht gelaffen wird, verfchreien fie, eben weil es weiter zielt, 
dad größte, als wäre ed etwas geringes oder verkehrted. Daß 
es demohnerachtet Dinge giebt, die bis auf eine gewiſſe Ziefe 
erfchöpft werden müfjen, ift ihnen ein nothwendiges Uebel; und 
dankbar gegen’ die Götter, daß fich hiezu immer noch einige aus 
unbezwinglicher Neigung hergeben, betrachten fie dieſe als frei: 
willige Mpfer mit heiligem Mitleid. Daß es Gefühle giebt, die 
ſich nicht zügeln laffen wollen durd ihre Außerlich gebietenden 
Formeln und Vorfchriften, und daß fo viele Menſchen bürgerlich 
ungluͤkklich oder unfittlich werden auf diefem Wege — denn au 
die rechne ich zu diefer Klaffe, die ein wenig über den Gemwerb: 
fleiß hinausgehn, und denen die fittliche „Seite des bürgerlichen 
Lebens alles ift —, das iſt der Gegenitand ihres herzlichften Bes 
dauernd, und fie nehmen es für einen der tiefften Schäden ber 
Menfchheit, dem fie doch bald möglichft abgeholfen zu fehen wuͤnſch⸗ 
ten. Das ift das große Uebel, daß die guten Leute meinen ihre 
Zhätigkeit fei alled und erfchöpfe die Aufgabe der Menfchbeit, 
und wenn man thue was fie thun, beduͤrfe man auch feines 
Sinnes weiter, ald nur für dad was man thut. Darum ver 
ſtuͤmmeln fie alles mit ihrer Scheere, und nicht einmal eine eigen: 
thuͤmliche Erfcheinung, die ein religiöfes Intereſſe erregen Eönnte, 
möchten fie auffommen laſſen; fondern was von ihrem Punkt 
aus gejehen und umfaßt werden kann, das heißt alles was fie 
gelten laffen wollen, ift nur ein Eleiner und unfeuchtbarer Kreid 
ohne Wiffenfhaft, ohne Sitten, ohne Kunft,. ohne Liebe, ohne 


J 


297 


Seift, ja ich möchte faſt fagen zulezt warlich audy ohne Buch: 
flaben ®); kurz, ohne alles, von wo aus fich die Welt entdekken 
liege, wol aber mit viel hochmuͤthigen Anſpruͤchen auf alles dies 
fe. Sie freilich meinen, fie hätten die wahre und wirkliche 
Welt, und fie wären ed eigentlich, die alles in feinem rechten 


Zuſammenhange faßten und behandelten. Möchten fie doch ein: 


mal einfehn, daß man jedes Ding um es als Element ded gans 
zen anzufchsuen nothwendig in feiner eigenthümlichen Natur und 


in feiner höchflen Vollendung muß betrachtet haben. Denn im us 


00 u 


Univerfum Tann ed nur etwas fein durch die Totalitaͤt feiner 
Wirkungen und Verbindungen; auf diefe fommt alles an, und 
um ihrer inne zu werden, muß man jede Sache nicht von einem 
Punft außer ihr, fondern von ihrem eigenen Mittelpunkt aus, 
und von allen Seiten in Beziehung auf ihn betrachtet haben, 
das heißt in ihrem abgefonderten Dafein, in ihrem eignen We: 
fen. Nur Einen Gefihtöpunft zu wiſſen für alles, ift grade das 
Gegentheil von dem alle zu haben für jedes, es ift der Weg ſich 
in grader Richtung vom Univerfum zu entfernen, und in bie 


jaͤmmerlichſte Beſchraͤnkung verfunten ein hanblangenter Leibs 


eigener des Flekks zu werden, auf dem man eben von Ohngefähr 
fteht. — Es giebt in dem Verhältnig ded Menfchen zu dieſer 
Welt gewifje Uebergänge ind unendliche, durchgehauene Ausſich⸗ 
ten,. vor denen jeder vorübergeführt wird, damit fein Sinn den 
Weg finde zum ganzen, und bei deren Anblikk wenn auch nicht 
unmittelbar Gefühle von beſtimmtem Gehalt hervorgebracht wer: 
den, fo doch eine allgemeine Erregbarkeit für alle religiöfen Ge⸗ 
fühle. Auch diefe Ausfichten verftopfen fie weislih, und ftellen 
in die Deffnung irgend eine philofophifche Garicatur, wie man 
ia auch fonft einen unanfehnlichen Pla; mit einem fchlechten 


' Bilde zu verbeffen pflegt; und wenn ihnen, wie ed doch bie: 


weilen geſchieht, damit auch an ihnen die Allgewalt des Univer: 


ſum offenbar werde, irgend ein Strahl zwiſchendurch in die Augen 


fat, und ihre Seele fich einer fchmwachen Regung von jenen 


ul. | 
2.2 ey * * 


> 


298 


Empfindungen nicht erwwehren Tann, fo ift das unendliche nid! 
dad Biel dem fie zufliegt um daran zu ruhen, fondern wieda 5 
Merkzeihen am Ende einer Rennbahn nur der Punkt, um wel 
chen fie fich ohne ihn zu berühren mit der größten Schnelligkit ; 
berumbewegt, um nur je eher je lieber auf ihren alten Play zu | 
ruͤkkehren zu koͤnnen. — Geboren werden und Sterben find ſolche 
Yunkte, bei deren Wahrnehmung ed und nicht entgehen Tann 
wie unfer eigned Ich überall vom unendlichen umgeben ift, un 
156 die troz ihrer Alltäglichkeit, fobald fie und näher berühren, alt 
mal eine file Sehnſucht und eine heilige Ehrfurcht erregen; 
auch dad unermeßliche ber finnlichen Anfhauung iſt doch ein 
Hindeutung wenigftend auf eine andere und höhere Unendlichkeit: 
aber ihnen wäre eben nichts lieber, al wenn. man den größten 
Durchmefler des Weltſyſtems eben To brauchen Bönnte zu Maaß 
und Gewicht im gemeinen Leben, wie jegt den größten Kreid der 
Erde; und wenn bie Bilder von Leben und Tod ihnen einmal 
nahe treten, glaubt mir, wie viel fie auch dabei fprechen mögen 
von Religion, es liegt ihnen nichts fo fehr am Herzen, als bi 
jeder Gelegenheit diefer Art einige unter den jungen euten ju 
gewinnen für die Behutſamkeit und Sparfamteit im Gebraud 
ihrer Kräfte, und für die eble Kunft der Lebendverlängerung. 
Geſtraft find fie freilich genug; denn da ſie auf feinem fo hoben 
Standpunkte ftehen, daß fie wenigftend dieſe Lebensweisheit, an 
ber fie hängen,. von Grund aus felbft zu bauen vermöchten: fo 
bewegen fie fich fflavifch und ehrerbietig in alten Formen, oder 
ergözen ſich an Pleinlichen Verbefferungen. Died ift das Ertrem 
des nüzlichen, zu dem das Zeitalter mit rafchen Schritten hin: 
geeilt ift von der unnüzen fcholaftifchen Wortweisheit, eine neue 
Barbarei ald ein würdiged Gegenſtuͤkk der alten; dies ift bie 
ſchoͤne Frucht der vaͤterlichen eudaͤmoniſtiſchen Politik, welche die 
Stelle des rohen Deſpotismus eingenommen und alle Verzwei⸗ 
gungen ded Lebend durchdrungen hat. Wir alle find dabei her 
gelommen, und im frühen Keim hat die Anlage zur Religion 


| 


- 


299 


gelitten, baß fie nicht gleichen Schritt halten kann in ihrer Ents 
wilfelung mit den übrigen. 

Diefe Menſchen, die gebrechlichen Stögen einer haufälligen 
Zeit — Euch mit denen ich rede, kann ich fie gar nicht beige: 
felen, wie Ihr felbft Euch ihnen auch wol nicht gleichftellen 
wollt; denn fie verachten die Religion nicht, obgleich fie fie, foviel 
an ihnen ift, vernichten, und fie find auch nicht gebildete zu nens 
‘nen, obwol fie dad Zeitalter bilden, und die Menfchen aufklären, 
und dies gern thun möchten bis zur leidigen Durchſichtigkeit — ı57 
diefe find immer noch der berrfchende heil, Ihr und wir ein 
kleines Häufchen. Ganze Städte und Länder werden nach ihren 
Stundfäzen erzogen; und wenn bie Erziehung überflanden iſt, 
findet man fie, wieder in der Gefelfchaft, in den Wiffenfchaften 
-und in ber Philofophie: ja auch in diefer, denn nicht nur bie 
alte — Ihr wißt wol, man theilt jegt die Philofophie mit viel 
biftorifchem Geift nur in die alte neue und neuefte — ift ihr 
. eigentlicher Wohnſiz, fondern felbft die neue haben fie in Beſiz 
genommen. Durch ihren mächtigen Einfluß auf jeded weltlid 
Intereſſe und durch den falfchen Schein von Philanthrogte, N 
her auch die gefellige Neigung biendet, ‚hält biefe Denkungsart 
noch immer die Religion im Drukk, und widerſtrebt jeder Be⸗ 
wegung, durch welche ſich irgendwo ihr Leben offenbaren will, 
mit voller Kraft. Nur mit Huͤlfe des ſtaͤrkſten Oppoſitionsgeiftes 
gegen biefe allgemeine Tendenz kann fi) alfo jezt die Religion 
‚emporarbeiten, und nirgend Tann fie fürd erfte in einer andern 
Geſtalt erfcheinen ald in ber ‚welche jenen am meiften zuwider 
fein muß. Denn fo wie alles dem Geſez der Verwandtſchaft 
- folgt, fo kann auch ber Sinn nur da die Oberhand gewinnen, 
wo er einen Gegenfland in Beſiz genommen hat, an dem jened 
ihm feindfelige Werftändniß nur lofe hängt, und den er alfo fich 
am leichteften und mit einem Uebermaaß freier Kraft zueignen 
Tann. Diefer Gegenftand aber iſt die innere Melt, nicht bie 
äußere. Die erklärende. Pfochologie, dieſes Mühehède \ener Ur - 






300 I 
des Verſtandes, hat zuerſt ſich durch Unmaͤßigkeit erſchoͤpft und 
faſt um allen guten Namen gebracht, und fo hat auf dieſem Ge 
biet zuerft der berechnende Verſtand wieder der reinen Wahr: 
nehmung das Feld geräumt. Wer alfo ein religiöfer Menfch ifl, 
der ift gewiß in fich gekehrt, mir feinem Sinn in der Betrad: 
tung feiner felbft begriffen, aber dabei der innerflen Ziefe zuge 
wendet, und alles äußere, das intellectuelle fowol als das phy⸗ 
fifche, für jezt noch den verftändigen überlaffend zum großen Zief 
ihrer Unterfuchungen. Eben fo entwißfelt fi) nach demfelben 

168 Geſez dad Gefühl für das unendliche am leichteften in denen, bie 
von dem Gentralpunft aller jener Gegner ded allgemeinen voll 
fländigen Lebens durch ihre Natur am weiteften abgetrieben wer: 
den. Daher fommt ed, daß feit langem her alle wahrhaft reli- 
giöfen Gemüther fi durch einen myſtiſchen Anftrich auszeichnen, 
und dag alle fantaftifchen Naturen, die zu luftig find um fid 
mit den derben und flarren weltlichen Angelegenheiten zu befaffen, 
wenigftend Regungen von Frömmigkeit haben. Dies ift der 

. Charakter aller religiöfen Erfcheinungen unferer Zeit, dies find 
hie beiden Farben, aus denen fie immer, wenn gleich in den ver- 

* fehiedenften Mifchungen, zufammengefezt find. Erfcheinungen fage 
ich, denn mehr ift ſchwerlich zu erwarten in dieſer Lage der 
Dinge. Den fantaftifchen Naturen gebricht ed an durchdringen. 
dem Geift, an Fähigkeit fich des wefentlihen zu bemächtigen. 
Ein leichted abwechſelndes Spiel von fchönen, oft entzüffenden, 
aber immer nur zufälligen und ganz fubjectiven Gombinationen 
genügt ihnen, und ift ihr höchfles; ein tiefer und innerer Zuſam⸗ 
menhang bietet fich ihren Augen vergeblich dar. Sie ſuchen eis 

gentlih nur die Unendlichkeit und Allgemeinheit ded reizenden 

Scheined, die, je nachdem man ed nimmt, weit weniger ober 

auch weit mehr ift ald wohin ihr Sinn wirklic reicht; aber an 

Schein find fie einmal gewohnt fich zu halten, und daher gelan: 

‚gen fie flatt zu einem gefunden und Eräftigen Leben nur zu zer: 

freuten und flüchtigen Regungen des Gefühls. Leicht entzündet 





301 


fi ihre Gemuͤth, aber nur mit einer unfläten gleichfam leicht 
fertigen Flamme; fie haben nur Regungen von Religion, wie 
fie fie Haben von Kunft, von Philofophie und allem großen und 
ſchoͤnen, deſſen Oberfläche fie einmal an fich zieht. Denjenigen 
dagegen, zu deren innerem Weſen die Religion zwar vorzüglich 
gehört, deren Sinn aber immer in fich gefehrt bleibt, weil er ſich 
eined mehreren in der gegenwärtigen Lage der Welt nicht zu bes 
mächtigen weiß, diefen gebricht ed zu bald an Stoff, um ihr Ge 
fühl zu einer felbfländigen Frömmigkeit auszubilden. Es giebt 
eine große kraͤftige Myſtik, die auch der frivolfte Menfch nicht ıso 
ohne Ehrerbietung und Andacht betrachten kann, und die dem 
vernünftigften Bewunderung abnöthiget durch ihre heroiiche Ein: 
falt und ihre flolze Weltverachtung. Nicht eben gefättigt und 
überfchüttet von äußern Einwirkungen des AUS; aber von jeder 
einzelnen durch einen geheimnißvollen Zug immer wieder zuruͤkk⸗ 
getrieben auf fich felbft, und fich findend ald den Grundriß und 
Scylüffel des ganzen; durch eine große Analogie und einen Eüh: 
nen Glauben überzeugt, daß ed nicht nöthig fei fich felbft zu 
verlaffen, fondern daß der Geift genug babe an fih, um aud 
alles deſſen, was man ihm von außen geben Fönnte, inne zu 
werben, ‚verfchließt ex durch einen freien Entſchluß die Augen auf 
immer gegen alled was nicht Er ift: aber diefe Verachtung iſt 
feine Unbelanntfchaft, dieſes Verſchließen des Sinnes ift Fein Un: 
vermögen. So aber ift es leider heutiged Tages mit den unfri- 
gen: fie-haben nicht gelernt fich der Natur öffnen, das lebendige 
Verhältnig zu ihr ift ihnen verleidet durch die fchlechte Art wie 
ihnen immer nur dad einzelne mehr vorgezeichnet worden ift als 
gezeigt, fie haben nun weder Sinn noch, Licht genug übrig von 
ihrer Selbftbefchauung, um dieſe alte Finfternig zu durchdringen; 
und zümend mit dem Zeitalter, dem fie Vorwürfe zu machen 
haben, mögen fie gar nicht mit dem zu fchaffen haben, was fein 
Werk in ihnen iſt. Darum ift das höhere Gefühl in ihnen un⸗ 
gebildet und dürftig, krankhaft und befhränkt ihre wahre innere 


302 | | 


, 


Gemeinfchaft mit der Welt; und allein wie fie find mit ihrem 
Sinn, gezwungen fi in einem allzuengen Kreife ewig umber 
zu bewegen, ftirbt ihr religiöfer Sinn nach einem kraͤnklichen 
Leben aus Mangel an Reiz an indirecter Schwäche. Für Die, 
deren Sinn für das hoͤchſte fich Fühn nach außen wendend aud 
dort fein Leben mehr auszubreiten und zu erneuern fucht, giebt 
ed ein andered Ende, das ihr Mißverhältniß gegen das Zeitalter 
nur zu deutlich offenbart, einen fthenifchen Tod, eine Euthanafie 
-  alfo wenn Ihr woht, aber eine furchtbare, den Selbftmorb bed 
100 Geiſtes, wenn er, nicht verftehend die Melt zu fafien, deren ins 
nered Wefen, deren großer Sinn ihm fremd blieb unter den klein⸗ 
lichen Anfichten auf die ein äußerer Zwang ihn beſchraͤnkte, ge 
täufcht von verwirrten Erfcheinungen, hingegeben zügellofen Fans 
tafien, fuchend das Univerfum und feine Spuren da wo es nim: 
mer war, endlih unmillig den Zufammenhang bed innen und 
äußern gänzlich zerreißt, den ohnmächtigen Verſtand verjagt, und 
in einem heiligen Wahnfinn endet, deffen Quelle faft niemand. 
erkennt; ein laut fchreiended und doch nicht verſtandnes Opfer 
der allgemeinen Verachtung und Mißhandlung ded innerften im 
Menſchen. Aber doch nur ein Opfer, Fein Held; wer untergeht, 
‚wenn auch nur in ber lezten Prüfung, kann nicht unter bie ges 
zählt werden, welche die innerften Myfterien empfangen haben. 
Diefe Klage, daß ed Peine beftändige und vor der ganzen 
Welt anerkannte Repräfentanten der NReligiofität unter und giebt, 
fol dennoch nicht zurüßfnehmen was ich früher, wohl wiffend 
was ich fagte, behauptet habe, daß nemlich auch unfer Zeitalter 
der Religion nicht ungünftiger fei, ald jede andre. Gewiß, 
die Maffe derfelben in der Welt iſt nicht verringert: aber zer 
ftüffelt und zu weit auseinander getrieben durch einen gewalti⸗ 
gen Drukk offenbart fie ſich nur in Beinen und leichten aber 
häufigen Erfcheinungen, welche mehr die Mannigfaltigfeit bes 
ganzen erhöhen, und das Auge ded Beobachters ergözen, als daß 
fie für fi) einen großen und erhabnen Eindrukk hervorbringen | 


303 


Tönnten. Die Ueberzeugung, daß ed viele giebt, die den frifches 
fin Duft des jungen Lebens in heiliger Sehnfucht und Liebe 
zum ewigen und unvergänglichen ausathmen, und fpät erſt, viel 
leicht nie ganz, von der Welt überwunden werden; daß ed keinen 
giebt, dem nicht einmal wenigſtens der hohe Weltgeift erfchienen 
wäre, und dem befchämten über fich felbft, dem erröthenden über 
feine unwuͤrdige Beſchraͤnktheit, einen von jenen tiefbringenden 
Blikken zugeworfen hätte, die dad niedergefenkte Auge fühlt, ohne 
| fie zu ſehen; — bier ftehe fie noch einmal, und dad Bewußtſein 
eined jeden unter Euch möge fie richten. Nur an Heroen ber 101 
Religion, an heiligen Seelen wie man fie ehedem fah, denen fie 
alles iſt, und die ganz von ihr durchdrungen find, fehlt es bie 
fem Geflecht, und muß ed ihm fehlen. Und fo oft ich. darüber 
nachdenke was gefchehen, und welde Richtung unfere Bildung 
nehmen muß, wenn religiöfe Menfchen in einem hoͤhern Styl 
wieder erfcheinen ſollen, als feltene zwar aber doch natürliche 
Producte ihrer Zeit: fo finde ich, daß Ihr dur Euer ganze. 
Streben — ob mit Eurem Bewußtſein mögt ihr felbft entichele " 
den — einer Palingenefie der Religion nicht wenig zu Hülfe 
kommt, und daß theild Euer allgemeines Wirken, theild die Be⸗ 
frebungen eined engern Kreifes, theild die erhabenen Ideen einis 
ger außerordentlicher Geifter im Gange der Menſchheit benuzt 
werden zu diefem Endzwekk *). ' 

Die Stärke und der Umfang, fo wie die Reinheit und Klars 
heit jeder Wahrnehmung hängt ab von der Schärfe und Tüchs - 
tigkeit des Sinnes; und der meifefte, “aber ohne geöffnete Sinne, 
ku wenn es einen folchen geben könnte, aber wir haben uns ja wol 
immer auch ſolche abgezogene in fich befchloffene Weife gedacht, 
iJ ein folcher wäre der Religion nicht näher ald der thörichtite und 
leichtfertigfte, der nur einen offnen und treuen Sinn hätte. Alles 
alfo muß davon anheben, daß ber Sklaverei ein Ende gemacht 
werde, worin der Sinn der Menfchen gehalten wird zum Behuf 
\ jener Werflandeshbungen durch die nichtd geübt wird, fener Er 





304 | 
Färungen bie nichtd hell machen, jener ZBerlegungen die nichts 
auflöfen; und bies ift ein Zweit, auf den Ihr alle mit vereinten 
Kräften bald hinarbeiten werdet. Denn ed ift mit den VBerbefle 
rungen der Erziehung gegangen wie mit allen Revolutionen, die 
nicht aus den höchften Principien angefangen wurden; fie gleiten 
allmaͤlig wieder zurüßt in den alten Gang der Dinge, und nur 
einige Veränderungen im äußern erhalten das Andenken der an 
fangs für Wunder wie groß gehaltenen Begebenheit. So aud 
unfere verftändige und praktifche Erziehung von heute unterfcheis 
s02 det ſich nur noch wenig — und bied wenige liegt weder im Geifl 
noch in der Wirkung — von der alten mechanifchen. Dies iſt 
Euch nicht entgangen, fie fängt an allen wahrhaft gebildeten eben 
fo verhaßt zu werden als fie ed mir ifl; und eine, reinere Idee 
verbreitet fich von der Heiligkeit des Findlichen Alterd und von | 
der Ewigkeit ber unverlejlihen Freiheit, auf deren Yeußerungen ® 
man auch bei den noch in der erſten Entwikklung begriffenen f 
... Menfchen fhon warten und laufchen müfle. Wald werben diefe & 
" Schranken gebrochen werden, die anfchauende Kraft wird von h 
ihrem ganzen Reiche Befiz nehmen, jedes Organ wird ſich aufı % 
thun, und die Gegenflände werden ſich auf alle Weife mit dem k 
Menfchen in Berührung fezen koͤnnen. Mit diefer wiedergewon % 
nenen Freiheit des Sinned kann aber ſehr wohl beftehen eine % 
Beſchraͤnkung und feſte Richtung der Thätigkeit. Dies ift die 
große Forderung, mit welcher die befferen unter Euch jezt hen % 
vortreten an die Zeitgenoflen und an bie Nachwelt. Ihr ſeid 4 
müde dad fruchtloſe encyklopaͤdiſche Herumfahren mit anzufehen, % 
Ihr feid felbft nur auf dem Wege diefer Seibftbefchräntung das k 
geworden was Ihr feid, und Ihr wißt daß es Zeinen andern % 
giebt um ſich zu bilden; Ihr dringt alfo darauf, jeder folle etwad % 
beftimmted zu werden fuchen, und folle irgend etwas. mit Stätig y 
keit und ganzer Seele betreiben. Niemand Tann die Richtigkeit % 
diefed Rathes beffer einfehen ald der, welcher fchon zu einer ge N 
wiſſen Allgemeinheit des Sinnes berangereift ifl; denn er muß % 
| e 


305 


wiſſen, daß ed auch für die Wahrnehmung Feine Gegenftände 
geben würde, wenn nicht alles gefondert und befchränkt wäre. 
Und fo freue auch ich mich diefer Bemühungen, und wollte fie 
wären fchon weiter gediehen. Der Religion werben fie trefflich 
zu Nuze kommen. Denn grade diefe Beſchraͤnkung der Kraft, 
wenn er nur nicht felbft auch befchränft wird, bahnt dem Sinn 
defto ficherer den Weg zum unendlichen, und eröffnet wieder die 
fo lange gefperrte Gemeinfchaft. Wer vieles angefchaut bat und 
kennt, und fich dann entichliegen Tann etwas einzelned mit gan: 
zer Kraft und um fein felbft willen zu thun und zu fördern, ı63 
der kann doch nicht anderd ald auch das übrige einzelne für etwas 
trennen, was um fein felbft willen gemacht werben und ba fein 
fol, weil er fonft fich felbft widerfprechen würde; und wenn er 
dann, was er wählte, fo hoch getrieben hat als er kann, fo wird 
es ihm grade auf dem Gipfel der Vollendung am wenigften ent: 
gehen, daß died eben nichts ift ohne das übrige. Dieſes einem 
finnigen Menfchen fich überall aufdringende Anerkennen deö frem: 
den und Bernichten des eigenen, diefed zu gelegner Zeit abmech: 
ſelnd geforderte Lieben und Werachten alles endlichen und bes 
fehränkten ift nicht möglich ohne eine dunkle Ahndung der Welt 
und Sotteö, und muß nothwendig eine lautere und beflimmtere 
Sehnſucht nach dem einen in allem herbeifuͤhren. 

Drei verſchiedene Gebiete des Sinnes kennt jeder aus ſeinem 
eignen Bewußtſein, in welche ſich die verſchiedenen Aeußerungen 
deſſelben theilen. Das eine iſt das innere des Ich ſelbſt; dem 
andern gehört alles aͤußere zu, inwiefern es ein in ſich unbe 
ſtimmtes und unvollendetes ift, Ihr mögt es Mafje nennen, 
Stoff. oder Element oder wie Ihr fonft wollt; das dritte endlich 
ſcheint beide zu verbinden, indem der Sinn in ein fteted Hin: 
und Herfchweben zwifchen den Richtungen nach innen und nad) 
außen verfezt, nur in der Annahme ihrer unbedingten innigften 
Bereinigung Ruhe findet; dies ift dad Gebiet des individuellen, 
bes in- fich vollendeten, oder alles deſſen was Kunft ift in der 

Schleierm. W. I.. u 


— 


Natur und in den Werken des Menſchen. Nicht jeder einzelne 
iſt allen dieſen Gebieten gleich befreundet, aber von jedem derſel⸗ 
ben giebt es einen Weg zu frommen Erhebungen des Gemuͤthes, 
die nur eine eigenthuͤmliche Geſtalt annehmen nad) ber Ber 
fchiedenheit ded Weges auf welchem fie gefunden worden find. — 
Schaut Euch felbft an mit unverwandter Anftrengung, fondert 
alles ab, was nicht Euer Ich ift, fahrt fo immer fort mit immer 
fhärfer auf dad rein innere gerichtetem Sinn; und je mehr, in 
dem Ihr alled fremde in Abrechnung bringt, Eure Perfönlichkeit 
sca und Euer abgefonderted Dafein Euch verringert ericheinen, ja 
beinahe ganz felbft verfchwinden, deſto Elarer wird bad Univerfum 
vor Euch baftehn, defto herrlicher werdet Ihr belohnt werden für 
den Schreft der Selbftvernichtung bed vergänglichen durch dad 
Gefühl des ewigen in Euch. Schaut außer Euch, auf irgend 
eined von den mweitverbreiteten Elementen der Welt, und faßt ed 
auf in feinem eigenften Wefen, aber fucht ed auch auf überall 
wo es ift, nicht nur an und für ſich, ſondern in dieſem und jenem 
in Euch und uͤberall; wiederholt Euren Weg vom Umkreiſe zum 
Mittelpunkte immer oͤfter und in weitern Entfernungen: ſo wer 
det Ihr, indem Ihr jedes uͤberall wiederfindet, und indem Ihr 
es nicht anders erkennen koͤnnt als im Verhaͤltniß zu ſeinem 
Gegenſaz, bald alles einzelne und abgeſonderte verlieren, und das 
Univerſum gefunden haben. Welcher Weg nun aber zur Reli⸗ 
gion fuͤhre aus dem dritten Gebiet, dem des Kunſtſinns, deſſen 
unmittelbarer Gegenſtand doch auch keinesweges das Univerſum 
ſelbſt iſt, ſondern ebenfalls einzelnes nur aber in ſich ſelbſt voll⸗ 
endetes und abgeſchloſſenes, was ihn befriediget, von welchem 
aus alſo das in jedem einzelnen Genuß befriedigte und ſich ruhig 
darin verſenkende Gemuͤth nicht zu einer ſolchen Fortſchreitung 
getrieben wird, wodurch das einzelne gleichſam allmaͤlig verſchwin⸗ 
bet, und dad ganze an feine Stelle geſchoben wird; oder ob es 
vieleicht einen folchen Weg überall nicht giebt, fondern diefes Ges 
biet abgefchloffen für ſich bleibt, und die Kuͤnſtler vieleicht Deshalb 


ur 


verurtheilt find irreligios zu fein; oder ob nur ein ganz anderes 
Berhaͤltniß Statt findet zwiſchen Kunft und Religion als das 
obige: dies follte ich wol lieber Euch ald Aufgabe zur eignen 
Loͤſung auffiellen, als es eben fo beflimmt wie das vorige Euch 
darlegen. Denn mir wäre wol die Unterfuchung zu ſchwer und 
zu fremd; Ihr aber wißt Euch nicht wenig mit Eurem Sinn 
für die Kunft und Eurer Liebe zu ihr, fo daß ih Euch auch 
gern allein gewähren laſſe auf Eurem heimifchen Boden. Cins 
nur wuͤnſchte ich möchte nicht bloß Wunfch fein und Ahndung, 
fondern Einficht und Weiffegung, was ich hierüber benfe; feet 105 
aber zu was ed fein mag. Wenn ed nämlich war ift, daß es 
fehnelle Bekehrungen giebt, Weranlaffungen durch welche bem 
Menfchen, der an nichtd weniger dachte als fich über das endliche 
zu esheben, in einem Moment wie durch eine innere unmittelbare 
Erleuchtung der Sinn für das hoͤchſte aufgeht, und es ihn über 
ßaͤllt mit feiner Herrlichkeit: fo glaube ich, daß mehr ald irgend 
etwas andereß der Anblikk großer und erhabener Kunſtwerke bies 
ſes Wunder verrichten kann; und daß alfo auch Ihr, ohne daß 
eine allmälige Annäherung vorangeht, vielleicht ploͤzlich einmal 
von einem folden Strahl Eurer Sonne getroffen, umkehrt zur 
Religion. 

Auf dem erſten Wege, dem der abgezogenſten Selbſtbetrach⸗ 
tung, das Univerſum zu finden, war das Geſchaͤft des ural⸗ 
ten morgenlaͤndiſchen Myſticismus, der mit bewundernswerther 
Kühnheit, und nahe genug der neuern Erſcheinung des Idealis⸗ 
mus unter und, bad unendlich große unmittelbar anknuͤpfte an 
dad unendlich Heine, und alled fand dicht an der Grenze des 
nichts. Von der Betrachtung der Maffen und ihrer Gegenfäze 
aber ging offenbar jede Religion aus, deren Schematiömus ber 
Himmel war oder die elementariiche Natur, und dad vielgättrige 
Egypten war lange die vollkommenſte Pflegerinn dieſer Sinnes⸗ 
ass, in welcher — es läßt fich wenigſtens ahnden — die reinfle. 
Anfdyenung des urfpränglichen und lebendigen in demuͤthigen 

Nr 


Duldſamkeit dicht neben ber finfterften Superflition und: ber finn: 
Iofeften Mythologie mag gewandelt haben *). Und wenn nichts 
zu fagen ift von einer Religion, die, von der Kunft urfprüng 
lich ausgegangen, Völker und Zeiten beherrfcht hätte: fo ift die 
ſes defto deutlicher, dag der Kunftfinn fich niemald jenen beiden 
Arten der Religion genähert hat, obne fie mit neuer Schönheit 
und Heiligkeit zu überfchütten, und ihre urfprüngliche Beſchraͤnkt⸗ 
beit freundlich zu mildern. So wurde durch die älteren Weiſen 
und Dichter und vorzüglid durch die bildenden Kuͤnſtler ber 
Griechen die Naturreligion in eine fchönere und fröhlichere Ge 
flalt umgewandelt, und fo erblikken wir in allen mythifchen Dau 
166 ftellungen des göttlichen Platon und der feinigen, die Ihr doch 
felbft mehr für religiös werdet gelten laſſen ald für wiſſenſchaft⸗ 
lich, eine fchöne Steigerung jener myſtiſchen Selbſtbeſchauung 
auf den höchfien Gipfel der Goͤttlichkeit und ber Menſchlichkeit, 
und ein nur durch das gewohnte Leben im Gebiete der Kunſt 
und durch die ihnen einwohnende Kraft vornemlich der Dicht⸗ 
kunſt bewirktes lebendiges Beſtreben, von dieſer Form der Reli⸗ 
gion zu der entgegengeſezten hindurch dringend, beide mit einan⸗ 
der zu vereinigen. Daher kann man nur bewundern die ſchoͤne 
Selbſtvergeſſenheit, womit er im heiligen Eifer wie ein gerechter 
Koͤnig, der auch der zu weichherzigen Mutter nicht ſchont, gegen 
die Kunſt redet; denn alles was nicht den Verfall gilt, oder ein 
durch ihn erzeugter Mißverſtand iſt, galt nur dem freiwilligen 
Dienſt, den ſie der unvollkommenen Naturreligion leiſtete. Jezt 
dient ſie keiner, und alles iſt anders und ſchlechter. Religion 
und Kunſt ſtehen neben einander wie zwei befreundete Weſen, 
deren innere Verwandtichaft, wiewol gegenfeitig unerkannt und. 
kaum geahndet, doch auf mancherlei Weife herausbricht *°). Wie 
die ungleichartigen Pole zweier Magnete werden fie von. einans 
der angezogen heftig bewegt, vermögen aber nicht bid zum. gänzs 
lichen Zufammenftoßen und Eindwerden ihren Schwerpunft zu 
überwinden. Zreundliche Worte und Ergießungen ded Herzens 


309 


ſchweben ihnen immer auf den Lippen, und kehren immer wieder 
zuruͤkk, weil fie die rechte Art und den lezten Grund ihres Sins 
nend und Sehnend doch nicht wieder finden koͤnnen. Sie harren 
einer näheren Offenbarung, und unter gleichem Drukk leidend 
und feufzend fehen fie einander dulden, mit inniger Zuneigung 
und tiefem Gefühl vielleicht, aber doch ohne wahrhaft vereinis 
gende Liebe. Sol nur diefer- gemeinfchaftliche Drukk den gluͤkk⸗ 
lichen "Möment ihrer Bereinigung herbeiführen? ober wird aus 
reiner Liebe und Freude: bald ein neuer Tag aufgehen für bie 
eine, die Euch fo werth ift? Wie ed auch komme, jede zuerft bes 
freite wird gewiß eilen, wenigſtens mit fehwefterlicher Treue ſich 
der andern anzunehmen. — Aber für jezt entbehren beide Arten 107 
der Religion nicht nur der Hülfe der Kunft: auch an ſich iſt ihr 
Zuftand übler als -fonfl. Groß und prächtig firdmten beide 
Quellen der Wahrnehmung und des Gefühld vom unendlichen. 
zu einer Zeit, wo wiſſenſchaftliches Klügeln ohne wahre Princi: 
pien noch nicht Durch feine Gemeinheit der Reinigkeit des Sinnes 
Abbruch that, obſchon Feine für fich reich genug war um bad 
böchfte hervorzubringen; jezt find fie außerdem getrübt durch den 
Berluft der Einfalt, und durch den verderblichen Einfluß einer 
tingebildeten und falfchen Einfiht. Wie reihigt man fie? wie 
Ichafft man ihnen Kraft und Fülle genug, um zu mehr ald ephe⸗ 
meren Producten den Ertboden zu befruchten? Sie zufammen 
zu Teiten und in in einem Bett zu vereinigen, das ift das ein= 
ge was die Religion, auf dem Wege den wir geben zur Voll⸗ 
mdbung bringen kann; dad wäre eine Begebenheit, aus deren 
Schooß fie bald in einer neuen und herrlichen Geſtalt befjerm 
Zeiten entgegengehen würde. 

Sehet da! fo ift, Ihr möget ed nun wollen oder nicht, das 
Ziel Eurer gegenwärtigen hoͤchſten Anftrengungen zugleich die 
Auferſtehung der Religion. Eure Bemühungen find ed, welche 
dieſe Begebenheit herbeiführen müflen, und ich feiere Euch a% 
die wenn gleich unabfichtlichen Retter und Pileger ver Arge. 


310 


Weichet wicht von Eurem Poflen und Eurem Merle, bis Ihe 
das innerſte ber Erkenntniß aufgeſchloſſen und in prieſterlicher 
Demuth das Heiligthum der wahren Wiſſenſchaft eroͤffnet habt, 
wo allen, welche hinzutreten, und auch den Soͤhnen der Religien, 
alles erſezt wird, was ein halbes Wiſſen, und ein uͤbermuͤthiges 
Pochen darauf, verlieren machte. Die Philofophie, den Menden 
erhebend zum Bewußtſein feiner Wechſelwirkung mit der Welt, 
ihn fich Eennen lehrend nicht nur als abgeſondertes und einzel 
nes, fondern als lebendiges mitfchaffendes Glied des ganzen zu⸗ 
gleich, wird nicht länger leiden, daß unter ihren Augen der fe 
ned Zwekks verfeblend arm und bürftig verfchmachte, welcher dad 
sea Auge feines Geiles ſtandhaft in fich gekehrt halt, Dort das Uni 
verfum zu fuchen. Eingeriffen ift die aͤngſtliche Scheibewand, | 
alles außer ihm iſt nur ein anderes in Ihm, alles if der Wi⸗ | 
derfchein feines Geiſtes, fo wie fein Geift ber. Abdrukk von allem 
iſt; er darf fich fuchen in dieſem Widerſchein ohne fick zu verlieren ! 
oder aus fich herau& zu gehen, er kann ſich nie erfchönfen im ' 
Anfchauen feiner felbft, denn alled liegt in ihm. Die Sittenlehe 
im ihrer züchtigen himmliſchen Schänheit fern von Eiferfucht un 
befpetiihem Duͤnkel wirk ihm felbft beim Eingang die himm 
liſche Leier und den magiſchen Spiegel reichen, um das ernſu 
file Bilden bed. Geiſtes in unzähligen Geflalten immes baffelt 
durch dad ganze unenbliche Gebiet der Menfchheit, zu -erblilten, 
und ed mit göttlichen Zönen zu begleiten. Die Naturwiſſen 
ſchaft ſtellt den, welcher um fich ſchaut bad Umiverfum zu erblik— 
In, mit kuͤhnen Schritten in ben Mittelpunkt ber Natur, umb 
leidet nicht Sänger, baß er fich fruchtlos zerſtreue, und kei eingeb 
nen kleinen Zügen verweile. Das Spiel ihrer Kräfte darf g 
dann verfolgen bis in ihr geheimſtes Gebiet, von ben unzugaͤng⸗ 
lichen Vorrathskammern bed beweglichen Stoffs bis in die kuͤnß 
liche Werkftätte des organiſchen Lebens; er ermißt ihre Macht 
von den Grenzen des Welten gebärenden Raumes biß da 2 | 
BWitpelguntt feined cignan Ihr, KR Aha 


tin. ud Dan. na. — — — — — — irn 


| 311 
ewigen Streit und in der unzertrennlichften Wereinigung, ſich 
. innerfted Gentrum und ihre aͤußerſte Grenze. Der Schein ift 
lohen und dad Wefen errungen; feſt ift fein Blikk und heil 
ie Audficht, überall unter allen Verkleidungen daſſelbe erken⸗ 
id, und nirgends ruhend als in dem unendlichen und einen. 
bon fehe ich einige bedeutende Geftalten, eingeweihet in dieſe 
heimniffe, aus dem Heiligthum zuruͤkkehren, die ſich nur noch 
nigen und ſchmuͤkken, um im priefterlichen Gewande hervorzus 
ven. Möge denn auch die eine Göttin noch fäumen mit ihrer 
reichen Erſcheinung; auch dafür bringt und die Zeit einen 
Wen und reichen Erſaz. Denn das größte Kunftwerk ift das, 
fen Stoff die Menfchheit felbft if, welches bie Gottheit uns 160 
ttelbar bildet, und für diefed muß vielen der Sinn bald auf: 
m. Denn fie bildet auch jezt mit Fühner und Fräftiger Kunft, 
d Ihr werdet die Neokoren fein, wenn die neuen Gebilde auf: 
tet find im Tempel der Zeit. Leget den Künfffer aus mit 
aft und Geift, erflärt aus den frühern Werken bie fpätern, 
d dieſe aus jenen. Laßt uns Vergangenheit Gegenwart und 
kunft umſchlingen, eine endloſe Gallerie der erhabenſten Kunſt⸗ 
rke durch tauſend glänzende Spiegel ewig vervielfältigt. Laßt 
Geſchichte, wie es derjenigen ziemt der Welten zu Gebote 
hn, mit reicher Dankbarkeit der Religion lohnen als ihrer er⸗ 
n Pflegerin, und der ewigen Macht und Weisheit wahre und 
ilige Anbeter erwekken. Seht wie das himmlifche Gewaͤchs 
ne Euer Zuthun mitten in Euern Pflanzungen gedeiht, zum 
eweife von dem Wohlgefallen der Götter, und von der Unvers 
nglichkeit Eures Verdienſtes. Stoͤrt es nicht und rauft es 
bt aus; es ift ein Schmukk der fie ziert, ein Talisman ber 


ſchuͤzt. 


312 


ER, 
Erläuterungen zur britten Rede. . Bi 


1) S. 289. Diefe Weußerung fcheint im Widerſpruch zu ftehen mit de ', 
Morten Ehrifti, welcher zu feinen Süngern fagt, Ihr habt mich nit w :, 
wählet, fondern ich habe euch erwählet, Indeß ift biefer Widerſpruch doch J 
nur ſcheinbar. Denn auch Chriſtus fragte bei einer andern Gelegenheit fen „ 
Jünger, ob fle auch hinter fich gehen wollten, wie andere gethan, und erkennt |, 
dadurch am, daß ihr bei ihm bleiben ihre freie That fei, welches alles , 
was hier behauptet werben foll. Sa man kann fagen, in der Erklärung ihres 
ftandhaften Beharrens Tiege diefes, daß fie ihn gleichfam aufs neue zu ihrem ; 
Meifter wählten mit einem geweffteren Sinn und einem reiferen Urtheil, a y 
da fie ſich zuerft an ihm anfchloffen. Auch würde man unrecht thun, Die oben , 
angeführten Worte Chrifti fo zu deuten, als habe er es auf diefe oder ander 5 
einzelne befonders angelegt, welches in, einem foldyen Sinne partikulariſtiſch 
wäre, wie ich es nicht vertheldigen möchte. Vielmehr liegt darin vorzüglih 5 

170 diefes, daß nicht etwa — wie man von untergeordneten Bewegungen in der .: 
Religion 3. B. der SKirchenverbeffernng fehr füglish fagen fann — eine it 
ihm und ihnen gleich urfprüngliche göttliche Aufregung das Reich ‚Gottes 
gegründet, wobei fie ihn als den tiefften und fräftigften, wie hernach den 
Petrus, zu ihrem Vortreter auserfchen; fondern daß die Erregung urfprüng- 
li in ihm allein gewefen, in ihnen aber nur die Empfänglichfeit durch ihn 
erwekkt zu werden. So flimmt das hier gefagte mit der Darftellung Chriſti 
ganz wohl zufammen, wie denn auch fein Verhälinig zu feinen Jüngern da 
bei als Urbild vorgefchwebt hat. Denn es ift gewiß, wäre Chrifius nicht 
auch von biefer Anficht ausgegangen, daß jede wenn gleich noch fo indivi⸗ 
duelle Lebendige Aeußernng doc) in einem andern das gleiche nur auf eine 
univerfelle Weite aufregen Tann, und daß das volle Anfchliegen an die Ei: 
genthümlicykeit eines andern immer freie That ift: fo hätte ex niemals feine 
Sünger auf einen folhen Buß der Gleichheit behandeln können, daß er fie 
feine Brüder und Freunde nennt. 

2) Ebendaf. Was hier gefagt ift folgt fchon von felbft aus dem eben 
erläuterten. Und das befte Beifpiel dazu finden wir ebenfalls in der älteften 
chriſtlichen Gefchichte, wenn wir an diejenigen Judengenoſſen aus den Heiden 
denfen, welche hernach, diejenigen verlaffend die zuerft die Ahndung des Einen 
höchſten Weſens in ihnen erwekkt hatten; zum Chriftentfum übergingen. @s 
ſcheint mir aber befonders in jeder Zeit eines regeren religiöfen Lebens, wie 
fie unläugbar, feitvem ich dieſes zuerſt fchrieb, bei uns eingetreten ift, für 
alle diejenigen, welche, fei es nun amtlich oder aud) ohne Äußeren uur kraft 
ihres inneren Berufs, eine merfliche religiöfe Wirkfamfeit ausüben, zu- ihrer 
eigenen Beruhigung höchft nothmendig fich zu diefer freieren Anficht zu ers 
heben, damit fie fich nicht wundern, wenn viele von denjenigen, welche zuerfl 
von ihnen find angeregt worden, hernach doch in einer ziemlich verſchiedenen 
Anfiht und Empfindungsweife erft ihre volle Beruhigung finden. Jeder 
freue ſich Leben erregt zu haben, denn dadurch bewährt er ſich als ein Werk: 


813 


zeng des göttlichen Geiftes; Feiner aber glaube, daß die Geſtaltung deſſelben 
in feiner Gewalt ftehe. 

3) ©. 297. Nur durch diefen legten Zug wird das Bild der Denfungs- 
art vollendet, die ich hier zeichnen wollte. Denn diefe Menfchen fliehen auch 
den Buchflaben. Und wie fie ein moralifches oder politifches oder religiöfes 
Bekenntniß nur infofern geftatten wollen, als ein jeder fich dabei denken fann 
was er will: fo laflen fie auch Feine praftifchen Regeln gelten, als nur unter 
dem Vorbehalt beftändiger Ausnahmen, damit alles, wie das Prinzip der ab- 
foluten Nüzlichkeit es mit fich bringt, vollkommen einzeln da fiehe als nichts 
durch nichts für nichts. — Sollten aber irgend Leſer von anderm Schläge 
fiheel dazu fehen, daß der hier gewählte Auspruff Doch dem Buchftaben einen 178 - 
Werth beilege und zwar feinen geringen, weil er allem andern hier genanns 
ten doch dem Wefen nach gleich gefezt ift, und dag ich dadurch Mißverſtänd⸗ 
nifle begünftige, welchen man heutzutage vorzüglich entgegenarbeiten follte, 
den wollte ich doch warnen, daß durch folches abfichtliches Herabſezen des zu 
Hoch geftellten der Wahrheit nicht gedient wird, fondern nur theils Hartnaͤk⸗ 
Figfeit erzeugt, theils das Umfchlagen in das entgegengefezte Außerfte begün⸗ 
fliget. Darum wollen wir zu allen Zeiten unverholen des Buchftaben, fofern 
er nur nicht vom Geift getrennt und erftorben ift, hohen Werth in allen 
ernftlichen. Dingen anerkennen. Denn ift gleich das unmittelbare Leben in 
den großen Einheiten, die zu verfchlofien find um vom Buchftaben durchdrun⸗ 
gen zu werden; — denn welcher Buchftabe faßte wol das Dafein eines Vol⸗ 
kes? — und in dem einzelnen, was zu fließend ift, um in ben Buchflaben 
gebannt zu werden: — denn welcher Buchftabe fpräche wol das Weſen eines 
einzelnen Menſchen aus? — fo ift doch. der Buchſtabe überall die unentbehrs 
liche fondernde Befonnenheit, ohne welche wir nur ſchwindelnd zwifchen jenen 
beiden kreiſen fönnten, und der wir es verdanken, das uns die chaotifche un: 
beftimmte Menge fich zur beftimmten Bielheit wandele. Ja es tft unverkenn⸗ 
bar, daß im größten Sinne die Zeiten fich ſcheiden durch den Buchflaben, 
und daß es das Meifterftüff der höchften menfchlichen Weisheit ift richtig zu 
fhäzen, wann die menfchlichen. Dinge eines neuen Buchftaben bebürfen. Denn 
ericheint er zu früh,,fo wird er verworfen von ber noch regen Liebe zu dem, 
der verdrängt werden foll; und geftaltet er fich zu fpät, fo ift jener Schwin- 
del fchon eingetreten, den er dann nicht mehr beſchwören kann. 

4) ©. 303. Niemand wolle doch glauben, dag ich die Erfcheinungen 
eines erwachten_religiöfen Lebens, die jezt in Dentfchland befonbers fo hänftg 
find, als die Erfüllung der bier ausgefprochenen Hoffnung aufehe. Dies 
geht fchon aus dem folgenden deutlich genug hervor. Denn eine Wiederbe⸗ 
lebung der Frömmigkeit, die von einem mehr geöffneten Sinn erwartet wird, 
mäßte fich andere geftalten ald das was wir unter uns fehen. Die unduld- 
ſame Lieblofigfeit unferer neuen ſrommen, die fi nicht mit dem Iurüffzichen 
von dem was ihnen zuwider ift begnügt, ſondern jedes gefellige Verhältniß 
zu Berunglimpfungen bennzt, welche bald allem freien geiftigen Leben gefähr- 
lich werden dürften, ihr ängflliches Horchen auf beftimmte Ausdrükke, nad) 
denen fie den einen als weiß bezeichnen und ben andern als (damarı, We 


zige Ariftofratismus anderer, die allgemeine Schen vor aller Wifſfenſchaft 
dies find Feine Zeichen eines geöffneten Sinnes, fondern vielmehr eines tif 

“ eingewurzelten krankhaften Zuſtandes, anf welchen mit Liebe, aber auch wit 

172 firenger Beftigfeit gewirkt werben muß, wenn nicht daraus dem ganzen ber 
Geſellſchaft mehr Nachtheil erwachen foll, ald das erwelkte religiöfe Lehen | 
einzelner ihr geifligen Gewinn bringt. Denn das wollen wir nicht in “| 
rede ftellen, daß viele der geringeren aus ihrer Stumpffinnigfeit, der von 
nehmeren aus ihrer Weltlichfeit nur durch biefe herbe Art und Weiſe ter | 
Frömmigfeit gewekkt werben Tonnten, wollen aber babei wänjchen und anf : 
das kraftigſte dazu mitwirken, daß biefer Zuſtand für die meiften nur es | 
Durchgang werde zu einer würbigeren Freiheit des geifligen Lebens. Dies f 
follte wol um fo leichter gelingen, als es ja deutlich nnd unverholen geung : 
zn Tage liegt, wie leicht fi Menſchen, denen es um etwas ganz anderes 
ale um. wahre Frömmigkeit zu thun ift, dieſer Form bemächtigen, und wie 
fihtlih der Geiſt abzehrt, wenn er eine Zeitlang in berfelben eingefchärt ge 
weien ift. 

5) ©. 308. Die bier befonders heransgehobenen Kormen der Religion 
feinen mit der in der Glaubenslehre $. 9. anfgeftellten Haupteintheilung . 
nicht zufammenzutreffen. Denn was die Unterordnung der thätigen Iw 

ſtaͤnde unter die leidentlichen ober umgekehrt betrifft, fo kann ſowol bie 
abgezogenfte Selbfibetrachtung als die änßerlichfte Weltbetrachtung eben fr 

leicht den einen Gang uchmen als ven andern. Allein es iſt auch in dieſer 
Nee nicht die Abficht, die Hauptformen der Religion felbft zu unterſcheiden; 
fondern weil von ber Bildung zu derfelben durch Eröffnung des Sinnes ge 
Handelt wird, und zwar von einer foldhen Bildung, durch welche der einzelm 
nicht gleich in eine beſtimmte Form hineingeführt, fondern jeder erft fählg 
gemacht wird, die ihm Am genaneften anpaflende Borm der Religion zu un ' 
terfiheiden und ſich danach zu Beflimmen: fo kam es weit mehr darauf am, 
die Hauptrichtungen des Sinnes aufzuzeigen, und fo heben fich auch von 
felbſt diejenigen Religionsfermen am meiften heraus, in denen die eine und 
bie andere von jenen Hauptrichtungen am ausfchließennften gilt. Wiewol 
auch hier eine völlige Einſeitigkeit nicht gemeint if. Denn die Selbſtbetrach⸗ 
tung muß ja doch auch auf das in der Weltbetrachtung begriffene Ich gehen, 
und die Weltbetrachtung doch ‘auch auf die in der Eriegung und Crhaltung 
des geiftigen Lebens begriffene Welt. Daher wäre es auch vergeblich zu 
fordern, daß eben fo unter ven beiden hier ausgezeichneten Bormen dem 
Ehriftentyume feine Stelle müfle angewiefen werben, wie es dort die feinige 
unter den ethifchen ober teleologifchen Religionsformen fand. Vielmehr . 
ſchon in der Rebe felbft angebentet, daß der Geſchichtsfinn, welcher die voll 
Händigfte Ineinanderbildung beider Richtungen ift, auch am volllommenfles 
zur Froͤmmigkeit führe. Daß diefer aber ganz vorzüglich dem Chriſtenthume 
zum Grunde liege, in welchem ja alles darauf zuräffgeführt wirb, wie ſich 
der Menſch zu dem Reich Gottes verhalte, bedarf wol keiner Beflätigung; 
nad fo folgt von ſelbſt, daß das Chrtſtenthum eine Froͤmmigkeit Yarkellı, 


314 
Gleichgültigkeit ver meiften gegen alle große Weltbegebenheiten, ber engher 
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315 


velche eben fo ſehr durch die Weltbetrachtung als durch die Selbſtbetrach⸗ 173 
T jung genährt wird; am meiften aber immer, infofern jede von beiden anf 
| iebes neinanderfein beider bezogen, wird. Daß es hier wieder untergeords 
'uete Gegenſaͤze der Empfänglichkeit gebe, verfteht fich von ſelbſt; aber biefe 
ſind natürlich ganz fubjectiv, und beflimmen nicht etwa die verfchiedenen Tisch: 
Ucchen Geftaltungen des Chriſtenthums. | 

6) Ebendaſ. Dieſe Verwandtſchaft wird wol jezt niemand mehr in Ab⸗ 
rede ftellen. Denn es bedurfte nur, daß ſich die Aufmerkſamkeit anf diefen 
Gegenftand Ienkte, um foglei zu finden, daß einsrfelts in allen Künften alle 
größten Werke religiöfe Darftellungen find, und dag anvererfeits in allen 
Religionen, das Chriſtenthum nicht ausgenommen, die Beinpfchaft gegen die 
Kunft — nur daß nicht jeder Religion alle Zweige der Kunft gleich ange: 
mefien find; aber die Feindſchaft gegen alle Kunft überhaupt bringt auch 
überall‘ eine befonbere Troffenheit und Grlältung mit fih. Ja wenn man 
auf die allen Künften gemeinfame Iwiefältigteit des Styls achtet, daß fie 
alle einen firengeren und gebundenen unterfcheiven von einem freieren un» 
loſeren: fo ift nicht zu längnen, daß bie religiöfe Kunſt überall am meiften 
den firengeren Styl aufrecht Hält, fo daß, wenn auch religiöfe Begenftänbe 
im leichten Styl behandelt werben, der Verfall der Religion entſchieden iſt, 
aber daun aud) der Verfall der Kunft bald nachfolgt, nnd dag auch der lelch⸗ 
tere Styl nur, wenn er an dem firengeren fein Maag nnd feine Haltung 
ſindet, den wahren Kunſtcharakter behält, je mehr er fi} aber von jenem nnd 
alfo von dem Zufammenhayg mit ver Religion losfagt, um deſto ficherer un» 
snaufhaltfamer in Derfünftelung und Schmeichelfunft ausartet, Wie fi 
denn alles diefes in der Geſchichte der Kunft im ganzen ſchon oft wiedegeit 
hat, und im einzelnen ſich noch beſtaͤndig wiederholt. 


Bierte Rede 





Ueber das gefellige in der Keligion 


oder 


über Kirche und Priefterthbum. 


rt 





174 Diejenigen unter Euch, welche gewohnt find die Religion 
ald eine Krankheit des Gemuͤthes anzufehen, pflegen auch wo 
die Vorflelung zu unterhalten, daß fie gin leichter zu dulden 
wenn auch nicht zu bezähmendes Uebel fei, fo lange nur hie u 
da einzelne abgefondert damit behaftet find; daß aber die gemeinei 
Gefahr aufs höchfte geftiegen fei, und alles auf dem Spiel fiche, ak 
fobald unter mehreren leidenden diefer Art eine alzunahe Ge di 
meinfchaft beflehe. In jenem Falle koͤnne man durch eine zwekk⸗ 
mäßige Behandlung, gleichfam durch ein der Entzündung wieder & 
fiehendes Verhalten und durch eine gefunde geiftige Atmofphäre-H 
die Paroxysmen ſchwaͤchen, und den eigenthümlichen Krankheitt: 4 
ftoff, wo nicht völlig befiegen, doch bis zur Unfchädlichkeit ver ( 
dünnen; in diefem aber muͤſſe man an jeder andern Rettung ver 4 
zweifeln, ald an der, die aus einer innern. wohlthätigen Bewe⸗ 
gung ber Natur hervorgehen kann. Denn das Uebel werde vow ı 
den gefährlichften Symptomen begleitet, weit verheerender, wenn 4 
die zu große Nähe anderer angeſtekkten es bei jedem einzelnen: 
hegt und ſchaͤrft; durch wenige werde dann bald die ganze ge⸗ 
meinfame &ebensluft vergiftet, auch die gefundeften Körper ange: 














917 


ekkt; alle Candle, in denen der Prozeß bed Lebens vor fich ges 
en fol, zerſtoͤrt; alle Säfte aufgelöfet, und von dem gleichen 
eberhaften Wahnfinn ergriffen, fei es um dad gefunde geiftige 
eben und Wirken ganzer Generationen und Wölker unmwieders 17 
ringlich gethan. Daher Euer Widerwille gegen die Kirche, gegen 
be Veranftaltung bei der e8 auf Mittheilung der Religion ab- 
sehen ift, immer noch flärker heraudtritt ald der gegen die Ne: 
gion felbft; daher find Euch die Priefter, als die Stüzen und 
e eigentlich thätigen Mitglieder folder Anftalten, die verhaßtes 
em unter den Menfchen. Aber auch Diejenigen unter Euch, 
welche von der Religion eine etwas gelindere Meinung haben, 
nd fie mehr für eine Sonderbarkeit ald eine Zerrüttung bed 
Bemüthes, mehr für eine unbedeutende ald gefährliche Erſchei⸗ 
ung halten, haben von allen gefelligen Einrichtungen für Dies 
Lbe vollfommen eben fo nachtheilige Begriffe. Knechtiſche Auf: 
pferung des eigenthümlichen und freien, geiftlofer Mechanismus 
wid leere Gebräuche, died meinen fie, wären die ungertrennlichen 
wlgen jeder ſolchen Beranftaltung, und dies das Funftreiche 
Berk“ derer, die fid; mit unglaublichem Erfolg große Verdienſte 
jachen aus Dingen, die entweder nichts find, oder die jeder 
rdre wenigſtens gleich gut auszurichten im Stande wäre. Ich 
surbe Uber unfern Gegenftand, der mir fo wichtig ift, mein 
3er; nur fehr unvolllommen gegen Euch audgefchüttet haben, 
senn ich mir nicht Mühe gäbe, Euch auch hierüber auf den 
chtigen Gefichtöpuntt zu fielen. Wieviel von den verkehr: 
an Beftrebungen und den traurigen Schifffalen der Menfchheit 
Hr den religiöfen Vereinigungen Schuld gebt, habe ich nicht 
Öthig zu wiederholen, es liegt in taufend Aeußerungen ber viels 
eltendften unter Euch zu Tage; noch will ich mich damit auf: 
alten diefe Beichuldigungen einzeln zu widerlegen, und das Ues 
ef auf andere Urfachen zuruͤkkzuwaͤlzen. Laßt und vielmehr den 
anzen Begriff der Kirche einer neuen Betrachtung unterwerfen, 
ud ihn vom Mittelpunkt. der Sache aus aufs neue erfchaffen, 














unbelümmert um bad was bis jezt davon wirklich geworden iß 
und was die Erfahrung und darüber an die Hand giebt. -: 
176 Iſt die Religion einmal, fo muß fie nothwendig auch 
lig fein: es liegt in der Ratur des Menfchen nicht nur, fo 
auch ganz vorzuͤglich in der ihrigen. Ihr müßt geſtehen, d 
ed etwas krankhaftes hoͤchſt wibernatürliches ii, wenn be 


tet bet, auch in fich verichließen will. In der unentbehrk 
Gemeinſchaft und gegenfeitigen Abhängigkeit des Handelns ui 
nur fondern auch des geifligen Dafeins, worin er mit Dem uͤbn 
gen feiner Gattung fteht, fol er alles äußern und mitthe 
was in ihm iſt; und je heftiger ihn etwas bewegt, je inniger dd 
fein Weſen durchdringt, deſto flärfer wirkt auch jener geſelligh 
Trieb, wenn wir ihn auch nur aus dem Geſichtspunkt anfehaji 
wollen, daß jeder ftrebt was ihn bewegt auch außer fich am anf! 
dern anzufchauen, um fich vor fich felbft auszumeilen, daß Ida 
nichts als menfchliches begegnet fei. Ihr feht, daß hier gar nicht 
von jenem Beſtreben die Rede if, andere fich ähnlich zus machen) 
noch von dem Glauben an bie Unentbehrlichkeit deſſen, was ii‘ 
einem if, für alle; fondern nur davon, das wahre Werhätuniff 
unferes befondern Lebens zu der gemeinfamen Natur des Mund 
[hen inne zu werden, und es barzuftellen. Der eigentliche Bei: 
genfland aber für diefen Mittheilungdtrieb iſt unflreitig dasjenige: ' 
wobei ber Menfch fi) urfprünglich ald leidend fühlt, feine Wahr 
nehmungen und Gefühle; da drängt «8 ihn zu wiſſen, eb ch 
feine fremde und unwuͤrdige Gewalt fe, die fie in ihm ergeugt 
bat. Darum fehen wir auch von Kindheit an ben Menſchen] 
damit beichäftigt, vornehmlich dieſe mitzutheilen: cher Läßt er feimi 
Begriffe, über deren Urfprung ihm ohnedies fein Bedenken ent 
fiehen kann, in ſich ruhen, noch leichter. entſchließt ex ſich wall 
feinen Urtheilen zuruͤkkzuhalten; aber was zu feinen- Sinnen eiml 
geht, was feine Gefühle aufregt, darüber will er Zeugen, barısı 
will er Theilnchmer haben. Wie ſollte es geade Die mnfagfentei 


Gy 


ſten und allgemeinften Einwirkungen ber Welt für fich behalten, 
die ihm ald dad größte und unwiderfichlichfte erfcheinen? Wie 
ſollte er grade das in fich verfchließen wollen, wad ihn am ſtaͤrk⸗ 
fien aus fich heraustreibt, und woran er ganz vorzüglich inne 177 
..wird, daß er fich felbft aus fich allein nicht ertennen kann? Sein 
.erfted Beſtreben if ed vielmehr, wenn eine religiöfe Anficht ihm 
klar geworden ift, oder ein frommes Gefühl feine Seele durch⸗ 

- bringt, auf denjelben Gegenftand auch andre hinzuweiſen, und 
‚die Schwingungen feined Gemuͤths wo möglid auf fie fortzus 
pflanzen. 

Wenn aljo von feiner Natur gedrungen der fromme noth⸗ 
wendig fpricht: fo iſt es eben Diefe Natur die ihm auch Hörer 
verſchafft. Mit einem Element bed Lebens iſt wol dem Menſchen 
zugleich ein fo lebhafte Gefühl eingepflanzt von feiner gänzlichen 
- Unfähigkeit es für fich allein jemald zu erichöpfen, als mit ber 
- Religion. Sein Sinn für fie ift nicht fobald aufgegangen, als 
er auch ihre Unendlichkeit und feine Schranken fühlt; er if fich 
bewußt nur einen Eleinen Theil von ihr zu umfpannen, und was 
er nicht unmittelbar erreichen Tann, deß will er wenigſtens durch 
„Lie Darftellung anderer, die ed fich angeeignet haben, nad Ver⸗ 
mögen inne werden und es mitgenießen. Darum drängt er fich 
zu jeder Aeußerung derfelben, und feine Ergänzung fuchend laufcht 
er auf jeden Ton, ben er für den ihrigen erfennt. So organis 
firt fich gegenfeitige Mittbeilung, fo ift Reden und Hören jedem 
gleich unentbehrlich. Aber religiöfe Mittheilung iſt nicht in Buͤ⸗ 
chern zu fuchen, gleich der, wobei ed auf Begriffe und Erkennt: 
niffe antommt 1). Zuviel geht verloren von dem reinen Eindrukk 
ber urfprünglichen Erzeugung in diefem Medium, welches, wie 
dunkel gefärbte Stoffe den größten Theil der Lichtſtrahlen eins 
faugen, fo von der frommen Erregung des Gemuͤthes alled vers 
ſchlukkt, "was nicht in die unzulänglichen Zeichen gefaßt werben 
. Tann, aus denen ed wieder hervorgehen fol. Ja in der fchrifts 
lichen Mittheilung der Froͤmmigkeit bedürfte alled einer boppelten 


a. * 


xu 


und dreifachen Darſtellung, indem das uyſpruͤnglich darftellende 
wieder muͤßte dargeſtellt werden, und dennoch die Wirkung auf 
den ganzen Menſchen in ihrer großen Einheit nur ſchlecht nad; 


gezeichnet werden könnte durch vervielfältigte Reflexion; fondern 
18 nur wenn fie verjagt iſt aus der Gefellfchaft der lebendigen, muß 


die Religion ihr vielfached Leben verbergen im todten Buchflaben. | 


Auch Bann diefed Verkehr mit dem innerften ded Menfchen nicht . 
getrieben werden im gemeinen Geſpraͤch. Viele, die vol guten 
Willens find für die Religion, haben unferer Zeit und Art das j 
zum Vorwurf gemacht, warum doch von allen anderen wichtigen 


Gegenftänden fo oft die Rede fei im gefelligen Gefpräch und im 
freundfchaftlichen Umgange, nur nicht von Gott und göttlichen 


Dingen. Ich möchte und hierüber vertheidigen, daß hieraus we: 


nigftend weder Verachtung noch Gleichgültigkeit fpreche, fondern 


‚ ein glüffticher und fehr richtiger Inſtinkt. Wo Freude und La 
en auch wohnen, und der Ernft felbft fih nachgiebig paaren 


fol mit Scherz und Wiz, da kann. fein Raum fein für dad 
jenige, was von heiliger Scheu und Ehrfurcht immerbar umge 
ben fein muß. Religioͤſe Anfichten, fromme Gefühle und ernfle 
Betrachtungen darüber, kann man fich auch nicht einander in fo 
Heinen Brofamen zumwerfen, wie: die Materialien eines leichten 


Geſpraͤchs; und wo von heiligen Gegenfländen die Rede wäre, 


da würde es mehr Frevel fein als Gefchiff, auf jede Frage fos 
gleich eine Antwort bereit zu haben, und auf jede Anfprache eine 
Gegenrede 2). Daher zieht fich aus folchen noch zu weiten Kreis 
fen das religiöfe zuruͤkk in die noch vertrauteren Unterhaltungen 
der Freundfchaft und in ben Zwiefprach der Liebe, wo Blikk 
und Geftalt deutlicher werden ald Worte, und wo audy ein heilis 
ges Schweigen verftändlich ift. Aber in der gewohnten gefelligen 
Meife eined Jeichten und fchnellen Wechſels treffender Einfälle 
laffen fich göttliche Dinge nicht behandeln: in einem größern Styl 
muß die Mittheilung der Religion gefchehen, und eine andere Art 
von Geſellſchaft, die ihr eigen gewidmet ifl, muß daraus entflehen. 


— — m. m em. ww 2 tn ven [| za 120m. ww» oz — 


341 


“88 gebührt fi) auf dad hoͤchſte was die Sprache erreichen 
Tann auch die ganze Fülle und Pracht der menfchlichen Rede zu 
verwenden, nicht ald ob es irgend einen Schmuff gäbe, deſſen 
bie Religion nicht entbehren könnte, fondern weil ed unbeilig und 170 
keichtfinnig wäre von ihren Herolden, wenn fie nicht ihr alles 
weihen und alled zufammen nehmen wollten, was fie herrliches 
befizen, um fo vielleicht die, Religion in angemeffener Kraft und 
Wuͤrde darzuftelen. Darum ift ed unmögli ohne Dichtkunft 
Religion anders außzufprechen und mitzutheilen ald rebnerifch, 
in aller Kraft und Kunft der Sprache ®), und willig dazu neh: 
mend den Dienft aller Künfte, welche der flüchtigen und beweg⸗ 
lichen Rebe beiftehen koͤnnen. Darum öffnet ſich auch nicht an- 
ders der Mund bedjenigen, deffen Herz ihrer vol iſt, ald vor 
einer Berfammlung wo mannigfaltig wirken fann was fo reich 
"Lich ausgeruftet hervortritt. Ich wollte ich Fönnte Euch ein Bild 
machen von dem reichen fchwelgerifchen Leben in diefer Stadt 
Gottes, wenn ihre Bürger. zufammenfommen, jeder voll eigner 
Kraft, welche ausftrömen will ind freie, und zugleich jeder vol 
heilige Begierde alles aufzufafien und fich anzueignen, was bie 
andern ihm barbieten möchten. Wenn einer bervortritt vor den 
übrigen, fo ift ed nicht-ein Amt oder eine Verabredung ‚die ihn 
berechtiget, ‚nicht Stolz oder Duͤnkel der ihm Anmaßung einflößt; 
es iſt freie Regung des Geiftes, Gefühl der herzlichften Einigkeit 
jedes mit allen und der volltommenften Gleichheit, gemeinfchaft: 
liche Vernichtung jeded Zuerfi und Zulezt und aller irdifchen 
Drbnung “). Er tritt hervor um fein eigned von Gott beweg» 
tes innere den anderen binzuftellen ald einen Gegenftand theil: 
nehmender Betrachtung, fie. binzuführen in die Gegend der Re 
ligion wo er einheimifch if, Damit er ihnen feine heiligen Gefühle 
einimpfe: er fpricht das goͤttliche aus, und im heiligen Schwei⸗ 
gen folgt die Gemeine feiner begeifterten Rede. Es fei nun daß 
er ein verborgenes Wunder enthülle, oder in weiſſagender Zuvers 
fiht die Zufunft an die Gegenwart knuͤpfe; es fei daß er durch 
Schleierm. W. JI. . X _ 


322 


neue Beifpiele alte Wahrnehmungen befeflige, ober daß feine 
feurige Fantafie in erhabenen Bifionen ihn in andere Theile der 
Belt und in eine andere Ordnung: der Dinge entzuͤkke: der-ge 
übte Sinn der Gemeine begleitet überall den feinigen; und wenn 
su er zuruͤkkehrt von feinen Wanderungen durch das Reich Gottes 
in fich felbft, fo ift fein Herz und das eines jeden nur ber.ge 
meinfchaftliche Wohnfiz deſſelben Gefühlde. Werkündigt fich ihm 
dann laut oder leife die Uebereinflimmung feiner Anficht mit bem 
was in ihnen ift: "dann werden heilige Myfterien — nicht nur 
bedeutungsvolle Embleme, fondern recht angefehen natürliche An: 
deutungen eines beflimmten Bemußtfeind ‚und beſtimmter Empfin⸗ 
dungen — erfunden und gefeiert; gleichſam ein hoͤherer Chor, 


— —— — —— — 


der in einer eignen erhabnen Sprache der auffordernden Stimme 


antwortet. Aber nicht nur gleichfam ;. fondern fo wie eine folche 
Rede Muſik it auch ohne Gefang und Ton, fo giebt. ed auch 


eine Mufit unter. den heiligen, die zur Rede wird ohne Worte, 


zum beflimmteften verſtaͤndlichſten Ausdrukk des innerften.. Die 
Mufe der Harmanie, deren vertrautes Verhaltniß zur Religion, 
wiewol laͤngſt ausgeſprochen und dargelegt, doch von wenigen 
nur anerkannt wird, hat von jeher auf ihren Altaͤren die pracht⸗ 
vollſten und vollendetſten Werke ihrer geweihteſten Schuͤler dieſer 
dargebracht. In heiligen Hymnen und Choͤren, denen die Worte 
der Dichter nur loſe und luftig anhängen,” wird ausgehaucht 
was die beflimmte Rede nicht mehr faflen kann; und fo unter 
fügen fich und wechfeln die Toͤne des Gedankens und der Em 
pfindung, bis alles gefättigt ift und vol des heiligen und um 
endlichen. Solcher Art iſt die Einwirkung religiöfer Menfchen 
auf einander, fo befchaffen ihre natürliche und ewige Werbindung. 
Verarget ed ihnen nicht, daß dies himmlifche Band, das volles 
detſte Erzeugniß der gefelligen Natur des Menfchen, zu welchem 
fie aber nicht eher gelangt als bis fie fich in ihrer höchften Be 
beutung erfannt hat, daß diefes ihnen mehr werth ift, -als ber 


‚von Euch fo weit über alled andre geftellte bürgerliche Werein, 


323 


ber noch nirgend zur männlichen Schönheit reifen will, und mit 
jenem verglichen weit mehr erzwungen fcheint als frei, und weit 
mehr vergänglich ald ewig. | . 
"Wo ift aber wol in allem, was ich von der Gemeine der 
frommen gefchildert, jener Gegenfaz zwifchen Prieftern und Laien, ısı 
ben ihr ald die Quelle fo vieler Uebel zu bezeichnen pflegt? Ein 
falfcher Schein’ hat Euch geblendet: dies ift gar fein Unterfchieb 
zwifchen Perfonen, fondern nur ein Unterfchied des Zuftandes 
und der Verrichtung. Jeder ift Priefter, indem er die andern zu 
fi Hinzieht auf dad Feld, welches cr fich befonderd zugeeignet 
hat, und wo er fi) ald Meifter darfielen Bann; jeder ift Laie, 
-indem er der Kunft und Weifung eines andern dahin folgt im 
Sebiet der Religlon, wo er felbft minder einheimifh iſt. Es 
giebt nicht jene tyrannifche Ariftofratie, die Ihr fo gehäffig bes 
fchreibt; fondern ein priefterliched Volk ®) ift diefe Gefellfchaft, 
eine volfommene Republit, wo jeber abwechſelnd Führer und 
Volt iſt, jeder derſelben Kraft im andern folgt, die er auch in 
ſich fühlt, und womit audy er die andern regiert. — Wie follte 
alfo hier der Geift der Zwietracht und der Spaltungen einheis 
mifch fein, den ihr ald die unvermeidliche Folge aller reiigiöfen 
Vereinigungen anfeht? Ich fehe nichts, als daß alles eins iſt, 
und daß alle Unterfciebe,. die es in der Religion felbft wirklich 
giebt, eben durch die gefellige Verbindung der frommen fanft in 
einander fliegen. Ich babe Euch ſelbſt auf verfchiedene Grade 
der Religiofität aufmerfiam gemacht, ‚ich habe auf zwei verfchies 
dene Sinnesatten bingedeutet, und auf verfchiedene Richtungen, 
in denen die Seele fih ihren hoͤchſten Gegenftand vorzüglich aufs 
fucht. Meint Ihr, daraus müßten nothwendig Secten entfliehen, 
und dad müßte die freie Gefelligfeit in der Religion hindern? 
In der Betrachtung gilt ed wol, daß alled, wad außer einander 
gefezt und unter verfchiedene Abtheilungen befaßt ift, ſich aud 
entgegengefezt und wiberfprechend fein muß; aber bedenkt doch, 
2 


324 


wie das Leben fich ganz anders geftaltet, wie in biefem das ent: 
gegengefezte fich fucht, und eben beöhalb, was wir in ber Be: 
trachtung trennen, bort alled in einander fließt. Zreiltch werben 
diejenigen, die fich in einem dieſer Punkte am’ ähnlichften find, 


fih auch einander am ſtärkſten anziehen, aber fie können deöwe 


gen fein abgefonderted ganze ausmachen: denn die Grade biefer 


Uebergängen giebt ed auch zwiſchen ben entfernteften Elementen 
fein abfoluted Abftogen, Feine gänzlihe Trennung *). Nehmt 


welche ihr wollt von diefen Maffen, die fich einzeln durch eigen: | 


thümliche Kraft organifch bilden; wenn ihr fie nicht durch irgend 
eine mechanifche Operation gewaltfam ifolirt, wirt feine ein durch⸗ 
aus gleichartiges und getrenntes darſtellen, ſondern die Außerften 
Theile einer jeden werden zugleich mit ſolchen zuſammenhaͤngen, 
die andere Eigenſchaften zeigen, und eigentlich ſchon einer andern 


Maſſe angehoͤren. Wenn ſolche fromme ſich naͤher verbinden, 


welche auf derſelben niedern Stufe ſtehen: ſo werden doch immer 


einige in den Verein mit aufgenommen werden, die ſchon eine 


Ahndung des beſſern haben. Dieſe werden dann von jedem 
der einer hoͤher geſtellten Geſellſchaft angehoͤrt beſſer verſtanden 
als fie ſich ſelbſt verſtehen, und es giebt zwiſchen dieſem und 
ihnen einen Vereinigungspunkt, der nur ihnen ſelbſt noch ver: 
borgen_ift. Wenn ſolche fi an einander ſchließen, in denen die 
eine Sinnedart herrfchend ift, fo wird es doch unter ihnen immer 
einige geben, welche beide Sinnedarten wenigftens verftehen, und, 
indem fie gemiffermaßen beiden angehören, ein bindendes Mittel: 
glied zwifchen zwei fonft gefrennten Sphären darftellen. So iſt 
der, welchem es angemeſſener iſt ſich mehr mit der Natur in re⸗ 
ligioͤſe Beziehung zu ſezen, doch im weſentlichen der Religion gar 
nicht dem irgend entgegengefezt, der mehr in der Geſchichte die 
Spuren der Gottheit findet, und es wird nie an folchen fehlen, 
welche beide Wege mit gleicher Leichtigkeit wandeln koͤnnen; und 


182 Verwandtſchaft nehmen unmerklich ab und zu, und bei fo viel 


— — — 


325 \ 

wie ihr auf andre Weiſe dad große Gebiet der Religion theilen 
wolltet, Ihr würdet immer auf bdenfelben Punkt zuruͤkkommen. 
Wenn unbefchränfte Allgemeinheit des Sinnes die erfte und ur: 
fprünglihe Bedingung der Religion, und alfo wie natürlich auch 
Abre fchönfte und reiffte Frucht ift: fo feht Ihr wol es ift nicht 
anders möglich, je weiter einer fortichreitet in der Religion, und 
jemehr jich feine Froͤmmigkeit reiniget, bdefto mehr muß ihm bie 
-ganze religiöfe Welt als ein untheilbares ganzes erfcheinen. Der 
Abfonderungstrieb ift, in dem Maaß ald er auf eine firenge 
Scheidung ausgeht, ein Beweis der Unvolltommenheit; die hoͤch⸗ ı83 
ſten und gebildefften fehen immer einen allgemeinen Verein, und 
eben dadurch daß fie ihn fehen, ftiften fie ihn auch. - Indem 
jeder nur mit dem nächften in-Berührung flieht, aber auch nach 
alten Seiten und: Richtungen einen nächften hat, iſt er in ber 
That mit dem ganzen unzertrennlich verknüpft, Myſtiker und 
Phyſiker in der Religion, die denen die Gottheit ein perfönliched 
‚wird, und die denen fie. es nicht wird, die welche fich zur ſyſte⸗ | 
matifchen Anficht des Univerfum erhoben haben, und die welde 
ed nur noch. in den Elementen oder im dunkeln Chaos anfchauen, 
alle ſollen dennoch nur Eins fein; Ein Band umfchließt fie alle, 
und gänzlich können fie nur gewaltfam und willfürlich getrennt 
werben; jede befondere Vereinigung ift nur ein faft fließender 
integrirender Theil ded ganzen, in unbeflimmten Umriſſen ſich in 
daffelbe verlierend, und wenigftend werden die welche fich fo darin 
fühlen immer die befferen fein. — Woher alfo anders ald durch 
bloßen Mißverftand die verfchriene wilde Bekehrungsſucht zu eins 
zelnen beflimmten Formen der, Religion, und der ſchrekkliche 
MWahlipruh, Kein Heil außer und?) So wie ih Eud die 
Geſellſchaft der frommen dargeftelt habe, und wie fie ihrer Na: 
tur nad fein muß,. gebt fie nur. auf gegenfeitige Mittheilung, 
und befteht nur zwifchen folchen die ſchon Religion haben, welche 
es auch fei: wie könnte ed alfo wol ihr Gefchäft fein diejenigen 
umzuflimmen, die ſchon eine beflimmte bekennen, oder diejenigen 


