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^aräarti (ÜTollege 3.ibrars
FROM THE
TREADWELL FUND
Residuary legacy from Daniel Trvadwsll, Rumford
Professor and Lecturer on the Application of
Science to the UsefuI Arts, 1834-1S45.
r
Wissenschaftliche Frauenarbeiten.
Herausgegeben von
Dr. Hermann Jantzen und Dr. Gustav Thurau.
1. Band. Heft 4/5.
George Eliot.
Fünf Aufsätze
von
Helene Richter,
Wien.
BERLIN.
Verlag von Alexander Dnncker.
1907.
a/^;5',}9
\ /
1^
Druck von Hugo Wilisch in Chemnitz.
Vorwort
Von den vorliegenden Aufsätzen sind vier, wenn auch in
wesentlich veränderter Form, schon früher gedruckt worden, und
zwar: George Eliots historischer Roman in ßeiträge zur neueren
Philologie, Jakob Schipper zum 1 9. Juli 1 902 dargebracht (Wien,
Braumüller); Die Fmuenfrage bei George Eliot in Anglia, N. F.
Bd. XV.; Der Humor bei George Eliot in den Erhäschen Studien,
Bd. 34, S. 211 ff.; George Eliots sozial-politischer Roman in der
Zeitschrift fär vergleichende Literaturgeschichte, N. F. Bd. XV,
Heft 3/5. George Eliot, ein Charakterbild, erscheint hier zum
erstenmal. Die Unvollständigkeit des vorliegenden biographischen
Materials ist die Ursache dieser Beschränkung auf biographische
Bruchstücke.
George Eliot schrieb im Februar 1874 an Blackwood:
»Leidenschaftslose Kritik sollte etwas gegen unsere Nationalgewohn-
heit in bezug auf literarische Biographie tun. Ist es nicht ab-
scheulich, daß man, kaum ein Mensch tot ist, sein Pult durch-
stöbert und jedes unbedeutende, von ihm nimmer für die
Öffentlichkeit bestimmte Memorandum zur Klatsch-Unterhaltung
von Leuten druckt, die zu faul sind, seine Bücher wieder zu lesen?
Ich finde, diese Mode ist eine Schmach für uns alle. Sie ist etwa
wie das Enthüllen von Byrons Klumpfuß nach seinem Tode."
Solche Worte mögen George Eliots Gatten, Mr. John Gross,
zu jener Sichtung ihrer Briefe und Tagebücher, zu jener Um-
gehung wichtiger Momente in ihrem Leben und zur Verweigerung
ergänzender Aufschlüsse veranlaßt haben. Heute, da George Eliot
der Weltliteratur angehört, liegt der Fall indes wesentlich anders.
Das Publikum hat gewissermaßen ein Anrecht auch auf ihr
persönliches Leben, das durch völliges und hüllenloses Bloßlegen
IV
an edler Menschlichkeit nur gewinnen kann. So wäre es dringend
zu wünschen, daß die Hüter ihres Nachlasses kleinliche Bedenken
fahren ließen und ihren Schatz an mündlichen und schriftlichen
Traditionen endlich preisgäben. Auch dafür ließe sich ein Wort
George Eliots anführen, das für eine letztwillige Forderung
gelten kann: »Wir haben oft gewünscht, daß sich das Genie
häufiger der Aufgabe des Biographen zuwendete, daß wir bei
dem Tode eines großen, guten Menschen statt trübseliger 3 - S bän-
diger Kompilationen von Briefen, Tagebüchern und wenig zur
Sache gehörigen Details, zu deren Lektüre zwei Drittel des lesenden
Publikums keine Gelegenheit und das letzte Drittel keine Lust
hat, ein wirkliches »Leben« erhielten, das die inneren und äußeren
Kämpfe des Menschen kurz und anschaulich schilderte und seine
Ziele und Leistungen, so daß die Bedeutung seiner Erfahrungen
für seine Mitmenschen klar daraus erhellte.« (Essay über Carfyle^s
Life of Sterling, 1852.)
Dieses »Leben« kann erst geschrieben werden, wenn der
Oberblick über das gesamte biographische Material ein lücken-
loser ist. Möchte es uns bald beschert werden.
Wien, 3. Januar 1907.
Helene Richter.
George Eliot^ ein Charakterbild.
I.
George Eliot gehört zu jenen Persönlichkeiten, die mit
ihrem Qeist und Qemüt im Boden der Heimat wurzeln und sich
weder durch äußere Trennung, noch durch teilweise innere Ent-
fremdung jemals ganz von ihr loslösen« Jugend und Kindheits-
eindrücke haben entscheidenden Einfluß auf ihre Werke gehabt;
gerade die charakteristischsfen und schönsten Momente ihrer
Dichtung gehen auf persönliche Erinnerungen zurück.
Sie selbst stammte aus dem Mittelstande, dem sie später
ihre meisten und jedenfalls ihre gelungensten Typen entnahm.
Sie entsproß einer Handwerkerfamilie, die nicht eben reich, aber
auch nichtv dürftig war, die über wenig Bildung, aber desto un-
bedingtere Ehrbarkeit verfügte. Mannestüchtigkeit und Frauen-
zucht waren in ihr zu Hause und das stolze Selbstgefühl, das
ein in Gottesfurcht und Pflichttreue verbrachtes, in seinen engen
Schranken von Erfolg gekröntes Leben gewährt.
George Eliots Heimat war das tiördliche Warwickshire,
fruchtbares, fleißig bebautes Ackerland und ieichtgewellte, von
prächtigen Bäumen unterbrochene Wiesenflächen, jene Mischung,
die der englischen Landschaft ihr Gepräge schlichter Anmut gibt
und sie nie eintönig erscheinen läßt. Das Vaterhaus, Griff House,
lag an der Straße zwischen dem kleinen Städtchen Nuneaton
und dem etwa 20 — 30 Meilen entfernten größeren Coventry, grün
umrankt, mit dem blinkenden roten Ziegeldach und breiten,
vielgeteilten Fenstern — eines jener typischen englischen Land-
häuser, in denen freundliches Behagen auch in bescheidene
Verhältnisse getragen ist, ringsum der Garten mit Teich und
Kanal, innen die weltentrückte Stille einer voreisenbahnlichen,
vortelegraphischen Zeit mit ihrem zufriedenen Wohlstand und
Wissenschaft!. Frauenarbeiten. IV. V. Richter, Eliot. ''
um die Politik unbekümmerten Optimismus. Wer die Eliotsdien
Romane kennt, kennt auch Qriff House.
Name und Stammbaum der Familie weist auf welschen
Ursprung. Ihr Ahnherr soll Thomas Evans de Northrop aus
der Grafschaft Flint im 16. Jahrhundert sein.^) Im 17. Jahr-
hundert taucht ein herabgekommener Joseph Evans als Reisender
in Norbury auf; im 18. Jahrhundert finden wir Oeorge Evans,
den Großvater der Dichterin, als einen in der ganzen Umgegend
geachteten Schreiner und Baumeister in Derbyshire. Sein Sohn
Robert wuchs in Ellaston bei Ashbume (Staffordshire) auf und
ergriff dasselbe Gewerbe. Er war physisch und moralisch ein
durch und durch gesunder Mensch, ein heller Kopf und ein
tüchtiger Arbeiter, der nicht nur gründliche Fachkenntnisse besaß,
sondern auch im Minen- und Forstwesen und der gesamten
Landwirtschaft so gut beschlagen war, daß ihn die Gutsherren
der Gegend, die Newdigates, Vater und Sohn, zu ihrem Ver-
trauensmanne machten. Auf ihren Ländereien hatte er zuerst die
kleine Arburyfeum in Pacht, auf der Mary Ann - sein jüngstes
Kind - am 22. November 1819 geboren wurde. Sechs Monate
später übersiedelte er nach dem geräumigeren nahen Qriff House
das gleichfalls zu dem Besitze der Newdigates gehörte. Seine
Stellung brächte es mit sich, daß Mary Ann schon als Kind mit
den verschiedenartigsten Ständen in Berührung kam: mit der
Herrschaft im Schloß wie mit den Landleuten, mit dem Geist*
liehen wie mit den Arbeitern. Denn Robert Evans war als Ur-
bild der Verläßlichkeit und Erfahrung gesucht und geschätzt von
Vorgesetzten wie von Untergebenen.