326 - 


batan herbeizuführen und einzuweihen, denen es noch ganz daran 
fehlt? Die Religion diefer Geſellſchaft als folcher tft nur zufaumen 
genommen die Religion aller frommen, mie jeder fie in dem übrigen 
fchaut, die unendliche bie fein einzelner. ganz umfaffen fann, weil : 
fie als einzelnes nicht Eins ift, und zu der ſich alfo auch Feiner | 
bilden und erheben läßt. Hat alfo jemand fchon ..einen Antheil : 
daran, welcher es auch fei, für ſich erwählt: wäre es nicht ein 
widerfinniged Verfahren ‚von der Gefellfchaft, werin fie ihm das . 
entreißen, wollte was ſeiner Natur gemäß ift, da fie doch auch 
184 diefes in fich befaffen fol, und alfo nothwendig- einer: 68 befizen 
muß? Und wozu follte fie diejenigen bilden wollen,. denen die 
Religion überhaupt noch fremd iſt? Ihr Eigenthum,. dad unend: 
lich ganze kann doch auch fie felbft ihnen nicht mittheilen, und 
die Mittheilung irgend eined befonderen daraus kann nicht vom 
ganzen ausgehn, fondern nur von einzelnen. Alfo etwa das all: 
gemeine, ‘das unbeflimmte, welches fich vieleicht ergeben wuͤrde, 
wenn man dad aufjuchte, was etwa bei allen ihren Glieder 
anzutreffen iſt? Aber ihr wißt ja, daß überall gar nichts in der 
Geftalt des allgemeinen und unbeflimniten, fondern nur ald etwas 
einzelnes und in’ einer durchaus beſtimmten Geftalt wirklich ge: 
geben und mitgetheilt werden kann, weil es fonft nicht etwas, 
ſondern in der That nichts waͤre. An jedem Maaßſtabe und an 
jeder Regel wuͤrde es ihr alſo fehlen bei diefem Unternehmen. 
Und wie kaͤme ſie uͤberhaupt dazu aus ſich hinauszugehn, da das 
Beduͤrfniß aus welchem ſie entſtanden iſt, das Princip der reli— 
gioͤſen Geſelligkeit, auf gar nichts dergleichen hindeutet? Die 
einzelnen ſchließen ſich an einander, und werden zum ganzen; 
das ganze als ſich genuͤgend ruht in ſich und ſtrebt nicht hinaus. 
Was alſo von dieſer Art geſchieht in der Religion iſt immer nur 
ein Privatgeſchaͤft des einzelnen für ſich, und daß ich ſo ſage, 
mehr ſofern er außer der Kirche iſt als in ihr. Genoͤthiget aus 
dem Kreiſe der religioͤſen Vereinigung, wo das gemeinſchaftliche 
Sein und Leben in Gott ihm den erhabenſten Genuß gewaͤhrt, 


327 
und von heiligen Gefühlen burchbrungen fein Geift auf dem 
hoͤchſten Gipfel des Lebens ſchwebt, ſich zuruͤkk zu ziehen in die 
niedrigen Gegenden des Lebens, ift es ‚fein Troft, daß er auch 
alles ”),. womit er fich da beihäftigen muß, zugleid auf dad be: 
ziehen kann, was feinem Gemäth immer das höchfte bleibt. Wie 
.er von dort herabkommt unter die, welche fich auf irgend ein ir. 
difches Streben und Treiben beichränten, glaubt er leicht — und 
verzeiht ed ihm nur — aus dem Umgang mit Göttern und Mu: 
fen unter ein Geſchlecht roher Barbaren verfezt zu fein. Er fühlt 
fih ald ein Verwalter der Religion unter den ungläubigen, als ıss 
ein Bekehrer unter den wilden, auch ein Orpheus oder Amphion 
hofft er manchen zu gewinnen durch himmlifche Zöne, und ftellt 
fih dar unter ihnen als eine prieſterliche Geftalt, feinen hoͤhern 
Sinn Mar und hell ausdrüffend in allen Handlungen und in 
feinem ganzen. Wefen. Regt dann in ihnen die Wahrnehmung 
des heiligen und göttlichen etwas ähnliches auf, wie gern pflegt 
er diefer erfien Ahndungen ber Religion in einem neuen Gemüth, 
als einer ſchoͤnen Buͤrgſchaft ihres Gedeihens auch in einem frem⸗ 
den und rauhen Klima! wie triumphirend zieht er den Neuling 
mit ſich empor zu der erhabenen Verſammlung! Dieſe Geſchaͤf⸗ 
tigkeit um die Verbreitung der Religion iſt nur die fromme 
Sehnſucht des Fremdlings nach ſeiner Heimath, das Beſtreben 
ſein Vaterland mit ſich zu fuͤhren, und die Geſeze und Sitten 
deſſelben, als ſein hoͤheres ſchoͤneres Leben, uͤberall wiederzufinden; 
das Vaterland ſelbſt, in ſich ſelig und ſich vollkommen ‚genug, 
kennt auch dieſes Beſtreben nicht. — | 
Nach dem allen werdet Ihr vielleicht fagen, dag ich ganz 
einig mit Euch zu fein -fcheine; ich habe gezeigt, was die Kirche 
fein müffe ihrer Natur nach; und indem ich ihr alle die Eigens 
ſchaften, welche fie jezt auszeichnen, abgefprocyen, fo habe ich ihre 
gegenwärtige Geftalt eben fo firenge gemißbilligt als Ihr felbfl. 
=&%c verfichere Euch aber, daß ich nicht von dem geredet habe”) 
was fein fol, ſondern von dem was iſt; wenn ihr. anderd nicht 


ie 


— 


328 


läugnen wollt, daß dasjenige wirklich ſchon if, was nur durch 
Beſchraͤnkungen ded Raumes gehindert wird auch dem gröberen 
BIER zu erfcheinen. Die wahre Kirche ift in der That immer 
fo gemwefen, und iſt noch fo; und wenn ihr fie nicht fo ſehet, fo 
liegt die Schuld doch eigentlih an Euch und in einem ziemlid 


handgreiflichen Mißverfländnig. Bedenkt nur, ich bitte Euch, 


dag ich, um mic) eined alten aber fehr finnreichen Ausdrukkes zu 
bedienen, nicht von der flreitenden, fondern von der triumphirens 
den Kirche geredet habe, nicht von’ der welche noch kaͤmpft gegen 
alle Hinderniffe, die ihr das Zeitalter und ber Zufland der Menfchs 


186 heit in den Weg legt, fondern, von der die fchon alle was ihr - 


entgegenftand überwunden und ſich felbft fertig gebildet hat. Ich 
babe Euch eine Geſellſchaft von Menfchen dargeftelt, die. mit 
ihrer Frömmigkeit zum. Bewußtfein gekommen find, und in denen 
die religiöfe Anficht des Lebens vor andern berrfchend geworben 
iſt; und da ich Euch überzeugt zu haben ‚hoffe, daß dies Mens 
fen von einiger Bildung und von vieler Kraft fein müffen, und 
baß ihrer immer nur fehr wenige fein Pünnen, fo dürft Ihr freis 
lich ihre Vereinigung da nicht fuchen wo viele Hunderte verfams 
melt find in großen Zempeln, und ihr Geſang ſchon von ferne 
Eure Ohren erfchättert; fo nahe, wißt Ihr wol, ftehen Menfchen 
diefer Art nicht bei einander. Bielleicht iſt fogar nur in einzel 
nen abgefonderten von der großen Kirche gleichlam ausgeſchloſſe⸗ 
nen Gemeinheiten etwas ähnliches in einem beflimmten Raum 
‚julammen gedrängt zu finden: foviel aber ift gewiß, daß alle 
wahrhaft religiöfe Menſchen, foviel es ihrer je gegeben hat, nicht 
nur den Glauben, oder vielmehr das lebendige Gefühl von einer 
ſolchen Vereinigung mit ſich herumgetragen, ſondern auch in ihr 
eigentlich gelebt. haben, und dag fie alle das, was man gemeins 
bin die Kirche nennt, fehr nach feinem: Werth, das heißt eben 
nicht fonderlich hoch, zu fchäzen wußten. \ > 
Diefe große Verbindung naͤmlich, auf welche Eure barte- 
Beichuldigungen ſich eigentlich beziehen, ift, weit entfernt eine 


Rx « 


329 


3 Geſellſchaft religiöfer Menfchen zu fein, vielmeht nur eine Ver: 
s einigung folcher, welche die Religion erſt ſuchen; und fo finde 
£ ich es ſehr natürlich, daß fie jener fat in allen Stuͤkken entgegen: 
m geſezt iſt *). Leider muß ich, um Euch dies fo deutlich zu mas 
achen ald ed mir ift, in eine Menge irbifcher weltlicher Dinge 
k hinabfteigen, und mich durch ein Labyrinth der wunbderlichfien 
m Verirrungen hindurchwinden: ed gefchieht nicht ohne Widerwillen; 
waber fei ed -darum, Ihr müßt dennoch mit mir einig werden. 
(Vielleicht daß ſchon die. ganz verſchiedene Form der religiöfen 
Gefeligkeit in der einen und in der andern, wenn ich Euch auf: 
merffam darauf mache, Euch im wefentlichen von meiner Meis 187 
Binung überzeugt. Ich hoffe Ihr feid aus dem vorigen mit mir 
1 einverſtanden daruͤber, daß in der wahren religioͤſen Geſellſchaft 
alle Mittheilung gegenſeitig iſt; das Princip, welches uns zur 
ıjAeußerung des eigenen antreibt, innig verwandt mit dem was 
ſuns zum Anfchliegen an dad fremde geneigt macht, und fo Wir: 
silung und Ruͤkkwirkung aufs unzertrennlichfle mit einander ver: 
„bunden. ‘Hier im Gegentheil findet ihr gleich eine durchaus ans 
„dere Weiſe: alle wollen empfangen, und nur einer ift da der 
eigeben fol; völlig leidend laſſen fie nur immer in ſich einwirken 
aſdurch alle Organe, und helfen hoͤchſtens dabei ſelbſt von innen 
„nach, fo viel fie Gewalt über fich haben, ohne: an eine Ruͤkkwir⸗ 
tung auf andere auch nur zu denken 9). Zeigt das nicht deut: 
lich genug, daß auch dad Prineip ihrer Geſelligkeit ein ganz 
anderes fein muß? Es fann wol bei ihren nicht die Rede davon 
: Hein, daß fie nur ihre Religion ergänzen wollten durch die an- 
dern; denn wenn in der hat eine eigene in ihnen - wohnte, 
wuͤrde diefe fich wol, weil es in ihrer Natur liegt, auch irgend | 
wie wirffam duf andere bemweifen. Sie üben feine Gegenwirkung 
aus, weil fie keiner fähig find, und fie können nur darum feiner 
fähig fein, weil Feine Religion in ihnen wohnt. Wenn ich mich 
eined Bildes bedienen darf aus der Wiffenfchaft, der ih am 
liebften Ausdruͤkke abborge in Angelegenheiten der Alien: e 












330 


möchte ich fagen, fie find negativ religiös, und drängen fü 
in großen Haufen zu ben wenigen Punkten hin, wo fie d 
fitive Princip der Religion ahnden, um fich mit dieſem 3 
- einigen. Haben fie aber dieſes in fih aufgenommen, fo fi 
ihnen wiederum an Gapacität um dad aufgenommene fefi 
ten; die Erregung, welche gleihfam nur Ihre Oberfläche r 
len konnte, verfchwindet bald genug, und fie gehen dann ir 
gewiffen Gefühl von Leere fo lange hin, bis die Sehnfu 
wacht ift, und fie ſich allmäplig aufd- neue negativ an 
haben. Dies ift in wenig Worten die Gefchichte ihres rel 
Lebens, und der Charakter der gefelligen Neigung, welche 
ass daſſelbe verflochten ift. Nicht Religion, nur ein wenig Sil 
fie, und ein mühfames auf eine bedauerndwürbige Art 1 
liches Streben zu ihr felbft zu gelangen, das ift alles wa 
auch den beften unter ihnen, denen die es mit Geiſt umt 
treiben, jugeftehen kann. Im Lauf ihres häuslichen un 
gerlichen Lebens, wie ‘auf dem größeren Schauplaz bei 
Ereigniffen fie Bufchauer find, begegnet natürlich vieles, wa 
ſchon den aufregen muß, indem nur ein-geringer Anth 
ligiöfen Sinnes lebt; aber diefe Erregungen bleiben nur n 
dunkle Ahndung, ein ſchwacher Eindruff auf einer zu ı 
Maffe, deflen Umrifje gleich ind unbeflimmte. zerfließen; alle 
bald hingeſchwemmt von den Wellen des gefchäftigen Leber 
lagert fih nur in die unbefuchtefte Gegend der Erinnerun, 
‚auch dort von weltlihen Dingen bald ganz verfchüttet z 
den. Indeß entfiehet aus der öfteren Wiederholung diefes 
Reizes dennoch zulezt ein Beduͤrfniß; die dunkle Erſcheinr 
Gemuͤth, die immer wiederkehrt, will endlich klar gemach 
Das beſte Mittel dazu, fo ſollte man freilich denken, wä 
ſes, wenn fie ſich Muße nähmen dad, was fo auf fie wir 
lafien und genau zu betrachten: aber dieſes wirkende ifl 
einzelned, was fie von allem andern abzöge, es ift daß ı 
liche AU, und in’ diefem liegen doch unter andern auch ı 


# - 331 


» einzelnen. Berhältniffe, an die fie in den übrigen Theilen ihres 
⁊ Lebens zu denken, mit denen fie zu fchaffen haben. Auf dieſe 
e würde ſich aus alter Gewohnheit ihr Sinn unwillkuͤhrlich rich⸗ 
k- ten, und dad erhabene und. unendliche würde fi ihren Angen 
ia wieder zerflüffeln in lauter einzelnes und geringes. Das fühlen 
ii fie, und darum vertrauen fie fich felbft nicht, fondern fuchen 
m fremde Hülfe; im Spiegel einer fremden Darftellung wollen fie 
a: onfchauen, was in der unmittelbaren Wahrnehmung ihnen bald 
wieder. zerfliegen würde. Auf diefem Wege fuchen fie zu einem 
:beflimmteren ‚höheren Bewußtfein zu gelangen: aber fie mißver: 
ſtehen am Ende .died ganze Streben. Denn wenn nun die Aeu: 
sg herungen eined religiöfen Menfchen alle jene Erinnerungen ge— 100 
merkt haben; wenn ſie nun den vereinten Eindrukk von ihnen 
empfangen haben und ſtaͤrker erregt von dannen gehn: ſo meinen 
ſie ihr Beduͤrfniß ſei geſtillt, der Andeutung der Natur ſei Ge⸗ 
nuͤge geſchehen, und ſie haben nun die Kraft und das Weſen 
aller dieſer Gefuͤhle in ſich ſelbſt, da ſie ihnen doch — eben wie 
ehedem, wenn gleich in einem hoͤheren Grade — nur als eine 
it] fluͤchtige Erſcheinung von außen gekommen find. Dieſer Täu: 
je Iſchung immer unterworfen, weil fie von der wahren und leben⸗ 
digen Religion :weder. Ahndung noch Kenntniß haben, wieder 
holen fie in vergeblicher Hoffnung endlich auf das rechte zu Tom: 
n taufendmal. denfelben Berfuch, und bleiben dennoch wo und 
was fie gewefen find 10). Kaͤmen fie weiter; würde ihnen auf 
dtefem Wege die Religion felbfithätig und lebendig eingepflangt: 
Mo würden fie bald nicht mehr unter denjenigen fein wollen, des 


















angemeffen wäre, noch auch erträglich fein könnte; fie würden 
ſich wenigftens neben ihr einen andern Kreid fuchen, wo Fröm;: 
migkeit fich andern lebendig und belebend ermweifen könnte, und 
bald würden fie dann nur in diefem leben wollen, und ihm ihre 
iquöfchließende Liebe weihen. Und fo wird auch in der That die 
Kirche wie. fie bei und befteht -allen um fo gleihaültiger, \e vedit - 


332 
fie junehmen in der Religion, und die frömmflen ſondern ſich 
fol; und Falt von ihr aus. ES kann faum etwas deutlicher 
fein; man ift in diefer Verbindung nur deswegen, weil man te 
liglöß zu werden erft fucht, man verharrt darin nur, fofern man 
ed noch nicht iſt 11). — Eben das geht aber auch aus der Ar 
hervor, wie die Mitglieder der Kirche felbft die Religion behan 
deln. Denn geſezt auch es wäre unter wahrhaft religiöfen Men 
fchen eine einfeitige Mittheilung und ein Zuſtand freiwillige 
Paſſivitaͤt und Entaͤußerung denkbat: fo koͤnnte doch in ihrem 
gemeinfchaftlichen Thun ohnmoͤglich die durchgaͤngige Verkehrtheit 
und Unfenntniß herrfchen, welche fich dort findet. .Denn verflän 
ben die Genoffen der Kirche fih auf die Religion: fo. würde 

1 ihnen doc dad die Hauptlache fein, Daß der, welchen fie für ſich 
zum Organ der Religion gemacht haben, ihnen ſeine klarſten und 
eigenthuͤmlichſten Anſichten und Gefuͤhle mittheilte; das moͤgen 
ſie aber nicht, ſondern ſezen vielmehr den Aeußerungen ſeiner 
Eigenthuͤmlichkeit Schranken auf allen Seiten, und begehren daß 
er ihnen vornehmlich Begriffe, Meinungen, Lehrfäze, kurz flat 

der 'eigenthümlichen Elemente der Religion die gemeingeltenden 
Reflerionen darüber ind Licht ſezen fol. Verſtaͤnden fie ſich auf 
die Religion,- fo würden fie aus ihrem eigenen Gefühl wiſſen, 
daß jene ſymboliſchen Handlungen, von denen ich geſagt babe, 
daß fie der wahren religiöjen Geſelligkeit weſentlich find, ie 
Natur nach nichts fein Eönnen ald Zeichen der Gleichheit des u 
allen hervorgegangenen Reſultats, Andeutungen der Ruͤkkehr von 
der perfönlichften Belebtheit zum gemeinfchaftlichen Mittelpunkt, “ 
nichtö ald dad vollſtimmigſte Schlußchor nah allem was einzeln, 
rein und kunſtreich mitgetheilt Haben; davon aber wiffen fie nich, 
fondern diefe Handlungen find ihnen etwas für ſich beftehendel,, 
und.nehmen beflimmte Zeiten ein 12). Was geht daraus hervo 
ald diefes, dag ihr gemeinfchaftliches Thun nichts an fich Y 
von jenem Charakter einer hohen und freien Begeiflerung der * 
Keligion durchaus eigen it. ſondern ein ſchuͤlerhaftes mechant 


333 


ſches Wefen ift? und worauf: deutet biefed wiederum, als daran, 
daß fie die Religion erfi von außen uͤberkommen möchten? Das 
" wollen fie auf alle Weife verfuhen. Darum hängen fie fo an 


"den todten Begriffen, an den Mefultaten: der Reflexion über die 


"Religion, und faugen fie begierig ein, in der Hoffnung daß diefe 
"in ihnen den umgekehrten Proceß ihrer Entftehung machen, und 
fi) wieder in die lebendigen Erregungen und Gefühle zuruͤkk 
verwandeln werben, au&- denen fie urfprünglich abgeleitet find. 
‚Darum gebrauchen fie die. ſymboliſchen Handlungen, die- ihrer 
Natur nach das lezte find in der religiöfen Mittheilung, ald Reiz: 
mistel, um das aufzuregen, was ihnen eigentlich vorangehen müßte. 
] Waenn ic) von dieſer größeren und weit verbreiteten Verbin: 
dung in Vergleichung mit der vortrefflicheren, die nad; meiner 


















von etwas gemeinem und niedrigem gefprochen habe, fo ift das 
reilich in der Natur der Sache gegruͤndet, und ich konnte mei⸗ 
nen Sinn darüber nicht verhehlen: aber ich verwahre mich feier⸗ 
lihft. gegen jede Vermuthung, die Shr wol hegen fönntet, al& 
Rimmte ich den immer allgemeiner werdenden Wuͤnſchen bei, diefe 
Anftalt lieber ganz. zu zerflören. Nein, wenn die wahre Kirche 
ch immer nur denjenigen offen. flehen wird, die fchon zur Froͤm⸗ 
igfeit in fich gereift find: fo muß es doch irgend ein Bindungs⸗ 
nittel geben zroifchen ihnen; und denen welche fie noch fuchen; 
nd eben das foll doch dieſe Anftalt fein, welche auch deöhalb 
er Natur der Sache nad) ihre Anführer und Priefter immer 
us jener hernehmen muß !®). Oder fol etwa grade-die Reli- 
tom die einzige menfchliche Angelegenheit fein, in der es Feine 
eranflaltungen gäbe zum Behuf der Schüler und Lehrlinge? 
ber freilich der ganze Zufchnitt diefer Anftalt müßte ein anderer 
in, und ihr Verhaͤltniß zur wahren Kirche ein ganz andred 
nfehn gewinnen. Es ift mir nicht erlaubt hierüber zu ſchwei⸗ 
en. Diefe Wünfche und Ausſichten hängen zu genau mit der 


% 


atur. der religiöfen Gefelligkeit zufammen, und ber ‚beffere Zu: 


- 


dee allein die wahre Kirche ift, nur fehr herabfezend und als 


334 


fand der Dinge, den ich mir denke, gereicht fo fehr zu 
Verherrlichung, daß ich meine Ahndungen nicht in mid 
fchließen darf. Soviel wenigftens ift durch den fchneidender 
terfchied, den wir zwifchen beiden fefigeftelt haben, gewo 
dag wir fehr ruhig und einträchtig über alle Mißbräuche, 1 
der Eirchlichen Geſellſchaft obwalten, und über ihre Urfacheı 
einander nachdenken fönnen. Denn Ihr müßt geftehen, da 
Religion, da fie für fich eine folche Kirche nicht hervorgel 
hat, and fich in ihr nicht darftelt, auch von aller Schu 
jedem Unheil, welched diefe angerichtet haben fol, und von 
Antheil an dem verwerflihen Zuftande worin fie fich bef 
102 mag, vorläufig muß freigefprochen werben; fo gänzlich freigı 
chen, daß man ihr nicht einmal den Vorwurf machen fan 
fönne in fo etwas ausarten, da fie ja, wo fie noch gar. 
gemefen ift, auch unmöglich kann audgeartet fein. Sch geb 
daß es in diefer Gefelfchaft einen verderblichen Sectengeift ı 
und nothwendig geben müfle Wo die vreligiöfen Meinr 
gleichfam als Methode gebraucht werben um zur Religio 
gelangen, da muͤſſen fie freilich in ein beflimmtes ganzes get 
werben, benn eine Methode muß durchaus beftimmt umt 
ſchloſſen fein 14); und wo fie als etwas, das nur von- a 
gegeben werden kann, angenommen werden auf die Autoritä 
gebenden, da muß jeder der feine religiöfe Sprache anders 
prägt als ein Störer des ruhigen und fichern Hortfchre 
angefehn werben, weil er durch fein bloßed Dafein und 
Anfprüche, die damit verbunden find, diefe Autorität ſchw 
Ja ich geflehe fogar, dag dieſer Sectengeift in der alten $ 
götterei, wo dad ganze der Religion von felbft nicht in ı 
befaßt war, und fie fich jeder Theilung und Abfonderung 
figer darbot, weit gelinder und friedlicher - war, und ba 
erft in den fonft befieren Zeiten der fpflematifchen Religion 
organifirt und in feiner ganzen Kraft gezeigt hat; Denn mo ' 
ein ganzes Syſtem und einen Mittelpunkt dazu zu haben. gla 


335 


a da muß ber Werth, der auf jedes einzelne gelegt wird, ungleich 
„größer fein. "Ich gebe beides zu: aber Ihr werdet mir .einräus 
„.; men daß jened der Religion überhaupt nicht zum Vorwurf ge⸗ 
— reicht, und daß dieſes keinesweges beweiſen kann, die Anſicht des 
pi: Univerſums als Syſtem fei nicht die hoͤchſte Stufe der Religion. 
ze Ih gebe zu, daß in diefer Gefellfchaft mehr. auf das Verſtehen 
mg Oder Glauben, und auf das Handeln und Vollziehn von Ge: 
fg bräuchen geſehen wird, als daß eine freie Entwikklung religiöfer 
arı Wahrnehmungen und Gefühle begünftiget würde, und daß fie 
‚daher immer, wie aufgeklärt auch ihre Lehre fei, an den Gren: 
zen der Superflition. einhergeht, und an irgend einer Mythologie 
hängt; aber Ihr werdet geftehen, daß ihr ganzes Weſen deshalb 103 
nur um fo weiter von der wahren Religion entfernt if. Ich 
Asebe zu, daß diefe Verbindung faum beſtehen kann ohne einen _ 
ine jfeftftehenden Unterſchied zwiſchen Priefter und Laien als zwei 
verſchiedenen veligiöfen Ständen; denn wer unter dieſen dahin 
ltöme felbft Priefter fein zu koͤnnen, das heißt eigenthuͤmlich und 
vollſtaͤndig und zur. Leichtigkeit in irgend einer Art der Darſtel⸗ 
 Itung ſein' Gefuͤhl in ſich ausgebildet zu haben, der koͤnnte un: 
möglich Laie bleiben, und ſich noch ferner fo geberden, ald ob 
bies alles ihm fehlte; er wäre vielmehr frei, und verbunden ent⸗ 
weder dieſe Gejellichaft zu verlaſſen, und die wahre Kirche aufs 
Aufuchen, oder von’ biefer vielleicht ſich wieder zu jener zurüfß 
, Iſchikken zu laffen um ihr mit vorzuftehen als Priefter: aber das 
zip Pleibt gewiß, dag dieſe Zrennung mit allem, was fie unwürdiges 
«hat, und: mit allen übeln Folgen, die ihr eigen fein koͤnnen, nicht 
Bon der Religion herrührt, fondern nur von. dem Mangel an 
Meligioſitaͤt in der Mafle. | 
Jedoch eben hier höre ich Euch einen neuen Einwurf machen, 
der alle diefe Vorwürfe wieder auf. die Religion zurüffzumälzen 
cheint. Ihr werdet mich daran erinnern, daß ich felbft gefagt 
babe, die große Firchliche Geſellſchaft, jene Anftalt für die Lehr: 
dlinge in: der Religion meine: ich, müfle der Natur der Sache 





















336 . ' 


nah ihre Anführer, die Priefter, nur aus den Mitgliedern der 
wahren Kirche nehmen, weil es in .ihr. felbft an dem wahren 
Prinzip der Religiofität fehle. . Iſt dies fo, werdet Ihr. fagen, 
wie können denn bie in der Religion vollfommenen, da wo fit 
zu berefchen haben, wo alles auf ihre Stimme hört, und wo fi 
felbft nur der Stimme der Religion follten Gehör geben, fo vis 
les dulden, ja vielmehr felbft. hervorbringen — denn wen ver 
dankt die Kirche wol alle ihre Einrichtungen ald den Prieftern? 
— was dem Geift der Religion ganz ‚zuwider fein fol? Ode 
wenn es nicht fo ift wie es fein folte, wenn fie fich vielleich. 
die Regierung ihrer Zorhtergefellfchaft haben entreigen laffen: mg 
ift dann der hohe Geift den wir mit Recht bei ihnen ſuchen bi 
ı93 fen? warum haben fie ihre wichtige Provinz fo fchlecht verwal 
tet? warum haben fie es geduldet, daß niedrige Leidenfchaften 
dad zu einer Geißel der: Menfchheit machten, was in ben Hin 
den ber Religion ein Segen geblieben wäre? fie, ‚für deren jeben, 
wie bu felbft geftehft, Die Leitung derer, die ihrer. Huͤlfe ſehr bp 
dürfen, das erfreulichfte und zugleich heiligſte Gefchäft fein muß 
— Freilich iſt es leider nicht ſo wie ich behauptet habe daß 
ſein ſolle; wer moͤchte wol ſagen, daß alle diejenigen, daß auqh 
nur der groͤßte Theil, daß nachdem einmal ſolche Unterordnungg- 
gemacht find, auch nur die erflen und vornehmften unter bene, 
welche die große Kirchengeſellſchaft feit langer Seit regiert ber, 
ben, vollfommene in der Religion oder auch nur Mitglieder 7 
wahren Kirche geweſen wären? Nehmt nur, ich bitte Eud 
bad was ich fagen muß um fie zu entichufdigen, nicht fi 
eine binterliflige Retorſion. Wenn Ihr nämlich der Religi 
entgegehredet, thut Ihr ed gewöhnlich im Namen der Philofo, 
phie; wenn Ihr der Kirche Vorwürfe macht, fprecht Ihr in, 
Namen bed Staats; Ihr wollt die politifchen Künftler aller Be, 
ten darüber vertheidigen, daß durch Dazwiſchenkunft der Kirk 
ihr Kunſtwerk ſoviel unvollkommene und übel berathene Stelle 
befommen habe. Wenn nun id), ber ic im Namen ber Reb 


337 
Hiöfen, und für fie rede, die Schuld davon, daß fie ihr Geſchaͤft 
nicht mit befferem Erfolg haben betreiben koͤnnen, dem Staat 
und den Staatskuͤnſtlern beimeffe, werdet Ihr mich nicht im Ver 
Macht jened Kunftgriffes haben? Dennoch hoffe ich, Ihr werbet 
mir mein Recht nicht verfagen Tönnen, wenn Ihr mich über die 
"eigentliche Entftehung aller diefer Uebel anhört. 
gJede neue Lehre und Offenbarung, jede neue Anficht bes 
duniverſum, welche den Sinn fuͤr daſſelbe anregt auf einer Seite 
wo es bisher noch nicht ergriffen worden iſt, gewinnt auch einige 
emuͤther der Religion, fuͤr welche grade dieſer Punkt der einzige 
war, durch welchen ſie eingefuͤhrt werden konnten in die hoͤhere 
hnen noch unbekannte Welt. Den meiſten unter ihnen bleibt 196 
ann natürlich grade diefe Beziehung der Mittelpunkt der Reli: 
gion; fie bilden um ihren Meiſter ber eine eigne Schule, einen 
e. fich beftehenden befonderen heil der wahren und allgemeinen 
Kirche, welcher erſt fill und langfam feiner Bereinigung im Geifl 
it dem großen ganzen entgegenreift. Aber ehe diefe erfolgt, 
den fie gewöhnlich, wenn erft die neuen Gefühle ihr ganzes 
Gemuͤth durchdrungen und gefättigt haben, heftig ergriffen von 
m Bedürfniß zu. äußern was in ihnen ift, damit das innere 
euer fie nicht verzehre. So verfündiget jeder wo und wie er 
ann dad neue Heil, welches ihm aufgegangen iſt; von jedem 
Hegenftande finden fie dem Uebergang. zu dem neuentdefften un: 
Kenblichen, jede Mede verwandelt ſich in eine Zeichnung ihrer bes 
ondern religiöfen Anficht, jeder Rath, jeder Wunſch, jedes freund: 
flihe Wort in eine begeifterte Anpreifung ded Weges den fie als 
"den einzigen Tennen zur Seligkeit. Wer ed weiß, wie die Reli 
gion wirkt, der findet es natürlich, daß fie ale reden; fie würden 
fonft fürchten, daß Die Steine e8 ihnen zuvorthäten. Und wer 
es weiß, wie ein neuer Enthuſiasmus wirkt, der findet es natürs 
Lich, daß dieſes Iebendige Feuer gewaltfam um fich greift, manche 
berzehrt, viele erwärmt, Taufenden aber auch nur ben falfchen 
"oberflächlichen Schein einer innern Stut mittheilt. Und Diele Tau: 
Schleierm. ®. I. 1. V 













338 





fende find eben das Verderben. Das jugendliche Feuer der neuen 
heiligen nimmt auch fie für wahre Brüder: was hindert, fpre| 
chen fie nur allzurafch, daß auch diefe den heiligen Geift. empfe 
ben; ja fie ſelbſt nehmen ſich dafür, und laſſen fich im freudigen| 
Triumph einführen in den Schooß der frommen Gefellichaft| 
Aber wenn der Nauſch der erften Begeifterung vorüber, wenn bei 
glühende Oberfläche ausgebrannt ift: fo zeigt ſich daß fie dei 
Zuftand in welchem die andern ſich befinden nicht aushalten, und 
nicht theilen koͤnnen; mitleidig flimmen ſich diefe herab zu ihmen,:; 
und entfagen ihrem eignen höhern und innigern Genuß um ihnen; 
wieder nachzuhelfen, und fo nimmt alles jene unvolllommen | 
196 Geflalt an. Auf dieſe Art: geichieht ed ohne Äußere. Urſachen 
durch das allen menſchlichen Dingen gemeine Verderbniß, jener 
ewigen Orbnung gemäß, nad) welcher diefed Werderben grade da f 
feurigfte und regfamfte Leben am ſchnellſten ergreift, daß fich um 
jeben einzelnen heil der wahren Kirche, welcher irgendwo in de „ 
Melt ifolirt entfteht, nicht abgefondert von jenem,  fondern in ug 
mit ihm, eine falſche und ausgeartete Kirche bildet. So iſt ed ui 
allen Zeiten, unter allen Völkern und in jeber befondern Rei u 
gion ergangen. Wenn man aber alles ruhig ſich ſelbſt überließe: y 
- fo Eönnte diefer Zuftand unmöglich irgendwo lange gewährt he ı 
ben. Gießt Stoffe von verfchiedener Schwere und Dichtigkeit, y 
und die wenig innere Anziehung gegen einander haben, in ei y 
Gefäß, rüttelt fie auch aufs heftigfte Durcheinander, daß alled einl ; 
zu fein fcheint, und ihr werdet fehen, wie alles, wenn Shrd, 
nur ruhig flehen laßt, fi allmählig wieder fondert, und nut ı 
gleiches fich zu gleichem gefelt. So wäre es auch hier ergan.y 
gen, denn dad ift der natürliche Lauf der Dinge. Die wahr 
Kirche hätte fih FEIN wieder, ausgefchieden um der vertrauteren 4 
und höheren Gefelligkeit zu genießen, welcher die anderen nid! g 
fähig waren; dad Band der Iezteren unter einander wäre dam s 
fo gut als gelöft gewefen, und ihre natürliche Stumpfheit müßt ı 
irgend etwas aͤußeres erwartet haben um zu beflimmen was au « 





339 


ihnen werden follte. Sie wären aber nicht verlafien geblieben 
von jenen: wer hätte wol außer jenen den leifeften Beruf ſich 
ihrer anzunehmen? was für eine Lokkung hätte wol ihr Zufland 
ben Abfichten anderer Menfchen dargeboten? was wäre zu ge 
winnen, oder was für Ruhm wäre zu erlangen gewelen an 
ihnen? Ungeftört alfo wären bie Mitglieder der wahren Kirche 
im Befiz geblieben, ihr priefterliched Amt unter dieſen in einer 
neuen und bejjer angelegten Geſtalt wieder anzutreten. Jeder 
: hätte diejenigen um fich verfammelt die grade ihn am beften vers 
fanden, die Durch feine Weile am kraͤftigſten konnten erregt wer: 
ben; und flatt der ungeheuren Verbindung, deren Dafein Ihr 
jest befeufjt, wären eine große Menge kleinerer und unbeſtimm⸗ ı07 
ter Gefellichaften entitanden, worin die Menfchen fich auf allerlei 
Art bald bier bald dort geprüft hätten auf die Religion, und 
‘der Aufenthalt darin wäre nur ein vorübergehender Zufland ‚ges 
weſen, vorbereitend für den, dem der Sinn für die Religion auf 
gegangen wäre, entfcheidend für den, der ſich unfähig gefunden 
hätte auf irgend eine Art davon ergriffen zu werden 25), Heil 
‚denen, welche, wann die Umwälzungen der menſchlichen Dinge 
dieſes golone Zeitalter der Religion, nachdem ed auf dem eins 
fachen Wege der Natur verfehlt worden iſt, auf einem langſame⸗ 
ren und fünftlicheren Wege herbeiführen, alddann erft berufen 
werben! gnädig find ihnen bie Götter, und reicher Segen folgt 
ihren Bemühungen auf ihrer Sendung, den Anfängern zu helfen 
und den unmünbdigen den Weg eben zu machen zum Tempel bed 
ewigen; Bemühungen die und heutigen fo karge Frucht bringen 
unter den ungünftigfien Umfländen 1°), 

Hört einen dem Anfchein nach vieleicht unheiligen Wunſch, 
aber ich Fann mir kaum verfagen ihn zu Außen. Möchte doch 
allen Häuptern des Staats, allen Virtuofen und Künftlern ber 
Politik auf immer fremd geblieben fein auch die entferntefie Ahn⸗ 
dung von Religion! möchte doch nie einer ergriffen worden fein 
von der Gewalt jener anfteffenden Begeifterung! wenn fie Doc) 

P2 


340 
ihr eigenthuͤmlichſtes inneres nicht zu fcheiden wußten von ihrem 


Beruf und ihrem öffentlihen Charakter. Denn das ift uns die | 
{| 
liche Eitelkeit und den wunderlichen Duͤnkel, ald ob die Vorzuͤge, 
weiche fie mitzutheilen haben, überall ohne Unterfchied etwa 
wichtiges wären, mitbringen in die Verfammlung der heiligen? 


Duelle alles Verderbend geworden. Warum mußten fie bie Bein: 


Warum mußten fie die Ehrfurcht vor den Dienern des Heilig: 
thums von dannen mit zurüffnehmen in ihre Paläfte und Richt 
fäle? Ihr Habt vieleicht Recht zu wünfchen, daß nie ber Saum 


eined gpriefterlichen Gemwanded den Fußboden eined koͤniglichen 


Gemaches möchte berührt haben: aber laßt auch und nur wuͤn 
fen, daß nie der Purpur den Staub am Altar gefüßt hätte; 
108 denn waͤre dies nicht gefchehen, fo wuͤrde jenes nicht erfolgt fein: 
Ja hätte man nie einen Fürften in den Tempel gelaffen, bevor 
er nicht den fchönften Eöniglichen Schmukk, das reiche Fuͤllhorn 
“aller feiner Gunft und Ehrenzeichen abgelegt hätte vor der Pforte! 
Aber fie haben fich deſſen bedient wie anderwärtd, fie haben ge 
wähnt die einfache Hoheit des himmlifches Gebäudes ſchmuͤkken 
zu können durch abgeriſſene Stuͤkke ihrer irdiſchen Herrlichkeit; 
und flatt heilige Gelübde zu erfüllen haben fie ‘weltliche Gaben 
zurüffgelaffen als Weihgeſchenke für den hoͤchſten. So oft ein 
Fürft eine Kirche für eine Gemeinheit erklärte mit beſonderen 


Vorrechten, für eine ausgezeichnet angeſehene Perfon in der tür N 


gerlichen Welt — und dies gefchah nie anders, ald wenn bereit 


jener ungluͤkkliche Zuftand eingetreten war, daß die Geſellſchaft i 


ber gläubigen und die ber glaubenöbegierigen fich auf jene un 


richtige Art, die immer zum Nachtheil der erflern ausfallen mug, b 


mit einander vermifcht hatten, denn ehe war nie eine religiöfe 
Sefelfchaft groß genug um die Aufmerkſamkeit der Herrfcher zu 
erregen — fo oft ein Fuͤrſt fage ich zu diefer gefährlichften und 
verberblichfien aller Vergünftigungen fich verleiten ließ, war das 
Verderben dieſer Kirche faſt unmiderruflich befchloffen und ein 
geleitet, Wie dad furchtbare Medufenhaupt wirkt eine ſolche 


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341 


Eonftitutiondakte politifcher Praponderanz auf die religidfe Ge: 
fenichaft; alles verfteinert fich, fo wie fie erfcheint. Alles nicht 
zufammengehörige was nur für einen Augenblikk in einander ge 
ſchlungen was, ift nun unzertrennlich aneinander gekettet; alles 
zufällige, was. leicht fonnte abgeworfen werben, iſt nun auf immer 
befeftigt; bad Gewand ift mit dem Körper aus einem Stuͤkk, 
und jede unfchiffliche Falte ift wie für die Ewigkeit. Die grös 
Bere und unächte Geſellſchaft läßt fi) nun nicht mehr trennen 
von der höheren und Fleineren, wie fie Doch getrennt werben 
müßte; fie läßt fich nicht mehr theilen noch auflöfenz; fie kann 
weder ihre Form noch ihre Slaubendartifel mehr ändern; ihre 
Einfichten, ihre Gebräuche, alled ift verdammt in dem Zuftande 
zu verharren, in dem es fich eben befand. Aber das iſt noch so 
nicht alles; die Mitglieder der wahren Kirche, die mit in ihr ents 
halten find, find von nun an von jedem Antheil an ihrer Res 
gierung fo gut als ausgeichloffen mit Gewalt, und außer Stand 
gelezt dad wenige für fie zu thun, was noch gethan werben 
könnte. Denn ed giebt nun mehr zu regieren, als fie regieren 
können und wollen; weltliche Dinge find jezt zu ordnen und zu 
beforgen, Vorzüge zu behaupten und geltend zu machens und 
wenn fie fich gleich auf dergleichen auch verftehn in ihren haͤus⸗ 
lichen und bürgerlihen Angelegenheiten, fo können fie doch Dinge 
diefer Art nicht ald Sache ihres priefterlichen Amted behandeln. 
Das ift ein Widerfpruch, der in ihren Sinn nicht eingeht, und 
mit dem fie fich nie ausföhnen koͤnnen; es geht nicht zufammen 
mit ihrem hohen und reinen Begriff von Religion und religiöfer 
Geſelligkeit. Weder für die wahre Kirche, ber fie angehören, 
noch für die größere Geſellſchaft, die fie leiten follen, können fie 
begreifen, was fie denn nun machen follen mit den Häufern und 
Aekkern und Reichthuͤmern, die fie befizen koͤnnen 7), und Die 
Mitglieder der wahren Kirche find außer Zaffung gefezt und ver: 
wirrt durch dieſen widernatürlichen Zufland. Und wenn nun 
noch überdies durch diefelbe Begebenheit zugleich alle die ange- 


342 


lokkt werben, die fonft immer draußen geblieben fein würden; |N 
wenn ed nun dad Intereſſe aller ſtolzen ehrgeizigen habfüchtigen ji 
und räntevollen geworben ift, ſich einzudrängen in die Kirche, 
in deren Gemeinfchaft fie fonft nur die bitterfte Langeweile em: Ir 
pfunden hätten; wenn diefe nun anfangen Theilnahme an heis h 
ligen Dingen und Kunde davon zu heucheln um den weltlichen 
Lohn davon zu tragen: wie follen jene wol ihnen nicht unters m 
liegen? Wer trägt alfo die Schuld, wenn unmwürdige Menfchen ı 
den Pla; der gereiften heiligen einnehmen; und wenn unter ihrer % 
Aufficht alled ſich einfchleichen und feftfezen darf, wad dem Gef hi 
der Religion am meiften zuwider iſt? wer anders ald der Staat I 
mit feiner übel verftandenen Großmuth. Er ift aber auf eine Mi 
au noch unmittelbarere Art Urfach, daß dad Band zwifchen der wah⸗ k 
en Kirche und der Außern Religionögefellfchaft fich gelöft hat. k 
Denn nachdem er diefer jene unfelige Wohlthat erwielen, meinte m 
er ein Recht auf ihre thätige Dankbarkeit zu haben, und hat fie in 
belehnt mit drei höchft wichtigen Aufträgen. in feinen Angelegens % 
beiten 1°). Der Kirche bat er mehr oder weniger übertragen die 
Sorge und Aufficht auf die Erziehung; unter den Auſpicien der. hy 
Religion und in der Geftalt einer Gemeine will er daß bad h 
Volk unterrichtet werde in den Pflichten welche unter die Form ı 
des Geſezes nicht koͤnnen befagt werden, und daß ed angeregt y 
werbe zu wahrhaft bürgerlichen Gefinnungen; und von der Kraft y 
der Religion und den Unterweifungen der Kirche fordert er Daß a 
fie ihm feine Bürger wahrhaft made in ihren Ausfagen. Zur \ 
Vergeltung aber für dieſe Dienfte die er begehrt, beraubt er fic- g 
nun — fo ift es ja faft in allen heilen der gefitteten Welt, ı 
wo es einen Staat und eine Kirche giebt — ihrer Freiheit; er k 
behandelt fie als eine Anflast die er eingefezt und erfunden hat, k 
und freilich ihre Fehler und Mißbräude find faft alle feine Er: i 
findung; und er allein maaßt ſich die Entſcheidung darüber an, f 
wer tüchtig fei ald Vorbild und als Priefter der Religion auf k 
zutreten in diefer Geſellſchaft. Und dennoch wolt Ihr ed von y 


- 


343 


ver Religion fordern, wenn diefe nicht insgeſammt heilige Seelen 
ind? Aber ih bin noch nicht am Ende mit meinen Anklagen; 
ogar in bie innerften Myſterien der religiöfen Geſelligkeit trägt 
x fein Interefje hinein, und verunreinigt fie. Wenn die Kirche 
n prophetifcher Andacht die neugebornen der Gottheit und dem 
Streben nach dem höchften weihet, fo will er fie dabei zugleich 
8 ihren Händen empfangen in bie Lifte feiner fchuzbefohles 
en; wenn fie den heranwachfenden den erften Kuß der Bruͤder⸗ 
haft giebt, als folchen die nun den erften Blikk gethan haben 
n die Heiligthuͤmer der Religion, fo fol das auch für ihn das 
zeugniß ſein von dem erften Grade ihrer bürgerlichen Selbfiftäns 
igkeit 1°); wenn fie mit gemeinfchaftlichen frommen Wünfchen 
te Verſchmelzung zweier Perfonen heiliget, welche als Sinnbil: 201 
er und Werkzeuge ber fchaffenden Natur ſich zugleih zu Traͤ⸗ 
jern des höheren Lebens weihen, fo fol dad zugleich feine Sanc- 
ion fein für ihr bürgerliched Buͤndniß; und ſelbſt daß ein 
Denfch verfchwunden ift vom Schauplaz diefer Welt, will er 
ticht eher glauben bis fie ihn verfichert, daß fie feine Seele wi. 
ergegeben habe dem unendlichen, und feinen Staub eingefchlof- 
en in den. heiligen Schooß der Erde. Es zeigt Ehrfurcht vor 
er Religion und ein Beftreben fi) immer im Bewußtſein feiner . 
igenen Schranken zu erhalten, daß ber Staat ſich fo jedesmal 
or ihr und ihren Verehrern beugt, wenn er etwas empfängt 
us den Händen ber Unendlichkeit, oder ed wieder abliefert im 
iefelben: aber wie auch dies alled nur zum Verderben der relis 
iöfen Geſellſchaft wirke, ift Far genug. Nichts giebt ed nun 
ı allen ihren Einrichtungen, was fih auf die Religion allein - 
ezoge, oder worin fie auch nur die Hauptfache wäre. In den 
eiligen Reden und Unterweifungen fowol als in den geheim: 
igvollen und fombolifhen Handlungen ift alles voll von recht: 
‚chen und bürgerlichen Beziehungen ?°), alles ift abgewendet von 
einer urfprünglichen Art und Natur. Viele giebt es daher unter 
hren Anführern, die nichtd verftehn von der Religion, aber doch 


a 


344 


im Stande find fi große amtliche Werdienfte zu erwerben all 
Diener derſelben; und viele giebt ed unter den Mitgliedern de; | 
Kirche, denen ed nicht in den Sinn kommt Religion aud nn 
ſuchen zu wollen, und bie doch Intereffe genug haben in de: 
Kirche zu bleiben und Theil an ihr zu nehmen. 

Daß eine Gefellfchaft, welcher fo etwas begegnen kann 
welche mit eitler Demuth Wohlthaten- annimmt, die ihr zu nicht! 
frommen, und mit ?riechender Bereitwilligkeit. Laflen übernimmt: 
die fie ind Verderben flürzen, welche ſich mißbrauchen läßt vor 
einer fremden Macht, welche Freiheit und Unabhängigkeit, de: 
ihr doch angeboren find, fahren laßt für einen leeren Schein, 
welche ihren hohen und erhabenen Zwekk aufgiebt, um Dinge 


202 nachzugehn die ganz außer ihrem Wege liegen, daß Dies nicht 


eine Geſellſchaft von Menichen fein. kann, bie ein beſtimmich 
Streben haben, und genau. willen was fie wollen, das denke iq 


ſpringt in die Augen; und diefe kurze Hinweiſung auf die Ge 1 


ſchichten der kirchlichen Geſellſchaft ift, denke ich, der beſte Beweite 
davon, daß fie nicht die eigentliche Geſellſchaft der religtöfa' : 
Menfchen ift, daß hoͤchſtens einige Partikeln von diefer mit ik ı 
vermifcht waren, überfchüttet von fremden Beftandtheilen, un’: 
daß das ganze, um ben erften Stoff dieſes umermeglichen Ber ' 
derbens aufzunehmen, fchon in einem Zuſtande Erankhafter Gib 

rung fein mußte, in welcher die wenigen gefunden Theile ba 

gänzlich entwichen. Voll Heiligen Stolzes hätte die wahre Kirdt 

Gaben verweigert, die fie nicht brauchen Eonnte, wohl wiffen, 

baß diejenigen, welche die Gottheit gefunden haben und fich ihre 
gemeinfchaftlid erfreuen, in ihrer reinen Gefelligkeit, ingber fi 

nur ihr innerſtes Dafein ausftellen und mittheilen wollen, Sa. 

lich nichtd gemein haben, deſſen Beſiz ihnen gefchüzt werden 

müßte Durch eine weltliche Macht, daß fie nichts brauchen auf Er 

den, und auch nichts brauchen Eönnen, ald eine Sprache um fid 

zu verftehn, und einen Raum um bei einander zu fein, Ding 

zu denen fie Feiner Fuͤrſten und ihrer Gunft bebürfen, 


A 


⸗22 “ern... 
’ “ . ” * 


— — nn.” 


345 


Wenn ed aber doch eine vermittelnde Anftalt geben fol, 
durch welche die wahre Kirche in eine gewilfe Berührung kommt 
mit der profanen Welt, mit ber fi ie fonft unmittelbar nichts zu 
Schaffen hätte, gleichlam eine Atmofphäre, durch welche fie zugleich 
fi reinigt und auch neuen Stoff an fich zieht und bildet: weldye 
Seftalt fol diefe Gefelfchaft denn annehmen, und wie wäre fie 
zu befreien von dem Werderben, welches fie eingefogen hat? Das 
lezte bleibe der Zeit zu beantworten überlaflen: es giebt zu allem 
was irgend einmal geichehen muß taufend verfchiedene Wege, 
und für alle Krankheiten der Menfchheit mannigfaltige Heilarten: 
jede wird an ihrem Orte verfucht werden und zum Ziele führen. 
Nur dies Ziel fei mir erlaubt anzudeuten, um Euch defto Harer 
zu zeigen, daß es auch hier nicht die Religion und ihr Streben 203 
gewefen ift, worauf Euer Unwille fich hätte werfen follen. 

Der eigentliche Hauptbegriff einer ſolchen Hälfsanftalt ift 
Doch diefer, daß denjenigen, bie in einem gewiflen Grade Sinn 
für die Religion haben, ohne jedoch, weil fie nämlich in ihnen 
noch nicht zum Ausbruch und zum Bewußtfein gefommen ift, 
fchon der Einverleibung in die wahre Kirche fähig zu fein, daß 
Dielen fo viel Religion, als folch®, lebendig dargeflellt werde, daß 
dadurch ihre Anlage für diefelbe nothwendig entwikkelt . werden 
muß. Laßt und fehen, was eigentlich verhindert, daß dies in ber 
gegenwärtigen Lage der Dinge nicht geſchehen kann. — Ich will 
nicht noch einmal daran erinnern, daß der Staat jezt diejenigen, 
bie in diefer Gefelfchaft Anführer und Lehrer find — nur un: 
gern und aud Mangel bediene. ich mich dieled Worts, welches 
für das Gefchäft ſich nicht ſchikkt — nach feinen Wünfchen aus: 
wählt, die mehr auf Beförderung der übrigen Angelegenheiten, 
welche er mit diefer Anftalt verbunden hat, gerichtet find; dag 
einer in dem Sinne des Staats ein höchft verfiändiger Erzieher 
und ein fehr reiner trefflicher Pflichtenlehrer für das Volk fein 
kann, ohne im eigentlichen Sinne ded Wortes felbft religiös er: 
regt zu ſein, woran es daher vielen, die er unter ſeine wuͤrdigſten 


346 

Diener In dieſer Anſtalt zählt, leicht gänzlich fehlen mag; ich will 
annehmen, alle die er-eingefezt, wären wirklich von Frömmigkeit 
durchdrungen und befeelt: fo würdet Ihr doch zugeben, daß Fein 
Künftler feine Kunft einer Schule mit einigem Erfolg mittheilen’ 
kann wenn nicht unter den Lehrlingen eine gewifle Gleichheit der 
Vorkenntniſſe flatt findet, welche dennoch in jeder Kunſt wo ber 
Schüler feine Fortfchritte durch) Uebungen macht, und der Lehrer 
vornemlih durch Kritik nüzlich wird, minder nothwendig if, 
ald hier bei unferm Gegenflande, wo der Meifter nichts thun 
Tann ald zeigen und darſtellen. Hier muß alle feine Arbeit ver 
geblih fein, wenn nicht allen dafjelbe nicht nur verftändlich 
fondern auch angemeſſen und heilfam iſt. Nicht alfo in Reihe 
= und Glied, wie fie ihm zugezählt find, nach einer alten Verthei⸗ 
lung, nicht wie ihre Häufer neben einander ſtehn, oder wie fie 
verzeichnet: find in den Liſten der Polizei, muß der heilige Red: 
ner feine Zuhörer befommen, fondern nach einer gewiſſen Aehn⸗ 
lichkeit der Fähigkeiten und der Sinnedart 21), — Sezet aber 
auch es verfammelten fih um einen Meifter nur ſolche die der 
Religion gleich nahe find, fo find fie ed doch nicht auf. gleiche 
Weife, und ed ift hoͤchſt widerfinnig irgend einen Lehrling auf. 
einen beftimmten Meifter beſchraͤnken zu wollen, weil es nirgend 
einen fo allfeitig ausgebildeten in der Religion noch einen auf 
alle Weiſe auöftrömenden geben Tann, welcher im Stande wäre 
jedem der ihm vorkommt durch feine Darftelung und Rede ben 
verborgenen Keim der Religion and Kicht zu lokken. Denn gar 
zu viel umfaffend iſt ihr Gebiet. Erinnert Euch der verfchiede, 
nen Wege auf denen der Menſch von der Wahrnehmung bed 
einzelnen und befonderen zu der des ganzen und unendlichen übers 
geht, und daß ſchon dadurch feine Religion einen eignen und 
befliimmten Charakter annimmt; denkt an die verfchiedenen Be 
fimmungen unter denen dad Univerfum den Menfchen erregt und 
an die taufend einzelnen Wahrnehmungen und die verfchiedenen 
Arten wie biefe zufammengeftelt werden mögen, um einander 


- 347 


mechfelfeitig zu erleuchten; bedenkt daß jeder der Religion fucht, ' 
fie unter der: beflimmten Form antreffen muß, die feinen Anlagen 
und feinem Standpunkt angemeffen if, wenn die feinige Dadurch 
wirklich aufgeregt werden fol: fo werdet Ihr finden, daß es 
jedem Meifter unmöglich fein muß allen alled, und jebem das zu 
werden was er bedarf, weil unmöglich einer zugleich ein Myſti⸗ 
ker fein kann und ein Phyfiter, und ein Meifter in jeder heili⸗ 
gen Kunft durch welche die Religion ſich ausfpricht; zugleich ein 
geweiheter in Weiffagungen Gefichten und Gebeten, und in Dar: 
flelungen aus Geſchichte und Empfindung, und nöd) vieles Ans 
dere, wenn ed nur möglich wäre alle die herrlichen Zweige auf: 
zuzählen, in welche der himmliſche Baum der prieſterlichen Kunſt 
ſeine Krone vertheilt. Meiſter und Juͤnger muͤſſen einander in zus 
vollfommener Freiheit aufjuchen und wählen dürfen, fonft iſt 
einer für den andern verloren; jeder muß fuchen dürfen was ihm 
frommt, und Feiner etwa verpflichtet werden follen mehr zu. ges 
ben als dad was er hat. und verfieht. — Wenn wir aber. audy 
died erreicht hätten, daß jeder nur lehren darf was er verficht: 
ſo kann er ja auch das nicht, fobald er zugleich, ich meine in 
berfelben Handlung, noch etwas anders thun fol. Es kann Feine 
Frage. darüber fein, ob nicht ein priefterlicher Menfch feine Reli 
gion darſtellen, ſie mit Eifer und Kunft, wie fichd gebührt, dar⸗ 
fielen, und zugleich noch irgend ein bürgerliche Gefchäft treu 
und in großer Vollkommenheit ausrichten Eönne. Warum alfo 
folte nicht auch, wenn ed fich eben fo fchifft, derjenige welcher 
Beruf hat zum Prieftertpum, zugleich Sitteniehrer fein dürfen 
im Dienfle des Staates? Es iſt nichts ‚dagegen: nur muß er 
beided neben einander, und nicht in und durcheinander fein, er 
muß nicht beide Naturen zu gleicher Zeit an fich tragen, und 
beide Gefchäfte in derfelben Handlung verrichten follen. Bes 
gnüge fich der Staat, wenn ed ihm fo gut daͤucht, mit einer res 
ligiöfen Moral; die Religion aber verleugnet jeden abfichtlich und 
einzeln amd. aus diefem Geſichtspunkt moralifirenden Propheten 


348 


und Priefter; wer fie verfünden will ber thue ed vein. Es wider: 


fpräche allem Ehrgefühl nicht nur jedes Meifterd in feiner Sache, 


fondern der religiöfen Reinheit befonderd, wenn ein wahrer Prie 
fier fi) auf fo unwürdige und unaudführbare Bedingungen ein 
lafien wollte mit dem Staat. Wenn diefer andre Künfller in 
Sold nimmt, ed fei nun um ihre Talente befjer zu pflegen ober 
um Schüler zu ziehen: fo entfernt er von ihnen alle” fremden 
Geſchaͤfte, ja er macht es ihnen wol zur Pflicht ſich deren zu 
enthalten; er empfiehlt ihnen fich auf den befondern Theil ihrer 
Kunſt vorzüglich zu legen, worin fie am mehreften leiſten zu 
Finnen glauben, und läßt da ihrer Natur volle Freiheit. Nur 
an den Künftlern der Religion thut er gerade dad Gegentheil, 
Sie follen das. ganze Gebiet ihres Gegenftandes umfaffen, und 


206 dabei ſchreibt er ihnen noch vor, von welcher Schule fie fein fol: 


len, und legt ihnen unſchikkliche Kaften auf. Entweder wenn fie 
feine Geſchaͤfte zugleich verfehen follen gemähre er ihnen doch 


Muße ſich für irgend eine einzelne Weiſe der religiöfen Darftel: . 


lung was doc) für fie die Hauptfache ift befonderd auszubilden, 
für die fie am meiſten glauben gemacht zu fein, und fpreche fie 
von den läftigen Befchränkungen los, oder nachdem er feine buͤr⸗ 
gerlich fittliche Bildungsanftalt 22) für ſich angelegt hat, was er 
doc in jenem Falle auch thun muß, laffe er jie ihr Weſen eben 
fal8 treiben für fih, und fümmere fich gar nicht um die prie 
fterlichen Werke, die in feinem Gebiet vollendet werden, da er fie 
doch weder zur Schau noch zum Nuzen braucht, wie etwa andre 
Künfte und Wiffenfchaften. \ | 
Hinweg alfo mit jeder folchen Verbindung zwifchen Kirche 
und Staat! 2°) das bleibt mein catonifcher Rathöfpruch bis and 
Ende, oder bis ich es erlebe fie wirklich zertrümmert zu fehen. 
Hinweg mit allem was einer aefchloffenen Verbindung der Laien 
und Priefter unter fich oder mit einander auch nur ähnlich fieht! ?*) 
Lehrlinge follen ohnedied keinen Körper Eilden, man fieht an den 
tmechanifchen Gewerben wie wenig es frommt; aber auch bie 


— — — — — — — — — — . u — — u = — — — — — — — — — — — 


349 


Driefter follen, als folche meine ich, Peine Brüderfchaft ausmachen 
unter fi, fie follen fich weder ihre Gefchäfte noch ihre Kunden 
zunftmäßig theilen, fondern ohne fi) um die andern zu bekuͤm⸗ 
mern, und ohne mit einem in diefer Angelegenheit näher verbun« 
den zu fein ald mit dem andern, thue jeder das feine; und auch 
zoifchen Lehrer und Gemeine fei kein. feftes Außerliched Band. 
Ein Privatgeſchaͤft iſt nach den Grundfäzen der wahren Kirche 
die Miffion eined Priefters in der Welt; ein Privatzimmer fei 
auch ‚der Tempel wo feine Rebe fich erhebt, um bie Religion 
audzufprechen; eirie Berfammlung fei vor ihm und feine Gemeine; 
ein Redner fei er für alle die hören wollen, aber nicht ein Hirt 
für eine beflimmte Heerde. Nur unter diefen Bedingungen Eön- 
nen ſich wahrhaft priefterliche Seelen derjenigen annehmen, welche 
die Religion fuchen; nur fo kann biefe vorbereitende Werbindung _ 
wirklich zur Religion führen, und ſich würdig machen als ein 
Anhang der wahren Kirche und als das Worzimmer derfelben 207 
betrachtet zu werden: denn nur fo verliert fich alles was in ihrer 
jegigen Form unheilig und trreligiöß ift. Gemildert wird durch 
die allgemeine Freiheit der Wahl, der Anerkennung und des Ur: 
theild der allzuharte und fehneidende Unterfchied zwifchen Prieftern 
und Laien, bid bie befieren unter diefen dahin kommen wo fie 
jened zugleich find. Audeinander getrieben und zertbeilt wird 
alled was durch die unheiligen Bande der Symbole ?5) zuſam⸗ 
mengehalten ward. Wenn es gar Teinen Vereinigungspunkt dies 
fer Art mehr giebt, wenn Feiner den fuchenden ein auf außsfchlies 
Gende Wahrheit Anſpruch machendes Syſtem ber Religion an: 
bietet, fondern jeder nur eine eigenthümliche befondere Darftellung: 
dies fcheint das einzige Mittel jenen Unfug einmal zu enden. 
Es ift nur ein fchlechter Behelf der frühen Zeit, der dad Uebel 
nur für den Augenbliff lindern konnte, wenn entweder veraltete " 
Formeln zu aͤngſtlich druͤkkten oder alzu verfchiedenartige. fich in 
denfelben Banden nicht vertragen wollten, daß man durch Thei⸗ 
tung der Symbole die Kirche zerfchnitt. Sie ift eine Polyven⸗ 


350 


natur, aus jedem ihrer Stüffe waͤchſt wieder ein ganzes herver; 
und wenn ber Charakter dem Geift der Religion wiberfpricht, fo | i 
-find mehrere einzelne, die ihn an fi tragen, doch um nicht |; 
beffer ald wenigere. Näher gebracht wird der allgemeinen Fre; | 
beit und der majeflätifhen Einheit der wahren Kirche die Außer :i 
Religiondgefelihaft nur dadurch, daß fie eine fließende Mafl ı 
“wird, in der ed Feine beflimmte Umriffe giebt, wo jeder Theil | 
fich bald hier bald dort befindet, und alles fich friedlich unte 1 
einander mengt. Bernichtet wird der gehäffige Secten: und Pro « 
felgten:Geift, der vom wefentlichen der Religion immer, weite | 

i 

@ 

6 

d 


abführt, nur dadurch, wenn keiner mehr darauf hingefuͤhrt wird, i 
dag Er felbft einem beflimmten Kreife angehört, ein anderöglau: 
bender aber einem andern. 

Ihr ſeht, dab in Ruͤkkſicht auf dieſe Geſellſchaft unfer 
Wuͤnſche ganz diefelben find: mad Euch anftößig ift, fteht aud l 
uns im Wege, nur daß ed — vergönnt mir-immer Died zu fe b 

208 gen — gar nicht in die Reihe der Dinge gelommen fein würdı, x 
wenn man und allein hätte gefchäftig fein laffen, in dem was i 
doch eigentlich unfer Werk war.. Daß es wieder hinweggefchafft ! 
werde ift unfer gemeinfchaftliches Interefle; aber wenig Eönnen ı 
wir dabei thun als wünfchen und hoffen. Wie eine folche Ber « 
änderung bei und Deutfchen gefchehen wird, ob auch nur nad t 
einer großen Erfchütterung wie im nachbarlichen Zande, und dam j 
überall auf einmal, oder ob einzeln der Staat durch eine güt ı 
liche Uebereinfunft, und ohne daß beide erſt fierben um aufzuen | 
ftehen, fein mißlungenes Ehebündnig mit der Kirche trennen, ode \ 
ob er nur dulden wird daß eine andere jungfräulicere er « 
fcheine 2°) neben der welche einmal an ihm verkauft iſt: ich weiß ; 
ed nicht. Bid aber etwas von biefer Art gefchieht werben von i 
einem harten Geſchikk alle heiligen Seelen gebeugt,. welche von j 
der Glut der Religion durchdrungen, auch in dem größeren Kreiſe 
der profanen Welt ihr heiligfled darfiellen, und etwas damit auf ı 
sichten möchten. Ich will diejenigen, welche aufgenommen find ; 


351 


in den vom Staate bevorrechteten Orden, nicht verführen für den 
innerften Wunſch ihres Herzens große Rechnung auf dasjenige 
zu machen was fie in dieſem Verhältnig vedend etwa bewirken 
könnten. Wenn viele unter ihnen fich gebunden glauben nicht 
immer ja auch nicht einmal oft vorzüglich nur Frömmigkeit und 
unvermifcht fie nie anders als bei feierlichen Weranlafjungen zu 
reden, um nicht untreu zu werben ihrem politifchen Beruf, zu 
dem fie gefezt find: fo weiß ich wenig dagegen zu fagen. Das 
aber wird man ihnen lafjen müffen, daß fie durch ein priefterliched 
Leben den Geift der Religion verkündigen fönnen, und die fei 
ihre Troſt und ihre fchönfter Lohn. An einer heiligen Perfon ift 
alles bedeutend, an einem anerkannten Priefter der Religion bat 
alles einen kanoniſchen Sinn. So mögen fie denn dad Weſen 
derfelben darſtellen in allen ihren Bewegungen; nichts möge ver: 
loren gehen auch in den gemeinen Werhältniffen des Lebens von 
dem Ausdrukk eines frommen Sinnes! Die heilige Innigkeit 
mit der fie alles behandeln zeige daß auch bei Kleinigkeiten, 
‘über die ein profanes Gemüth leichtfinnig hinweggleitet, die zu 
Muſik erhobener Gefühle in ihnen ertöne; die majeflätifche Ruhe, 
mit der fie großes und kleines gleichfegen, beweife daß fie alles 
auf das unwandelbare beziehen, und in allem auf gleiche Weife 
die Gottheit erblikken; die lächelnde Heiterkeit, mit der fie an 
jeder Spur der Vergaͤnglichkeit vorübergehen, -offenbare jedem, 
wie fie über der Zeit und über der Welt leben; die gemandtefle 
Selbfiverläugnung deute an, wie viel jie fchon vernichtet haben 
von den Schranken der Perfönlichkeitz und der immer rege und 
offene Sinn, bem das ſeltenſte und das gemeinfte nicht entgeht, 
zeige, wie unermüdet. fie die Spuren der Gottheit ſuchen, und 
ihre Aeußerungen belaufchen. Wenn fo ihr ganzes Leben - und 
jede Bewegung ihrer innern und aͤußern Geftalt ein priefterliches 
Kunftwerk ift: fo wird - vielleicht durch dieſe ftumme Sprache 
manchen der Sinn aufgehn für dad was in ihnen wohnt. Nicht 
zufrieden aber dad Wefen der Religion auszudruͤkken, müflen fie 


352 


auch eben fo ben falfyen Schein berfelben vernichten, indem fie ' 
mit Eindliher Unbefangenheit und in der hohen Einfalt eine 
völligen Unbewußtfeind, welches keine Gefahr fieht und keines 
Muthed zu bebürfen glaubt, über alles hinmwegtreten was grobe 
Borurtheile und feine Superftition mit einer unächten Glorie der 
Heiligkeit umgeben haben, indem fie ſich ſorglos wie der Eindifche 
Herkules von den Schlangen der heiligen Verlaͤumdung umzifchen 
laffen, die fie eben fo ftil und ruhig in einem Augenblikk ew 
druͤkken koͤnnen. Zu dieſem heiligen Dienfte mögen fie fi) wei: 
hen bis auf beffere Zeiten, und ich denke Ihr felbft werdet Ehr⸗ 
furcht haben vor biefer anfpruchdlofen Würde, und gutes weiſſa⸗ 


gen von ihrer Wirkung auf die-Menfchen. Was fol ich aber 


denen fagen, welchen Ihr, weil fie einen beflimmten Sreis ber 
Miffenfchaft nicht auf eine beflimmte Art durchlaufen haben, das 
priefterliche Gewand verfagt? wohin fol ich fie weiſen mit bem 
‚ gefelligen Triebe ihrer Religion, fofern er nicht allein auf die 

höhere Kirche, fondern auch hinaus’ gerichtet ift auf die Welt? 
Da es ihnen fehlt an einem größern Schauplaz, wo fie auf eine 
210 auszeichnende Art erfcheinen koͤnnten, fo mögen fie fich genügen 
laſſen an dem priefterlichen Dienſt ihrer Hausgoͤtter 27). Eine 
Familie kann das gebildetſte Element und das treueſte Bild des 
Univerſum ſein; denn wenn ſtill und ſicher alles in einander 
greift, ſo wirken hier alle Kraͤfte die das unendliche beſeelen; 
wenn in ruhiger Froͤhlichkeit alles fortſchreitet, ſo wallet der hohe 
Weltgeiſt hier wie dort; wenn die Toͤne der Liebe alle Bewe⸗ 
gungen begleiten, ſo erklingt die Muſik der Sphaͤren auch in 
dem kleinſten Raum, hat ſie die Muſik der Sphaͤren unter ſich. 
Dieſes Heiligthum moͤgen ſie bilden, ordnen und pflegen, klar 
und deutlich mögen fie ed hinſtellen in frommer Kraft, mit Liebe 
und Geift mögen fie ed auslegen, fo wird mancher von ihnen 
und unter ihnen dad Univerfum anfchauen lernen in der Meinen 
verborgenen Wohnung, fie wird ein allerheiligftes fein, worin 
mancher die Weihe der Religion empfängt. Died Prieſterthum 


— — — — —— — 
— — 


u > END DE — m nr En er ED a an u nt 


353 


ir das erfie in der heiligen und kindlichen Vorwelt, und «8 
50 das lezte fein, wenn Fein anderes mehr nöthig ifl. 

Ya wir warten am Ende unferer kuͤnſtlichen Bildung einer 
it, wo e8 Feiner andern vorbereitenden Geſellſchaft für die Re- 
ion bedürfen wird, als der frommen Haͤuslichkeit. Jezt feufr - 
a. Millionen von Menfcen beider Gefchlechter aller Stände 
ter tem Drukk mechanifcher und unmwürdiger Arbeiten. Die 
tere Generation erliegt unmuthig, und überläßt mit verzeihlicher 
rägbeit in allen Dingen faft die jingere dem Zufall, nur darin 
cht, daß fie gleich nachahmen und lernen muß dieſelbe Ernie⸗ 
igung. Das iſt die Urſach, warum die Jugend des Volkes 
n freien und offenen Blikk nicht gewinnt mit dem allein der 
egenftand ber Frömmigkeit gefunden wird. Es giebt kein grös 
res Hinderniß der Religion ald diefed, daß wir unfere eignen 
iklaven fein müflen; denn ein Sfiave ift jeber, der etwas ver 
chten muß was durch tobte Kräfte ſollte können bewirkt wers 
na. Das hoffen wir von der Vollendung der Wiffenfchaften 
ad Künfte, daß fie und biefe. tobten Kräfte werben bienflbar 
achen,. daß fie die Förperliche Welt, und alles von der geifligen 
as fich regieren läßt, in ein BZauberfchloß verwandeln. werde, au 
9: der Soft der Erde nur ein magiſches Wort audzufprechen, 
ur eine Feder zu druͤkken braucht, wenn geichehen fol was er 
ebeut. Dann erſt wird jeder Menfch ein freigeborner fein, dann 
E jeded Leben praftiih und beſchaulich zugleich; über keinem 
ebt fich der Stekken des Treibers, und. jeder hat Ruhe und 
Ruße in fich die Welt zu betrachten. Nur für die ungluͤkklichen, 
enen es hieran fehlte, deren geifligen Organen alle nährenden 
beäfte entzogen wurden, weil dad ganze Dafein unermüdet ver» 
venbet werben mußte in mechaniſchem Dienſt, nur fuͤr dieſe war 
8 noͤthig, daß einzelne gluͤkkliche auftraten, und fie um ſich her 
erfammelten, um ihr Auge zu fein, und ihnen in wenig flüch 
igen „Minuten ben hoͤchſten Gehalt eines Lebens mitzutheilen. 
Rommat die gluͤkkliche Zeit, da jeber feinen Sinn frei üben und 

Schleierm. W. 1. 1. 3 


" 
brauchen kann, dann wird gleich beim erflen Erwachen ber b& | 
beren Kräfte, in der heiligen Jugend unter der Pflege oäterlige | 
Weisheit jeder der Religion theilhaftig, der ihrer fähig iftz. ale * 
einſeitige Mittheilung hoͤrt dann auf, und der belohnte Vate 
geleitet den kraͤftigen Sohn nicht nur in eine 
und in ein leichteres Leben, ſondern auch unmittelbar in die ei | 
lige nun zahlreichere und gefchäftigere Verſammlung der Anbei | t 
des ewigen. i 

In dem dankbaren Gefuͤhl, daß wenn einſt dieſe beſſere EU 
tommt, wie fern fie auch noch fein möge, aud die Bernühungen, !E 
denen Ihr Eure Tage widmet, etwas beigetragen haben werde u 
fie herbeizufuͤhren, vergoͤnnt mir Euch auf die ſchoͤne Frucht auf 'k 
Eurer Arbeit noch einmal aufmerffam zu machen; laßt Euch noch fi 
einmal binführen zu der erhabenen Gemeinfchaft wahrhaft m i 
ligiöfer Gemüther, die zwar jezt zerftreut und faft: unfichtbar $ 
ift, deren Geift aber doch überall waltet, wo auch nur winig M 
im Namen der Gottheit verfammelt find. Was daran folk I 
Euch wol nit mit Bewunderung und Achtung- erfüllen, Ihr > 
Freunde und Verehrer alled fchönen und guten! — Gie fin ji 
unter einander eine Afademie von Prieftern. Die Darfieluy x 

212 ded heiligen Lebens, ihnen das höchfte, behandelt -jeder unten « 
ihnen ald Kunft und Studium; und die Gottheit ‘aus ihrem y 
unendlichen Reichthum ertheilt dazu einem jeben ein eignes Lobs. 
Mit allgemeinem Sinn für alles," was in ber Religion hi a 
liges Gebiet gehört, verbindet jeder, wie es Kuͤnſtlern gebuͤhn, € 
das Streben ſich in irgend einem einzelnen Theile zu vollenden; ® 
ein edler Wetteifer herricht, und das Verlangen etwas darzubrin 
gen, dad einer foldhen Verſammlung würdig fe, läßt jeden mit 
Treue und Fleiß einfaugen alles was in fein abgeſtekktes Gebiet 
gehört. In reinem Herzen wird es bewahrt, mit gefammeltem 
Gemüth wird es geordnet, von himmlifcher Kunft wird es aus: 
gebildet und vollendet, und fo erfchallt auf jede Art und aus 
jeder Quelle Anerkennung und Preis bes unendlichen; indem jeder 








355 


bie veifften Früchte feines Sinnens und Schauens, feined Ergreis 
fens und Fuͤhlens mit fröhlichem Herzen herbei bringt. — Sie 
find unter einander .ein Chor von Freunden. Jeder weiß, daß 
auch er ein Theil und ein Werk des Univerfum ift, dag auch 
in ihm beffen göttliched Wirken und Leben ſich offenbart. Als 
einen würdigen Gegenftand der. Aufmerkfamkeit fieht ex fich alfo 

an für die übrigen. Was er in ſich wahrnimmt von den Be 
ziehungen des Univerſum, was ſich in ihm eigen geſtaltet von 
den Elementen der Menſchheit, alles wird aufgebefft mit beiliger 
Scheu, aber mit bereitwiliger Offenheit, daß jeber hineingehe 
und fchaue.. Warum follten fie ſich auch etwas verbergen gegen⸗ 
ſeitig? Alles menſchliche iſt heilig, denn alles iſt göttlich. — Sie 
find unter .einander ein Bund von Brüdern — oder habt Ihr 
einen innigern Ausdrukk für das gänzliche Verſchmelzen ihrer 
Naturen, nicht in Abficht auf das Sein und Wirken, aber in 
Abfiht auf "ver Sinn.und das Verfiehen? Je mehr fich jeder 
dem Univerfum nähert, je mehr fich jeder dem andern mittbeilt, 
deſto vollkommner werden fie Eind; Peiner hat ein Bewußtſein 
für ſich, jeder hat zugleich das des andern; fie find nicht mehr 
nur Menfchen, fondern auch Menſchheit; und aus fich ſelbſt br 
ausgehend, über fich ſelbſt triumpphirend, find fie auf dem Wege aus 
zur wahren Unſterblichkeit und Ewigkeit. 

Habt Ihr etwas erhabeneres als dieſes gefunden in einem 
andern Gebiet des menſchlichen Lebens, oder in einer andern 
Schule der Weisheit, ſo theilt es mir mit: das meinige habe ich 
Euch gegeben. | 


356 


Erläuterungen zur vierten Rede. 


1) ©. 319. Die Behauptung, daß zur Erregung ber Srömmigfeit de 
bloße Schrift am wenigften ausrichten Fönne, fcheint die Erfahrung ſehr ge 
gen fich zu haben von den heiligen Schriften aller Religionen an bis yı 
unfern zum Theil fo ungeheuer weit verbreiteten Erbauungobüchern, und den 
fleinen. religiofen Pamphlets, durch welche man jezt vorzüglid das Dell y 
erregen fucht. Die Sadje verdient daher eine nähere Erläuterung. Wal 
zuerft die heiligen Schriften betrifft, fo ift unter denen der monotheiftifche 
Religionen, bei welchen doch wol mur nöthig iſt zu verweilen, der Koram dk 
einzige, welche rein als Schrift entſtanden ift, und dieſer ift ohnſtreitig meh 
als Lehrbuch anzufehen und als ein Repertorium, woraus gleichfam die The 
men zu religiöfen Compofltionen follen genommen werben, ganz dem wenl; 
urſprünglichen Charakter diefer Religion gemäß. Und fo möchte die unmib 
telbare im eigentlichen Sinne des Worts religidfe Gewalt, welche der Kara 
ausübt, wol auch nicht Hoch anzufchlagen fein. Der fehr mannigfaltige jübi. 

ſche Eoder hat etwas von biefem Charakter an fich vorzüglich im feinen gaw 
miſchen Büchern, der eigentlich geſchichtliche Theil gehört fireng genomme 
nicht hieher, und der poetifche.ift theils wie der größere Theil der Pſalmen 
für die unmittelbare Darftellung bei beftimmten Gelegenheiten, nicht aufs 
gerathewohl für einen unbeftimmten Gebrauch hervorgebracht, alfo anch nid 
bloße Schrift im firengen Siun. Und wer wollte leugnen, daß ihre- Wir 
fung in diefem ganzen Iufammenhange weit Fräfliger muß geweſen fein, fo 
daß diejenige, welche fie jezt als bloße Schrift hervorbringen, nur ein Schal 
ten davon iſt. Auch die prophetifche Dichtung aus ber -frühern Periode Hi 
wol größtentheils urſprünglich ins Leben hineingeredet, und eim nicht unbe 
deutender Theil davon ift auch der Nachwelt in derjenigen Vermiſchung mit 
der Sefchichte überliefert, woburch der Moment fich individuell vergegenmwär: 
214 tigt, was bei dem urfprünglich ale Schrift hervorgebrachten gar nicht der 
Fall war. Je mehr indeß diefe lebendige traditionelle "Kraft ih verlor, um 
die Schrift auch innerhalb des jüdiſchen Volfes ein gelehrtes Studium wurde, 
defto mehr verlor fih auch ihre unmittelbare Wirkung, und fie wurde nr 
. Träger der fi ‚daran Fnüpfenden lebendigen Mittheilung. Was aber Di 
neuteftamentifchen Schriften anlangt, fo find dieſe fo wenig als möglich Schrift 
im firengen Sinne des Works. Denn in den Gefchichtsbüchern iſt doch mit 
die darin überlieferte unmittelbare. Rede das wefentliche, und das gefchichtliche 
ift vorzüglich nur da, um jene als lebendigen Moment zu erhalten. Selbſt 
von der Leidensgefchichte ift dies umverfennbar, daß das eigentlich erhahene 
und tlef ergreifende auch hier die Worte Chriſti find, die Erzählung aber 
von Schmerzen und Qualen nur eine leicht zu verfälfchende Wirkung hervor 
bringt. Nur die Apoftelgefcyichte fcheint Hiervon eine Ausnahme zu machen, 
und vorzüglich ale Wurzel aller KRicchengefchichte ihren Plaz im Kanon zu 
haben. Aber eben deshalb, weil fie fonft ganz auf diefe untergeorbnefe 
Wirffamfeit befchränft wäre, wiberfirebt es dem Gefühl, wenn man bie Reden 


357 


darin nad Art anderer Hiſtorienbücher ale hintennach gemacht anfleht. Uns 
fere didaltiſchen Bücher And als Briefe fo wenig als möglich bloße Schrift, 
und niemand wird läugnen, dag bie Wirkung auf die unmittelbaren Empfän» 
ger, welche den ganzen Moment gegenwärtig hatten, eine weit größere war. 
Bon diefer kann jezt, und zwar auch nicht ohne gelehrte Hülfsdarſtellung, 
weile uns in jene ‚Seiten zurüffzuverfegen fucht, immer nur ein Schatten 
erreicht werden, und die wefentlichfte - Wirkung jener Schriften für unfere 
Seiten bleibt doch die ans der Synagoge entlehnte, daß unfere lebendige res 
Ugtöfe Mittheilung ſich an fie anfnüpft. Ja nur durch diefe erhält Die eigene 
Schriftleſung der Laien ihre Haltung, fonft würde die Wirkung derfelben nicht 
zwar ganz verfihwinden aber doch ganz ins unbeftimmte ansarten. Denn 
fo ungeheuer war die urfprüngliche Kraft diefer Hervorbringungen, daß eine 
Gülle anregenden Geiftes auch jest, nachdem fie gänzlich Schrift geworben 
Kap, in ihnen wohnt, welches für ihre göttliche Kraft das lauteſte Zeugniß 
ablegt; aber bie objestive Seite diefer Wirkung, das eigentliche Berfichen, 
würde für ven Privatgebranch der Laien ohne. jenen Zufammenhang mit ber 
gelehrten Grlänterung bald Null werden. Daher es. auch natürlich ift, daß 
bie katholiſche Kirche, weil fie auf die Predigt weniger Werth legt, auch ben 
Schriftgebrauch der Laien einſchraͤnkt, und dag wir hingegen, meil wir dieſen 
nicht einfchränfen zu dürfen glauben, die öffentliche Echrifterflärung in. ber 
Predigt weit mehr hervorheben müflen; weshalb es auch immer verberblich 
werben muß für das ganze religiöfe Leben, wenn allgemein die Schrift für 
bie Predigt nur als Motto gebraucht wird. Wie lebendig aber das Beſtre⸗ 
ben if, das in den heiligen Büchern niebergelgte aus dieſem Zuſtand, daß es 
aus bloße Schrift geworben ift, zu erlöfen, dafür fpricht die bei den frömm- 28 
Ren Chriſten fo leicht Eingang findende für jedes Werk, was von-vorne herein 
als eigentliches Buch gemacht wäre, höchft unnatürliche Methode, daß man 
aus dem Iufanımenhange heraus gerifiene einzelne Schriftfteffen nicht etwa 
wur nach Auswahl und Erinnerung, fondern rein aufs Ohngefähr in jevem 
religiöfer Erregung oder Erleuchtung bebürftigen Moment gebraucht. Ders 
theidigen läßt ſich zwar biefes nicht, weil es zu leidyt in ein magiſches ftis 
voles Spiel ausartet, aber das Beſtreben bekundet fich dadurch den religiöfen 
Bittheilsugen der heiligen Männer eine lebendige Wirkfamfeit wieerzugeben, 
weiche unmittelbar fei nnd von ihren Wirkungen als Buch unabhängig. — 
Mas aber unfere Erbauungsfchriften betrifft, die doch größtentheils ganz 
eigentlich als Bücher entſtehen, fo läßt flch freilich die große Wirffamfeit der- 
felben nicht leugnen; bie zahllofen Auflagen, in denen manche fich durch eine 
lange Reihe von Generationen fortpflanzen, fprechen zu deutlich dafür; und 
wer follte nicht von Achtung durchorungen fein für Werke, die fich fo. be: 
währen, und bie anferdem auch ſoviel dazu beitragen, daß eine große Menge 
Menſchen von dem gefährlihen Wirbelwind wechfelnder Lehre uicht ergriffen . 
Wird. -Aber niemand wird doch wol läugnen, daß das lebendige Wort und 
die religidfe Erregung in einer Gemeine eine weit höhere Kraft hat als der 
gefchriebene Buchſtabe. Ja bei genauer Grwägung wird man finden, daß 
die Wirkung afcetifcher Schriften doch vornehmlich darauf Beruht, weniger 


358 


daß fie als ein ganzes gemau gefaßt werben, als vielmehr daß fie eine Menge 
von Fräftigen und großartigen Formeln enthalten, unter welche viele religiök 


Momente Fönnen zufammengefaßt werden, und alfo auch viele in der Erin 


nerung ſich auffrifchen. Dann aber and darauf, daß fie eine Sicherheit für 


bie eigenen religiöfen Bewegungen gewähren, wenn fie ſich an jene anlehnen, ' 


daß fie fi) gewiß von dem Charakter des gemeinfamen, religiöfen: Leben 
nicht entfernen. Daher auch das imbivinmelle geiftreiche in dieſer Gattung 
fich felten fo großer Erfolge zu erfreuen hat. Diefes gute Zeugniß indeß fü 


nur tüchtigen und umfaflenden afcetifchen Werfen gegeben. Das jezige Be : 
fireben aber fo vieler. wohlmeinenvder Gefellfchaften eine Menge von: Henn 


seligiöfen Flugblättern unter das Volk zu verbreiten, bie gar Feinen vedt 
objectiven Gharafter haben, fondern die fubjectivften innern Erfahrungen h 
dem todten Buchftaben einer weder fchriftmäßigen noch kirchmaͤßigen Termt 
nologie mittheilen wollen, beruht anf einem tiefen Mißverſtaud, und win 
fehwerlich andere Wirfungen haben, als unfer Rirchenwefen, deſſen Schlech 
tigfeit e8 eben vorausſezt, iu noch tiefen Verfall zu bringen, und wird ein 
Menge von Menfchen erzeugen, welche fich vielerlei erheucheln, ohne bag wirk 
lich etwas in ihnen vorginge, over welche In traurige Verwirrung geflimt 
werben, weiß das was wirklich in ihnen religiöfes vorgehet an das Muſter 
216 nicht paßt, was ihnen vorgehalten wird. Iſt das öffentliche Firchliche Leben 
frank oder fchwach, fo thue ein jeber das felnige dazu es zu heilen, niemanı 
aber glaube es durch einen todten Buchftaben zu erfegen. Daß bas. religiöfe 
Leben aus ven Leihbibliothefen foll hervorgehen gemahnt mich ganz baffelke, 
als wenn die großen Alte der Geſezgebung und Derwaltung in zwangloſe 
Sournale verwandelt werben, von denen man jedoch je mehr Hefte je liche 
haben möchte, und wovon bie verbeffertem Auflagen wenigftens im einzelnen 
fich fchnell genug wiederholen. 

2) S. 320. Vielleicht haben viele von denen, welche fonft den wohl: 
gemeinten Wunfch hegten, die leer und frivol gewordene Gefelligfeit durch 
Ginmifchung des religiöfen Elements aufs neue zu vergeiftigen, fchon bei ſich 


den Sprud) angewendet, daß wir gar leicht mit der Zeit deſſen zu viel ha 


ben, was wir uns früher eifrig gewünſcht. Denn Zerrüttung nnd Unheil if 
ſchon genug daraus entftanden, daß religiöfe Gegenſtuͤnde auch im glänzendes 
Zirkeln in der Form der Eonverfation behandelt werben, wo fo gar leicht das 
perfönliche überwiegend wird. Ich ſchrieb damals ans der Erfahrung meine 
in der Brüdergemeine verlebten Iugendzeit. Dort giebt es befondere bazı 
beftimmte Iufammenfünfte, daß freies religiöfes Gefpräch darin fol geführt 
werden ;- aber wenn auch dort nicht leicht möglich war, daß abweſende anders 
denfende Eonnten befprochen werben, fo habe ich doch nie etwas recht lebhaf⸗ 
te8 oder würdiges daraus hervorgehn ſehen, und ich glaube den allgemeinen 
Grund davon hier richtig gefaßt zu haben. Jener Wunfch follte alfo dahin 
modificirt werben, daß auch in unferer freien Gefelligkeit nicht ſowol reli⸗ 
gioͤſe Gegenſtaͤnde behandelt werben, welches beſſer nur beiläufig und im 
BVorbeigehn geſchieht, jundern dag darin ein religiöfer Geiſt walte, welches 


359 - 


gewiß nicht fehlen wirb, ſobald eim bedeutender Theil ver Geſellſchaft ans 
religioͤſen Menfchen befteht. 

3) S. 321. Bin größerer Abſtand ift ſchwerlich zu denfen als der zwi⸗ 
ſchen diefer Beſchreihung, und dem was ich felbft in einer nun beinahe dreis 
Figjährigen Amtsführang — einem Zeitraum binnen deſſen doch jeder muß 
feinem Ideale fo nahe kommen Eönnen ale er überhaupt vermag — anf dem 
Gebiet religiöfen Rede geleiſtet Habe. Wäre nun wirklich Theorie und 
Praxis fo weit aus einander: fo bliebe wol wenig mehr zu meiner Entſchul⸗ 
digung zu fagen übrig, als daß, wie dem Sofrates die übrige Weisheit ver: 
fagt worden und nur dies eine verliehen, zu willen daß er nichts wiſſe, fo 
fei auch mir jene höhere Beredſamkeit nicht verlichen, fonbern unr foviel, 
daß ich mich lieber mit fchlichter Rede begnüge als nad unächtem Schmuft 
ſtrebe. Aber es if doch nicht ganz fo, fondern meine Ausübung If andy in 
dem Unterſchied begründet,. ver in derfelben Rede weiter unten auseinander: 
gejezt wird, und von dem auch Hier noch die Rebe fein muß, zwifchen ber 
lirchlichen Gefellfchaft wie fie unter uns beſteht, und dem was ich in diefer 217 
Rede die wahre Kirche nenne. Denn die Vorträge in jener haben immer, 
ihr Inhalt fei welcher er wolle, zugleich einen didaktiſchen Charakter, weil 
Der Mebner doch. feinen Iuhörern zum Bewußtfein bringen foll, was er zwar 
in ihnen voransfezt, zugleich aber auch, daß es fih nicht won felbft fo in 
tunen. würde entwiffelt haben. Der bivaktifche Charakter aber verträgt num 
je- mehr et Hervortritt defto weniger Schmuff; und fo ruht dert unverkenn⸗ 
bar Segen auch auf der fchmufflofen Meve. Und daſſelbe bewährt ſich and 
auf dem. Gebiet anderer religiöfer Kunfl. Denn denken wir uns bie fromme 
Dichtung in aller der Kraft und Herrlichkeit, welche fich eignet zur Verherr⸗ 
lichung Gottes in einem Kreife ganz durchgebilbeter religiöfer Menfchen, wie 
wir diefes herrlichen viel Haben in ben Gefängen unfers Klopflod und unfere 
Harvenberg: fo wird doch niemanden einfallen, daß man benfelben Manpftab 
anlegen dürfe bei der Sammlung eines kirchlichen Liederbuchs. 

4) Ebendaſ. Kaum: ift wol nöthig, dag ich mich Hier gegen bie Miß- 
deutung Serwahre, als wolle ich alle Ordnung überhaupt verbannen ans der 
Berfammiung der wahrhaft frommen, uno fie denen mancher fanatifchen 
Gekte ahnlich machen, welche nichts voraus bedenken für ihre Zuſammen⸗ 
fünfte fondern alles dem Augenblilk überlaflen. Im Gegentheil je größer 
der Styl der religiöfen Mittheilung ift, je mehr fie alfo ein kunſtreich geglie⸗ 
dertes ganze darſtellt, um deſto mehr bedarf fie einer firengen Ordunng. 
Sondern nur davon ift die Rede, daß alles was zur bürgerlichen Ordnung 
gehört ganz heransgelaflen werde, und ſich bier alles nur auf die Grundlage 
einer urfprünglichen allgemeinen Gleichheit geftalten fünne; aber dies kann 
man auch unmöglich firenger faflen als es hier gemeint ift, denn ich halte 
es für die unnachläßliche Bedingung alles Gebeihens einer ſolchen Gemein: 
ſchaft nicht minder der wirklich beftehenden als der hier ideal dargeſtellten. 
So wie Unordnung jede Gemeinjchaft verbirbt, fo auch muß jede verborben 
werden durch eine Ordnung die für eine andre gemacht ift, denn bie iſt für 
fie auch Unordnung. Wenn nun fihon der Gegenſaz zwifchen Priefter und 


360 


Laien nicht ſcharf gefaßt fein darf: wieviel weniger noch darf man unter. den 4 
Laien felbft einen Unterfchien geltend machen der einem ganz amberm Gebt | i 
gehört. Wenn ein Mitglied ver Gemeine, und mag es auch äußerliginin 
irgend einem ſchuzherrlichen Verhaͤltniß gegen diefelbe fiehen, deshalb weil u J 
in der bürgerlichen Geſellſchaft ausgezeichnet iſt, ein Recht glaubt zu. hab ; M 
ih in vie Anordnung der Gemeinjchaft, in die Bintichtung ihrer Zuſammer⸗ E 
fünfte zu mifchen und priefterlich zu fungiven: fo würbe jedem andern Mit : » 
glied, und fiehe es in der bürgerlichen Geſellſchaft auch noch fo niedrig, daß i 
ſelbe Recht zukommen, und die- wahre und augemeſſene Ordnung ber Gef . u 
{haft völlig aufgehoben fein. 

218 5) ©. 323. Jeder ſchriftkundige Lefer wird hiebei an den Apoſtel ge 
trus denken, welcher vie Chriften insgeſammt vermahnt, ſich zu erbauen zum t 
heiligen Brieftertfum, und ihnen insgefammt bas Zeugniß giebt, fe fin q 
ein königliches Prieſterthum. Es ift alfo diefes ein echt chriſtlicher Ausouul, 'K 
und ſonach auch die bier vorgetragene Anficht von der -Gleichheit aller war r 
ren Mitglieder der religiöfen Gemeinfchaft, fo daß Feiner bloß darauf befhränf g 
fein müßte empfangend zu fein, und das Mittheilen nicht das ansfchlieflike g 
Vorrecht einiger fei, ift eine echt chrifllihe Anficht, wie deun auch dei .% 
Chriſtenthum fein Ziel ertannt hat in jenem prophetifchen Ausipruch, daß ale 1 
follten von Gott gelehrt fein. Denfen wir und nun diefes Ziel erreihtunden s 
demfelben vie Gemeinfchaft abgefchloffen , - fo daß. nicht mehr bie Nede davon "1 
ift die Religion in andern zu ermweffen, und auch von dem Heranwachſen ver 1 
Ingend in diefer Beziehung abgefehen wird: fo ift dann. fein andrer Unter | 
ſchied mehr übrig als der vorübergehende, ber fich anf dig jebesmalige Ber | 
richtung bezieht. Wenn wir alfo in allen Religionsformen vom frühefen 
Alterthume her deu Gegenſaz zwifchen Prieftern und Laien eingerichtet uud 
feftftehend finden, was bleibt anders übrig als anzunehmen, daß hiebei ent 
weder eine urfprüngliche DVerfchievenheit flattgefunden, und ein religiös gebik 
deter Stamm ſich mit einem rohen: verbunden babe, ohne daß ihm je gelun⸗ 
gem fei diefen zu der ihm felbft eigenen Fuͤlle des xeligiöfen. Lebens zu erhe 
ben, welche dann unter den Prieftern felbft in ihren Myſterien und ihrem 
öffentlichen Leben müßte zu finden fein. Oder es müßte ſich das -religiäfe 
Leben in einem Volk fo ungleich entwiffelt haben, daß es nothwendig ge 
worden, damit es fich nicht ganz wieder zerſtreue, Diejenigen in denen es ſtaͤr⸗ 
ker hervorgetxeten, befonders zu organifiven, um ihrer Einwirkung anf bie 
übrigen mehr Kraft zu geben; aber dann muß doch diefe Einrichtung um 
befto gewifler mit ber Zeit überflüffig werben je vollfommner fie if. Das 
chriſtliche Priefterthum im eugeren Sinne des Wortes — über deſſen Ge 
branch ich mich nicht erſt vechtfertige, da wir in der proteftantifchen Gemein⸗ 
ſchaft volllommen darüber einverftanden find, inwiefern der Auspruff im 
Chriſtenthum überhaupt Feine Gültigkeit haben könne — tft offenbar nur von 
ber lezteren Art, und das Bedürfniß danach hat fich erft allmälig fühlber 
gemacht; welches ja um fo bentlicher ift, als anfänglich felbft der apoftolifce 
Charakter feinen beftimmten Vorzug in der Gefellfchaft begründete. Es be 
kommt aber diefer engere Ausſchuß der Bemeinfchaft noch eine befondere von 


361 


‚der religiöfen Begeifterung der übrigen unabhängige Haltung dadurch, daß 
die Geſchichte des Chriſtenthums und namentlich die geuauere Kenntniß des 
Urchriſtenthums nothwendig ein wifienfchaftlicher Gegenftand werden mußte, 
und an biefer wifienfchaftlihen Kunde nothwendig alle die einen gewiſſen 
Antheil haben müflen, deren veligiöfe Mittheilungen in einer bewußten Weber: 
einftimmung mit. ver Gefchichte fein follen. ‚Ganz verfehwinden alfo könnte 219 
dieſer Unterfchied .nur, ‚wenn allen Chriften diefe Wiflenfchaft zugänglich wäre; 
iſt nun dies auch nicht zu erwarten, fo muß fich doch die Gültigfeit veffelben 
immer mehr auf biefes Gebiet beſchraͤnken, in welchem er zulezt allein be⸗ 
gründet bleiben kaun. 

6) S. 324. Die hier aufgeſtellte Behauptung, zufolge welcher Behaup⸗ 
‚tung weiter unten auch an die äußere Religionogeſellſchaft die Forderung 
gemacht wirb, ſoviel möglich eine fließende Maſſe zu werden, dieſe Behaup⸗ 
‚sung, daß es keine gänzliche Abfonderungen - und beſtimmte Grenzen in der 
seligiöfen Mittheilung ‘gebe anders als durch ein mechaniſches, d. h. ein In 
gewiſſem Siune willküͤhrliches und in der Natur der Sache ſelbſt nicht bee 
gründetes Verfahren, ſcheint im Widerſpruch zu ſtehen mit dem was ich in 
der Einleitung zur Glaubenslehre F. 7 — 10 aucführlich entwilkelt habe. 
Und nicht etwa könnte man ſagen, dort ſei doch eigentlich die Gemeinſchaft 
nur die Nebenſache, und die Hauptabſficht gehe vielmehr darauf, das eigen: 
thümliche der verfchienenen Glauhbensweifen ihrem Inhalte nad und befon- 
ders des Chriſtenthumes aufzufinden. Dem eben zu dieſem Behuf mußte 
anf die chriftliche Kirche als eine beftimmt begrenzte Gemeinfchaft. zurüff- 
gegangen werden. Die Ansgleichung befteht vielmehr In folgendem. Auf 
der einen Seite wird auch hier zugegeben, bag gewifle Maflen von Gemein: 
ſchaft ſich organifch Bilden, welches mit der dortigen Behauptung zufommen 
trifft, daß jeder begrenzten Gemeinſchaft ein befonderer gefchichtlicher Anfangs; 
punkt zum Grunde liege, der eben ber Herr der organifchen ‚Entwifflung 
iR. Wäre durch diefe Anfangspunfte nicht zugleich eine innere Verſchie⸗ 
denheit geſezt: jo wären dieſe Maflen nur numerifch verfchieden, und etwa 
an Groͤße und felcher Art von Trefflichkeit, die von der Begünfligung Außes 
ver Umflände ‚abhängt, wie Früchte eines Stammes. Stiegen fie aber 
in ihren“ Grenzen zuſammen: fo wäre dann natürlich dag fie-zufammens 
wüchſen, und Bann nur mechanifch Eönnten wieder getheilt werben, wie es 
auch mit folchen Früchten bisweilen geht. Auf der anderen Geite wird 
dert eine innere Verſchiedenheit in den Blaubensweifen, durch welche zu⸗ 
gleich die Gemeinſchaften getrennt werden, behauptet, aber duch nur eine 
Verſchiedenheit in der Unterorbnung und gegenfeitigen Beziehung der einzels 
nen Theile, und diefe fchließt einen folchen geringen Grad von Gemeinfchaft, 
wie hier als allgemein dargeſtellt wird, nicht ans. Denn wenn es nicht mög: 
lich wäre von einer Glaubensweife aus die andern zu verftehen: fo wäre der 
ganze dort gemachte Verſuch eitel. Verſteht man fie aber in ihrem innern 
Weſen: fo muß es auch möglich fein ihre Aeußerungsweifen alfo ihre Gottes: 
dienfte nicht nur ale Zufchaner zu verftehen, fondern auch fie fich in gewiſſem 


d “ 


362. 


Maaße anzneignen, und die dies nicht fönnen, werten nur in jeder Gemein: 


220 ſchaft die ungebilveten fein. Und dies ift daſſelbe was hier behauptet wird, 


[4 


daß der Abfonderungstrieh, wenn er auf firenge Scheidung ausgeht, ein Be 
weis.der Unvollfommenheit ſei. Da num die ungebilveten doch nicht für ſich 
alfein fondern nur mit den gebilveten zuſammen die Gemeinſchaft bilden: fo 


Täßt fih mit den dortigen Behauptungen auch diefe vereinigen, daß die ıe . 


ligiöfe Gemeinfchaft zwar In fich gefondert und gegliedert, aber doch in au 
derer Hinficht wieder nur Eine fei, wenn nicht mechaniſch, ſei es num mil 


dem Schwert oder mit dem Buchftaben, dazwifchen gefahren wird. Oder 
fcheint es uns nicht gewaltfam und irreligiös, wenn den Mitgliedern eine 


religtöfen Gemeinfchaft unterfagt wird den Gottesdienſt “einer andern -in be 
Abfiht der Erbauung zu befuchen? und nur. durch ein ſolches Merfahten, 
alfo völlig mechanifch würden die Gemeinfchaften gänzlich getrennt werben. 

7) S. 325. Es würde allerdings verbienftlich fein nachzuweiſen, daß 
die wilde und alfo biefer Befchaffenheit wegen tabelnswerthe Belchrungs 
fucht nirgend in der Religion felbft gegründet ſei; allein es ſcheint bier zu⸗ 


viel zu geſchehen, indem auch das milde Bekehren, jedes Hinüberziehenwollen 


anderer von einer fremden Form in bie eigene und jedes Einpflanzenwollen 
der Religion in noch unfromme Gemüther weggeläugnet werben fol. & 
fcheint ſonach, als folle gegen -das Zeugniß der ganzen Gefchichte, ja gegen 
die Haren Worte des Stifters felbft nicht minder als gegen das was auch 
ich in der Glaubenslehre über das DVerhältnig des Chriftenthums zu anders 
Religionsformen gefagt habe, behauptet werben, die Verbreitung des Chriſten⸗ 
thums in der Welt fei nicht von dem chrifllich frommen Sinne ſelbſt ansge 
gangen. Diejes unläugbare Beftreben aber hängt doch immer auch irgend 
wie zufammen mit- der Hier gleichfalls ganz allgemein verworfenen Vorftellung, 


daß das Heil entweder überhaupt, ober doch ein gewifier höherer Grad de 
ſelben, nicht eben fo außer einer beftimmten Religionsgemeinfchaft zu. ſinden 


fei als innerhalb derfelben. Alfo auch in dieſer Hinficht fcheint Hier wahres 
und falfches nicht gehörig geſchleden. Wenn alfo, wie die Darſtellung bed 
anninmt, die bier vorgetragene Behauptung von gänzlicher Unzuläglichkeil 
des Belchrungsgefchäfts aus der vorangegangenen Theorie Der eligiöfen 
Gemeinſchaft richtig folgt, fo müßte der Fehler doch im diefer geſucht werben. 
Allein das genauere Zurüffgehen auf diefe Theorie und die richtige Beunzung 
defien, was unten zugegeben wird, dag bas Verbreiten der eigenen Religions: 


form doch en natürliches und auch zuläffiges Privatgefchäft des einzelnen 


221 


fei, wird wol auch hier die Schwierigfeiten Töfen. Wenn es nur Eine all 


“gemeine religlöfe Gemeinſchaft im ſtrengſten Sinne giebt, in welcher alle ver 


ſchiedenen Religionsformen ſich gegenfeitig anerfennen und anfchauen, un) 
alfo Hier anf Zerftörung der Mannigfaltigfeit ‚auszugehen unb das ganze 
verringern zu wollen fcheint wer die Genoſſen Einer Form in eine andere 
hinüberführt: fo ift doch offenbar, daß auch hier manches fich von felbft zer 
ftört, was nur auf untergeordneten Bildungsfiufen beftehen faun, und alfo 
auch von dem kundigen nur ald Durchgangspunkt angefchaut wird; und fo 
fann es denn nichts unrechtes fein diefen Prozeß befchleunigen und leiten zu 


363 


wollen: Jemehr alſo die Bekenner der einen Glaubensweiſe gemöfhiget find 
wauche andere nur als ſolche Durchgänge zu betrachten, um deſto Fräftiger 
wird fich unter ihnen das DBelchrungsgefhäft urganificcn. Und fragt man, 
im welder dann am meilten mit Recht und in Beziehung anf welche andere 
diefes Gefühl fein Tann: fo wird es zunächft im allgemeinen deu monotheifti- 
ſchen Religionen beigelegt werben Tönnen, in dem ausgebchnteften Sinne aber 
auch. von dem gegenwärtigen Standpunkt dem Chriſtenthume, wie auch in 
der Blanbenslehre nur in Folge eines wiflenfchaftlicheren Gedankenganges 
daſſelbe ift ausgeführt worden. Immer aber fezt das Befchrungsgefchäft eben 
die eine eingetheilte Gemeinfchaft voraus, auf welche hier immer zuräffgegan- 
gen wird. Denn wie ed Panlus machte in Athen, baß er die helleniſchen 
Gottesdienſte beſchaute um eine Schäzung anzulegen und einen Auknüpfungs⸗ 
yunft zu gewinnen für die Mittheilung feiner eigenen Srömmigfeit: fo muß 
es immer gefchehen, und bierin liegt ſchon jene Gemeinfchaft zweier Reli- 
glonsformen, die alfo anf allen Punkten entfieht,. wo ſich ein folches affimis 
itrendes Beftreben entwilfelt Und man fann wol füglich jagen, daß biefes 
der wahre Unterfchied fei zwifchen dem löblichen Belchrungseifer, der nur 
eine Reinigung und Heraufbildung der ſchon begonnenen und auch in den 
Ieifeften Spuren doch anerkannten Frömmigkeit fein will, und jener wilden 
immer irreligiöfen Befehrungsfucht, welche eben fo leicht in Verfolgung aus; 
arten Tann, daß nämlich jene mit dem nnbefangenen und liebevollen Auffaſſen 
auch der unvollfommenftien Glaubensweife anfängt, diefe aber fich deſſen über: 
heben zu können glaubt. Nehmen wir uun noch dazu, daß das nicht ängſt⸗ 
lich genau zum nehmen if, daß das Bekehren nur ein Privatgefchäft einzelner 
fein fönne, fondern daß Hier die einzelnen nur ber alles umfaflenden Gemein: 
Schaft ‚gegenüber -ftehn: fo folgt dag auch DBerbindungen von einzelnen ja 
ganze Glanbensweifen für einzelne zu halten find. — Was aber den Wahl: 
ſpruch nulla salus betrifft, ſo hat er für die große Gemeinſchaft der frommen 
eine abfolnte Wahrheit, weil fie ohne alle Frömmigkeit fein Heil anerkennen 
Tann; aber unr in wiefern eine Religionsparthei ihn gegen die andere aus⸗ 
ſpricht, Hat er zerflörend gewirkt, alfo nur fofern eine allgemeine Gemein⸗ 
ſchaft geläugnet wird, und fo hängt. er freilich mit der wilden Bekehrungs⸗ 
fucht zuſammen. Von des beſondern Wahrheit deſſelben im Chriſtenthume 
wird übereinſtimmend mit tiefen Anſichten in der Glaubenslehre gehandelt. 
8) ©. 329. Die in allen großen Religionsformen unter den verfchie- 222 
venſten Geftalten nnd zu allen Zeiten, wenn anch nicht immer gleich Ieben- 
Dig vorfommente Neigung, in der ‘großen Gefellfchaft Heinere und innigere 
zu bilden, geht unläugbar überall von der Vordusfezung aus, bag die große 
Geſellſchaft in einen tiefen Verfall gerathen ſei. Dieſelbe ſpricht ſich in dem 
Separatismus aus, welcher ſich im ganzen zwar zu einer beſtimmten Reli⸗ 
gionslehre bekennt, aber indem er mit den Ordnungen der Religionsgeſell⸗ 
ſchaft nichts zu ſchaffen haben will, offenbar behaupten muß, daß die Ord⸗ 
nungen einer Geſellſchaft unabhängig ſeien von ihrer Lehre alſo durch etwas 
fremdes beflimmt, und daher der religiöfe gefellfchaftliche Zuftand ein Kranf: 
-heitözuftand der Mitglieder. Nah dem was oben gejagt iſt, wie die Fröme 


364 


migkeit ihrer Natur nach gefellig fei, wirb niemand glauben, es ſolle hier 
ber feparatiftifcdeu Frömmigkeit das Wort geredet werben, wol aber jenen 
andern Berfuchen. engere Verbindungen zum ftiften, welche ver Idee ber wah⸗ 


ren Kirche näher kommen. Aber diefen Ruhm verbienen ſie nur dann, wen : 
fie eine reiche Productivität in der religiöfen Mittheilung entfalten, und nicht 
indem fie fich anf einen eng abgefchlofienen Buchflaben gründen, bie Idee 
einer alles umfafienden Gemeinfchaft vielmehr aufheben. If num eine folge | 
Anſchließung gefezt, und dabei die Probuctivität ſchwach ober ganz fehlen, . 


fo ift das krankhafte nicht zu verfennen. Daher unter aflen ähnlichen die 
Brüdergemeine immer ſehr hervorragt, welche wenigftens eine eigenthümliche 
Geſtaltung religiöfer Poefie hervorgebracht Hat. Auch die religiöfe Rede hat 
bort ein viel weiteres und mannigfaltigerce Gebiet, indem außer der allge 
meinen Verſammlung die Gemeine fich wieber vielfältig theilt; eine fehr ſchoͤn 
Anlage ift daher auch in diefer Beziehung nicht zu verfenuen, und wenn bie 
Entfaltung weniger reich ift, fo mag wol Mangel an Pflege bes Talents 
Schuld daran fein. Auch in der andern Hinficht hat dieſe Gemeine ein 


reine und löhliche Richtung dadurch gezeigt, daß fie für ſich diejenige Ab⸗ 


fihliegung des Buchflabens aufhob, welche die beiden Hauptzweige der pie 


teftantifchen Kirche fonderte, fo wie dadurch, daß fie zu dem ganzem biefer. 


Kirche in den mannigfaltigften Verhäͤltniſſen ſteht wie die Umſtaͤnde es jebes⸗ 
mal mit fi) bringen. So wie fie auch in ihren Miſſtonsbemühungen, denen 
man den Preis vor allen andern wol- unbebenflich zugeftehen muß, einen tei⸗ 
nen und richtigen Taft bewährt, uud eine glüffliche Leichtigkeit auch an bie 
unvollfommenften Religionszuflände anzufnüpfen, und die Empfaͤnglichkeit für 
den hohen Geiſt des Chriſtenthums zu erwelfen. Wo nun ber Sinn für 
folhe engere Vereine erwacht ift, da ift wol auch bie Geringfchäzung ber 
öffentlichen Kirche in ihrem dermaligen Zuftande natürlich; aber indem biefe 
Geringſchäzung bier allen in einem höhern Sinne religiöfen Menfchen zuge 
fehrieben wird, fo liegt wol eben fo nahe, daß hiervon die Bemühung. aus 


223 geht die große äußere Geſellſchaft felbft In einen beflern Juſtand zu verfezen 


and ihrer natürlichen Verbindung mit ber wahren Kirche näher zu bringen. 

9) Ebendaſ. Diefe Schilderung mag fol der Geftalt, welche nuſere 
gottesbienftlichen Verſammlungen im großen betrachtet damals zeigten, ganj 
augemeflen fein, und auf jeden Ball ift fie aus dem unmittelbaren Gindeuif 
bergenommen. Allein die Solgerung, daß deshalb das Princip der Gefellig: 
feit in biefen Verſammlungen ein ganz anderes fei, als das eben emtwißfelte, 
it wol nicht fchlechihin zugugeben, fondern nur unter folgenden Ginfihräns 
kungen. Weiter unten nänili S. 352 wird den Mitgliedern der wahren 


Kirche, weldye in der äußern Religionsgefellfchaft wegen der hergebrachten | 


Erforderniſſe nicht felbfithätig und priefterlich auftreten Tonnen, der hausliche 
Bottesdienft angewielen um bort ihren Mittheilungstrieb zu befrietigen. Sind 
nen in der äußern Kirchengemeinfchaft folche, welche viefer Anweifung Yolge 
zu leiften vermögen: fo fönmen dieſe troz- des: äußern Anfcheins doch in den 

firchliden Berfammlungen unmöglich blos leidentlich und empfangend fein, 
fondern fie find anch gleich weiter verarbeitend in Beziehung auf jene Sphäre 


SI ST,BEE EB ELLI IB LIU DOCH: u 


365 


ser Mitiheilung. Diefe Tätigkeit iſt Dann doch wirklich in ber Verſamm⸗ 
lang ſelbſt, und wenn wir und biefe und die häuslichen Gottesdienfte, welche 
ihr affimiliet find, als @ines denken: fo erfcheint dann die ganze größere 
Berfammlung als ein thäliger Organismus. Sa jene Thätigfeit wirb auch 
in der Berfammlung wirkfam fein, wenn mehrere Familien unter einander in 
feommem Sinn verbunden find, und wenn ber, welcher die Verfammlung leis 
tet, diefe inuere Probuctivität ihrer Mitglieder kennt und vor Augen hat. 
Alſo nur wo fi auch im häuslichen Leben und im gefelligen Familienleben 
feine religiöfe Mittheiluag entwilfelt, wie damals wol freilich wenig davon 
zu. merfen war in unfern vaterländifchen Gegenden, ift die Folgerung richtig 
was. diefen Punkt betrifft. Außerdem iſt aber noch zu bedenfen, daß eben 
weil. die xeligiöfe Mittheilung ihrer Natur nach Kunft wird und alfo nicht 
durch die Stärke der Frommigkeit allein bedingt ift, ſondern zugleich Durch 
die Kunftfertigfeit, Hieraus ſchon die Unmöglichfeit einer völlig gleichen Ge⸗ 
genſeitigkeit in der Mitiheilung hervorgeht. Wenn wir nun große Darflels 

Inugen in irgend einem Kunftgebiete vergleichen, und erwägen wie in ber 
Tonfunft nicht nur der Touſczer dazu gehört fondern auch der ausübende 
Künftler von dom Meifter auf dem herrfchenden Inſtrument bis zu dem unter 
geordneten Begleiter hinab, und außerdem auch noch der Verfertiger der 
muftfalifchen Inſtrumeute, und. wie auch die Zuhörer, wenn fie nur Kenuer 
find, Teinesweges bloß empfangen, fondern auch innerlich jeder auf feine Art 
verarbeiten: fo werben wir geftehen müflen, daß auch in, den kirchlichen Ver⸗ 
fammluugen die größte Mehrzapl nur aus begleitenden Künftlern beſtehn kann, 224 
und dennoch alle auf gewifle Weile zur Darfiellung bes ganzen mitwirken. 
Alſo nur wo eine folhe Mitwirkung gänzlich fehlt, und entweder die Andacht 
bloe einfaugend iſt, ober nur ein profaner Kunftfiun ohne religiöfen Geif 
witfprecgen und mitwirken will, nur da ift jeme Einſeitigkeit völlig ansges 
ſarochen. 

10) ©. 331. Wenn das hier geſagte ganz ſcharf genommen wird: ſo 
wäre das Reſultat freilich dieſes, dag die äußere Kirche nur beſtehe durch 
ifre eigne Nichtigkeit, nämlich nur dadurch, daß fie unfähig ift das religiöfe 
Gefühl-bis auf einen gewiſſen Grab der Lebendigkeit zu. erwelfen oder zu 
feigern. Daß dies aber nicht fireng genommen werben foll, geht ſchon bars 
qus hervor, weil fonft auch das Falt umd flolz fich zurüffziehen müßte gelobt 
werden im Widerfpruch mit dem oben eingeflandenen, daß nämlich diefe große 
Religionsgefellfchaft Feinesweges folle aufgelöfet werden. Es ift aber natür⸗ 
ich, daß es hier wie in allen ähnlichen menfchlichen Dingen Abflufungen 
jiebt, welche in ber urfprünglichen Beichaffenheit der einzelnen Menfchen 
elbſt begründet find; and grade die won verſchiedenen Abſtufungen find ein 
wider von ber Natur zugewiefen. Aber mehr den äußern Anſchein wieder⸗ 
tebend als das Weſen der Sache erfchöpfend ift die Darftellung, ale wenn 
te einen nur von ben andern afficirt würden, und ale ob es möglic wäre, 
aß auf diefe Weiſe, wenn ber Prozeß mur weit geung gebeihen könnte, einer 
em andern bie Religion einpflanzen Tönne. Sondern fie ift nefprünglich ie 
edem, und regt fich auch in jedem. Nur daß fie im einigen mit ber ganzem 


VATREUNNZER WITD, TWEUN TE NIT VON eigenthumuqhen grregunge 
tet werden, das fehen wir an folchen Eirchlichen Gefellfchaften, 1 
die Gigenthümlichkeit überhaupt zurüfftritt und alles auf feftfiehe 
meln beruht, wie deshalb bie armenifche und griechifche Kirche, 
leztere nicht jezt einen neuen Schwung gewinnt, ganz erftorben fch 
nur mechanifch bewegt. Aber der einzelne, wie Fräftig und eigenthür 
“fein Leben fei, wenn er aus der Bemeinheit ſcheidet, giebt auch de 
223 Umfang feines Bewußtſeins auf; und wenn doch das, was ich hier 
Kirche genannt habe, in einer wirklichen Erfcheinung nicht heraustr 
wie es denn fo nirgend nachzuweifen ift: fo bleibt ihm dann nic 
ale das ifolirte feparatitifche Dafein, welches aber auh aus DV 
großer Girculation immer dürftiger wird. 

11) ©. 332. Da an dbiefer Stelle die in der ganzen Rebe I 
Anfiht am ſchneidendſten nnd gebrängteften vargeftellt ift, fo wird 
an tiefe am beften anfnüpfen, was außer dem bereils bemerften 
Grläuterung und Berichtigung derfelden zu fagen if. Es komm 
alles darauf an, dag das Verhaͤltniß richtig dargeftellt werbe zw 
volllommnen gegenfeitigen religiöfen Mittbeilung, welche ich hier als 
Kirche dargeftellt, und der wirklich beſtehenden rellgiöfen Gemeinfcha 
nun bie leztere auch Hier einer folchen befieren Geftaltung, wie 
&. 339 befchrieben ift, fählg anerfannt wird: fo wollen wir diefi 
fegen, und nun die Frage fo fielen, „Giebt es alsdam außer ven 
lihen Gefchäft, welches in dieſer bildenden Gefellfchaft die vollfom 
glös gebildeten üben follen, für fie felbft unter fich noch eine befo: 


meinfchaft, welche der aufgeftellten Idee entfpräche, und in welche i 
Mantiaahe ihrer Kortichritte anch vie Mitalicher her AnGore Molint 


— — — 


367 


ſolche Geſellſchaft nixgend auf Erden zu finden ſei; ſondern das beſte in un⸗ 
ſerer Gattung, was witklich anfgezeigt werben fönne, das fei jene beſſere Ge⸗ 
Raltung der beſtehenden Kicche, jene Geſellſchaften wo ein Tünftlerifcher Mei- 
fer eine Anzahl ihm möglichft gleichartiger, die aber durch ihn erft völliger 
belebt und gebildet werben follen, um fich fammelt. Je mehr aber die Mit- 
glieder verfelben fo weit fich entwilfeln, daß fie jenen doppelten Kreis bilden, 
um: befto mehr gleicht eine folche Gemeine in ihrem Iufammenfein einer gro- 
Ben veligiofen Darftellung. In dem Maaß nun, als diefe unter einander in 
Berbindung gefezt werden Eönnen, in biefem Maaß giebt es auch zunächkt 
und im vollen Sinne für diejenigen, welche die Seele einer folchen Darflel- 
lung find, eine höhere Gemeinſchaft jener Art, welche in einer gegenfeitigen 
Mittgeilung und Anfchauung beſteht; an welcher tann auch mittelbar die 


andern Glieder teilnehmen, ſoweit als ihnen gelingt ſich bis zur Möglich 226 


keit eines -folden Genuſſes fremder Bormen zu erheben. Realiſirt werben 
fann alfo der hier aufgeftellte Begriff der wahren Kirche nicht in einer eins 
zelnen Brfcheinung, fondern wie auch ſchon oben S. 325 angebentet ift, nur 
in der weltbäürgerlichen friedlichen Verbindung aller beſtehenden und jede in 
ihrer Art möglichft vervollkommneten kirchlichen Gemeinſchaften; welche Idee 
als zur Vollendung der menfchlichen Natur gehörig in der Ethik näher ents 
wilfelt werden muß. Zweierlei Einwendungen hiegegen find noch, aber leicht, 
zu befeitigen. Denn einmal könnte jemand fragen, wie doch dieſes flimme 
mit dem in der Glaubenslehre dem Chriſtenthume beigelegten Bernf alle an- 
dern Glaubensweifen in fi aufzunchmen? denn wenn fo alles eins gewor⸗ 
den fei, fa beftehe nicht mehr jene weltbürgerliche Verbindung zur Mittheis 
fung und Anfchanung des verfchievenen. Allein es tft fchon bevorwortet, daß 
alle natürlich beftehenden verfchiedenen Eigenthümlidyfeiten in dem Chriftens 
thum nicht verfchwiuden, ſondern fich aus demfelben Seiner höhern Einheit 
unbeſchadet anf eine untergeordnete Weiſe wieder entwiffeln. Wie nun auch 
jezt das Chriſtenthum Feine äußere Einheit darftellt, fondern das höchſte, was 


: wie können zu ſehen wünfchen, nichts anders tft als eine ſolche friebliche 


Berbindung feiner verfchtenenen Geftaltungen: fo haben wir auch feine Urs 
fache zu glauben, daß es jemals eine äußere Einheit darftellen werde, fondern 
auch dann wird es nur eine ſolche weltbürgerlihe Verbindung fein. Zwei⸗ 
tens aber könnte jemand fagen, das was hier die wahre Kirche genannt wird, 
habe allerdings ſchon in einer einzelnen Erſcheineng wirklich beftanden. Denn 
wenn die Apoftel Ehrifti fich zerftreut hätten um in den Hänfern und in den 
Schulen das Evangelium. zu predigen und das Brod zu brechen, dann hätten 


‚ fe das priefterliche Gefhäft verwaltet unter den Laien in der äußern Kirche; 


wären fie aber unter ſich geweſen anf dem Söller um Gott und den Herrn 
zu loben, was fet das anders geweſen ale jene wahre Kirche; und fo beute 
auch die Rebe felbft nicht unvernehmlich an (S. 339), daß dieſe Art zu fein 
nie hätte im jener ganz nutergehen, ſondern ſich aus ihe immer wieder her: 
fiellen follen. Und allerdings hat jemals die wahre Kirche in unferm Sinne 
in einer einzelnen Erfcheinung befanden, fo war es dort. Aber eiwas fehlte 


. doch dazu, nämlich jene in der Rede auch als der wahren Kirche weſentlich 


368 


aufgeftellte Größe und Majeftät der Darftellung. Unb biefes Bermußtieln | ı 
ver Unzulänglichfeit gehörte, menfchlicher Weife zu reden, mit zu ben Mole ı 
ven der weiteren Berbreitung des Chriſtenthums. So wie aber dieſe Ev ;ı 
fheinung, die indeß ohneradhtet ihrer kurzen Dauer doch beweifet daß überal 
die unyollfommne Kirche doc) nur von der vollfonmnen abflamınt, fo wie | 
diefe einmal verſchwunden war, konnte fie beider ungehenren Erpanfisfraft 3 
237 des Chriftenthums auch nicht wiederkehren, und die wahre Kirche fih nit :ı 
anders wieder finden, als in jener welthürgerlichen Verbindung. 
Auf dieſe Art iſt alſo die höchſte geiſtige Gemeinfchaft ver volllommen⸗ 

ſten frommen bedingt durch die andere Gemeinſchaft der vollkommneren mit « 
. den unvollfommneren; hat aber dieſe bie beſſere Geſtalt gewonnen, in we: } 
cher fie allein die Grundlage für jene geben kann, verdient fie dann neh x 
den Vorwurf, daß nur die fuchenden Hineintreten, und nur bie noch nicht 4 
ftomm gewordenen bartn bleiben? Sagen faun man biefes auch dann noch k 
von ihr, aber nur infofern als es feinen Vorwurf in fich fchließt. Deu N 
jeder der Hineintritt ſucht, nicht nur der mehr empfängliche und nnvollfommm I 
den der ihm begeiftere und fördere, fondern auch der vollfonnmere fucht Ge ü 
hülfen zu einer Darſtellung, die dafür könue erkannt werden aus dem Gele w 
der wahren Kirche hervorgegangen zu fein, und durch das gemeinfame We 
fucht er auch für ſich Börderung im ber äußern Meifterfchaft ſowol aldi m 
der Innern Kraft und Wahrheit. Daher find auch alle ihre Glieder nicht x 
geworden, fondern werdend. Will man aber diefer Bereinigung auch in ihre i 
beften Geftalt noch eine andere von volllommnen gegenüberftellen, und fe ü 
dadurch bezeichnen, daß diefe außer. der Freude an der Anfchauusg nichts Is 
mehr fuchen, weil jeder ſchon geworben ift was er fein kann: fo wird and in 
diefe keine andere fein als eben jene weltbürgerliche Verbindung. Denn in u 
diefer gilt jeder nur etwas durch das was er fchon iſt und leiftet, und Tamm: x 
auch nicht erwarten durch die Anfchaunng des frembartigeren unmittelbar ge x 
fördert zu werben auf feinem eigenthümlichen Gebiet. Iſt aber ein unmib x 
telbares Iufammenleben der vollfommneren gemeint; auf welche jene Schilie ie 
rung der wahren Kirche gehen foll: To muß man es dann buchfläblich vor is 
der triumphirenden Kirche verfichen; denn nur in diefer wird eine rein gegen ü 
feitige Mittheilung gedacht ohne Ungleichheit und ohne Kortfchreitung. Hier u 
aber kann von jemer wahren Kirche immer nur fo viel fein als wahres eo € 
ben und reprobnctive Entwilflung in den beflehenden lirchlichen Gemelnſchaſ 6 
ten if. [| 
12) Ebendaſ. Zwei Vorwürfe find hier der gegenwärtigen Einrichtung y 

der Kicche gemacht, von denen freilich der erfie weit mehr Verwirrung ze y 
verfehiebenten Zeiten angerichtet hat, unmittelbar aber hat der leztere wis K 
immer ein flörendexes Gefühl gegeben von dem umentwiffelten Zuſtand be I 
Geſellſchaft. Dies tft naͤmlich die Einrichtung, dag unfere heiligfle ſymboliſche % 
Handlung, das Mahl bes Herrn, unerachtet es auf die natürlichte Wei, i 
wenigſtens in ben meiften größeren Gemeinden, den Gipfel jeves Ganpiges 4 
tesbienftes bildet, und alfo bei jeder ſolchen Gelegenheit bereit ift, doch wer I 
den Theilnehmern jedesmal muß vorbebacht und vorbereitet fein. Gew :R 


369 


wird niemang läugnen, e8 wäre die fchönfte Wirfung des geſammten Gottes⸗ 
dienftes, wenn recht viele von den anwefenden dadurch in die Sttrimung gefezt 226 
würden das heilige Mahl nun zu feiern; diefe fchönfte Blüthe der Antacht aber 
geht verloren. Und auf der andern Seite, wie oft Fünnen, wenn auch alles vor: 
bedacht und vorbereitet ift, doch innere oder Äußere Störungen eintreten, die ven 
vollen Segen der Handlung mindern, welche doch, eben weil fie vorbereitet ift, 
nicht leicht einer folcden Störung wegen unterlaffen wird. Iſt diefe Behandlungs⸗ 
weife des Öegenftandes nicht ein zu fprechender Beweis, wie wenig Gewalt auf 
die Gemüther wir noch der Sache felbft zutrauen, und wie wir alle Chriften 
ohne Unterfchied noch als unzuverläffige Neulinge behandelu? Eine glüffliche 
Zeit wird eö fein, wo wir dieſe Behutfamfeit werden abflreifen dürfen, und 
wo und jeder am Tiſch des Herren willfommen ift, den ein augenblifflicher 
Impuls dorthin führt! — Weit mehr Verwirrung aber entfteht freilich aus 
dem andern hier gerügten Mißverftändnig, daß nämlich nicht nur unter fich 
die geifilichen fi) nach einem ſymboliſchen Maaßſtabe abſchäzen, ſondern auch 
fogar die Laien ſich herausnehmen nach dieſem Maapftabe ein Urtheil zum 
fällen über den geiftlichen, ja daß fogar den Gemeinden ein Recht eingeräumt 
wird zu verlangen, daß ihr geiftlicher fie belehren foll gemäß dem fymboli- 
fchen Buchftaben. Denn wenn jemand freilich ſenſt etwas verfertiget zu mei⸗ 
nem Gebrauch: jo muß mir zuftehen, wenn ich fonft will, felbft zu beftim- 
men wie es foll verfertigt werden, weil nur ich eigentlih urtheilen kann 
über mein einzelnes Bedürfnig im Zufammenhang mit meiner ganzen Art zn 
fein. Ganz unders aber ift es mit der Xehre; denn wenn ich im Stande 
bin zn ‚beurtheilen wie eine Lehre über irgend einen Gegenftand befchaffen 
fein muß, wenn fie mir foll nüzlich fein, fo bedarf ich eigentlich der Beleh⸗ 
zung nicht, fondern Fann fie mir felbft geben und bedarf höchſtens der Er- 
innerung. Diefer Anſpruch iſt alfo deſto verfehrter, je fchärfer fonft der Un- 
terſchied zwoifchen geiftlichen und Laien gehalten wird — denn wo alle ein- 
ander gleich fiehen, da ließe fich eher venfen, baß eine Verabredung aller 
flattfünde, fich innerhalb eines gemeinfamen Typus zu halten — und je mehr 
vie Belehrung des geiftlichen ein freier Erguß des Herzens ift, wie, Gott 
fei Dank, noch überall in der evangelifchen Kirche, und nicht der meifte Werth 
auf die Wiederholung feſtſtehender Formulare gelegt wird, wie in der römi⸗ 
fihen und griechifchen. Wenn aber nun die Laien, gleichviel ob einzeln als 
Schuaheren einer Kirche oder Gemeine oder vereint als Staatsbehörde, ober 
ob felbft als Gemeinden, beflimmen wollen, was dem ſymboliſchen Buchflaben 
gemäß jei, und wie weit defien Autorität im Gebiete der freien Belehrung 
gehe: fo liegt darin noch eine befontere Verkehrtheit, da ja der ſymboliſche 
Buchftabe nur von den geiftlichen herrührt, die alfo gewiß nicht gewollt ha⸗ 
ben fich felbft gegen die Laien durch bemfelben befchränfen, und da ja bie 
Laien nur duch die geiftlichen und beren Unterricht im Stande find, den 220 
ſymboliſchen Buchſtaben zu verfichen. Diefe Verkehrheit ericheint nun auf 
ihrem höchften Gipfel, wenn. ein Staatsoberhaupt perfönlich als folches fich 
berechtigt und gefchifit glaubt, ven ſymboliſchen Buchſtaben einer andern 
Kirchengemeinfchaft und das Berhältuig ihrer geiftlichen zu demſelben zu 
Schleierm. ®. I. 1. Ya 


370 


benrtheilen, alfo auch zum beuriheifen, welche religiöfe Mittbeilgggen benjeni- 


| 


gen, deren Meligiefität ihm ganz fremd iſt, zur Förderung berfelben heilſan 


feln tönmen, oder nit. Wenn 3. B. der hinefische Kaifer Tas Chriſtenthun 
zwar dulden wollte, aber durch feine Mandarine dafür fergen, daß fein 


hriftfiche Parthei von ihren Symbolen abweiche. Hiebel giebt es dann nm ; 
den Troft, daß dies ein Punkt if, von welchen nur Umkehr möglich bleibt. 
13) S. 333. Das Berhältmiß tritt in mancher Beziehung im der rk 


mifchen und griechiſchen Kicche am flärkften heraus, weil dort auf ber eine 


Seite der Gegenfaz zwifchen Prieflern umd Laien, als feien 08 zwei verfdhie . 


dene Klaffen von Chriſten, am flärfften gefpannt if, auf der andern bie 
geiftlichen nicht allein beſchränkt find auf ihre Geſchäftsführung in den Ge 
meinen, fondern nur für einen Theil derfelben nämlich die Weltgeiſtlichkeit 
foll dies die Hauptſache fein, für den andern nur cine Nebenfache, und biefe 
ſoll vorzüglich in der höhern veligiöfen Betrachtung leben. So bilvete den 


dort die Geiftlichkeit in ihrem Innern Sufammenleben die wahre Kirche; die ' 


Laien aber wären bloß diejenigen, welche zur Froͤmmigkeit erſt herangebildet 

werben ſollen, und deshalb auch unter einer beſtändigen genauen Seelenlei⸗ 
tung ſtehen, deren höchfter Triumph iſt, wenn einige fähig werben in jene 
engere Sphaͤre bes religiöfen Lchens aufgenommen zu werden. Und in be 
That würden wir geftehen müflen, in der katheliſchen Kirche feien dic Grund: 


züge der hier aufgefteflten Theorie niedergelegt, wenn nicht in anderer Be⸗ 


ziehung auch wieder der grellſte Widerſpruch zwiſchen beiden zu Tage läge 
Und nicht eiwa auf die Unvollfommenheit der Ausführung bernfe ich mid 
deshalb, auf vie ſchlechte Beschaffenheit ber Geiſtlichkeit, auf die irreligidſe 
Leerheit des Föfterlichen Lebens; dem dann Tonnte man höchſtens fagen, ed 
fei ein noch nicht gelungener Verſuch die wahre Kirche getrennt vom Zufaw 
menfein mit denen, bie erſt religiös gebildet werden follen, darzuſtellen, for 
bern Hauptfache iſt diefes, daß ſchon din den Grundſäzen das Mißlingen dei 
‚ felben gegründet iſt, weil nämlich der Idee nach — denn in der Ansführung 
find ja die geiftlichen und auch die Flöfterlichen oft am tiefftien in alles well 
liche verwilfelt, aber der Idee nach foll Doch das befchauliche Leben von dem 
thätigen ganz getrennt fein, und die höhere religiöſe Stufe wird mit dem 
Iczten für nnverträglich erllaͤrt. Rechnet man nun aus allem bisherigen zu 
ſammen, was hiervon weiter abhängt: fo iſt wol nicht zu zweifeln, daß and 


2:0 in diefer Begichung ver Proteftantisinus die Rükfehr ift auf den richtigen 


Meg die wahre Kirche darzuftellen, und daß er mehr von derfelben in fid 
trügt als jene. 

14) ©. 334. Hier ift leicht ein Digverftand möglich, als ob die Dog 
matit felbft nur folle ans dem Verderbniß der Religion abgeleitet werben, 
da ich doch anderwärtd mich deutlich genug dafür erffärt, dag fo wie eine 
beftimmte Religion eine große Geſtaltung gewinnt, fich ihr auch eine Theo 
logie anbilden muß, von der die Dogmatik, welche eben den geſchloſſenen Zu⸗ 
fammenhang der religiöfen Säze und Lehrmeinungen auffellt, immer ein na 
türliches und wefentliches Glied gewefen iſt und bleiben wird, Hier aber f 
nur die Rede von dem falfchen Intereſſe, welches fo oft die ganze Kirche ax 


371 


den Zufammenhange der Lehre nimmt, nnd bies ift allerdings nur in jenem 
Verderbniß gegründet; denn die Dogmatik fowol ganz als aud) in ihren einzel 
nen Beltandtheilen, welche ja’ außer dem Zuſammenhang mit dem ganzen nie. 
sollfonmen fünnen verfianden werden, foll ein ausfchließliches Eigenthum der 
in diefer befonderen Hinficht wiflenfchaftlich gebildeten bleiben: Ihnen bient 
fie zur Topif auf der einen Seite, um den ganzen Umfreis alles deſſen, was 
Gegenſtand religiöfer Mittgeilung und Darftellung werben fann, zu über: 
fehen, und jedem einzelnen feine Stelle anzuweiſen, und auf der andern Seile 
zur fritifchen Norm, um alles was in der rellgiöfen Mittheilung vorkommt, 
an dem firenger gebildeten Ausdrukk zu prüfen, und. deilo eher aufmerkſam 
zu werden auf alles was in dieſem Ausdrukk nicht aufgehen will, ob es nur 
einzelne Berworrenheit ſei, oder ob fih etwas dem Geiſt des ganzen wider⸗ 
fprechendes dahinter verberge. Beide Interefien liegen ganz außer dem Ge: 
fichtsfreis aller übrigen Mitglieder der Kirche, welche daher von allem, was 
aur auf diefem Gebiet vorgeht, gar nicht follten ajficirt werden. Denn 
kommt in der Fitchlichen oder gefelligen Mittheilung etwas vor, wodurch ihr 
ammittelbares frommes Bewußtſein verlezt wird, fo bevürfen fie Darüber gar 
Teines weitern dogmatijchen Zeugniſſes. Sind fie aber verlezbar durch das, 
was nur innerhalb der feientififchen Terninvlogie liegt, fo ift eben dies die 
bier aufgezeigte Verderbniß, gleichviel, ob fie fih von felbit in eine ungezie⸗ 
mende Dünfelweisheit verloren haben, oder vb fie von therlogifchen Käms 
pfern in blindem Eifer find zu Hülfe gernfen worden, damit beide geneins 
ſchaftlich, gelehrte und ungelehrte, irgend einen geführlichen Dann bänpfen 
möchten. Schön aber wäre ed immer, wenn die Theologen den Anfang 
machten umgulenfen, und von ber Theilnahme an allen dogmatifchen Streis 
tigfeiten die Laien, wer fie auch ſeien, abzumahnen, und fie auf den guten 
Glauben zn verweifen, daß es fromme Theologen genug gebe um dieſe Sache 
auszumachen. 

15) ©. 339. Dies ift nun aus den bisherigen Erläuterungen leicht zu 
berichtigen. Denn wenn das was hier die wahre Kirche genannt wird, nicht 234 
in einer abgefonderten Erſcheinung befteht: fu giebt es auch nicht im buch: 
ſtaͤblichen Sinne einen vorübergehenden Aufenthalt in der einzigen als 
wirfliche beftimmte Erſcheinung beſtehenden religiöfen Gemeinfchaft. Eonvern 
ur das ausſchließende iſt vorübergehend, fd daß jeder in dem die Frömmig— 
Teit durchgebildet ift, auch fühig werden full, außer der beftimmten Gemein 
Schaft der er angehört au der weltbürgerlichen Verbindung aller auf gewifle 
Weiſe theilzunchmen. Eben fo nun ift auch das entfcheidend nicht buch- 
Ftäblich fo zu nehmen, als ob etwa der unfühige nun ganz aus aller religiö- 
fen Verbindung follte, ſei es nun ausgefchloffen werden, vder freiwillig aus⸗ 
treten. Denn jenes follen und fönnen die frommen nicht thun, und dieſes 
Dürfen fle nicht leiden. Denn fie fünnen feinen austreten laffen, weil fie ſu⸗ 
chen müffen ihren religiöfen Darftellungen die möglichfte Ailgegenwart und 
Eindringlichkeit zu geben; und noch weniger fünnen fie anschließen, denn 
eine abfolute Unfähigfeit fann nie erfannt werben, fondern immer muß die 
Boransfezung fefifiehen einer Zeit, wo das’ allen Menichen gemeine AA 


Aa 


372 


auch in dem einzelnen entwiffeln werte, und einer noch unverſuchten Art der 
Erregung, welche diefe Entwikkelung begänftigen könne. Das aber bleibt 
wahr, daß derjenige in dem fo langfam nnd ſchwer die Religiofität in der 
beftimmten Geſtalt, die Ihm die nächite und verwandteſte ift, erregt werben 
Tann, fchwerlich zu jener höhern Entwiffelung und jenem freiern Genuß ge 
langen werde. 

16) Ebendaſ. Eine große Vorliebe ift Hier dargelegt im Gegenfaz gegen 
die großen kirchlichen Verfaſſungen für vie Hleineren Kirchengemeinfchaften; 
einfeitig ift bier dieſe Vorliebe ohnftreitig herausgehoben; aber das ift über 
haupt ſchwer, am wenigften aber in einem rebneriichen Iufammenhang jı 
vermeiden, wenn bie Anfmerkjamfeit auf einen ganz überfehenen oder wenig 
ſtens größtentheils geringgeichäzten Gegenftand foll geleuft werben. Diefe 
Vorliebe beruhte aber auf folgenden Punkten. Einmal auf der großen Mars 
niofaltigfeit, welche in dem gleichen Raume und der gleichen Zeit fich manl 
fefliren fann, flatt der großen Mafien, welche entweder überhaupt Feine Mar 
nigfaltigfeit aufkommen laflen, oder fie wenigftens verbergen, daß nur ber 
genauere Beobachter fie wahrnehmen fann. Wohin auch vornehmlich gehitt, 
daß auf dem religiöfen Gebiet, mehr als anderwärts der Fall fein kann, ſich 


öfter Vereinignngspunkte erzeugen, welche es nicht auf lange Zeit fein law . 
nen, aber um welche ſich doch, wenn auch nur vorübergehend, eine Fräftige . 


und eigenthümliche Erſcheinung bilden kann; welche Keime alle verloren geben - 


oder wenigftend zu Feiner Maren und vollfländigen Organifation gelangen, 
wenn nur große Kirchenverfaflungen beftehen. Der andere Hauptpunft aber 
ift der, daß die kleineren Kicchengemeinfchaften ihrer Natur nach, weil fe 
232 weniger Beſorgniß erregen fünnen, fich auch freier bewegen und weniger ven 
der bürgerlichen Autorität bevermundet werden. In beider Hinficht erſchlen 
mir ſchon damals, als ich dieſes zuerft fehrieb, Amerifa ala ein merkwürbig 
bewegter Schauplaz, wo fich alles auf eine folche Weife geftaltete, und wo mir 
deswegen mehr als irgend anderswo, felbft das einzig geliebte Vaterland nicht 
ausgenommen, die Freiheit des religiöfen ‘Lebens und der religiöfen Gemein⸗ 
fchaft gefichert fchien. Mehr noch Hat fich dies ſeitdem entwiffelt und bie 
Ahndung beftätiget. Frei bilden ſich dort Vereine und zerfließen wicher, 
fondern fich Kleinere Theile von einem größern ganzen los, und fireben Hei: 
nere ganze einander zu, um einen Mittelpunkt zu finden, um den fie fic zu 
einer größern Einheit geftalten Fönnen. Und die Freiheit der chriftlichen Ent: 
wiffelung ift jo groß, daß manche Gemeinden, wie die fogenannten unitari: 
fchen, ung, jedoch wie ich glaube mit Unrecht, fcheinen würden außerhalb bes 
Chriſtenthums zu liegen. Sonſt nun fonnte man die Furcht haben, daß bei 
folchem Zerfallen das Chriſtenthum feine große Hiftorifche Geſtalt allmänlig 
verlieren, und namentlich die wiflenfchaftliche Feſthaltung deſſelben ganz Konnte 
in Bergeflenheit fommen. Seitdem aber die Wiffenfchaft ſich dort mehr er: 
hebet, und auch Inftitutionen zur Tortpflanzung der chriftlihen Gelehrſamfeit 
gegründet find, ift die Augficht noch fröhlicher, und nur das Gine zu befla 
gen, daß, fo fcheint es und wenigftens aus der Werne, daß ber brittifche Geiß 
zu jehr überhand genommen hat und der deutſche immer mehr zurüfftritt. 


373 


weshalb jenen Freiſtaaten vecht bald eine folche deutſche Einwanderung zu 
wünfchen wäre, bie einen bleibenden Einfluß hierauf begränden könnte. — 
Doch möchte ich mic, jezt Feinesweges fo ausfchliegend für die Fleineren Ges 
meinfchaften erklären und gegen die großen Berfaflungen, nachdem ich jener 
mehr entwöhnt und in diefe mehr eingelebt bin. Sondern wie es in Eng: 
land wol am veutlichften zu Tage liegt, daß es dort in beiden Fällen fchlecht 
um das Chriſtenthum ftehen würde, fowol wenn die bifchöfliche Kirche fich 
ganz auflöfte und in die Fleineren Gemeinfchaften zerfirente, als auch wenn 
fe diefe verfchlänge um allein zu beftehen: fo faun man wol nicht anders 
fagen, als dag, wenn fich in dem weiten Umfang der Chriftenheit das relis 
giöfe Leben in feiner ganzen Mannigfaltigfeit und Zülle entwiffeln foll, beis 
des, wie auch faft von jeher der Ball geweſen, neben einander beftehen müfle, 
große Berfaflungen und Kleine Gefellichaften, fo daß dieſe ſich in jene aufs 
löfen und ans ihnen wieder erzeugen Fönuen, und jene was in ihnen des⸗ 
organifirend wirken würde an dieſe abgeben, und fi) aus biefen bereichern 
und ftürken Eönnen. Nach dieſer Darlegung der Sache wird wol niemand 
fragen, wie ſich diefe Vorliebe für Eleinere Religionsgefellfchaften vertrage mit 
dem lebendigen Antheil an ber Vereinigung beider proteftantifchen Kirchen- 
gemeinfchaften, wodurch ja offenbar nicht-nur aus zwei Fleineren Gefellfchaf: 233 
ten eine größere werde, fondern auch offenbar diefenige von beiden, welche 
die Heinfte war, am meiften verſchwinde. Nur folgendes möchte ich noch 
darüber hinzufügen. Eine Verfchiedenheit weniger der Lehre, denn dieſe fcheint 
mir noch immer durchaus unbeveutend, als des Geiſtes hat offenbar zwifchen 
beiden Kirchengemeinfchaften urfprünglich flattgefunden;. und ohne biefe hätte 
eine folhe Trennung aus übrigens fo unbedeutenden Motiven nidyt entfiehen 
können. Diefe Berfchievenheit ift auch Feinesweges ſchon ganz verſchwunden; 
allein wie jede eine Ginfeitigfeit mit fih bringt, fo fehlen jezt die Zeit ges 
fommen, wo weit Eräftiger durch völliges Ineinanderbilden der Verſchieden⸗ 
heiten als durch freundliches Nebeneinanderfichen die Ginfeitigfeit abges 
fumpft, und durch die Bereinigung ein in der Freiheit gebundneres und in 
der Gebundenheit freieres Leben erzeugt werden fonnte, als in beiden abges 
fondert beitanden hatte. Außerdem aber fchien es die höchſte Zeit dafür zu 
forgen, daß nicht dereinft eine wiedererwachende Giferfucht zwifchen beiden 
einen nöthig werdenden kräftigen Widerſtand gegen die mancherlei bebenflichen 
Befirebungen der römifchen Kirche unmöglich mache. 

17) ©. 341. Wer fo dringend wie ich es in der vierten Sammlung 
meiner Predigten gethan, dafür gefprochen, dag die geſammte Armenpflege : 
wieder möchte ein Geſchäft der Firchlichen Bereinigung werben, der fcheint ja 
gar wol zu wiſſen wohin mit allem Grund: und Gelbvermögen. Allein auch 
bie ansgebehntefte Arnienpflege bedarf nur ficherer jährlihder Ginnahmen. 
Wenn alfo nur ein Verband der Gemeine feit ift und der darin waltende 
Geift den guten Willen für diefen Gegenfland lebendig erhält: fo kann auch 
diefes Geſchaͤft ohne einen folchen Befiz befriedigend ausgerichtet werben, unb--- 
wenn die übrigen Umftände gleich find, um deſto befier, als es gewiß iſt, daß. 
auf der einen Seite jedes Kapital von Privatleuten befler genuzt werben 


374 


fan, und anf der andern Seite diefee Beſiz tem reinen Charakter einer 
Firchlichen Gemeine immer einen fremden Inſaz beimifcht, und eine ante 
als tie rein religiöfe Werthfchäzung ihrer Mitglieder herbeiführt. 
18) &. 342. Bei diefer Klage war Feinesweges meine Meinung, daß 
der Staat fih nicht follte in gar vielen und. höchftwichtigen Dingen gan 
vorzüglich auf die Macht der religlöfen Gefinnungen und auf das Zuſammen⸗ 
treffen feines Interefies mit den natürlihen Wirkungen derſelben verlafien, 
fondern eben in fo fern er ſich tarauf verlafien zu mülfen glaubt, ift and 
wünfchenswerth, daß er nicht auf eine ſolche Art eingreife, welche deren rei 
nem Grfolg nachtheilig fein muß, und das gefchieht unfehlbar durch jete ps 
fitive Ginmifchung. Denn zweierlei feheint nur richtig zu fein; entweder ber 
Staat fezt die religiofe Gefinnung feiner Mitglieder voraus, und erfreut ſich 
vertrauensvoll ihrer Wirkungen, wobei ihm_denn immer anheimgeftellt bleibt, 
234 fowol bei jedem einzelnen, in welchem fich diefe Wirkungen nicht bewähren, 
die Vorausſezung zurüffzunchmen, als auch wenn fich ein ſolcher Mangek-in 
einer entſchiedenen Mehrheit einer religiöfen Gefellfchaft zeigen follte, zu nas 
terfuchen, ob dies in den Grundfäzen derfelben begründet fei, und danach feine 
Boransfezung zu modifeiven. So lange er aber nicht Grund hat fein Der 
trauen zuräffzunehmen, muß er auch wiſſen, daß die Organifation ber Ges 
feltfchaft ans derfelben Gefinnung hervorgeht, von welcher er die guten Wir: 
lungen erwartet, und daß der Natur der Sache nach nur diejenigen, in wels 
chen die Geſinnung am ftürfiten iſt, auf dis Geftaltung und Verwalteng 
der Gefellfchaft ven meiften Einfluß haben werben, und hiernach alfo muß er 
auf diefem Gebiet die Gefinnung frei walten laſſen und es zugeben, daß bie 
Organifation der Gefellfhaft ans ihr felbft hervorgehe chne von Ihm geleis 
tet zu fein, und dies fo lange bis ihm auch von hier aus cin Grund zur 
Verminderung bes Vertrauens entficht. Wenn nun eiu Staat nur zu eine 
beftimmten Form der Religiofität diefes Vertrauen hat: fo fchlägt er and 
nur mit diefer Gefellfehaft dieſen Weg ein, und fein Verfahren gegen die 
übrigen richtet fi nach der Größe feines Mißtrauens bis zur völligen Uns 
duldſamkeit. Wenn alfo cin Staat die eine Religionsgefellfchaft ſich ſelbſt 
überläßt, und fle mit einem hohem Grade von Unabhängigkeit ausftattet, 
eine andere aber enger bevormundend, ihre Organifation felbft beftimmt: fo 
kann dieſes verftändigerweife keinen andern Grund haben, ald weil er der lez⸗ 
tern ein befchränfteres Vertrauen fchenft; und eine wunderbarere Erſcheinung 
laͤßt füch nicht denfen, als wenn ein Staat grade die Meligionsgefellfchaft, 
welcher der Regent felbft angehört, genaner bevormundet und In ihrer freien 
Thätigfett mehr befchräntt als eine andere. — Diefer Fall nun des Vertrau⸗ 
ens auf die religiöſe Geflunung ift für unfere gegenwärtige Unterfuchung 
ber erſte; der andere aber iſt ber enigegengefezte, wenn nämlich der Staat 
von ber religiöfen Geſinnung feiner Glieder Feine guten Wirfungen erwartet 
in Bezug auf irgend etwas, was in fein Gebiet füllt. Aber auch dam 
j ſcheint nichts folgerecht zu fein, als daß er die Religion als eine ihm gleich— 
‚ gültige Bichhaberei gewähren läßt, und nur wie bei andern Privatverbinduns 
gen’ darauf achtet, daß dem bürgerlichen Gemeinweſen Fein Machtheil daraus 


erwachfe. Wenn wir unn biefes anmwenben anf bie Angelegenheit, von welcher 
bier die Rebe ik, nämlich anf die Erziehung — denn auf biefe kommt bach 
alles zurüuft —, fo fcheint daraus folgendes hervorzugchen. Die religiöfe Er⸗ 
ziehung als folche wird niemals die ganze Erziehung bes Meufchen fein; fon- 
dern alle Ausbildung, welche die Religionsgeſellſchaft als folche nicht unmitel⸗ 
bar intereffirt, wie 3. B. die gymnaſtiſche und die hühexe wiſſenſchaftliche, 
wird außer ihrem Bereich liegen. Wenn un die Kirche vielleicht früher an 
die Erziehung gedacht has als der Staat, und diefer will dann fügen, Ih 
ſehe ihr habt da Anfalten zur Bildung der Jugend, aber dieſe, wenn ich fie 235 
auch für gut erfeune, gemägen mir nichts Ich. will nun das fehlende Hinzus 
thnn, dafür aber vie ganze Anſtalt unter meine Leitung nehmen: fo wird 
die Kirche, wenn fie reden darf und ihr eignes Wohl verficht, entgegnen, 
Nicht alfo; fondern für alles fehlende made bu deine Anftalten, und wir 
wolten als Bürger redlich Das unfrige dazu beitragen, daß fie gedeihen; nnfre 
Anftalten aber laß uns in unſern eigenthümlichen Orenzen nah wie vor ſelbſt 
beforgen, nud erfyare nur an deu einigen dasjenige, wovon du glaubfi Daß 
die nuſrigen es zweitmäßig leiften. Thut nun der Staat dennoch kraft feiner 
Gewalt das andre: fo wird dies immer eine der Kirche höchß unerwünichte 
inmifchung fein, und fie wird es als eine Beeinträchtigung fühlen, weun 
es ihr anch dea zweidentigen Vortheil vwerfchaffte einen gewillen Sinfuß auf 
mancheß zn erlangen, worauf fie dem natürlichen Lanf der Dinge nach fei- 
nen hätte. — Eben fo nun iſt es mit der Velehrung über die menfchlichen 
Pflichten im bürgerlichen Leben, welche doch nichts anders iſt als eine fort⸗ 
geſezte Erziehung des erwachfenen Volles. Daß der Staat einer ſolchen ber 
darf, leidet Feinen Zweifel, und zwar um beflo mehr, je weniger fie vor felbft 
aus dem öffentlichen Leben heworgeht. Wenn er nun findet, daß in deu tes - 
ligiofen Webunngen und Mittheilungen ver in feiner Mitte befichenden relis 
giöfen Geſellfchaft oder Geſellſchaften ſolche Belchrungen vorkommen, nnd 
daß die Verſchiedenheit derfelben, wenn ihrer mehrere ſind, hierin keinen ir⸗ 
gend bedentenden Unterſchied hervorbringt: ſo wird er gern beſchließen eine 
eigene Anftalb zu dieſem Behnf zw ſparen; und das werben ſich jene Geſell⸗ 
ſchaften gern gefallen laſſen, und ſich freuen daß fie dem gemeinen Weſen 
dieſen Dienſt leiſten. Wenn aber der Staat zu ihnen ſagt, Ich will mich 
eurer Belehrnngen bedienen; aber Damit ich auch ficher bin, dag mein Zwelk 
vollſtaͤndig erreicht werde, muß ich ench doch nach vorfchreiben, daß ihr auch 
über dieſes nnd jenes nicht vergeſſet zu veden, und dag ihr dieſes und jenes 
ans der Geſchichte zu beftimmien Zeiten in Erinnerung bringt, und ich muß 
eine Beranfkaltung treffen um zn erfahren daß dies auch wirklich geſchehen 
fei: fo wird tie Kirche, wenn fie darf, gewiß fagen, Mit nichten, Beun dba 
wärben auch manche Belchsungen vorkommen ſellen, die in unfer Gebiet gar 
nicht einfchlagen, und was das gefchichtliche betrifft, fo Fommt es gy8 jchr 
widerlich vor, wen wir 3. B. an gewiflen Tagen freudig darqu erinnern 
ſellen, wie du seinen andern Staat beſiegt Haft, nunſere naͤmliche Geſellſchaft 
in jenem Staat aber muß an tiefen Tagen weiolich ſtill ſchweigen, ſoll ſich 
aber freuen an antern Tagen, wo jener etwa dich befiegi Hat, und hie wir 


376 


wieder mit Stillſchweigen übergehen ;.fondern uns gilt beides gleich, und wir 


müſſen den gleichen Gebrauch machen nach unferer Art von dem, was bir 
236 rähmlih und was dir fehimpflich geweien if. Gin Gebraud mit dem dm 


wol auch zufrieden fein Fannft; aber für jenen befondern Zweit mache "bie 
eine andre Vorrichtung; denn wir fönnen dir dazu nicht behülflich fein. Und 
wenn der Staat diefen Vorftellungen nicht Gehör giebt, fo beeinträchtiget er 


die perfönliche Freiheit feiner Mitglieder auf ihrem heiligften und umverley | 
fichften Gebiet. — Was endlich die dritte Angelegenheit betrifft, von ber hiet 
die Rebe ift, fo gehört fie eigentlich unter die zweite, und ift hier: nur be . 


fonders heransgehoben, weil auf eine ganz befondere Weife bei Eihesleiftun 
gen der Staat die religiöfe Gefellfchaft zu Hülfe nimmt. Allein auch hieran 


ift eine Beeinträchtigung entflanden. Denn wenn ben verfchiebenen Fleinen . 


Gefellfchaften von Nichtfchwörern zwar erlaubt ift den Eid zu verweigern, 
und eine einfache Berfihernng an Eidesſtatt zu leiften, den großen vom 


Staate befonders begünftigten Kirchen aber wird befohlen über die Heiligkeit 


bes Eides zu prebigen, und ihre Mitglieder müflen den Eid leiften auf bie 
vorgefchriebene Weife, oder aller Vortheile verluftig gehen, die mit der Leis 
fung verbunden wären, ohnerachtet unter ihnen viele fein mögen, welche vor 
dem einfachen Verbot Chrifti gefchrefft ſich auch ein Gewiſſen machen zu 
ſchwören, nnd unter den Lehrern viele, die auch von der buchitäblichen Ans 
legung jener Worte nicht abgehen können, und es für Irreligiös halten, auf 
folge Weife dem Staat zu Hülfe zu kommen: wie follte nicht eine folche 
Beeinträchtigung der religiöfen Freiheit fehr fehmerzlich gefühlt werden? Un 
fo rechtfertiget Hoffentlich dieſe nähere Auseinanderfezung den im Tert aus 
gebrüfften Wunſch, daß der Staat fich defien, was ihm an den Ginrichtuns 
gen der Kirche nüzlich fein Fann, nur fo weit bedienen möge, als mit der 
ungefränften Freiheit derfelben beftehen kann. 