Seinem politischen Bekenntnis nach verkörperte er den
Torysmus Von streng konservativer Färbung. Seine Jugend fiel
noch vor die französische Revolution. Die lärmenden Verkünder
demokratischer Grundsätze waren in seinen Augen, milde ausge*
drückt, ein Zwitterding von Narren und Schurken.*) Er hielt
dafür, daß eine kräftige Regierung, die imstande ist, die Ord-
nung aufrecht zu halten, der Wohlfahrt des Landes am zuträg-
W. Mottnun, The irue Histoiy of Oeorge Eliot. 1905. S. 16.
*) Looking öackward.
— 3 —
liebsten sei. Für die Drangsale der ersten Dezennien des Jahr-
hunderts könne die R^erung nicht verantwortlich gemacht
werden. Oberhaupt wäre in England mit seiner guten Kirche
und seiner guten Verfassung alles aufe beste bestellt, nähme nur
jeder britische Untertan Verordnungen und Gesetze dankbar hin
und bekümmerte sich im übrigen um seine eigenen Angelegen-
heiten. Robert Evans pflegte in das Wort »Regierung« einen
so andachtsvollen Ton inbrünstiger Ehrfurcht zu legtiit daß sein
Töchterchen in dem Olauben heranwuchSi die Regierung gehöre
zur Religion, während das Wort Rebell in seinem Munde den
Stempel des Bösen empfing»
Außer der Regierung gab es noch etwas, das bei Robert
Evans einen höheren Klang hatte: die Arbeit Sie war dem
fleißigen, pflichteifrigen Manne heilig, und auch dieser Kultus
prägte sich Mary Ann ein, die, Roberts Liebling und Stolz, ihn
auf dem Kutschierwägelchen zwischen seinen Knien stehend, auf
seinen geschäftlichen Fahrten b^leiteie. Sie ihrerseits erkannte
und verehrte frühzeitig ihr Vorbild in ihm und fühlte sich zeit«
lebens als die Tochter dieses Vaters. »Der Vater, dem wir unser
bestes Erbteil danken, den Handwerkerinstinkt, das Gefühl für
Harmonie, die unbewußte Geschicklichkeit der bildenden Hand'',
läßt sie Adam Bede sagen, und von der manuellen auf die
geistige Arbeit übertragen, gilt dasselbe für George Eliot Roberts
an Pedanterie streifend^. Exaktheit wurde in ihr zu jener künst-
lerischen Gewissenhaftigkeit, jener »ungeheuren Fähigkeit, sich
zu mühfu'', der ihre Werke die wunderbare Vertiefung und Ab-
rundung danken.
Aber nicht der Vater allein gab ihr das Beispiel unermfid-
Itcher und ersprießlicher Tätigkeit An seiner Seite schaltete
nicht minder emsig in musterhafter Pünktlichkeit die Mutter,
Robert Evans' zweite Gattin, eine praktische, vorsorgliche Hausfrau.
Sie führte das Regiment in der Milchkammer und in der Küche,
mitunter streng, wenn die Ordnung und das Wohl des Hauses
es erforderte, aber dabei voll warmen, weichen Empfindens und
voll Mutterwitz - das Urbild von George EHots tätigen Ehe-
frauen mit der flinken Zunge, dem guten Herzen und den segens-
reichen, geschickten Händen.
1»
— 4 —
Die Hauptrolle in Mary Anns Leben jedoch fiel dem
älteren Bruder Isaak zu, während sie mit zwei Stiefgeschwistern
weniger Fühlung hatte. Ihrem phantasievollen, überschwenglichen
und darum mancherlei Enttäuschungen ausgesetzten Persönchen
gegenüber spielte er den Nüchternen, Weltidugen und bald den
Herrn. Willig und überzeugt ordnete sie sich seiner Autprität
unter, ahnungslos, wie sehr sie ihm in geistiger Hinsicht über-
legen war. In M2^[gie und Tom Tullivers kindlichen Abenteuern
und in dem Sonettenkranz Braäer und Schwester hat sie die
Erlebnisse ihrer Kinderjabre verewigt: wie sfe mit Isaak den
Kreisel drehte, oder fischen ging, oder Trüffeln suchte. In
den Werken weniger Dichter ziehen die kleinen Vorkommnisse
der ersten Jahre so deutliche und so leuchtende Spuren wie bei
George EKoi Ein Leitienweber mit dem Sack auf dem Rücken,
den sie als Kind einmal sah, wird zu Silas Mamer; die Nach-
richt, daß ein Verwandter ertrunken sd, prägt sich so tief in ihr
Gemüt, daß sie später den alten Bede, Dunstan Cass ßUas
Mamer), Maggie und Tom fFhe MiU mt the FIoss), Grand-
court ^(Daniel Deronda) ertrinken läßt - und Tito (Romola}
und Mirrah (Daniet Deranda) beinahe. Sie war ein unge-
wöhnlich scharf beobachtendes, ungewöhnlich sensitives Kind,
zu Extremen und Gegensätzen geneigt. Sie liebte es, durch den
Sturm zu laufen und litt andererseits unter beständigem Frieren
und qualvoller Gespensterfurcht wie ihre Gwendolin (Daniel
Deronda).
I>er Vater, der an dem klugen »Frauenzimmerchen« seine
Freude hatte, tat etwas für ihre Erziehung; 1826 kam sie in die
S<*ule einer Miss Lewis in Nuneaton, t832 in die der Misses
Franklin in Coventry. Mary Ann erwies sich als ernste, etwas
altkluge, eifrige Schülerin und blieb ihren Lehrerinnen lange in
freundschaftlicher Dankbarkeit verbunden.
183S kehrte sie nach Griff House zurück, und schon im
folgenden Jahre verlor sie ihre Mutter. Ihre Stiefsdiwester ver-
heiratete sich, Isaak kam nach Birmingham, den Vater hielten die
Geschäfte viel außer Haus — so war Mary Ann auf sich selbst
angewiesen. Frühreif, verschlossen, zur Sentimentalität geneigt,
gab sie sich bei dem äußeren Einerlei und der Abgeschieden-
— 5 —
heit des Landaufenthaltes ruckhaltstos einem überwuchernden
Innenleben hin.