19) ©. 343. Bon den drei Punkten, welche hier bedauert werben, fin 
zweie nur beohelb beſchwerlich, weil fie die Abhängigkeit der Kirche vom 
Staat bezeugen, und den heiligen Handlungen der Taufe und der ehelichen 
Einfegnung den Schein geben, als ob fie vorzüglich von den geiftlichen als 


—— —— 
Lg — 18€ ze zu 


AT nn EEE EEE 3 BE HE DH ED Me DE DE O- ODE Oo ae SE 3 m 


Dienern des Staats im Namen defielben verrichtet würden. Obnftreitig it 


dies mit eine Urfache davon daß die Art fie zu verrichten oft fo wenig einen 
hriftlichen ja überhaupt einen religiöfen Charakter verräth. Wenn bie Ein 
ſchreibung in die bürgerlichen Lebensliften auch eine rein bürgerliche Hand 
lung wäre: fo könnte niemand mehr die Taufe lediglich ale eine gefezlich ge, 
botene Förmlichkeit anfehen, bei deren Gelegenheit man bisweilen eine herr 
liche Rede anhören Fönne. Und wenn der Ehevertrag erft rein bürgerlich 
abgefchloffen werden müßte, und die Firchliche Einfeguung rein eine Hanvlung 
der Mitglieder einer Gemeine wäre: fo würbe fich bald zeigen, daß ba bie 
Ehen am beften wären, wo man anf tiefe Außerlich überflüffige Kirchliche 
Weihe noch einen befondern Werth legt. Am nachtheiligften aber iſt ber 
mittlere Punkt. Denn indem ein evangelifchschriftlicher Staat. an die Iulaf 


237 fung zum Sacrament mancherlei bürgerliche Befähigungen knüpft, und eben 


deshalb bei manchen Belegenheiten Befcheinigungen fordert über biefe Hands 


41 


fo Handelt er zwar höchk wohlmeinend gegen bie Jugend, indem er fie 
ficher ſtellen will gegen religiöfe Vernachläßigung ihrer Eltern oder 
zten; aber wie fehr wird dadurch das Gewiſſen frommer geiftlichen 
xt, welche fc oft ganz gegen ihre Weberzenugung die religiöfe Unters 
g und mäheree Auffiht müſſen für gefchloflen erklären. Wenn nun 
) entflände, daß eine große Menge getaufter Chriften ihr ganzes Leben 
H ohne Theilnahme an dem anderen Sacrament blieben wie es in 
nerifa wirklich der Fall ift: fo fcheint auch biefes Fein Unglükk zu fein; 
mes würde nur den Bortheil gewähren, daß die chriftliche Kirche nicht 
vortlih erfchiene für Die Xchensweile der roheflen Dienfchen, und daß 
: Streit erfpart würde über das Recht ihre Glieder aus ber Gemeinde 
ließen, ob es ihr wünfchenswerth fei oder nicht. Denn in dem pros 
fchen Europa würden doch nur die roheften in diefen Fall kommen, für 
wigen würde immer bie fortgefezte Theilnahme am Gottesdienſt früher 
yater erfezen, was ihnen in jenem Seitpunft, in welchen bie Gonfirmas 
ı fallen pflegt, noch fehlte. Aber man fönnte noch welter folgern, es 
ı anf diefe Weiſe anch bei uns, wie In den norbamerifanifchen Breiftan- 
ehr viele Kinder chriftlicher Eltern, weil viefe feinen großen Werth anf 
cchengemeinfchaft, legen, ungetauft bleiben, und alſo mit der Kirche in 
ine Verbindung fommen. Und freilich Fönnte dies gefchehen; wiewol 
(cher antichriftlicher Zelotismus bei uns gewiß fehr felten fein würde. 
am dem wahren Nachtheil, der hierand eutitehen könnte, vorzubeugen, 
auch nicht erfordert werben, daß der Staat die Taufe gleihfam ges 
mer Weiſe verrichten Liege, fondern daß er fehr zeitig anfinge die Ge⸗ 
Hreiheit der Kinder auch gegen bie Eltern zu ſchüzen. Die bier ges 
ı Beichwerden erfcheinen alfo als ſolche, denen allerdings abgeholfen zu. 
: fönnte, aber wicht ohne eine fehr veränderte Geſtalt aller verjenigen 
‚genbeiten, in Beziehung anf welche Kirche und Staat zufammentref- 
Wenn man nun bier allein anf das Beifpiel jener Freiſtaaten anf ber 
: Halbkugel zurüffgehen, und alles, was an dem bortigen kirchlichen 
de zu tadeln fei, noch als Folgen: von dem darſtellen wollte, was bier 
rt wird: fo wäre dies ohnftreitig ungerecht. Denn es giebt dort Uns 
nmenbeiten, welche von einer jungen und fehr ungleichförmigen, und 
woch mehr ift von einer zufammengerafften, Bevölkerung nnzertremmlich 
welche fich abfchleifen werben, ohne daß fich in biefen Stüffen etwas 
liches zu ändern brauchte. 
0) Ebendaſ. Daß in allen religidfen Handlungen das Vorwalten ber 
hen und bürgerlichen Beziehnngen eine Abweichung von ber urſprüng⸗ 
Natur der Sache ift, und zwar eine noch flärfere, als welche daraus 238 
#, daß bei dieſen Handlungen pecnniäre Berhältnifie zwifchen ben geifts 
und den Glievern der Gemeine eintreten, diefes bedarf wol feiner wei⸗ 
Erörterung. Allein es fcheint, als ob dieſe Klage nie ganz würde be⸗ 
t werden können, fo lange entweber ein Staat als folder fi zu einer 
m Meligionsgefellfchaft befeunt, oder wenigftens der Staat glaubt vers 
ı zu Tonnen, daß jedes feiner Mitglieder fich zu irgend einer foldhen bes 


378. | | 


fenne. Mas nun das erfle beirifft, fo tritt dach diefer Fall mar eim, wenn ji 
ein ansgefprochenes Geſez erflärt, nur im Gimer Kirche fei die größte Yale ' tn 
derjenigen Gefinnungen, welche im Stande wären dieſen Staat zu erhalten, M j 

und die vollkommenſte Sicherheit gegen alle diejenigen, die ihm ſchädlich wer k 
den könnten. Daraus folgt denn, daß nur deu Gliedern jener Geſellſchaft ka 

die ganze Schaltung des Staats anvertraut wird; und dieſes kann doch als IM 
Geſez bei der gegenwärtigen Befchaffenheit der gefelligen Verhältniſſe nur de RN 
befiehen, wo ter greße Körper des Volkes ungetheilt jener Gefellſchaft ange * 
hört, und Glieder ven andern nur zerſtreut als Schüzlinge und freide ver Mi 
handen find; aber bei ter fehr zerfitenten Verbreitung vieler Religionggeſel⸗ fi 
fchaften laun jezt ein felches Verhaltniß ſelbſt in den katholiſchen Linden Du 
unfered Welttheils nicht miche dauernd fein. So fcheint ed demnach als db fü 
in der gegenwärtigen Yage nicht leicht mehr ein Staat fh ganz und unge Mi 
theilt zu Einer Religionsgeſellſchaft befennen könne; und wnfene füvenzopib jM 
ſchen Staaten, die jezt aufs neue die fathelifche Religion zur Staatsreligien Mu 
gefezlich erklaͤrt Haben, werben dach, wiewol jie im günftigften Falle ſind, sed ® 
jet ncch die Proteftanten nur zerftrent ale Schüzlinge in ihrem Gebiet vor & 
handen find, ohne Härte und Ungerechtigkeit dieſes Syſtem nicht viele Gene M 
rationen hindurch nach ihrer Beruhigung feſthaltan Fonnen. Ganz ein ande „aM 
red aber if, wenn ohne Geſez, nur zufolge der natürlichen Wirkung der dp U 
fentlichen Meinung, felbR da, wo ein großer Theil der Staatsbürger .eiwer 1 
andern Religionsgeſellſchaft angehört, doch nur den Bekennern der einen allıd % 
weſentliche bei der Staatoverwaltung zufällt. Denn eine folche Handlunge⸗ I 
weile ift Feincsweges ein Staatsbekenutniß, und wir müſſen freilich wüniden * 
daß diefe fih noch lange erhalten möge. Wenn alte das zuerfi gefagte jet ü 
„nur nod) ein vorübergehender Zuſtand fein kann, fo fragt ſich, wie es mit ü 
"dem zweiten ſteht, oh nämlich das eine richtige Marime if, wenn der Stast N 
verlangt, jeder feinex Bürger fohle fich zu irgend einer, chne zu enticheiben 
welcher, Religionsgefellichuft befeunen. Hier fei cs nun vorausgegeben, daß * 
irreligiöfe Menfchen auch dem bürgerlichen Berein weber heilfam fein können, N 
noch für denſelben zuverläfig. Aber werden fie dadurch religiös, wenn fe 
fich gezwungen zu irgend einer religiöfen Gefellfchaft beiennen? Offenbar giebt 3 
es um die irreligiöfen Menſchen wirflich religiös zu machen fein anderes Mit 


a0 tel, als den Einduß der religiöſen Menfchen auf ſie möglichſt zu verftächen: ti 


und hiezu fann der Staat wiederum nicht Eräftiger wirken ale dadurch, daß 
er alle religiöfen Geſellſchaften in feinem Umfreife fi) in ihrem Gebiet mit 
der vollkommenſien Freiheit bewegen läßt. Dieſe Freiheit aber werben fie 
nur fühlen, wenn jene Einmiſchunger aufhören. 

21) ©. 346. Diefer Ansftchhung, die nur auf einer ſehr mangelhaften 
Srfahrung beruft, Tayn ich nicht mehr beiftimmen. Dean was zuerf We 
Fähigkeiten betrifft, fa ſcheint es freilich, nls ob das Volk und bie gebildetes 
nur einen ſehr ungleichen Genuß Haben fünnten von einer religiöfen Mittgels 
lung, an welche nach der oben gemachten Forderung ber ganze Schmutf ver 
Sprache gewendet iſt. Aber alle wahre Beredſamkeit muß duchans zoll 
mäßig fein, und wie es nur Verkünſtelung if, wenn der Redner, fci es zus 


—— m CE 3 DB m 3 m A A 


379 


m ter Wahl ber Auspräffe oder and der Gedankenverbindungen, anf eine 
ser Mehrheit unangemefliene Weife verführt, fo müflen auch die gebildeten an 
iner durchaus volksmäßigen Dietion können geleitet werden. Cine Theilung 
ser Zuhörer aljo in Bezug auf die Fähigkeiten forbert nicht die Natur der 
Bache, fendern nur Dad Bewußtſein der Unvollfommenheit in den Künftlern, 
and cs iſt nur cine verfchichene Unvollfommenheit, wenn ber eine befler für 
das Volk redet, und der andere für die höhern Stände. Was aber zweitens 
>ie Einnesart betrifft: jo ift freilich nicht zu laͤugnen, daß bier die Verſchie⸗ 
Denheiten in der IZuhörerjchaft mar in fehr enge Grenzen dürfen eingefchloflen 
rein, wenn eine religiöfe Mittheilung einen beventenden und erfrenlichen Er⸗ 
Folg haben foll. Aber die Voransſezung ift wol unrichtig, dag in einer übris 
zens zufammengehörigen und in ein gemeinfames Leben verflochtenen Menge 
rehr verfchiedene religiofe Eigenthümlichkeiten fich herausbilden follten, und 
kwar fo wunderbar verfchieten, daß fie auf der einen Seite nicht kraͤftig ge⸗ 
mag fein follten, um eine eigne religiöfe Gemeinfchaft zu erzeugen, auf ber 
andern aber dech zu Ichhaft ausgefpredyen, um fich eine verſchiedenartige re⸗ 
Läigiöfe Mittheilung aneignen zu können. Höchftens in großen Städten kon⸗ 
men fo verichiedene Elemente in einen engen Raum zufammengeweht fein, 
und da hat auch jeder große Leichtigkeit in der Answahl religiöfer Darftel- 
lungen, an denen er fich ftürfen und beleben kann. Betrachtet man aber das 
Wolk in Bezug auf die auf der folgenden Seite erwähnten verfchiedenen For⸗ 
men ber Frömmigfeit, und was für andre man fonft noch möchte hinzuthun 
Fönnen: fo wird man immer finden, daß in ganzen Gegenden viele Genera- 
tionen hindurch das religiöfe Leben fi) in der einen überwiegend myſtiſch ges 
Naltet, in der andern mehr an der Gefchichte haftet, in einer dritten die ver- 
Nandige Reflerion verwalten läßt. Ausnahmen aber find felten, fondern bie 
micht nach ven herrfchenden Typus religiös find, find es überhaupt weniger. 
Senn alfo nur der bunteren Welt in den großen Stäbten jene Leichtigkeit 
wer Auswahl nicht verfünmert wird durch 'einfeitige Vorliebe der verwalten: 240 
wen, und auf der andern Seite alle religiöfen Redner nur nad) Achter Volks⸗ 
wmöäßigfeit fireben: fo würe, was biefen Funft betrifft, unfer gegenmwärtiger 
Zuftand leidlich genug. 

22) ©. 348. Es wird hier als etwas durchaus nothwendiges angefehen, 
daß der Staat außer dem, was durch jede religiöfe Gemeinſchaft ohnedies 
ven felbft geichieht, und gieichviel, ob in einem Staat nur eine ſolche beſteht, 
welcher er unumfchrinft vertraut, ober ob mehrere, zwifchen benen er fein 
Vertrauen gleich oder ungleich vertheilt, auf jeden Fall noch ein befonderes 
Bildungsinftitut anlegen muß, fei ed nun nur für bie jüngere Öeneration oder 
auch für den rehern Theil des Volkes; und in diefer Behauptung liegt: zu: 
gleich des Redners Entſcheidung über eine vielbefprochene Frage, nämlid das 
Berhältnig von Staat und Kirche zu dem, was wir im weiteſten Umfang 
des Wortes Schule nennen. Seine Eutſcheidung naͤmlich ift, wenn früher 
gefagtes mit berüfffichtiget wird, diefe, daß eines Theils der Staat fi im; 
merhin auf die religiöfen Gemeinfchaften in dieſer Hinficht verlaflen möge, 

und fo weit ex ſich auf fle verläßt, müfle ex fie dann auch gewähren laſſen 


> 


3 


380 | | 


und fich mit einer negativen Aufficht aber ihre Anftalten begnügen; ein | 
andern Theil der Schule aber gezieme ihm felbft anzulegen und zu verforge. :) 
Diefe Entfcheitung möge bier noch in etwas erörtert und vertreten werben. ‘ 
Wo religiöfe Gemeinfchaft irgend einer Art ift, da iſt auch in den Häuſen 
eine gleichförmige Iucht um die Sinnlichkeit zu zähmen, dag bas Grwade |. 
bes höhern geiftigen Lebens durch fie nicht gehindert werde, und biefe Tommt | 
in alle Wege dem bürgerlichen Lehen zu Statten. Wenn aber der Sta !' 
noch eine befondere Zucht braucht um zeitig in feinen Bürgern gewifle Ge | 
wöhnungen zu begründen: fo geht eine folche aus ver religiöfen Gemeinſchaft — 
nicht hervor. Iſt nun über die Nothwendigkeit derſelben ein richtiges Gefühl I 
allgemein verbreitet: fo kann fich auch in dieſer Hinficht der Staat anf das ;! 
jenige verlaflen, was die Bamilien thun, nur nicht fofern fie Elemente we : 
religiöfen, fondern fofern fie Elemente der bürgerlichen Gefellfchaft find. J x 
ein ſolches Gefühl nicht verbreitet genug, fo muß der Staat öffentliche ergän | 
zende Vorfehrungen treffen. Hierhin nun gehört alles gymnaſtiſche ‚in ber 
Erziehung, welches niemals von der Kirche ausgehen fann, und and nik 
den Schein haben darf von ihr auszugehen, weil es ihr völlig fremb il, I. 
Ferner, Wo ein Syitem religiöfer Mittheilung befteht, da muß auch eine ge j10 
meinfame Unterweifung der Sugend beftehn in allem, was zum Verſtaͤndrij ‚FI 
der religiöfen Sprache und Symbolik gehört; und dies ift eigentlich die kirch⸗ 
liche Gemeindefchnle, welche im Chriſtenthum anf Ueberlieferung ber religids fi 
fen Begriffe und bei den Proteſtanten auf ein wenngleich befchränftes Ben 
ſtehen der heiligen Schrift allgemein ausgeht. Hat nun der Staat das Ber 4 
241 trauen, baß hiermit zugleich eine lebendige Mittheilung fittlicher Begrift 8 
und die Keime einer allgemeinen Berftandesentwiffelung gegeben find: fe ;$ 
fann er fich für diefe Gegenſtaͤnde auf bie Firchliche Schule verlafien. Me * 
ftatiftifche aber, mathematifche und technifche und was fonft noch für allge r 
meines Iugenbberürfnig gehalten werden mag, ft ber kirchlichen Schul -* 
fremd; fondern dies ift die bürgerliche, und muß von ber bürgerlichen Ge * 
meinde befchafft werden. Sind nun Kirchengemeinde und Bürgergemeinde ‚N 
ganz baflelbe: fo können zwar bei vorwaltenden Gründen die Firchliche Schule d 
und die bürgerliche in Eine Anſtalt vereinigt werden, dadurch aber gewinit 
eben fo wenig ber Staat ein Recht zur Leitung ber firchlichen Schule, ale * 
die Kirche ein Recht zur Leitung der bürgerlichen. Endllch, eve religiäft E 
Bemeinfchaft, welche eine foldhe Gefchichte Hat, daß zur Auffaſſung ihre i 
Entwilklung höhere Kenntniſſe erfordert werden, welche in das Gebiet per 3 
Wiffenfhaft und der Gelehrfamfeit gehören, bedarf einer Anftalt zur Erhal⸗ ? 
tung und weitern Ausbildung dieſer Kenntniffe, und dies ift die Firdhlige 
Hochſchule; alle übrigen Wiflenfchaften aber find der Kirche fremd. Beftehen I* 
nun In einem Staat entweder durch ihn oder unabhängig von ihm als freie i 
Körperfchaften allgemeine wiflenfchaftliche Hochichulen; und hat die Kire " 
das Vertrauen, die dort herrfchenden Methoden feien ihrem Bebürfnig ange * 
meflen: fo kann fie es rathſam finden ihre befondere Hochſchule mit jenen ( 
allgemeinen zu verbinden. Su beftimmen aber, ob biefe Verbindung rathfen * 
fei oder nicht, das fan nur der Kirche zukommen und nicht dem Staat om ? 
y 


\ 


381 


jenen wiſſenſchaftlichen Körperfchaften; und eben fo wenig kann, wenn bie 
Berbindung zu Stande kommt, die Kirche weder hierauf ein Recht gründen 
die wiflenfchaftlichen Anftalten im allgemeinen zu beherrſchen, noch auch eigents 
lich das Recht aufgeben, ihre befondere Hechfchule zır beauffichtigen. Wenn 
fi nun Kirche und Staat in Hinſicht auf tie Schule zufammenthun oder 
anseinanderfezen, kann es vernünftigerweife nur nach dieſen Grunbfüzen ge- 
ſchehen. Diefe Grundfäze aber im Berhältnig zu der einen Kirche anzuer- 
fennen, im Berhältnig zu einer andern aber nicht, das ift Die größte Incon⸗ 
fequenz, welche auf dieſem Gebiet begangen werben fann; und die zurüff: 
geſezte Kirche muß darunter nothwendig jo leiden, daß in Ihren lebentigften 
Gliedern ein unheilbares Mißverhältniß zwifchen ihrem religiöfen und ihrem 
politifchen Gefühl entfleht. 

23) Ebendaſ. Wohlgemerft mit jeder ſolchen Verbindung. Und diefe 
Anficht fteht mie noch immer ſeſt, fa um fo fefler als damals je mehr ber 
Bancrnöwürbige Derwirrungen ich aus dieſer Angehörigfeit der Kirche an den 
Staat feitvem habe entitehen ſehen; Verwirrungen an die nıan damals um 
fo weniger denken fonnte, ba eine einzige der Art an der herrfchennen Ge⸗ 
finnung der Zeit fo ſchnell gefiheitert war. Ohne alle Verbindung aber mit 
dem Staat fönnen bie .religiöfen Gemeinfchaften unmöglich bleiben; das zeigt 
ſich felb da, wo fie am alterfteiften find. Das mindefte ift freilich, dag ber 242 

- Staat die religlöfen Geſellſchaften nur eben fo behandelt wie andere Privat: 
gefellichaften, vd. b. dag ex:uls allgemeines Gefelligungeprincip von ihnen 
Kenntnig nimmt, und fidh is Stand fezt einzugreifen, im Ball fie etwas ber 
gemeinfamen Freiheit und: Sicherheit aller nachtheiliges hegen follten. Allein 
mit" dieſem mintejten ift felten abzufommen; das zeigt fich felbfi in Norb- 
amerifa, wo fie am freiften find. Denn je freier die Kirchen find, um deſto 
leichter gefchicht es auch, daß einzelne ſich auflöfen oder mehrere zuſammen⸗ 
wachfen;, und wenn fie auch feinen andern Beſiz haben, als die nothdürftig⸗ 
fin Mittel des Iufammenfeins, fo entftehen dann doch fehwierige Auseinan- 
berfezungen, bei denen der Staat der natürliche Echiedsrichter und Ausgleis 
cher iſt. Hätte diefes und fein anderes Verhältnig beftanden zwijchen Kirche 
und Staat zur Zeit der Kirchenverbeflerung : fo würde jezt nicht der ſonder⸗ 
bare Fall ftatt haben, daß in größtentheils proteftantifchen Ländern bie fa- 
tholifhe Kirche äußerlich wohl ausgeftattet und ficher geftellt wird, die evan⸗ 
gelifche aber auf einen wanbelbaren und oft nur fehr zweidentigen guten 
Willen verwiefen bleibt. Jede hierüber Hinausgehende Verbindung aber zwi⸗ 
fhen Kirche und Staat, wie fie aus den oben befchriebenen Combinationen 
entfiehen können, folfte ihrer Natur nach immer nur als ein vorübergehendes 
PBrivatabfommen angefehen werden. Je mehr es nun dergleichen giebt, deſto 
mehr wird e8 tas Anfehen gewinnen, daß eine Kirchengemeinfchaft innerhalb 
eines Staates ein engeres ganze als Lanbesfirche bildet, und von ihren 
Glaubensgenofien in andern Staaten fi mehr ablöft. Je weniger es der: 
gleichen Abkommen giebt, um befto mehr fann eine Kirchengemeinfchaft, über 
wie viele Staaten fie auch verbreitet fei, als cin ungetheiltes ganze erfcheis 
nen, und alfe tie Unabbängigfeit der Kirche von Staat deflo flärfer Ins 


382 ‘ 


«ht treten. Alle innerhalb diefer Grenzen beftehenden Verhältnifie zwiſchen 


beiden find zuläffig, und es gehört alfo auch zur Vollſtaͤndigkeit, daß fie alle 
irgendwann und wo geſchichtlich befichen. Was hingegen darüber hinaus 
geht, ift vom Nebel. 


24) Ebendaf. Dieſe Berwerfung alles nähern Zuſammenhanges unten , 


den Gemeinden deſſelber Glaubens und aller feftgefchluffenen religiöfen Xer 


bindungen ift wur dadurch motivirt, daß jede beftehende Kirche nur als ein. 


äußerer Anhang der wahren Kirche, nicht als ein lebendiger Beſtandtheil ber: 
felben angeſehen wird, und alfo auch nur in ſofern richtig, ala die Voraus 
fezung felbit richtig if. Wenn ich daher, ſeitdem ich diefes ſchrieb, mid) ali 
einen eifeigen Vertheidiger der Synodalverfaſſung, welche unter diefer Ber 
werfung offenbar auch begriffen ift, beiviefen habe: fo kommt dies naher, daj 
ich einestheild von dee Vorausſezung ſelbſt abgegangen bin und durch er 
freuliche Erfahrungen ſowol ald Beobachtungen bie Meberzeugung gewonnti 


2as habe, daß wahrhaft gläubige und fromme in hinreichender Anzahl in unfen 


Gemeinden vorhanden find, nnd daß es lohnt ihren Einfluß auf die übrigen 
moͤglichſt zu verftärken, welcher unftreitig die natürliche Folge wohlgeorbneter 
Verbindungen if, Anderntheils aber giebt auch das Leben in unferer Zeit 
ſehr bald die Anficht, daß jeve Verbeflerung, wenn fie gebeihen foll, ven allen 
Seiten zugleich eingeleitet werden muß, und dazu gehört nothwendig, daß 
man die Menfchen in manchen Beziehungen behandle, als wären fie fchen 
das, wozu fie erft follen gemacht werden. Denn font findet man immer 
noch nothmwendig zu warten, und niemals möglich anzufangen. — Weil aber 
nach meiner Anficht die Befugniß zu folchen genauern Verbindungen nur 
darauf beruht, dag die Theilnehmer Glieder der wahren Kirche find, in wel 
cher der Gegenfag zwifchen Brieftern und Laien nur momentan beftcht und 
nie bleibend fein Tann, werde ich auch immer nur eine folche Verfaſſung ver: 
theidigen können, die auf dieſer Sleichfezung beruht, und eine andere kann 
es auch in der evangelifchen Kirche niemals geben. Wo Synodalvereine 


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bloß der Geiftlihen unter fich flatt finden, da erfcheinen auch dieſe nur ent 


weder im Auftrag des Staates gutachtlich berathend, oder die Bereinigung 
ift mehr eine litterarifche und freundfchaftliche als kirchliche und verfaffunge 
mäßige. Nur der katholiſchen Kirche ziemt eine verfaflungsmäßige Priefler 


herrſchaft; denn der Grundſtein dieſer Kirche ift die höhere perſönliche rel 


giöfe Würde der Priefter, und der Grundfaz, daß die Laien nur durch Bers 
mittelung von jenen fih ihres Antheils an ven Gütern der Kirche erfreuen. 
Noch genauer hängt die lezte am dieſer Stelle gewagte Behauptung, daß and 
zwiſchen Lehrer und Gemeinde fein äußerlich feſtes Band ftattfinden foll, mit 
jener Vorausfezung zufammen, daß vie Gemeinden zur Religion erft follen 
geführt werden. Denn diefes kann freilich nur unter der Bedingung der vell- 
fommenften Freiwilligkeit gelingen. Wer fell aber denn dus äußerliche Band 
fliegen? Weder der Staat noch eine Corporation von geifllichen darf es 
thun, weil fonft die, Freiwilligkeit nicht flatt findet; die Gemeinden aber für 
nen es nicht, weil fie Fein Urtheil haben fünnen über diejenigen, die ihnen 


erſt die Fähigkeit mitteilen follen den Werth werauf es bier aukommt zu. 


383 


fchäzen, daher 'auf eine richtige Weiſe ein ſolches Band nur geſchloſſen wer- 
den und fefthalten fann, wo in den Gemeinden ſchon der Geift der Brömmig- 
keit vorausgefezt werden darf, und wo diejenigen, welche das Urtheil leiten 
und begränzen fönnen, ſchen als aus der Mitte der Gemeinde hervorgegun: 
gen anzufehen And. Hierin liegen zugleich die Principien, um zu beftinnmen, 
wie feft in den verſchiedenen Berhültniffen diefes Band fchen fein darf, oder 
wie frei man es noch laſſen muß. 


25) ©. 349. cher die Grenzen der bindenden Kraft, welche die Sym⸗ 
bole ausüben, Habe ich mich vor kurzem, wicwol nur in Beziehung auf die 
evangelifche Kirche, ausführlicher erflärt. Unheilig nenne ich hier diefe Bande, 
wenn ed damit auf die gewöhnliche Weife gehalten wird; und dieſer Meis 
nung bin ich noch immer. Denn unheiliger ift dem frommen nichts ala der 
Unglaube, und diefer iſt es, von dem eine rechte Fülle bei ver Marime zum 
Grunde liegt, tie Religionslehrer ja fogar die Lehrer ver Theologie an den 
Buchſtaben der Bekenntnißſchriften zu binden. Es ift Unglaube an die Ge⸗ 
walt des firchlichen Gemeingeiftes, wenn man nicht überzeugt iſt, das freud⸗ 
arlige in einzelnen werde ſich durch die lebendige Kraft des ganzen entweder 
affimiliren oder eingehüllt und unfchäblih gemacht werben, fondern meint 
eine äußere Ocwalt nöthig zu haben, um es auszuſtoßen. Es ift Unglauben 
an die Kraft des Mortes Chriſti und des Beiltes ver ihn verklürt, wenn 
man nicht glaubt, dag jede Zeit von felbft fh ihre eigne angemeflene Er⸗ 
Hirung und Anwendung befielben bilde, fendern meint, man müſſe fih an 
das halten, was eine frühere Zeit hervorgebracht, da uns ja jezt nicht mehr 
begegnen faun, daß der Geiſt der Weiſſagung verſtumme, und da die heilige 
Schrift felbft diefes nur geworben ift und bleibt durch Die Kraft des freien 
Slanbens und nicht durch eine äußere Sanction. 


36) ©. 350. Das Gefühl, daß cs mit den Firchlichen Angelegenheiten 
nicht auf demfelben Punkt bleiben Fonne, anf welchem fie in dem größten 
Theile won Deutfchland damals flanden und auch größtentheils noch flehen, 
ift wel feitden viel allgemeiner geworden und viel beſtimmter andgebilbet ; 
aber wie fich die Sache wenden werde, ift noch nicht viel deutlicher zu fehen. 
Nur fe viel läßt fich wol vorherſehen, wenn unfere evomgelifche Kirche nicht 
bald in eine Lage verfegt wird, daß ſich ein frifcher Gemeingeiſt in ihr ent- 
wiffeln kann, und wenn Lie befchränfende Bchandlung unferer Hochſchulen 
und umfcres öffentlichen geiltigen Verkehrs noch länger fortgefezt wird: fo 
find die Hoffnungen, denen wir uns für dieſes Gebiet überlaffen gu Fönnen 
glaubten, nur taube Blüten gewefen, und die ſchöne Morgenröthe der lezten 
Zeit hat nur Unwetter bedeutet. Es werten dann lebendige Srömmigfeit 
und fecifinniger Muth aus dem geiſtlichen Stande immer mehr verfchwinten, 
Herefchaft des tedten Buchſtaben von oben, ängftliche geiftlefe Sektirerei von 
unten, werden fich einander immer mehr nähern, und aus ihrem Iufammen- 
flog wird ein Wichelwind entftehn, der viel rathlefe Seelen in bie aufgefpann- 
ten Garne bes Sefuitismus bineintreibt, und den großen Haufen bis zur 
gänzlichen Gleichgültigkeit abftumpft und ermüdet. Die Zeichen die Dies vers 


384 


fünden find deutlich genug; aber ausfprechen ſollte doch jeder bei jeder Gel, 
legenheit, daß er fie fieht, zum Zeugniß über die, die ihrer nicht achten. |5 
27) ©. 352. Diefe Befchränfung wird vielen zu eng fcheinen. Cie|y 
fehr gründliche und entwiffelte Geiftesbildung, eine reihe innere Erfchrum |y 
245 fann fehr wohl da fein, wo die theologischen Wiſſenſchaften fehlen, welche W |y 
unerlaßliche Bedingung des Firchlichen Lehramts find. Sollen fih nun folk ıy 
Gaben ganz auf den engen Kreis des häuslichen Lebens mit ihrer veligiöfe |y 
Wirkſamkeit befchränfen? Könnten und ſollten nicht ſolche Menfchen, wenn ke I 
auch den öffentlichen religiöfen Berfammlungen nicht vorfiehen dürfen, ver 
noch in freieren- größeren Kreifen wirfen durch das Ichendige Mort? mi hr 
follte man fie nicht auf die ungemeffene Wirkfamfeit verweilen, welche fie fd * 
durch das geſchriebene Wort verſchaffen können? Hierauf habe ich zweierli 
zu antworten. Zuerſt, bag ſich an das häusliche Leben von ſelbſt alles au |, 
ſchließt, was als freie Gefelligfeit dem Bamilionzufammenhang am nähe |. 
fieht, und daß ba den Charakter eines freifinnigen religiofen Lebens barzule I, 
gen eine nicht geringe aber noch Immer weder genug verftandene noch genug iy, 
geübte Aufgabe if. Wäre fie es, fo Fönnte unmöglih in einem großen |, 
Theile von Deutfchland und namentlih von den höhern und feinern Geſell u 
fchaftsfreifen ein fo ſchneidender Widerfpruch flattfinden zwiſchen dem In 
tereffe, was an religiöfen Formeln und theologifchen Streitigkeiten genommen 
wird, und einem häuslichen und gefelligen Leben, in welchem fich Feine Spur 
eines entfchieden religiöfen Charakters zeigt. Hier ift alfo noch ein großes 
Gebiet, auf welchem fih der fromme Sinn bewähren fann. Aber größer 
über die Grenzen und die Natur des gefelligen Lebens hinausgehende relk 
giöfe Zuſammenkünfte, die aber doch nicht die Abzweffung haben im vollen 
Sinn eine eigne Gemeine zu bilden, kurz eigentliche Conventiculn bleiben 
immer unjelige Mitteldinge, die zur wahren Förderung der Religion von je 
her wenig ever nichts beigetragen haben, wol aber krankhaftes bald erzeugt 
bald wenigftens gehegt. Zweitens, was die religiöfe Thätigkeit durch das 
gefchriebene Wort betrifft: fo wäre es allerdings fehr übel, wenn auch viele 
der geiftliche Stand als cin Monopol befizen follte, ja auch nicht einmal das 
fcheint mir mit dein Geift der evangelifchen Kirche verträglich, wenn er ein 
allgeneine Genfur darüber ausüben ſollte. Die größte Freiheit muß bie 
allerdings ftattfinden; aber ganz verfchieden find die Fragen, ob ein jeder foll 
feine ‚religiöfen Anfichten und Stimmungen anf diefem Wege mittheilen bir: 
fen; und ob es fehr rathjam ift daß dies häufig gefchehe. Und das lezte if 
gar fehr zu bezweifeln. Der Nachtheil aus der Fluth mittelmäßiger Romane 
und Kinderfchriften ift nicht entferut zu vergleichen mit dem aus der Maſſe 
mittelmäßiger religiöfer Schriften. Dean diefe find offenbar eine Entheil: 
gung, jene nicht. Und viel leichter füllt Hier auch ein ausgezeichnetes Talent 
in das mittelmäßige. Denn was hier anziehn und fih Bahn machen foll, 
ift die fubjective Auffafiung allgemein befannter Gegenftände und Berhält: 
nifie, und das fann nur gelingen bei einem hohen Grade naiver Originalk 
tät, ever bei einer wahren Begeifterung, fomme fie aus der innerſten Tiefe 
‚246 eines im fich abgefchloffenen Gemüthes, oder aus der vrregenben Kraft eineh 


388 


großartig bewegten Lebens. Ohne dieſe Mittel aber kann immer nur mittel⸗ 
mäßiges zu Stande fommen. Anders ift es mit ber beftimmten Gattung 
Des religiöfen Liedes. Dieſe ift unter uns fehr überwiegend von Laien aus 
allen Ständen bearbeitet worden, und vieles was ein firenger Richter nur 
wittelmäßig nennen würde, ift in den firchlichen Gebrauch übergegangen, und 
Hat dadurch eine Art von Unfterblichfeit erlangt. Allein hier wirfen zweier- 
Sei Umftände mit. Gincötheils Hat jedes kirchliche Liederbuch nur ein fehr 
Kefchränftes Gebiet, und hier kann manches gut fein, was nicht alle Cigen⸗ 
ſchaften hat, welche die abfolute Deffentlichfeit erfordert. Diele von dieſen 
Broductionen würden gewiß längft untergegangen und vergeflen fein, wenn 
We fidy als reine ſchriftſtelleriſche Werke hätten erhalten follen. Anderntheils 
aber. wiıft bei dem öffentlichen Gebrauch diefer Gattung noch fo viel anderes 
wmit, fo daß der Dichter die Wirkung nicht allein hervorzubringen braud)t, 
fendern er wird unterftügt durd den Tonfünftler, durch welchen mehr oder 
Weniger alles mitflingt und wirft, was auf diefelbe Weiſe gefezt und allen 
Befannt ift; er wird unterflüzt ducch die Gemeine, weldye ihre Andacht mit 
in die Ausführung hineinlegt, und durch den Liturgen, der dem Werk des 
Dichters in einem größern Iufammenhange feine rechte Stelle anweifet. 


— — 


Fünfte Rede 


Ueber die Keligionen. 


247 Das der Menfch in der unmittelbarften Gemeinfchaft -mit dem 
höchften begriffen ein Gegenftand der Achtung ja ber Ehrfurdt 
für Euch alle fein muß; daß Feiner, der von jenem Zuflande 
noch etwas zu verftehen fähig ift, fich bei der Betrachtung: befiek 


J 
J 


ben dieſer Gefühle enthalten kann: das iſt über allen Zweifel 


hinaus. Verachten mögt Ihr jeden, deſſen Gemüth Teicht und 
ganz von Pleinlichen Dingen angefült wird: aber vergebens wer 
det Ihr verfuchen den gering zu fehägen, der das größte in ſich 


faugt und fi davon nährt. Kieben oder haffen mögt Ihr jeden, 


je nachdem er auf der befchränkten Bahn der Thaͤtigkeit und der 
Bildung mit Euch oder gegen Euch geht: aber auch das ſchoͤnſte 
Gefühl unter denen, die fih auf Gleichheit gründen, wird nicht 
in Euch haften können, in Beziehung auf den, welcher fo weit 
über Euch erhaben ift, ald derjenige der in der Welt das höchfle 


Weſen fucht über jedem fleht, der fich nicht mit ihm in demfels 


ben Zuftande befindet. Ehren müßt Ihr, fo fagen -Eure weife 


fien, auch wider Willen den tugendhaften, der nach den Geſezen 


der fittlichen Natur das endliche unendlichen Forderungen gemäß 
zu beſtimmen trachtet: aber wenn es Euch auch möglich wäre in 
ber Tugend felbft etwas Tächerliches zu finden, wegen des Ge 
genfazes befchränfter Kräfte mit dem unendlichen Beginnen; fo 
würdet ihr doch demjenigen Achtung und Ehrfurcht nicht verfe 


44 
x 


387 


gen koͤnnen, beffen Organe bem Untverfum geöffnet find, und ber, 24 
fern von jedem Streit und Gegenfaz, erhaben über jeded unvoll⸗ 
endbare Streben, von den Einwirkungen deffelben durchdrungen 
und eins mit ihm geroorden, wenn Ihr ihn in diefem Föftlichften 
Moment des menfchlichen Dafeins betrachtet, den himmlifchen 
Strahl unverfälfcht auf Euch zurüffwirft. Ob alfo die Idee, 
welche ich Euch gemacht von dem Wefen und Leben der Reli: 
gion, Euch jene Achtung abgenöthigt hat, die ihr falfchen Vor: 
ſtellungen zufolge, und weil Ihr bei zufälligen Dingen verweiltet, 
fo oft von Euch verfagt worden iſt; ob meine Gedanken über 
ben Zufammenhang bdiefer und allen inmwohnenden Anlage mit 
dem was fonft unferer Natur vortreffliches und göttliched zuge: 
theilt if, Euch angeregt haben zu einem innigeren Anfchaun un: 
fered Seins und Werdens; ob Ihr aus dem höheren Stand: 
punft, den ich Euch gezeigt habe, in jener fo fehr verfannten 
erhabneren Gemeinfchaft der Geifter, wo jeder, den Ruhm feiner 
Bilfür, den Alleinbefiz feiner innerften Eigenthümlichkeit und 
ihres Seheimnified nichts achtend, fich freiwillig hingiebt um ſich 
anfchauen zu laffen ald ein Werk des ewigen und alles bildens 
den Weltgeiſtes; ob Shr in ihr nun das allerheiligfte ber Gefel: 
ligkeit bewundert, das ungleich höhere ald jede irdifche Werbin- 
dung, das heiligere als felbit der zarteſte Freundſchaftsbund ein: 
zeiner fittlicher Gemüther; ob aljo die ganze Religion in ihrer 
Unendlichkeit in ihrer göttlichen Kraft Euch. hingeriffen hat zur 
Anbetung: darüber frage ich Euch nicht; denn ich bin der Kraft 
des Gegenftanded gewiß, der nur aus feinen entjlellenden Ver⸗ 
büllungen befreit werden durfte, um auf Euch zu wirken. Jezt 
aber babe ich zulezt ein neues Geſchaͤft auszurichten, und einen 
neuen Widerftand zu befiegen. Ich will Euch gleichfam zu dem 
Gott, der Zleifch geworden iſt, hinführen; ich will Euch die Reli: 
gion zeigen, wie fie fich ihrer Unendlichkeit entäußert hat, und in 
oft dürftiger Geflalt unter den Menfchen erichienen iſt; in ben 
Religionen folt Ihr die Religion entdeften; in dem, was tunmer 
Bbr 


388 


249 nur irbifch und verunreinigt vor Euch flieht, die einzelnen Züge | 
berfelben himmlifchen Schönheit auffuchen, deren Geftalt ich ab 
zubilden verfucht habe. J 

Wenn Ihr einen Blikk auf den gegenwärtigen Zuſtand be L 
Dinge werft, wo die Spaltungen der Kirche und die Verſchie J 
denheit der Religion faſt uͤberall zuſammentreffen, und beide in | 
ihrer Abſonderung unzertrennlich verbunden zu fein ſcheinen; w 
ed fo viel Lehrgebaͤude und Glaubensbekenntniſſe giebt als Kir: 
hen und religiöfe Gemeinfchaften: fo Eönntet Shr leicht verleitet 
werden zu glauben, Daß in meinem Urtheil über die Vielheit de 
Kirche zugleih auch das tiber die Wielheit der Religion ausge 
fprochen fei; Ihr würdet aber darin meine Meinung gänzlid 

“ mißverftehen. Sch habe die Vielheit der Kirche verdammt: aber 
eben indem ich aus der Natur der Sache gezeigt habe, daß hier 
alle ſtreng und gänzlich trennenden Umriffe fich verlieren, alk 
beftimmte Abtheilungen verichwinden, und alles nicht nur dem 
Geiſt und der Theilnahme nah Ein ungetrennteds ganze fein, 
fondern auch der wirkliche Zufammenhang fich immer größer aub 
bilden und immer mehr jener böchften allgemeinen Einheit nd 
bern fol, fo habe ich überall die Wielheit-der Religion und ihr 
beftimmtefte Verſchiedenheit als etwas nothwendiged und unver 
meidliches voraudgefezt. Denn warum follte die innere wahr 
Kirche Eins fein? Nicht auch darum, damit jeder anfchauen und 
ſich mittheilen laffen Fönnte die Religion des andern, die er nid 
als feine eigene anfchauen kann, weil fie als in allen einzelnen 
Regungen von der feinigen verfchieden gedacht wurde? Warum 
folte auch die Außere und uneigentlich fogenannte Kirche nur 
Eine fein? Darum, damit jeder in ihr die Religion in der Ge 
ftalt auffuchen Eönnte, die dem fchlummernden Keim der in ihm 
liegt die angemeffene iſt, welcher alfo wol von einer. beftimmten 
Art fein mußte, wenn er doch nur durch diefelbe beflimmte Art 
befruchtet und erwekkt werben kann. Und unter diefen verfchie 
denen Erſcheinungen der Religion Eonnten eben deshalb nict 


— Be Ci u 4— vJ 


en gr 


EEE GP" Voss 4 Ve Cr Te _ | 


389 


etwa nur Ergaͤnzungsſtuͤkke gemeint fein, ‚die bloß numerifch und 
ber Größe nach verfhieden, wenn man fie zufammenbrächte ein 250 
gleichförmiged und dann erft vollendeted ganze ausgemacht hät: 
ten; denn alödann würde jeder in feiner natürlichen Fortſchrei⸗ 
tung von felbft zu demjenigen gelangen, was des anderen ift; 
bie Religion, die er fich mittheilen läßt, würde ſich in die feinige 
verwandeln, und mit ihr Eind werden, und die Kirche, biefe 
jedem religiöfen Menfchen, auch zufolge der angegebenen Abficht, 
als unentbehrlich fich darftelende Gemeinfchaft mit allen glaͤubi⸗ 
gen, waͤre nur eine interimiſtiſche und ſich ſelbſt durch ihre eigne 
Wirkung nur um ſo ſchneller wieder aufhebende Anſtalt, wie ich 
ſie doch keinesweges will gedacht oder dargeſtellt haben. So 
habe ich die Mehrheit der Religionen vorausgeſezt, und eben ſo 
finde ich ſie im Weſen der Religion begruͤndet. 

So viel ſieht jeder leicht, daß niemand alle Religion voll: 
kommen in fich felbft befizen kann; denn der Menfch ift auf eine 
gewiſſe Weife beftimmt, die Religion aber duf unendlich viele be: 
flimmbar; allein eben fo wenig kann aud das Euch fremd fein, 
daß fie nicht etwa nur theilweife, fo viel eben jeder zu faflen 
vermag, und aufs Gerathewohl unter den Menfchen zerſtuͤkkelt 
fein kann, fondern daß fie fich in Erfcheinungen organifiren 
muß, welche mehr von einander verfchieden und auch mehr ein- 
ander gleich find. Erinnert Euch nur an die mehreren Stufen 
der Religion, auf welche ich Euch aufmerffam gemacht habe, daß 
nämlich die Religion deſſen, dem bie Welt fich ſchon als ein les 
bendiges ganze zu erkennen giebt, nicht eine bloße Fortſezung fein 
kann von der Anficht deflen, der fie nur erfi in ihren feheinbar 
entgegengefezten Elementen anfchaut, und baß dahin, wo biefer 
fteht, wiederum derjenige nicht auf feinem bisherigen Wege ges 
langen kann, dem das Univerfum noch eine chaotifche und unges “ 
fonderte VBorftelung ift. Ihr mögt dieſe Verfchiedenheiten nun 
Arten oder Grade der Religion nennen: fo werdet Ihr doch zu- 
geben müflen, daß fonft überall wo es ſolche BVerfchiedenheiten 


B 


390 


giebt, das heißt wo eine unendliche Kraft ſich erſt in ihren Dan | 
251 flellungen theilt und fondert, fie fich auch in eigenthümlichen und |. 
verfchiedenen Geftalten zu offenbaren pflegt. Ganz etwas ande |! 
iſt es alfo mit der Vielheit der Religionen, ald mit der der Kirce || 
Denn das Wefen der Kirche ift ja diefed, daß fie Gemeinfcaf |‘ 
fein will. Alfo kann ihre Grenze nicht fein die Einerleiheit be b 
religiöfen, weil es ja eben das verfchiebene-ift, welches in Gr || 
meinſchaft fo gebracht werden ). Sondern wenn Ihr mein J 
woran Ihr auch offenbar ganz recht habt, daß auch fie in da 
Mirklichkeit nie völlig und auf gleiche Weile könne Eins wer | 
ben: fo kann dies nur darin gegründet fein, daß jede wirklich in 1 
Zeit und Raum beftehende Gemeinfchaft ihrer Natur nach be 1 
grenzt ift, und in fich felbft zerfällt, weil fie zu fehe abnehmen 
müßte an Innigkeit, wenn fie ungemefjen zunähme an Umfang. | 
Die Religion hingegen fezt grade in ihrer Vielheit die moͤglichſte 
Einheit der Kirche voraus, indem fie nicht minder für die Ge 
meinfchaft als für den einzelnen felbft fich in diefem auf das be 
flimmtefte auszubilden firebt. Ihr felbft aber ift dieſe MWielhelt 
nothwendig, weil fie nur fo ganz erfcheinen-Tann. Sie muß ein 
Princip fich zu individualifiren in fi haben, weil fie fonft gar 
nicht da fein und wahrgenommen werben Fünnte. Daher müffen 
wir eine unendliche Menge beftimmter Formen pofluliren und . 
auffuchen, in denen fie fich offenbart, und wo wir etwas finden 
was eine ſolche zu fein behauptet, wie denn jede abgefonberte 
Religion fich dafür ausgiebt, müffen wir fie darauf anfehn, ob 
fie diefem Princip gemäß eingerichtet ifl, und müflen uns bann 
dad, wodurd fie ein befonderes fein und darſtellen will, Mar 
machen, fei e8 auch unter welchen fremden Umhuͤllungen verſtekkt, 
und wie ſehr entftelt nicht allein von den unvermeiblichen Ein 
E | wirfungen des vergänglichen, zu welchem das unvergängliche fid 
herabgelaſſen hat, fondern auch von der unheiligen Hand fre 
velnder Menfchen. | 
| Wollt Ihr demnach von ber Religion nicht nur im allge 


391 


‚meinten einen Begriff haben, "und es wäre ja unwärdig, wenn 
Ihr Euch mit einer fo unvollkommenen Kenntnig begnügen 
wolltet; wollt Ihr fie vecht eigentlich in ihrer Wirklichkeit und 282 
in ihren Erfcheinungen verftehen; wollt Ihr diefe felbft religiös 
auffaffen als ein ind unendliche fortgehendes Werk des Geiftes, 
‚ver ſich in aller menſchlichen Geſchichte offenbart: ſo müßt Ihr 
den eitlen und vergeblichen Wunſch, daß ed nur Eine Religion 
geben möchte, aufgeben; Ihr müßt Euren Widerwillen gegen ihre 
Mehrheit ablegen, und fo unbefangen ald möglich zu allen denen 
binzutreten, die fich fchon in der Menfchheit wechſelnden Geftal- 
ten und während ihres auch hierin fortfchreitenden Laufes aus 
dem ewig reichen Schooße des geiftigen Lebens entwikkelt haben. 
Poſitive Religionen nennt Ihr dieſe vorhandenen beftimm: 
ten religiöfen Ericheinungen, und fie find unter dieſem Namen 
ſchon lange der Gegenfland eined ganz vorzüglichen Haſſes ge 
weien; dagegen Ihr bei allem Widerwillen gegen die Religion 
überhaupt, etwas, was Ihr zum Unterfchiede von jenen die na- 
türliche Religion nennt, immer leichter geduldet, und fogar mit 
Achtung davon gefprochen habt. Sch fiehe nicht an, Euch das 
‚innere meiner Gefinnungen bierüber gleich mit einem Worte zu 
eröffnen, indem ich nämlich für mein Theil diefen Vorzug gaͤnz⸗ 
lich abläugne, und erkläre, daß es für ale, welche überhaupt 
Religion zu haben und fie zu lieben vorgeben, die gröbfte In⸗ 
confequenz wäre einen folcyen Vorzug einzuräumen, und daß fie 
dadurch in den offenbarften Widerfpruch mit ſich felbft gerathen 
würben. Ia ich für mein Theil würde glauben alle meine Mühe 
verloren zu haben, wenn ich nichts gewoͤnne ald Euch iene na= 
tuͤrliche Religion zu empfehlen. Für Euch hingegen, welchen bie 
Religion überhaupt zuwider war, habe ich ed immer fehr natür: 
lich gefunden, wenn Ihr zu ihren Gunften einen Unterfchieb 
machen wollte. Die fogenannte natürliche Religion ift gewöhn: 
lich fo abgeichliffen, und hat fo metaphyſiſche und moralifche 
Manieren, daß fie wenig von dem eigenthümlichen Charakter der 


- 392 - 
Religion durchſchimmern läßt; fil weiß fo zuruͤkkhaltend zu Ichen, 
fi) einzufchränfen und fich zu fügen, daß fie überall wohl gelit 

ass ten ift: dagegen bat jede pofitive Religion gewiſſe ſtarke Züg 
und eine fehr Eenntlich gezeichnefe Phyſiognomie, fo daß fie bi‘ 
jeder Bewegung, welche fie. macht, wenn man auch nur eine 
flüchtigen Blikk auf fie wirft, jeden ohnfehlbar an das erinnen, 
was fie eigentlich if. Wenn dies, fo wie es ber’einzige iſt, de | 
die Sache felbft trifft, fo auch der wahre und innere Grund 
Eurer Abneigung ift: fo müßt Ihr Euch jezt von ihr losmachen J 
und ich ſollte eigentlich nicht mehr gegen fie zu ſtreiten babe. ; 
Denn wenn Ihr nun, wie ich hoffe, ein’ günfligered Urtheil übe ' j 
die Religion überhaupt fällt, wenn Ihr einfeht daß ihr eim { 
befondere und edle Anlage im Menfchen zum Grunde liegt, die 1 
folglich auch wo fie fich zeigt muß gebildet werden: fo Tann d ; 
Euch doch nicht zuwider fein, fie in den beſtimmten Geſtalten 
anzuſchauen, in denen fie ſchon wirklich erſchienen iſt, und Iht 
muͤßt vielmehr dieſe um ſo lieber Eurer Betrachtung wuͤrdigen, 
je mehr das eigenthuͤmliche und unterſcheidende der Religion in 
ihnen ausgebildet iſt. 

Aber dieſen Grund nicht eingeſtehend werdet Ihr vielleicht 
alle alten Vorwuͤrfe, die Ihr ſonſt der Religion uͤberhaupt zu 
‚machen gewohnt waret, jezt auf die einzelnen Religionen werfen, 
und behaupten daß grade in dem, was Ihr das pofitive in der 
Religion nennt, dasjenige liegen müffe, was biefe Vorwürfe im 
mer aufs neue veranlaßt und rechtfertigt; und daß eben dedwe 
gen dies die natürlichen Erfcheinungen der wahren Religion wie 
ich fie Euch darzuftellen verfucht habe, nicht fein können. Ihr 
werdet mich aufmerkfam darauf machen, wie fie-alle ohne Unter 
fchied vol find von dem, was meiner eignen Ausfage nad) nicht 
dad Weſen der Religion ift, und daß alfo ein Princip des Ber 
berbend tief in ihrer Gonftitution liegen muͤſſe; Ihr werdet mic 
baran erinnern, wie jede unter ihnen fich für die einzig wahre, 
und gerade ihr eigenthümliched für das fchlechthin hoͤchſte erklaͤrt; 


— — WB a Fin NE WE 32 TE 


393 

wie fie fich von einander grade durch dasjenige als durch etwas 
weſentliches unterfcheiden, was jede fo viel ald möglich von fich 
hinaus thun folte; wie fie ganz gegen die Natur der wahren 258 
Religion beweifen widerlegen und fireiten, es fei nun mit den 
Waffen der Kunft und des Verſtandes, oder mit noch fremderen 
wol gar unmwürdigen; Ihr werdet hinzufügen, dag Ihr grabe in 
wiefern Ihr die Religion achtet und für etwas wichtiges aner- 
Sennet, ein lebhafte Intereſſe daran nehmen müßtet, daß fie bie 
größte Freiheit fich nach allen Seiten aufs mannigfaltigfte aus: 
zubilden überall genieße, und daß Ihr alfo nur um fo lebhafter 
jene beftimmten religiöfen Formen haſſen müßtet, welche alle, bie 
fidh zu ihnen befennen, an berfelben Geftalt und demfelben Wort 
feft halten, ihnen die Freiheit ihrer eignen Natur zu folgen ent: 
ziehen, und fie in unnatürlihe Schranken einzmängen; wogegen 
Ihr mir in allen biefen Punkten die Vorzüge der natürlichen 
Religion vor den pofitiven Fräftig anpreifen werdet. 

Ich bezeuge noch einmal, daß ich in allen Religionen Miß⸗ 
verfländniffe und Entftelungen nicht läugnen will, und daß ich 
gegen den Widerwillen, welchen diefe Euch einflößen, nichts ein: 
wende. Fa ich erfenne in ihnen allen jene viel beflagte Aus⸗ 
artung und Abweichung in ein fremded Gebiet; und je göttlicher 
die Religion felbft ift, um deflo weniger will ich ihr Verderben 
ausſchmuͤkken, und ihre wilden Auswuͤchſe bewundernd pflegen. 
Aber vergeßt einmal dieſe doch auch einfeitige Anficht; und folgt 
mir: zu einer andern. Bedenkt, wieviel von biefem Verderben 
auf die Rechnung derer kommt, welche die Religion aus dem 
innern des Herzend hervorgezogen haben in bie bürgerliche Welt; 
gefteht daß vieled überall unvermeidlich ift, fobald das unendliche 
eine unvollfommene und beichräntte Hülle annimmt, und in das 
Gebiet der Zeit und der allgemeirien Einwirkung endlicher Dinge, 
um fich von ihr beherrfchen zu laſſen, herabfteigt. Wie tief aber 
auch dieſes Berderben in ihnen eingewurzelt fein mag und wie 
jeher. fie darunter gelitten haben mögen: fo bedenkt wenigktens 


304 


auch, daß wenn ed bie -eigentliche veligidfe Anficht aller Ding 
it, aud in dem was und gemein und niedrig zu fein fcheint, 


ass jede Spur bed göttlichen wahren unb ewigen aufzufuchen, un 


auch die entferntefte noch anzubeten, grade dasjenige am wenig 
ften des Vortheils einer folchen Betrachtung entbehren darf, wa 
bie gerechteften Anfprüche darauf hat religiös gerichtet zu werben. 
Jedoch Ihr werdet mehr finden ald nur entfernte Spuren du 
Söttlichkeit. Ich lade Euch ein jeden Glauben zu betrachten, 
zu dem fi) Menfchen bekannt haben, jede Religion die Ihr 
durch einen beflimmten Namen und Charakter bezeichnet, und 


— — 


die vielleicht nun längft audgeartet ift in eine gedankenloſe Folge 


leerer Gebräuche, in ein Syſtem abflracter Begriffe und Theo⸗ 


rien; ob Ihr nicht, wenn Ihr fie an ihrer Quelle und nad 


ihren urfpränglichen Beftandtheilen unterfucht, dennoch finden 


werdet, daß alle todten Schlafen einft glühende Ergießungn : 


ded inneren Feuerd waren, daß in allen Religionen mehr ober 
minder enthalten ift von dem wahren Weſen derfelben, wie id 
es Euch dargeftellt habe; und daß ſonach jede gewiß eine von 
ben beſondern Geſtalten war, welche in den verſchiedenen Gegen: 


ben der Erde und auf den verfchiedenen Stufen der Entwille - 


lung die Menfchheit in biefer Beziehung nothwendig annehmen 
mußte. Damit Ihr aber nicht aufs Ohngefähr in dieſem un 
endlichen Chaos umbherirret — denn ich muß Verzicht darauf 
thun Eud) in demfelben regelmäßig und vollftändig herumzumel- 


fen; e8 wäre das Studium eines Lebens, und nicht das Gefchäft | 


eines Geſpraͤches — damit Ihr ohne durch die herrfchenden un 
richtigen Begriffe verführt zu werden, nach einem richtigen Maaß—⸗ 
ftabe den wahren Gehalt und das eigentliche Weſen ber einzek 
nen Religionen abmeffen, und durch ein beſtimmtes und feſtes 
Verfahren das innere von dem Außerlichen, das eigene von bem 
erborgten und fremden, das heilige von dem profanen fcheiden 
möget: fo vergeßt fürd erfte jede einzelne, und das was für ihr 
harakteriftiiched Merkmal gehalten wird, und fucht von immen 


a5 


395 


heraus erſt eine allgemeine Anficht darüber zu gewinnen, auf 
welche Weiſe eigentlich dad Weſen einer pofitiven Religion aufge: 
foßt und beflimmt werben muß. Ihr werbet alddann finden, 286 
Daß grade bie pofitiven Religionen die beflimmten Geftalten find, 
unter denen bie Religion fich darftelen muß, und daß Eure ſo⸗ 
genannte natürliche gar feinen Anſpruch darauf machen Tann 
etwas ähnliched zu fein, indem fie nur ein unbeflimmter duͤrſti⸗ 
ger und armfeliger Gedanke ift, dem in ber Wirklichkeit nie eigent: 
lich etwas entiprechen. kann; She werdet finden, bag in jenen 
allein eine wahre individuelle Ausbildung der religiöfen Anlage 
möglich ift, und daß fie, ihrem Weſen nach, ber Freiheit ihrer 
Belenner darin gar keinen Abbruch thun. 

Warum babe ich angenommen, daß die Religion nicht an: 
ders ald in einer großen Mannigfaltigkeit möglichft beflimmter 
Formen volfländig gegeben werden Tann? Nur aus Gründen, 
welche fich aus dem von dem Weſen der Religion gefagten von 
felbft ergeben. Nämlich die ganze Religion ift freilich nichts 
anders ald die Gefammtheit aller Verhaͤltniſſe des Menfchen zur 
Gottheit in allen möglichen Auffaffungsweifen, wie jeder fie als 
fein unmittelbares Leben inne werden kann; und in diefem Sinne 
giebt es freilich Eine allgemeine Reiigion, weil e8 wirklich nur 
ein armfeliges und verfrüppelted Leben wäre, wenn nicht überall 
wo Religion fein fol auch alle jene Verhaͤltniſſe vorfämen, Aber 
keinesweges werden alle fie auf diefelbe Weile auffaffen, fondern 
auf ganz verfchiebene, und eben weil nur biefe Werfchiebenheit 
das unmittelbar gefühlte. fein wird und das allein barftellbare, 
jene Zufammenfaffung aller Verfchiedenheiten aber nur das ges 
dachte: fo habt Ihr Unrecht mit Eurer einen allgemeinen Re 
ligion, die allen natürlich fein fol, fondern Feiner wird feine 
wahre und. rechte Religion haben, wenn fie-biefelbe fein fol für 
alle. Denn fchon weil wir Wo find, giebt ed unter diefen er 
haͤltniſſen des Menfchen zum ganzen ein Näher und Weiter, und 
durch diefe Relation zu ben übrigen wird nothwendig jebeö We: 


396 


fühl jedem im Leben ein anders beflimmtes. Dann aber au), 
weil wir Mer find, ift in jedem’ eine größere Empfänglichket 
267 für einige religiöfe Wahrnehmungen und Gefühle vor andem, 
und auch auf diefe Weife ijt jedes überall ein anbered. Nun 
aber kann doch offenbar nicht durch eine einzelne dieſer Bezie 
hungen jedem Gefühl fein Recht wiederfahren, fondern nur durd 
alle insgefammt, und daher eben kann die ganze Religion un 
möglich anderd vorhanden fein, ald. wenn alle diefe verfchiedenen 


—— 


Anſichten jedes Verhaͤltniſſes, die auf folche Art entſtehen koͤnnen 


auch wirklich gegeben werden; und dies ift nicht anders möglih 


ald in einer unendlichen Menge verfchiedener Formen, deren jet 
durch das verfchiedene Princip der Beziehung in ihr hinreichend 
beflimmt, und in deren jeder dafjelbe religiöfe Element eigen: 
thuͤmlich modificirt ift, daS heißt welche fammtlich wahre Indivi⸗ 
duen find. Wodurch nun diefe Individuen befiimmt werben und 
fi von einander unterfheiden, und was auf der andern Seit 
das zufammenhaltende, was das gemeinfchaftliche in ihren Be 
fiandtheilen ift, oder das Anziehungsprincip dem fie folgen, und 
wonach man alfo von jeder gegebenen religiöfen Einzelheit beun 
theilen müßte, welcher Art von Religion fie angehöre, das liegt 
fhon in dem gefagten. Allein von den und geichichtlich vorlie 
genden Religionen, an denen fich doch erftere Anficht allein be 
währen kann, wird behauptet, daß Died alles in ihnen anders 
ſei, und fie ſich nicht fo gegen einander verhielten, und dies mül 
fen wir noch unterluchen. 

Eine beflimmte Form der Religion kann died zuerft unmög 
lic) infofern fein, als fie etwa ein beflimmtes Quantum religid: 
fen Stoffd enthält. — Dies ift eben das gänzliche Mißverſtaͤnd⸗ 
niß über dad Weſen der einzelnen Religionen, welches fich hau: 
fig unter ihre Bekenner felbft verbreitet, und vielfältig gegenſei⸗ 
tige falfche Beurtheilungen veranlagt bat. Sie haben eben. ge 
meint, weil doch fo viele Menfchen ſich diefelbe Religion zueig- 
nen, fo müßten fie auch daſſelbe Maag religiöfer Anfichten und 


397 
Gefühle, und fo auch ihres Meinend und Glaubens Haben, unb 
eben dies gemeinfchaftliche müffe dad Weſen ihrer Religion fein. 
Es ift freilich überall nicht leicht möglich das eigentlich charakte: 
ziftifche und individuelle einer Religion mit Sicherheit zu finden, 2s8 
wenn man fich dabei an das einzelne halten will; aber hierin, 
fo gemein auch der Begriff iſt, kann es doch am wenigften lie: 
gen, und wenn aud Ihr etwa glaubt, daß deswegen die poſi⸗ 
tiven Religionen der Freiheit des einzelnen in der Ausbildung 
feiner Religion nachtheilig find, weil fie eine beſſimmte Summe 
von religiöfen Anfchauungen und Gefühlen fordern, und andere 
ausfchließen, fo feid Shr im Irrthum. Einzelne Wahrnehmun: 
gen und Gefühle find, wie Ihr wißt, die Elemente der Religion, 
und diefe nur fo ald einen zufammengerafften Haufen zu betrachs 
ten, wie viele ihrer und namentlich was für welche vorhanden 
find, das kann und unmöglich auf den’ Charakter eines Indivis 
duum der Religion führen. Wenn fih, wie ih Euch fchon zu 
zeigen gefucht, die Religion deswegen auf vielfache Weife befon: 
ders geflalten muß, weil von jedem Verhaͤltniß verfchiedene Ans 
fichten möglich find, je nachdem es auf die übrigen bezogen wird: u 
fo wäre und freilich mit einem folchen ausfchließlichen Zuſam⸗ 
menfafjen mehrerer unter ihnen, wodurch ja Feine von jenen mög» 
lichen Anfichten beflimmt wird, gar nichtd geholfen; ‚und wenn 
die pofitiven Religionen fi nur durch eine ſolche Ausſchließung 
unterfchieden, fo könnten fie allerdings die individuellen Erfchei: 
nungen nicht fein, welche wir fuchen. Daß dies aber in ber 
That nicht ihr Charakter ift, erhellt: Daraus, weil ed unmöglich 
ift von diefem Gefichtspunft aus zu einem beflimmten Begriff 
von ihnen zu gelangen; und ein folcher muß doch von ihnen 
möglich fein, weil fie in der Erfcheinung beharrlich gefondert find. 
Denn nur. wa3 ineinander fließt, Tann auch im Begriff nicht 
gefondert werden. Denn ed leuchtet ein, daß nicht auf eine bes 
flimmte Weife die verfchiedenen religiöfen Wahrnehmungen und 
Gefühle von einander abhängen und durcheinander erregt werben: 


398 


fondern wie jebed für fich befteht, fo kann auch jedes Durch be | 


verfchiedenfien Gombinationen auf jedes andere führen. Dakt 
‚tönnten gar nicht verfchiebene Religionen lange Zeit neben ein 
aso ander beitehen, wenn fie nur fo unterfchieden wären; ſondern je 
würde fich bald zur Gleichheit mit allen übrigen ergänzen... De 
ber ift auch fchon in der Religion jedes einzelnen Menfchen, wi 
fie fich im Laufe feines Lebens bildet, nichts zufälliger ald die 
in ihm zum Bewußtfein gefommene Summe feined religiöfen 
Stoffe. Einzelne Anfichten können fich ihm verbunfeln, anden 
fönnen ihm aufgehn und fich zur Klarheit bilden, und feine Kr 
ligion ift von Liefer Seite immer beweglich und fließend. Und 
fo kann ja noch viel weniger die Begrenzung, die in jedem ein 
zeinen fo veränderlich ift, das feftflehende und wefentliche in ber 
mehreren gemeinfchaftlichen Religion fein; denn wie höchft zufäk 
(ig und felten muß ed fich nicht ereignen, daß mehrere Menſchen 
auch nur eine Zeitlang. in demfelben beſtimmten Kreife von Wahr 
nehmungen ftehen bleiben, und auf demfelben Wege der Gefühle 
fortgehn 2). Daher ift auch unter denen die ihre Religion fü 
beſtimmen ein beftändiger Streit über das, was zu derfelben we 
ſentlich gehöre, und was nicht; fie wiſſen nicht was ſie als die 
rafteriftifch und nothwendig feftfezen, was fie als frei und zufaͤl⸗ 
fig abfondern follen; fie finden den Punkt nicht, aus dem fie 
das ganze überfehen können, und verftehen die religiöfe Erſchei⸗ 
nung nicht, in der ſie ſelbſt zu leben, fuͤr die ſie zu ſtreiten waͤh⸗ 
nen, und zu deren Ausartung ſie beitragen, eben weil ſie vom 
ganzen derſelben zwar ergriffen ſind, ſelbſt aber wiſſentlich nur 
das einzelne ergreifen. Gluͤkklich alſo daß der Inſtinkt, den ſie 
nicht verſtehen, ſie richtiger leitet als ihr Verſtand, und daß die 
Natur zuſammenhaͤlt, was ihre falſchen Reflexionen und ihr bar: 
auf gegründeted Thun und reiben vernichten würden. Wer 
den Charakter einer befondern Religion in einem beftimmten 
Quantum von Wahrnehmungen und Gefühlen fest, der muß 
nothwendig einen innern und objectiven Zuſammenhang anneb: 


399 


men, ber grade Diefe unter einander verbindet, und alle anderen 
ausſchließt. Und biefe irrige Vorſtellung hängt freilich genau 
genug zufammen mit ber gewöhnlichen aber dem Geift der Re 
ligion gar nicht angemeffenen Art die religiöfen Vorſtellungen 
zufammenzuftellen und zu vergleichen. Ein ganzes nun, welches 260 
wirklich fo gebildet wäre, wäre freilich nicht ein folches wie wir 
es fuchen, wodurd die Religion ihrem ganzen Umfange nach eine 
beflimmte Geflalt gewinnt, fondern ed wäre flatt eined ganzen 
nur ein willführlicher Ausfchnitt aus dem ganzen, und nicht 
eine Religion fondern eine Sekte, weil es faft nur entflehen 
kann, indem es bie ‚religiöfen Erfahrungen eined einzelnen, und 
zwar .auch nur aus einem kurzen Zeitraum feined Lebens zur 
Norm für eine Gemeinfhaft annimmt. — Aber die Formen 
welche die Gefchichte hervorgebracht hat, und welche wirklich vor: 
banden find,. find auch nicht ganze von diefer Art. Alles Sekti⸗ 
sen, es fei nun fpeculativ, um einzelne Anfchauungen in einen 
philofophirenden Zufammenhang zu bringen, ober adcetifch, um 
auf ein Syflem und eine beftimmte Folge von Gefühlen zu brins 
gen, arbeitet auf eine möglichft vollendete Gleichförmigfeit. aller, 
bie an bemfelben Stuff Religion Antheil haben wollen. Wenn 
ed nun denen die von diefer Wuth angeſtekkt find, und benen 
ed gewiß an Thaͤtigkeit nicht fehlt, noch nie gelungen iſt irgend 
eine pofitive Religion bis zur Sekte herabzufezen °): fo werdet / 
Ihr doch geflehen, daß leztere, da fie doc) auch einmal und zwar 
die größten durch einzelne entflanden find, und infofern fie troz 
jener Angriffe noch erifliren, nach einem andern Princip gebildet 
worden fein, und einen andern Charakter haben müflen: Ja 
wenn Ihr an die Zeit denft, wo fie entſtanden find, fo werdet 
Ihr dies noch deutlicher einfehn: denn Ihr werdet Euch erin⸗ 
nem, daß jede pofitive Religion während ihrer Bildung und 
ihrer Blüthe, zu der Zeit alfo wo ihre eigenthümliche Lebenskraft 
am. jugendſlichſten und friſcheſten wirkt, und auch am ſicherſten 
erkannt werben Tann, ſich in einer ganz entgegengeſezten Rich⸗ 


400 
tung bewegt, nicht fich concentrirend und vieles aus ſich außs 


fcheidend, fondern wachfend nach außen, immer neue Zweige treis | 


bend, und immer mehr religiöfen Stoffes fich aneignend, um ihn 


ihrer befondern Natur gemäß auszubilden. Nach jenem fallen . 


261 Princip alfo find fie nicht: gefaltet, es ift nicht eins mit ihrer 
Natur; ed iſt ein von außen eingefchlichened Werderben, und da 
es ihnen eben ſowol zuwider ift, als dem Geift der Religion über: 
haupt, fo kann ihr Verhaͤltniß gegen daffelbe, welches ein immer: 
währender Krieg ift, eher beweilen ald widerlegen, daß ſie ſo 
wirklich gebildet ſind, wie wahrhaft individuelle Erſcheinungen 
der Religion müffen gebildet fein. 

Eben fo wenig konnten jemals jene Berfchiedenheiten in der 
Religion überhaupt, auf welche ich Euch bisher hie und da aufs 
merkfam gemacht habe, oder andere hinreichen um eine durchaus 
und ald ein Individuum befiimmte Form hervoizubringen. Jene 
drei fo oft angeführten Arten des Seind und feiner Allheit inne 
zu werden, ald Chaos, als Syſtem, und in feiner elementariſchen 
Vielheit, find meit davon entfernt eben fo viel einzelne- und be 
ſtimmte Religionen zu fein. Ihr werdet wiffen, bag wenn man 
einen Begriff eintheilt fo viel man will und bis ind unendliche 
fort, man doch dadurch nie auf Individuen kommt, fondern ims 
mer nur auf weniger allgemeine Begriffe, die unter jenen ent 
halten find, auf Arten und .Unterabtheilungen, die wieder eine 
Menge fehr verfchiedener einzelnen unter fich begreifen können: 
um aber den Charakter der Einzelweſen felbft zu finden, muß 
man aus dem allgemeinen Begriff und feinen Merkmalen her: 
audgehn. Sene drei Verfchiedenheiten in ber Religion find aber 
in der That nichts anders als eine folche gewöhnliche und 
überall wiederkommende Eintheilung nach dem allen geläufigen 
Schema von Einheit, Bielheit und Allheit. Sie find alfo Arten 
der Religion, aber nicht religiöfe Einzelmefen,. und dad Bebürfs 
niß, weswegen wir diefe fuchen, würde auch dadurch, daß Reli 
gion auf dieſe dreifache Weife vorhanden ift, gar nicht befriediget 


401 


verten. Es liegt aber auch hinlänglid am Tage, daß wenn 
jleich, wie e8 allerdings fein muß, jede -beflimmte Form der Re: 
igion ſich zu einer von diefen Arten bekennt, fie dadurch Feines: 
veges ‚eine einzelne in fich völlig -beflimmte wird. Denn Ihr 
eht ja auf jedem von diefen Gebieten eine Mehrheit folcher Er: 702 
icheinungen, die Ihr unmöglich für etwa nur dem Scheine nach 
verfchieden halten könnt. Alfo kann ed dieſes W.rhältnig eben: 
falls nicht fein, welches die einzelnen Religionen gebildet hat. 
Eben fo wenig find offenbar der Perfonalismus und die ihm 
entgegengeſezte pantheiftifche Vorſtellungsart in der Religion zwei 
folche . individuelle Formen +). Denn auch diefe gehen ja durch 
alle drei Arten der Religion hindurch, und koͤnnen fchon um des⸗ 
willen feine Individuen fein. Sondern fie find nur eine andere 
Art der Unterabtheilung, indem, was unter jene brei gehört, ſich 
entweder auf diefe oder auf jene Art darftellen fann. Denn das 
wollen wir allerdings nicht vergeffen, worüber wir ſchon neulich 
waren übereingefommen, ‚daß diefer Gegenfaz nur auf der Art 
beruht, wie das religiöfe Gefühl ſelbſt wieder betrachtet, und 
feinen Aeußerungen ein gemeinfamer Gegenftand gefezt wird, So 
dag wenn ſich auch die eine befondere Religion mehr zu biefer, 
die andere mehr zu jener Art der Darftellung und des Ausdruf: 
kes neigt, doch hiedurch unmittelbar auch die Eigenthümlichkeit 
einer Religion eben fo wenig als ihre Würde und die Stufe 
ihrer Ausbildung kann beflimmt werden, Auch bleiben, 0b Ihr 
das eine eder das andere fezt, alle einzelnen Elemente der Reli: 
gion in Abſicht auf ihre. gegenfeitige Beziehung eben- fo unbe: 
flimmt, und feine von den vielen. Anfichten derfelben wird da⸗ 
durch realifirt Daß ber eine oder der andere Gedanke fie beglei- 
tet; wie Ihr dad. an allen religiöfen Darftellungen fehen Fönnt, 
welche rein beiftifch find, und doc für völlig beflimmt möchten 
gehalten fein. Denn Ihr werdet da überall finden, daß alle res 
ligiöfen Gefühle, und befonders — welches der Punkt ift um 
ben fich in dieſer Sphäre alles zu drehen pflegt — die Anſich⸗ 
Schleierm. W. 1.1. St 


402 


ten von den Bewegungen ber Menfchheit: im einzelnen, und ven |In 
ihrer hoͤchſten Einheit in dem was über -ihre Willkuͤr hinamd | 
liegt, in ihrem Werhältniß gegen einander völlig im unbeftimm | 
ten und vieldeutigen fchweben. So find bemnady auch diefe ber rk 
den felbft als Darfielung nur allgemeinere Kormen, welche an ia 
263: mancherlei Weiſe näher beſtimmt und individualifirt werden kin I" 
nen; und wenn Ihr auch eine nähere Beflimmung dadurch ver I 
fuchen wollt, daß Ihr fie mit- einer von den drei beflimmta J 
Arten der Anſchauung einzeln verbindet, fo werden auch biek i 
aud verfchiedenen Kintheilungsgründen ded ganzen zufammengs & 
fezte Formen doch nur engere Unterabtheilungen fein, aber Feind & 
weged durchaus beflinnmte und cinzelne ganze.‘ Alfo weder ba in 
Naturalismus 5) — ich verfiche darunter das Innewerden be x 
Melt, welches ſich auf die elementariiche Vielheit beichränkt ohm %, 
die Vorſtellung von perfönlichem. Bewußtfein und Willen de i 
einzelnen Elemente — noch ber Pantheismus, "weder die Vic i 
götterei noch ber .Deiömus, find einzelne und beflimmte Meligie 
nen wie wir fie fuchen, fondern. nur Arten, in deren Gebiet ga ı; 
viele eigentliche Individuen fich fchon entwilfelt haben, und ned u 
mehrere fich entwiffeln werden *, — y 
Demnach bleibt, dag ichs kurz fage,. fein anderer Weg übrig ie 
wie eine wirklich individuelle Fann zu Stande gebracht word w 
fein, ald dadurch, daß irgend eines von den großen Werhältniffen ke 
der Menfchheit in der Welt und zum hoͤchſten Weſen, auf. eise n 
beftimmte Art, welche wenn man nur auf die Idee der Religimn 1 
fieht ald weine Willkuͤr erfcheinen Tann, fieht man aber auf die r 
Eigenthümlichkeit der Bekenner, vielmehr die reinfle Notwendig } 
keit in fich trägt, und nur der natürliche Ausdrukk ihres MWefend \e 
ſelbſt if, zum Mittelpunft der gefammten Religion gemacht, um 5 
alle übrigen auf diefed eine bezogen werben. Dadurch kommt in 
ſogleich ein beflimmter Geift und ein gemeinfchaftlicher Charafia u 
in dad ganze; alles bekommt fefte Haltung was vorber vielden x 
tig und unbeflimmt wars von den unendlich vielen verfchiedenen 


403 


Anſichten und Beziehungen einzelner Elemente, welche alle mög: 
ich waren, und alle dargeliellt werden follten, wird durch jede 
wiche Formation eine durchaus realifirt; alle einzelnen Elemente 
mfcheinen nun von einer gleichnamigen Seite, von der welche 
wsem Mittelpunkt zugekehrt ift, und alle Gefühle erhalten eben 
Badurd, einen gemeinfchaftlichen Ton, und werden lebendiger und 204 
singreifender in einander. Nur in bes Zotalität aller in einem 
ſolchen Sinne möglichen Formen Tann die ganze Religion wirt: 
läch gegeben werben, und fie wirb alfo nur in einer unendlichen 
Meihe, in verfchiedenen Punkten de$ Raumes fowol ald der Zeit 
ſich allmählig entwikkelnder Geftalten dargeflellt, und nur was in 
Bier von diefen Formen liegt trägt zu ihrer vollendeten Erſchei⸗ 
mung etwas bei. Sede folche Seftaltung der Religion, wo in 
Beziehung auf Ein alle anderen gleihfam vermittelndes oder In 
ſich aufnehmendes Verhaͤltniß zur Gottheit alles gefehen und ge 
fühlt wird, wo und wie fie fi auch bilde, und welches immer 
Diefed vorgezogene Verhältnig fei, iſt eine eigne pufitive Religion; 
in Beziehung auf die Gefammtheit der religiöfen Elemente, um 
ein Wort zu gebrauden, daß wieder follte zu Ehren gebracht 
werden, eine Härefid ?), weil. unter vielen gleichen eines zum 
Haupte. ber übrigen gleihfam gewählt wird; in Ruͤkkſicht aber 
auf die Gemeinſchaft aller Theilhaber und ihr Verhältnig zu bem, 
Der zuerft ihre Religion geftiftet hat, weil er zuerſt jenen Mittels 
punkt zu einem klaren Bewußtfein erhoben hat, eine eigne Schule 
und Juͤngerſchaft. Wenn aber nun, wie wir hoffentlich einig 
geworben find, nur in und durch ſolche beflimmte. Formen bie 
Religion dargeſtellt wird: fo hat auch nur der, welcher fich mit 
der feinigen in einer folchen niederläßt, eigentlich einen feften 
Wohnfiz, und daß ich fo fage ein wohlerworbened Bürgerrecht 
in der religiöfen Welt; nur Er kann fih rühmen zum Dafein 
und zum Werden bed ganzen etwad beizutragen; nur er iſt eine 
volftändige religiöfe Perfon, auf der einen Seite einer Sipp- 
6:2 


404 


ſchaft angehörig durch gemeinfame Art, auf ber andern ſich di; ü 
genthümlich unterfcheidend durch fefte und beflimmte Züge. J 
Vielleicht aber möchte hier mancher, der ſchon ein Intereſt " 
nimmt an den Angelegenheiten der Religion, mit Beflürzung ode f 
auch ein widriggefinnter mit Hinterlift fragen, ob denn nun. 
der fromme an eine von den vorhandenen auf eine folche Weiſe | 
265 eigenthuͤmlich beflimmten Zormen der Religion ſich anfchlieen 
muͤſſe. Dem wuͤrde ich vorläufig antworten, Mit nichten, fon " 
dern nur das fei nothwendig, daß feine Religion ebenfalls ein 
folche eigenthümlich beflimmte und in ſich ausgebildete feiz ob 
aber auf eine gleiche Weile mit irgend einer im großen fchon 
vorhandenen und an Anhängern reichen Form, Dies fei nicht eben 
fo nothwendig. Und erinnern wuͤrde ich ihn, wie ich irgend 
von zwei oder drei beſtimmten Geflalten geredet, und gefagt habe 
daß fie die einzigen bleiben follen.. Wielmehr mögen fich immer 
bin unzählige entwikkeln von allen Punkten aus, und derjenige, 
der fich nicht in eine von den fchon vorhandenen fchikft, ih 
möchte fagen, ber nicht im Stande gewefen wäre, fie felbft zu 
machen ®), wenn er fie noch nicht gefunden hätte, der duͤrfte fchon 
beöhalb zu Feiner von ihnen gehören, ſondern eine neue in ſich 
felbft Hervorzubringen gehalten fein. Bleibt er allein Damit und 
ohne Sünger: es fchadet nicht. Immer und überall giebt es 
Keime dedjenigen, was noch zu keinem weiter auögebreiteten 
Dafein gelangen kann: auf diefelbe Weife eriftirt auch die Re 
ligion eines folchen, und hat eben fo gut eine beflimmte Ge 
flalt und Drganifation, ift eben fo gut eine eigene poſitive 
Religion, ald ob er die größte Schule geftiftet hätte, Und 
hieraus würde er wol fehen, daß nach meiner Meinung diee 
vorhandenen Formen an und für fich keinen Menfchen durch 
ihr früheres Dafein hindern ſollen ſich eine Religion feiner eige: 
nen Natur und feinem Sinne gemäß audzudilden. Sondem 
ob jeder in einer von ihnen wohnen, oder eine eigene erbauen 
werde, dad hänge Lediglich davon ab, ob dad nämliche Verhaͤlt— 


405 


niß oder ein anderes fi in ihm als Grundgefühl und Mittel: 
punft aller Religionen entwiffeln werde. So würde ich jenem 
vorläufig antworten; wollte er aber genauere von mir hören: 
fo würde ich hinzufügen, ed wäre wol nicht leicht zu beforgen 
daß einer in einen folchen Fall geriethe, wenn es nicht aus Miß⸗ 
verfiand gefchähe. Denn daß fich eine neue Offenbarung bilde, fei 
nie etwas geringfügige bloß perfönliches, fondeın es liege-größes 
red und gemeinfchaftliched Dabei zum Grunde. Daher es auch nie 266 
„einem, der wirklich eine neue Religion aufzuftellen berufen war, 
an Anhängern und Glaubensgenoffen gefehlt hat. So würden 
alfo die meiften in dem Falle fein, ihrer Natur nach einer vors 
handenen Form anzugehören, und nur wenige in dem- daß ihnen 
feine genügte; was ich aber vorzüglich habe zeigen.wollen, fei 
eben dieſes, dag wegen der allen gleichen Befugniß jene meiften 
nicht minder frei find als diefe wenigen, noch auch weniger. in 
bem Falle ein eigenes felbft gebildet zu haben. Denn verfolgen 
„wir in einem jeden die Gefchichte feiner Religiofität: fo finden 
wir zuerft dunkle Ahndungen, welche ohne da3 innere ded Ges 
muͤths ganz zu durchdringen unerkannt wieber verfchwinden, und 
wol jeden Menfchen oft und früher umfchweben; welche irgend 
wie vielleicht vom Hörenfagen entflanden zu feiner beflimmten 
Geftalt gelangen, und nichts eigenthümliched verrathen. Später 
erft geichieht ed dann daß der Sinn fürd Univerfum in einem 
Haren Bewußtfein für immer aufgeht, dem einen von diefem 
dem andern von jenem beflimmten Verhaͤltniß aus, auf welches 
sr hernach alled bezieht, um welches her fih alles für ihn ges 
ftaltet, fo daß ein folcher Moment eigentlich eines jeden Religion 
beftimmt; und ich hoffe Ihr werdet nicht meinen, die Religion 
eined Menfchen fei deshalb weniger eigenthuͤmlich und weniger 
die feinige, weil fie in einer Gegend liegt, mo ſchon mehrere vers 
ſammelt find, und werdet Feineöweges in diefer Gleichheit einen 
mechanifchen Einfluß des angewöhnten oder ererbten, fonbern wie 
Ihr auch in andern Fällen thut nur ein gemeinfamed Beſtimmt⸗ 


406 


fein aus höheren Gründen erkennen. Aber fo gewiß als grok|M 
in biefee Gemeinfchaftlichkeit, gleichviel ob einer ber erſte if ode ik 
der fpätere, die Gemwährleiftung der Natürlichkeit und Wahrha wi 
liegt, eben fo gewiß erwächft daraus Fein. Nachtheil für die & |R 
genthiimlichkeit. Denn wenn auch Zaufende vor ihm mit ihn |# 
und nach ihm ihr religiöfes Lehen auf baffelbe Werhältnig bey * 
ben: wird es deswegen in allen baffelbe fein, und wird fid du ık 
267 Religion in allen gleich bilden? Erinnert Euch doch nur an bai 
Eine, daß jede beflimmte Form der Religion dem einzelnen unit 
erfchöpftich iſt; nicht nur weil fie auf ihre beflimmte Weiſe dat 1 
ganze umfaffen fol, welches dem einzelnen zu groß ift, fonben ' 
auch weil in ihr felbft eine. unendliche Werfchiebenheit der Auk ik 
bildung flatt findet, untergeordnet zwar, aber doch ähnlich de | 
Art, wie fie felbft eine eigenthümliche Geflalt der Religion im $ 
allgemeinen ift. Iſt nicht fchon dadurch jedem Arbeit und Spie: I 
raum genug angewiefen? Ich wenigſtens wüßte night Daß es fchen | 
einer einzigen diefer Religionen gelungen wärt ihr ganzes Gebiet i 
fo in Befiz zu nehmen, und alles darin fo ihrem Geiſte gemäf 1 
zu beflimmen und darzuftellen, daß irgend einem einzelnen Br | 
Penner von audgezeichnetem Reichthum und Gigenthümlichkeit dei 
Gemuͤthes nichtd mehr übrig geblieben wäre zur Ergänzung bei 
zufragen; fonbern wenigen unferer gefchichtlichen Religionen nut 
ift es vergönnt geweſen in der Zeit ihrer Freiheit und ihres: bei 
feren Lebens wenigftens das nächfte am Mittelpunkt recht auszu 
bilden und zu. vollenden, und nur in wenigen verfchiebenen Ge 
flalten den gemeinfchaftlichen Charakter wieder eigen Auszuprägen. 
Die Erndte iſt groß, aber der Arbeiter find wenige Ein. uw 
endliched Feld ift eröffnet in jeder dieſer Meligipnen, worin Tau⸗ 
fenbe ſich zerſtreuen mögen; unbebaute Gegenden genug werben 
fih dem Auge eines jeden barftellen, der etwas eigenes zu fchaf 
fen und hervarzubringen fähig ift ?). 
So ganz ungegründet demnach ift der Vorwurf, als ob, 
wer in eine pofitive Religion fi aufnehmen läßt, nur ein Naqh⸗ 





407 


treter derjenigen würde, welche diefe geltend gemacht, ſich ſelbſt 

aber nicht mehr eigenthümlich ausbilden fünne, daß wir viel: 

mehr auch hier nicht anders urtheilen können, als auf dem Ge⸗ 

biete des Staated und der Geſelligkeit. Hier nämlich erfcheint 

es und krankhaft und abenteuerlich, wenn einer behauptet er habe 

nicht Raum in einer beflehenden Berfaffung, fondern um fich 

feine Eigenthümlichkeit zu bewahren, müffe er fich ausfchließen 

von ber Gefelichaft. Vielmehr find wir überzeugt, jeder gefunde 

werde von felbit einen großen nationalen Charakter mit vielen 208 
gemein haben, und grade in.diefem feftgehalten und durch ihn 
bedingt werde ſich auch am genaueften und fchönften feine Eigen: 
thümlichfeit ausbilden. So auch auf dem Gebiete der Religion 
kann ed nur krankhafte Abweichung fein, welche einen von dem 
gemeinfchaftlichen Keben mit. allen, unter welche ihn die Natur ges 
fezt hat, fo ausichließt, daß er feinem größeren ganzen angehört; 
fondern von felbit wird jeder, was für ihn Mittelpunkt der Religion 
ift, auch irgend wo im großen fo dargeftellt finden, oder felbft 
barftellen. Aber jeder folchen gemeinfamen Sphäre fchreiben wir 
ebenfalls eine unergründlich tief ins einzelne gehende Bildfamkeit 
zu, vermöge deren aud ihrem Scooß Lie Eigenthümlichkeiten 
aller bervorgehn, wie denn in diefem Sinne mit Recht die Kirche 
die allgemeine Mutter aller genannt wird. Um Euch died an 
dem nächften deutlich zu machen, fo denket Euch bad Ghriften» 
thum als eine jener beflimmten individuellen Formen ber höchften 
Ordnung, und Ihr findet darin zu unferer Zeit zuerfl zwar bie 
befannten aͤußerlich auf das beflimmtefle heraustretenden Gegens 
fäze; dann aber theilt fich auch jedes dieſer untergeordneten Ge⸗ 
biete in eine Menge verfchiedener Anfichten und Schulen, deren 
jede eine eigenthümliche Bildung darflellt, von einzelnen ausges 
gangen, und mehrere um fich verfammelnd, aber offenbar fo daß 
noch für jeden übrig bleibt. die lezte und eigenfle Bildung der 
Religiofität, welche mit feinem gefammten Dafein fo fehr in Eins 
zufammenfällt, daß fie. vollfommen fo niemanden eignen lann als 


— 


US 


ihm allein. Und dleſe Stufe der Bildung muß die Religion | b 
in einem jeden um fo mehr erreichen ald er durch fein ganze fi 
Dafein Anfpruch darauf hat, Euch, den gebildeten, anzugehörn F 
Denn hat fi fein höheres Gefühl allmaͤhlig entwikkelt, fo muß : x 
ed auch mit feinen übrigen Anlagen zugleih, wenn doch bie 1 
gebildet find, ein eigenthümliches geworden fein. Oder hat ed :t 
fih dem Anfcheine nach plözlich entwikkelt nach vieleicht unen | 
fannter Empfaͤngniß und unter fchnell vorübergehenden Geburts: 
aco ſchmerzen des Geiftes: fo ift auch dann feinem religiöfen Leben . | 
nicht nur eine eigene Perfönlichkeit mitgeboren, ein beflimmin | 
Zufammenhang mit einem Vorher, einem Iezt und Nachher; ein 
Einheit des Bemußtfeind vermittelt, indem auf diefe Art an die 
fen Moment, und an den Zuftand in welchem er dad Gemüth 
überrafchte, wie an feinen Zufammenhang mit dem früheren dürf, 
tigeren Dafein das ganze folgende religiöfe Leben fich anknuͤpft, 
und ſich gleichfam genetiſch daraus entmwiffelt. "Sondern: in die 
ſem erften anfänglichen Bewußtſein muß ſchon win. eigenthüm: 
licher Charakter liegen, da es ja nur in einer durchaus beftimm- 
ten Geftalt und unter beftimmten Verhältniffen in ein fchon ge 
bildeted Leben fo ploͤzlich eintreten konnte; welchen ‚eigenthüm: 
lichen Charakter dann jeder folgende Augenbliff. eben fo an fi 
trägt, fo daß er der. reinſte Ausdrukk ded ganzen Weſens ifl. 
Daher, fo wie, indem der lebendige Geift der Erde gleichfam von 
fich felbft ſich losreißend fich als ein endliches an einen beflimm: 
ten Moment in der Reihe organifcher Evolutionen anknuͤpft, ein 
neuer Menſch entſteht, ein eignes Weſen, deffen abgeſondertes 
Daſein unabhängig von der Menge und der objectiven Befchafs 
fenheis feiner Begebenheiten und Handlungen, in der eigenthüms» 
lichen Einheit des fortdauernden und an jenen erften Moment 
ſich anfchliegenden Bewußtfeins ruht, und in’ der eigenen Bezies 
bung jedes fpätern auf jenen fich bewahrt: fo entfteht auch in 
jenem Augenbliff, in welchem in irgend einem’ einzelnen Men: 
fhen ein beflimmtes Bewußtfein von feinem Werhältnig zum 


409 


hoͤchſten Weſen gleichſam urfprünglich anhebt, ein eigned religiös 
fe8 Leben. Eigen, nicht etwa durch unwiderrufliche Beſchraͤn⸗ 
tung auf eine befondere Anzahl und Auswahl von Anfchauungen 
und Gefühlen, nicht etwa durch die Beſchaffenheit ded darin vors 
Tommenden religiöfen Stoffs, den vielmehr jeder mit allen gemein 
bat, welche mit ihm zu derfelben Zeit und in berfelben Gegend 
der Religion geiflig geboren: find; fondern durch dad was er mit 
keinem gemein: haben kann, ‚durch den immermwährenden Einfluß 
‚der befonderen Art und Weite des Zuftandes, in welchem fein 
Gemuͤth zuerfi vom Univerfum begrüßt und umarmt worden tft; a0 
durch -bie eigene Art wie er die Betrachtung beffelben und die 
Meflerien darüber verarbeitet; durch den Charakter und Ton, in 
welchen die ganze folgende Neihe feiner religiöfen Anfichten und 
Gefühle fi bineinflimmt, und welcher fich nie verliert, wie weit 
er auch hernach in der Gemeinfchaft mit: dem ewigen Urquell 
fortfchreite über das hinaus, was .die.erfte Kindheit feiner Relis 
gion. ihm darbot. "Wie jedes intellectuelle endliche Weſen feine 
geiftige Natur und feine Individualität dadurch beurfundet, daß 
es Euch auf jene daß ich fo fage im ihm vorgegangene Vermaͤh⸗ 
lung des unenbliden mit dem endlichen zurüffführt, wobei Eures 
Fantafie Euch verfagt, wenn Shr fie aus irgend etwas einzelnem 
oder früheren, fei ed Willkuͤhr oder Natur, erklären wollt; eben fo 
müßt Ihr. jeden, der fo den Geburtstag ſeines geiftligen Lebens 
angeben, und eine Wundergefhichte erzählen kann vom Urfprung 
feiner Religion, bie ald eine unmittelbare Einwirkung der Gotts 
heit und als eine Regung ihred Geifted erfcheint, auch dafür an. 
fehn, daß er etwas eigenes fein, und daß etwas befondered mit 
ihm gefagt fein ſoll; denn fo etwas gefchieht nicht um eine Icere 
‚Wiederholung herborzubringen, im Keich der Religion 20), Und 
fo wie jedes organifch entflandene und in ſich befchloffene Weſen 
nur aus ſich erklärt, und nie ganz verflanden werben kann, wenn 
Ahr nicht feine Eigenthümlichkeit und feine Entflehung eine durch 
die andere ald Eind und dafjelbe begreift: fo Fünnt Str au 


410 


den religiöfen nur verfieben, wenn Ihr, wofern er Euch ein 
merkwuͤrdigen Augenblitt ald den erſten feines hoͤhern Kebens 
darbietet, in dieſem das ganze zu entdeffen, fo wie wenn er fih 
nur ald eine ſchon gebildete Erfcheinung darftelt, den Charakter 
berfelben bis in die erften dunkelſten Zeiten des Lebens zurüff 
zu verfolgen wißt. Ä 
Died alles wohl überlegt, glaube ih, daß es Euch nicht 
länger Ernſt fein kann mit diefer ganzen Klage gegen die poſi⸗ 
tiven Religionen; fondern wenn Ihr dabei beharrt, iſt fie wel 
za nur ein vorgefaßted Urtheil: denn Ihr feid viel zu forglos um 
den Gegenftand, ald daß Ihr zu einer ſolchen Klage durch eure 
Beobachtung folltet berechtiget fein. Ihr habt wel nie den Be⸗ 
ruf gefühlt Euch anzufchmisgen an die wenigen religiöfen Max 
ſchen, die Ihr vieleicht fehen könnt, obgleich fie immer anzichend 
und liebenswertb genug find, um etwa durch. bad. Mikroſtop der - 
Hreundfchaft, oder der- näheren Theilnahme, die jener wenigftend 
ähnlich fieht, genauer zu unterſuchen, wie fie. für dad Univerfum 
und durch daffelbe organifirt find. Mir, der ich fie fleißig be 
trachtet habe, der ich fie eben ſo mühfam auffuche, und mit eben 
der heiligen Sorgfalt beobachte, welche Ihr den Seltenheiten ber 
Natur widmet, mir ift oft eingefallen, ob nicht ſchon das Euch 
zur Religion führen .tönnte, wenn Ihr nur Acht darauf gäbe, 
wie allmächtig die Sottheit den Theil der Seele in welchem fie 
vorzüglich wohnt, in welchem fie fi in ihren unmittelbaren Wir⸗ 
kungen offenbart, und fich felbft beſchaut, auch als ihr allerheilig: 
fle8 ganz eigen und abgefondert erbaut von allem was fonft im 
Menfchen gebaut und gebildet wird, und wie fie fich darin durch 
die unerfchöpflichfie Mannigfaltigfeit ber Formen in ihrem. gan: 
zen Reichtyum verherrlicht. Ich wenigftens bin immer aufs neue 
erſtaunt über die vielen merkwürdigen Bildungen auf dem fo 
wenig bevoͤlkerten Gebiet der Religion, wie fie fi) von einander 
unterfcheiden durch die verfchiedenften Abftufungen der Empfäng: 
lichkeit für den Reiz deſſelben Gegenflandes, und durch die größte 


4 


Verſchiedenheit deſſen was in ihnen gewirkt wirb, durch die Man; 
nigfaltigkeit ded Tons, den die entfchiedene Uebermacht ber einen 
ober der andern Art von Gefühlen hervorbringt, und durch aller: 
lei Idioſynkraſien der Reizbarkeit und Eigenthümlichketten der 
Stimmung, indem bei jedem faft unter andern Verhaͤltniſſen die 
veligiöfe Anficht der Dinge vorzüglich hervortritt. Dann wieder 
wie der religiöfe Charakter des Menfchen oft etwas ganz eigens 
thuͤmliches in ihm iſt, ſtreng gefchieden für den gewöhnlichen 
Blikk von allem was ſich in feinen übrigen Anlagen entdeift; 
wie das fonft ruhigfte und nüchternfte Gemüth hier des ſtaͤrkſten 
ber Leidenfchaft ähnlichen Affektes fähig iftz wie der für gemeine z72 
und irdiſche Dinge ſtumpfſte Sinn hier innig fühlt bis zur Weh⸗ 
muth, und Mar ficht bis zur Entzüffung und Weiffagung; wie 
der in allen weltlichen. Angelegenheiten- ſchuͤchternſte Muth von 
heiligen Dingen und für fie oft bis zum Maͤrtyrerthum laut 
dur die Welt und dad Zeitalter hindurch fpricht. Und wie 
wunderbat oft dieſer religiöfe Charakter feloft geartet und zuſam⸗ 
mengeſezt iſt; Bildung und Rohheit, Gapacität und Beſchraͤn⸗ 
fung, Zartheit und Härte in jedem auf eine eigene Weiſe unter 
einander gemifeht und in einander verfchlungen. Wo ih ale 
dieſe Geſtalten gefehen habe? In dem eigentlichen Gebiet dex Re⸗ 
ligion, in ihren individuellen Formen, in den pofitiven Religios 
nen die. Ihr für das Gegentheil verfchreit; unter den Heroen und 
Märtyrern eines beflimmten Glaubens, wie er den Freunden der 
natürlichen Religion zu ſtarr if, unter den Schwärmern für les 
bendige. Gefühle, wie jene fie fchon für gefährlich halten, unter 
ben Verehrern eines irgend warn neu gewefenen Lichted und ins 
dividueler Offenbarungen; da will ich fie Euch zeigen zu allen 
Zeiten und unter allen Voͤlkern. Auch ift ed nicht anders, nür 
da koͤnnen fie anzutreffen fein. Sp wie Fein Menſch als Einzel 
weien zum wirklichen Dafein kommen fan, ohne zugleich durch 
diefelbe That auch in eine Welt, in eine beflimmte Ordnung der 
Dinge, und unter einzelne Gegenflände verfezt zu werten: (a 


412 


kann auch ein religiöfer Menfch zu feinem Einzelleben nicht ge: 
langen, er wohne denn durch diefelbe Handlung ſich auch ein in 
ein Gemeinleben, alfo in irgend eine beflimmte Form der Reli: 
gion. Beides ift nur eine und diefelbe göttliche That, und Tann 
alfo eind vom andern nicht gefrennt werben. Denn wenn eine 
Menfchen urfprüngliche Anlage zu diefer höchften Stufe des. Be: 
wußtfeind nicht Kraft genug hat jich auf eine beflimmte Weile 
zu geftalten: fo wirft auch ihr Reiz nicht ſtark genug um ben 
Prozeß eined eignen und rüfligen religiöfen Lebens einzuleiten. 
Und nun ich Euch diefe Rechenfchaft abgelegt habe, fo fagt 
273 mir doch auch wie ed in. Eurer gerühmten natürlichen. Relig'on 
um diefe Ausbildung und Individualifirung ſteht? Zeiget mit 
doch unter ihren Bekennern auch eine fo große Mannigfaltigkeit 
ftark gezeichneter Charaktere. Denn id muß geftehen, ich ſelbſt 
konnte dergleichen unter ihnen niemals finden; und wenn Ihr 
ruͤhmt, daß diefe Art der Religion ihren Anhängern mehr Frei: 
heit gemähre, ſich nach eignem Sinne religiös zu bilden: fo kann 
ih mir nichts anderd darunter denfen als, wie denn dad Wort 
oft fo gebraucht wird, die Freiheit auch ungebilbet zu. bleiben, 
die Freiheit von jeder Verſuchung nur uͤberhaupt irgend etwas 
beſtimmtes zu ſein, zu ſehen und zu empfinden. Die Religion 
ſpielt doch in ihrem Gemuͤth eine gar zu duͤrftige Rolle. Es iſt 
als ob ſie gar keinen eignen Puls, kein eignes Syſtem von Ge⸗ 
faͤßen, keine eigne Circulation, und alſo auch keine eigne Tempe⸗ 
ratur und keine aſſimilirende Kraft fuͤr ſich haͤtte, und eben daher 
auch keinen eignen Charakter und feine eigne Darſtellung; viel 
mehr zeigt fie fich überall abhängig von eines jeden befonderer 
Art von Sittlichfeit und natürlicher Empfindfamfeit, in Berbin: 
dung mit denen, oder vielmehr ihnen demüthig ‚nachtretend, bes 
wegt fie fi) träge und fparfam, und ift nur wahrzunehmen, in 
bem fie gelegentlich tropfenweife abgefchieden wird von jenen. 
Zwar iſt mir mancher achtungöwerthe und Eräftige religiöfe Cha⸗ 
rakter vorgekommen, den die Bekenner der poſitiven Religionen, 


.. 413 


nicht ohne ſich über dad Phänomen zu verwundern, -für einen 
Bekenner ber natürlichen ausgaben: aber genau betrachtet erkann⸗ 
ten ihn dagegen die lezteren nicht für ihres gleichen; er war ims 
mer ſchon etwas von der urfprünglichen Reinheit der Vernunft⸗ 
religion abgewichen, und hatte einiges wilführliche, wie fie es 
nennen, und pofitive in die feinige aufgenommen, was nur jene 
nicht erfannten, weil es von dem ihrigen zu fehr verfchieden war. 
Warum mißtrauen aber die Verehrer der -natürlichen Religion 
gleich jedem, der etwas eigenthümliched in feine Religion bringt? 
Sie wollen eben auch gleichförmig fein, nur entgegengefezt dem 
Ertrem auf der andern Seite, den Seftirern meine ich, alle gleich> zu 
förmig im unbeflimmten. So wenig iſt an eine befondere- pers 
föntiche Ausbildung zu denken durch die natürliche Religion, daß 
ihre ächteften Verehrer nicht einmal mögen, daß die Religion des 
Menfchen eine eigene Gefchichte haben, und mit einer Denkwuͤr⸗ 
digkeit anfangen ſoll. Das iſt ihnen ſchon zu viel: denn Maͤ⸗ 
ßigkeit iſt ihnen Hauptſache in der Religion; und wer etwas zu 
ruͤhmen weiß von ploͤzlich aus den Tiefen des innern ſich ent⸗ 
wikkelnden religioͤſen Erregungen, der kommt ſchon in den uͤblen 
Geruch, daß er einen Anſaz habe zur leidigen Schwaͤrmerei. 
Nach und nach ſoll der Menſch religioͤs werden, wie er klug und 
verſtaͤndig wird, und alles andere was er ſein ſoll; durch den 
unterricht und die Erziehung ſoll ihm das alles kommen; nichts 
muß dabei ſein was fuͤr uͤbernatuͤrlich oder auch nur fuͤr ſonder⸗ 
bar koͤnnte gehalten werden. Ich will nicht ſagen, daß mir das, 
von wegen des Unterrichts und. der Erziehung die alles fein ſol⸗ 
len, ben Verdacht beibringt, ald fei die natürliche Neligion ganz 
vorzüglich von jenem Uebel einer Vermiſchung ja gar einer Vers 
wandlung in Metaphyfit und Moral befallen: aber das wenig: 
ſtens iſt Bar, daß ihre Verehrer nicht von irgend einer lebendis 
gen Selbfibefhauung ausgegangen find, und daß auch Feine ihr 
fefter Mittelpnnet iſt; weil fie gar nichtö ald Kennzeichen ihrer 
Denkart aufflellen unter fih, wovon der Menfch auf eine eigne 


414 


Weiſe müßte ergriffen werden. Der Glaube an einen- perfönlis 
chen Gott, mehr ‚ober minder menfchenähnlich gebildet, und. an 
eine perfönliche Fortdauer, ‚mehr oder weniger entfinnlicht und 
fublimirt, Diefe beiden Säze, auf welche alled bei ihnen zurüfß: 
geht, das wiflen fie felbft, Hängen von Feiner befendern Anſicht 
und Auffaffungsweile ab; darum fragen fie auch keinen, der fi 
zu ihnen’ befennt, wie er zu feinem Glauben gefommen fei; fon; 
dern wie fie ihn demonftriren zu koͤnnen meinen, fo fezen fie auch 
voraus, er müffe allen andemonftrirt fein. Sonft einen anderen 


und beflinnmteren Mittelpunft, den fie hätten, möchtet Shr wol ' 
fhwerlich aufzeigen Tonnen. Dad wenige, was ihre magre und 
»7s dünne Religion enthält, ſteht für fi in unbeflimmter Vielden. 


tigkeit das; fie haben. eine Borfehung überhaupt, eine Gerechtig: 


keit überhaupt, eine göttliche Erziehung überhaupt, und alles dies 
erfcheint ihnen gegen einander bald in -diefer bald- in jener Per: 
fpective und Verkürzung, und jedes gilt ihnen bald dies bald 
jenes. Oder wenn ja eine gemeinfchaftliche Beziehung auf einen 
Punkt darin anzutreffen ift, fo liegt dieler Punkt außerhalb der 
Religion, und ed ift eine Beziehung auf etwas fremdes, darauf 
dag die Sittlichfeit ja nicht gehindert werde, und daß der Trieb 
nad, Gtufffeligkeit einige Nahrung erhalte, oder fonft etwad wor 
nad) wahrhaft religiöfe Menfchen bei der Anordnung: der Elemente 
ihrer Religion niemald gefragt haben; Beziehungen wodurch ihr 
kaͤrgliches religioͤſes Eigenthum noch mehr zerſtreut und ausein⸗ 
ander getrieben wird. Sie hat alſo fuͤr ihre religioͤſen Elemente 
keine Einheit einer beſtimmten Anſicht, dieſe natuͤrliche Religion; 
fie iſt alſo auch feine beſtimmte Form, Feine eigne individuelle 
Darſtellung der Religion, und die, welche nur ſie bekennen, haben 
keinen beſtimmten Wohnſiz in dieſem Gebiet, ſondern ſind Fremd⸗ 
linge, deren Heimath, wenn ſie eine haben, woran ich zweifle, 
anderswo liegen muß. Sie gemahnt mich wie die Maſſe, welche 
zwiſchen den Weltſyſtemen duͤnn und zerſtreut ſchweben ſoll, hier 
von dem einen dort von dem andern ein wenig angezogen, aber 


415 


von feinem Hark genug um in feinen Wirbel fortgeriffen zu wer⸗ 
den. Wozu fie da ifl, mögen die Götter wiſſen; es müßte benn 
fein, um zu zeigen; daß auch das unbeflimmte auf gewiſſe Weiſe 
exiſtiren kann. Eigentlich aber iſt es doch nur ein Warten auf 
die Exiſtenz, zu der ſie nicht anders kommen koͤnnten, als wenn 
eine Gewalt ſtaͤrker als jede bisherige und auf andere Weiſe fie 
ergriffe. Denn. mehr kann ich ihnen nicht zugeflehen, als die 
dunkeln Ahndungen, welche jenem lebendigen Bewußtſein voran⸗ 
gehn, mit welchem ſich dem Menſchen fein religioͤſes Leben aufs 
thut. Es giebt gewille dunkle Regungen und Borftelungen, die 
gar nicht mit der Eigenthümlichkeit eined Menichen zufammens 
"hängen, fondern gleihiam nur die Zwifchenräume derfelben aus⸗ 276 
füllen, und wie fie ihren Urfprung ‚nur in dem Gefammtleben 
haben, auch in allen gleichförmig eben bafjelbe find: fo ift ihre 
Religion nur der unvernehmliche Nachklang von der Zrömmigs 
keit die fie umgiebt. Hoͤchſtens ift fie natürliche Meligion in dem 
Sinne, wie man auch fonft, wenn man von natürlicher Philos 
fophie und natinlicher Poefie redet, diefen Namen folden Erz 
zeugniffen. beifegt, denen auch das urfprüngliche fehlt, und bie 
wenn auch nicht bemußte ungeſchikkte Nachahmungen, doch nur 
sche Aeußerungen oberflächlicher Anlagen find, die man eben durch 
jenen- Beinamen von der lebendig geflaltenden Wiſſenſchaft und 
Kunft und deren Werfen unterfcheidet. Aber auf jenes beffere, 
was fi) nur in den religiöfen Gemeinfcyaften und beren Erzeug⸗ 
niffen findet, warten fie nicht etwa mit Sehnſucht, und achten 
es um fo höher im Gefühl es nicht erreichen zu. koͤnnen; fondern 
fie widerfegen fi) ihm aus allen Kräften. Das Weſen der na: 
türlichen Religion befleht ganz eigentlich in der. Berläugnung 
alles yofitiven und charakteriflifchen in der Religion, und in ber 
heftigſten Polemik dagegen. Darum if fie auch dad würdige 
Produkt des Zeitalter, deſſen Stekkenpferd jene erbärmliche AU: 
gemeinheit und jene leere Nüchternheit war, bie mehr ald irgend - 
etwad in allen Dingen der wahren Bildung entgegen arbeitet. 


416 


Zweierlei haſſen fie ganz vorzuͤglich: fie wollen nirgends beim | 
außerorbentlichen und unbegreiflihen anfangen; und was fie aud 
fein und treiben mögen, ſo fol nirgends eine Schule hervor: 
ſchmekken. Das ift dad Verderben, welches Ihr in allen Kün 
ſten und Wiffenfchaften findet, es ift auch in die Religion ge 
drungen, und fein Produkt ift died gehaltleere und formlofe Ding: 
Autochthonen und Autodidakten möchten fie fein in der Religion: 
aber fie haben nur dad rohe und ungebildete von dieſen; das 
eigenthümliche herworzubringen, haben fie weder Kraft noch Wil: 
- Ien. Sie firäuben ſich gegen jede beflimmte Religion, welche ba 
ift, weil fie doch zugleich eine Schule iſt; aber wenn es möglich 
277 wäre, baß ihnen ſelbſt etwas begegnete, wodurd) eine eigne Ro 
ligion ſich ihnen geflalten wollte, würden fie fich eben fo heftig 
dagegen auflehnen, weil doch eine Schule daraus entftehen Fönnte. 
Und fo ift ihr Sträuben gegen das pofitive und willkuͤhrliche 
zugleich ein Sträuben gegen alled beftimmte und wirkliche. Wenn 
eine beſtimmte Religion nicht mit einer urfprünglichen Thatſache 
anfangen fol, kann fie gar nicht anfangen: benn ein gemein» 
fhaftliher Grund muß doc da fein, weshalb irgend ein religie: 
ſes Element mehr als fonft befonderd hervorgezogen und in bie 
Mitte geftelt wird; und diefer Grund Tann nur eine Thatſache 
fein. Und wenn eine Religion nicht eine beflimmte fein fol, fo 
iR fie gar eine: denn nur lofe unzufammenhängende Regungen 
verdienen den Namen nicht. Erinnert Euch mas die Dichter von 
einem. Zufiande der Seelen vor der Geburt reden; wenn fich eine 
folche gewaltfam ‚wehren wollte in die Welt zu fommen, weil fie 
eben nicht diefer und jener fein möchte, fondern ein Menfch über 
haupt: dieſe Polemik gegen das Leben iſt die Polemik der na 
türlichen Religion gegen die ‚pofitiven, und dies ift der perma’ 
nente Zuftand ihrer Bekenner. 
Zurbft alfo, wenn es Euch Ernſt ift die Religion in ihren 
beflimmten Geftalten zu betrachten, von diefer erleuchteten natürs 
lichen zu jenen verachteten pofitiven Religionen, wo alles wirt: 


417 


fam, kraͤftig und feſt erſcheint; wo jebe einzelne Anfchauung ihren 
beflimmten Gehalt und ihr eigned Werhältnig zu den übrigen, 
jedes Gefühl feinen eignen Kreis und feine befondere Beziehung 
bat; wo ihr jede Modification der Religiofität irgendwo antrefft, 
und jeden Gemüthözuftand, in welchen nur die Religion den 
Menſchen verfegen kann; wo Ihr jeden Theil derfelben irgendwo 
auögebildet, und jede ihrer Wirkungen irgendwo vollendet findet; 
wo alle gemeinfchaftliche Anftalten und alle einzelne Aeußerun⸗ 
gen den hohen Werth beweifen, der auf die Religion gelegt wird, 
bis zum Vergeſſen faft alles übrigen; wo der heilige Eifer, mit 
welchem fie betrachtet, mitgetheilt, genoffen wird, und die find: 
liche Sehnfucht, mit welcher man neuen Offenbarungen himm: ars . 
lifcher Kräfte entgegenficht 11), Euch dafür bürgen, daß Feines 
von ihren Elementen, welches von diefem Punkt aus. ſchon wahr: 
genommen werden Eonnte, überfehen worden, und feiner von ihren 
Momenten verfhwunden ift ohne ein Denkmal zurüffzulaffen. 
Betrachtet alle die ‚mannigfaltigen Geftalten, in welchen jede 
einzelne Art der Gemeinfchaft. mit dem Univerfum fchon erfchie- 
nen iſt; laßt Euch nicht zurüßffchreften, weder Durch geheimniß- 
volle Dunkelheit, noch durch wunderbar fcheinende groteöfe Züge, 
und gebet dem Wahn nicht Kaum, ald möchte alles nur Einbil- 
dung fein und Dichtung; grabet nur immer tiefer, wo Euer 
magiſcher Stab einmal angefchlagen hat, Ihr werdet gewiß das 
bimmlifhe zu Rage fördern. Aber dag Ihr ja auch auf das 
menfchliche ſeht, was die göttliche annehmen mußte! dag Ihr ja 
nicht aud der Acht laßt, wie fie überall die Spuren von ber 
Bildung jedes Seitalters, von der Gefchichte jeder Menfchenart 
an fich trägt, wie fie oft im Knechtsgeſtalt einhergehen mußte, 
an ihren Umgebungen und an ihrem Schmukk die Dürftigkeit 
ihrer Schüler und ihres Wohnfized zur Schau tragend, damit 
Ihr gebührend abfondert und fcheidet! daß Ihr ja nicht überfehet, 
wie fie oft befchränkt worden ift in ihrem Wachsthum, weil man 
‚ihr nicht Raum ließ ihre Kräfte zu uͤben, wie ſie oft in der erſten 
Schleierm. W. J. J. DU 


418 


Kindheit Hägli vergangen iſt an fchlechter Behandlung und 
übel gewahlten Nahrungsmitteln! Und wenn Ihr Das ganze um: 
faffen wollt, fo bleibet ja nicht allein bei dem flehen in den ver: 
fchiedenen Geftalten der Religion, was Jahrhunderte lang geglänzt 
und große Voͤlker beherrfcht hat, und durch Dichter und Weiſe 
vielfach verherrlicht worden iſt; fondern bedenkt, daß wasß. hifte: 
rifh und religiös dad merkwuͤrdigſte war, oft nur unter wenige 
getheilt, und dem gemeinen Blikk verborgen geblieben ift 12), 
Wenn Ihr aber auch auf diefe Art die rechten Gegenflände, 
und diefe ganz und volftändig ins Auge faßt, wird es immer 
noch ein ſchwieriges Gefchäft fein den Geift der Religionen zu 
279 entdelfen, und fie durchaus zu verfiehen. Noc einmal warne 
ib Euch, ihn nicht etwa fo nur im allgemeinen abziehen zu wol: 
len aus dem, was allen, die eine beftimmte Religion ‚bekennen, 
gemeinfchaftlich ift: Ihr verirrt Eud in taufend vergeblichen Nadı: 
forfchungen auf diefem Wege, und fommt am Ende immer an: 
ftatt zum Geifle der Religion auf ein beflimmtes Quantum von 
Stoff. Ihr müßt Euch erinnern, daß Feine je ganz wirklich ge: 
worben ift, und dag Ihr jie nicht eher kennt, bis Ihr, weit ent- 
fernt fie in einem befchränften Raume zu fuchen, felbft im Stande 
feid fie zu ergänzen, und zu beflimmen wie bied und. jenes in 
ihr geworden fein müßte, wenn ihr Gefichtöfreis fo weit gereicht 
. hätte; und mie died von jeder pofitiven Religion überhaupt gilt, 
fo gilt es auch von jeder. einzelnen Periode und jeder untergeord: 
neten $ormation einer jeden. Ihr koͤnnt es Euch nicht feft ge: 
nug einprägen, daß alled darauf nur ankommt dad Grundver: 
haͤltniß einer jeden zu finden, dag Euch alle Kenntnig vom ein- 
zelnen nichtd hilft, fo lange Shr-diefed nicht habt, und daß Ihr 
e8 nicht eher habt bis Euch alles einzelne in einem feft verbun: 
den iſt. Und felbft mit diefer Regel der Unterfuchung, die dod 
nur ein Prüfftein ift, werdet Ihr taufend Verirrungen ausgeſezt 
ſein; vieles wird fih Euch in den Weg fielen, um Euer Auge 
} auf eine falfche Seite zu lenken. Vor allen Diugen bitte ich. 


419 


Euch, den Unterfchieb ja nicht aus den Augen zu laffen zwifchen 
dem was das Weſen einer einzelnen Religion ausmacht, fofern 
fie eine beſtimmte Form und Darfielung der Religion überhaupt 
ift, und dem was ihre Einheit ald Schule bezeichnet, und jie als 
folche zufammenhält. Religiöfe Menfchen find durchaus hiſtoriſch; 
das ift nicht ihr kleinſtes Lob, aber ed ift auch die Quelle großer 
Mißverftändniffe: Der Moment, in welchem fie feloft von dem 
Bewußtſein erfüllt worden find, welches fi) zum Mittelpunkt 
ihrer Religion gemacht hat, iſt ihnen immer heilig; er erfcheint 
ihnen als eine unmittelbare Einwirtung der Gottheit, und fie 
reden nie von bem was ihnen eigenthümlich ift in der Religion, 
und von der Geflalt die fie in ihnen gewonnen hat, ohne auf zw 
ihn hinzuweiſen. Ihr Eönnt alfo denken, wie viel heiliger noch 
ihnen der Moment fein muß, in welchem dieſe unendliche An: 
fhauung überhaupt zuerft in der Welt ald Fundament und Mit: 
telpunft einer eignen Religion aufgeftelt worden ift, da an die 
fen die ganze Entwilfelung dieſer Religion in allen Generatio⸗ 
nen und Individuen fich eben fo hiſtoriſch anknüpft, und dieſes 
ganze der Religion und die religiöfe Bildung einer großen Maſſe 
der Menſchheit doc; etwas unendlich größeres ift, ald ihr eignes 
religiöfes Leben und. die kleine Spiegelfläche diefer Religion, - 
welche fie perfönlich darftellen. Dieſes Factum verherrlichen fie 
alfo auf alle Weile, häufen darauf allen Schmuff ber religisfen 
Kunft, beten ed an ald die reichfle und wohlthätigfle Wunder 
wirkung des höchften, und reden nie von ihrer. Religion, fielen 
nie eins bon ihren Elementen auf, ohne es in Verbindung mit . 
diefem Factum zu fezen und fo darzujtellen. Wenn alfo die be: 
fländige Erwähnung deſſelben alle Aeußerungen der Religion bes 
gleitet, und ihnen eine eigne Farbe giebt: fo iſt nichtd natürlicher 
ald diefes Factum mit der Grundanfchauung der Religion felbft . 
zu verwechſeln; died hat nur nicht alle verführt, und die Anficht 
faft aller Religionen verfchoben. Wergegt alfo nie, daß die Grund: 
anfchauung einer Religion nichts fein Tann, ald irgend eine An: 
DON 


420 ' 


fhauung des unendlichen im endlichen, irgend ein allgemeine 
religiöfes Werhäftnig, welches in allen andern Religionen eben 
auch vorkommen darf, und wenn fie volftändig fein follten, vor: 
fommen müßte, nur daß es in ihnen nicht in den Mittelpunft 
geſtellt iſt. — Ich bitte Euch, nicht alles was Ihr bei den He 
rom ber Religion oder in den heiligen Urkunden findet für Reli 
gion zu halten, und den unterfcheidenden Geift der ihrigen darin 
zu fuchen. Nicht Kleinigkeiten meine ich damit, wie Ihr leicht 
denken Eönnt, noch ſolche Dinge die nach jedes Ermeffen der Re: 
(igion ganz fremd find, fondern das was oft mit ihr verwech⸗ 
felt wird. Erinnert Euch wie abſichtlos jene Unkunden verfertigt 
ası find, dag unmöglich darauf gefehen werden Eonnte alled daraus 
zu entfernen was nicht Religion ift, und bedenkt wie jene Män- 
ner in allerlei Verhältniffen gelebt haben in der Welt, und un: 
möglich bei jedem Wort was fie niederfchrieben, fagen Eonnten, 
Dies gehört aber nicht zum Glauben; und wenn fie alfo 
Weltklugheit und Moral reden, oder Metaphyſik und Poeſie, fo 
meint nicht fogleich, dad müfle auch in bie Religion hineinge 
zwängt werben, und darin müfle auch ihr Charakter zu fuchen 
fein. Die Moral wenigftend fol doch wol überall nur Eine fein, 
und nad) ihren Verfchiedenheiten, welche alfo immer etwas find 
das hinmeggethan werden fol !°), können ſich die Religionen 
nicht unterfcheiden, die nicht überall Eine fein follen. — Mehr 
als alles aber bitte ich Euch, laßt Euch nicht verführen von den 
'beiden feindfeligen Principien, die überall und faft won den erſten 
» Zeiten an den Geift jeder Religion "haben zu entfielen und zu 
verſtekken gefucht. Ueberall hat es fehr bald theild folche gege: 
ben, die ihn in einzelnen Xehrfäzen haben umgränzen, und daß 
was noch nicht zur Uebereinfiimmung mit biefen gebildet war, 
‚ von ihr ausfchliegen wollen; theild auch folche, die, es fei nun 
aus Haß gegen die Polemik, oder um die Religion den irreligie: 
fen angenehmer zu machen, oder aud Unverfiand und Unkenntnig 
ber Sache und aus Mangel an Sinn, alled eigenthümliche alt 


- 


421 


tobten Buchſtaben verfchreien, um aufs unbeflimmte Ioszugeben. 
Bor beiden hütet Euch! Bei fleifen Spftematifern, bei feichten 
Indifferentiſten werdet Ihr den Geift einer Religion nicht finden; 
fondern bei denen, die in ihr leben als in ihrem Element, und 
ſich immer weiter in ihr bewegen, ohne den Wahn zu naͤhren 
daß ſie ſie ganz umfaſſen koͤnnten. 

Ob es Euch mit dieſen Vorſichtsmaaßregeln gelingen wird 
den Geiſt der Religionen zu entdekken, weiß ich nicht: aber ich 
fuͤrchte, daß auch Religion nur durch ſich ſelbſt verſtanden wer⸗ 
den kann, und daß Euch ihre beſondere Bauart und ihr charak⸗ 
teriftifcher Unterfchied nicht eher klar werben wird, bis Ihr felbfl 
irgend einer angehört. Wie es Euch gluͤkken mag die rohen und 
ungebildeten Religionen entfernter Voͤlker zu entziffern, ober Die 2e2 
vielerlei verichiedenen religidfen Erfcheinungen auszufondern, welche 
in ber fchönen Mythologie der Griechen und Römer eingewikkelt 
liegen, das läßt mich fehr gleichgültig; mögen ihre Götter Euch 
geleiten! Aber wenn Ihr Euch dem allerheiligften nähert, wo 
da3 Univerfum in feiner höchften Einheit und Allheit wahrge- 
nommen wird, wenn Shr die verfchiedenen Geftalten der höchften . 
Stufe der Religion betrachten wollt, nicht die ausländifchen und 
fremden, fondern die welche unter und noch mehr oder minder 
vorhanden find: fo kann ed mir nicht gleichgültig fein, ob Ihr 
den rechten Punkt findet, von dem Ihr fie anfehen müßt. 

Zwar follte ich nur von einer reden; denn bad Judentbum 
ift ſchon lange eine todte Religion, und diejenigen, welche jest 
noch feine Farbe tragen, fizen eigentlich klagend bei der unver: 
weslihen Mumie, und weinen über fein Hinfcheiden und feine 
traurige Verlaffenfchaft. Auch wandelt mich die Luſt auch von 
diefer Geftaltung der Religion ein Wort zu Euch zu reden nicht 
etwa deshalb an, weil fie der Vorläufer des Chriſtenthums war: 
ich haffe in der Religion diefe Art von hiflorifhen Beziehungen; 
jegliche hat für fich ihre eigene und ewige Nothwendigkeit, und 
jeded Anfangen einer Religion if urfprünglid. Sondern mic 


422 


veizt des Judenthums fchöner Eindlicher Charakter, und biefer if | 
fo gänzlich verfchüttet, und das ganze ein fo merfwürdiged Bei: 
fpiel von dem Verderbniß und dem gänzlichen Verſchwinden der 
Religion aud einer großen Maffe, in der fie fich ehedem befand, 
daß ed deshalb wol lohnt einige Worte darüber zu verlieren. 
Nehmt einmal alles politifche, und fo Gott will, moralifche hin 
weg, wodurch dieſe Erfcheinung gemeiniglich charakterifirt wird; 
vergeßt dad ganze Erperiment den Staat anzüfnüpfen an die 
Religion, daß ich nicht fage an die Kirche; vergeßt bag das Ju— 
denthum gewiſſermaßen zugleich ein Orden war, gegründet auf 
eine alte Familiengefchichte, aufrecht erhalten durch die Prieſter; 
feht bloß auf das eigentlich religiöfe Darin, wozu died alles nicht 
283 gehört, und fagt mir, welches ift das überall hindurchſchimmernde 
Bewußtſein des Menfchen von feiner Stellung in dem ganzen 
und feinem Verhältniß zu dem ewigen? Sein anderes ald das von 
einer allgemeinen unmittelbaren. Vergeltung, ‚von einer eigenen 
Reaction des unendlichen gegen jedes einzelne endliche, das aus 
ber Willfür hervorgehend angefehen wird. So wird alles be 
trachtet, Entfiehen und Vergehen, Gluͤkk und Ungluͤkk, felbft in 
nerhalb der menfchlichen Seele wechfelt immer nur eine Aeuße 
rung der Sreiheit und Willkür und eine unmittelbare Einwirkung 
der Gottheit. Alle andere Eigenfchaften Gotted, welche auch an: 
gefchaut werden, außern ſich nach diefer Regel, und werden immer 
in der Beziehung auf diefe gefehen; belohnend, ſtrafend, zuͤchti⸗ 
gend. das einzelne im einzelnen, fo wird die Gottheit durchaus 
vorgeftelt. Als die Jünger einmal Chriftum fragten, Wer bat 
gefündiget, Diefe oder ihre Väter? und er ihnen antwortete, Meint 
Ihr daß diefe mehr gefündigt haben als andere? war jenes ber 
religiöfe Geift des Judenthums in feiner fchneidendften Geftalt, 
und diefes war feine Polemik dagegen. Daher der fich überall 
burchichlingende Parallelismus, der Feine zufällige Form ift, und 
dad Anfehn des bialogifchen,, welched in allem was religiös ift, 
angetroffen wird. Die ganze Gefchichte, fo wie.fie ein. fortdau⸗ 


— 


423 


ernder Wechfel zwifchen dieſem Reiz und diefer Gegenwirkung ift, 
wird fie vorgeſtellt als ein Gefpräch zwifchen Gott und ben 
Menichen in Wort und That, und alles was darin vereinigt ifl, 
iſt ed nur durch die Gleichheit in bdiefer Behandlung. Daher 
bie Heiligkeit der Tradition, in welcher der Zufammenhang diefes 
großen Geſpraͤchs enthalten war, und die Unmöglichkeit zur Re 
ligion zu gelangen, ald nur durch die Einweihung in dieſen Zu: 
fommenhang ; daher. noch in fpäten Zeiten der Streit unter ben 
Sekten‘ ob fie im Beſiz diefes fortgehenden Gefprächd wären. 
Eben von diefer Anficht rührt ed ber, daß in der jüdifchen Reli⸗ 
gion die Gabe der Weiffagung fo vollkommen ausgebildet iſt als 
in Seiner andern; denn im Weiffagen find doch auch die Chriften zes 
gegen fie nur Lehrlinge. Diefe ganze Idee nämlich if hoͤchſt 
findlih, nur auf einen Heinen Schauplaz ohne Verwikkelungen 
berechnet, wo bei einem einfachen ganzen die natürlichen Folgen 
der Handlungen nicht geflört oder gehindert werden; je weiter 
aber die Bekenner diefer Religion vorrüfften auf den Schauplaz 
der Welt, unter die Verbindung mit mehreren Voͤlkern: deſto 
fehwieriger wurde die Darftelung diefer Idee, und die Zantafie 
mußte dem allmächtigen dad Wort, welches er erft fprechen wollte, 
vorwegnehmen, und fich den zweiten Theil defjelben Moments 
aus weiter Ferne gleichſam vor die Augen zaubern, Zeit und 
Raum dazmwifchen vernichtend. Das ift das Weſen der Weiſſa⸗ 
gung; und dad Streben darnach mußte nothmendig fo lange noch 
immer eine Haupterfcheinung des Judenthums fein, ald es mög» 
li war jene Grundidee beffelben und mit ihr die urfprüngliche 
Form der jüdifchen Religion feflzuhalten. Der Glaube an ben 
Meſſias war ihr höchfled Erzeugniß; die großartigfte Frucht aber 
auch die legte Anftrengung diefer Natur. Ein neuer Herricher 
ſollte kommen um das Zion, worin die Stimme des Herrn ver: 
flummt war, in feiner Herrlichkeit wieder herzuftellen; und durch 
die Unterwerfung der Voͤlker unter das alte Geſez follte jener 
einfache Gang der patriarchalifchen Zeit wieder allgemein werden 


424 


in den Begebenheiten der Welt, wie er burch ber Voͤlker unfrieb: 
liche Gemeinfchaft, durdy dad Gegeneinandergerichtetfein ihrer 
Kräfte und durch die Verſchiedenheit ihrer Sitten unterbrochen 
war. Diefer Glaube hat fih lange erhalten, wie oft. eine ein- 
zelne Frucht, nachdem alle Lebenskraft aus dem Stamm gemichen 
ift, biß in die rauheſte Jahreszeit an einem welken Stiel hängen 
bleibt und an ihm vertroffnet. Der eingefchränkte Gefichtöpunft 
gewährte diefer Religion, ald Religion, eine kurze Dauer. Sie 
flarb; al& ihre heiligen Bücher gefchloffen wurden, da wurde das 
Geſpraͤch des Jehova mit feinem Wolf als beendigt angefehen. 
Die politifche Verbindung, welche an fie gefnüpft war, fchleppte 
roch länger ein ſieches Dafein, und ihr aͤußeres hat fich noch 
25 weit fpäter erhalten; die unangenehme Erfcheinung einer mecha⸗ 
nifchen Bewegung, nachdem Leben und Geiſt längft gewichen ifl. 
Herrlicher, erhabener, der erwachfenen Menfchheit würdiger, 
tiefer eindringend in den Geift der foftematifchen Religion, weiter 
fich verbreitend über das ganze Univerfum: ift die urfprünglice - 
Anfchauung des Chriftenthums. Sie ift eine andere, als die 
ded allgemeinen Entgegenftrebend alles endlichen gegen die Ein 
heit des ganzen, und der Art wie die Gottheit Died Entgegen 
fireben behandelt, wie fie die Feindſchaft gegen fich vermittelt, 
und ber größer merbenden Entfernung Grenzen fezt durch eins _ 
zelne Punkte über das ganze auögeftreut, welche zugleich endliches 
und unendliched, zugleich menfchliched und göttliche find. Das 
Verderben und die Erlöfung, die Feindſchaft und die Vermitt⸗ 
lung, das find die beiden unzertrennlicy mit einander verbundes 
nen Srundbeziehungen dieſer Empfindungsweife, und durch fie 
wird die Geſtalt alled religiöfen Stoffd im Chriſtenthum und 
deſſen ganze Form’ beftimmt. Die geiftige Welt ift abgewichen 
von ihrer Vollkommenheit und unvergänglichen Schönheit mit 
immer verftärkten Schritten; aber alles Uebel, felbft dad, daß das 
endliche vergehen muß, ehe ed den Kreis feines Dafeins volftäns 
dig durchlaufen hat, ift eine Folge des Willens, des ſelbſtſuͤchti⸗ 


425 


en Strebend ber vereinzelten Natur, die ſich überall losreißt aus 
em Zufammenhange mit dem ganzen um etwas zu fein für fich; 
uch der Tod ift gelommen um der Sünde willen. Die geiflige 
Belt ift vom fchlechten zum fchlimmeren fortfchreitend, unfähig 
was hervorzubringen worin ber göttliche Geift wirklich Iebte, 
erfinftert der Verftand und abgemwichen von der Wahrheit, ver- 
erbf dad Herz und ermangelnd jedes Ruhmes vor Gott, ver: 
iſcht das Ebenbild des unendlichen in jedem Theile der endlichen 
tatur. Dem gemäß wird auch dad Walten der göttlichen Vor⸗ 
hung in allen ihren Aeußerungen dargeſtellt. Nicht auf die 
nmittelbaren Folgen für die Empfindung ift fie gerichtet in 
rem Thun; nicht dad Gluͤkk oder Leiden im Auge habend wel⸗ 
es fie hervorbringt; nicht ‚mehr einzelne Handlungen hindernd 286 
er fürdernd: fondern nur bedacht dem Verderben zu fleuern in 
open Maſſen, zu zerflören ohne Gnade was nicht mehr zu: 
ikkzufuͤhren iſt, und neue Schöpfungen mit neuen Kräften aus 
H felbft zu fchwängern. So thut fie Zeichen und Wunder, Die 
n Lauf der Dinge unterbrechen und erfchüttern; fo ſchikkt fie 
jefandte in denen mehr oder weniger von dem göttlichen Geifte 
ohnt, um göttliche Kräfte audzugießen unter die Menichen. 
'ben fo wird auch die religiöfe Welt vorgeftellt. Auch indem es 
it der Einheit ded ganzen durch fein Selbftbewußtfein in (Ge: 
einfchaft treten will, ſtrebt das endliche ihm entgegen, fucht 
nmer ohne zu finden, und verliert wad es gefunden hat; immer 
nfeitig, immer ſchwankend, immer beim einzelnen und zufälligen 
eben. bleibend, und ‚immer noch mehr wollend ald anfchauen, 
erliert ed dad Ziel aus den Augen. Vergeblich ift jede Offen: 
arung. Alles wird verfchlungen von irdifchem Sinn, alles fort 
eriffen von dem inwohnenden irreligiöfen Princip; und immer 
eue Veranftaltungen trifft die Gottheit, immer herrlichere Offen: 
arungen gehen durch ihre Kraft allein aus dem Schooge der 
Iten hervor, immer erhabnere Mittler ftellt fie auf zwiſchen ſich 
nd den Menfchen, immer inniger vereinigt fie in jebem fpäteren 


426 


Sefandten die Gottheit mit der Menfchheit, damit durch. fie und ;, 
von ihnen die Menfchen lernen mögen das ewige Wefen erken— 
nen; und nie wird dennoch gehoben die alte Klage, daß ber 
Menſch nicht vernimmt wad vom Geifte Gottes iſt. Diele 
die Art wie dad Chriſtenthum am. meiften. und liebſten Gottes 
und der göttlichen Weltordnung in der Religion und ihrer Ge 
fchichte inne wird; und daß es fo die Religion ſelbſt als Stoff 
für die Religion verarbeitet, und fo gleichfam eine höhere Potenz 
derfelben ift, dad macht das unterfcheidendfte feines. Charakters, 
dad beftimmt feine ganze Form. Eben weil ed ein ungoͤttliches 
Weſen als überall verbreitet vorausfezt, weil died ein weſentliches Ä 
Element des Gefuͤhls ausmacht, auf welches alled übrige bezogen | 
287 wird, ift ed durch und durch polemiſch. — Polemifch in feiner ; 
Mittheilung nach außen; denn um fein innerſtes Weſen klar zu h 
machen, muß jeded Verderben, es liege in den Sitten oder in „ 
ber Denkungsart, vor allen Dingen aber die Feindſchaft gegen ;, 
dad Bewußtſein des hoͤchſten Weſens, das irreligioͤſe Princip n 
ſelbſt, überall aufgedekkt werden. Ohne Schonung entlarot & | 
daher jede falfche Moral, jede Schlechte Religion, jede unglüßltick |, 
VBermifchung von beiden, wodurch ihre beiderfeitige Bloͤße bebeilt „ 
werden fol; in die innerften Geheimniffe des verderbten Herzens „ 
dringt ed ein, und erleuchtet mit der heiligen Fakkel eigner Er 5 
fahrung jedes Uebel das im finftern fchleicht. So zerflörte ed, 5 
und dies war faft feine erfte Bewegung, ald ed erfchien, die leztt h 
Erwartung feiner frommen Zeitgenoflen, und nannte es irveligids ; ji 
und gottlos eine andere Widerherftellung zu wünfchen ober ju E 
erwarten, ald die zum reineren Glauben, zur höheren Anficht de ; 


Dinge, und zum ewigen Leben in Gott. Kühn führt es bie 
Heiden hinweg über die Trennung, die fie gemacht hatten zwi |; 
ſchen dem Leben und der Welt der Götter und ber Menfchen |, 
Wer nicht in dem ewigen lebt webt und ift, dem ift er völlig |, 
unbefannt; wer dies natürliche Gefühl, wer dies innere Bewußt: | 


fein verloren hat unter der Menge finnlicher Eindrüffe und Be ı 


427 


ven, in deſſen beichränkten Sinn iſt noch feine Religion ge: 
men. So riflen feine Herolde überall auf die übertünchten 
ber, und brachten die Zodtengebeine and Licht; und wären 
Philoſophen geweien, diefe erften Helden des Chriftenthumd, 
hätten eben fo polemifirt gegen dad Werberben der Philofo- 
. Nirgends gewiß verfannten fie die Grundzüge des gött- 
m Ebenbildes; hinter allen Entftelungen und Entartungen 
n fie gewiß den himmlifchen Keim der Religion verborgen: 
: ald Chriſten war ihnen die Hauptlache die Entfernung der 
elnen von der Gottheit, die eined Mittlerd bedarf, und fo oft 
Chriſtenthum fprachen gingen fie nur darauf. — Polemifch 
aber auch das Chriſtenthum, und das eben ſo fcharf und 
eidend, innerhaib feiner eignen Grenzen, und in feiner inner: 283 
Gemeinschaft der heiligen. Nirgends ift die Religion fo 
kommen ibealifirt, als im Chriftenthum und durch die ur: 
ingliche Vorausſezung .deffelben; und eben damit zugleich iſt 
nerwährended Streiten gegen alled wirkliche in der Religion 
‚eine Aufgabe Hingeflelt, der nie völlig Genüge geleiftet wer 
kann. Eben weil uͤberall das ungöttliche ift und wirkt, und 
(alles wirkliche zugleich als unheilig erfcheint, ift eine un: 
liche Heiligkeit das Biel des Chriſtenthums. Nie zufrieden 
dem erlangten ſucht es auch in ſeinen reinſten Erzeugniſſen, 
b in feinen heiligſten Gefühlen noch die Spuren des irreligioͤ⸗ 
„, und der der Einheit ded ganzen entgegengefezten und von 
ı abgewandten Tendenz alles endlichen. Sm Ton der höchften 
Ipiration Eritifirt einer der aͤlteſten Schriftfteller den religidfen 
Rand der Gemeinen; in einfältiger Offenheit reden die hoben 
oftel von fich ſelbſt; und fo fol -jeder in den heiligen Kreis 
en, nicht nur begeiftert und lehrend, ſondern auch in Des 
th das feinige der allgemeinen Prüfung darbringend; und 
hts fol gefchont werden, auch das liebfte und theuerfte nicht; 
hts fol je träge bei Seite gelegt werden, auch dad nicht was 
| allgemeinften anerkannt ift. Daffelbe, was exoteriſch heilig 


428 


gepriefen und als das Weſen der Religion aufgeftellt iſt vor der ı 
Melt, ift immer noch efoterifh einem firengen und wiederholten x 
Gericht unterworfen, damit immer mehr unreined abgeſchieden n 
werde, und der Glanz der himmlifchen Farben immer ungetrüb ı 
ter erfcheine im jeder frommen Regung des Gemüthed. Wie Ihr ı 
in der Natur oft feht, daß eine zufammengefezte Maffe, wen } 
fie ihre chemifchen Kräfte gegen etwas außer ihr gerichtet gehalt } 
bat, fobald died überwunden, oder dad Gleichgewicht bergeftell } 
ift, in fich felbft in Gährung geräth, und dies und jened an | 
ſich abfcheidet: fo iſt es mit einzelnen Elementen und mit ganzen k 
Maffen des Chriftentyums; es wendet zulezt feine polemifhe ı 
Kraft gegen fich felbft; immer beforgt durch den Kampf mit der L 
außern Srreligion etwas fremded eingefogen, oder gar ein Prindp 
289 des Verderbens noch in fich zu haben, ſcheut ed auch Die heftie e 
fien innerlichen Bewegungen nicht um dies audzufloßen. Die re 
ift die in feinem Weſen gegründete Gefchichte des Chriftenthume. } 
Sch bin nicht gefommen Friede zu bringen fondern dad Schwert, | 
fagt der Stifter deffelben; und feine fanfte Seele kann unmög: : 
lih gemeint haben, daß er gefommen fei jene blutigen Bewe 
gungen zu veranlaffen, die dem Geift der Religion- fo völlig zw ı 
wider find, oder jene elenden Wortflreite die fi) auf den todtn 
Stoff beziehn, den die lebendige Religion nicht aufnimmt; nur | 
diefe heiligen Kriege, die aus dem Weſen feiner Lehre nothwen | 
dig entfliehen, und die oft eben fo herbe, wie er es befchrieben, |} 
die Herzen von einander reißen, und die innigften Zebensverhält ' 
niffe faft auflöfen; nur diefe hat er vorausgefehn, und indem er |ı 
fie voraudfah, befohlen, — Aber nicht nur die Befchaffenheit der | 
einzelnen Elemente des Chriftenthums ift diefer befländigen Sic Iı 
tung unterworfen; aud auf ihr ununterbrochened Dafein und : 
Leben im Gemuͤth geht: dad unerfättliche Verlangen nach immer N 
firengerer Läuterung, nach immer reicherer Fülle. In jedem Mor } 
ment, wo das religiöfe Princip nicht wahrgenommen werden ana n 
im Gemüth, wird das irreligiöfe ald berrfchend gedacht: dem 


429 


ein anderes entgegengefezte giebt ed nicht, ald nur in fofern das, 
was ift, aufgehoben und auf nichtd gebracht ift in feiner Erfchei- 
nung. Jede Unterbrechung der Religion ift Srreligion; das Ge: 
müth farm fich nicht einen Augenblikk entblößt fühlen von Wahr: 
nehmung und Gefühl des unendlichen, ohne fich zugleich der 
Feindſchaft und Entfernung von ihm bemußt zu werden. So 
hat das Chriſtenthum zuerft und wefentlich die Korderung ‚gemacht, 
daß bie Froͤmmigkeit ein beharrlicher Zuftend fein fol im Men- 
fchen, und verfchmäht auch mit den flärkften Aeußerungen derfel- 
ben zufrieden zu fein, fobald fie nur gemwiffen Theilen deö Lebens 
angehören, und nur diefe beherrfchen fol. Nie fol fie ruhen, 
und nichts fol ihr fo ſchlechthin entgegengefezt fein, daß es nicht 
mit ihr beftehen könne; von allem endlichen follen wir aufd un: 
endliche fehen, allen Empfindungen des Gemüthed, woher fie auch 200 
entiianden feien, allen Handlungen, auf welche Gegenflände fie - 
fi) auch beziehen mögen, follen wir im Stande fein religiöfe 
Gefühle und Anfichten beizugefellen. Das ift das eigentliche höchfte 
Ziel der Birtuofität im Chriftenthum. 

- Wie nun die urfprüngliche Anficht deffelben, auf welche alle 
andere Verhältniffe bezogen werden, auch im einzelnen den Cha: 
rakter feiner Gefuͤhle beftimmt, dad werdet Ihr leicht finden. 
Oder wie nennt Ihr das Gefühl einer unbefriedigten Sehnfucht, 
die auf einen großen Gegenftand gerichtet ift, und deren Unend⸗ 
lichkeit Ihr Euch bewußt feit? Was ergreift Euch, wo Ihr dad 

; heilige mit dem profanen, das erhabene mit dem geringen und 
‚nichtigen aufs innigfte gemifcht findet? und wie nennt Ihr die 
r Stimmung, die Euch bisweilen nöthiget diefe Miſchung überall 
s vorauszufezen und überall nach ihr zu forfchen? Nicht bisweilen 
» ergreift fie den Chriften, fondern fie ift der herrfchende Ton aller 
ı feiner  veligiöfen Gefühle, diefe heilige Wehmuth: denn das ift 
H der einzige Name, den die Sprache mir darbietet; jede Freude 
rs und jeden Schmerz, jede Liebe und jede Furcht begleitet fie; ja 
; in feinem Stolz wie in feiner Demuth ift fie der Grundton auf 


430 | 


den fich alles bezieht. Wenn Ihr Euch darauf verfteht aus ein- 
zelnen Zügen das innere eines Gemüthd nachzubilden, und Eu 
durch dad fremdartige nicht flören zu laffen, dad ihnen, (Gott 
weiß woher, beigemifcht ift: fo werdet Ihr in dem Stifter de 
Chriſtenthums durchaus diefe Empfindung herrfchend finden. 
Henn Euch ein Schriftfieler, der nur wenige Blätter in einer 
einfachen Sprache hinterlaffen hat, nicht zu gering iſt, um Eurt 
Aufmerkfamteit auf ihn zu wenden: fo wird Euch aus jedem 
Worte, wad und von feinem Bufenfreund übrig iſt, Diefer Ton 
anfprechen 20). Und wenn je ein Chriſt Euch in dad heiligfe 
feines Gemüthes bineinhorchen ließ: gewiß habt Ihr eben Dielen 
Ton darin vernommen. 
So ift das Chriſtenthum. Auch feine Entflelungen u und 
fein mannigfaltiged Werderben will ich nicht befchönigen, da bie 
291 Verderblichkeit alles heiligen fobald ed menfchlich wird ein Theil 
feiner urfprünglichen Weltanfchauung if. Auh will ich Euch 
nicht weiter in das einzelne befjelben hineinführen; feine Ber: 
handlungen liegen vor Euch, und den Faden glaube ich Eudy ge 
geben zu haben, der Euch durch alle Anomalien hindurchführen, 
und unbeforgt um den Audgang Euc die genauefte Weberficht 
möglich machen wird.. Haltet ihn nur feft, und ſeht vom erſten 
Anbeginn an auf nichtd, als auf die Klarheit, die Mannigfaltig⸗ 
feit und den Reichthum, womit jene erſte Grundidee ſich entwib 
Felt hat. Wenn ich dad heilige Bild deffen betrachte in den ver 
flümmelten Schilderungen feines Lebens, der der erhabene Urheber 
des berrlichiten ift, was es bis jezt. giebt in der Religion: ſo 
bewundere ich nicht die Reinigkeit feiner Sittenlehre, die doche 
nur ausgeſprochen hat, was alle Menichen, die zum Bemwußtfein -, 
ihrer geifligen Natur gekommen find, mit ihm gemein haben, i 
und dem weder das Ausfprechen noch dad Zuerft einen größem |, 
Werth geben kann, ich bewundere nicht die Eigenthümlichkät 
. feines Charakterö, die-innige Wermählung hoher Kraft mit rük } 
render Sanftmuth, da jedes_erhaben einfache Gemüth in eine fr 


suwur 


m mm nun. 


431 


befondern Situation einen großen Charakter in beflimmten Zügen 
Darftellen muß; das alles find nur menfchlihe Dinge; aber das 
wahrhaft göttliche ift die herrliche Klarheit, zu welcher die große 
Idee, welche darzufiellen er gefommen war, fich in feiner Seele 
ausbildete: die Idee daß alled endliche einer höheren Wermitte- 
lung bedarf, um mit der Gottheit zufammenzuhängen, und daß 
für den von dem endlichen und befonderen ergriffenen Menſchen, 
dem fich nur gar zu leicht das göttliche felbft in dieſer Form 
darftellt, nur. Heil zu finden ift in der Erlöfung. Vergevliche 
Verwegenheit ift es den Schleier hinwegnehmen zu wollen, der 
die Entſtehung dieſer Idee in ihm verhuͤllt und verhuͤllen ſoll, 
weil aller Anfang auch in der Religion geheimnißvoll iſt. Der 
vorwizige Freyel, der es gewagt hat, konnte nur das goͤttliche 
entſtellen, als waͤre Er ausgegangen von der alten Idee ſeines 
Volkes, deren Vernichtung er nur ausſprechen wollte, und in der 2m 
That in einer zu glorreichen Form auögefprochen hat, indem er 
behauptete der zu fein, deſſen fie warteten. Laßt und das leben⸗ 
dige Mitgefühl für die geiftige Welt, das feine ganze Secle er: 
füßte, nur fo betrachten, wie wir es in ihm finden zur Voll⸗ 
tommenheit auögebildet. Wenn alles endliche der Vermittlung 
eined höheren bedarf, um ſich nicht immer weiter von.dem ewigen 
zu entfernen und ins leere und nichtige hinauögeflreut zu wer⸗ 
den, um feine Verbindung mit dem ganzen zu unterhalten und 
zum Bewußtſein derfelben zu kommen: fo kann ja dad vermits 
telnde, dad doch felbft nicht wiederum der Vermittlung benöthigt 
fein darf, unmöglich bloß, endlich fein; e& muß beiden angehören, 
es muß des göttlichen Weſens theilhaftig fein, eben fo und in 
eben dem Sinne, in welchem es der endlichen Natur theilhaftig 
iſt. Was fah er aber um ſich ald endliched und der Vermitt. 
Yung bedürftiges, und wo war etwad vermittelndes ald Er? 
Niemand Eennt den Vater ald der Sohn, und wem Er ed offen: 
baren will. Diefes Bewußtſein von der Einzigkeit feines Wiſ⸗ 
ſens um Gott und Seins in Gott, von der Urfpränglichfeit der 


432 


Art wie ed in ihm war, und von der Kraft derſelben fich mit 
zutheilen und Religion aufzuregen, war zugleich das Bewußtſei 
feines Mittleramted und feiner Gottheit. Als er, ich will nid 
fagen der rohen Gewalt feiner Zeinde, ohne. Hoffnung länge 
leben zu können, gegenüber geftelt ward; das iſt unausſprechlich 
gering; aber ald Er’ verlaffen, im Begriff auf immer zu ver 
flummen, ohne irgend eine äußere Anftalt zur Gemeinfchaft unter 
den feinigen wirklich errichtet zu fehn, gegenüber der feierlichen 
Pracht der alten verderbten Verfaffung, die ihm ftarf und maͤch⸗ 
tig _entgegentrat, umgeben von allem was Ehrfurcht einflößen 
und Unterwerfung heifchen kann, von allem was Er felbfl zu 
ehren von Kindheit an war gelehrt worden, felbft allein von 
nichts als diefem Gefühl unterftüzt, dennoch ohne zu warten je 
ned Sa ausſprach, dad größte Wort was je ein Sterblicher ge 
203 fagt hat: fo war dies die herrlichfte Apotheofe, und feine Gott: 
heit kann gewiffer fein. ald die welche fo fich ſelbſt verkuͤndi⸗ 
get 15). — Mit diefem Glauben an fich felbfi, wer mag fi 
wundern, daß er gewiß war nicht nur Mittler zu fein für viele, 
fondern auch eine große Schule zu Hinterlaffen, die ihre gleiche 
Religion von der feinigen ableiten würde? fo gewiß, daß er 
Symbole ftiftete für fie, ehe fie noch eriftixte, welches er that in 
der Ueberzeugung, daß fchon dieſes hinreicken würde feine Juͤn 
gerichaft. zu einem feften Dafein zu bringen; und fo gewiß, daß 
er fchon früher von der Verewigung feiner perfönlihen Denk 
-würdigleiten unter den feinigen mit einem prophetifchen Enthu⸗ 
ſiasmus redete. Aber nie hat er behauptet der einzige Mittler 
zu fein, der einzige, in welchem feine Idee fich verwirklicht; fon ' 
bern alle, die ihm anhingen und feine Kirche bildeten, ſollten eß 
mit ihm und durch ihn fein. Und nie hat er feine Schule vum 1 
wechfelt mit feiner Religion, als follte man um feiner Perfon 3 
willen feine Idee annehmen, fondern nur um diefer willen aud % 
jene; ja er mochte es dulven, deß man feine Mittlerwürbe dahin 
geftelt fein lieg, wenn nur der Geift, dad Princip woraus fh Fi 


en on A u 3 A [ur 


em — — — an u — a m 


433 


feine ‘Religion in ihm und andern entwilfelte, nicht geläftert 
ward; und» audy von feinen Juͤngern war diefe Verwechſelung 
fern. Schüler des Taͤufers, der Doch in dad Weſen des Ghriften: 
thrmd nur fehr unvolllommen eingeweiht war, wurden von bem 
Apofteln ohne weiteres als Chriften angeſehen und behandelt, 
und fie nahmen fie unter die wirklichen Mitglieder der Gemeine 
auf. Und noch jezt follte es fo fein; wer von demielben Haupt 
punkt mit feiner Religion ausgeht, iſt ein Chriſt ohne Ruͤkkficht 
auf die Schule, er mag feine Religion hiſtoriſch aus fich felbft 
oder von irgend einem_andern ableiten; denn das wirb fich von 
ſelbſt ergeben, dag wenn ihm dann Chriſtus mit feiner ganzen 
Virkſamkeit gezeigt wird, er Ihn auch anerkennen muß als ben, 
der aller Vermittlung Mittelpunkt gefchichtlicy geworben iſt: ber 
wahrhaft Erlöfung und Verſoͤhnung gefliftet hat 1°). — Nie hat 
auch Ehriftus die religiöfen Anfichten und Gefühle, die er ſelbſt 
mittheilen Fonnte, für den ganzen Umfang der Religion auögeges zus 
ben, welche von feinem Grundgefüht auögehen follte; er hat im⸗ 
mer auf die lebendige Wahrheit gewielen, die nach ihm kommen 
würbe wennglei nur von dem feinigen nehmend. So auch 
feine Schüler. Nie haben fie dem heiligen Geiſte Grenzen gefezt, 
feine unbefchränfte Freiheit und die durchgängige Einheit feiner 
Dffenbarungen ift überall von ihnen anerkannt worden; und wenn 
fpäterhin, als die erfle Zeit. feiner WBlüthe vorüber war, und er 
auszuruhen fchien von feinen Werken, diefe Werke, foviel davon 
in ben heiligen Schriften enthalten war, für einen gefchloffenen 
Coder der Religion unbefugtermeife erklärt wurden, gefchah das 
nur von denen, welche den Schlummer des Geiſtes für feinen 
Tod hielten, für welche die Religion ſelbſt geſtorben wars; aber 
alle, die ihr Leben noch in fich fühlten oder es in andern wahr⸗ 
nahmen, haben fi) immer gegen dieſes unchriftliche Beginnen 
erklärt. Die heiligen Schriften find Bibel geworden aus eigner 
Kraft: aber fie verbieten Feinem andern Buche auch Bibel zu 
fein oder zu werden, und was mit gleicher Kraft gefchrieben 
Schleierm. W. I. | Gt 


434 


wäre, würden fie fich germ beigefellen laffen; vielmehr ſoll ſich 
alles, was als Ausſpruch der gefammten Kirche und alſo de 
göttlichen Geiſtes auch fpäter erfcheint, getroft an fie anfchließen, 
wenn auch ihnen ald den Erfilingen ded Geiftes eine befonder 
Heiligkeit und Würde unaudtilgbar beimohnt 17). — Diefer un 
befchräntten Freiheit, dieſer weſentlichen Unendlichkeit zu Folge 
has ſich denn die Hauptidee des Chriſtenthums von göttlichen 
vermittelnden Kräften auf mancherlei Art ausgebildet, und alle 
Anfchauungen und. Gefühle von Einwohnungen des göttlichen 
Weſens in der endlichen Natur find innerhalb deſſelben zur Voll: 
kommenheit gebracht worden. So ift ſehr bald die heilige Schrift, 
in der auch göttliched Weſen und bimmlifche Kraft auf eine eigne 
Art wohnte, für einen logiihen Mittler gehalten worden um für 
die Erkenntniß der Gottheit aufzufchliegen die endliche und ver» 
derbte Natur ded Verfiandes, und der heilige Geiſt, in einer ſpaͤ⸗ 
os teren Bedeutung des Wortes, für einen ethilchen Mittler, um 
fih der Gottheit handelnd anzunähern; ja eine zahlreiche Parthei 
der Chriſten erfiärt noch jezt bereitwillig jeden für ein vermitteln: 
des und göttliche Weſen, der erweiſen kann durch ein: göttliche: 
Leben oder irgend einen andern Eindrukk der Goͤttlichkeit auf 
nur für einen Heinen Kreis die erfte Erregung des höheren- Sie: 
weh gewefen zu fein. Andern ift Chriftus eins und alles geblie 
ben, und andere haben fich ſelbſt oder dies und jenes für fich zu 
Mittlern erklärt. Wie oft in dem allen in der Form und Mas 
terie mag gefehlt fein, dad Princip ift ächt chriftlich fo lange es 
frei if. So haben andere Verhältniffe des Menſchen fich in 
iprer Beziehung auf den Mittelpunkt des Chriſtenthums durch 
andere Gefühle auögedrüflt und durch andere Wilder dargeftellt, 
von denen in Chriſti Reden und ſonſt in den heiligen Büchern 
nichts ermähnt ifl, und mehrere werden fich in der Folge dar 
flellen, weil ja noch bei weitem nicht dad ganze Sein des Men 
fchen gefaltet ift in die eigenthümliche Form des Chriftenthums, 
fondern dieſes noch eine lange Gefchichte haben wird, troz allem 


435 


was man fagt von feinem balbigen ober fchon erfolgten Unter 
gange. | 

Wie ſollte ed auch untergehn? Der lebendige Geift deſſelben 
ſchlummert zwar oft und lange, und zieht ſich in einem Zuflande 
ber Erflarrung in die todte Hude des Buchſtaben zurüff, aber 
er erwacht immer wieder, fo oft die Witterung in der geiftigen 
Melt. feiner Auflebung günflig. ift, und feine Säfte. in Bewe⸗ 
gung fest; und fo wird es noch oft wiederkehrend ſich anders 
und anders erneuern. Die Grundidee jeder pofitiven Religion 
an ſich if ewig und allgemein, weil fie ein ergängender Theil 
ded unendlichen ganzen ift, in dem alled ewig fein muß; aber 
ihre ganze Bildung und ihr zeitliched Dafein iſt nicht in dem⸗ 
felben Sinne allgemein, noch ewig; denn in jeme Idee grade 
den Mittelpunkt der Religion zu legen, dazu gehört nicht nur 
eine befiimmte Richtung des Gemuͤths, fondern auch eine be& 
fimmte Lage der Menfhheit. IR diefe in dem freien Spiel. 
des allgemeinen Lebens untergegangen, und hat ſich dieſes fo 
weiter geftaltet, daß fie nicht mehr wiederkehren kann: fo vermag 206 
auch. jened Verhaͤltniß feine Würde, vermöge deren ed alle an- 
deren von fi abhängig macht, im Gefühl. nicht länger zu be - 
haupten; und dieſe Geflalt der Religion kann dann nicht mehr - 
fortdauern. Mit allen kindiſchen Religionen aus jener Zeit, we 
es der Menfchheit am Bewußtſein ihrer wefentlichen Kräfte 
fehlte, ift dies Längft Ichon der Fall; ed thut Roth fie zu fams 
meln als Denfmäler der Vorwelt und niederzulegen im Maga- 
zin der Gefchichte; ihr Leben ift voräber und kehrt nimmer zus 
ruft. Das Chriftentyum über fie alle erhaben, biftorifcher und 
demüthiger in feiner Herrlichkeit, hat dieſe Wergänglichkeit feines 
zeitlichen Dafeind ausdrüfflich anerfannt. Es wird eine Zeit . 
fommen, fpricht ed, wo von feinem Mittler mehr die Rede fein 
wird, fondern der Water alles in allem fein. ber wann fol 
diefe Zeit fommen? Ich wenigfiens kann nur glauben, fie liegt 
außer aller Zeit. Die Verderblichkeit alled großen und goͤttlichen 

Er? 