Die strenge, gesunde Gottesfurcht, zu der sie in ihrer ersten
Kindheit angehalten wurde, hatte durch den Einfluß der altjüngfer-
lichen Lehrerinnen eine schwärmerisch-pietistische Färbung ange-
nommen. Sie grübelte theologischen Problemen nadi und steigerte
das Streben nach einem frommen, geheiligten Lebenswandel bis
zur Askese. Ihrein von Natur aus zu Stolz und Leidenschaft
geneigten Herzen fiel die Selbsterziehung nicht leidit Um e$
zu bändigen, übertreibt sie die Entsagung. Sie hat Sinn für
El^;anz und geht umher wie eine Eule, zum großen Mißveiignügen
des Bruders, das sie dann sdimerzlidi empfindet Als sie mit
ihm 1838 zum erstenmal in London weilt, interessiert Greenwich
Hospital sie mehr als alles andere; sie besucht kein Theater und
möchte Isaak selbst vollkommen unschuldige Vergnügungen ver-
sagen. Ihre rdigiöse OberspannMieit will nur für diie Ewigkeit
leben, sich ausschließlidi der Gottesverehrung widmen. Alles
andere sei gleichgültig. (Brief an Miss Lewis 18. Aug. 1 838.)« Das
Jahr darauf wurde sie in dieser Richtung noch durch das per-
sönliche Zusammensein mit Elizabeth Evans, der Frau ihres
Oheims Samuel, bestärkt. Beide Ehegatten waren eifrige Mettio-
disten, die Urbilder von Dinah Morris und Seth Bede. Die
Gottergebung, Demut und Selbstaufopferung der zarten kleiit«i
Frau machte auf Mary Anns empfänglidies Gemüt tiefen Ein-
drudc, obgleich sie sich bei ihren Disputen über Wesleyscbe und
Calvinistische Grundsätze nicht immer zu Eliz^d^etfas milder Nach-
sicht emporschwingen konnte. »Idi liebte sie sehr,'< schrieb
George Eliot später. »Sie war gütig zu mir, und ich konnte mit
ihr über mein Innenleben sprechen, das ich vor meiner ge-
wöhnlichen Umgebung fest verschloß."
Die Folge dieses Einverständnisses war, daß Mary Ann jetzt
sogar die Romanlektüre für schädlich hielt und daß ihre - nicht
allzu häufigen - poetischen Versuche, die in der Schule in
sentimentaler Lyrik bestanden hatten, jetzt die ziemlich hölzerne
Form religiöser Erbauungsgedichte annahmen. Das einzige er-
haltene, die Frucht eines einsamen Abendspazierganges durch die
— 6 —
Felder, erschien 1840 im Christian Observer unter der Chiffre
M.A. E^)
Oleichzeitig schwelgt sie in einer überschwenglichen, ge-
ffihlsduselnden Backfischfreundschaft und schüttet als »Clematis"
einer vergötterten Patty, die sie »Ivy« nennt, ihre. von theolo-
gischer B^eisterung und transzendentalen Gedanken erfüllte Seele
in zum Teil sehr unerquicklichen Briefen aus.')
Neben ihrer mit fachmännischer Gründlichkeit betriebenen
theologischen Lektüre findet sie noch Zeit und Lust, Musik-
unterricht zu nehmen und sich sehr bedeutende Kenntnisse im
Griechischen, Lateinischen, Hebräischen, Deutschen, Französischen
und Italienischen zu erwerben. Ihr Wissensdurst ist so groß
als ihre Leichtigkeit zu fassen, und sie wird eine Autodidaktin
im großen Stil.
Dabei nimmt die Wirtschaft, die sie dem Vater in muster-
gültiger Weise versieht, einen guten Teil ihres Tages in Anspruch.
Sie ist eine Sachverständige in der Milchkammer, und von ihren
schönen, durchsichtig weißen Händen vnrd die eine vom vielen
Käse- und Buttermachen größer - ein Zug, den sie auf Nancy
Lammeter ßilas Mamer) überträgt, wie sie denn auch diese
Kenntnisse in Adam Bede und Silos Mamer eingehend verwertet
hat Dasselbe Pfliditgefühl, das sie später im Größten bewährte,
ließ sie hier das Kleinste mit gleich ungeteilter Hingabe erfassen
und ihmobliegen mit dem ganzen Widerwillen ihrer Seele gegen
ein halb oder schlecht getanes Werk, In ihren Briefen hören
wir von „malheurs de aüsinef*, von denen sie zu Wordsworth
flüchtet Und ein andermal heißt es in der gespreizten Aus-
drudcsweise ihrer Jugendjahre: »Nähen ist mein Haupthandels-
artikel hn Verkehr mit dem rauhen Kauf manne Zeit<^
Aber alles das vermag sie nicht auszufüllen. In ihrem
Herzen ist überschüssige Kraft, die sie ängstigt, indem sie tastend
nach Betätigung ringt Sie , empfindet das rasitlose Arbeiten an
der eigenen Ausbildung als Egoismus, und das geringe Resultat
dieser Bestrebung beschämt sie. Sie wird von einer leidenschaft-
1) Gedruckt bei Gross, Life I, 61.
») Erschienen Poä Lore, Bd. VI.
liehen Sehnsucht verzehrt, ihren Mitwesen zu nützen. Im Sep-
tember 1841 schreibt sie an Miss Lewis: »Ich war recht ge-
demütigt bei dem Gedanken, wie furchtbar fragmentarisch die
Unterweisung wäre, die ich geben könnte, wenn ich auf eine
unzivilisierte Insel verschlagen würde und ihren Bewohnern aus
meinem eigenen geistigen Vorrat eine Literatur beisteuern sollte.
- Oh! etwas für die Wiedergeburt dieser stöhnenden, sich pla-
genden Schöpfung zu tun! Ich bin träge und dumm übersättigt
mit Wohlwollen, während man auf der Straße das verstörte Bild
und den durchbohrenden Blick der Entbehrung und der ihrer
selbst nicht bewußten Hoffnungslosigkeit sieht!«
Alle Munterkeit der Jugend fehlt in diesen Briefen, und
»der Most, der doch noch 'n Wein« geben sollte, gebärdet sich in
der Tat absurd genug in dem verschrobenen Backfischkopf.
II.
Da tritt Mary Anns Leben 1841 in eine neue Phase. Isaak
übernimmt Griff House, und sie übersiedelt mit dem Vater nach
Coventry. Zwar ist das Städtchen klein und das Haus der Evans
li^ außerhalb, an der Foleshill Road - aber immerhin, welcher
Unterschied zu Griff House! Und nicht lange, so ist sie ein
häufiger und gern gesehener Gast in Rosehill, dem Tuskulum des
Mr. Bray und seiner schöngeistigen Familie, von der eine nie
geahnte Fülle der Anregung auf Mary Ann ausströmt
Mr. Bray, ein reicher Bandfabrikant, fand seinen eigent-
lichen Beruf in der Philosophie. Er war ein klar denkender,
gut geschulter Kopf, nebenbei auch eifriger Phrenologe. 1841,
eben als Mary Ann — oder wie sie sich, seit sie erwachsen
war, lieber nannte, Marian - nach Coventry kam, beendete er
seine Philosophie des Notwendigen. Sie war eine Frucht des
Idealismus und Pantheismus, von der modernen Wissenschaft
beeinflußt. Bray hält Gott in allen Dingen für das Agens des
Lebens. Oberall trete die Forderung zutage, daß man dem
Persönlichen, Selbstischen entsage zugunsten des unendlichen
Ganzen.*) Das Problem, das er zu beweisen suchte, war im
*) Vergl. Cooke, Qeorge Eliot, a critiaü Study, 1883.