436 


ih den menfchlichen Dingen if die eine ‚Hälfte von ber. ur 
fprünglichen Anfchauung des Chriſtenthums; follte wirklich eine 
Zeit kommen, wo dieſe — ich. will ‚nicht fagen gar nicht mehr 
wahrgenommen würde, fonden vur — fich nicht mehr aufs 
drange? wo die Menfchheit fo gleihförmig und ruhig fortfchritie, 
dag kaum zu merken wäre wie fie bisweilen durch einen vor 
übergehenden widrigen Wind etwas zuruͤkkgetrieben wirb auf dem 
‚großen Ocean den fie durchfährt, daß nur der Künftler, . der ihren 
Lauf an den Geſtirnen berechnet, es willen Tonne, die uͤbrigen 
aber, welche unbewaffneten Auged nur auf die Ereigniffe ſelbſt 
fehen, den Ruͤkkgang der menfchlihen Dinge nicht mehr unmit: 
telbar bemerken würden? Ich wollte ed, und gern fände ich un 
ter diefer Bedingung auf den Ruinen der Religion die ich ver 
ehre. Daß gewiſſe glänzende und göttliche Punkte der urfprüng 
liche Siz jeder Werbeflerung dieſes Verderbniſſes find, und jeder 
neuen und näheren Bereinigung bed endlichen mit der Gottheit, 
dies iſt die andere Hälfte des urfprünglichen chriſtlichen Glau⸗ 
bens: und follte je eine Zeit kommen, wo die Kraft, die und 
297 zum hoͤchſten Weſen emporzieht, fo gleich vertheilt wäre umter 
die große Maſſe der Menfchheit, daß diejenigen, welche fie ſtaͤr⸗ 
ter bewegt, aufhärten vermittelnd zu fein für bie andern? Ich 
wollte es, und gern huͤlfe ich jede Groͤße ebnen, die fich allo 
erhebt: aber dieſe Gleichheit iſt mol weniger ‚möglich als irgend 
fonft eine. Zeiten des Verderbens fliehen allem irdifchen bevor, 
fei e8 auch göttlihen Urſprungs; neue Gotteögejendete werden 
nöthig um mit erhöhter Kraft das zurüffgewichene an fich zu 
siehn und dad verberbte zu reinigen mit himmliſchem Feuer; 
und jede folche Epoche der Menichheit wird die Palingenefie bed 
Chriftentyumes, und erwekkt feinen Geift in einer neuern umd 
fchöneren Geſtalt. 
Wenn ed nun aber immer Ghriften geben wird, foll bei 
wegen das Chriſtenthum auch in feiner allgemeinen Verbreitung 
unbegrängt und als die einzige Geſtalt der Religion in der 


437 


Menfchheit allein herrſchend fein? Es verfchmäht biefe befchräns 
kende Alleinherrſchaft; ed ehrt jedes feiner eignen Elemente genug 
um e3 gern auch ald den Mittelpunkt eined eignen ganzen ans 
zufchauen; es will nicht nur in fih Mannigfaltigkeit bis ins 
unendliche erzeugen, fondern möchte auch außer ſich alle anfchauen, 
die ed aus fich felbft nicht herausbilden kann. Nie vergefiend 
daß es den beflen Beweis . feiner Ewigkeit in feiner eignen Ber: 
derblichkeit, in feiner eignen oft traurigen Gefchichte hat, und 
immer wartend einer Erlöfung aus ber Unvollfommenpeit, . von 
| der es chen gedruͤkkt wird, ſaͤhe ed gern außerhalb dieſes Verder⸗ 
bens andere und jüngere, wo möglich Eräftigere und fchönere, 
Geflaiten der Religion hervorgehn dicht neben fich aus allen 
Yunften, auch von jenen Gegenden her, die ihm ald die Außer: 
flen und zweifelhaften Grenzen ber Religion überhaupt erfcheinen. 
Die Reigion der Religionen Tann nicht Stoff genug ſammeln 
für ihre reine Reigung zu allem menfchlichen; und fo wie nichts 
irreligioͤſer iſt als Einfoͤrmigkeit zu fordern in der Menſchheit 
uͤberhaupt, ſo iſt nichts undriflice als Einförmigkeit zu fuchen 
in der Religion. 

Auf alle Weife werde die Gottheit angefchaut und angeber ze 
tet. Vielfache Geflalten der Religion -find möglich in einander 
- und neben einander; und -wenn es nothwendig iſt daß jede zu 
irgekd einer- Zeit: wirklich werde, fo wäre wenigfiend zu wuͤn⸗ 
ſchen daß viele zu jeder Zeit koͤnnten geahndet werden. Die 
großen Momente koͤnnen nur ſelten ſein, wo alles zuſammentrifft 
um einer unter ihnen ein weit verbreitetes und dauerndes Leben 
zu.fichern, wo biefelbe Anficht fich in einer großen Maffe zugleich 
und unmiderfichlich entwikkelt, und viele. von demſelben :Eindruff 
des göttlichen durchdrungen werden. Doch was ift nicht zu ers 
warten von einer Zeit, welche fo offenbar die Grenze iſt zwifchen 
zwei verfchiedenen Ordnungen der Dinge? Wenn nur erft die 
gewaltige Krifis vorüber ift, kann fie auch einen folden Moment 
berbeigebracht haben; und eine ahndende Seele wie die flammens 


438 


den Geiſter unferer Zeit fie in fich tragen ı*) auf den fchaffen- 
den Genius gerichtet, koͤnnte vielleicht jezt jchon den Punkt an 
geben, der künftigen ‚Beichlechtern der Mittelpunkt werben muß 
für. ihre Gemeinfchaft mit der Gottheit. Wie bem aber auch fei, 
und wie lange ein folcher Augenblikk noch verziehe: neue Bil: 
dungen ber Religion, feien fie nun untergeordnet dem Chriſten⸗ 
thum ober neben bafjelbe geftellt, müflen hervorgehen, und zwar 
bald; follten fie auch lange nur in einzelnen und flüchtigen Er⸗ 
fheinungen wahrgenommen werden. Aus dem Nichts ‘gebt immer 
eine neue Schöpfung hervor, und nicht if Die Religion faſt in 
allen Genoffen ber jezigen Welt, denen ein geiſtiges Leben in 
Kraft und Fülle aufgeht. In vielen wird fie fih entwikkeln 
aus irgend einer von den unzähligen Beranlafiungen, und wird 
in neuem Boden zu einer neuen Geflalt fich bilden. Nur daß 
die Seit der Zuruͤkkhaltung vorüber fei, und ‘der Scheu. Die 
Religion haft die Einfamteit, und in ihrer Jugend zumal, welthe 
ia für alles die Stunde der Liebe ift, vergeht fie in zehrende 
Sehnſucht. Wenn fie ſich in Euch entwikkelt, wenn ihr bie ex 
flen Spuren ihre Lebens inne’ werbet: fo tretet gleich im bie 
Eine und untheilbare Gemeinfchaft der heiligen, die alle Reli⸗ 
gionen aufnimmt, und in ber allein jede gedeihen kann. hr 

209 meint, weil diefe zerftreut ift und fern, müßte .auch Ihr dann 
unbeiligen Obren reden? Ihr fragt, welche Sprache geheim ge: 
nug fei, die Rede, die Schrift, die That, die file Mimik des 
Geiſtes? Dede, antworte ich, und Ahr feht, ich habe auch bie 
lauteſte nicht geſcheut. Im jeber bleibt das heilige geheim und 
vor den profanen verborgen. Laßt fie an der Schale nagen wie. 
fie mögen; aber weigert Uns nicht den Gott anzubeten, der in 
Euch ſein wird. | 


439 


Erläuterungen zur fünften Rede 


1) ©. 390. Da hier die auch an früheren Stellen fchon verhandelte Frage 
auf eine kurze Formel gebracht ift, nämlich Vielheit der Religion und Gin; 
heit der Kirche ober der Gemeinfhaft: fo veranlagt mich dies noch etwas 
hinzuzufügen zu den Erläuterungen über dieſen fcheinbar paradoren Saz. Es 
iſt vorzüglich zweierlei. Zuerſt biefes, daß es in jeder Glaubensweife bie 
befchränfteren find, welche die Gemeinfchaft fo fireng abfchliegen, daß fle auf 
ber. einen Seite an den Religionsübungen anderer Glaubensweifen gar Fei- 
nen Theil nehmen wollen, und alfo auch in völliger Unfunde ihrer Art und 
ihres Geiſtes bleiben, und auf der andern um ber geriugften Abweichung 
willen auch gleich eine befondere Gemeinfhaft unter fich fliften möchten. 
Hingegen find es tie frgieren und ebleren, welche nicht nur als unthätige 
Zuſchauer, fondern fo weit es gehn will durch lebendige Theilnahme an dem 
Gottesvienft, deſſen Beſtimmung ja vorzüglich in der Darftellung liegt, fi 
bas Gemüth fremder Glaubensgenofien liebend zu vergegenmwärtigen fuchen. 
Wäre dies nicht vorangegangen zwifchen den Gliedern der beiden evangelis 
ſchen Kirchengemeinfchaften: fo wäre and ba, wo fie am meiften unter ein- 
ander gemifcht find, jezt noch eben fo wenig als vor hundert nnd dreihundert 
Jahren an eine Bereinigung beider zu denken; wer alfo dieſe lobt muß jenes 
anch loben. Allerdings Tann 3.8. leichter ein Katholif Ach an dem ganzen 
evangelifchen Gottesdienſt, bei dem er höchftens nur manches vermißt, was 
ihm auf andere Weife zum Theil wenigftens erfezt wird, erbauen, als ein 
Broteftant au dem Eatholifchen, der ihm auf das pofltivfte den Gegenfaz zwi: 
ichen beiden Glanubensweifen vorftellt, nnd in dem er alfo vieles findet, das 
für ihn nicht Ausdrukk feiner Glaubensweife fein Tann. Aber doch wird es 
eine Art geben nicht indifferentiftifch fondern innerlich umbilvend berichtigen 
übetfezend an vielem Theil zu nehmen; und nur ein Proteftant der dies thut 300 
wird fih rühmen können den Typus des Tatholifchen -anfgefaßt, and auch an 
dem Brüfflein des Gegenſazes feinen Glauben bewährt zu haben. — Hiemit 
num hängt auch das zweite zufammen, dag nämlidy nur das Beitreben nach 
einer folchen alles verflechtenden und umfchlingenden Gemeinſchaft das wahre 
und tadellofe Princip der Duldſamkeit if. Denn nimmt man biefe Möglich: 
feit einer wenn and) entfernteren Gemeinfchaft ganz weg, fo bleibt nichts 
anderes Abrig als die Verfchievenheiten in der Geſtaltung der Religion nur 
ale ein unvermeldliches Uebel anzuſehen. Grade wie die Duldfamkeit ver: 
ſchieden conflituirter Staaten gegen einander doch darauf beruft, daß dennoch 
eine Gemeinfchaft unter ihnen möglich ift; wo aber dieſe aufhört da tritt 
auch die Undulpfamfeit ein, umd es wird ein vermeintliches Recht in Anſpruch 
genommen ich in fremde Angelegenheiten zu mifchen, weldyes doch nur durch 
die That gegeben werben Tann, wenn nämlich eine Berfaflung wirklich nad 
außen zerftörenp auftritt, nie aber kann es durch ein Raifonnement ober eine 
eingebildete Wahrfcheinlichteit begründet werden. Es find aber immer nar 
die engherzigen, die fich ein ſolches Recht anmaßen; die freieren aber fuchen 


440 


überall die Gemeinſchaſt zu Inäpfen, und dadurch bie allgemeine Zuſammen⸗ 
gehörigkeit des menschlichen Geſchlechtes barzuftellen, ohne daß dadurch die 
Liebe zu ihrer vaterlänvifchen Verfaſſung im mindeften gefchwächt wird, wie 
denn andy die wahre Duldſamkeit anf dem Gebiet der Religion von allem 
Indifferentismus weit entfernt ifl. 


2) S. 398. Diefe Aenperung ſchmelkkt freilich ſehr ſtark nach der Zeit, 
wo dieſes Buch zuerft gefchrichen wurde, nach der Zeit, wo es gar fein ge: 
. meinfames großes Interefie gab, wo wir unfern eignen Zufland une jeber 
nach feinen befonderen Beziehungen fehäzten ohne Spur eines Gemeingelſtes, 
ja wo ſelbſt die fragzöftfche Revolution, wiewol fle fich ſchon fehr ale Welt: 
begebenheit entwiffelt hatte, doch unter uns noch anf eine durchaus felbfs 
fühtige and alfo hoͤchſt vifferente und fchwanfende Weile betrachtet ward. 
Erſt fpäterhin in den Zeiten des Elendes fowol als des Ruhmes, haben wir 
bie Kraft gemeinfamer Empfintungen wieder kenner geleyut, und zugleich mit 
biefer iſt auch das Bewußtſein und der Troft gemeinfchaftlicher Frömmigkelt 
wieder eingefehrt, Und auch jezt kann man leicht eines durch das aͤndere 
meſſen. Denn wo man in den Angelegenheiten des Vaterlandes flatt der er 
warteten That leere Worte giebt, da ift auch die Frömmigfeit leer, und elite 
fie fih auch eifrig an bis zur Härte. Und wo das Intereffe an der Verbeſ⸗ 
ferung unferes "Iuftandes In kraukhafte Partheiungen zerfallen if, da artet 
auch die Frömmigkeit wieder aus in Sektirerei. Man ficht bierans, daß Ies 
bendige Aufregung. des natürlichen und gefunden Gemeingeiftes die Klarhelt 
Im der Religion kraͤftiger fördert als jede Fritifche Analyſe, die, wo ſolche Im: 
zorpnlfe fehlen, nur zu leicht ffeptifch wird, wie auch bie iq der Rede folgenden 
Morte andeuten, und daß die großen gefelligen Interefien fchwächen immer 
auch heißt die Frommigkeit lühmen und irre machen. Daher auch die Kell: 
gionsgeſellſchaften, welche eine yerbunfelnde Tendenz haben, wohl thun fd 
von aller Berührung mit anderen Bormen ber Religion frei zu halten, 


3) S. 3989. Hier habe ich etwas geändert und ein willkührliches di 
mologifches Spiel fahren, lafien, um mich auf das gefchichtliche zurüffzugichen, 
Denn wenn man die mannigfaltigen Theilungen einer und derſelben Glau⸗ 
bensweife betrachtet: fo if: wol offenbar, daß fie nicht alle von gleichen 
Werth find. Diejenigen’ nämlich, welche das ganze anf eine eigentbämlice 
Weiſe umbilden, haben einen natürlichen Werth, und beſtehn mit ihrem gutes 
Recht; alle Spaltungen aber um eimzelner Punkte willen, die keinen weit 
"verbreiteten Ginfluß haben, wie die meiften, bie fich in dem erſten Jahrhun⸗ 
derten von dem großen Körper ver Kirche abjonderten, verbaufen ihre befow 
dere Griſtenz nur der Hartnälfigleit des geringen Theils, von welchem bie 
Spaltung ansgingz allein außer dem was fic abweichend bilden, vernachläfi- 
geu fie Doch das ührige nicht, wenn nicht etwa eine fortgefezte Bolemif fie 
über jenes eine fortwährend in Athem hält, Diejenigen aber werden aud 
. am meiften Schten genannt, und verdienen auch nur einen Namen ber eine 
freiwillige Ausfchliegung andentet, welche ſich in wenige abweichend gebilvete 
Anfichten ansichliegend vertiefen, und fich alles übrige fremd werben laſſen; 


4 


- und hierbei Tiegt wol immer eine einzelne befchränkte aber in Ihrer" Befchränfts 

heit kraͤftige Perfönlichfeit zum Grunde, 

4) S. 401. cher den Rang ven ich diefer Differenz anweiſe, habe ich 
mich fchon wie ich hoffe zur Genüge erflärt. Der Gegenfaz aber zwiſchen 
Perſonalismus und Bantheismus, der hier als durch alle drei Stufen durch⸗ 
gehend vorgeftellt wird, giebt mir Beranlafiung ‚die Sache andy noch von 
biefer. Seite zu erläutern. Auch anf der zweiten Stufe nämlich, der poly 
theiſtiſchen, if dieſer Gegenſaz unverfenubar; nur tritt er weniger beutlich 
bersor, wie in allem unvollfommnern die Gegenfäge weniger gefpaunt find. 
Dean wie wenig Einheit die meiften dieſer göttlichen Einzelweien in ber. hels 
leniſchen Mythologie haben, wenn man alles, was von ihrer Gefchichte vor 
kommt, zufammen vereinigen will; fo daß man um alles zu erflären immer 
genöthigt iſt auf verfchievene Entfichungen ihres Dienftes und auf verfchie: 
dene Heimathen und Charaktere der dahin gehörigen Mythen zurükkzukom⸗ 
men: das liegt zu Tage. Indem nun bie Perfönlichfeit hier Iofe if, ſo ſpie⸗ 
len die Seftalten in das ſymbollſche hinein; und manche fremden Urfprungs, 
anf Die unr heshalb, weil ohnedies "feine feſte PBerfönlichfeit da war, einheis 
mifche Namen konnten übertragen werben, find ganz fombolifch wie die ephes 
ſiſche Diana, welche rein das allgemeine Leben, die natara naturans, bie der 

Perſonlichkeit grade entgegengefezt iſt, darftellt. Im den egyptifchen aber und 302 
inbifchen Syſtemen ift eutweber das ſymboliſche die Bafis oder das hierogly⸗ 
phifche; bier alfo liegt gar- feine PBerfönlichkeit zum Grunde, und eine foldhe 
rein fymboliihe Darſtellung der Grundurfachen hat eigentlich feine Götter 
mit Bewußtfein, fondern ift wahrhaft pantheiftifch. Allein die dramatiſireude 
oder epifirende Darftellung des Verhiltnifies der fymbolifchen- oder hierogly⸗ 
phiſchen Weſen bringt einen Schein von Berfönlichkeit hervor, und fo feheis 
nen dieſe beiden Formen des Polytheismus die perfonaliftifche und pantheiſtiſche 
in einander überzugehen; allein dem Prineip nad) find fie fehr wohl zu fchei- 
den. Daß nun auch auf der chaotifchen Stufe oder dem Fetiſchismus derfelbe 
Gegeüuſaoz flatt finde, ergiebt ſchon die Analogie, zugleich aber auch daß er 
bier noch fchwerer zu erfennen und darzulegen ift, well dieſe gleichfam Larven 
von Böttern, die erſt bei einer fputeren Entwilflung Pſychen werben können, 
eine genauere Beobachtung fehwerlich zulaflen. 

5) S. 402, Ic fafle hier unter dem Auspruff Naturalismus alle die 
Religionsformen zufemmen, welche man fonft wol durch den Namen Natur: 
bienft zu bezeichnen pflegt, und welche fümmtlich in dem oben angegebenen 
Sinne nuperfönlic polytheiftifch. find. Auch ven Sternendienſt nicht ans: 
geſchlofſen, ja felbft ven Sonnendienſt nicht, der nur ſcheinbar monotheiftifch 
iſt, weil eine erweiterte Kenntniß des Weltgebändes ihn gleich in deu Sters 
nendienft und alfo den Polytheismus hinüberziehen muß. Diefe Veränderung 
des Gebrauchs eines üblichen Auspruffs aber, da fonft die Wörter Naturalifl 
und Naturalismus unter uns etwas ganz anderes beveuten, weiß ich zunächkt 
nur damit zu entfchulpigen, daß hoffentlich jeder Lefer, der nur an den her: 
gebrachten Gebrauch nicht venft, den Bier davon gemachten in dem Zuſam⸗ 
menhang ter andern Ausdrükke leicht verfichen und fachgemäß finden wird. 


442 


Anden mwürbe ich mich doch deffen enthalten haben, wenn mir nicht ſchon das 
mals die Art wie Naturalismns und Rationalismus fo fat gleichlautend ges 
braucht und beide dem Supernaturalismus entgegengefezt werben, eben fo 
mißfallen Hätte, und mir eben fo verwirrend erfchienen wäre, wie ich ſpaͤter 
hin bei andern Gelegenheiten geäußert. Es läßt ſich noch etwas babei den 
ten, und zwar was befier Stich hält als das gewöhnlich dabel gedachte, wenn 
man Vernnuft und Offenbarung einander entgegenfezt; aber ein Gegenia 
zwifchen Natur und Offenbarung hat gar feine Handhabe, und jemehr man 
über ven fraglichen Gegenſtand verhanbeln wird von biefer —— 
ansgehend, der auch, worauf doch ein Chriſt immer zuräffgehen ſollte, das 
biblifche Fundament gänzlich fehlt, um befto mehr wird bie ganze Sache fd 
verwirren. 
6) Ebendaſ. Die Erwartung, daß fich noch mehrere polytheiſtiſche Me 
303 ligionen entwilkeln werben, {ft nicht aufs Ohngefähr ausgefprochen, ſonden 
fie beruhte damals auf einer Anfiht, Die auch in ver Einleitung meiner 
Glanbenslehre angedentet iſt, daß nämlich viele polytheiſtiſche Syſteme offen⸗ 
bar ans einer potenziirenden Iufammenfchmelzung Feiner idololatriſcher Stamm 
mesreligionen entftanden find. So lange es alfo noch Völferfchaften giebt, 
welche nur einen Fetiſchdienſt kennen, fo iſt ein ſolches geichichtliches Creiz⸗ 
niß denkbar; und zu jener Zeit da das chriſtliche Miſſionsweſen faſt im in 
ſchlafen begriffen war, fah ich dies als einen natürlichen Uebergang zum befr 
fern für diefe roheſten Gefellfchaften an. Seitvem hat ſich dieſe Wahrſchein⸗ 
lichteit bebentend gemindert, und die dagegen vergrößert, daß and biefe u 
mittelbar können vom Chriftenthum ergriffen werben. 
7) ©. 403. Der Ausdrukk Härefis war nämlich fchon einmal bei Chhren. 
Nicht nur bei den Hellenen wurden die Schulen der Philvfophen und ber 
Aerzte fo genannt, in denen doch zufammengenommen jene ganze Kunfl um 
MWiffenfchaft enthalten war; fondern auch was uns noch näher liegt, bie ver 
fehtedenen dogmatifchen Schulen der Juden führten bei den Helleniften den⸗ 
felben Namen, und daß in der kirchlichen Sprache nicht auch der feſtgeſtellie 
Rirchenglaube die orthobore oder Tatholifche Härefis heißt; ſondern das Wer 
ganz und ausfchließend für das verwerfliche gebraucht wird, was etymologiſch 
gar nicht gegründet ift, rührt wol nur daher, weil die Schrift in einer andern 
Beziehung das Wort häretifh — in unferer Ueberfezung kezeriſch — in 
einem üblen Sinne gebraudyt hat. Hier nun gebrauche ich es von den polls 
tiven Religionen in demfelben Sinne, wie es von den hellenifchen Edyuler 
gebraucht wird, in denen zufammengenommen die ganze Nationalphiloſophie 
enthalten war.” Denn es müßte ja ein fchlechtes philofophiiches -Suftem fein 
welches nicht ein wahrhaftes philofophifches Clement erfaßt hätte, nad nicht 
auch wirklich auf dieſes alle andern irgendwie zu beziehen fuchte. Da es 
nun mit den pofltiven Neligionen diefelbe Bewandtniß hat, fo dorf man auch 
Schließen, dag wenn fie alle werben eutwikkelt fein, dann auch im ihnen zw 
fammengenommen die ganze Religion des menſchlichen Geſchlechts enthalten 
ſein werde. 
8) ©. 404. Dieſes machen ift freilich mit einiger Ginfägräntung. u 


443 


zu. verfiehen; aber ich lebte im Schreiben bes guten Vertrauens, daß jeder 
fich diefe von felb ergänzen würde. Es konunte nämlich wol nicht meine 
Meinung fein, daß unr derjenige ein rechter Chriſt fei, der and) ſelbſt Hätte 
Chriſtus fein können, wenn Chriſtus nicht ſchon vor ihm da geweſen wäre 
Dies aber wird man wol zugeben, daß jeder nur in dem Maaß nud Grabe 
ein Ehrift ift, als er in der vorchriftlichen Zeit unter Juden würde bie mefs 
fianifche Idee in ſich ansgebildet oder wenigſtens aufgefaßt und fortgepflanzt 
haben, und als er nnter Heiden von ber Unzuläuglichfeit finnlicher Gottes⸗ 
dieufte wäre überzeugt geweien, und durch das Gefühl feiner Brlöfungsbe: 300 
dürftigkeit das Chriſtenthum gleichfam gelofft und an fich gezogen hätte. — 
Das folgende zeigt ja auch deutlich genug, wie wenig es mit der Borauss 
fezung, daß wirklich wenige ober viele könnten die Keime zu ganz neuen aus 
Gerhalb der gefchichtlichen Bormen liegenden Religionsweifen in fich tragen 
und: gehalten fein fie ans Licht zu fördern, ernftlich gemeint fei: 

9) ©, 406. Ich kann diefe Stelle, wiewol ich eigentlich noch hoffen 
bürfte, daß fie im ganzen Iufammenhange nicht leicht könne mißverſtauden 
werben, doch nicht ohne Eine Feine Berichtigung lafien fowol was die Sache 
ale was ben Ausdrukk betrifft. Um den Ausdrukk zuerſt ſchwebt ein gewiſſer 
Schein, als ob es möglich wäre auf dem Gebiet ver Religion auf Entbels 
fungen auszugehn over willführlich etwas hervorzubringen, da doch hier alles, 
wenn es wahr fein fol und rein, und das nene am meiften, auf unwillkühr⸗ 
liche Art ver Eingebung ähnlich aus dem innerften des Gemüthes hervorge⸗ 
ben muß. Doc, wer den Eindruff und Iufammenhang bes ganzen fefthälf, 
ben wirb dieſer Schein nicht täufchen. Was zweitens die Sache ſelbſt bes 
trifft, fo ſcheint fie zu allgemein dargeftellt und zu wenig Rüffficht anf ben 
großen Unterfchieb ber verjchienenen Religionsformen genommen zu fein. Dean 
jede Religion ver höchften Stufe, und am meiften die, ber. fich eine vollfläns 
dige Theologie angebilvet hat, muß Im Stande fein ihr ganzes Gebiet zu 
überfehen. Es tft das Geſchaͤft der Dogmatik einen folden Grundriß davon 
anzulegen, dag nicht nur alles, was fich in einer ſolchen Religionsform ſchon 
wirflich gebildet hat, feinen Raum darin finde, fondern in dem anch jeder 
möglihe Ort angezeigt fei; und wenn wir einen folchen Grundriß über 
ſchanuen, werben wir doch nicht leicht etwas leer finden, fondern nur. einige 
Derter mehr andere. weniger durch verfchienene Bildungen ausgefüllt. - Nur 
ben untergeorvneten Religionsformen und den Fleineren PBartheien kann das 
begegnen was hier angenommen iſt, indem in dem erfteren die einzelnen zu 
wenig von einander differiren um einander vwollftänvig zu ergänzen, von den 
legten aber ift fchon angeführt worden, weshalb fie eine natürliche Neigung 
haben, nicht die ganze Mafle des .religtöfen Stoffs zu verarbeiten. 

10) &. 408. Der Oppofitionscharafter, den dieſes Buch durch und 
durch -an fich trägt,‘ wird es dem, welcher fich bie damalige Zeit vergegens 
waͤrtiget, fehr begreiflich machen, daß ich hier vorzüglich die Sache derer 
vertheidige, welche ven Anfang ihres religiöfen Lebens anf einen beſtimmten 
Angenblift zurüffführen. Doch ift dies feinesweges nur ein Verſuch bie Geg- 
ner dieſer Anficht zum Schweigen zu bringen, in der guten Iuverficht, dag 


444 


l 
fe ſich nicht gehörig vertheivigen kͤnnen. Es iſt mic vielmehr hernach kas | ai 
fonderbare begegnet, daß ich eben diefen Saz habe vertheibigen müͤſſen gegen re 

305 einen vortrefflihen Mann, einen angefehenen nun längft entichlafenen Lehm :yı 
einer mir ſehr werthen NReligionsgefellfchaft, deren ganze Praxis eigenilih 
anf diefer Boransfezung beflimmtier Momente der Begnadigung beruht. & 
fragte mich, ob ich in der That am ſolche Momente glaube und fie für neh 
wendig halte, fo daß ein allmähliges und unmerklich werdendes und wachſer⸗ 
des religiöfes Leben mir nicht genüge. Er wandte mir ans ver Erfah ' 

das ein, was freilich jedem, der viele Lebenslaͤufe erwekkter Nenſchen auf 
merffam gelefen hat, immer muß anfgejallen fein, dag nämlich bei ven mei 
fen früher oder fpäter nad) folchen Momenten, wo fie die Berficherung der 
göttlichen Gnade erhalten Hatten, alſo zu einem perfönlich eignen religibſen 
Leben geboren waren, wieder Zeiten der Abfpannıng eintreten, ws Ihe 
diefe Gewißheit wieder verloren geht, jo daß noch Momente der Beftätigumg 
binzufommen müflen, und man aljo billig zweifeln muß, ob ber erſte eder 
zweite der wahre Anfangspnutt fei; ans welchem Zweifel dann von felbk 
- folgt, dag die Wahrheit nur in ben allmähligen Uebergängen if, welche einen 
folchen erften Moment vorbereiten und durch einem zweiten oder britien be 
feftigen. Ich machte ihn aufmerkſam baranf, was ich auch hier nodgmald - 
in Grinnerung bringen will, daß ich dieſe Form nicht für Die einzige in ber 
Grfcheinung halte, fondern auch unmerkliches Entfichen und Wachſen zugäbe; 
daß aber doch das innere wahre nur das Ineinander biefer beiden ſei, umb 
nur in verichiedeuen Fällen mehr das eine oder andere heransirete, eben dei 
halb aber auch etwas ganz anders fei ſolche Momente poftulicen als verlangen 
daß jeder fe folle felbR angeben und ein zeitliches Bewußtſein davon nachweifen 
können, wie ich dieſes feitdem "auch in einer Predigt*) anseinandergefezt; uud 
anf biefe Weife kamen wir überein. — Was aber beſonders bie Art beirifl 
wie die Sache hier dargeſtellt ift, daß nämlich ein folcher Moment immer 
etwas außerordensliches fei, und auch. jeves anf dieſe Weiſe erzeugte religief 
Einzelleben ein ganz eigenthämliches fein müfle: fo haͤßt fih zweierlei dage⸗ 
gen einwenden. Ginmal, daß ja ſchon in den erſten Zeiten der Kirche nnd 
durch die Verkündigung der Apoſtel chriſtliche Erwekkungen in Maſſe vorge 
Sommer, nad auch jezt noch bisweilen, nicht fowol nuter fremden Glaubens: 
genofien, als vorzüglich unter Chriften, deren Froͤmmigleit in weltlichen Sor⸗ 
gen nnd Beſchaͤftigungen untergegangen if, folche gleichfam epidemiſche chrifls 
liche Grwelfungen vorlommen, Wie fie nun hiernach fchon nicht für etwas | 
anßerorventliches Tönnen gehalten werben: fo iſt zweitens auch fchen hieraus | 
wahrſcheinlich, daß wicht jches Erzenguiß derſelben etwas außerordentliches 
) 

1 


a due aaa me ed MR Di 


und eigenthämliches fein werke, nm fu weniger als dieſe Griveffungen oft als 
Gegenwirkungen erſcheinen gegen weit und gleichförmig verbreitet geweiene 
306 Stumpffinnigfeit oder Zügellofigkeit. Dem nun ſtimmt auch die Erfahrung | 
bei, und zeigt uns zu gewiſſen Seiten grabe unter denen, die auf ſolche nad: 
weisliche entſcheidende Momente halten, nur Eine fh Bis zur Grmäbang üben , 





*) 1. Samt, die Predigt, 


445 


al gleiche Form der Froͤmmigleit und eine und dieſelbe oft ziemlich verwor⸗ 
rene Terminologie über die damit zufammenhängenten Gemüthszuſtäude. 
Allein dies hängt genan zufammen mit der Unzuverläffigkeit biefer Momente; 
and es iR nicht in dieſem Sinne, daß die Rebe bie beiden Formen des ploͤz⸗ 
lich .erwachenden und des allmählig fich entwiffelnden religiöfen Lebens ge: 
genäberfellt. In dem lezten wird allemal mehr das gemeinfame vorherr⸗ 
ſchen; das einzelne was fo ericheint, ift durch bie Gewalt bes gemeinfamen 
gebilvet und’ dieſem untergeorbnet; das eigenthümliche tritt darin fparfamer 
und fihächterner hervor. Aber daſſelbe iſt auch der Charakter der Religiofie 
tät, die fcheinbar auf einem ſolchen Moment beruht. Die bearbeitenden Bes 
Ichrer haben gewöhnlich auch nur einen überlieferten Typus, der grade durch 
feine Beichränftheit auf wenige kräftige Formeln am meiften geeignet ift auch 
Aumpffinnige, fei es nun verhärtele ober vereitelte, Gemüther zu erfchüttern. 
Dies if die ihnen einwohnende Kraft; und indem ihre Anficht einen ſolchen 
Moment forvert, fo bereitet die befländig wiederholte Forderung benfelben 
wirklich vor. Und daß nun an folchen wiederholten Momenten, die das Her⸗ 
vorbrechen ber. vorbereiteten Erſchütterungen find, und in denen wenngleich 
nur anf eine ganz allgemeine und anfänglich vorübergehende Welle das Be: 
wußtfein der eignen gänzlicgen Nichtigfeit und das der göttlichen Gnade fi 
gegenfeitig ſteigern und durchdringen, ein veligiöfes Leben ſich allmählig be⸗ 
feftigt, welches aber auf das firengfie an jenen Typus gebunden und eben 
deohalb aͤngſtlich beforgt und ſparſam ausgeftattet ift, das ift der unverfenns 
bare Gegen, der auf biefer Methode ruht. Wenn nun diejenigen, die eine 
ſolche Geſchichte haben, bejcheiten in ihrem Kreife bleiben, fo find fie nus 
weribe Genoſſen; und jemehr auch foldhe, die im weltlichen Sinne hoch ges 
‚Silvet find nnd angefchen, ſich im religiöfen Gebiet auf dieſer Stufe wohl- 
befinden, um deſto rührenber ift die eben fo erhebende als demüthigende Er⸗ 
ſcheinung. Aber alle dieſe find Hier nicht gemeint, eben weil ſich ein eigen- 
thümliches Leben in ihnen nicht entwilfelt; und bie Momente aus welchen 
eim- felches fich erzeugt, und welche bier gemeinet find, tragen ein ganz ans 
deres Gepraͤge. Sie entfiehen nur in ſolchen, in denen eine religiöfe Rich⸗ 
tung ſchon gegeben iſt, unr chaotiſch und unbeftimmt. Sie haben ihren 
Grund nicht in der Nachwirkung äußerer Erregungen, fondern vielmehr ans 
dem fich immer erneuernden Gefühl der Umzulänglichfeit und Unangemeſſen⸗ 
heit des äußerlich dargebotenen bereiten fie fih vor Durch flilfes inneres Sin⸗ 
nen and. Schuen, in welchen ſich eben aus jenem negativen das pofltive ges 
ſtaltet, daß das innerſte Selbft von dem göttlichen ergriffen und mit biefem 
fich ſelbſt ergreifend mehr oder minder plözlich hervortritt. Diefes nun find 307 
die feltenen Grfcheinungen, über vie aber auch der flüchtigite Beobachter ſich 
nicht fo tänfchen Tann, daß er fie durch einen allgemeinen Namen erichöpfend 
zu bezeichnen glaubte. 

11) ©. 417. Nicht neue Offenbarungen find natürlich hier gemeint, 
welche anferhalb tes Umkreiſes einer gegebenen Religion fielen; vielmehr 
kann in feiner pofitiven Religion eine Sehnſucht nach folchen fein, indem 
amch die Sehnſucht eines jeden natürlich feine eigenthämliche Art und Term 


66 


an fih tragen muß. Auch die mefflanischen Hoffnungen der Juden waren 
feine ſolche Sehnfucht nach etwas uber das Indenthum . binandgehenden, 
wenngleich fie hernach durch die weit über baflelbe hinansgchende Gricheinun 
Chriſti erfüllt wurden. Und diefes iR wol vornehmlich der eigenthämlid: 
Zufammenhang zwifchen viefen beiden Religionsformen. Aber jede Religior 
bat nach dem Maaß ihrer Lebendigkeit ein ſolches Verlangen noch nuerlane 
tes göttliches in ſich felbft zu finden, und eben deshalb if die geſchichilich 
Gonfifienz eines jeven Glaubens, der fich über einen weiten Raum verbreiten 
and lange Zeitränme ausfüllen joll, dadurch bedingt, daß er etwas normale 
befize, worauf alles neue zurüffgeführt werben muß. Wo dieſes fehlt wir 
fih auch die Einheit zum Zerfliegen hinneigen; wo, ohnerachtet es da if, 
dennoch Trennungen entftehen, da werben fich die größten auch immer aui 
diefes normale beziehen. Und in diefem Sinne kann man freilich fagen, da 
Streit zwifchen der griechifchen und römifchen Kirche fei der zwiſchen den 
Grundtert und ber Ueberfezung, der Streit zwifchen der evangelifchen Kirck 
und jenen beiden iſt der zwifchen der Schrift und der Meberlieferung. 

12) ©. 418. Auch diefe Stelle bevarf aus einem ähnlichen Grund ein 
Heinen Exflärung, weil es fcheinen könnte als follten die großen weltgeſchicht⸗ 
lichen Religionen in Schatten geftellt werden und das merkwürdige nur in 
Heinern Geftaltungen aufgefucht. Und auf dem politifchen Gebiete zwar fin 
wir an etwas ähnliches gewöhnt. Denn viele Staatöformen großer Bölle 
erfcheinen uns unbeholfen oder unbedeutend, wogegen die Verfaffungern ein 
zelner Städte mit geringem Gebiet von den Gefchichtsforfchern als Meifer 
Küffe des politiichen Kunfttriebes bewundert werden und ber Gegenflan 
eines fich immer erneuernden Studinms find. Nicht fo aber iſt es anf den 
religtöfen Gebiet; denn ein Träftiges religiöfes Leben, wenn andy durch be 
ſchraͤnkte Formen gehemmt, purchbricht doch früher oder fpäter die Schranke 
der Bolksthümlichkeit, wie felbft das Judenthum gethan, und nichts eigen 
thumliches und in fi ſtarkes auf diefem Gebiet kann immerwährend Leis 
bleiben. ‘Die Rebe aber ift hier eigentlich von dem was innerhalb: der grofen 
Religionsformen und namentlich des Chriſtenthums fich bildet. Und hier gilt 
ein ganz anderes Verhaͤltniß. Groß und weit verbreitet wird das was am 

508 leichteften in die Maſſe eindringt, und dies if in der Regel jene Entfernung 
von allem was als ein Extrem erfcheint, welche. nur durch ein reges Auf⸗ 
merken nach allen Seiten hin kann erreicht werben, alfo durch eine Im gam 
zen gewiflermaßen äußerliche Richtung, durch welche eine innere und eigen 
Hhämliche Eutwilflung nicht eben unterftügt wird. Dies iſt der vorherrſchende 
Charakter veflen im Chriſtenthum, was wir. im alten Sinne des Wortes das 
Fatholifche nennen; und da die meilten hieran hauptfächlich denken, wenn von 
dem Chriſtenthum, deſſen Gharakter und Entwilflung die Rebe it: fo fehlen 
es mir hier an der Stelle die Aufmerkſamkeit derer, welche wirklich forfchen 
wollen, und in denen irgend ein Anterefie für das religiöfe erwacht ift, von 
dem was ſich als groß aufdringt abzulenfen und fie vielmehr auf das Hleis 
nere. binzuleiten, Weniger aber anf die häretifchen Bartheien, welche beſtimmie 
Ginfeitigfeiten bezeichnen, als vielmehr auf diejenigen einzelnen in ber größe 


‚7 


ven Kirche, welchen es nicht gelingen Tonnte, fih in der Mittelmäßigkeit, 
ober wenn man eö licher fo bezeichnen will, in der vorfichtigen Haltung zu 
bewahren, mit der allein der einzelne ſich eine glänzende Stellung unter ven 
katholiſchen für Immer erhalten Fonnte, fondern bie ihre innere Freiheit vorgos 
gen, und eben deshalb fich die Verborgenheit nicht verbriegen ließen. 

13) ©. 420. Eruſthaft if} das nie meine Meinung gewefen, daß die 
Sitienlehre überall eine und dieſelbe fein folle. Hier aber genügte es mir 
anf das hierüber allgemein angenommene mid zu berufen. Mir nämlich 
ſcheint, ald ob die Moral nicht überall diefelbe fein könne; wie auch alle Zei: 
ten beiveifen, daß fie nie überall viefelbe gewefen ik. Denn ihre Form if 
weſentlich fpecnlativ, und kann nicht eher überall diefelbe fein, bis die Spes 
enlation überhaupt überall diejelbe geworben Ifl, wozu eben wegen ber gro: 
Ben Bruchtbarkeit der lezten Jahrhunderte. an allgemein gültiger Philofophie 
noch gar Fein Anfchein fich zeigen will. Dann aber auch ihr Inhalt fann 
nicht überall derfelbe fein; denn wenngleich jeder der eine Sittenlehre bar: 
ftellt, von der reinen Menjchheit ausgeht, fo fieht ex doch dieſe nur durch 
das Medium feines Zeitalters und ſeincx Volksthümlichkeit. Daher jede all- 
gemeingeltende Sittenlehre nur das allgemeinfte und auch dieſes nur in fols 
hen Formeln enthalten könnte, denen fich verfchievene Werthe unterlegen 
lafien: fo daß die allgemeine Geltung immer. mehr fcheinbar fein würde als 
wahr. Demohnerachtet hat es mit dem bier aufgeftellten Saz deshalb feine 
Nichtigkeit, weil der Maaßſtab diefer Verfchiedenheiten nicht derſelbe ift für 
die Sittenlehre und für die Religion. Denn: jene fängt immer au mit der 
Unterorbnung des einzelnen und aljo auch des eigenthümlichen unter ein ges 
meinfames, und nur durch diefe Unterorbnung gewinnt das eigenthümliche 
ein Recht fich auch geltend zu machen: fo daß wenn es auch allerdings mög: 
lich iſt, ein eben fo richtiges ja genau genommen daflelbe Syitem der Sit: 300 
tenlehre auf die entgegengeſezte Vorausſezung zu bauen, eine ſolche Sitten: 
lehre doch das allgemeine Gefühl nicht würbe überwinden und fich irgend 
geltend machen koͤnnen. Auf dem Gebiet der Religion hingegen geht alles 
von dem einzelnen Leben je eigenthümlicher deſto Fräfliger aus, und alles 
gemeinfame entfteht exft aus der bemerkten Berwandtichaft und Zuſammen⸗ 
gehörigfeit. Darum Tönnen fich viele, die ihrer verborgnen Verſchiedenheiten 
noch nicht inne geworben find, zu Einer Religionsweife halten, aber zu einer 
- and bderfelben Sittenlehre auch viele, bie ſich ihrer Verſchiedenheit bewußt 
find, nur daß ihre Auffaffung der menſchlichen Verhältniffe diejelbe fein muß; 
wogegen grabe hierüber unter denen, die ſich zu berfelben Religionsweiſe bes 
fennen, fo bedeutende Differenzen ftattfinden Tönnen, daß ihnen nicht möglich 
iR auch ihre Sittenlehre gemein zu haben. 

14) ©. 430. Nichts verräth wol weniger Sinn für das Weſen des 
Chriſtenthums fowol, und für bie Perſon Chriſti felbft, als auch überhaupt 
hiſtoriſchen Sinn und Berfland davon, woburd große Greignifle zu Stande 
fommen, und wie diejenigen müflen befchaffen fein, in benen folche ihren 
wirklichen Grund haben, als die Anficht, welche fonft etwas leiſe auftrat mit 
zer Behauptung, Johannes habe ven Reden Ehrifi viel fremdes beigemifcht 


448 


von feinem eignen; jezt aber, nachdem fie fich in der Stille geftürft uw ih - 
mit kritiſchen Waffen verfehen bat, eine verbere Behauptung wagt, daß Io 
hannes das Evangelium gar nicht gefchrieben, ſondern daß erft ein fwäterer 
diefen myſtiſchen Chriſtus erfunden. Wie aber ein jupifcher Rabbi mit- men 
fchenfreundlichen Gefiunungen, etwas folratifcher Moral, einigen Wunderk, 
oder was wenigfieus antre dafür nahmen, und dem Talent artige Gud⸗ 
men und Parabeln vorzuiragen, denn weiter bleibt doch nichts übrig, ja 
einige Thorheiten wird man ihm nach den andern Bvangelifien immer and 
uoch zu verzeihen haben, wie fage ich, einer der fo gemweien, eine ſolche Wir 
fung wie eine neue Religion und Kirche babe hervorbringen können, ei 
Manu der wenn er fo gewefen, dem Moſes und Mohanımen nicht das Wap 
fer gereicht: dies zu begreifen überläßt man uns ſelbſt. Doch dies muß auf 
eine gelehrtere Weile ansgefochten werben, wozu fich auch gewiß bie Freunde 
und DVerehrer des johanneifchen Gottesfohnes fchon rüften. — Wenn ich aber 
von biefer Wehmuth des Ehriften, wozu uns übrigens in Chrifto auch bie 
andern Evangeliften, febalo wir fe durch Johannes recht verftehen gelernt, 
bie Züge liefern, etwas weiter oben gejagt habe, das fie in dem Stolz wie 
in der Demnth des Chriften der Grundton fei: fo fcheint es, weungleidg 
man ziemlich darüber einig if, daß es auch etwas nutabliges gebe, was fid 
durch den Ausdrukk Stolz bezeichnen laffe, doch etwas gewagt, dieſes als 
einen chriftlichen Gemüthszuſtand zu bezeichnen, da der chriftlichen Gefinnung 
31 die Demuth ſo weſentlich und fo in ihr dominirend ifl, daß etwas dem Stol; 
ähnliches auf diefem Gebiet gar wicht auffommen zu können fcheiut, wenn⸗ 
gleich wir es in dem ber bürgerlichen Sittlichfeit gar nicht tabeln würden. 
Ih will mich nun nicht damit bebeffen, daß ich and Furcht und Liche hier 
nebeneinander geftellt, da doch die Liebe das Kennzeichen der Chriſten iR, 
und die völlige Liebe die Furcht austreibt; woraus eben folgt,. daß mir ein 
menfchlicher d. h. unvollfommmer Zuſtand vorgeſchwebt. Sondern mein 
Sinn war diefer, dag wenn man in dem Chriften unterfcheivet ſein perſon⸗ 
liches Selbfigefühl, mit welchem er fi) auch Ehrifto gegenüberſtellt, von dem⸗ 
jenigen Selbfigefühl, welches er in der Gemeinfchaft mit Chriſto bat, jenes 
immer, and wenn ber göttliche Geiſt des guten fchon viel in ihm gewirkt 
bat, doch nie ein anderes fein kann ald Demnth. Das leztere aber, welches 
in der Zueignuug aller Vollkommenheiten Chriſti befteht, muß jenem entges 
gemgefezt fein, und fo weiß ich feine andere Bezeichnung, welche ven Ges 
geufaz färfer ausdrükke; und um eben dieſes Gefühl nachzuweiſen, brauche 
ih nur alle Berherrlihungen der chriftlichen Kicche in unferen nenteſtamenta⸗ 
rifchen Büchern in Erinnerung zu bringen. Daß aber auch in dieſem Stolz 
die Wehmnth fei über den immer noch befchränften Umfang, in welchen bie 
Gemeinfchaft mit Chrifto wirklich empfunden wird, ergiebt ſich wol von ſelbſt. 
15) ©. 432. Es if immer etwas gefährliches, zumal, wie hier bie 
Meinung if, ven ungläubigen gegenüber, den Glauben an Chriſtum anf ir 
gend etwas einzelnes in ihm gleichſam zu fügen. Denn nur zu leicht läßt 
fih dem einzelnen etwas fcheinbar ähmliches gegenüberſtellen, deſſen innere 
und wejentliche Berichiebenheit von jenem nicht leicht iſt aufzudekken. So iR 


. 449 . 


mancher Schwörmer, der mehr von ſich Hielt als er war, auf diefen Glauben 
geſtorben; und wie oft iſt nicht ein Irrthum auf Gefahr des Lebens mit ber 
feſteſten Meberzgengung vertheibigt worden. Allein ein folches Cinwurzeln des 
Irrthums, wenn nicht doch der eigentliche. Gegeuſtand des Glaubens bie 
Wahrheit if, an die ber Irrthum fich angefezt Hat, beruht nur anf einer 
Idioſynkrafie, welche fich nicht weit verbreiten Tann. Bon diefem Selbfibes 
wußtſein Chriſti aber fit der Glaube der ganzen Schaar feiner Jünger und 
die Frendigkeit aller Märtyrer dieſes Glaubens der Abglanz; und eine folche 
Kraft Hat wol nie die Selbfttäufchung einer einzelnen Seele ausgeübt. Dazu 
nehme man, daß es bei diefem Bekenntniß nicht bloß auf innere Erſcheinun⸗ 
gen des Bewußtſeins anfam, über welche fich der Menfch leichter täufchen 
mag, auch nicht außerdem auf eine Ausficht in fehr ferne Zukunft, wo der 
Santafie ein gang freies Spiel eröffnet iſt: fondern dag Chriftus glauben 
mußte, unter den ungünftigen Umftänden, welche vor Augen lagen und leicht 
zu Aberfchanen waren, werbe fich unmittelbar die göttliche Kraft diefes forts 
wirkenden Bewußtſeius bewähren. Doch immer bleibt fowol die Rechtferti⸗ 
auug des Glaubens ans dem einzelnen unvollftändig, als auch der Verſuch 311 
ihm durch das einzelne in andern zu begränden, gewagt. 

16) ©. 433. Der Schluß diefer Darfieflung, dag nämlich Ehriftus aller 
Bermittlung Mittelpunkt fei, foll wol alles einzelne in derſelben gehörig zu- 
ſammenknüpfen und das fcheinbar unbefriebigende ergänzen. - Indeß wünfche 
ich doch, der Leſer möge nicht überfchen, daß ich den Gegenftand grade fo 
behandelt habe, um recht bemerklich zum machen, wie auch wenn man den Un- 
terſchied, der damals als’ eine große Gutveffung viel Glükk machte, nämlich 
zwifchen der Lehre Chriſti und der Lehre von Chrifto, etwas gelten laſſe, 
man doch die Idee der Vermittlung anf alle Welle zur Lehre Ehrifti rechnen 
mäfle, und unfere Lehre von Chrifto nichts anderes fei als die vom Glauben 
zuerſt geftaltete hernach aber von ber Geſchichte verfiegelte Betätigung und 
Anwendung jener Lehre Chriſti. Und wenn ich feine Schule von der Res 
ligion trenne: fo ift dies, wie der Schluß ganz deuntlich bezeugt, doch nur 
eine verfchiebene Betrachtung derſelben Sache aus verjchiebenen Geſichts⸗ 
pankten. Denn aus der Idee der Erlöfung und der Vermittlung das Gen- 
trum der Religion bilden, das if die Religion Chrifti; fofern aber die Bes 
ziehung diefer Idee auf feine Perſon zugleich etwas geichichtliches iſt, und 
die ganze gefchichtliche Eriftenz der Lehre fowol als der Geſellſchaft darauf 
beruht, fo nenne ich diefe gefchichtliche Seite, wie ja hiezu der Ausbruff all« 
gemein gefempelt if, die Schule. Daß nun biefe für Ehriftum nur das 
zweite war, jene aber das erfte, lenchtet aus dem bier angeführten, fo wie 
auch daraus hervor, daß zuerft das Meich Gottes und der Tommende verfün- 
digt wurde und hernach erft er als der gefommene. — Wenn aber etwas 
weiter oben nur gefagt ift, Ehriftus fei Mittler geworden für viele: fo erin- 
nere man fich, daß Chriftus felbft einmal fagt, Er lafie fein Leben zum Löfe- 
geld für viele, und mache aus meinen Worten feinen particulariftifchen Schluß, 
wenigftens nicht anders als nad) meiner ſchon anderwärts dargelegten Ans 
ficht, nach welcher die wirklich erfahrne Beziehung der Menfchen auf Chrittum 


Schleierm. W. J. 1. Ri 


* 


450 


immer etwas befchränttes if, und auch bleiben wird, felbit wenn das Chriften⸗ | 


thum fih über die ganze Erbe verbreitet, wogegen ich eine rein innere un 
mufteriöfe Beziehnng Cheifti auf vie menfchliche Natur überhaupt anerfenne, 
welche ſchlechthin allgemein if und undegränzt. 

17) ©. 434. Was bier von ter Schrift gefagt ift, werben vielleicht 
manche von unferer Kirche katholiſch finden wegen der Annäherung deſſer, 
was fih in der Kirche erzeugt, am die Schrift, die Eatholifchen aber hyper⸗ 
proteftantifch, -weil hier nicht nur die Conſtitution der Schrift durch die Kirche 
nicht anerkannt, fondern auch ber Umfang ber Schrift felbft für noch mict 
abgefchloffen erflärt wird. Das leztere ift blos verfuchsweife gefügt, und um 
dadurch das Äußere der Sache deſto ſchärfer von dem inneren zu trennen. 


312 Denn wenn füch jezt noch ein Buch vorfinden Fönnte von einem Verfaſer 


wie Markus oder Lukas oder Judas mit allen Kenuzeichen der Acchtheit: fe 
würden wir zwar ſchwerlich wol dahin kommen, es einflimmig in den Kanon 


aufzunehmen; aber feine normale biblifche Kraft würde es doch änfern, wenn ' 


es eine ſolche in fich trüge nud alfo doch Bibel fein ber That nach. Daß 
" aber eben diefe Kraft der Beilimmungsgrund geweien if für bie kirchliche 
Braris, durch welche ber Kanon cher feftgeftellt war als durch einen kirchli⸗ 
Gen Ausfpruch, der fene nur beftätigen Tonnte, if wol gewiß. Wie numerk: 
lich aber ber Mebergang iſt aus dem Fanonifchen fagar in das apokryphiſche 
nnd wie flark und erfreulich die Annäherung vieles Firchlichen, fehe man nun 
auf Kraft oder Reinheit, an das kanoniſche, das wird auch wol Fein erſahr⸗ 
ner und geſchichtliebender Proteflaut ablaͤugnen. 

18) ©. 488. Was etwa ein vergleichender Lefer in der vorigen Uns 
gabe an dieſer Stehe vermißt, ift doch nicht ein Zuſaz, dem ich jezt erſt ge 
macht hätte; fundern er war ſchon für die zweite Ausgabe beflimmt, ich habe 
ihn aber dort wieder geftrichen, teil ex mir zu heransforbernd fchien. Jep 
da diefe Zeiten vorbei find, kann er da fichn als ein Deukmal des Ginpraffs, 
welchen es auf mich wie gewiß auf viele machte, baß bie Ueberſättigung an 
dem nnverftandenen Chriftenthum fiy damals nicht nur bei vielen als bie 
Irreligioſitaͤt anfündigte die hier beftrittien wird — denn das gereicht ned 
dem Chriſtenthum zur Ehre, daß fie glaubten, wenn es mit dem Chriſten⸗ 
thum nichts ſei, fo müſſe es auch mit der Religion überhaupt nichte fein — 
fondern auch bei nicht wenigen theils als ein Beſtreben der natürlichen Res 
ligion eine äußere Griftenz zu verfchaffen, was fi ſchon in England ab 
Frankreich ale ein leeres Unternehmen gezeigt hat, theils in einem nenerungss 
füchtigen Kizel folcher, vie von einem fymbolifirten ober guoftifirten Heiden 
dentkum von einer Rüffehr zu alten Mythologemen als von einem neuen 
Heile tränmten und fich freuten den fchwärmerifchen Chriſtus von dem heiter 
nüchternen Zeus überwunden zu fehen. 


Nachrede. 


mich, ehe ich ganz von Euch ſcheide, über ben Schluß 13 
r Rede noch ein paar Worte an Euch verlieren. Vielleicht 
: Ihr nämlich, ed wäre beſſer geweſen ihn jezt nach mehre: 
jahren zu unterbrüffen; denn es zeigte fi) ja deutlich, wie- 
it Unrecht dieſes als einen Beweis von der Kraft ber reis 
: Gefinnung angeführt hätte, daß ſie jet eben im Hervor⸗ 
m neuer Formen begriffen fei, und wie ich mit Unrecht mir 
naßt Ahndbungen zu haben von dem was fie hervorbräcdhte, 
ı überall nichts dergleichen erfolgt wäre. Wenn Ihr dies 
‚, fo habt Ihr wol vergeffen, bag bie Weiffagung der erfie 
infer der Zukunft if, und nur inwiefern fie dies iſt ihren 
em wirklich verdient; fie ift eine Andeutung bed Fünftigen, 
I biefes felbft fchon enthalten if, aber nur für den bem 
genden felbft am nächften fiehenden Sinn bemerkbar. Je 
fiender alſo und größer das geweiflagte ifl, und je mehr bie 
agung felbft im Achten hohen Styl, um beflo weniger darf 
r Erfüllung nahe ſtehn; -fondern wie nur in weiter Zerne 
intergebende Sonne aus dem Schatten großer Gegenflände 
magiſche Geflalten bildet am grauen Oſten, fo flellt auch 
Beiffagung ihre aus Vergangenheit und Gegenwart gebils 
Geftalten der Zufunft nur in weiter Ferne auf. Darum 
‚was ich in diefem Sinne gelagt habe, keinesweges ein 
m etwa für Euch fein um bie Wahrheit meiner Rede daran 


32 


452 


zu prüfen, bie Euch vielmehr aus fich felbft Mar werden muß; 
ss und weiffagen würde ich nicht gewollt haben in meinen Rem 


an Euch, gefezt auch dag mir die Gabe nicht fehlte, weil es 
mir nichtd gefruchtet hätte Euch in eine weite Ferne hinaus zu 
verweifen. Sondern in der Nähe und unmittelbar wollte id 


nichts weiter mit jenen Worten, ald theild nur einige ander, 


nicht Euch, halbfpottend, wenn fie ed verſtanden haben, auffor: 
dern, ob fie wol das leiſten könnten, deffen fie fi) zu vermeffen 
fcheinen; theils hoffte ih von Euch, Ihr foltet aufgeregt werden 
badurch den Gang der Erfüllung felbft zu verzeichnen, und dann 
war ich fiher, Ihr würdet ſchon finden, was auch ich Euch gern 
zeigen wollte, daß Ihr in eben der Geſtalt der Religion, weiche 
Ihr fo oft verachtet, im Chriftenthum, mit eurem ganzen Wiſſen, 
Thun und Sein fo eingewurzelt fein, daß Ihr. gar.nicht heraus 
tönnt, und daß Ihr vergeblich verfucht Euch feine Zerſtoͤrung 
vorzuftellen, ohne zugleich die Vernichtung defien, was Euch da 
Hebfte und heiligfte in der Melt ift, eurer gefammten Bildung 
und Art zu fein, ja Eurer Kunft und Wiffenfchaft mit zu be 
ſchließen. Woraus Euch dann gefolgt wäre, daß fo ange unfer 
Seitalter währt, auch aus ihm und dem Gebiete: des Chriftens 
thums felbft nichts audgehen könne, was daB leztere beeinträd« 
tige, fondern diefed aus allem Streit und’ Kampf immer nut 
erneuert und verherrlicht hervorgehen müffe. Dies hatte‘ ich für 
Euch vorzüglich gemeint, und Ihr feht alſo wol, daß ich nicht 
im Sinn haben konnte mich anzufchließen an einige Aeußerun⸗ 
gen trefflicher und erhabener Männer, welche Ihr fo verfianden 
habt, ald wollten fie daB Heidenthum der alten. Zeit zuruͤkkfuͤh⸗ 


sen, oder gar eine neue Mythologie und durch fie eine. neue Re 


ligion willkuͤrlich erfchaffen. Vielmehr mögt Ihr, nady meinen 
Sinne, auch daraus, wie nichtig und erfolglos alles immer feis 
wird, was fi an ein ſolches Beſtreben anhängt, die Gewalt: bes 
Chriſtenthums erkennen. 

Am Mermeiſten aber thut wol Noch, ‚über-- dab, was “ 


LU ——— — — — — — — 


L 2 — — —— — Zn — — ⸗ — * BE — a MIER BEE 3 — Zr _ Cum u "zz. 


453 


von den Schikkſalen des leztern ſelbſt geſagt, mich zu verſtaͤndi⸗ 
gen. Indeſſen freilich meine Anſicht hiervon Euch zu begründen aıs 
und zu erweifen, ober aud) nur hinreichend anzubeuten worauf 
fie beruht, dazu ift bier nicht der Ort; fondern er wird fich, 
wenn eine foldhe Erläuterung fortfährt nothwendig zu fein, an⸗ 
dermwärtd finden muͤſſen. Hier aber und jezt will idy nur gan 
einfach fagen wie ich ed meine, bamit Ihr mich nicht. etwa, nach 
der üblichen Art alled auf Schulen und Partheien zuruͤkkzufuͤh⸗ 
ren, anderen beigefellt, mit denen ‚ich hierin wertgftene nichts 
gemein habe. 

Seitdem das Chriftenthum belleht, hat (of immer irgend ein 
ſtark hervortsetender Gegenfaz innerhalb beffelben befianden. Dies 
fer hat jedesmal, wie ed ſich gebührt, Anfang Mitte und Ende 
gehabt; nämlich dad entgegenftchende hat fich erſt allmaͤhlig von 
einander gefondert, die Trennung bat darauf ihren höchften Gip⸗ 
fel erreicht, und dann wieder almählig abgenommen bis ber. 
ganze Gegenfaz in einem andern, ber fich während dieſer Abnahme 
zu entwikkeln angefangen hatte, endlich völlig verſchwunden if. 
Wie nun an einem folchen Kaden die ganze Gefchichte des Chrir 
ſtenthums abläuft, fo bilden jet im chriſtlichen Abendlande ptos 
teftantifcheö und katholiſches den herrichenden Gegenſaz, in deren 
jedem die Idee des Chriſtenthums auf eine eigenthümliche Weile 
ausgeſprochen ift, fo daß nur Durch dad Zufammenfein beider jezt 
bie geichichtliche Erfcheinung de3 Chriftenthums der Idee -deffelben _ 
entiprechen Tann. Diefer Gegenſaz nun fage ich if jezt in der 
Drbnung und beficht; und, wenn ich Euch die Zeichen ber Zeit 
deuten follte, fo würde ich fagen, er wäre jezt eben daran ſich 
ruhig zu firiren,  Beinesweged aber etwa fchon merklich in ber 
Abfpannung und im Verfchwinden '). Darum nun fei allerdings - 
niemand ſorglos, fondern jeder befinne fih, und fehe zu auf 
welche Seite er gehöre mit feinem Chriſtenthum, und in welcher 
Kirche er ein religiöfed miterbauendes ‚Leben führen könne: und 
wer einer gefunden tüchtigen Natur fich erfreut und dieler auch 


464 


folgt 2), der wird ficher nicht irre gehen. Nun aber giebt d 
ss einige, ich vebe nicht von folchen die im fich ferb gar nicht 
find, die fi) von Glanz und Schimmer blenden laffen wie Kir 
der, oder von Moͤnchen beſchwazen, aber es giebt einige bie ga 
wol etwas find, und auf. die ich auch fonft fehon gedeutet habe, 
treffliche und ehrenwerthe Dichter und Kuͤnſtler, und wer weil 
was für eine Schaar von Anhängern, wie es heut zu Tage geht, 
ihnen nachfolgt, welche ſich aus ber proteflantifchen zu vetten 
ſcheinen in die katholiſche Kirche, weil in diefer allein bie Rdi 
gion wäre, in jener aber nur die Srreligiofität, die aus bem 
Chriſtenthum ſelbſt gleichlam hervorwachſende Gottlofigkeit. Den 
jenige nun fei mir ebrenwerth, der indem er einen folchen Ueber 
gang wagt, nur feiner Natur zu folgen bejeugt, ald welde nut. 
in dieſer, nicht aber in jener Form des Chriſtenthums einheimiſch 
wäre; _'aber ein folcher wird auch Spuren biefer natürlichen Be 
ſchaffenheit in feinem ganzen Leben aufzeigen, und nachweiſen 
innen, daß er durch feine That: nur- Außerlich vollendet babe, 
was innerlih und unwillkuͤrlich ſchon immer und fireng genom 
men gleichzeitig mit ihm felbft vorhanden geweſen. Auch der fü 
mir wo nicht ehrenwerth doch zu bedauern und zu entſchuldigen, 
welcher, wis des Inſtinkt der kranken ‚bisweilen zwar bewun 
dernswuͤrdig gluͤkklich ift, dann. aber auch wieder gefährlich, dem 
felben Schritt thut offenbar in einem Zuftande ber Beängftigung 
. und Schwäche, eingefländlich. weil er für ein ime gewordene 
. Gefühl einer äußeren Stuͤze bedarf, oder einiger Bauberfprüce 
um beflommene Bangigkeit zu beſchwichtigen und höfes Haupt 
weh; ober weil ex eine Atmofphäre fucht, worin ſchwaͤchliche Dr 
gane fich beſſer befinden, weil fie weniger lebendig ift und al 
auch weniger erregend; wie manche kranke flatt der freien Ber: | 


e 


luft Lieber: die thierifchen Ausduͤnſtungen fuchen muͤſſen. em 
aber, welche ich jezt bezeichne, find mir weder bad eine noch daii 
andere, fondern nur verwerflich erfcheinen fie mir; denn fie * 
ſen nicht was ſie wollen noch was ſie thun. Oder iſt das en 


\ 


455 


eine verfländige Rede, die fie-führen? Strahlt wol irgend einem 
unverborbenen Sinne aus den. Heroen der Reformation bie Gotts sı7 
loſigkeit entgegen, oder nicht vielmehr jedem eine wahrhaft chrifts 
liche Frömmigkeit? Dder ift wirklich Leo der zehnte froͤmmer als 
Luther, und Lojolas Enthufiasmus heiliger ald Zinzendorf6? Und 
wohin fielen wir die größten Erfcheinungen der neueren Zeit in 
jedem. Gebiete der Wiffenfchaft, wenn ber Proteſtantismus bie 
Gottlofigfeit it und die Hölle? Jene aber, fo wie der Proteflans 
tismus ihnen nur Irreligion ift, fo lieben fie auch an der roͤ⸗ 
‚mifchen Kirche kcinesweges ihr eigenthümliched Weſen, fondern 
nur ihr Verderben, zum beutlihen Beweife daß fie nicht wiſſen 
was. fie wollen. Denn beherziget nur dieſes rein gefchichtlich, 
Daß doch dad Pabſtthum keinesweges dad Weſen der Fatholifchen 
Kirche if, fondern nur ihr Verderben *). Und eben dieſes fuchen 
und lieben jene eigentlich; ben Goͤzendienſt, mit welchem leider 
auch bie proteftantifche Kirche, wiewol unter weniger prachtvollen 
und alſo auch weniger verführerifchen Formen zu Tämpfen bat, 
und ‚der ihnen eben hier nicht derb und nicht Foloffalifch genug 
it, den fuchen fie eigentlich auf jenfeitd der Alpen. Denn was 
wäre fonft ein. Göze, ein Sdol, ald wenn was mit Händen ges 
macht werten Tann und betaflet und mit Händen zerbrochen, 
eben in dieſer Hinfälliigkeit und Gebrechlichkeit thörichter und ver» 
kehrter Weiſe aufgeftellt wird, um das ewige nicht etwa an ſei⸗ 
nem Theil und nach Maaßgabe der ihm vinmwohnenden Kraft 
- und Schönheit lebendig durzuftellen, fondern als ob «8 ald ein 
zeitliched, und oft mit der größten Sdeenlofigkeit und Verkehrt⸗ 
heit behaftetes, das ewige zugleich fein koͤnne, daß fie auch das 
mit Händen betaflen mögen, und. jedem zumwägen und zumeffen 
willfürlich und magifh. Diefe Superflition in Kirche und Pries 
- flertyum, Sacrament, Sündenvergebung und Eeligkeit ift das 
vorireffliche was fie fuchen. Sie werden aber nichtd damit fchafs 
fen, denn es ift ein verfehrtes Weſen, und wird ſich auch in 
ihnen offenbaren durch vermehrte Werkehrtheit, indem fie ſich aus 





16 | | 


der gemeinfamen Sphäre der Bildung hinausflürzen in ein lee⸗ 
red nichtigeß Treiben, und auch daB Theil von Kunft das ihnen | 
zus Gott verliehen in Eitelkeit verkehren. Dies ift, wenn Ihr wollt, 
eine Weiffagung, deren Erfüllung nahe genug liegt, daß Ihr fe 
erwarten Tönnt. 

Und nun noch eine von anderer Art, und möchtet Ihr deren - 
Erfüllung auch gewahr werben, wie ich hoffe. Sie geht auf dad 
zweite was ich eben fagte, daß nämlich der Gegenfaz dieſer bei: 
den Parteien ein noch beftehender fei, und auch noch bleiben 
muͤſſe. Es koͤnnte fein daß die römifche Kirche, wenn auch nicht 
Aberall und alles doch einen großen Theil ihred Verderbens von 
ſich thäte auch Außerlich, wie ed unftreitig viele in ihr giebt, die 
ed von fich gethan haben innerlich. Dann können Verfuͤhrer 
fommen, die mächtigen drohend, die fchwachen” vielleicht gar 
wohlmeinenden fchmeichelnd, und den Proteftanten zureben, doch 
nun, wie denn viele jened Verderben für den einzigen Grund bes 
Trennung halten, wieder zurüffzutreten in die Eine untheilbare 
urfprüngliche Kirche. Auch das ift ein thörichter und verkehrter 
Rathſchlag! er mag viele loffen oder einfchreften ; aber wird nicht 
durchgeführt werben, denn die Aufhebung diefed Gegenfazes. wäre 
jezt der Untergang bed Chriftenthumd, weil feine Stunde nod 
nicht gekommen if. Ja ich möchte herausfordern dem mächtige 
ſten der Erde ob er diefed nicht auch etwa durchfezen wolle, wit 
ihm alle ein Spiel ift, und ich möchte ihm dazu einräumen 
ale Kraft und alle Lift; aber ich weillage ihm, es wirb ihm 
mißlingen, und er wird mit Schanden beftehen. Denn Deutſch⸗ 
land ift immer noch da, und feine unfichtbare Kraft ift unge 
ſchwaͤcht, und zu feinem Beruf wird es fich wieder einftellen mit 
nicht geahndeter Gewalt, würdig feiner alten Heroen und feines 
vielgepriefenen Stammeökraft; denn es war vorzüglich beſtimmt 
diefe Erfcheinung zu entwikkeln, und es wird mit Riefenkraft wies 
der auffiehn. um fie zu behaupten *). | 

Hier habt Ihr ein n Zeichen, wenn Ihr eines bebürft, und 


457 


wenn bied Wunder geichieht, dann werbet Ihr vielleicht glauben 
wollen an die lebendige Kraft der Religion und des Chriften: sio 
thums. Aber felig find die, durch welche ed geſchieht, die welche 
nicht ſehen und doch glauben. 


Aumerfungen zur Nachrede. 


1) ©. 453. Diefe Aeußerung wird jezt weniger befremden als bei ihrer 
erften Erfcheinung. Denn damals Tonnte man, wenn man anf bie eine Seite 
ſah, leicht glauben, beide Kirchen würden fich im Unglanben im Intifferen 
tismus vereinigen, oder wenn man auf die andere fah, fie würden bald nur 
zwei verſchiedene Formen von Superftition fein, die nur auf die aͤußerlichſte 
und zufälligfte Weife verſchieden wären, und fo, daß jeder einzelne eben ſo 
gut der einen angehören Tönnte wie der andern. In neueren Zeiten haben - 
nun mancherlei Creigniſſe, welche hier unnöthig wäre zu erwähnen, nicht nur 
das Bewußtſein aufgefrifcht, daß der Gegenſaz wirklich noch befteht, ſondern 
auch ſehr Har zur Sprache gebracht, was Keide Theile eigentlich von einander 
Selten. Und wir Tönnen nicht läugnen ber reine Hanpifiz des Gegenfazes 
IR in Deutfchland; denn in England if er zwar ſtark genug aber mehr pos 
litiſch; in Frankreich hingegen fpielt ex eine ſehr untergeordnete Rolle, Nun 
ziemte es freilih uns Deutſchen vor allen ihn auch rein in feinem innern 
Weſen aufzufaflen, ſowol gefchichtlich ala ſpeculatis; allein das gefchieht Leis 
der zu wenig, fondern wir find auch ſehr in ein leivenfchaftliches Weſen ges 
rathen, daß wenn einer von uns unpartheiiſch über Die Sache reden wollte, - 
ex gewiß. von feinen Glanbensgenofien als ein Kryptokatholik würde, beargs 
wohnt werben -und von ben römlijchen mancherlei zudringlichen und fchmeichs 
lerifchen Annäherungen ansgefezt fein. Rühmliche Ausnahmen von wahrhaft 
gründlicher und dabei auch anerfannter Mäßigung find fehr felten. Gau 
über den gegenwärtigen Zuſtand hinweggehend will ich Daher nur mit weni⸗ 
gen Worten andenten, anf welchem Punkt diefer Gegenfaz mir, wenn man 
anf feine gefchichtliche Entwikklung fieht, noch zu fliehen fheint. Es giebt in 
beiden Kirchen eine unverfennbare Neigung fich gegeneinander abzufchließen 
und fich gegenfeitig möglichit zu ignoriren; die faft unbegreifliche Unwiſſen⸗ 
heit über Die Lehren und Gebräuche des andern Theile giebt davon Hinreis 
chenden Beweis. Natürlich genug iſt diefe Neigung in ber Mafle. Denn ,. 
jeder Theil findet religiöfe Erregung und Nahrnug genng in feinem engen 
Kreife, nud der andere Theil erfcheint ihm, wenn auch nicht fo unrein wie 
den Inden fremde Religionsgenoflen, wiewol auch daran oft nicht viel fehlt, 


458 


doch wenigftens völlig fremd. Diefe Neigung dominirt im ruhigen Zeilen, 
320 und wird. in der Maſſe nur von den Jeidenfchaftlihen Aufregungen unter: 
brochen, weldye wir immer wieder aufs neue entfichn fehn, wenn der ein 
Theil über den andern irgend einen entſcheidenden Vortheil errungen in pe 
litifchen Berhältnifien, oder in einer hinreichenden Menge von einzelnen Zäl 
Ion ans dem Brivatleben. Aber wie diejenigen, in benen ein gefchichtliches 
Bemwußtfein wohnen foll, die gebildeten Stände, nicht jene träge Abgeſchloſ⸗ 
fenheit theilen follen, fo auch nicht biefe immer nur ſchaͤdliche Leidenſchaftlich⸗ 
feit. Zwiſchen dieſen ſoll in beiden Kirchen eine lebendige wenn auch nicht 
unmittelbare Einwirfung ftatt finden, ein durch ruhige Betrachtung angereg- 
ter Wetteifer um fi) dasjenige anzueignen, was jeder in dem andern Theile 
vorzügliches anerkennt, Denn der entgegengefezte Charakter beider Kirchen 
bringt es mit fich, daß jede am wenigften für die Unvollfommenheiten em: 
pfaͤuglich ift, welche die andere am meiften drüffen, Mögen die Tatholifchen 
ſich daran erbauen, wie bei uns grade die zeligiöfe Richtung, je ftärker fie 
hervortritt, um deſto mehr das Zurüfffinfen in jede. Art von Barbarei hir⸗ 
dert; und wenn fie fich nicht ſelbſt tänfchen, als ob Fein Unterfchied hierin 
befiche, fo mögen fie fehen, wie weit fie es bringen koͤnnen in biefer VTörde⸗ 
zung der inbivinuellen Freiheit. And wir mögen fo leidenfchaftlos als es 
geichehen Tann die fehle Stellung beobachten, welche die fatholifche Kirche in 
- allen äußeren Beziehungen fich zu fichern weiß durch ihre Fräftige Organiſa⸗ 
tion, und mögen dann verjuchen, wie weit auch wir. zu Einheit vnd Iufam 
menhang gelangen können, aber in unferm Geiſt und ohne dem geiftlichen. 
Stand eine ſolche Stellung gegen, die Laien zu geben die dieſem Geiſt ganz 
zuwider wäre, Solche heilfame Einwirkungen finden ftatt und man bemerft 
‚Refultate davon von Zeit zu Zeit; allein fie werden gehemmt durch bie träge 
Abgeſchloſſenheit der Mafle und unterbrochen durch alle leidenſchaftliche Mos 
mente. . Daher mag ed dann noch lange währen, bis das Ziel verfelben er 
zeicht iſt, und eher werben wir doch nicht fagen lönnen, daß bie Spannung 
ſich fefigeftellt Habe nnd in Abſpannung ‚übergehen werde. Allein dann erſt, 
wird beiden gemeinfchaftlih die Aufgabe entfiehen, beichente Einwirkungen 
ausznüben anf die fa gut als ganz erſtorbene griechifihe Kicche, und gewiß 
werden lange Seit beide müflen alle ihre Kräfte und Hülfsmitiel anfbieten ' 
um biefen tobien zu erwellen, und bis’ihnen dies gelungen ift, Föunen Re 
auch beide das Schikffal ihrer Trennung nicht erfüllt haben. 

2) ©. 454. Wie felten es ift, daß in Ländern welche ganz ber einen 
Kirche angehören irgend ein einzelner ohne Nebenabfichten und ohne fünf: 
liche Ueberredungen durch einen wahren innern- Drang zur andern Kirche 
getrieben wird, das liegt zu Tage. Eben fo auch wie ruhig wir felbft in 
felchen Gegenden, wo beide Partheien unter einander_gemifcht find, die Kin: 
der ans eingläubigen Ehen in ver elterlichen nud für ſie erziehen ohme baf 

22, ans im mindeften einftele, fie köͤnnten wol eine innere Beſtimmung für bie 
andere habe, Du nun überhaupt ber verfchievene Nationalcharakter der chriſt⸗ 
lichen DBölfer nicht ohne Ginfluß iſt anf den Meg, den die Reformation ge: 
nommen hat, ſollte man nicht glauben, daß auch dieſe geiflige Richtung am ' 


0 


erbte und angeboren wuͤrbe? — wie wir ja auch bei dem tWebertritt fremder 
Slanbensgenofien in das Chriſtenthum dem chriftlihen Sium nicht cher als 
nach ein Baar Generationen für rein und befefligt Halten. Und fo wire 
denn für die Kinder gemifchter Ehen als vorläufige Maaßregel nicht das 
natürlich, daß die Söhne dem Bater folgen und die Töchter der Mutter, ſon⸗ 
bern jedes müßte dem folgen, von welchem es auch font am meiflen ange: 
erbte Achnlichfeiten zeigt. Aber auf der andern Seite ift wol anch nicht zum 
laͤugnen, daß das genetifche Verhältniß der beiden Kirchen der Vermuthung 
einer eigentlich angebornen Hinneigung nicht günftig fei, fondern vielmehr exs 
warten läßt, daß eine Selbſtbeſtimmung für die eine oder die andere Form 
nach Maaßgabe des perfönlichen Charakters fich bilde, Von dieſer Auſicht 
aus wäre für die gemifchten Ehen das natürliche Princip, nud was ſich auch, 
wenn fremdartige Cinmiſchung nicht flattfindet, von felbft geltend machen 
wird, dag vorläufig alle Kinder demjenigen vor beiden Eltern folgen, welcher 
am flärkfien zeligiös angeregt if, weil unter deſſen befonderem Einfluß das 
religiöfe Element am Fräftigften wird entwilfelt werben, daß aber dann andy 
ruhig und fröhlich erwartet werde, In welche Form ſich jeher bei wachfender 
Selbſtſtaͤndigkeit einbürgern werde. Wird diefer natürliche Gang überall bes 
folgt: fo würde gewiß, abgerechnet was frembe Motive und ſolche Ginwirs 
Fungen, die faft gewaltihätig genannt werben Tönsen, etwa bewirfen, ber 
Gall eines Nebertritts in der Zeit der Meife des Lebens, und nachdem eine 
Blaubeusweife ſchon mit Liebe. aufgefaßt worden und eine Zeit lang das Le: 
ben geleitet hat, eine Handluug die immer vertworren iſt und verwirrend, une 
entweber bei folchen Individnen vorfommen, welche auch im übrigen. als 
Ausnahmen und gleichfam als eigenfinnige Einfälle der Natur bezeichnet find, 
oder in ſolchen Füllen, wo eine yerfehrte Leitung ber religiöfen Lebens bie 
Unvollfommenheit und Ginfeitigfeit- der fchon angenommenen Glaubensweife 
recht ans Licht braͤchte und dadurch zu der enigegengefezten hintriebe, wie 
denn diefe Fälle auch jezt in beiden Kirchen nicht die feltenften find. 

3) ©. 455. Wol nur vor wenigen wird diefer Saz an und für fi 
einer Rechtfertigung bedürfen, daß die katholiſche Kirche nicht nur in dem 
alten Sinue, fondern auch fo wie die ewangelifche den Gegenfaz dazu bildet, 
bas paͤbſtliche Anſehn abfchütteln und von der monarchifchen zu der ariflofras 
tiſchen Form des Epiffopalfyftiems zurüffchren könnte, ohne daß dadurch der 
Gegenſaz zwifchen beiden Kirchen aufgehoben oder ihre Vereinigung bevens 
tend erleichtert würde. Und daß eben dies pähftliche Anfehn, man gehe anf 122 
feine Sntftehungsweife zurüff, oder man betrachte die Richtung, die es faſt 
immer genommen bat, am meiften alle faliche aus dem Gebiet der Kirche 
Hingusgehende Beſtrebungen offenbart. Merfwürbig aber if, daß fat alle 
von unferer Kirche abyefallenen firenge Papiften werden, Man kann kaum 
anders als daraus fließen, daß fie den wahren Charakter der fatholifchen 
Kirche doch nicht in fich anfgenommen haben, und nur in zwei verfchiebenen 
Formen ihre religiöfe Unfähigfeit an den Tag zu legen beftimmt find. 