— 8 —
wesentlichen dasselbe, das die größten zeitgenössischen Denker,
Spencer, Comte, Buckle, fesselte: der Nachweis, daß der Mensch
als Individuum wie als Gesamtheit dem Gesetze ebenso unter-
worfen sei wie jedes andere Naturwesen, Durch Bray wurde
Marian zuerst auf diesen Gedanken hingewiesen, und verglichen
mit der ungeheuren Neuheit, die für sie in dieser Anschauung
lag, kam es wenig in Betracht, ob die Fassung, die Bray ihr
gegeben, ganz originell war oder nicht. Er durfte sich tat-
sachlich rühmen, den Grund zu George Eliots Philosophie ge-
legt zu haben; so neu war die Welt, die er ihr erschloß.^)
Indessen beschränkte sich der Einfluß, der von Rosehill
ausging, nicht auf ihn allein. Seine Gattin Caroline und deren
Schwester, Sara Hennell, waren beide schriftstellerisch tätige, geistig
hochstehende Frauen von lauterstem Charakter. Mrs. Bray war
die liebenswürdigere von beiden; ihre Schriften gehörten zum
Teile den Kindern (Philosophy for Sdhools, Duiy to Animals),
ihr Leben war eine unausgesetzte Betätigung der Aufopferung
und Nächstenliebe. Miss Hennell, von puritanisch -strenger Re-
ligiosität erfüllt, widmete sich der theologischen Schriftstellerei
(On Christianify and Infideli4y, Thoughts in Aid of Faith). Sie
übertrug die ganze Wärme ihres Empfindens auf die wissenschaft-
liche Untersuchung und meinte Mystik und Naturalistik verbinden
zu können. In täglichem Verkehr wurden beide bald wie
Schwestern für Marian, und sie blieb ihnen lebenslang dankbar.
Im November 1877 schrieb Marian an Sara: »Ich für mein
Teil fühle eine immer wachsende Dankbarkeit für die Freude und
Anregung, die eure Gesellschaft mir gab, und denke nur mit
Leid äaran, daß ich durch sie mehr hätte profitieren können,
wäre mein Geist gutem Einflüsse offener gewesen.«
Die anregendste Persönlichkeit des Kreises war indes Caro-
linens und Saras Bruder Charles Hennell, der Vertreter einer Reli-
gionsphilosophie, die auf dem Boden der deutschen Tübinger
Schule wurzelte. Seine Untersuchungen über den Ursprung des
Christentums bezweckten eine kritische Prüfung der Wunder und
eine Scheidung der historischen Elemente von. den mytholo-
») H. Conrad, Qeoi^ Eliot, ihr L^en und Sdwffen, S. 44.
— 9 —
gischen. Die Ersdieinung Christi wurde unter Absehung von
allem Übernatürlichen aus dem Charakter und der Geschichte des
jüdischen Volkes erklärt und sein Leben auf historischer Grund-
lage in der Art Renans erzählt Zur deutschen Übersetzung der
UnUrsüchungen schrieb Strauß ein Vorwort
Das Werk erregte Marians tiefstes Interesse. Es wagte sich
an dasjenige, was sie für unantastbar, über allen Zweifel erhaben
gehalten, und sie konnte doch nicht umhin, es zu bewundem.
Sie war in Rosehill eingeführt worden in der Absicht, durch ihre
felsenfeste Rechtgläubigkeit die Freidenker günstig zu beeinflussen,
und nun fühlte sie sich selbst magisch von deren Ideen angezogen.
Zwar gab es leidenschaftliche Diskussionen, die oft zu später
Stunde in wütender Stimmung abgebrochen und am andern Tage
in aller Freundschaft wieder aufgenommen wurden, aber Marian
war bald im Banne der philosophischen Gegner. Und einmal
überzeugt, gab es für sie kein Schwanken, keine Zurückhaltung.
Mit der ganzen Leidenschaft ihrer Jugend und dem stürmischen
Impuls ihrer Natur springt sie mit beiden Füßen aus dem ortho-
doxen anglikanischen Glauben in den Rationalismus hinüber und
fühlt sich wie von einem langjährigen Irrtum befreit Sie, die
mit dreizehn Jahren bei der Lektüre von Bulwers Devereux der
Gedanke entsetzt hatte, i»daß die Religion kein Requisit der
moralischen Vollkommenheit sein solle'', schreibt 1843 an Miss
Hennell: »Wenn die Seele eben von dem elenden Riesen-Dogmen-
bette erlöst ist, auf dem sie gestreckt und gemartert wurde, seit
sie zu denken begann, hat sie ein Gefühl des Jubels und starken
Hoffens«.
Kategorisch und bekennungsfreudig in der neu gewonnenen
Überzeugung will sie offen für sie eintreten und jeden Schein
der Heuchelei vermeiden. Sie gibt ostentativ den Kirchenbesuch
auf, der ihrem inneren Bedürfnis nicht mehr entspricht
In diesem Punkte aber verstand der alte Robert Evans
keinen Scherz. Marians Weigerung, dem Gottesdienst beizu-
wohnen, bedeutete für ihn ein Vergehen, das er unter seinem
Dache nicht dulden konnte, und eine heftige Auseinandersetzung
endete mit seinem Entschlüsse, das Haus zu verlassen. Um ihm
dies zu ersparen, begab Marian sich nach Griff House.
— 10 —
Aber nach drei Wochen trug die bessere Einsicht ihrer
nächsten und heiligsten Pflicht den Sieg über ihre religiösen Be-
denken-davon. Sie kehrte heim und nahm dem alten Vater zuliebe
den Kirchenbesuch wieder auf, ohne jedoch sonst ihre rationalistische
Oberzeugung zu verleugnen, die indes sehr bald ihre aggressive
Schärfe verlor. Die gehässige und feindselige Aufwallung g^;en
die Kirche war in der Tat nichts als eine ihrem innersten Wesen
fremde und nur durch die ungeheure Gärung in ihrem Innern
erklärliche Verstimmung des Augenblicks. »Was die Formen der
Zeremonie betrifft/' schrieb sie 1860 an Madame Bodichon, »be-
dauere ich nicht, daß jemand in ihnen Trost suche, wenn er
Trost darin finden kann; ich selbst freue mich sympathetisch an
ihnen.« Und 1875 an Mr. Gross: »Sprächen nicht Gründe da-
g^en, daß ich einer solchen Neigung folgte, ginge ich immer
in die Kirche oder in eine Kapelle, des köstlichen Gefühls der
Gemeinschaft wegen, das mich in religiösen Versammlungen
überkommt«
Die Bibel blieb für sie zeitlebens das heilige Buch, mit
dem sie ihre tägliche Lektüre zu beginnen pflegte.
1 844 machte Marian sich an eine Übersetzung von Strauß'
LAen Jesu, die Hennells Braut, Miss Brabant, übernommen
und bei ihrer Verlobung aufgegeben hatte. Die Arbeit zog sie
zuerst sehr an, wurde ihr aber im späteren Verlauf mitunter zu
einer Last, unter der sie stöhnte. Wir hören bald von dem
»ledernen Strauß«, bald, daß sie »Strauß-müde« sei, was sie nicht
hinderte, das Werk mit eisernem Fleiße zu Ende zu führen. Es
erschien 1846 bei Chapman. In dem lateinischen Vorwort, das
Strauß verfaßte, rühmte er die Übersetzung als et aecurata et
perspicua, ein Lob, das Marian selbst hoch anschlagen mußte.
In Romola nennt sie die Exaktheit die Seele der Gelehrsamkeit
und in einem Briefe an Bulwer die Nachlässigkeit in der Schrift-
stellerei eine Todsünde.
Mrs. Bray malte Marian um diese Zeit^) Braune Locken
umrahmten den großen Kopf; das blasse Gesicht mit den aus-
drucksvollen aber derben Zügen beherrschte das sprechende grau-
>) M. Blind, Geo^ EUot, S. 40,
— 11 —
blaue Auge, dessen Farbe im Affekt dunkler wurde. Ihre Gestalt
war mittelgroß, schlank und kräftig; ihre Stimme melodisch, leise
und tief. Sie hatte den Dialekt» den sie in ihrer Kindheit sprach,
in der Schule der eleganten Misses Franklin mit der Schrift-
sprache vertauscht, die in ihrem Munde erst einen etwas preziösen
Klang hatte und nur allmählich zu einer gewählten, fließenden
und fesselnden Ausdrucksweise wurde. Sie war leicht erregbar
und konnte »eimervoU« Tränen weinen; doch war ihre Stimmung
im ganzen jetzt wesentiich heiterer als in den Backfischjahren.
»Ich glaube, es kann nicht viele geben, die aufrichtiger fühlen,
daß dies eine Welt der Wonne und Schönheit ist,« schreibt sie
(Sept 1842) an Miss Henndl; »d. h. daß Wonne und Schönheit
der Zwecke die Tendenz der Schöpfung sind und Übel die
Schatten, welche die einzigen Bedingungen des Lichtes bilden.«
Charakteristisch ist es dabei, wie abstrakt sie den Begriff
der Freude und des Wohlseins faßt, und wie sie ihn als ein tief
inneres psychologisches Moment aus scheinbar widersprechendsten
Ausdrucksformen herauszuschälen weiß. Im Januar 1 843 schreibt
sie z. B. an Sara: »Ich finde es, soweit man selbst in Betracht
kommt, fast beneidenswert, die Obhut ül)er eine Krankenstube
zu haben mit ihrem Zwielicht, ihrer Fußspitzen-Stille und ihrer
hilfreichen Oeschäftigkeit. Ich habe an solchem Schauplatz immer
ein besonders friedliches Gefühl gehabt"
Sie ist sich ihrer zunehmenden Reife angenehm bewußt.
»Ich fange eben an, in der Wissenschaft einige Fortschritte zu
machen,« schreibt sie im Mai 1844, »und ich hoffe, Youngs Theorie
zu widerlegen : daß der Schlüssel des Lel)ens, kaum daß wir ihn
gefunden, uns die Tore des Todes öffne. Jedes Jahr streift uns
wenigstens eine teure Hoffnung ab und lehrt uns an ihrer Statt
ein anderes Gut schätzen. Nimmer will ich es glauben, daß
unsere jüngsten Jahre unsere glücklichsten sind. Was für ein
elendes Zeichen für den Forlschritt der Rasse und die Bestim-
mung des Individuums, wäre unser gereifterer und erleuchteterer
Zustand der weniger glückliche! — Wir sind glücklicher, als da
wir sieben Jahre alt waren, und wir werden mit vierzig Jahren
glücklicher sein als wir jetzt sind — was ich für eine angenehme
Lehre halte, die es sich lohnt, zu glauben.«
— 12 —
Das glückliche Zusammenleben mit den Freunden in Rose-
hill, das noch in späten Jahren »wie ein sonniges Eiland^ in ihrer
Erinnerung lag, hatte ohne Zweifel diese glückliche Wandlung in
ihr bewirkt. Heiterkeit und Ernst kamen dort in wohltuender
Weise zu ihrem Recht, und auch an interessanten Bekanntschaften
fehlte es in dem gastfreien Hause nicht. Hier lernte Marian
Miss Martineau kennen, die > sie später auf ihrer anmutigen Be*
Sitzung The Knoll besuchte, wo sie die Heimstätten für Arbeiter
sah, die ihr bei Dorothea Brookes (Middlemarch) philantro-
pischen Plänen vorschweben mochten. In Rosehill traf sie auch
Emerson und schrieb begeistert, sie habe den ersten Mann gesehen.
1847 wendete sich das Blatt. Robert Evans erkrankte;
Marian betreute ihn in aufopfernder Pflege und führte durch
drei Jahre ein immer düsterer werdendes Leben an seinem
Krankenlager. Um einen Ruhepunkt für den Geist zu gewinnen,
übersetzte sie den Politisch Theologischen Traktat, eine Arbeit,
die sich bis in das Jahr 1856 hinzog und nicht veröffent-
licht wurde. Sie vermochte indessen Spinozas Philosofdiie nicht
unbedingt zu der ihren zu machen. Viele Einzelheiten seines
Systems stießen sie ab, so seine Verwerfung des Mitleids, der
ungeheure Wert, den er auf die Erhaltung des individuellen
Seins legt, u. a. m. In reifem Alter teilte sie auch seinen Pan-
theismus nicht mehr. Sie schrieb (8. Mai 1 869) an Mrs. Beecher
Stowe: »Durch Jahre meiner Jugend weilte ich in Träumen pan-
theistischer Art, in der falschen Meinung, dadurch meine Sym-
pathie zu erweitern. Aber von dieser Zeit bin ich weit hinweg-
gewandert.«
Immer unmittelbarer drohte ihr der Verlust des Vaters.
Am 31. Mai 1849 schrieb sie ins Tagebuch: «Was werde ich
sein ohne meinen Vater? Es wird sein, als wäre ein Teil meines
moralischen Wesens geschieden.« Und in derselben Nacht starb
Robert Evans. Marians Vereinsamung war eine bittere. Mit
ihren Geschwistern hatte sie keine Fühlung, die Brays nahmen
sich ihrer wohl liebevoll an, aber die Freundschaft allein ver-
mochte ihre Brust nicht auszufüllen. Dem unbestimmten großen
Wollen, das in ihr glühte, konnte das bloß rezeptive Studium
und die Obersetzerarbeit nicht genügen. Sie brannte von Sehn-
— 13 —
sucht nach einem unklaren, unbestimmten Ziele. Die Brays hatten
sie im Sommer nach der Schweiz geleitet; den Winter über
blieb sie allein in Genf zurück, trieb Musik, mathematische und
naturwissenschaftliche Studien und wurde von ihren Wohnungs-
gebem, dem Maler d'Albert Dürade und seiner Frau, mit Liebe und
Aufmerksamkeit umgeben. Aber die Leere in ihrem Innern füllte
sich nidit mit alledem. Sie wünscht sich »eine Frauenpflicht,
eine Möglichkeit, sich da zu widmen, wo sie ein tägliches Er-
gebnis reinen, stillen Segens im Leben eines andern sehen
könnte« (an Mrs. Bray, 4. Dez. 1849). Und als sie im März 1850
nach Engend zurückkehrt, fühlt sie sich heimatlos, beruflos, über-
flüssig, von Angst und Ungewißheit über ihre Zukunft geplagt.
Die Jahresrente von 80 — 100 £, die ihr der Vater hinterlassen,
reidit nicht zum Leben. Dem Kreise von Griff House ist sie
entwachsen, in Rosehill nur ein wenn auch noch so liebens-
würdig bewirteter Gast Was soll werden? Diesem Schwanken
wird von ungefähr ein Ende gemacht. Marian hatte einen
Aufsatz über Mackays Progress of tke Intelleä geschrieben, ein
rationalistisches Werk, das in dner Verschmelzung von Religion
utid Philosophie mit ihren eigenen Ansichten sympathisierte.