4) S. 456. Schlimm ift es, wenn grabe ber Schluß eines Werfes 
leicht ein Lächeln erregen kaun, welches die etwanigen früheren günttigen Ein- 


- 


460 


drüffe verwiſcht. Und das Tann, tiefer In zwiefacher Hinſicht, einmal weil 
darin die Ahndung amsgefprochen wird als fönnte Buonaparie etwas im 
Schilde führen ‚gegen den Proteftantismns, da er ja vielmehr fpäterhin mit 
feinem und eines großen Theiles von Frankreich Uebertritt zum Proteſtantis⸗ 
mus gebroht Hat, nnd noch vor kurzem die Proteflanten des fühlichen Sranls 
reiche, als die ihm am meiften anbingen, find verfolgt worben. -: Dann aber 
auch weil hier faft geredet wird, als fei ganz Deutſchland proteftantifch; und 
nun hoffen viele, es werbe über lang oder kurz ganz oder größtentheils wies 
der katholiſch werden. Was nun das erfte betrifft, fo fpricht das, was id 
gefagt, zu genau die Gefühle ans, von denen wir in den Jahren ber Schmach 
durchdrungen waren, als daß ich es nicht ſollte ſtehen laſſen, wie ich es das 
mals geſchrieben. So viel war uns genommen, daß wir wol fürchten darf, 
tew, auch das legte werde nnd noch bebroht fein, zumal unlaͤugbar Napoleon 
im proteflantifchen - Dentfchland auf.eine ganz andere Art verfuhr als im ka⸗ 
tholifchen, nnd als ihm nicht verborgen bleiben Eonnte, daß unfre religiöfe 
Befinnung unb unfre politifche meientlich zufammenbingen. Was aber das 
andere betrifft, fo häte fich jeder zu früh zu lachen, und wie feft auch der 
Gegenpart feiner Hoffyung lebe, fo feſt lebe ich der meinigen, daß da in 
Dentfchland weiteres Umfichgreifen eines papiftifchen Katboliciemus und Zu⸗ 
rüfffinten in jebe Art der Barbarei ans vielen Gründen nothwendig verbun 
den find, fo wie die Freiheit ver enangelifchen Kirche der ſicherſte Stüzpuuft 
für jedes edlere Beſtreben unter uns bleiben wird, es wol nicht in den Wes 
gen der Vorfehung liegen mag, biefe zu fchwächen und jene auf ihre Koſten 
überhand nehmen zu laſer. 


Die 


Weihnachtsfeier. 


U U) 


Ein Gefpräd. 





1806. 1827. 


a a 0 EEE VE RE SE TE ERTT 


TTS Er Pe 


ut" mt ei a — * 


Vorerinnerung 
zur zweiten Ausgabe. 





Die Zeiten ſind jezt anders als vor nun beinahe ein und zwanzig 
Dahren als dieſes Büchlein zuerſt erſchien. Das große Schikk— 
Fat, welches damals drohend einherſchritt, hat feine Rolle ausge⸗ 
Bpielt, und in taufend kleine hat fich der große Kampf zerfplits 
Bert. Die religiöfen Verfchiebenheiten, welche hier einander gegen: 
züber treten, wenn fie auch allerdingd dem Weſen nach noch forte 
Keftehen, haben doch Zarbe und Ton bedeutend geändert, fo bag . 
wol dad meifte bier nicht mehr diefelbe Wahrheit hat wie Damals. | 
Doch fhien mir Died nicht Grund genug zu wehren daß 
das Büchlein noch einmal audgegeben würde; und auch die nicht 
eben bedeutenden oder zahlreichen Veränderungen, die ich damit 
vorgenommen, haben nicht den Zwekk es dem gegenmärfigen 
Augenbliff näher anzupaffen, wozu eine undankbare Umarbeitung 
gehört hätte, fondern.nur, was mir nicht Har und beflimmt ges 
nug audgebrüßft fchien, etwas fefler und fichrer zu zeichnen, ohne 
Daß irgend ein wefentlicher Zug geändert würbe, 
Wenn nun die ähnlichen Werfchiedenheiten der Anficht über 
dieſe Segenflände heutiges Tages fchroffer aud einander treten, 
und wir auch im Leben mit ber feineren und gebildeteren Welt 


464 


oft Urfache finden zu bedauern, daß Menfchen welche es verbien: 
ten einander zu lieben und liebend auf einander zu wirken da 
durch gänzlich von einander getrennt werden, und fich gegenfeitig 
ausſchließen: fo mag es ein erfreulicher Anblikk fein und nicht 
unwerth ald Weihnachtögabe dargebracht zu werben, wie die ver 
fchiedenften Auffaffungdweilen des Chriftenthumes hier in einem 
mäßigen Zimmer nicht etwa nur friedlich neben einander find, 
weil fie fich gegenfeitig ignoriren, fondern wie fie ſich einander 
freundlich ſtellen zur vergleichenden Betrachtung. Und fo mag 
dad Büchlein noch einmal verfuchen eine günftige Aufnahme und 


eine das gute fördernde Wirkſamkeit zu finden, indem es auf 


" feine Weife daran erinnert, daß der Buchſtabe tödtet und nur 
der Geift lebendig macht. 
Berlin, am Ende ded Novemberd 1826. 


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‚| 

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Dar freundlihe Saal war feitlich aufgeſchmuͤkkt, alle Fenſter 
bes Haufed hatten ihre Blumen an ihn abgetreten; aber bie 
Vorhänge waren nicht herunter gelaffen, damit der hereinleuchtende 
Schnee an die Jahrszeit erinnern moͤchte. Was von Kupfer: 
flihen und Gemälden ſich auf das heilige Feſt bezog, zierte die 
Mände; und ein paar fchöne Blaͤtter diefer Art waren das Ge: 
(het der Haudfrau an ihren Gatten. Die zahlreich und hoch 
geftellten durchfcheinenden Lampen verbreiteten ein feierliched Licht, 
welches doch zugleich fchalkhaft mit der Neugierde [pielte. Denn es 
zeigfe die bekannten Dinge zwar ‚deutlich genug; das fremde aber 
und neue Fonnte nur langfam und bei genauer Betrachtung be: 
ſtimmt ertannt und ficher gewürbiget werden. So hatte ed bie 
heitere und verfländige Ernefline angeordnet, damit nur allmaͤh⸗ 
lig die halb im Scherz halb ernfihaft aufgeregte Ungebuld fich 
befriedigte, und die bunten Eleinen Gaben noch ein Weilchen von 
einem vergrößernden Schimmer umgeben blieben. 

Ale nämlich, die den eng verbundenen Kreid bildeten, Män- 
ner und Frauen, Zünzlinge und Mädchen, hatten es diedmal ihr 
übertragen, das, womit fie einander erfreuen wollten, einem jeden 
zufammenzufiellen, und fo was vereinzelt unfcheinbar würde, zu 
einem flattlichen ganzen zu ordnen. Nun hatte fie ed vollbracht. 
Wie man in einem Wintergarten zwifchen den immergrünen 
Stauden die Fleinen Blüthen des Galanthus und der Viole noch 
unter dem Schnee oder unter ber fchirmenden Dekke des Moofes 


berborsolen muß: " war jedem fein. Gebiet durch Epheu, Myr⸗ 


466 | 
ten und Amaranten eingehegt, und das zierlichfie lag unter 
weißen Dekken oder bunten Tuͤchern verhüllt, indeß bie größeren 
Gefchenfe und umher oder unter den Zafeln mußten aufgeſucht 
werden. Die Namendzeichen fanden ſich mit eßbaren Kleinigkei: 
ten gefchrieben auf den Bedekkungen, und jeder mochte dann ver: 
fuchen zu den einzelnen Gaben den Geber aufzufinden. Die Ge 
felichaft wartete in den anftogenden Zimmern, und die Ungeduld 
gab dem Scherz, der unterdeß. getrieben wurde, einen leichten - 
Stachel. Unter. dem Vorwande zu errathen oder zu verrathen, 
wurden Gaben erfonnen, deren Beziehung auf Eleine Fehler umd 
Gewohnheiten, auf luſtige Vorfälle und lächerliche Migverftänd: 
niffe oder Verlegenheiten nicht zu  verfennen waren; unb wem 
ein Heiner Streich diefer Art gefpielt war, der fäumte nicht ihn 
nach allen Seiten hin zu ermwiedern. Nur die Feine Sofie ging | 
in fich gekehrt mit den größten ihrer Schrittchen auf und ob, | 
und war. den muthwillig durcheinander laufenden und redenden | 
mit ihrer unruhigen Gleichförmigfeit faſt eben: fo fehr im Wege, |, 
als diefe ihr. Endlich fragte Anton fie mit verftellter Werbrüß g 
lichkeit, ob fie nicht jezt alle ihre Gefchenfe gern bingeben würde 5 
für einen magifchen ‚Spiegel, welcher ihr vergönnte durch die y 
verfchloffnen Thuͤren zu fchauen. — Wenigſtens, fagte fie, thäte " 
ich daß cher ald du. Denn du bifl gewiß mehr eigenmügig ald m 
neugierig, und glaubſt wol ohnedied, daß die Strahlen beine Y 
wunderbaren Klugheit auch durch alle Wände nicht aufgehalten h, 
werden. Und nun ſezte fie fich in den dunkelſten Winkel, und „ 
wiegte dad Köpfchen bedachtſam in ben aufgeflüzten Händen. |; 

Nicht lange fo öffnete Erneſtine die Thüre, an der fie ange |y 
Iehnt fliehen blieb. Allein anftatt daß die muntere Schaar be |\, 
gierig, wie man erwarten follte, zu ben befesten Tafeln gecit R 
wäre, wenbeten fich plözlich in der Mitte des Saaled, wo man 
das ganze überfchauen konnte, unmwillführlich alle Blikke auf fie 3 
So ſchoͤn war die Anordnung und ein fo vollkommner Ausbruft \y, 
ihres Sinnes, daß unbewußt und nothwendig Gefühl und Auge N 


| " 467 
zu ihr hingezogen wurden. Halb im Dunkel fland fie da, und 
gedachte ſich unbemerkt an den geliebten Geftalten und an ber 
leichten Freude zu ergözen: aber fie war ed, an der fich alles 
zuerfi ergözte. Als hätte man das übrige fehon genofjen, und als 
wäre fie die Geberin von allem, fo fammelte man ſich um fie 
ber. Das Kind umfaßte ihre Knie und fchaute fie mit den gro: 
Ben Augen an, ohne Lächeln aber unendlich lieblich; die Freun⸗ 
binnen umarmten fie; Eduard kuͤßte ihr ſchoͤnes heruntergefchla: 
gened Auge, und wie ed jedem geziemte, wurde ihr von allen 
die herzlichfte Liebe und Andacht bezeugt. Sie mußte felbit das 
: Beichen geben zur Befiznehmung. — Wenn ich ed euch zu Dank 
beſtellt habe, ihr lieben! fagte fie, fo vergeßt nur nicht Über dem 
"Rahmen das Bild, und bedenkt, daß ich nur den feftlichen Tag 
‚md eure fröhliche Liebe geehrt habe, deren Zeichen ihr mir an- 
vertrautet. Kommt nun, und fehe jedes, was ihm befchert iſt; 
und wer nicht werfländig zu rathen weiß, laffe fich geduldig aus: 
lachen. — Auch fehlte e3 hieran nicht. Zwar die Frauen und 
Mädchen riefen mit großer Zuverficht zu einer jeglichen Gabe den 
Geber aus, fo daß fich Feiner verläugnen konnte; aber die Män- 
ner begingen viele Mißgriffe, und nichts war Iufliger und ver: 
drüßlicher, ald wenn fie über ihre Vermuthung ſchon einen wizi⸗ 
geri Einfall auögeftellt hatten, und diefer dann wie ein fchlechter 


Wechſel mit Proteſt zurüffgefchiftt wurde. — Es muß fi wol 


fo ziemen, fagte Leonhardt, wenn gleich es uns mit Recht immer 
verdrießt, daß die Frauen in diefen lieblichen Kleinigkeiten uns‘ 
fo weit.an Scharffinn übertreffen. Denn wie ihre Gaben weit 
mehr als die unfrigen durch ihre Bedeutung die feinfte Aufmerk⸗ 
Famteit verrathen, und wir diefe fehöne Frucht ihres Talentes 
genießen: fo müffen wir und auch jene andere Wirfung deffelben 
gefallen Taffen, wiewol fie und etwad in den Schatten ſtellt. — 
Zu gütig, entgegnete Friederike, es iſt gar nicht fo allein unfer 
Talent; fondern, wenn ed zu fagen erlaubt ift, eine gemwiffe Un: 
geſchikktheit in euch Männern kommt und auch nicht wenig au 
G42 


— 


468 | 


Hülfe. Ihr liebt gar fehr die geraden Wege, wie ed auch ben 
Machthabern geziemt, und eure Bewegungen, wenn ihr aud | 
gar nichtd damit zu fagen gemeint feid, find doch von einer fe i 
verraͤtheriſchen VBerftändlichkeit, wie etwa auf dem Schachbreit | 
die Entwürfe desjenigen, der es nicht unterlaffen kann die be ı 
denklichen Steine des Gegnerd prüfend zu berühren, und mil N 
unreifem Entfchluß. feine eigenen fechömal zu heben, che er eim ı 
mal zieht. —-Ia, ja! entgegnete Ernſt ehrlich lächelnd und ven € 
ſtellt ſeufzend, es bleibt wol bei dem, was der alte Salome " 
fagt: den Mann bat Gott aufrichtig gefchaffen, aber die Weite 4 
fuchen viel Kuͤnſte. — So habt ihr doch den Troſt, fprah Ku x 
voline, und nicht verderbt zu haben durch die moderne Artigkeit, v 
Vieleicht mag wol gar beides eben fo ewig fein ald nothwenbig; Ih 
und wenn etwa eure. ehrliche. Einfalt die Bedingung unfere In 
Schlauheit ift, fo beruhiget eudy damit, daß vielleicht auf einer k 
andern Seite unfere Beſchraͤnktheit ſih eben fo verhält zu euren — 
größeren Zalenten. iR 

Indeß waren bie Geſchenke näher betrachtet worden, und Üü 
zumal was eigne weibliche Arbeiten waren in Stikkerei und fi: E 
ner Nähkunft, wurde von ihnen allen mit Kunftverftand geprüft ie 
und gelobt. Sofie hatte zuerfi nur einen flüchtigen Blikk auf » 


- ihre eigenen Schäze geworfen, und war gleich bald hier bald dort i 


bei allen umbergegangen, alles neugierig befchauend und eifrig i 
rühmend, vor allen Dingen aber anfehnliche Bruchſtuͤkke von- den 

zerfiörten Namendzeichen einbettelnd. Denn an Süßigkeiten all .€ 
Art ift fie unerfättlih, und liebt große Vorräthe davon zu be « 
fizen, zumal wenn fie fie auf diefe Weife zufammenbringen kann. ı 
Erſt nachdem fie ihre Reichthuͤmer mit einem folhen Magazin 1 
vermehrt hatte, fing fie an, ihre Gefchenke genauer zu betrachten, | 
und ging nun wieder zeigend und triumfirend. mit jedem einge: 
nen Stuͤkke befonderd umher, gleich von jedem, wie es fich thun 
ließ, Gebrauch machend, um dadurch die Wortrefflichleit der Se 
ben am ficherften zu beweifen. — Aber das befte fcheinft du gar 


469 


nicht zu achten, erinnerte die Mutter. — O ja! einzige. Mutter; 
fogte das Kind, ich habe nur noch nicht Herz dazu. Denn 
it es ein Buch: fo hilft es mir nicht, ob ich hier hinein 
fehe; ich muß mich hernach in das Kaͤmmerchen verfchließen, 
um es dort erft zu genießen. Hat mir aber jemand, denn 
du bift es ficher nicht gewefen, einen ernfthaften Scherz ge: 
macht mit Muflern und Anleitungen zu allerlei Striffen und 
Stikken und andern Herrlichkeiten: fo verfpreche ich dir fo ge: 
wiß ich Tann, fie im neuen Jahre recht fleißig zu gebrau⸗ 
chen; aber nur jest will ich ed noch nicht wiſſen. — Schlecht 
gerathen, ſprach der Water, dergleichen iſt es nicht, denn du 
willſt noch nicht verdienen fo etwas zu befizen; aber es iſt auch 
kein Buch, womit du dich, um ed feiner Beflimmung gemäß 
zu genießen, in die Kammer zurüffziehen koͤnnteſt. — Nun zog 
fie e& mit der größten Begierde hervor auf die Gefahr einen 
großen Theil ihrer Vorräthe zu verfpütten, rief mit einem Schrei 
aus, Mufit! und umherblätternd, o große Muſik! Weihnachten 
für ein ganzes Leben! ihr ſollt fingen, Kinder, die herrlichſten 
Sachen. Nun las fie die Ueberfchriften von größtentheild religid: 
fen Compofitionen, ale in Bezug auf dad liebliche Felt, lauter 
vorzügliche und zum Theil auch alte feltene Sachen. Sogleich 
lief fie nun zum Vater bin, um in leibenfchaftlicher Dankbarkeit 
ihn mit Küffen zu überdeffen. 

Bei der fchon erwähnten Abneigung gegen weibliche Arbei: 
ten zeigt dad Kind ein entſchiedenes Talent zur Muſik; aber 
aud eben fo beichränft ald groß. Zwar ihr Sinn ift feined- 
weges befchränft, fondern fie hat herzliche Freude an allem fchös 
nen auf jedem Gebiet diefer Kunfl. Nur felbft_ausüben mag 
fie nicht leicht etwad, als was im großen Kirchenſtil gefezt if. 
Man. darf es fchon felten für ein Zeichen einer rein fröhlichen 
Stimmung halten, wenn fie halb laut ein leichtes luſtiges Lied⸗ 
chen trillert. Geht fie aber and Inftrument, und fezt ihre Stimme, 
die fich zeitig zus Tiefe neigt,- ordentlich in Bewegung: fo hat 


gg — — — — | 
° 
⸗ 


*70 


fie es immer nur mit jener großen Gattung zu thun. Hier weiß 
fie jedem Tone fein Recht zu geben, jeder tritt mit faum von | 
dem andern fich losreißender Liebe heraus, flieht aber dann doch 
ſelbſtſtaͤndig da in gemeßner Kraft, bis auch er wieder, wie mit 
einem frommen Kuſſe, dem naͤchſten feine Stelle einraͤumt. Auch 
wenn ſie allein zur Uebung ſingt, bezeugt ihr Geſang ſo viel 
Achtung für die anderen Stimmen, als ob dieſe ebenfalls wirt 
lich gehört würden: und wie fehr. fie auch oft ergriffen ift, nie 
mals doch flört gine Art von Vebermaaß. den Wohllaut des gan: 
zen. Man fann ed faum anderd nennen, auch ganz abgefehen 
von den Gegenfländen, ald daß fie mit Andacht fingt, und jeden 
Ton mit demüthiger Liebe wartet und pflegt. Wie nun Weit: 
nachten recht eigentlich das Kinderfeft ift, und fie ganz beſonders 
darin lebt: fo konnte ihr Bein liebered Geſchenk erfcheinen, als 
eben dieſes. 

Sie ſaß eine Weile in das Anfchaun der Zonzeichen vertieft, 
griff die Accorde auf dem Buch, und fang in fich hinein ohne Laut, 
‚ aber mit fichtlicher Bewegung der. Muskeln und mit lebhaften 
Geberden. Dann fprang fie plözlich hinaus, Eehrte aber bald zu: 
ruͤkk und fagte, Nun laßt aber alles Befehen und Beſprechen, 
und kommt bei mir zu Gafte drüben. Ich habe fhon alle ans -ı 
gesündet; der Thee ift auch bald bereiter, und. alfo iſt jezt bie ! 
bequemfte Zeit. Ich durfte euch nichts ſchenken, wie ihr wißt | 
und gefehen habt; aber auf ein Schaufpiel euch einzuladen if 
mir nicht verboten. Man hatte ihr nämlich. die Bedingung ge © 
macht, fie follte mit unter die Zahl der fchenkenden aufgenom: 
men werden, fobald fie eine fehlerfreie zierliche Arbeit als efle ' 
- Gabe darbringen koͤnnte. Dies hatte fie noch nicht vermodt, 
aber ſie wollte ſich doch auf irgend eine Weiſe ſchadlos halten. 
Nun beſizt fie eines von jenen kleinen kuͤnſtlichen Spielwerken, 
auf denen der urfprünglichen Abficht nach die Geichichte des Ta⸗ 
ges durch Pleine bewegliche gefchnizte Figuren unter angemefle 
nen Umgebungen foü dargeftelt fein, gewöhnlich. aber wird die ! 


+/1- 


fo gut als ganz verdrängt durch eine Menge von ungehörigen 
ja zum Xheil abgeſchmakkten und burleöfen Zuthaten, welche 
man, anbringt, um dem einfältigen Mechanismus möglich: viel 
bunticheffige Verrichtungen zu geben; dies hatte fie gereinigt, 
aufs neue in Stand gefezt,. hie und da Verbeſſerungen ange: 
bracht, und ed war nun in ihrer Kammer recht vortheilhaft auf- 
geftellt und erleuchtet. Auf einer ziemlich großen Tafel fah man 
mit leidlihem Geſchikk in freier. Verwirrung und von wenigen 
Epifoden unterbrochen viele wichtige Momente aus der äußeren 
Geſchichte des Chriſtenthums dargefiellt. Durch einander fah man 
‚da die Taufe Chrifti, Golgatha und den Berg der Himmelfahrt, 
die Audgiegung des Geiftes, die Zerflörung des Tempels, und. 
Chriften die fich mit den Sarazenen um das heilige Grab fchla: 
gen, den Pabft auf einem feierlichen Zuge nach der Petersfirche, 
den Scheiterhaufen des Huß, und die Verbrennung der päbfl: 
lihen Bulle durch Luther, die Zaufe der Sachien, die Miffiona: 
rien in Grönland und unter den Negern, den herrnhutifchen Got: 
tesakfer und das hallifche Waiſenhaus, welches leztere der Ber: 
fertiger, wie es fchien, ald das jüngfle große Werk einer religid- 
fen Begeifterung eigens hervorheben wollte, Mit befonderem 
Fleiß hatte die Peine überall Feuer und Waffer behandelt, und 
die flreitenden Elemente recht geltend gemacht. Die Ströme flof - 
fen wirflih und dad Feuer brannte, und fie wußte mit großer 
Vorficht die leichte Flamme zu unterhalten und zu hüten. Unter 
allen diefen ſtark hervortretenden Gegenfländen fuchte man eine 
Zeit lang die Geburt felbft vergeblich; denn den Stern hatte fie 
weislich zu verfteffen gewußt. Man muß den Engeln und den 
Hirten nachgehn, die auch um ein Feuer verfammelt waren, man 
Öffnet eine Thüre in der Wand ded Bildwerkes, dad Haus war. 
nur als Decoration aufgetragen, und man erblifft in einem Ge: 
mach, das alfo eigentlich außerhalb liegt, die heilige Familie. 
Alles ift dunkel in der ärmlichen Hütte, nur ein verborgenes 
ſtarkes Licht beſtrahlt das Haupt ded Kindes, und .bildet einen 


K 2 EIiL | 


Widerfchein auf dem -vorgebeugten Angeficht der Mutter. Ge | 
gen die wilden Flammen draußen verhielt fich  Diefer milde : | 
Slanz wirklich wie himmlifched Feuer gegen das irdiſche. Auch 
pried Sofie died felbft mit fichtlicher Zufriedenheit als ihr höd: 
ſtes Kunſtſtuͤkk; fie duͤnkte ſich dabei ein zweiter Correggio, und 
machte ein großes Geheimniß aus der Veranftaltung. Nur, fagte - 
fie, babe fie bis jezt noch vergeblic, darauf gefonnen, auch .einen 
Regenbogenfchein hinein zu bringen, weil doch, ſprach fie, ber 
Chriſt der rechte Buͤrge ift, dag Leben und Luft nie mehr - unter: 
gehen werden in der Welt. Sie fniete einige Augenbliffe, das 
Köpfchen reichte nur eben auf den Tiſch, vor ihrem Werl, 
unverwandt in dad Beine Gemach hineinfchauend. Plözlich war . 
fie gewahr, daß die Mutter grade hinter ihr ſtehe: fie wendete 
ſich zu ihr ohne ihre Stellung zu ändern, und fagte innig be 
wegt, O Mutter, du Fönnteft eben fo gut die glüffliche Mutter 
des göttlichen Kindleind fein! und thut ed dir denn nicht weh, 
daß du es nicht bit? Und iſt ed nicht deshalb, daß die Mütter 
die Knaben lieber haben? Aber denke nur an die heiligen Frauen, 
welche Sefum begleiteten, und an alle, wad du mir von ihnen 
erzählt. Gewiß, ich will auch eine folche werben, wie du eine 
bifl. Die gerührte Mutter hob fie auf und küßte fi. Die am | 
dern betrachteten indeß einzeln dies und jenes. Beſonders ernft: 
haft fland Anton davor. Er hatte feinen jüngeren Bruder neben 
fih, und zeigte diefem erflärend mit der weitfchweifigen patheti- 
chen Eitelkeit eines Gicerone, alled wad er wußte. Der Heine 
ſchien ſehr aufzumerfen, verftand aber gar nichtd, und wollte 
immer zwifchen durch in dad Gewaͤſſer greifen und nach de 
Flammen, um fich zu überzeugen, ob fie auch wahrhaft wären 
und keine Täufchung. Während die meiflen noch hier beichäftigt 
waren, ließ Sofie nicht ‘ab mit leifen Bitten beim Water; er 
mußte fich mit Sriederife und Karoline in dad andere Zimmer 
ziehnlaff en, leztere fezte fich and Klavier, und fie fangen zufam: . 
men das Chor „Laſſet uns ihn lieben, und den Choral „Will⸗ 


473 


kommen in dem Jammerthal,“ auch noch einiges andere aus 
Reichardis trefflicher Weihnacht3-Gantilene, in welcher die Freude 
und dad Gefühl der Errettung und die bemüthige Anbetung fo 
ſchoͤn ausgebrüßtt iſt. Bald hatten fie die ganze Geſellſchaft zu 
andächtigen Zuhörern, und als fie geendet hatten, gefchah ed, wie 
immer, daß religiöfe Muſik zuerft eine flile Befriedigung und 
Zurüffgezogenheit de Gemüthes bewirkt. Es gab einige ſtumme 
Augenblikke, in denen aber alle wußten, daß eines jeden Gemuͤth 
liebend auf die uͤbrigen und auf etwas noch hoͤheres gerichtet 
war. Der Ruf zum Thee verſammelte bald wieder die uͤbrigen 
im Saale; nur Sofie blieb noch lange in emſiger Uebung am 
Klavier, und kam nur ſchnell und ohne große Theilnahme ab 
und zu, ihren Durſt zu loͤſchen. 

Man ging auf und nieder, und beſchaͤftigte ſich noch ein⸗ 
mal mit den Geſchenken. Sie ſchienen nun erſt, nachdem etwas 
anderes vorgegangen war, recht in den Befiz ihrer neuen Eigen: 
thümer übergegangen zu fein, und konnten deshalb auch fchon 
von ben Gebern felbft ald etwas fremdes betrachtet und unbe: 
- fangen gerühmt werden. Manches war vorher von vielen über: 
fehen worden, an manchem wurden nun erft noch befondere Vor: 
züge entdekkt. Wir haben aber auch diesmal, fagte Ernft, ein 
befonderd günftiges Jahr um uns an unferen Gaben zu erfreuen. 
Manche bedeutende Veränderung fteht bevor. Das niebliche Kin: 
derzeug, womit Agnes fo reichlich befchenft ift, die fchönen klei⸗ 
nen Koftbarkeiten für unfere Tünftige Einrichtung, meine gute 
Friederike, das Neifegeräth für Leonhardt, felbft die Schulbücher 
für deinen Anton, liebe Agnes, alles zeigt auf Fortfchritte und 
Schöne Ereignifle, und macht und die Freuden der Zufunft auf 
eine befebende Art gegenwärtig. Iſt doch das Feft felbft die Ber: 
fündigung eined neuen Lebens für die Welt, und. fo wird ed uns - 
natürlich am eindrüfflichften "und erfreulichfien, wenn auch in 
unferm Leben fid) etwas neues bedeutend regt. Sch fchließe Dich 
aufs neue wie ein Geſchenk des heutigen Tages in meine Arme, 


47% 


+ du geliebte! Als waͤreſt du mir mit bem Erlöfer zugleich izt 
eben gegeben, fo ergreift mich ein wunderbares feſtliches Gefühl 
in hoher Sreude: Ja ed kann mich fehmerzen, daß nicht all 
bier, fo wie wir, vor einer neuen Stufe des Lebens andaͤchtig 
Enien, daß euch, geliebten. Freunde, nichts großes nahe liegt, 

was ſich dem größten Gegenfland unmittelbar anheftetz und id 
fürchte, wie unfre Gaben nur bedeutungdlos. erfcheinen koͤnnen 
gegen die eurigen an ung, fo fei auch euer Gemüthszuftand zwar 
heiter und glüßklich, aber doch minder bewegt und erhöht, ja ih 
möchte faft fagen gleichgültig im Wergleich mit dem unfrigen. — 
Gewiß du bift fehr gut, lieber Freund, erwiederte Eduard, aus 
deiner Begeifterung fo theilnehmend auf und herüber zu fehn. 
Aber doch rüfft chen die Begeiflerung und dir zu fehr in die 
Ferne. Bedenke nur, daß unfer ruhiges Gluͤkk eben dafl elbe ift, 
dem du entgegen gehft, und daß jebe Achte Begeiflerung, zumal 
die der Kiebe, etwas nie veraltendes und immer erregbares bleibt. 
Oder Fannft du dir Erneſtinens "Gefühl bei dem Ausdruff kind: 
licher Andacht und tiefer Snnigfeit in unferer Sofie ald etwas 
gleichgültiged, kannſt du es ohne die lebendigfte Thaͤtigkeit der 
Phantafie denken, in welcher Gegenwart Vergangenheit und Zus 
kunft fich umfchlingen? Sieh nur, wie fie im innern bewegt ifl, 
wie fie in einem Meere der reinften Stüfffeligfeit badet. — Ya, 
ich geftehe es gern, fagte Erneftine, ordentlich entzuͤkkt hat fie 
mich vorher mit ihren wenigen Worten. Aber ich thne ihr un 
recht, die Worte allein könnten eher einem, der fie nicht Eennt, 
als Affectation vorgekommen fein; es war ungetheilt die ganze 
Anfhauung des Kindes. Das engelreine Gemüth that fich fo 
herrlich auf, und wenn ihr verfteht was ich meine, aber ich 
weiß ed nicht anderd audzudrüffen, in der größten Unbefangen: 
heit und Unbewußtheit lag ein fo tiefer grimdlicher Verſtand des 
Gefuͤhls, daß ich überfchüttet wurde von der Fülle des fchönen 
und liebenswürbigen, das notwendig and diefem Grunde empor: . 
wachlen muß. Warlich ic fühle es, daß fie in Einer Hinſicht 


| 


— 


475 


nicht zu viel gefagt hat, als fie fagte, ich könnte wol auch die 
Mutter des angebeteten Kindes fein, weil ich in der Zochter, wie 
Maria in dem Sohne, die reine Offenbarung des göttlichen recht 
demüthig verehren kann, ohne daß das richtige Verhaͤltniß der 
Mutter zum Kinde dadurch im mindeften geflört würde, — 
Darüber find wir wol alle einverflanden,. fagte Agnes, daß das 
fogenannte Verzärteln und Verziehen, dad nicht den Kindern nur 
ſich felbft zu Liebe -gefchieht um ſich etwas unangenehmes zu er- 
fparen, nichts zu fchaffen haben kann mit dem was du meinft. — 
Wir Frauen verfiehen dad wohl, ermwiederte Ernefline; aber ob 
man ed nicht den Männern doch bisweilen ausdruͤkklich vorhal⸗ 
ten muß? Wenn deren eigentliche Sorge angeht, zumal für die 
Knaben, dann gilt ed Zepferkeit und Tuͤchtigkeit, Dad Kortfchreis 
ten .ift dann immer verbunden mit Anftrengung und Verſagung, 
ja oft mag es auch Noth thun das vergroͤßernde Selbſtgefuͤhl 
niederzuhalten; und dies koͤnnte den Vaͤtern leicht eine unrichtige 
Anſicht geben, wenn ſie ſich nicht an unſerm muͤtterlichen Thun 
und Sinn fleißig orientirten. — Ja wir erkennen es, ſprach 
Eduard, wie ihr beſtimmt ſeid und gemacht, die erſten reinen 
Keime zu pflegen und zu entwikkeln, ehe noch etwas verderbliches 
beraustritt oder fich anfezt. Den Frauen, die fich dem heiligen 
Dienft widmen, ziemt e8 überall im innern des Zempels zu 
wohnen ald Veftalinnen, die ded heiligen Zeuerd wachen. Wir 
Dagegen ziehn außen herum in firenger Geftalt, üben Zucht und 
predigen Buße, oder heften den Pilgern dad Kreuz an, und ums 
gürten fie mit dem. Schwerdt um ein verlorned Heiligthum zu 
fuchen und wieder zu geminnen. — Du bringft mich, unterbrach 
ihn Leonhardt, wieder auf meinen Gedanken zurüff, den. ich im 
Fluß eures Gefpräches ſchon faſt verloren hatte. Er betrifft 
eure Sofie, und fchwebt mir feit einiger Zeit. ſchon öfters auf 
der Zunge, izt aber befonders lebhaft. Ihre Findliche Frömmig: 
feit rührt mich ‚gewiß ebenfalls; aber mir fchaudert auch nicht 
felten davor. Wie ihr Gefühl herausbricht, erfcheint fie mir bie: 


476 


weilen fchon im Geift wie eine Knospe, die durch zu flarkn 
Trieb in fich felbft vergeht, ehe fie ſich aufſchließt. Bei allem 
heiligen, lieben Freunde, gebt diefem Gefühl nicht zu viel Nahrung! 
Oder koͤnnt ihr fie nicht fo lebhaft wie ich fehen mit früh ver 
blühten Farben, vielleicht gar im Schleier mit unfruchtbarem 
Rofenkranzdienft vor einem Heiligenbilde knien, oder wenn daB 
nicht, eingehült in das zurüffftogende Häubchen und in die an 
muthölofe Tracht vom freien und frohen Lebensgenuß ausgefchlöf: 
fen in einem herrnhutiſchen Schwefternhaufe dumpf und -unthätig 
binbrüten? Es ift eine gefährliche Zeit, viel fchöne weibliche Ge 
müther begeben ſich in eine von diefen fchnöden Werirrungen, die 
Samilienbande zerreißen; und fo wirb auf jeden Fall die fchönfte 
Geftalt und das reichfie Gluͤkk der weiblichen Beſtimmung ver: 
fehlt, der inneren Berfchrobenheit, ohne die fo etwas gar nidt 
entfiehen kann, nicht zu gedenken. Und dad Sind, fürchte id, 
hängt fehr nach diefer Seite. Ja es wäre ein unerfezlicher Ver: 
luft, wenn dies Gemüth und dieſer Geift von. dem Verderben 
einer Zeit ergriffen würden, im welcher, man möchte faft fagen, 
wenig Frauen ihre Ehre ganz unbeflefft behalten, wenn dad 
wahr ift was Goͤthe fagt, daß immer ein Makel auf einer Per: 
fon haftet, die wenn auch nur in irgend einem Sinn ihre Ehe 
aufgelöft oder ihre Religion geändert hat. Geſprochen foll wer: 
den über eine folche Beſorgniß, wenn fie ein Freund hegt; aber 
nur einmal, und fo mag ed nicht unrecht fein, daß ich. immer, 
ich weiß nicht wie, bis heute bin gehindert worden. — Ich gebe 
dir das Zeugniß, fagte Erneftine, dag du bift gehindert worben. 
Denn angemerkt habe ich dir dein beforgliches Gefühl fchon mehr 
als ein Mal; und bei diefer Beflimmtheit wollte es auch gewiß 
ſchon längft gern in Worte übergehen. Aber ich forderte ed bir 
nicht ab, weil ich hoffte, es ſollte dir felbft verdächtig werden, 
wenn du das Kind. mehr fähelt und fein inneres fich dir deut: 
licher entwißfelte. Sieh, lieber! ich berufe mich auf dich felbfl. 
Gewiß ganz richtig fezteft du voraus, es liege allemal eine innere 


- Verfchrobenheit zum Grunde, wo ein folcher Lebensweg ein: 
gefchlagen wird, wie du beforgfl. Und wo ift diefe leichter zu 
erfennen, ald bei einem Kinde, bei dem man fo wenig zwei⸗ 
felhaft fein kann, ob irgend etwas wirklich aus dem innern 
hervorgegangen ift oder fih nur von außen angefezt bat? 
Kannft du aber wol irgend etwas verfchrobenes. in ihr aufzeis 
gen, irgend etwas über die wahre Kindlichkeit hinausgehendes? 
Oder irgend ein Mißverhältnig, wodurch ihre frommen Re: 
gungen fonft etwas unterdrüffen was ihr geziemt? Ich weiß 
nicht anderd, als daß fie dies völlig eben fo behandelt, wie 
jedes andere was ihr lieb und werth iſt. Eben fo giebt fie 
fi) jeder Bewegung hin, bei jedem auch ganz Ffindifchen In⸗ 
tereffe wirft du fie ganz als Diefelbe finden, und fie treibt 
warlich mit diefem fo wenig @itelfeit wie mit jedem. andern. _ 
Auch fehlt ed ihr an jeder Veranlafjung dazu, und wird ihr, 
was und betrifft, immer daran fehlen. Denn niemand merft 
hierauf befonderd; und wenn fie freilich inne werden muß, wie 
bilig, daß wir diefe Sefinnung eben mit unter das höchfte rech⸗ 
nen, fo wird doch von den einzelnen Regungen und deren Aeu⸗ 
ferung niemals viel Aufhebend gemacht. Wir finden fie natür: 
Nlich, und fo ift auch in der That die Gefinnung ihr natürlich. 
Was fo kommt, denken wir, fann man auch ungeftört der Natur 
überlaffen. — Und zwar um fo ficherer, fuhr Eduard halb un⸗ 
terbrechend fort, je mehr es zu dem fchönften und ebelften gehört. 
Denn warlich, lieber Freund! ed muß doch dad rechte von der 
Sache fein, das innere, was die Eleine fo ergreift, da fie gar 
feine Gelegenheit hat fi) an das bloß Außerliche zu hängen. 
Died Weihnactöfpiel ift in wenigen Zagen bei Seite geftellt, 
und du weißt: felbft recht gut, daß ed gar nichts förmliched von 
religiöfer Art in unferm Kreife giebt, kein Gebet zu beflimmten 
Zeiten, Peine eignen Andachtöftunden, ſondern alled nur wenn 
ed und fo zu Muth ift. Auch hört fie und oft dergleichen ſpre⸗ 
chen, ja fingen fogar was doch fo ſehr ihre Lieblingöfache iſt, 


478 


ohne fi an und anzufchließen; alles recht nach ber Kinder Weile 
und Art. Zur Kirche hat fie überhaupt nicht befondere Luft. 
Man fingt ihr dort zu fchlecht, das übrige verfteht fie nicht, und 
e8 macht ihr Langeweile. Märe etwas erzwungenes in’ ihrer 
Froͤmmigkeit, oder wäre fie geneigt nadyzuäffen, oder ſich von 
fremden Anfehn leiten zu laſſen: würde fie fich dann nicht zwin⸗ 
gen, das fhön zu finden und der Theilnahme werth, was wir 
fo ausgezeichnet in Ehren halten? Denke ih nun dies in Han 
monie mit ihrer übrigen Bildung fo fortgehend: fo fehe ich nicht 
ab, wie dad roͤmiſche Weſen oder auch das herrmhutifche jemals 
für fie könnte anloffend werben. Sie müßte in ber That erfl 
‚mit ihrem eigenthümlichen Geſchmakk, der gar nicht diefen Cha: 
rakter hat, auch ihr faſt dreiftes und fchroffed Unterfcheiden der 
Hauptſache in allen Dingen vom Schein und von der Umges 
bung gänzlich ablegen. — Ich möchte e8 mir aber doch verbitten, 
fagte Karoline, che Leonhardt wieder das Wort nehmen fonnte, 
dag ihr das hermhutifche fo mit dem Fatholifchen zufammens 
werft. Ic glaube man koͤnnte darüber flreiten, ob. beides auch 
nur in irgend einer Hinficht daſſelbe wäre; am wenigften aber 
kann ich mir für das herrnhutifche den fchönen Titel der Ver: 
fchrobenheit gefallen laſſen. Ihr wißt, ich habe zwei Freundin: 
nen dort, die gewiß nicht verfchroben find, fondern von eben fo 
geradem Sinn und Verſtand ald von tiefer Frömmigkeit. — 
Liebe Fleine, antwortete Eduard läyelnd, bei Leonhardt mußt du 
eö der Unwiſſenſchaft zu Gute halten; er fpricht das fo nad, 
wie man ed biömeilen hört, und hat gewiß nie in einen herrn⸗ 
hutifchen Ort hineingefehen, ald um ſich einen fehönen Sattel zu 
Taufen, oder eine merkwürdige Fabrik zu betrachten, und ſich nes 
benbei die hübfchen Kinder des Schweiternhaufes vorftelen zu 
laffen. Ich aber würde gewiß Unrecht haben, wenn ich fo etwas 
im allgemeinen zugeſtanden hätte; Allein bemerfe nur gürigfl, 
daß gar nicht von ben Vorzügen oder dem Charakter der vers 
fehiedenen Kirchen die Rede mar, fondern daß wir nur von So: 


479 


fien fprachen; und in Hinficht auf fie muß dir die Zufammen: 
flelung ganz unverbächtig erfcheinen. Denn eben da du die 
Sache fennft, und unbefchadet deiner beiden Freundinnen, wirft 
du eingeltehen, von einem Mädchen, das feinen religiöfen Sinn 
im Schooße feiner Familie befriedigen fann, das eben weil es 
Unſchuld und Unbefangenheit bewahrt hat, die Welt gar nicht fo 
gefährlich findet, und dabei an eine fröhliche Thätigkeit in einem 
freien Leben gemöhnt ift, läßt ſich gar nicht ohne eine wunder: 
liche Verirrung denken, daß es ſich in ein Plöfterliches Schwe⸗ 
ſternhaus einiperren folte. Auch möchte, was ich noch zu Leon: 
hardt fagen wollte, wol von beiden Uebergängen auf gleiche Art 
gelten, wo nicht etwa dad was du beichüzeft durch befondere Um: 
flande motivirt wide. Die Profelyten beider Art nemlih, fo 
viele ich ihrer kenne, find gar nicht folche, die fi wie Sofie 
von Kindheit an zum religiöfen hingeneigt haben; fondern wie . 
man fagt daß die gefallfüichtigen Weiber und die betrügerifchen 
Staatömänner in fpäteren Sahren oder nach gewiflen Unfaͤllen 
Froͤmmlinge werden: fo find diefe wenigftend größtentheils folche, 
die, was jie vorher betrieben, Wiffenfchaft oder Kunſt oder haus: 
liches Leben, auf eine ganz aͤußerliche Weiſe behandelten, bie 
- Beziehung auf dad höhere aber ganz überfahen. Geht. ihnen 
nun diefe irgendwie auf: fo betragen fie fich in dieſer neuen 
Belt auch wie die Eleinen Kindlein, fie greifen nad) dem Glanz, 
fei e8 nun ein von außen her auf den Gegenfland geworfener 
und ihn vergrößernder, oder der eined innerlichen Feuers, das 
mehr noch ald durch feine eigene Flamme durch die Dunkelheit 
feiner Umgebungen lofft. Und fo kann man auch fagen dag in 
ihrer Buße immer etwas von der Sünde zuruͤkkbleibt, indem fie 
namlich die Schuld ihrer vorigen Kälte und Berfinflerung auf 
die Kirche werfen wollen, der fie angehörten, ald würde eben da 
das heilige Feuer nicht verwahrt, fondern nur ein Falted Formel: 
wefen getrieben mit leeren Worten und ausgeweideten eingedorr⸗ 
ten. Gebräuchen. | 


480 


Du magft wol Recht haben, erwiederte Leonhardt, daß 
ed fich mit vielen gerade fo verhält; aber gewiß iſt dies nick 
die einzige Quelle diefed Uebeld. Unmittelbar von innen her: 


aus ſcheint es in vielen zu entflehen, und fo auch im der Ele 
nen. Es ift warlich wunderbar, daß ich. und andere, die ihr 


wol unter euch ungläubige nennt, euch warnen und vor 
euch prebigen müffen gegen den Unglauben: — aber freilid 
nur gegen den Unglauben an den Aberglauben, und an alle 


was daran hängt. Ich brauche dir wol nicht zu betheuem, | 


Eduard, daß ich das fchöne der Frömmigkeit ehre und liebe; 
aber fie muß ein innerliches fein und’ bleiben. Will fie du 
gerlich fo hervortreten, daß fie eigenthümliche Verhältniffe im 
Leben bildet: fo entfieht dad verhaßtefte daraus, verfleinernde 
Abfonderung und geiftlicher Stolz, dad gerade Gegentheil von 
dem was bie Frömmigkeit eigentlich bewirken fol. Befinne 
dich, Eduard, wie wir noch neulich davon redeten, daß der fo: 
genannte geifllihe Stand nur dann ohne Gefahr fein könnte 
von dieſer Seite, wenn die Srömmigfeit überall verbreitet wäre, 
die man von feinen Mitgliedern verlangt; und wie du unter der 
großen Zahl, die du von Amtöwegen kennſt, mit Mühe ein Paar 
Beifpiele auftreiben konnteſt von ſolchen, die nicht in das lezte 
Uebel gerathen waͤren. Noch verderblicher aber wird es fuͤr die 
Laien, die keinen beſondern Beruf dazu haben, wenn ſie ſich 
einer ausgezeichneten Froͤmmigkeit befleißigen wollen. Ja es ge 
mahnt mich völlig wie ein Rauſch; nur anders iſt der der Ka 
tholiten, die fih an ganz Außerlichen frommen Werken überneh: 
men; und anders der der unfrigen, wenn fie ſich um irgend eine 
engberzig ausfchliegende Meinung verfammeln. Und aud bems 
felben Becher hat auch deine Eleine, wie es fcheint, ſchon einen 
Zug gethan, der für ein folches Kind gar nicht fchlecht iſt. Gönnft 
du ihr nun thörichterweife diefen Ehrgeiz eine heilige Frau zu 
werden, oder pflegft ihn gar: wo will fie dereinft damit hin als 
ins Klofter oder zu den Schweitern? Denn wir andern thun 


481 


dergleichen nicht gut in der Welt. : Nun gar bie fpielende An: 
dacht mit dem Chriſtkindlein, die Anbetung des SHeiligenfcheins, 
den fie ihm felbft gemacht hat, iſt das nicht der unverfennbarfte 
Keim des Aberglaubens? Iſt ed nicht der baare Gözendienft? 
Seht das ift es, lieben Freunde, was gewiß, wenn ihm nicht 
Einhalt gethan wird, in etwas unvernünftiges endet. Aber weit 
entfernt dem Einhalt zu thun, habe ich die deutlichfien Spuren, - 
daß ihr dem Kinde fogar die Bibel gebt. Sch will hoffen, 
nicht ganz frei hin zum eignen Gebrauch; aber es fei, daß ihr 
darin leſet in ihrer Gegenwart, oder daß die Mutter ihr daraus 
erzählt, immer gleichviel. Das mythifche muß ihre Fantafie lof: 
ken, und wunderlich verworrene finnliche Bilder müffen fich feft: 
fegen, neben denen hernach Fein gefunder Begriff Plaz finden 
kann; ein geheiligter Buchftabe fteht auf dem Thron, in den die 
ungezügelte Willkuͤhr, die das Kind gängelt, hineinlegt was 
nie darin lag; das miraculöfe ohnehin nährt den Aberglauben 
unmittelbar; und der Unzufammenhang begünftigt jede Täufchung 
der eignen - Schwärmerei und jeden Betrug eined angelernten 
Syftemd. Warlich, zu einer Zeit, wo fich die Prediger fogar 
rühmlich beeifern auf der Kanzel die Bibel möglichft entbehrlich 
zu machen, dieſe ben Kindern wieder in die Hände geben, für 
welche fie niemald gemacht war, dies ift das aͤrgſte; und ed wäre 
diefen Büchern, um fie mit ihren eigenen Worten zu firafen, 
befier, dag ein Muͤhlſtein an ihren Hald gebunden und fie im 
Meere verfenft würden, da ed am tiefften ift, ald wenn fie den 
Fleinen zum Aergerniß gereichen. Wie foll ed nun werden, wenn 
fie die heilige Gefchichte mit den andern Feenmaͤrchen in fich 
aufnimmt? Welche Gefahren entfliehen nicht daraus, wenn daB 
Herz an einem folchen Glauben hangt, das Xeben durch einen 
ſolchen geordnet werden foll, der Feine andere Wahrheit hat als 
diefe, zumal wie bedenklich für das andere Gefchlecht. Ein Knabe 
hilft fich eher heraus, und findet noch zur rechten Zeit einen feite- 
Schleierm. W. I. 1. Hh 


482 


ven Boden; ober wäre ed recht arg mit ihm geworben, fo lafle 
man ihn nur ein Zahr Theologie fludiren, das heilt ihn gewiß. 

Sch muß nur, fagte Eduard, nachdem er wohl abgemarte, 
ob auch die Rede zu Ende wäre, unfern Leonhardt gegen euch 
vertheidigen, die ihr ihn. noch nicht genau kennt, Damit feine 
Rede euch nicht ruchlofer erfcheine, als fie gemeint war. Gr ifi 
eigentlich gar nicht fo tief in den Unglauben verſunken, und hat 
mit unfern Aufklärer, zu denen er fich gefellt, wenig gemein. 
Nur ift er noch nicht ganz auf dem reinen mit fich felbft in die 


fer Sache, und milcht deshalb Scherz und Ernft immer fo wun: 


derlich, daß nicht jeder beides fol! von einander fondern können. 
Wollten wir aber alled für Emft nehmen, fo würde er und ge 
wiß nicht wenig auölachen. Ich will mich alfo lediglidy an den 
Scherz halten, lieber Freund; für den Emft ift das vorhin ge 
fagte genug. Laß dir daher erzählen, und erſchrikk nicht zu fehr. 
La, das Mädchen hört wirklich manches aus der Bibel recht ge 
nau wie ed dafteht. So war ihr auch Zofef nur ald der Pflege 
vater Chriſti vorgeflelt worden — ed ift wol ſchon ein Jahr 
und länger her, was ich jezt erzähle; — und ald ihr auf bie 
Frage, wer denn fein ‚rechter Vater geweien, Die Mutter antwor: 


tete, er habe Beinen andern gehabt ald Gott, meinte fie, Gott : 


wäre ja ihr Vater auch, aber fie möchte mich deshalb nicht mif: 
ſen, und ed gehöre dad wol fchon zum Leiden Chrifti, Teinen 
rechten Water zu haben,. denn es fei eine gar herrliche Sache um 
einen ſolchen. Wobei fie mir liebkofete und mit meinen Lokken 
fpielte. Du fiehft daraus, wie fireng fie ſchon auf die Dogma- 


tik Hält, und welche vorzügliche Anlage fie hat, für den Glau⸗ 


ben an die jungfräuliche Empfängnig zur Mörtirin zu werben. 
Ja noch mehr, fie nimmt wirklich die heilige Gefchichte in etwas 
wie ein Mährchen. Denn wie fie fich aus diefen die Idee au: 
bildet, wenn in einzelnen Momenten fchon dad Mädchen die 
Oberhand gewinnt über das Kind: fo zmeifelt fie auch wol bis 
weilen an dem einzelnen und factifchen in jener, und fragt, ob 


J 


— —— — 


483 


dad auch buchitäblich zu verfichen fei. Du fiehft, es iſt arg ge 
nug, und fie it nahe an der allegorifchen Erflärung einiger Kir: 
chenvaͤter. — Der Scherz macht mir ordentlich. Muth auch ein 
MWörtchen drein zu reden, fagte Karoline, und fo möchte ich eins 
geftehen, fie habe freilich den Heiligenfchein. um das Chriſtkind⸗ 
lein gemacht, und fie werde bald felbft Kindlein und Mutter 
zeichnen, maien und wo möglich modelliren, allen heidniſch ge: 
finnten Künftlern zum Troz und Aergerniß. Denn fie frizelt 
ſchon jezt oft folche Skizzen beim Schreiben und Eefen, alfo fchon 
balb gedankenlos, was offenbar nur um fo ärger katholiſch if. 
Aber im Ernſt glaube ich, wir find nur um fo ficherer vor bei: 
dem. Denn bei den SHerrnhutern hält man nichts auf Bild: 
werke, dort wird es ihr alfo zu unkünftlerifch fein. Und was 
das Batholifche betrifft, fo fagt ihr ja immer, die beften, die von 
und. zu jener Kirche überträten, thäten ed deshalb, weil fie dort 
einen feften Verein der Religion mit den Künften anträfen, der bei 
und fehle. Hat fih nun Sofie diefen Verein ſchon gemacht auf ihre 
eigne Weife, fo wird fie kein Bedürfnig fühlen, ſich an jenen an: 
zufchließgen, in dem die Kunft oft fo wunderlich und geſchmakklos 
auftritt. — Ei, fagte Leonhardt, ſcheinbar heftig, wenn fogar die 
Mädchen mid verwirrt machen wollen, fo muß ich ed ja wol 
werden über und über. Und meinetwegen mag ſie lieber katho⸗ 
lifch werden mit ihrer Anwendung der Künfte auf die Religion, 
denn ich mag dad gar nicht. Ich bin ald Chriſt fehr unkünft- 
lerifch, und als Künftler fehr unchriftlih. Sch mag bie fleife 
Kirche nicht, die und Schlegel in. feinen auch etwaß fteifen Stan- 
zen geichildert hat, noch auc die armen bettelnden erfrormnen 
Künfte, welche froh find ein Unterfommen zu finden. Wenn 
diefe nicht ewig jung, reich und unabhängig für ſich leben, ſich 
ihre eigne Melt bildend, wie fie fich die alte Mythologie unflrei> 
tig gebildet haben, fo verlange ich feinen Theil an ihnen. Eben 
fo-die Religion, wie wir ed nehmen, kommt mir ſchwach vor 
und verdächtig, wenn fie fich erft auf die Künfte lügen will. — 
952 


484: 
Sieh dich vor, Leonhardt, fagte Ernft, daß fie dich nicht zur Un: 
zeit an deine eignen Worte erinnern. Haft du und nicht neulid 
noch auseinander geiezt, daß Keben und Kunft eben fo wenig ein 
Gegenſaz wären, wie Leben und Wifjenfchaft, dag ein gebildetes 
Leben recht eigentlich ein Kunftwerk wäre, eine ſchoͤne Darſtel— 
lung, die unmittelbarfte Vereinigung des plaftifchen und muſika⸗ 
lifchen? Nun werben fie fagen, du wolleft alſo auch nicht, daß 
dad Leben bei der Religeon unterfommen folle, oder ſich von ihr 
begeiftern laffen, und fie follte alfo nirgends fein ald in Worten, 
wo ihr fie bisweilen braucht aus allerlei Urſachen. — Das wol: 
len wir nicht fagen, entgegnete Ernefline Es ift ohnehin des 
müßigen Streited längft genug, ber und andere langeweilt, weil 
wir dad reine Vergnügen am Streiten nicht mit Euch theilen 
fonnen. — | | 

Und wir find ja offenbar einig, fügte Eduard hinzu, wenig: 
fiend in dem wohlthuenden Gefühl, welches fich in unferm heu: 
tigen Leben fo befonderd ausdruͤkkt. Denn was ift: die fchöne 
Sitte der Wechlelgefchenfe wol anders, ald reine Darftellung ber 
veligiöfen Freude, die fich, wie Freude immer thut, in ungefuch: 
tem Wohlmeinen, Geben und Dienen äußert, und bier noch be 
fonderd das große Geſchenk, deſſen wir und alle gleichmäßig er: 
freuen, durd Peine Gaben abbildet. Je reiner diefe Gefinnung 
im ganzen hervortritt, um defto mehr ift unfer Sinn getroffen. 
Und um deöwillen, liche Erneftine, waren wir fo ergoͤzt von dei: 
ner Anordnung diefes Abends, weil du unfern Weihnachtöfinn fo 
vecht ausgedruͤkkt; das Werjüngtfein, das Zuruͤkkgehn in das Ge 
fühl der Kindheit, die heitre Freude an der neuen Welt, die wir 
dem gefeierten Kinde verdanken, das alled lag in dem daͤmmern⸗ 
den Schein, in der grünen blumigen Umgebung, in dem aufge 
baltenen Verlangen. — Ja gewiß, fagte Karoline, iſt was wir 
in dieſen Tagen fühlen fo rein die fromme Freude an der Sache 
felbft, daß mir ordentlich leid that, was Ernft vorhin äußerte, 
fie Eönnte durch irgend frohe Begebenheiten oder Erwartungen 


485 


des äußeren Lebens erhöht werden. Aber ed war. ibm mol auch 
nicht recht Ernſt damit; und was die Bedeutſamkeit unferer klei⸗ 
nen Gaben anlangt, fo haben fie ihren Werth in fofern gar nicht 
durch das, worauf fie fich beziehen, fondern nur überhaupt das 
durch, daß fie ſich auf etwas beziehn, daß die Abficht zu erfreuen 
darin liegt, und der Beweis, wie beflimmt und das Bild jedes 
lieben Freundes dabei vorgeichwebt. Mein Gefühl wenigſtens 
unterfcheidet jene höhere allgemeinere Sreude fehr beſtimmt von 
der lebhafteften Theilnahme an dem, was euch allen, ihr lieben 
Freunde, begegnet oder bevorſteht; und ich moͤchte eher ſagen, 
diefe ı wird durch iene "erhöht. Wenn das fchöne und erfreuliche 
zu einer Zeit vor uns fteht, wo wir und des größten und ſchoͤn⸗ 
fien aufs innigfte bewußt find: ſo theilt fich dieſes jenem mit, 
und in Beziehung auf das große Heil der Welt befommt alles 
liebe und gute eine größere Bedeutung. Ia ich fühle ed noch | 
Mar, wie ich ed fchon einmal erlebt habe, dag auch neben dem 
tiefften Schmerz jene Freude ungehindert in und aufblüht, und 
daß fie ihn veiniget und befänftiget, ohne ‚von ihm geflört zu 
werden, fo urfprünglich ift fie, und unmittelbar in einem unver⸗ 
gänglichen gegründet. — Auch ich, fagte Eduard, ber ich nach - 
Ernſts voriger Schäzung leicht der heute am wenigfien beglüffte 
fein würde unter uns, fühle ein frohes Uebermaaß von reiner 
Heiterkeit in mir, die mir gewiß auch alles übertragen würde, 
was begegnen möchte. Es ift eine Stimmung L in ber ich das 

Schikkſal herausfordern Fönnte, oder wenn das frevelhaft klingt, 
mich ihm wenigftend muthig ſtellen möchte auf jede Forderung; 
und eine folche Faſſung ift Doch einem jeden zu wünfchen. Ich 
glaube aber das volle Bewußtiein und den rechten Genuß der: 
. felben verdanke ich auch zum Theil unferer Beinen, die und vor 
bin zur Muſik führte. Denn jedes fchöne Gefühl tritt nur dann 
recht vollftändig hervor, wenn wir den Ton dafür gefunden ba: 
ben; nicht das Wort, dies kann immer nur ein mittelbarer Aus: 
drukk fein, nur ein plaftifches Element, wenn ich fo fagen darf, 


486 


fondern den Ton im eigentlichen Sinne. Und gerade dem rer 
giöfen Gefühl ift die Muſik am nächften verwandt. Man redet ' 


| 


fo viel darüber hin und ber, wie man dem gemeinfamen Aub 


drukk deſſelben wieder aufhelfen koͤnnte; aber faſt niemand denkt 
daran, daß leicht das beſte dadurch geſchehen moͤchte, wenn man 
den Geſang wieder in ein richtigeres Verhaͤltniß ſezte gegen das 
Wort. Was das Wort klar gemacht hat, muß der Ton lebendig 
machen, unmittelbar in dad ganze innere Weſen als Harmonie 


übertragen und fefihalten. — Das wird wol auch niemand läug: . 
nen, fügte Ernft hinzu, daß nur auf dem religiöfen Gebiet die . 


Muſik ihre Vollendung erlangt. Die komiſche Gattung, die allein 
ald reiner Gegenfaz. eriflirt, beftätigt died eher als fie es wider 
legt; eine ernfle Oper aber kann man doch faum machen, ohne 
eine religiöfe Baſis, und. daſſelhe möchte von jedem höheren 
Kunftwert von Zönen gelten; denn in den untergeordneten Küns 
fleleien wird niemand den Geift der Kunft fuchen. — Diefe nd: 
bere Verwandtſchaft, fagte Eduard, liegt wol mit darin, daß 
nur in der unmittelbaren Beziehung auf das hoͤchſte, auf die 
Religion und eine beflimmte Geftalt derfelben, :die Muſik ohne 
an ein einzelned Factum geknüpft zu werben doch ‚gegebene: ge⸗ 
nug hat um verfländlich zu fein. Das Chriſtenthum ifl. ein ein 
jiges Thema in smendlichen Variationen dargeflelt, die aber 
auch durch ein innered Gefez verbunden find, und unter beftimmte 
allgemeine Charaktere fallen. Es ift auch gewiß wahr, was je 
mand geſagt hat, daß die Kirchenmufit nicht des Geſanges, wol 
aber der beflimmten Worte entbehren könnte. Ein Miferere, ein 
Gloria, ein Requiem, wozu follen ihm die einzelnen Worte? es 
ift verfländlich genug durch feinen Charakter, und erleidet feine 


wejentliche Veränderung, wenn die Worte mit andern ähnlichen 
Inhalts, fo fie nur eben fo fangbar find und der Muſik gemäß 


gegliedert, in derſelben oder einer andern Sprache vertaufcht wer: 


ben; ja niemand wird jagen es fet ihm etwas großes entgangen, 


wenn er die untergelegten Worte auch gar nicht vernommen hat. 


4 487 


Darum möüflen beide fefl an einander halten, Chriſtenthum und Mus 
ſik, weil beide einander verflären und erheben. Wie Jeſus vom Chor 
der Engel empfangen ward, fo begleiten wir ihn mit Toͤnen und 
Gefang bis zum großen Hallelujah der Himmelfahrt; und eine 
Mufit wie Händeld Meſſias iſt mir gleichſam eine compenbiöfe 
Verkuͤndigung des gefammten Chriſtenthums. — Sa überhaupt, 
fügte Friederike hinzu, der froͤmmſte Ton ift es, der am ficherfien 
ind Herz dringt. — Und die fingende Frömmigkeit, fiimmte Ka⸗ 
roline bei, iſt es, die am herrlichfien und geradefien zum Himmel 
aufſteigt. Nichts zufälliges, nichts einzelnes hält beide auf. Ich 
erinnere mich bei dem, was Eduard fagt, an etwas ohnlaͤngſt 
gelefeneö; ihr werdet gleich rathen, wem es angehört. Nie über 
einzelne Begebenheiten, fo lauten ctwa bie Worte, weint oder 
lacht die Muſik, fondern immer nur über bad Leben felbfl. — 
Wir wollen in Iean Pauls Namen binzufezen, fagte Eduard, 
die einzelnen Ereigniffe feien für fie nur durchgehende Noten, ihr 
wahrer Inhalt aber die großen Akkorde des Gemüthd, die wuns 
derbar und in- den verfchiedenftien Melodien wechjelnd fich immer 
doch in diefelbe Harmonie auflöfen, in der nur Dur und Mol 
zu unterfcheiden iſt, männliches und weibliches. 

= Seht, fiel Agnes ein, hier kommen wir wieder auf meine 


vorige Mede. Das einzelne, das perſoͤnliche, es fei nun Zukunft "| 


oder Gegenwart, Freude oder Leid, kann einem Gemüthe, da 
fih in frommen Stimmungen bewegt, fo wenig geben oder neh⸗ 


“men, ald etwa durchgehende Noten, die nur leichte Spuren zu» 


rüßftaffen, den Gang der Harmonie afficiren. — Höre Eduard, 
fiel Leonhardt haflig ein, ed wird mir zu arg mit Eurer Ruhe, 
welche die Wirklichkeit des Lebens ganz verläugnet, und dich muß 
ich darüber anklagen. Leideſt du wol, fuhr ex halb leife fort, daß 
Agnes fo fprechen kann, fie, die in der ſchoͤnſten und feligften Hoffs 
nung lebt? Warum nicht? antwortete fie felbft. Iſt nicht eben auch 
hierbei das yperfönliche zugleich das vergängliche? iſt micht ein 
neugeborned den meiflen Gefahren audgefezt? wie leicht wird die 


+00 


noch unfläte Flamme auch von dem leiſeſten Winde ausgeweht! 


Aber die Mutterliebe iſt Dad ewige in und, der Grundakkord un: i 


fered Weſens. — Und fo if ed dir gleichgültig, fragte Leonhardt, 
ob du dein Kind bilden kannſt zu dem was dir vorfchwebt, ober 


ob es bir in der erften dürftigen Periode des Lebens wieder ent: 
riſſen wird? — Gleichgültig? entgegnete fie, wer fagt dad? aber ' 


das innere Leben, die Haltung ded Gemuͤthes wird nicht dadurd 
verlieren. Und glaubft du denn, die Liebe geht auf das, wozu 
wir die Kinder bilden können? Was Tannen wir bilden? Nein, 


fie geht auf das fchöne und göttliche, was wir in ihnen ſchon | 
glauben, was jede Mutter auflucht in jeder Bewegung, fobald 


fih nur die Seele des Kindes Außer. — Seht ihr lieben, 
fagte Erneftine, mit diefem Sinn ift wieder jede. Mutter eine 
Maria. Jede hat ein ewiges göftliched Kind, und fucht andädy 
tig darin die Bewegungen ded höheren Geiſtes. Und in folde 
Liebe bringt Fein Schikffal eine fchmerzliche Zerfiörung, noch aud 
feimt darin das verberbliche Unkraut der mütterlichen Eitelkeit. 
Mag der alte weiffagen, daß ein Schwerdt durch ihre Seele ge 
ben wird; Maria bewegt die Worte nur in ihrem Herzen. Mb 
gen die Engel fich freuen und die Weifen fommen und anbeten; 
fie überhebt fich nicht, fondern bleibt immer in der gleich andaͤch⸗ 
tigen und demüthigen Liebe. — Wuͤßtet ihr nur nicht alles fo 
lieblich auszudruͤkken, daß man ed nicht kann verlegen wollen! 
ſprach Eeonhardt, ed wäre mol viel dagegen zu fagen. Sonſt 


wenn das alled fo recht vorhielte, warlich Ihr waͤret die Heldin 


nen dieſer Zeit, ihr lieben idealiftifchen Schwärmerinnen mit eurer 
Verachtung ded einzelnen und wirklichen, und man follte bedau⸗ 
ern, daß eure Gemeine nicht flärker ift, und dag Shr nicht laus 
ter tüchtige fchon waffenfaͤhige wehrhafte Söhne habt. Ihr 
müßtet die rechten chriftlihen Spastanerinnen fein. Darum fehet 
ja zu euren Worten, und haltet mad ihr verfprecht; es koͤnnen 
euch harte Prüfungen bereitet fein, daß ihr fie gut beftehet. 
Die Anflalten find fchon gemacht. Ein großes Schikkfal geht 


489 


unſchluͤffig auf und ab in unferer Nähe mit Schritten unter be 
nen die Erde bebt, und wir wiffen nicht wie es und mit .ergreis 
fen Tann. Daß fi) dann nur nicht dad wirkliche mit flolzer 
Vebermacht für eure demüthige Verachtung räche! — Lieber 
Freund, antwortete Ernft, die Frauen werden hierin wol fchwer: 
lich hinter und zurüfffiehen. Und die ganze Probe ift, wie mich 
dankt, für fie nicht viel. Was und aus der Ferne ald ein gro⸗ 
Bed Bild häuslichen Elended erfcheint, zerfällt in der Nähe in 
viele Kleinlichkeiten, bad große daran verfchwindet, und was den 
einzelnen trifft, find wiederum nur einige von biefen Kleinigkei- 
ten, erleichtert überdies durch die Achnlichleit mit dem was allen 
rund umher begegnet. Was und Männer bewegen muß in bie. 
fen Angelegenheiten, ift nicht dad, wad von Nähe und Ferne 
abhängt, aber grade dad, was nicht in das unmittelbare Gebiet 
der Frauen fällt, und fie nur aufregen kann durch und und um 
unfertwillen. ’ 

Sofie war unterdeß größtentheild am Inſtrument gewefen, 
um fich mit ihren neuerworbenen Schäzen zu befreunden, von 
denen fie -einen Theil noch nicht Fannte, und auch von dem be: 
fannten manched gern gleich ald Eigenthum begrüßen wollte. 
Ft eben hörte man fie befonders laut aus einer Gantate einen 
Choral fingen. „Der und den Sohn gefchentt zum ewgen Le 
ben, Wie folt und der mit ihm nicht alled geben,” an welchen 
fih eine prächtige Zuge anſchloß, „Wenn ich nur dich habe, 
frage ich nichtd nach Himmel und Erden.” Als fie Died geen- 
det, verfchloß fie dad Inſtrument und fam in den Saal zurüfk. 
Sieh da! fagte Leonhardt, der fie kommen fah, unfere Beine 
Prophetin! ich will doch gleich hören in wiefern fie fchon zu. 
euch gehört. Sage mir Kleine, redete er fie an, indem er ihr 
die Hand hinüber reichte, du bift doch gewiß lieber luſtig als 
traurig? — Ich bin izt wol eben feined von beiden, antwortete 
fie. — Doch nicht luſtig nach fo viel fchönen Gefchenten? Das 
macht gewiß die ernfihafte Mufit! Aber du haft nicht recht ver: 


S 


4% 


fianden, was ich meinte; ich fragte, zum Ueberfluß freilich, wel⸗ 
ches von beiden du überhaupt lieber wäreft, Iuftig oder traurig? — 
Ja das ift ſchwer zu fagen, erwiederte fie, ich bin beides nicht außer 
ordentlich gern; aber am liebften immer dad, was ich. jebeömal 
.:bin. — Daß verftehe ich nun wieder nicht, kleine Sphinx, wie 
meinſt du das? — Nun, ſagte ſie, ich weiß weiter nicht, als 


- daß Lufligkeit und Traurigkeit biöweilen gar wunderlich durd: 


“einander gehn und fi flreiten, und das macht mich ängfllich, 
-weil ich wol merke, wie mir Mutter auch gefagt hat, daß babei 


- allemal etwas verkehrtes oder falfche® im Spiel ift, und darum ' 


mag ich ed nicht. — Alſo, fragte er weiter, wenn bu nur eind 
von beiden ganz bift, fo iſt es dir einerlei, ob fröhlich ober trau. 
rig? — Se bewahre, dann bin ich ja eben gern, was ich bin, 
und was ich gern bin, ift mir ja nicht gleichgältig.. Ach Mut: 
ter, fuhr fie fort zu Erneflinen gewendet, hilf mir doch! er fragt 
mich da fo wunderlich aus, und ich kann mich gar nicht hinein 
verfiehen, was er eigentlich will. Laß ihn lieber die großen fra 
gen, die werben ihm ja beffer Rede ſtehn. — In der That, fagte 
Erneftine, ich glaube nicht, Leonhardt, daß du viel weiter mit ihr 
fommen wirft; fie ift eben noch gar nicht in dem Geſchikk dei 
Vergleichend mit ihrem Leben. — Laß dich diefen Verfuch nicht 
abſchrekken, tröftetete ihn Ernſt lächelnd, es bleibt immer ein 
ſchoͤne Kunft dad Katechifiren, und die man vor Gericht fo gut 
braucht als irgendwo. Auch lernt gewiß immer einer etwas ba 
bei, wenn ed nicht ganz verkehrt angefangen wird. — Sollte fie 
aber kein Gefühl darüber haben, fagte Leonhardt, den ſpoͤttiſchen 


Ernft vermeidend zu Erneflinen gewendet, ob ihr wohler ift im . 


luſtigen Zuftande oder im traurigen? — Wer weiß? entgegnete 


jene, was meinft du, Sofie? — Ich weiß es ja warlich nicht, 


Mutter; mir Fann in beiden fehr wohl fein, und eben jezt war | 





mir, auch ohne daß ich eins von beiden bin, außerordentlich wohl. 
Nur mit feinen Fragen macht er mir Angft, weil ich es nicht 


anzuftellen weiß, alled was vorbei ift fo zuſammenzuſuchen. Und 


! 


\ 


491 


damit Füßte fie der Mutter die Hand und begab fi) an das 
entgegengefezte Ende des Saaled ind Dunkel, wo nur noch einige 
von den Lampen fehimmerten, zu ihren Weihnachtögefchenten. — 
Das hat fie und doch deutlich gezeigt, fagte Karoline halb leiſe, 
welches der Kinderfinn ift, ohne den man nicht ind Meich Gottes 
kommen kann; eben Died, jede Stimmung und jedes Gefühl für 
fich hinnehmen und nur rein und ganz haben wollen. — Wohl, 
ſprach Eduard, nur daß fie. fein bloße ‚Kind iſt, und dies alfo 
auch nicht der ganze Kinderfinn, fondern fie ift-ein Mädchen. — 
Run ja, fuhr Karoline fort, ed ſollte auch nur für und gelten, 
und ich wollte nur fagen, die Klagen die man fo häufig hört 

von jüngern und Altern, zumal auch an diefen Tagen der Kin: 
derfreude, daß fie fih nun nicht mehr fo freuen könnten wie in 
ihren Kinderjahren, rühren gewiß nicht von denen ber, die eine 
ſolche Kindheit gehabt. Nur geftern noch mußte ich mich wun⸗ 
dern über die Werwunderung von ‘einigen, denen ich behauptete, 
ich wäre jezt noch eben fo lebhafter Freude fähig, nur mehrerer. 
Sa und die arme, fcherzte Leonhardt, wird manchmal eben 
von jener Art für eitel gehalten, wenn fie nichts thut,. als fich 
secht kindlich über etwas. mäbchenhaftes erfreuen. Aber lag es 
gut fein, ſchoͤnes Kind, diefe Widerfacher find dafuͤr Diejenigen, 
denen die Natur eine zweite Kindheit and Ende des Lebens ges 
fezt hat, damit ihnen doch, wenn fie dies Ziel erreichen, noch ein 
lezter Labetrunk aus dem Becher der Freude zu heil werde, 
zum Schluß der langen Bläglichen freudeleeren Zeit. — Died 
ift wol ernflhafter und tragifcher als fcherzhaft, fagte Ernfi. Ich 
wenigftend weiß faum etwas fchauderhaftered, ald wie der große 
Haufen der Menfchen, da fie die erſten Gegenflände der kindi⸗ 
fchen Freude nothwendig verlieren müffen, hernach aus Unfähigs 
keit Höhere zu gewinnen, der fchönen Entwilfelung des Lebens 
gedankenlos und von Langweil gequält — ich weiß nicht fol 
man fagen zufchauen oder beimohnen, denn auch das iſt noch zu 
viel für ihre reine Unthaͤtigkeit — bis endlich aus dem Nichts 


492 


wieder eine zweite Kindheit entftcht, die fich aber zu der erden 
verhält wie ein widriger Zwerg zu einem fchönen Lieblichen Kinde, 
oder wie dad unftäte Zlaffern einer verlöfchenden Flamme zu 
dem um fich greifenden vielfach ſich verwandelnden Schein einer 
eben entzündeten. — Nur gegen eines, fprach Agned,-möchte ic 
wieder eine Einmwendung niederlegen. Muͤſſen denn die erflen 
Findlichen Gegenftände der Freude in der That verloren geben, 
‚damit man die höheren gewinne? Sollte e8 nicht eine Art geben 
diefe zu gewinnen, ohne jene fahren zu laſſen? Faͤngt denn dad 
Leben mit einer reinen Taͤuſchung an, in der gar Feine Wahrheit 
ift, nichts bleibendes? Wie fol ich das eigentlich verſtehen? Be 
ruhen die Freuden ded Menfchen, der zur-Befinnung über fid 
und die Welt gefommen ift, der Gott gefunden hat, wenn es 
‚doch dabei ohne Streit und Krieg nicht abgeht, auf der Vertil⸗ 
gung nicht etwa des böfen, fondern des fchuldlofen? Denn fo 
‚bezeichnen wir doch immer dad Tindliche oder auch das Findifche, 
wenn ihr lieber wollt. Oder muß die Zeit mit ich weiß nicht 
"welchem Gift die erften urfprünglichen Freuden des Lebens ſchon 
vorher getödtet. haben? Und ber Uebergang aus dem einen Zus 
flande in den andern ginge doch auf jeden Fall durch ein Nichts? 
— Ein Nichts kann man ed wol nennen, fiel Erneftine ein, aber 
ed fcheint doch, und fie geſtehen es auch ſelbſt ein, daß die Mäns 
ner, man möchte wol fagen die beflen am meiften, zwifchen der 
Kindheit und ihrem befjeren Dafein ein wunderliched wuͤſtes Le 
ben führen, leidenfchaftlih und verworren. Es fieht auf der 
einen Seite aus wie eine Fortfezung ihrer Kindheit, deren Freu⸗ 
ben auch eine heftige und zerftörende Natur zeigen, auf der ans 
dern ‚aber gefaltet es fich auch zu einem unfläten Treiben, einem 
unfchlüffigen immer wechſelnden Fahrenlaffen und Ergreifenwol: 
len, wovon wir nicht verftehen. Bei unferm Gefchlecht vereinigt 
fich beided unmerklicher mit einander. In dem was und in den 
Spielen der Kindheit anzieht, liegt ſchon unfer ganzes Leben, 
nur daß fih wie wir erwachlen allmählig die höhere Bedeu⸗ 


493 


tung von dem und jenem offenbart; und auch wenn wir Gott 
und die Welt nach unferer Weife verfiehen, druͤkken wir unfere 
böchften und füßeften Gefühle immer zugleich auch in jenen lieb- 
lichen Kleinigkeiten aus, in jenem milden Scheine, der und in. 
den Tagen der Kindheit mit der Welt befreundete. — So hät: 


ten, fagte Eduard, Männer und Frauen auch in der Entwikke- 


lung des geifligen, ohnerachtet es doch in beiden baffelbe fein- 
muß, ihre abgefonderte Weife, um fich durch -gegenfeitiged Erfen- 
nen auch hierin zu vereinigen. Ja ed mag wol fein, und es 
foricht mich recht Har an, daß der Gegenſaz des unbewußten und 
de3 befonnenen in und Männern ſtaͤrker hervortritt, und fich 
während des Weberganges in jenem unruhigen Streben, jenem 
leidenfchaftlihen Kampf mit der Welt und fich felbft offenbart; 
dagegen in eurem ruhigen und anmuthigen Weſen die Staͤtig⸗ 
keit beider und ihre innere Einheit and Licht tritt, und heiligen ' 
Ernft und liebliches Spiel überall eins find. — Allein, entgegs 
nete Leonhardt fcherzhaft Tächelnd, fo wären, wunderbar genug, 
wir Männer chriftlicher ald die Frauen. Denn das Chriftenthum 
redet ja überall von einem Umkehren, einer Veränderung des 
Sinnes, einem neuen wodurd das alte fol audgetrieben werden. 
Welches alles, wenn die vorige Mede wahr ift, ihr Frauen, we: 
nige Magdalenen abgerechnet, gar nicht nöthig hättet. — Aber 
Chriftus ſelbſt, erwiederte Karoline, hat fich boch nicht bekehrt. 
Eben deshalb ift er auch immer der Schuzherr der Frauen ge 
weſen, und während ihr euch nur über ihn geflritten habt, ha⸗ 
ben wir ihn geliebt und verehrt. Dder was fünnteft du dagegen 
einwenden, -wenn wir nun erſt den rechten Sinn hineinlegten in 
dad abgebrauchte Sprichwort, daß wir immer Kinder bleiben; 
dagegen ihr erfi umkehren müßt, um ed wieder zu werden? — 
Und was und fo nahe liegt, fügte Ernſt hinzu, was ift die Feier 
der Kindheit Jeſu anders als die deutliche Anerkennung ber uns 
mittelbaren Bereinigung des göttlichen mit dem finblichen, bei 
welcher es alfo Feines Umkehrens weiter bebarf, Auch hat ſchon 


494 


Agned dies vorher geäußert als die allgemeine Anficht alle 
Frauen, daß fie in ihren Kindern, wie die Kirche ed in Shriflo 
thut, fhon von der Geburt an das göttliche vorausfezen und ed 
auffuchen. — Ya eben dieſes Zeit, fagte Friederike, ift der naͤchſte 
und befle Beweis, daß ed fi mit und wirklich fo verhält, wie Er 
neftine vorher befchrieben hat. — Wie fo? fragte Leonhardt. — 
Weil man hier, antwortete fie, in Kleinen aber doch weder unkennt⸗ 
lichen noch vergeffenen Abfchnitten, der Natur unferer Freude nadı: 
gehen kann, um zu fehen ob fie mehrere plözliche Wermandlungen 
erfahren hat. Man bedürfte faum uns auf: bad Gewiſſen zu 
fragen; denn bie Sache fpricht ſelbſt für ſich. Es ift offenbar 
genug, daß überall Frauen und Mädchen die Seele diefer kleinen 
Feſte find, am meiften gefchäftig dabei, aber auch am reinften 
empfänglic und am höchfien erfreut. Wenn fie nur euch über. 


laſſen wären, würden fie bald untergehn: durch uns allein wer: 


den fie zu einer ewigen Tradition. Könnten wir aber nicht die 
seligiöfe Freude auch für fich allein haben? Und. würde dem nicht 
auch fo fein, wenn wir fie erft fpäterhin als etwas neues ge: 
funden hätten? Aber bei uns hängt jezt noch alles fo zufammen 
wie in den früheren Jahren. Schon in der Kindheit legten wir 
diefen Gefchenten eine befondere Bedeutung bei; fie waren und 
mehr ald das nämliche zu einer. andern Zeit gegeben. Nur daß 
es damals eine dunkle geheimnigvolle Ahndung war, was feitbem 
allmählig klarer hervorgetreten if, wa8 und aber immer noch am 
liebften unter derfelben Geftalt vor Augen tritt, und. dad ge: 
wohnte Symbol nicht will fahren laffen. Ja bei der Genauig: 
keit, mit welcher und die kleinen fchönen Momente des Lebens 
in ber Erinnerung bleiben, koͤnnte man flufenweife Died Hervor⸗ 


treten bed höheren nachweiſen. — Warlich, fagte Leonhardt, Ieh- | 


baft und gut ausgeführt, wie ihr ed. könntet, müßte das eine : 


fchöne Reihe Meiner Gemälde geben, wenn ihr und eure Weib: | 
nachtsfreuden mit ihren Merkwuͤrdigkeiten beſchreiben wolltet; und 
auch wer in den unmittelbaren Zweit nicht mit befonderer Theib⸗ 


495 


nahme einginge, würbe fich daran erfreuen. — Wie artig er zu 
verfiehen geben will, daß es ihn langweilen würde! rief Karos 
line aus. — Sreilih, fagte Ernefline, fo wäre ed zu Peinlich, 
auch für den der fich noch frauendienerifcher anftellen wollte, wie 
für den, der wirklich nody mehr Sinn für die Sache hätte. Aber 
wer einzeln etwas merkwuͤrdiges dieſer Art zu erzählen weiß, in 
Bezug auf unfere Unterredung, ber thue es, und ſchließe fich 
einem folchen Zuge aus meiner frühen Kindheit an, den ich euch 
erzählen will, wenn auch vielleicht einige ſchon darum wiffen 
follten. Friederike and auf und fagte, Ihr wißt, ich pflege nicht 
fo zu erzählen; ich will aber etwas anderes thun, was euch 
Vergnügen macht, ich werde mich an das Inſtrument fegen und 
eure Erzählungen fantafiren. So höret ihr ja auch etwas von 
mir, und mit eurem feineren und höheren Ohre. 