Diesen Aufsatz hatte sie der Westminster Review eingeschickt.
Und er erschien nicht nur schon im Januar 1851, sondern brachte
der Verfasserin eine Einladung zur ständigen Mitarbeiterschaft
als Gehilfin des Herausgebers Chapman. Marian schlug ein.
Nicht weil der Antrag sie lockte, sondern weil sie nichts Bes-
seres wußte.
HL
So siedelte sie 1851 nach London über, wohnte bei Chapman
und seiner Frau, arbeitete angesh-engt und - fühlte sich unglücklich,
Sie hatte die neuen Erscheinungen auf dem Gebiete der schönen
Literatur zu beurteilen und schrieb nebenbei noch längere Essays
über literarische und philosc^hische Themen. Alle zeichnen sich
durch Gründlichkeit, Ehrlichkeit und ein geistvolles Erfassen
des Stoffes aus; die Durchführung ist nicht selten langatmig und
schwerfällig, der Stil äußerst sorgfältig geglättet, aber mitunter
gekünstelt, mit allzu gesuchten Wendungen und unheimlich
— 14 —
langen Perioden. In dem Aufsatze über Cariyles Ufe of
Sterling Qzn, 1852) erklärt sie den Zauber des besprochenen
Werkes daraus, daß es nicht die gewissenhafte Erfüllung einer
anvertrauten Pflicht, sondern eine Arbeit der Liebe sei. Vielleicht
trifft sie damit den Orund der geringen Befriedigung, die ihr das
eigene Schaffen bereitete: es war nicht frei gewählt, es entsprang
keinem inneren Bedürfnis^ Die Zeit war noch nicht gekommen,
in der sie sagen durfte: »Ich will niemals etwas schreiben, dem
ich nicht aus vollem Herzen, Geist und Gewissen beistimme,
so daß ich fühle, es sei etwas - wenn auch etwas noch so
Kleines, - das in dieser kleinen Welt not tat, und d^aß ich ge-
rade das Organ für dieses kleine bißchen Arbeit war.'' (An
Blackwood, Mai 1861.)
Im Juni 1852 klagt sie den Freunden, daß sie mit Artikel-
lesen und Ausschnitten aus allerlei Werken zu Tode geplagt sei.
Im Januar 1853 ist sie auf dem Punkte, davon zu laufen; im
Februar möchte sie einen Schriftsteller, dessen Stil so breitspurig
ist \vrie seine Schrift, mit rotglühenden Spießen durchbohren; im
März ist sie drum und dran, über die nächste Nummer der
Review ihr Haar zu raufen •^: »Kurz, ich bin ein elender
Herausgeber! - Ich glaube, ich werde nie die Energie haben,
mich zu regen. Es scheint so belanglos, wo ich bin oder was
ich bin.«
Das Aprilheft der Review (1852) brachte den Aufsatz über
Margaret FuUer. Die Selbstbiographie der leidenschaftlichen und
genialen Frau zu lesen, hilft Marian über eigene böse Stunden
hinw^. Sie ist unsäglich gerührt über Margarets Ausruf: »Ich
werde immer durch den Verstand herrschen; aber das Leben,
das Leben! O, mein Gott, wird es niemals süß sein!« Und sie
dankt Gott wie für ein eigenes Glück, daß es zuletzt noch süß
ward. In einer feinen Charakteristik dieser komplizierten Natur
erkennt Marian hinter Margarets schrankenlosem Selbstgefühl viel
Selbstkritik und »viel weibliche Zärtlichkeit, die immer reifer und
milder wurde, bis schließlich wenige Frauen weiblicher waren
als Margaret Füller«. Es ist das höchste Lob, das sie einer Frau
zu erteilen vermag.
Marians Mi^liedschaft bei^ der Redaktion der Westminster
— 15 —
Review fällt in die Blütezeit dieses Blattes. Seine Mitarbeiter
setzten sich aus den eriesensten Ödstem Englands zusammen,
und da Herr und Frau Chapman alle vierzehn Tage literarische
Freunde bei sich sahen, kam sie sogleich in den Kreis, der ihren
eigenen Fähigkeiten entsprach« Noch 1850 lernte sie Herbert
Spencer kennen, der, damals 31 Jahre alt, eben seine Sodal
Staues vollendet hatte, die bereits den Grundriß oder richtiger
die Quintessenz seines ganzen philosophischen Systems enthalten.
Marian bewunderte sein Werk außerordentlich, ohne aber daraus
eine entscheidende Anregung zu schöpfen. Sie besaß, wie er
sagt, damals schon jene Breite der Kultur und jene Universalität der
Fähigkeiten, die sie seither in aller Welt bekannt gemacht haben.
Ihre eigenartige Verbindung von hohem Geist und echt weib-
lichem Wesen hielten ihn gewöhnlich den ganzen Abend an ihrer
Seite. Bald holte er sie auch zu gemeinsamen Theaterabenden
und Spaziergängen ab. Sie selbst nennt ihn ein gutes, reizendes
Geschöpf, in dessen Nähe sie sich stets besser fühle (ain die Brays,
April 1852); und im Mai 1852 schreibt sie: »Der lichteste Punkt
ist mir neben der Liebe alter Freunde die köstliche Freund-
schaft, die Herbert Spencer mir widmet. Wir sehen uns t^lich
und haben in allem eine reizende Kameraderie. Ohne ihn wäre
mein Leben öde genug l*«
»Ihr Gesicht«, erzählt Spencer, »überraschte in der Ruhe
durch Kraft; ein Lächeln veränderte es auffallend. Bei vielen ist
das Lächeln nur ein Zeichen der Unterhaltung. Bei ihr aber
vermengte es sich gewöhnlich mit einem Ausdruck der Sympathie
- entweder für die Person, die sie anlächelte, oder für die
Person, über die sie lächelte.«
Er preist ihre Selbstbeherrschung, die zu fast dauernder
Gleichmäßigkeit der Laune führe; nur dnmal habe sie in seiner
Gegenwart eine nicht unberechtigte Gereiztheit etwas zu sehr
gezeigt. »Unter allen Umständen gewissenhaft und gerecht und
infolge dessen über jedes Unrecht empört, war sie nichtsdesto-
weniger gegen menschliche Schwächen so tolerant, daß sie rasch
vergab und zu einer entschiedenen Mißbilligung harter Urteile
neigte. Dieser Zug war, glaube ich, zum Teil durch ein t>e-
ständiges Studium ihrer eigenen Fehler verursacht - Sie klagte,
— 16 —
von einem Dof^Ibewußtsein geplagt zu werden, eine Strömung
von Selbstkritik begleite gewöhnlich alles, was sie sage oder tue.
Und dies führte natürlich zur Selbstherabsetzung und zum Selbst-
mißtrauen. - Wahrscheinlich war es diese letztere Eigenheit, die
sie abhielt, ihre Fähigkeiten zu entfalten. Man mußte sie all-
mählich und zufillig entdecken.«
Spencer rühmt Marfans Gedächtnis, ihre rasche Auffassung;
ihre Phantasie dagegen sei weniger rege gewesen, ihre spekulative
Begabung mehr kritisch und analytisch als synthetisch. »Doch
auch so waren ihre philosophischen Fähigkeiten hervorragend.
Ich habe nur wenige Menschen gekannt, mit denen ich eine
philosophische Frage zu größerer Befriedigung erörtern konnte.