Ernefline begann. Zu Haufe waren dem fröhlichen Feſte 
allerlei trübfelige Umflände vorhergegangen, die fi nur furz zus 
vor ziemlich gluͤkklich aufgelöfet hatten. Es war daher weniger 
und bei weitem nicht mit fo viel Liebe und Fleiß ald gewöhnlich 
für die Zreude der Kinder geforgt worden. Died war eine guͤn⸗ 
ige Veranlaſſung um einen Wunſch zu befriedigen, den ich ſchon 
ein Jahr früher aber vergeblich geäußert hatte. Damals nämlich 
wurden noch in ben fpäten Abendftunden die fogenannten Chriſt⸗ 
metten gehalten und bis gegen Mitternacht unter abwechfelnden 
Gefängen und Reden vor einer unftäten und: nicht eben andaͤch⸗ 
tigen Verſammlung fortgeſezt. Nach einigen Bedenklichkeiten durfte 
ich wohlbegleitet von dem Kammermaͤdchen der Mutter zur Kirche 
fahren. Ich weiß mich nicht leicht einer ſo gelinden Witterung 
um Weihnachten zu erinnern als damals. Der Himmel war 
klar und doch der Abend faſt lau. In der Gegend des faſt ſchon 
verloͤſchenden Chriſtmarktes trieben ſich große Schaaren von Kna⸗ 
ben umher mit den lezten Pfeifen, Pinvögeln und Schnurren, 
die um einen wolfeilen Preis loögeichlagen wurden, und liefen 
lärmend auf den Wegen zu den verfchiebenen Kirchen hin und 


« 


496 
ber. Erſt ganz in der Nähe vernahm man bie Orgel und we: 


nige unordentlich begleitende Stimmen von Kindern und alten. 


Ohnerachtet eines ziemlichen Aufmande von Lampen und Ker: 
zen wollten boch die dunklen alterdgrauen Pfeiler und Wände 
nicht hell werden, und ich konnte nur mit Mühe einzelne Ge 
falten herausfinden, Die jedoch nicht3 erfreuliches darboten. Noch 
weniger konnte mir der geiftliche mit feiner quäfenden Stimme 
einige Theilnahme einflößen; ich wollte fhon ganz unbefriedigt 
meine Begleiterin bitten zuruͤkkzukehren, und ſah mich nur noch 


einmal überall um. Da erbliffte ich in - einem offnen Stuhl, . 
unter einem fchönen alten Monumente, eine Frau mit einem Ele: 


nen Kinde auf ihrem Schooß. Sie fchien des Predigerd, des 


Geſanges und alles um fie her wenig zu achten, fondern nur in 
ihren eigenen Gedanken. tief verſenkt zu fein, und ihre Augen 


waren unverwandt auf dad Kind gerichtet. Es zog mich um | 


wibderftehlich zu ihr, und meine Begleiterin mußte mich binfüh 
ven. Hier hatte ich nun auf einmal das Heiligthum ‚gefunden, 
das ich fo lange vergeblich‘ gefucht. Sch fand vor der edelften 


Bildung die ich je gelehn. Einfach gekleidet war die Frau, ihr ! 


vornehmer großer Anftand machte den offnen Stuhl zu einer ver 


fchloffenen Kapelle; niemand hielt fi) in der Nähe, und dennoch 


fchien fie auch mic nicht zu bemerken, da ich dicht vor ihr fland. 


gIhre Mine fchien mir bald läcyelnd bald fchwermüthig, ihr Athem 
: bald freudig zitternd- bald frohe Seufzer ſchwer unterbrüßfend; 


aber dad bleibende von dem allen war freundliche Ruhe, liebende 
Andacht, und herrlich firalte diefe aus dem großen ſchwarzen 
niedergefenkten Auge, da8 mir die Wimpern ganz verdekkt hät: 
ten, wenn ich etwas größer gewefen wäre. So fchien mir aud 
dad Kind ungemein lieblich; ed regte. fich Iebendig aber ſtill, und 
fhien mir in einem halb unbewußten Gefpräch von Liebe und 
Sehnfucht mit der Mutter begriffen. Nun hatte ich lebendige 


Geftalten zu den fchönen Bildern von Maria und dem Kindes . 


und ich vertiefte mich fo in diefe Santafie, dag ich halb unwill⸗ 


L 


497 


führlich dad Gewand ber Frau an mich z0g, und fie mit beweg— 
-ter fehr bittender Stimme fragte, Darf ich wol dem lieblichen 
Kinde etwas ſchenken? und fo leerte ich auch ſchon einige Haͤnd⸗ 
hen vol Näfchereien, die ich zum Troſt in aller etwanigen Noth 
mitgenommen, auf feine Bedekkungen aus. Die Frau fah: mic) 
einen Augenblikk flarr an, zog mic) dann freundlich zu fich,. kuͤßte 
‚meine Stirn und ſprach, O ja, liebe kleine, heute giebt ja jeder⸗ 
mann, und alles um eined Kindes willen. Ich Lüfte ihre um - 
meinen Hals gelegte Hand und ein ausgeſtrekktes Händchen bes 
Heinen, und wollte ſchnell gehn; da fagte fie, Warte, ich will 
dir auch etwas fchenfen; vieleicht daß ich di) einmal daran wie: 
der erfenne. Sie fuchte umher, und zog aus ihren Haaren eine 
goldne Nadel mit einem grünen Stein, die jie. an meinem Man- 
tel befeftigte. Ich kuͤßte noch einmal ihr Gewand, und verließ 
ſchnell die Kirche mit einem vollen über alles feligen Gefühl. 
Es war Eduards aͤlteſte Schwefter, jene herrliche tragifche Ge: 
flalt, die mehr ald irgend jemand auf mein Leben und mein 
inneres Sein gewirkt hat. Sie wurde bald die Freundin und 
Kührerin meiner Sugend, und wiewol ich nichtd ald Schmerzen 
mit ihr zu theilen gehabt, zähle ich doch meine Verbindung mit 
ihr zu den fchönften und wichtigfien Momenten meines Lebens. 
Auch Eduard fand damals als ein herangewachfener Knabe hin- 
ter ihr; aber ohne auch nur von mir bemerkt zu werden. — 
Friederike fchien den Inhalt gekannt zu haben, fo genau begleitete 
ihr Spiel die anmuthige Erzählung, und brachte jeded einzelne 
gleich in Uebereinſtimmung mit dem Totaleindrukk ded ganzen. 
As Erneftine geendet, bog jene nach einigen fantaſtiſchen Gän- 
gen in eine fchöne Kirchenmelodie ein. Sofie, die fie errieth, 
Hef bin um ihre Stimme hinzuzufügen, und fie fangen zufam: 
men bie fhönen Verſe von Novalis 


Sch fehe dich in taufend Bildern, 

Maria, lieblich ausgevrüfft; 

Doch keins von allen kann did) fchildern 
Wie meine Seele dich erblifft. 


Schleim. W. J. J. Ai 


x 


498 


Ich weiß nur, daß der Melt Getünmel 
Seitvem mir wie ein Tranım verweht, 
Und ein unnennbar füßer Himmel 

Mir ewig im Gemüthe fteht. 


Mutter, fagte Sofie ald fie zurüffam, jezt ſchwebt mir alles recht 


lebendig vor, was du mir je von Tante Gornelie erzählt haft, 


und von dem ſchoͤnen Süngling den ich noch gefehen habe, und | 


der fo heidenmüthig und fo vergeblich für die Freiheit geftoxben 
it. Doch laß mich die Bilder herholen; wir fennen fie wol 
alle, aber ich meine wir müffen fie gerade jezt betrachten. — Die 


Mutter wintte zu, und dad Kind holte zwei noch nicht gefaßte 


Gemälde von Erneflinens Pinfel. Beide flellten ihre Freundin 
vor und den Schmerzensfohn. Das .eine, wie er zu ihr zurüff: 
fehrt aus der Schlacht, verwundet aber mit Ruhm bedekft; das 
andere wie er Abſchied von ihr nimmt, um al& eind der lezten 
Opfer der biutdürftigften Zeit zu fallen. 

Leonhardt unterbrach die fchmerzlichen Erinnerungen, die ſich 
nur in einzelnen wehmüthigen Worten Luft madıten, indem er 
zu Agnes fagte, Erzähle uns etwas andered, Kind, und madı 
und dadurch von beidem los, von dem flechenden Schmerz ſowol, 
der gar nicht in unfere Freude gehört, ald von dem Mariendienſt, 
in den ung die Mädchen dort eingefungen haben. 

Nun wohl, antwortete Agnes: fo will ich etwas weniger 


bedeutendes, vielleicht: aber dafür recht fröhliches erzählen. Ihr. 


wißt, vor dem Jahr waren wir an dieſem Feſt alle zerfireur, 
und sich fchon feit mehreren Wochen bei meinem ‚Bruder, um 
Luiſens erſter Niederkunft huͤlfreich beizuſtehen. Der heilige 
Abend wurde auch dort nach unſerer Sitte. von verfammelten 
Freunden und Freundinnen begangen; Luiſe war zwar vollfom: 
men hergeſtellt, ich hatte mir aber doch nicht nehmen laſſen alles 
zu ordnen, und zu meiner Sreude herrfchte auch unter allen ganz 
die reine Heiterkeit und die frifch aufgeregte Liebe, die fih an 


“ biefem allgemeinen Freudentage unter guten’ Menfchen überall 


- einftelen; und wie fie fi unter Geſchenken und Freudensbezeu: 


499 


ingen in bad muntere Gewand des Scherzed und der freien ! 


telenden Kindlichkeit Eleidet, fo war fie auch ünter und. Ploͤz⸗ 
d erihien im Saal die Wärterin mit ihrem kleinen, ging be: 
yauend um bie Tiſche herum, und rief mehrere Male hinter: 
rander halb fcherzhaft, halb weinerlich, Hat: denn niemand dem 
inde etwas geichenkt? Haben fie denn dad Kind ganz vergeffen? 
jir verfammelten und bald um das kleine niebliche Gefchöpf, 
id im Scherz und Ernſt entfponnen fid allerlei Reden darüber, 


le man ihm bei aller Liebe noch Feine Freude machen könne, ; 


id wie-recht ed wäre,. daß wir alles, was ihm eigentlich ge- 
‚rte, der Mutter zugewendet hätten. Der Wärterin wurde nun 
les gezeigt und auch dem Fleinen vorgehalten, Müzchen, Strümpf: 
en, Kleider, Löffelchen, Näpfchen ; aber weder Glun; und. Klang 
8. edeln Metalld noch die ‚blendende. oder durchfichtige Weiße 
e Zeuge fchien feine Sinne zu rühren. Ja fo iſt es, Kinder, 
zte ich zu den andern; er iſt noch ganz an feine Mutter gewie— 
ı, und auch diefe Tann ihm heute noch nicht$ anderes ald das 
eiche tägliche Gefühl der Befriedigung erregen. Sein Bewußt: 


fl 
. 


- 7 


n ift noch mit dem ihrigen vereinigt, in ihr wohnt ed und nur 


ihr koͤnnen wir ed pflegen. und erfreuen. — Aber wir find 
ch alle recht befchränkt geweſen, fing ein liebenswürdiged Maͤd⸗ 
em an, daß wir nur fo auf den gegenwärtigen Augenbliff ge- 
&t haben. Steht denn nicht das ganze Leben des Kindes vor 
Mutter? Mit diefen Worten forderte fie mir meine Schlüffel 
', mehrere andere zerfireuten fich gleichfalls mit der Verſiche⸗ 
ng, bald wieder da zu fein, und Ferdinand redete ihnen zu, 
‚eilen; denn er habe auch nod etwas vor für den kleinen. 
jr errathet mol nicht was? fagte er zu und zurüffbleibenden. 
h will ihn gleich taufen, ich wüßte keinen ſchoͤneren Augenblikk 
zu als diefen; beforget das nöthige, ich will auch wieder da 
n wenn unfere Freunde zurüffehren. So ſchnell als möglich 
üdeten wir dad Kind in das niedlichfie was unter den Gefchen: 
n vorhanden war, und wir hatten kaum geendet, ald die weg: 
- AIR 


500 

gegangenen ſich mit allerlei Gaben wieder einftellten. Scherz 
und Ernft war darin wunderlich gemifcht, wie es bei jeder Ber: 
gegenwärtigung der Zukunft nicht anders fein kann. Zeuge zu 
Kleidungsſtuͤkken für feine Knabenjahre nicht nur, fondern gar 
für feinen Hochzeitötag; ein Zahnflocher und ein Uhrband mit 


dem Wunfch, daß man von ihm fagen möge,,in befferem Sinne, 


was von Churchill, Wenn er am Uhrband fpielt, wenn er in 
den Zähnen flochert, kommt ein Gedicht heraus; zierliched Papier 
worauf er den erflen Brief an ein geliebte Mädchen fchreiben 
ſollte; Lehrbücher für die Anfangsgründe in allerlei Sprachen 


und Wiffenfchaften, auch eine Bibel, welde ihm eingehändigt 
werden follte, wenn ihm ber erfle Unterricht im Chriſtenthum 


wuͤrde ertheilt werden; ja ſein Oheim der gern Karikaturen macht, 


brachte ſogar als das erſte Erforderniß eines kuͤnftigen Zierbol⸗ 
des, wie er ſich auf Campiſch ausdruͤkkte, eine Brille, und ruhte 
nicht, ſie mußte den großen hellen blauen Aeuglein vorgehalten 


werden. Viel wurde gelacht und geſcherzt, aber Luiſe behauptete 


ganz ernſthaft, die Brille ausgenommen — denn er mußte ja 
wol ihre und Ferdinands tuͤchtige Augen haben — ſehe fie ihn 
doch nun gang lebendig und mit beſtimmter Geſtalt und Zuͤgen 
gewiß aͤcht profetiſch in allen den Zeiten und Verhaͤltniſſen vor 
ſich, auf welche die Geſchenke hindeuteten. Vergeblich nekkte man 
ſie damit, wie altfraͤnkiſch er ſich wahrſcheinlich ausnehmen wuͤrde, 
wenn er wirklich jedes Geſchenk durch Gebrauch ehren wollte, 
und wie man befonderd dad Papier vor dem Gelbwerden hüten 
müffe. Endlich famen wir überein, vor allen den Geber der Bi: 
bel zu loben, die er doch am ficherften würde gebrauchen Fönnen. 
Ich machte fie auf den Schmukk des Meinen aufmerfjam; aber 
niemand fuchte etwas befonderes darin, fondern nur dieſes daß er 
ihre Gaben auf recht würdige Weife in Empfang nehmen folte. 
“Ale waren daher nicht wenig verwundert, als Ferdinand in vol: 


ler Amtskleidung hereintrat, und zugleich der Zifch mit dem Waf: | 


fer gebracht wurde. Wundert euch nicht zu fehr, lieben Freunde, 


501 


fagte er. Bei Agnelend Benteffung vorher fiel mir fehr natürs 
lich der Gedanke ein, den Knaben noch heute zu taufen. Ihr 
ſollt ſaͤmmtlich Zeugen dabei fein, und auch dadurch euch aufs 
neue ald theilnehmende Kreunde feined Lebens unterzeichnen. Ihr 
habt ihm Gaben dargebracht, fuhr er fort, nachdem er das ein⸗ 
zelne unter mancherlei froͤhlichen Bemerkungen betrachtet hatte, 
“die auf ein Leben hindeuten, wovon er noch nichts weiß, wie 
auch Chriſto Gaben dargebradht wurden, die auf eine Herrlichkeit 
bindeuteten, wovon das Kind noch nichts wußte. Laßt und ihm 
nun auch das fchönfte, Chriftum felbft, zueignen, wiewol ed ihm 
izt noch feinen Genuß noch Freude gewähren kann. Nicht in X 
der Mutter allein. oder in mir wohnt jest noch für ihn die Kraft. 
des höheren Lebens, das in ihm felbft noch nicht fein kann, fons 
dern in uns allen, und aus und allen muß ed ihm dereinſt zu: 
Rrömen und er ed in fi aufnehmen, So verfammelte er und 
um fi, und faft unmittelbar "aus dem Gefpräcd ging er zu ber 
| Heiligen Handlung über. Mit einer leifen Anfpielung auf. die 
Worte, Wer mag.wehren daß diefe getauft werden? fprach er 
fi darüber aus, wie eben dies, daß ein chriftliched Kind von ' 
Liebe und Freude empfangen werde und immer umgeben bleibe, x 
die Bürgfchaft Teifte, daß der Geift Gottes in ihm wohnen werde; - 
wie das Geburtöfeft der neuen Welt ein Tag der Liebe und 
Freude fein müffe, und wie beides vereinigt recht dazu auserlefen > 
fei, ein Kind der Liebe auch zur höheren Geburt ded göttlichen 
Lebens einzumweihen. Als wir nun alle dem Kinde die Hände 
“ auflegten nad) der dortigen guten alten Sitte, fo war ed als 
ob: die Strahlen der himmlifchen Kiebe und Freude fi auf dem “ 
Haupt und Herzen des Kindes als einem neuen Brennpunkt 
vereinigten, und es war gewiß dad gemeinfchaftliche Gefühl, dag x 
fie dort ein neued Leben entzünden, und fo wiederum nach allen 
Seiten auöftrahlen würden. — Alſo wieder dad vorige, unter: 
brach Leonhardt, nur gleichfam ein umgekehrtes negatives Chriſt⸗ 
kindlein, im welches der Heiligenfchein einftrömt, nicht aus. — 


502 | 
| 
Ganz herrlich haft du das getroffen, lieber Leonhardt, antwortete | 


Agnes, ich konnte es fo ſchoͤn nicht fagen. Nur bie Mutter, | 
j deren Kiebe den ganzen Menfchen im Kinde fieht, und dieſe Liebe | 
ift es eben, die ihr den englifchen Gruß zuruft, fieht auch ben | 
himmlifchen Stanz fchon ausftrömen aus ihm, und nur auf ihrem 
profetifchen Angeficht bildet fich jener Ichöne Widerfchein, den in | 
unbewußtem findlihen Sinn Sofie dargeftellt hat. Und weshalb 
ich euch grade diefen Abend wiedergegeben, dad wirft du nun 
auch beſſer und ſchoͤner fagen ald ich ed Fann, wenn bu ed aud | 
überhaupt nur fagit. Denn ich weiß mit Worten nicht zu be 
xfchreiben, wie tief und innig ich damals fühlte, Daß jede heitere | 
x Sreude Religion ift, daß Liebe Luft und Andacht Zöne aus 
einer volllommnen Harmonie find, Die auf jede Weile einander 
folgen und zufammenfchlagen können. Und wenn du e6 recht 
ſchoͤn machen wilft, fo nimm dir nur vor zu fpötteln; dann 
kommt dir dad wahre gewiß wider deinen Willen wie vorher. — 
Warum folte ich? antwortete Leonhardt. Du haft ja felbft an: 
gegeben, wie du es audgedrüfft haben willſt, nämlich nicht mit 
Worten, fondern in Muſik. Aber Friederike hat nur felbft ges 
hört, wie es fcheint, und und gar nichts zu hören gegeben, nicht 
einmal bein Symbol, wovon du jet fo entzüfft bift, den ein 
fachen Hauptaccord; wie mag das zugehn? — 3a, fagte Frie 
derike, es ift leichter eine Gefchichte wie die vorige unmittelbar 
su begleiten; zumal wenn man etwas davon weiß, fügte fie IA 
chelnd hinzu. Aber ich glaube Überbied meine Kunft geht weni« 
ger verloren an euch, wenn ich der Beichichte erft folge; "und 
wenn du wilft fol fie dir. jest gleich gefpielt werden. Sie fan 
tafirte mit eimgewebter Melodie einiger heitern Baren Kirchen: 
melodien, bie aber wenig mehr gehört ‚werben, und fang dann, 
um wieder mit ihrem Lieblingsbdichter zu enden, nach einer der 
jelben zerfizeute Strophen des Liedes, Wo bleibft du Troſt ber 
> ganzen Welt, diejenigen natürlich, die dem weiblichen Sinn Die 
verftändlichfien fein mußten. Und wo eine Lüfte blieb, wußte 


⸗ 


503 


fie diefe mit Harmonien audzufüllen, welche bie innige Ruhe, 
die Luft ausdruͤkkten, von der fie mit ergriffen war und die fie 
darftellen wollte. 

Nun aber, fagte Kasoline, wirft du dir auch einen Uebers 
gang bahnen müffen zu den Zönen der Wehmuth, wenn ihr an: 
derd nicht mit der reinen Freude endigen, fondern-auch von mir“ 
eine Zeichnung haben wollt in den Rahmen um dieſes fchöne 
Fell. Denn es iſt mir fo zu Muthe. euch zu erzählen, wie ich 
dad Feſt im vorigen Jahre beging bei meiner theuern Charlotte. 
Freilich iſt eigentlich nichts zu erzählen dabei, es ift nur ein Bei⸗ 
trag zu der Art wie ihr Charlotten kennt aus andern Erzählun: 
gen und aus ihren Briefen, und ihr müßt euch an alles erin: 
nern, was ihr fchon von ihr wißt. Dort ift unter den erwach: 
fenen die wizige Gewohnheit fi unerfannt zu befchenten. Durch 
die größten Ummege und auf die fonderbarfte Art läßt. jeder dem 
andern feine Gabe zutommen, wo möglich fie ſelbſt noch .unter 
etwas minder bedeutendes verhüllend, fo daß der Empfänger fich 
bisweilen fchon gefreut. oder gemundert und doch das rechte noch. 
nicht gefunden bat. Vielerlei muß alſo hier erfonnen werden, 
und das gluͤkklich ausgedachte ift oft nicht ohne vielfältige und 
lange Vorbereitungen ind Werk zu richten. Charlotte aber hatte 
ſchon feit mehreren Wochen das ‚Leiden einer unerflärlichen und - 
nur um deſto ängftlicheren Krankheit ihres Lieblingd, ihred jüng 
ften Kindes zu tragen. Der Arzt konnte lange Zeit fo wenig. 
Hoffnung geben als nehmen; aber Schmerz und Unrube raubten- 
je Fänger je mehr dem Heinen Engel bie Kräfte, und fo war 
nichts anderd als feine Auflöfung zu erwarten, - Unter Freunden 
und Freundinnen. wurden alle Zuruͤſtungen die Mutter durch. 
finnreiche Einfälle oder muthmwilligen Scherz zu überrafchen, mit 
innigem Bedauern unterbrochen; ja niemand wollte es wagen 
auch nur durch eine einfache Gabe ihre Aufmerkfemkeit von dem 
Segenftande ihrer Liebe und ihred Schmerzend ablenken zu wol: 
len; man verfchob alled auf eine günfligere Zeit. Faſt unauf 


504 


börlich trug fie dad Kind auf ihren.Armen umher; Feine Nacht | 
legte fie fich ordentlich nieder; nur am Tage zu Zeiten, wenn ' 
das Kind ruhiger ſchien, und wenn fie es mir oder einer andern 
zuverläffigen Freundin übergeben konnte, vergönnte fie fich eine 
ſparſame Ruhe. Indeß verfäumte fie nicht bie. Angelegenheiten 
des Feftes, fo fehr wir fie oft baten ſich nicht durch den Contraft : 
ihrer Sorgen noch mehr zu erihöpfen. Selbſt etwas zu arbeiten 

- war ihr freilich unmöglich, aber fie fann und ordnete an; und 
oft überrafchte mich aus ihrem tiefften Schmerz heraus bald eine 
Frage, ob dies oder jenes beforgt fei, bald ein neuer Gedanke zu 

>» einer Eleinen Freude. Lufligkeit oder Muthwillen war freilid 
eigentlich in keinem, allein das ift auch überhaupt nicht ihre Art. 

x Nirgendd aber wurde dad finnige und bedeutfame vermißt, bie : 
ruhige Anmuth die alle ihre Handlungen: bezeichnet. Ich weiß 
noch, als ich ihr einmal faft mißbiliigend meine Bewunderung . 
Außerte, daß fie mir fagte, Guted Kind, ed giebt Feinen-fchöneren 
und auch keinen fchifflicheren Rahmen um einen großen Schmerz, 

> al eine Kette von kleinen Freuden bie .man andern bereitet. 
So ift dann alled in ber Faflung, in. der es zeitlebens bleiben 
kann, und warum ſollte man nicht gleich in diefer fein wollen? 

: In allem was die Zeit verwifcht, und das thut fie doch allem 
heftigen und einfeitigen, ift auch etwas unreined. Wenige Tage 
vor Weihnachten konnte man ihr einen innern Kampf anmerfen- 
Sie faft allein hatte fich immer noch nicht von dem hoffnungs: 
tofen Zuftande des Kinded überzeugt.. Izt batte fein Ausfehn 
und feine Schwäche fie beſonders ergriffen. Das Bild ded To 
des fland auf einmal ganz: beflimmt vor ihr. Tief in fich ges 
kehrt ging fie wol eine Stunde mit allen Zeichen der innerften 
Bewegung, dad Kind in dem Arme, auf und nieder. Dann 
> fah fie ed eine Weile mit einem wehmüthig erheiterten Geficht 
wie zum leztenmal an, beugte fich zu einem langen Kuß auf 
feine Stirne nieder, reichte mir dann geftärkt und muthig bie 
Hand, und fagte, Nun habe ich es überflanden, liebe Freundin. 


‘ 505 


Sch habe den kleinen Engel dem Himmel wiedergegeben, von ten 
er gefommen ift; ich fehe nun ruhig feiner Auflöfung .entgegen, 
ruhig und gewiß; ja ich kann wünfchen ihn bald verfcheiden zu 
fehen, damit die Zeichen ded Schmerzend und der Zerftörung mir 
das Engelöbild nicht trüben, das fich tief und für immer mei: 
nem Gemüth eingeprägt hat. Am Morgen ded Feflabends ver: 
fammelte fie die Kinder um ſich, und fragte fie, ob ſie heute ihr 
Feſt feiern wollten, ed. wäre alled bereitet und hinge ganz von 
‚ihnen ab; oder ob fie warten wollten, bis Eduard begraben und 
die erſte Stille und der erſte Schmerz vorüber wäre. Sie du: 
ßerten einmüthig, daß fie fi doch an nichts freuen könnten; 
aber der Heine Bruder lebe ja noch, und Eönne auch wol nicht 
fierben. Nachmittag übergab mir Charlotte dad Kind und legte 
ſich zur Ruhe, und indem fie einen langen erquiffenden Schlaf 
fchlief, au8 dem ich mir vorgenommen hatte fie nicht zu wekken, 
was auch gefchehen möchte, entfland in dem faft ſchon fterbenden 
Körper unter heftigen Krämpfen, die ich für die lezten hielt, eine 
Krifis, die dem berbeigeholten Arzte zugleich das Uebel und die 
Heilung verrieth. Nach einer Stunde befand fich das Kind auf: 
fallend beffer, und man fah deutlich daß ed auf dem Wege der 
Genefung fei. Eilig ſchmuͤkkten die Kinder das Zimmer und das 
Lager deö. Eleinen feftlih aus. Die Mutter trat herein, und glaubte 


wir wollten ihr nur den Anblikk der. Leiche verfchönern. Das 


erfte Lächeln des Kindes ſchimmerte ihr entgegen, ald fie auf fein 
Lager blikkte; wie eine fchon halb erflorbene Knospe, die fich 


“ 


nach einem wohlthätigen Regen wieder hebt und fich auffchliegen 


will, fo fchien ed ihr unter den Blumen hervor. Wenn ed Teine 


trügerifche Hoffnung ift, fagte fie, und alle umarmend, nachdem 


fie den Hergang vernommen hatte, fo ift es eine andere Wieder: 
geburt, ald die ich erwartet hatte. Ich hatte gehofft und gebetet, 
fuhr fie fort, dag dad Kind fich in .diefen feftlichen Lagen aus 
dem irdifchen Leben erheben möchte. Es rüyrte mich wehmüthig 
und verfüßend, einen Engel zum Himmel zu fenden, zu der Zeit, 


506 


wo wir die Sendung des größten auf die Erde feiern. Nun 
fommen mir beide zugleih unmittelbar von Gott gefchenft. Am 
Fefte der Wiedergeburt der Welt wird mir der Liebling meines 
Herzens zu einem neuen Leben geboren. Sa er lebt, es ift Fein 
Zweifel daran, fagte fie, indem fie fich zu ihm überbog und doc 
faum wagte ihn zu berühren, und feiner Hand ihre Lippe auf - 
zubrüffen. Bleibe er auch fo ein Engel, fagte ſie nach einer | 
Weile, geläutert Durch die Schmerzen, wie durch den Tod hin 
durchgedrungen und zu einem höheren Leben geheiligt. Er ifl 
mir ein vorzügliched Gnadengeſchenk, ein himmliſches Kind, weil 
ich ihn fchon dem Himmel gemeiht hatte. — Karolirie mußte 
noch manches ‚genauer erzählen von Diefer Geſchichte ſowol, als 
von der herrlichen ſeltenen Frau, der ſie mit einer beſonders from⸗ 
x men Verehrung zugethan iſt. Leonhardt hörte mit einem ganz 
eigenen Sintereffe zu, und wurde faft verdrießlich, als Ernſt ihn 
fragte, Aber findeft du nicht auch hier wieder dad vorige? gleich 
fam eine umgefehrte Maria, die mit dem tiefften Mutterleiden, 
; mit dem Stabatmater anfängt, und mit der Freude an dem 
göttlichen Kinde endigt? — Oder auch nicht umgekehrt, fagte 
Erneftine Denn Mariend Schmerz mußte.doch verſchwinden in 
x dem Gefühl der göttlichen Größe und Herrlichkeit ihres Sohnes; 
fo wie ihr auf der andern Seite von Anbeginn an bei ihrem 
Glauben und ihren Hoffnungen alles, was ihm äußerlich begeg: 
nete, nur als Leiden ald Entäußerung ericheinen Fonnte. 
Hier wurde das weitere Gefpräch unterbrochen durdy eine 
Iuflige Streifparthie von einigen befannten, die theils felbft kei: 
\ nem beflimmten Kreife angehörten, theils in unftätem Sinne ihre 
> eigne Freude ſchneller erfchöpft hatten, und nun umberzogen um 
bie und da zu fehauen wie man fid) erfreut und beſchenkt habe. 
Um willkommnere Zufchauer zu fein, und auch überall einen 
freundlichen Gicerone zu finden, kuͤndigten fie ſich ald Weihnachts: 
fnechte an, und theilten die auserlefenften Kleinigkeiten für den 
Gaumen. unter Kinder und Mädchen aus. Sofie murde fchon 


507 


mit dem gewöhnlichen Geremoniel, erft nach der Artigkeit der 
Kinder zu fragen, verfchont, und gab ſich dafür den Ankoͤmm⸗ 
lingen fehr flink und gefällig her. Sie erneuerte fchnell die Er: 
leuchtung, und war eine eben fo beredte Gaftellanin ald neugie- 
rige. Zragerin nah allem was jene fchon anderwaͤrts gefehen 
hätten. Indeß wurde eine flüchtige Mahlzeit herumgereicht, Die 
hinzugekommenen eilten weiter, und wollten ſich durch einige von 
der Geſellſchaft verflärken. Died aber lieg Eduard nicht zu; fie 
müßten, fagte er, noch lange bei einander bleiben, und uͤberdies 
werde Sofef noch ganz ficher erwartet, der auch das Verſprechen 
erhalten hatte, er ſolle ſie noch alle finden. 

Als nun jene fich wieder entfernt hatten, ſagte Ernſt, Gut, 
wenn es denn beſchloſſen iſt, daß wir noch die Nacht hier erwar⸗ 
ten wollen im Geſpraͤch und bei den Glaͤſern: ſo meine ich, wir 


ſind den Frauen eine Erwiederung ſchuldig, damit ſie auch um 


ſo williger bei uns bleiben. Zwar das Erzaͤhlen iſt nicht die 
Gabe der Maͤnner, und ich wuͤßte am wenigſten wie ich mir 
ſelbſt ſo etwas anmuthen ſollte. Aber was meint ihr, Freunde, 
wenn wir nach engliſcher Weiſe, um nicht zu ſagen nach grie: 
chifcher, und die und doch auch nicht ganz fremd ift, einen Gegen: 
fland wählten, über welchen jebem obläge etwas zu fagen. Und 
zwar einen folchen und. fo, daß wir dabei die Gegenwart der 
‚ Srauen in feinem Sinne vergeffen, fondern es für das fchönfte 
achten, von ihnen verflanden und gelobt zu werden. Dem flimm: 
ten alle bei, und die Frauen freuten fich, weil fie dergleichen 
fange nicht gehört hatten. — Wohl, ſprach Leonhardt, wenn ihr 
mit folcher Theilnahme in den Borfchlag eingehet, fo ſolltet ihr 
auch aufgeben, worüber wir zu reden haben, damit nicht unfere 
Ungeſchikktheit etwas allzu ferned oder gleichgültiged ergreife. 
Wenn die andern derfelben Meinung find, fagte Friederike, fo 
wünfche ich nur ed dir nicht allzufehr zum Verdruß zu thun, 
wenn ich das Feft felbft in Worfchlag bringe, welches uns. hier 
verfammelt hält. Hat ed doch fo viele Seiten, daß jeder es ver⸗ 


> 


508 


herrlichen kann, wie er am liebften will. — Niemand fezte ſich 


Dagegen, und Erneftine bemerkte, jedes andere würde doch fremd 
fein und gleichfam den Abend zerfiören. — Wolan denn, fagte 
Leonhardt, nach unferer Gewohnheit werde ich, ald der jüngfle, 
mich nicht weigern dürfen auch der erfle zu fein. Und ich bin 
e3 um fo lieber, theild weil die unvollfommene Rebe fo am 
feichteften von einer beffern verweht wird; theild weil ich fo am 
. ficherften die Freude genieße, einem andern den erften Gedanken 
vorwegzunehmen. Zumal, fezte er. lächelnd hinzu, eure Anord— 
nung die Anzahl der mitredenden auf eine unfichtbare Weiſe 
verdoppelt. Denn ihr werdet morgen die Kirchen fchwerlid) ver: 
faumen, und ed würde doch mehr und zum Verdruß gereichen, 
als jenen Männern zur Freude, Euch aber vielleiht am meiften 
zur Langeweile, wenn ihr dort wieder das nämliche zu hören 
hättet. Darum will ih mich auch von diefer Bahn fo weit als 
möglich entfernen, und meine Rede fo anheben. 

Verherrlihen und preifen Tann man jeded auf eine zwie 
fache Weife; einmal indem man es lobt, ich meine feine Art 


und innere Natur ald gut anerkennt und darſtellt, dann aber. 


‚wiederum indem man ed rühmt, das heißt feine Trefflichkeit und 
Bolllommenheit in. feiner Art heraushebt. Das erfte nun möge 


dahin geftellt oder andern Überlaffen bleiben, das Feft als folhes 
überhaupt zu loben, in wiefern es gut fei, daß durch gewiſſe zu 
beftimmten Zeiten wiederkehrende Handlungen und Gebräude 


dad Andenten großer Begebenheiten gefichert und erhalten werbe. 
Sollen aber Zefte fein, und ift der erſte Urfprung des Chriſten⸗ 
thums fuͤr etwas großes und wichtiges zu achten: ſo kann nie⸗ 
mand laͤugnen, daß dieſes Feſt der Weihnacht ein bemwundernd: 
würdiged Feſt ift; fo vollfommen erreicht es feinen Zwekk, und 
unter fo fchwierigen Bedingungen. Denn wenn man fagen 
wollte, dad Andenken an die Geburt des Erlöferd werde weit 
mehr durch die Schrift erhalten und durch den Unterricht im 
Chriftentyum überhaupt ald durch dad Feft: fo möchte ich dieſes 


509 


(äugnen. Naͤmlich wir gebildetern zwar, fo meine ich, hätten: 
vielleicht an jenem genug, keineswegs aber der große Haufen des 
ungebildeten Volkes. Vielmehr nicht zu gedenken der römifchen 
Kirche, wo ihnen die Schrift wenig oder gar nicht in die Hand 
gegeben wird, fondern nur auf die unfrigen Rüffficht genommen, 
jo ift ja offenbar, wie wenig auch diefe geneigt find die Bibel 
zu leſen, oder auch fähig fie im Zufammenhang zu verflehen. 
Und was davon ihrem Gedaͤchtniß eingeprägt wird beim Unter: 
richt, das find weit mehr die Beweile einzelner Size, ald bie 
Gefchichte; fo wie wiederum aus der Gefchichte auf diefem Wege 
weit mehr der Tod des Erlöferd würde ind Andenken gebracht € 
werden, und aus feinem Leben dad was im einzelnen nachah⸗ 
mungsfaͤhig und lehrhaft ift, als fein erfter Eintritt in die Welt. 
Ja auch in Beziehung auf das Leben des Erloͤſers möchte ih :” 
behaupten, daß die Leichtigkeit mit welcher wir an die von ihm 
verrichteten Wunder glauben ihren Grund ganz vorzüglich hat 
in unferm Feſte und den Eindrüffen die es hervorbringt. Denn 
daß der Glaube an dad wunderbare vielmehr auf ſolche Weife 
entfieht als durch Zeugniß oder Lehre, ift offenbar. Oder woher 
fommt es, daß der gemeine Patholifche Chrift fo viel an das ab: 
geſchmakkte grenzended wunderbare glaubt von feinen heiligen, 
aber fich doch nicht entfchliegen würde ähnliches zu glauben, wie 
ähnlich man es ihm auch darftellen möchte, von Perfonen aus 
einem fremden religiöfen oder gefchichtlichen Kreife, zumal doch 
auch die Wunder jener heiligen mit den Wahrheiten und An: 
weifungen bed chriftlihen Glaubens gar nicht zufammenhängen? 
Er glaubt dad alle eben den Feften, die den heiligen zu Ehren 
begangen werden; denn indem durch diefe was in der bloßen 
Erzählung gar Feine überredende Kraft ausüben würde, in Ver⸗ 
bindung tritt mit einer ſinnlich Bräftigen Gegenwart, befommt 
es eine Haltung und befefligt fi immer wieder aufs neue im . 
Gemüth. Wie denn auch im Alterthum gar vielerlei wunderbas X 
red aus grauer Vorzeit fich vorzüglich auf diefe Weife erhalten. 


N. 
. 


. 


510 


hat und geglaubt worden iſt durch Feſte, auch ſolches, wovon 
Gefchichtfchreiber und Dichter wenig oder nichts fagen. Ta fo 
viel Eräftiger if die Handlung zu diefem Zwekk ald dad Wort, 
daß nicht felten um feftlicher Handlungen und Gebräuche willen, 
wenn ihre wahre Bedeutung verloren gegangen war, falfche Ge: 
(dichten find nicht nur erdichtet fondern auch geglaubt worden. 
Eben fo auch umgekehrt, wie wir ja folhe Beiſpiele in der 
chriſtlichen Kirche felbfi haben, wenn man Zabeln erfonnen bat 
um das wunderbare nody mehr zu haufen: fo find diefe erft recht 
geglaubt worden, wenn man ihnen Felle, wie Mari& Himmel: 
fahrt ein folches ift, gemweihet hat. ‚Wenn fi alfo das. Volk 
fo. viel mehr an Handlungen und Gebräuche hält ald an Erzäh: 
lung und Lehre: fo haben wir alle Urfache zu glauben, daß zu: 
mal unter und — denn in der Fatholifchen Kirche kommt dem 
noch alles was fih auf die Maria bezieht, weil fie ja immer 
Sungfrau begrüßt wird, zu Hülfe — der Glaube an das wuns 


derbare bei der Erfcheinung ded Erlöferd ganz vorzuͤglich an un: 


ſerm Feſte und feinen lieblichen Gebräuchen haftet. Diefes alſo 


und alles was daran hängt, iſt das Verdienft um deswillen ich 
zuerft unfer Feſt ruͤhme und preiſe. Was ich aber ferner gefagt, 


- diefe Erinnerung fei befonders fchwierig zu erhalten gewefen, und 


deshalb dad Werdienft noch um fo größer, dad meine ich fo. Je 
mehr man überhaupt von einem Gegenflande weiß, um deſto be; 
ſtimmter und bedeutfamer läßt er fich auch darflelen, und je 
nothwendiger er mit dem gegenwärtigen zufammenhängt, um 
deſto leichter wird jede Weranflaltung, welche an. ihn erinnern 
fol. Diefed aber fehlt wie mir feheint gar fehr bei allem was 
zur erſten Erfcheinung Chriſti gehört. Denn das Chriftenthum 
will ich allerdings ald eine ſtarke und Präftige Gegenwart gelten 
laſſen; aber die irdiſche perſoͤnliche Thaͤtigkeit Chriſti ſcheint mir 
weit weniger damit zuſammenzuhaͤngen, als von den meiſten mehr 
angenommen als geglaubt wird. Was nämlich die auf ihm’ berus 
bende Verſoͤhnung unferd Gefchlechtes betrifft, diefe knuͤpfen wir 


4 


511 


ja alle erfi an feinen Tod; und wenn ed gleich hiebei wie ich 
denke mehr auf einen ewigen Rathſchluß Gotted ankommt, als 
auf eine beflimmte einzelne Zhatfahe, und wir deshalb dieſe 
Ideen lieber nicht an einen beſtimmten Moment knüpfen, fondern 
fie über die zeitliche Gefchichte des Erlöferd hinausheben und 
ſymboliſch halten follten: fo ift doc natürlich, daß fich diefe Idee 
des Andenkens fowol des Todes Chrifti, welcher dad Zeichen der 
vollbrachten Verföhnung war, ald auch feiner Auferſtehung als 
Bewährung bdeffelben auf ewig unter den gläubigen befefligen 
mußte. Die leztere war auch deshalb der Hauptgegenfland der 
erften Verkündigung, und der Grund auf den die Kirche gebaut 
wurde, fo daß ed vielleicht nicht nöthig geweſen wäre ihr Ans 
denfen aud durch die fonntägliche Feier befländig zu wieberho: 
len. Betrachten wir aber, abgefehen von der Idee der Verſoͤh⸗ 
nung, die menfchliche Thaͤtigkeit Chrifti, deren Gehalt doch nur . 
zu fuchen ift in der Verkündigung feiner Lehre und in der Sti 
tung der chriſtlichen Gemeinſchaft: fo ift es wunderbar wie Flein 
der. Antheil if, ven man ihm mit Recht zufchreiben Fann .an ber -“ 
gegenmärtigen Geftalt des Chriſtenthums. Bedenket nur wie 
wenig von der Lehre ſowol ald den Einrichtungen man auf ihn 
ſelbſt zurüffführen kann, fondern bei weitem das meifte iſt an- 

“ deren und fpäteren Urfprungs. So fehr, daß wenn man fich als 
Glieder einer Reihe denkt Johannes den Vorläufer, Chriftus, die 
Apoftel mit Einſchluß des Spätlings, dann die erflen Väter, 
man geflehen muß; das zweite flehe nicht in der Mitte zwifchen 
dem erften und dritten, fondern Chriftus jenem Sohannes weit 
näher als dem Paulus. Sa ed bleibt zweideutig, ob überall ia 
Chriſti Willen eine fo in ſich abgelchloffene und zufammenhal- 
tende Kirche fih bilden follte, ohne welche unfer jeziges Chriſten⸗ 
thum, und mithin auch unfer Feft, der Gegenftand meiner Rebe, 
fi gar nicht denken läßt. Darum nun wurde auch dad Leben - 2 
Chriſti ſehr zuruͤkkgeſtellt in der Verkuͤndigung, und wie ja die 
meiſten jezt glauben nur theilweiſe von untergeordneten Perſonen. 


Library of the 
UNION THEOLOGICAUL SEMINAR 


zz, 


512 


Ja wenn man dad eifrige Beſtreben diefer Erzählungen bemerkt 

Chriftum an das alte Königehaus des jüdifchen Volkes anzu: 
knuͤpfen, was doch, ob es fich fo verhält oder nicht, ganz unbe: 
deutend ift für den Stifter einer Weltreligion: fo muß man ge: 
ſtehen, ed wurde auch nur auf untergeorbnete Weiſe erzählt. 
Chrifi übernatürliche Geburt aber fcheint noch weniger durch 
Erzählungen allgemein verbreitet worden zu fein; fonft koͤnnte es 
nicht zeitig fo viele Chriften gegeben haben, bie ihn für einen 


natürlich erzeugten Menfchen hielten; fo daß die Wahrheit. nur 


fcheint durch unfer Feſt aus dem Schutt hervorgegangen und 
wieder herrfchend geworden zu fein. Denn die Erzählung für 


fih würde im Streit der verfchiedenen Meinungen nicht ausge 


reicht haben, indem die Erzähler, wenn fie auf diefe Verſchieden⸗ 
heit Feine Ruͤkkſicht nahmen, auch nichtd ausrichten konnten, wen: 
aber, dann gemwiffermaßen felbft wieder aus Zeugen und Bericht: 
erftattern in Parteien‘ verwandelt wurden. Denn diefe Verſchie⸗ 
denheit ift fo groß, daß wie man ed nennen will jede Nachricht 
oder jede Behauptung die andere aufhebt. Oder kann jemand 
die Auferftehung behaupten, ohne daß er jedem frei flellen muß, 
den Tod für, ungefchehen zu erklären? welched ja nichts anders 
beißen kann, ald daß die fpätere Thatſache die Meinung für 
falſch erklärt, welche man von der frühern gefaßt hatte. Eben 


fo macht wiederum die ‚Himmelfahrt Chrifti gewiffermaßen die 


Wahrheit feined Lebens verdächtig. Denn dad Keben gehört dem 
Planeten an, und was fich von demfelben trennen läßt, fann 
gar nicht in einem lebendigen Zufammenhang mit ihm geftanden 
haben. Eben fo wenig bleibt übrig, wenn man die Meinung 
derer, die Chrifto einen wahren Leib, oder derer die ihm eine 
wahre menichliche Seele abiprechen, mit der Meinung derjenigen 
zufammenftelt, welche ihm gegentheild die wahre Gottheit oder 
überhaupt dad übermenfchliche nicht beilegen wollen. Ja wenn 
man bedenft, daß darüber geftritten wird, ob er noch jezt nur 
auf eine geiflige und göttliche ober außerdem auch auf eine leib: 


513 


liche und finnliche Weiſe gegenwärtig fei auf Erden: fo Tann 
man leicht beide Parteien darauf führen, ihr . gemeinfchaftlicher 
verborgener Sinn fei der, daß Chriftus ehedem nicht auf eine 
andere und eigentlichere Art. zugegen gewefen fei und gelebt babe 


auf Erden und unter den feinigen, als auch jet noch. Kuy 7” 


dad erfahrungsmäßige und gefchichtlihe von dem perfönlichen 
Dafein Chriſti ift durch die Werfchiedenheit der Meinungen und 
Lehren fo ſchwankend geworden, daß wenn unfer Feft vorzüglidy 
ald der Grund des gleichmäßig erhaltenen Glaubens anzufehen 
ift, ed dadurch um fo mehr verberrlicht wird, und eine Kraft be 
weifet, die nahe an dad oben erwähnte gränzt, daß nämlich durch 
ſolche Gebräudye biöweilen die Gefchichte felbft erft gemacht wor: 
den. Was aber dabei am meiflen zu bewundern ift, und uns 
zum Vorbilde zugleich und zur Beſchaͤmung für vieles andere 
dienen Tann, iſt dieſes, daß offenbar das Feſt ſelbſt feine Geltung ' 
größtentheil3 dem Umftande verdankt, Daß ed in. die Häufer ein⸗ 
geführt worden und unter. die Kinder. Dort nämlicy follten wir 
mehreres befefligen, wad und werth und heilig ift, und als Vor⸗ 
wurf und übled Zeichen anfehn, daß wir es nicht thun. Diefed 
alfo wenigfiend wollen wir fefthalten, wie ed und überliefert wors 


den iſt; und je weniger wir wiffen, worin die wunderbare Kraft 


liegt, um beflo weniger auch nur dad mindefle daran ändern. 
Mir wenigftend ift auch das Eleinfte davon bedeutungsvoll. Denn 
wie ein Kind der Hauptgegenfland -defielben ift, fo find ed auch 


bier die Kinder vornehmlich, welche das Felt, und durch das Feſt 


wiederum das Chriſtenthum felbft heben und tragen. Und wie 
die Nacht die biftoriiche Wiege des Chriſtenthums ift, fo wird 
auch dad Geburtsfeſt befielben in der Nacht begangen; und bie 
Kerzen, mit denen ed prangt, find gleichfam der Stern über bet 
Herberge und der Heiligenfchein, ohne welchen man dad Kind 
nicht finden würde in der Dunkelheit des Stalls, und in ber 


fonft unbeftiinten Nacht der Gefchichte. Und wie ed dunkel iſt 


und zweifelhaft, was wir bekommen haben an Chrifti Perlen, 
Schleierm. W. 1.1. | | St 


* 


514 


unb von wem: fo ift auch jene Sitte, bie ich aus Der leztem 
Erzählung kennen lernte, die fchönfte und am meiften ſymboliſche 
"Art der Weihnachtögefchenke. Dies iſt meine ehrliche Meinung, 


| 


auf welche ich euch jezt auffordere die Gläfer ertönen zu laffen 


und fie auf ein ewiges Kortbeftehen unferes Feſtes zu leeren; 
wofür id) eures Beifalls fo gewiß bin, daß. ich hoffe, dadurch 
alles gut zu machen und abzuwaſchen, was euch etwa frevelhaft 
erſchienen iſt in meiner Rede. 

Nun begreife ich, fagte Friederite, warum er fich fo wenig 
zur Wehre gefezt hat gegen unfere Aufgabe, der ungläubige 
Schalt, da er im Sinne hatte fo ganz gegen ihren eigentlichen 
Sinn zu reden. Ich möchte darauf dringen, daß er in namhafte 
Strafe genommen würde; zumal gerade ich die Aufgabe ausge⸗ 
fprochen habe, und man wol fagen kann, er habe mich lächerlich 
gemacht durch feine Art der Ausführung. — Du haft wol Recht, 
fagte Eduard, aber es möchte ſchwer fein, ihm beizukommen: 
denn er bat fich recht fachwalterifch vorgefehen durch feine Erfia: 
rung, und durch die Art, wie er das herabfegende zufammenge: 
flochten mit der Abficht des Erhebend, die er doch an die Spize 
fielen mußte. Sich fachmwalterifch vorfehn, ſagte Leonhardt, ifl 
wol nichtd üble, und warum foll ich nicht jede Gelegenheit 
wahrnehmen, mich in den erlaubten und anfläntigen Theilen 
meiner Kunft zu üben? Ueberdies durfte’ ich Doch den Krauen 
nicht widerfprechen, und fie konnten fich nichts beſſeres oder an: 
deres verfehen zu der Denkungsart, die id) offen genug befenne. 
Allein Tachwalterifch verfahren habe ich übrigend gar nicht, da 
ich ja nicht einmal die Bleinfte Gunftbewerbung an die Richte: 
rinnen angebracht in der Rede. — Auch das Zeugniß maß man 


Rn 


dir geben, fagte Ernſt, daß du und vieles erlaffen, was no 


wäre anzuführen geweſen, ed fei nun, daß es bir nicht bei der 
Hand gewefen, oder daß du ed unterlaffen, um die Zeit zu fcho: 
nen und um nicht zu gelehrt und unverfländlic, vor den Frauen 
zu reben. — Ic meines Theils, fagte Ernefline, wollte ihn auch 


513 


ſchon loben, wie reblich er darin Wort gehalten, was er verfprach, 
fih möglihft von dem entfernt zu halten, was wir vielleicht 
morgen an den öffentlichen Andachtöorten hören koͤnnten — 
Wolan denn, fagte Karoline, wenn es nicht möglich ift ihn ges 
radezu vor Gericht zu ziehn, fo wird ed darauf ankommen ihn 
zu widerliegen. Und wo ich nicht irre, ſteht e8 an dir, Ernſt, 
zu reden, und die Ehre unferer Aufgabe zu retten, — Ich ges 
denke, fagte Ernſt, das lezte zu thun ohne das erfle; und ver 
möchte auch meined Theils nicht beides mit einander zu verbins 
den. Sondern die Widerlegung würde mich abziehen zu ande: 
ven Gegenfländen, und ich koͤnnte dann felbft firaffällig werden. 
Auch ift dem an freies zufammenhangendes Reden ungewöhnten 
nichtö fehwerer, als dabei der Gedankenreihe eined andern zu 
folgen. 

Was ih fagen will, hub er nun feine Rede an, davon 
wußte ich nicht zu unterfcheiden ehe du ſprachſt, Leohnhardt, ob 
ed ein Loben fei, oder ein Rühmen. Jezt aber weiß ich, daß ed 
nach deiner Weife ein Rühmen if. Denn auch ich will das 
Heft preifen als ein vortreffliches in feiner Art. Dad Loben aber, 
daß die Art und der Begriff felbft auch etwas gutes fei, will 
ich nicht, wie du es thateft, dahingeflelt fein laffen, fondern 
vielmehr es vorausfezen. Nur dag deine Erklärung eined Feſtes 
mir nicht genügt, wie fie denn überhaupt nur für dein Beduͤrf⸗ 
niß eingerichtet einfeitig war; meined aber ifl ein andered, und 
ich bedarf der anderen Seite. Du naͤmlich faheft nur darauf, 
daß jedes Feſt ein Gedächtniß ift von irgend etwas; mir aber 
liegt daran, von wad? Demnach fage ih, dag nur zu defien - 
Gedaͤchtniß ein Feſt gefliftet wird, durch deffen Vorſtellung eine 2 
gewiffe Gemuͤthsſtimmung und Sefinnung in den Menfchen kann x > 
aufgeregt werden; und daß dieſes in dem ganzen Gebiet: einer 
ſolchen Anordnung und in einem lebhaften Grade erfolge, darin 
befteht eines jeden Feſtes Wortrefflichkeit. Die Stimmung aber, - 
welche unfer Feſt hervorbringen fol, ift die Freude; und daß es 

ar? 


516 


diefe weit verbreitet und lebhaft erregt, liegt fo Mar vor Augen, 


daß nichts darüber zu fagen wäre, als was jeder felbft ſieht. 


Nur dies eine ift die Schwierigkeit, welche ich zu befeitigen habe, 


‚daß man fagen Fönnte, es fei keinesweges bad eigentliche und 


weſentliche des Feſtes, was diefe Wirkung thut, fondern nur das 
zufällige, nämlich die Gefchente, welche gegeben und genommen 
werden. Wie unrichtig nun dieſes ift, muß bier doch gezeigt 
werden. Denn gebet den Kindern baffelbige zu einer andern Zeit: 


* fo werdet ihr nicht den Schatten einer Weihnachtöfreude damit 


% 


bervorloffen, bis ihr etwa auf den entgegengefezten Punkt kommt, 
nämlich den, wo ihr befondered perfönliches Zeit gefeiert wirt. 
Mit Recht glaube ich, nenne ich Died einen entgegengefezten 
Punkt, und gewiß wird niemand läugnen, daß die Geburtdtags: 


- freude einen ganz andern Charakter hat, ald die Weihnachtds 
» freude, jene ganz die Innigkeit, die das Beichloffenfein in einem 


beftimmten Verhaͤltniß erzeugt, dieſe ganz dad Feuer und bie 
vafche Beweglichkeit eines weitverbreiteten allgemeinen Gefuͤhls. 
Hieraus geht nun hervor, daß keinesweges die Geſchenke an ſich 
ſelbſt das erfreuende ſind, ſondern nur weil ſchon ein Grund da 
iſt ſich zu freuen wird auch geſchenkt, und fo verbreitet ſich das 


eigenthuͤmliche der Weihnachtöfreude,i welches eben in Diefer gro⸗ 


Ben Allgemeinheit befteht, freilich auch auf die. Geſchenke, fo daß 
in einem großen Theil der Ghriftenheit, fo weit die fchöne alte 
Sitte noch reicht, jeder mit dem Zubereiten eined Geſchenkes be: 
ſchaͤftigt iſt; und in diefem Bewußtſein liegt ein großer Theil 
des Zauberd, welcher ſich aller bemächtigt. ‚Denkt euch, daß eine 
einzelne Familie diefen Gebrauch feft hielte, während alle andern 
an demfelben Orte ihn fchon hätten fahren laffen: fo würde der 
Eindruff bei weitem nicht mehr derfelbe fein. Aber dad gemein: 
fame Bereden vieler, das Arbeiten in die Wette auf die beflimmte 
feftlihe Stunde, und draußen der allen offene und für- eine große 
Menge berechnete Chrifimarkt, der ſich in jedem Geſchenk abfpie: 
gelt mit feiner Erleuchtung, die wie ſchimmernde Sternchen auf 


517 
der Erde umher glänzt in ber Winternacht, daß der Himmel das 


von widerfcheint, das giebt den Gaben. ihren eigenthümlichen 


Werth. Und was fo allgemein if, kann fchon um deswillen 
nicht willführlich erfonnen oder verabrebet worden fein, fondern es 
muß einen gemeinfchaftlichen inneren Grund haben; fonft koͤnnte 
ed weder fo gleihmäßige Wirkung thun, noch auch überhaupt 
fortbeftehen, wie wir ja an vielen neueren Verfuchen zur Genüge 
gefehn haben. Diefer innere Grund aber Tann Bein anderer fein, 


) 


\ 


als daß die Erſcheinung des Erlöferd die Quelle aller andern ' 
Freude in der chriftlichen Welt ifl, weshalb nichts anderes ver: x 


dienen kann eben fo gefeiert zu werden.! Denn einige freilich, 
an welche ich nicht erinmern kann ohne fie zugleich deöhalb ans 
zuflagen, haben die allgemeine Freude von diefem Fefl wegver: 
legt auf Neujahr, auf den Zag an welchem vorzugsweile der 
Wechſel und Gegenfaz in der Zeit vorgeftelt wird. Denn wenn 
auch viele bierin nur unverfländigerweife gefolgt find, und es 
ungerecht wäre zu behaupten, daß überall wo man ſich zu Neus 
jahr befchenkt flatt Weihnachten, wenig Antheil genommen werde 


an dem eigentlich chriftlichen in unferem Leben: fo hängt doch 


diefe abweichende Sitte offenbar genug mit einer foldhen Zuruͤkk⸗ 
fegung zufammen, und ed geziemt vorzüglich denen, welche ber 
innern Haltung ermangelnd nur in diefem Wechſel leben, ſich 


auch den Zag zum befondern Freudentage zu machen, welcher der X— 


Erneuerung des vergänglichen geweihet ifl. Für und andere aber, 


die wir dem Wechſel der Zeit zwar auch unterworfen find, aber 


nicht in dem vergänglichen zu leben begehren, bleibt die Geburt 
des Erloͤſers dad einzige allgemeine Freudenfeſt, weil ed nämlich 


für- und fein andered Princip der Freude giebt ald die Erlöfung, 


in der Entwikklung von diefer wiederum die Geburt des göftlis 
chen Kindes der erfie belle Punkt ift, nach welchem wir feines 
anderen warten und unfere Sreude noch länger verichieben koͤn⸗ 
nen. Daher bat audy Fein befondered Zeit mit diefem allgemeis 


nen eine folche Aehnlichkeit, ald das der Kindertaufe, durch welche 


N 


» 


918 


den Heinen das Princip der Freude in dem göttlichen Kinde an: 
geeignet wird. Und daher der befondere Reiz jener anmuthigen 
Erzählung, in welcher und beides vereinigt erfchien. . Ja, Leon: 
hardt, wir mögen und anftellen wie wir immer wollen, bier iſt 
fein Entrinnen. Das Leben und die Freude der urfprünglichen 
Natur, wo jene Gegenfäze gar nicht vorkommen zwilchen der Ers 
ſcheinung und dem Wefen, der Zeit und der Ewigkeit, ift nicht 
die unfrige Und ‚dachten wir und diefes in Einem, fo dachten 
wir und eben dieſen ald Erlöfer, und er mußte und anfangen 
als ein göttliche Kind. Wir ſelbſt hingegen beginnen mit dem 
Zwieſpalt, und gelangen erft zur Uebereinflimmung durch die Er: 


loͤſung, die eben nicht anderes iſt, als die Aufhebung jener Ge 


⸗ 


genſaͤze, und eben deshalb nur von dem ausgehen kann, fuͤr den 
fie nicht erſt durften aufgehoben werden. Gewiß, das wird nie⸗ 
mand laͤugnen, dies iſt die eigentliche Natur dieſes Feſtes, daß 
wir uns des innerſten Grundes und der unerſchoͤpflichen Kraft 
eines neuen ungetruͤbten Lebens bewußt werden, daß wir in dem 
erſten Keime deſſelben zugleich ſeine ſchoͤnſte Bluͤthe, ja ſeine 
hoͤchſte Vollendung anſchauen. Wie unbewußt es auch in vielen 
ſei, in nichts anderes laͤßt ſich das wunderbare Gefuͤhl aufloͤſen, 
als in dieſe zuſammengedraͤngte Anſchauung einer neuen Welt. 
Diefe ergreift einen jeden, und der Urheber derſelben wird in tau⸗ 
fend Bildern auf die verfchiedenite Weile dargeflellt, ald Lie auf: 
gehende wiederkehrende Sonne, ald der Frühling bed Geiſtes, als 
der König eines befieren Reiches, ald der treuefte Götterbote, als 


der lieblichfte Zriedensfürft. Und fo komme ich doch dazu, Leon: 


hardt, dich zu widerlegen eben indem ich dir beiflimme, und die 
verfehiedenen Anfichten, von welchen wir auögegangen find, ver: 


gleichend zufammenftelle. Mögen die hiftorifchen Spuren feines 


Lebens, wenn man die Sache in einem niedrigeren Sinne Eritifch 
betrachtet, noch fo unzureichend fein: das Feſt hängt nicht daran, 
fondern wie an der Nothwendigkeit eines Erlöfers, fo an der Ers 
fahrung eines gefteigerten Dafeind, welches auf keinen andern 


519 


Anfang. als diefen zurüffzuführen ifl. Noch weniger Spuren fin: 
deft du oft von dem Faden, an welchen man eine Kryftallifation 
bat anfchiegen Taffen, aber auch die Eteinfte reicht hin um dir zu 
beweifen daß er da war. So ift ed auch wirklich Chriflus ge 
weien, deſſen Anziehungsfräften diefe neue Welt ihre Geftaltung 


verdankt, und wer, wie du doch auch geneigt bift, das Chriſten⸗ 


thum für eine kräftige Gegenwart anerfennt, für die große Zorm 
ded neuen Lebens, der heiliget dieled Zeit, nicht wie man das 
unverflandene nicht zu verlegen wagt, fondern indem er ed voll» 
kommen verfieht, auch alles einzelne darin, die Geſchenke und die 
Kinder, die Nacht und dad Licht. Und mit diefer kleinen Ver⸗ 
befferung, vonder ich wünfche daß fie auch dir gefallen möge, 
wieberhole ich deine Aufforderung, und wünfche oder vielmehr 
weiflage dem fchönen Feſte auf ewig die frohe Kindlichkeit, mit 
der ed und jededmal wiederkehrt, und allen die es feiern die rechte 


Zreude an dem wiedergefundenen höheren Leben, aus welcher * 


allein alle feine Lieblichkeiten aufblühen. 

Ich muß dir abbitten, Ernft, fagte Agnes. Ich hatte näms 
lich gefürchtet, ich würde dich gar nicht verſtehn; dem ift aber 
nicht fo geweſen, und du haft es recht ſchoͤn beflätiget, daß wirk 
lich das religiöfe dad Weſen des Feſtes if. Nur fcheint es freis 
lid) nad) dem, was vorhin ausgemacht wurde, als ob und Frauen 


nn 2 


weniger Freude müfle zu Theil werben, weil jeneö Unweſen fich X 


weniger in uns offenbart. Allein auch dad kann ich mir wol 
zurecht legen. — Recht leicht, fagte Leonhardt. Man könnte eben 
nur Eur; weg fagen, und es ift fo anfchaulich ald möglich, daß 
die Frauen für ſich alled leicht ertragen, und nach wenigem Ge: 
nuß fireben, daß aber, wie ihr innerfled Leiden Mitleiden ift, fo 


auch ihre Freude Mitfreude if. Nur mögt ihre fehen, wie ihr x? 


mit der heiligen Autorität zurechtlommt, die ihr niemald verlaſ⸗ 
fen wollt, und die fo offenbar die Frauen als die eriten Urheber 
alles Zwieſpaltes und aller Erlöfungsbedürftigkeit angiebt. Aber 
wenn ich Friederike wäre, ich wollte Ernſten doch den Krieg 


520 


machen, daß er der Zaufe fo leichtfinnig ohne Erwägung feiner 
eignen Umftände den Vorrang eingeräumt vor ber Trauung, die 
doch auch ein fchöned und freudiged Sacrament fein fol, hoffe 
ih. — Antworte ihm nit, Ernſt, fagte Friederike, er hat ſich 
fchon felbft geantwortet. — Wie das? fragte Leonhardt. — Nun 
offenbar, entgegnete Erneftine, indem bu von den eignen Um: . 
ftänden forachft. Aber deineögleichen merkt es immer nicht, wenn 
ihr das liebe Ich einmiſcht. Ernſt unterfchied dad aber wohl, 
und wird dir gewiß fagen, daß jened fich mehr der Geburtstags: 
- freude nähert, ald der Weihnachtöfreude. — Oder, fügte Emfl 
hinzu, wenn du etwas chriftliches dazu haben wilft, daß ed mehr 
Charfreitag und Oſtern iſt, als Weihnachten. Nun aber laßt 
und dad vorige bei Seite fielen, und hören, was uns Eduard 
fagen wird. — Diefer fing darauf fo an zu reden. 

Es ift fchon von einem befferen, als ich bin, bei einer aͤhn⸗ 
lichen Gelegenheit angemerkt worden, daß die lezten am übelften 
daran find, wo über einen Gegenfland, welcher ed auch fei, auf 
diefe Weiſe geredet wird. Und nicht etwa rur, ald ob ihnen bie 
früheren wegnähmen was zu fagen war — wiewol ihr beiden 
auch in diefer Hinficht euch wenig um mic befümmert habt, 
daß ihr etwa einzelned herausgenommen hättet, um mir anderes 
einzelne übrig zu laffen —, fondern vornehmlich, weil den hörenden 
von jeder Rede wieder eigne Nachklaͤnge zuruͤkkbleiben, die alfo 
einen immer zunehmenden Widerfiand bilden, den der lezte am 
fchwerften zu überwinden hat. Daher muß ich mich nach: einer 
Hülfe umfehen, und was ich fagen will an etwas bekanntes und 
liebes anlehnen, damit es leichteren Eingang finde. Wie nun 
Leonharbt gar oft die mehr Außerlichen Lebenöbefchreiber Chriſti 
- im Sinne gebabt hat um bei ihnen das gefchichtliche aufzufu: 

chen: fo will ich mich an den myſtiſchen unter den vieren halten, 
bei dem gar wenig von einzelnen Begebenheiten vorfommt, ja 
x auch Fein Weihnachten Außerlih, in deſſen Gemüth aber eine 
> ewige kindliche Weihnachtäfreude herrſcht. Dieſer giebt uns die 


* 


Y. 


nr 


521 


geiftige und ‚höhere Anficht unferes Feſtes. Er hebt aber fo an, X 
wie ihr wißt, Sm Anfange war dad Wort, und dad Wort war 
bei Gott, und Gott war dad Wort. In ihm war bad Leben, 
und das Leben war das Licht der Menfchen. Und dad Wort 
ward Kleifch und wohnete unter und, und wir fahen feine Herr: 
lichkeit, al des eingebornen Sohnes vom Vater. So fehe ich 
am liebften den Gegenftand dieſes Feſtes, nicht ein Kind fo und 2 
fo geftaltet und ausſehend, von dieſer oder jener geboren da oder 
dort; fondern dad Fleiſch gewordene Wort, dad Gott war und 
bei Gott. Das Fleiſch aber ift, wie wir wiflen, nichtd anderes 
ald die endliche befchränkte finnliche Natur; das Wort dagegen : 
ift der Gedanke, dad Erkennen; und das Fleifchwerden defjelben 

. ft alfo dad Hervortreten dieſes urfpränglichen und göttlichen in 
jener Geſtalt. Was wir fonach feiern, ift nichtd anders ald wir 
ſelbſt, wie wir inögefammt find, dad heißt die menichliche Natur, 
--oder wie ihr ed fonft nennen wollt, angefehen und erfannt aus 
dem göttlichen Princiy. Warum wir aber Einen aufftellen müf: 
fen, in welchem ſich die menſchliche Natur allein fo darftellen 
läßt, und warum gerade diefen Einen, und auch bei ihm ſchon in 
die Geburt diefe Einerleiheit des göttlichen und irdifchen fezen, 
nicht ald eine fpätere Frucht des Lebens, das wird hieraus erhel: 
fen. Was ift der Menfch an fich anders, ald der Erdgeift felbft, ” 
dad Erkennen der Erde in feinem ewigen Sein und in feinem 
immer wechfelnden Weiden. So ift auch fein VBerderben in ihm 
und fein Abfall, und fein Bebürfnig einer Erlöfung. Der ein 
zeine aber, wie er ſich anfchließt an die andern Bildungen der 
Erde, und fein Erkennen in ihnen fucht, da doch ihr Erkennen 
allein in ihm wohnt, diefer ift dad Werden allein, und ift im 
Abfall und Verderben, welches ift die Zwietracht und die Ber: 
wirrung, und er findet feine Erlöfung nur in dem Menfchen an 
fih. Darin nämlih, daß eben jene Einerleiheit ewigen Seins 
und Werdend des Geifled, wie er fih auf diefem Meltkörper 
offenbaren kann, in jedem felbft aufgeht, jo daß jeder alles Wer: 


922 


den und auch fich felbft nur in dem ewigen Sein betrachtet und 
liebt, und infofern er als ein Werden erfcheint, auch nichts an: 
ders fein will, als ein Gedanke des ewigen Seins, noch in einem 
andern ewigen Sein will gegründet fein, als in dem, welches 
einerlei ift mit dem immer wechfelnden und wiederkehrenden Wer: 
den. Darum findet fich zwar in der Menfchheit jene Einerlei⸗ 
heit des Seins und Werdend ewig, weil fie ewig als der Menſch 
an fich ift und wird; im einzelnen aber muß jie, wie fie in ihm 
ift, auch werden ald fein Gedanke, und aid der Gedanke eines 
gemeinfchaftlichen Thuns und Lebens, in welchem eben jenes uns 
ſerm Weltkörper eignende Erkennen ift nicht nur, fondern auch 
wird. Nur wenn der einzelne die Menfchheit ald eine lebendige 
x Gemeinfchaft der einzelnen anſchaut und erbaut, ihren Geift und 
Bemußtfein in fih trägt, und in ihr dad abgefonderte Dafein 
verliert und -wiederfindet, nur dann bat er das höhere Leben und 
den Frieden Gottes in fih. Diefe Gemeinfchaft aber, durch 
welche fo der Menfch an fich dargeſtellt wird oder wieberherge: 
ſtellt, if die Kirche. Sie verhaͤlt fich alfo zu allem übrigen, 
was menfchliched um fie her und außer ihr wird, wie das Selbſt⸗ 
bewußtfein der Menfchheit in den einzelnen zur Bewußtloſigkeit. 
Jeder alfo, in dem dieſes Selbfibemußtfein aufgeht, kommt zur 
Kirche. Darum kann niemand wahrhaft und lebendig die Wiſ⸗ 
fenfchaft in fich haben, der nicht ſelbſt in der Kirche wäre, fon- 
dern ein folcher kann die Kirche nur äußerlich verläugnen, nicht 
innerlih. Wol aber Eönnen in der Kirche fein, die nicht die 
Wiſſenſchaft in fich haben; denn fie können jenes höhere Selbſt⸗ 
bewußtfein in der Empfindung bejizen, wenn auch nicht in der 
> Anfchauung. Welches eben der Sal bei den Frauen iſt, und zu: 
gleih der Grund, warum fie fi) um fo inniger und ausſchlie⸗ 
Gender der Kirche anhängen. Diefe Gemeinfchaft nun ift als ein 
werdendes auch ein gewordened, und ald eine Gemeinfchaft der 
einzelnen ein durch Mittheilung derfelben gewordened, und wir 
fuchen alfo auch einen Punkt, von dem dieſe Mittheilung aus⸗ 


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gegangen, wiewol wir wiflen, daß fie von einem jeden wieder 
felbfithätig ausgehn muß, auf daß der Menfch an ſich auch in 
jebem einzelnen ſich gebäre und geflalte. Jener aber, der als der 
Anfangspunft der Kirche angeſehen wird, als ihre Empfängniß, 
fo wie man die erfte am Pfingfitage frei und felbfithätig aus- 
brechende Gemeinfchaft der Empfindung gleihfam die Geburt der 
Kirche nennen könnte, jener muß ald der Menſch an fih, als ! 
der Gottmenſch fchon geboren fein, er muß dad Selbfterfennen ' 
in ſich tragen, umd das Licht der Menfchen fein von Anfang an. 
Denn wir zwar werben wiebergeboren durch den Geift ber Stirche. Ay 
Der Geift felbft aber geht nur aus vom Sohn, und diefer ‚bes 
darf Feiner Wiedergeburt, fondern iſt urfprünglich aus Gott ge: 
boren. Das ift der Menfchenfohn fchlechthin. Auf ihn war alles 
frühere Vorbedeutung, war auf ihn bezogen, und nur durch dieſe 
Beziehung gut und goͤttlich; ja in ihm feiern wir nicht nur uns, 
ſondern alle die da kommen werden, ſo wie alle die geweſen 
ſind, denn ſie waren nur etwas ſo fern er in ihnen war und ſie 
in ihm. In Chriſto fehen wir alſo den Geiſt nach Art und > 
Meile unjerer Erde zum Selbfibewußtjein in dem einzelnen fich 
urfprünglich geftalten. Der Vater und die Brüder wohnen gleich» 
- mäßig in ihm, und find eins in ihm, Andacht und Liebe find 
“fein Wefen. Darum fieht jede Mutter, die ed fühlt daß fie 
einen Menſchen geboren hat, und die ed weiß durch eine himm⸗ 
lifche Botſchaft, daß der Geift der Kirche, der heilige Geift in 
ihr wohnt, und die deshalb gleich ihr Kind mit ganzem Herzen 
der Kirche darbringt, und dies zu dürfen ald ihr Recht fordert, 
eine folche fieht auch Ehriflum in ihrem Kinde, und eben dies 
iſt jenes unaußfprechliche alles lohnende Muttergefühl. Eben fo v ' 
aber auch jeder von und fchaut in der Geburt Chrifti feine eigene 
höhere Geburt an, durch die nun auch nichtd andered in ihm 
lebt, als Andacht und Liebe, und auch in ihm der ewige Sohn 
Gottes erfcheint. Darum bricht das Feſt hervor wie ein himm⸗ 
Uſches Licht aus der Nacht. Darum iſt es ein allgemeines Pul: 


— — 
So 


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524 


>. firen der Zreude in der ganzen wiedergebornen Welt, das nur 
bie für eine Zeitlang kranken oder gelähmten ‚Glieder nicht fuͤh⸗ 
fen. Und eben dies ift die Herrlichkeit des Feſtes, die ihr auch 
von mir wolltet preifen hören; aber wie ich febe, follte ich nicht 
ber Iezte fein. Denn der langerwartete Freund ift ja nun auch da. 
Joſef nämlich war während diefer Rede gefommen, und fo 

leife er auch hereintrat und fich niederfezte, doch von Eduard be: 
merkt worden. Keinesweges fagte er, ald ihn Eduatd fo auf: 
rief: fondern du ſollſt gewiß der lezte geweſen fein. Sch bin 
nicht gefommen Reden zu halten, fondern mich zu freuen mit 
euch; und ihr kommt mir, daß ich ed ehrlich fage, wunderlih 
und faft thöricht vor, daß ihr dergleichen treibt, wie fchön es 
auch mag gewefen fein. Aber ich merke es fchon, euer fehlechtes 
Princip iſt wieder unter euch, dieſer Leonhardt, der denfende res 
flectivende Ddialektifche überverftändige Menſch, in den ihr wahr: 
ſcheinlich hineingeredet habt; denn für euch hättet ihr es gewiß 
nicht gebraucht, und wäret nicht darauf verfallen; ihm aber hilft 
es doch nicht. Und die armen Frauen haben fich. das fo müffen 
gefallen laſſen. Bedenkt nur, welche ſchoͤne Toͤne fie euch würs 

» den gefungen haben, in: denen alle Frömmigkeit eurer Reden weit 
inniger gewohnt hätte, oder wie anmuthig aus dem Herzen voll 

> Liebe und Freude fie mit euch hätten plaudern koͤnnen; was euch 
anders und befier würbe behagt und erquikkt haben, als fie durch 
diefe feierlichen Reden find angeregt worden. Ich meinedtheils 
kann heute damit gar nicht dienen. Alle Formen. find mir zu 
fleif, und alled Reden zu langweilig und kalt. Der [prachlofe 

x Gegenſtand verlangt oder erzeugt auch mir eine fprachlofe Freude; 
die meinige Tann wie ein Kind nur lächeln und jauchzen. Alle 
Menfchen find mir heute Kinder, und find mir eben deshalb nur 
um fo lieber. Die ernfihaften Halten find einmal ausgeglättet, 
die Zahlen und die Sorgen ſtehen ihnen einmal nicht an ber 
Stirm gefchrieben, dad Auge glänzt und lebt einmal, und ed ifl 
eine Ahndung eined fchönen und anmuthigen Dafeins in ihnen. 


525 
Auch ich felbft bin ganz ein Kind geworden zu meinem Gluͤkk. 
ie ein Rind den Findifchen Schmerz erſtikkt, und die Seufzer 
—— wıangt und die Thraͤnen einſaugt, wenn ihm eine kindiſche 
Freude gemacht wird: fo ift mir heute der lange tiefe unvergäng- 


liche Schmerz befänftiget, wie noch nie. Ich fühle mich einhei- 7 


mifh und wie neugeboren in ber befieren Welt, in welcher 
Schmerz; und Klage Feinen Sinn mehr haben und einen Raum. 
Mit frohem Auge ſchaue ich auf alled, auch auf das tiefverwun: 
dende. Wie Chriſtus Eeine Braut hatte ald die Kirche, Feine 
Kinder als feine Freunde, kein Haus ald den Tempel und bie 
Welt, und doch dad Herz voll himmlifcher Liebe und Freude: fo 


x 


v. 


* 


ſcheine auch ich mir geboren eben darnach zu trachten. So bin 


ich umhergegangen den ganzen Abend, überall mit der herzlich⸗ 


fien Zheilnahme an allen Kleinigkeiten und Spielen, und habe 
alles geliebt und angelacht. Es war Ein langer liebfofender Kuß, 
den ich der Welt gab, und jezt meine Freude mit euch follte der 
lezte Drukk der Lippe fein. Ihr wißt, wie ihr mir bie liebflen 


feid von allen. Kommt denn, und dad Kind vor allen Dingen .:. 


mit, wenn es noch nicht fchläft, und laßt mich eure Herrlichkei⸗ 
ten fehn, und laßt und heiter fein und etwas frommes und fröh: 
liches fingen. 


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New York 


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