Die Fähigkeit abstrakten Denkens geht selten Hand in Hand mit
der Fähigkeit konkreten Vorstellens - selbst bei Männern; und
bei Frauen, glaube ich, hatte eine Vereinigung beider, wie sie in
ihr bestand, niemals ihresgleichen."
Spencer behauptet, Marian Evans weder damals noch später
munter gesehen zu haben. Ihr Witz und Humor sei nur selten
zum Durchbruch gekommen und die Ruhe einer ihrer charakte-
ristischen Züge gewesen. »Niemals nahm man an ihr ein Zeichen
geistiger Erregung, noch weniger geistiger Anstrengung wahr;
sondern der Eindruck, den sie immer hervorbrachte, war der
latenter Kraft — die Ideen, die von ihr ausgingen» waren offen-
bar die Produkte einer großen, leicht arbeitenden Intelligenz.
Und doch war diese große, leicht arbeitende Intelligenz, deren
sie sich bewußt sein mußte, von keinem sichtbaren Selbstvertrauen
begleitet Eine Meinungsverschiedenheit äußerte sie häufig auf
eine halb entschuldigende Weise.«
»Ich vermute, es war ihr Mangel an Selbstvertrauen, der
sie damals meiner Anregung, Romane zu schreiben, widerstehen
ließ. Ich glaubte in ihr viele, wenn nicht alle nötigen Quali-
fikationen in hohem Orade zu erkennen: rasche Beobachtung,
eine starke Analysierungsgabe, ungewöhnliches, rasches Eindringen
in den Gemütszustand anderer, weites, tiefes Mitgefühl, Witz und
Humor und umfassende Bildung. Sie glaubte nicht, die erforder-
lichen Gaben zu besitzen.«
— 17 —
»Da wir häufig zusammen gesehen wurden, zogen die
Leute natürlich ihre Schlüsse. Sehr leichte Beweise genügen der
Welt gewöhnlich zu positiven Folgerungen, und hier schienen
die Beweise stark. Natürlich kamen daher ganz bestimmte Be-
hauptungen in Umlauf. Es gab Gerüchte, ich wäre in sie ver-
liebt, und wir würden uns heiraten. Aber keines dieser Gerüchte
war wahn«^)
Was in bezug auf Spencer der Wahrheit entbehrte, war
indessen um so begründeter in bezug auf Spencers Freund George
Henry Lewes, einen Literaten von seltener Vielseitigkeit und
Beweglichkeit des Geistes. Lewes war um zwei Jahre älter als
Marian (geb. 1817), ein liebenswürdiger, heiterer und anregender
Charakter, eine jener begabten Naturen, die ihre Fähigkeit in
kleine Münze prägen und zu jeder Stunde verschwenderisch
ausstreuen. Sein Leben war voll abenteuerlicher Abwechslung
gewesen; er war hintereinander Kaufmann, Schauspieler, Journalist,
Dramatiker. Seine Romane Ranthorpe und Rose, Blanche und
Violett, hatten ihm einen literarischen Namen gemacht. Nun-
mehr gab er den Leader heraus, versuchte sich aber auch gleich-
zeitig, und mit Glück, als wissenschaftlicher Schriftsteller in der
Biographical History of Philosophy, die zum Teil aus früheren
philosophischen Aufsätzen zusammengesetzt wurde; der hinein
[ verarbeitete Essay über Spinoza (Westminster Review 1 843) war so
j ziemlich der erste in englischer Sprache.
' Seine Freunde neckten ihn über die quecksilberne Unrast
\ seines Geistes. Thackeray sagte, es würde einen nicht wundem,
[ ihn in Piccadilly auf einem weißen Elefanten reiten zu sehen.
I Ein anderer verglich ihn dem Ewigen Juden ; man wisse nie, wo
er auftauchen und was er zunächst tun würde.*) Trotz seiner
geistigen Vielgeschäftigkeit entging er bis zu einem gewissen
I Grade der Gefahr dilettantischer Oberflächlichkeit, und die An-
j regung, die er auf den verschiedensten Gebieten gegeben - er
j wandte sich später von der Literatur und Philosophie zu den
I Naturwissenschaften — sichert seinen Arbeiten, wenn sie auch
f überholt sind, ein dauerndes Verdienst.
^) H. Spencer, Autobhgraphy, I, 394—397.
I *) Blind, S. 84.
Wissenschaft!. Frauenaiteitcn. IV. V. Ricliter, Eliot. ^
— 18 —
Im persönlichen Umgang gab Lewes wohl sein Bestes.
Seine Konversation war brillant und fesselnd; er war durch und
durch eine interessante Persönlichkeit, und der Anflug von
Zigeunertum, der ihr anhaftete, war, wie A. Th. Trollope ^) gewiß
richtig vermutet, für die in spießbürgerlich exakten Verhältnissen
herangewachsene Marian ein pikanter Reiz mehr. Dazu kam,
als sie ihn kennen lernte, die anziehende und verklärende
Macht eines großen Unglücks. Seine schöne junge Frau hatte
ihn mit seinem Freunde hintergangen. Er vergab ihr; aber bald
darauf verließ sie ihn wieder, um dauernd mit jenem zu leben.
Lewes stand mit seinen drei kleinen Knaben vor einem
zerrütteten, heimatiosen Leben, ohne Halt, an allem verzwei-
felnd. Da hatte nun Marian das Frauenlos und die Frauenpflicht
vor sich, nach der sie so sehnsuchtsvoll ausgeschaut. Da waren
die Menschen, die ihrer bedurften, denen sie alles werden, denen
sie das große Liebesopfer ihres ganzen Seins bringen konnte.
Aber der Mann, der verlangend und hilfeflehend die Arme nach
ihr ausstreckte und zu dem ihr Herz sie zog, hatte bereits
eine Frau. Wenn er auch in seinem Innnern unwiderruflich und
für immer von ihr geschieden war - sie hatten ihren gemein-
samen Haushalt schon vor zwei Jahren aufgelöst^) — vor dem
Gesetze war er an sie gebunden. Es gab damals in England
noch kein Ehescheidungsgericht. Das gesetzliche Verfahren zur
Erlangung der Scheidung war so umständlich und so überaus
kostspielig, daß es nur einen Luxus für sehr reiche Leute bildete
und in diesem Falle von vornherein nicht in Betracht kommen
konnte. Marian und Lewes mußten sich mit ihrem Gewissen
abfinden oder aufeinander - auf den Inhalt und das Glück ihres
Lebens — verzichten.
Lewes war, wie Marian, eine impulsive Natur, mit Feuer-
eifer bei allem, was er erfaßte. Doch scheint die Neigung, zum
mindesten in ihr, nicht auf den ersten Blick erwacht zu sein.
Im April 1853 schreibt sie nach Rosehill: «Mr. Lewes ist be*
sonders freundlich und aufmerksam und hat meine ganze Achtung
*) What I remember, U, 299.
*) Mottram, The true Story of George Eliot, S. 272, 274. H. H. Bonneil,
Charlotte Bronte, Qeorge Eliot, Jane Aasten, 192, S. 188.
— 19 —
gewonnen, nachdem er ein gut Teil Tadel von mir davontrug:
Er ist, wie einige wenige andere Leute auf dieser Welt, viel besser
als er scheint; ein Mann von Herz und Gewissen, der die Maske
der Frivolität tragt« Im übrigen ist es auffallend, wie späriich
er in den Briefen erwähnt wird.
1853 arbeitete Marian an einer Übersetzung von Feuer-
bachs Wesen des Christentums, die 1854 bei Chapman erschien,
das einzige ihrer Bücher, das auf dem Titelblatte ihren Namen
trägt Ihrem Gemüte, das sich vom christlichen Dogma entfernt
hatte, aber niemals von der christlichen Ethik, mußte in dieser
Zeit innerer Kämpfe ein Werk wohltun, in dem das echt Mensch-
liche als das wahre Wesen der Religion bezeichnet wurde, alles
Übermenschliche hingegen als Täuschung. Feuerbach, der Philo-
soph des Humanismus, erblickte die Aufgabe der neuen Zeit in
der »Verwandlung und Auflösung der Theologie in die Anthro-
pologie". Gott ist des Menschen eigenes Wesen; Religion ist
das Verhalten des Menschen zu sich selbst; Liebe bewährt sich
im Leiden; für andere leiden ist göttlich.
Aber noch mehr als Feuerbach fesselte sie Auguste Comte,
der wohl überhaupt unter allen Philosophen, die sie beeinflußt,
weitaus an erster Stelle steht Gross sagt, er erinnere sich nicht,
daß er sie von irgend jemandem mit einem dankbareren Gefühl
der Verpflichtung für erhaltene Aufklärung reden gehört hätte.
Ohne sich den Kulturgebräuchen der Positivistengemeinde je zu
fügen — Lewes nannte sie eine ehrfürchtige Ketzerin — wurde
sie doch tatsächlich eines ihrer überzeugtesten Mitglieder, und
ihr eigenes Denken und Fühlen bewegte sich allmählich so völlig
in positivistischer Richtung, daß sich ihr geistiges Eigentum von
dem Comtes nicht mehr auseinanderhalten ließ.
Sie mochte schon durch Miss Martineau, Comtes erste
englische Übersetzerin, mit ihm bekannt geworden sein. Nun
wurde sie durch Lewes, den größten Förderer des Positivismus
in England, eingehend in diese Lehre eingeführt, während Spencer,
den sie ihrerseits dafür gewinnen wollte, neutral blieb. Im Posi-
tivismus tritt noch mehr als bei Feuer bach der Kultus der
Menschheit an die Stelle der Gottesverehrung. Gott, »das große
Wesen«, ist die Menschheit Die Nächstenliebe wird zur Grund-
— 20 —
bedingung jeder anderen Tugend; Comtes Grundsatz ist vive
poar autruil Altruismus ist das Schlagwort des Positivismus.
Die geistige Entwicklung des Menschen verstärkt seine Herr-
schaft über die Leidenschaften und bedeutet insofern für sein
Handeln eine Steigerung der Nächstenliebe. Die Nächstenliebe
ist die höchste Pflicht, die über der willkürlichen persönlichen
Neigung steht Nicht der eigene Vorteil, sondern das allgemeine
Wohl muß nach positivistischer Moral den Ausschlag geben; und
so ist auch das Glück des einzelnen innigst verwebt mit seinem
Wohlwollen für die Gesamtheit. John Mill nennt Comte einen
von Moral trunkenen Mann; aber es ist nicht die Moral des
orthodoxen Kirchendogmas.
Unter diesen Einflüssen stand Marfan, als der unglückliche
und leidenschaftliche Lewes mit dem Vorschlage an sie herantrat,
sich ihr eigenes Gesetz zu schaffen. Sie kämpfte den Kampf
der Entscheidung allein. Ihre Briefe. an die Brays enthalten keine
Andeutung darüber, sie hatte von dort auf kein Verständnis in
dieser Sache zu rechnen. Das ganze Milieu, in dem sie heran-
gewachsen war, ihre eigene Kindheit und Jugend stemmten sich
gewissermaßen gegen den Schritt. Ein Wegwerfen ihres Vorlebens
nennt ihn Herbert Spencer und betont, wie sehr ihr Geist da-
durch in einen Zustand des Antagonismus versetzt wurde, der
bei ihrer angeborenen Sehnsucht nach Obereinstimmung für sie
ein Leiden bedeutete. Und dennoch tat sie den Schritt, tat ihn
bewußt mit ihrer reifen, wohlgeschulten Überlegung. Zwei
Momente mochten dabei den Ausschlag geben: der altruistische
Wunsch, vier Menschenleben zu retten; eine Sehnsucht, andern
zu nützen, die nicht ohne Anflug von Selbstaufopferungsfreude
war. Sie sah sich nun vor die Möglichkeit gestellt. Großes
zu leisten. Sie verdrängte keine Frau von ihrem Platze, sie
schädigte niemanden - außer sich selbst. Daß sie dies tat, mußte
ihr bewußt sein. Sie brach mit allem, woran ihr Herz bisher
gehangen. Aber je mehr sie selbst der gebende Teil war, um
so mehr handelte sie andererseits im Einklang mit ihren Prin-
zipien. Sie hatte übrigens schon 1 848, als Jane Eyre die Gemüter
erregte, gefunden, Rochester sei berechtigt, eine neue Ehe einzu-
gehen, obgleich alle Janes Benehmen gegen ihn musterhaft fänden.
— 21 —
Das zweite Moment, das Marian bewog, Lewes' Drängen nach-
zugeben, war ihre durch und durch weiblich-impulsive Natur.
Sie war dreißig Jahre alt geworden und hatte das Glück der Liebe
schmerzlich entbehrt. Jetzt winkte es ihr und sprach laut zu ihr.
Seine Lockung war stärker als alle Mahnungen der Vernunft oder
Sitte. Wie sie der Enthusiasmus für eine neu gewonnene reli-
giöse Überzeugung vermocht hatte, sich mit einem jähen Riß
von den Traditionen der Kindheit loszulösen, so jetzt der Enthu-
siasmus der Liebe.
Im Mai 1854 deutet sie den Freunden in Rosehill die
Möglichkeit an, daß ihr eine Reise auf den Kontinent - oder
zwanzig andere Dinge - erwünscht sein könnten. Am 1 0. Juli
heißt es: nlch werde euch bald einen Abschiedsgruß schicken,
denn ich bereite mich vor, abzureisen." Und am 20. teilt sie
in einem lakonischen Billett mit, daß ihre Adresse für die nächsten
sechs Wochen Weimar sei. Daß sie mit Lewes fahre und daß
es eine Hochzeitsreise sei, war nicht gesagt, und Mr. Gross deutet
nicht an, daß die Brays durch mündliche Mitteilung unterrichtet
oder vorbereitet gewesen wären.
Einem Gerücht zufolge hätten Lewes und Marian sich in
Deutschland trauen lassen.^) In England war dk Trauung, selbst
wenn sie vollzogen ward, ungültig. Aber sie waren von vorn-
herein entschlossen, ihre Verbindung vor der Welt als das hin-
zustellen, was sie tatsächlich war: als eine überlegt und über-
zeugt eingegangene Ehe; und sie forderten ihre Anerkennung als
solche von allen, die mit ihnen verkehren wollten. Marian führte
Lewes' Namen; sie war seinen drei Söhnen eine gute, liebevolle
Mutter, und sie hingen in Dankbarkeit an ihr. Charies, der älteste,
erklärte später verleumderischen Behauptungen gegenüber: »Sie
fand ein zerstörtes Leben und machte daraus ein schönes. Sie
fand uns als arme kleine, mutteriose Knaben, und was sie für
uns tat, weiß niemand auf Erden.«*)
In einem Briefe, der den Brays die Augen über die wahre
Beschaffenheit ihrer Verbindung öffnen soll, sagt sie (Sept 1855):
^Wenn es in meinem Leben eine Beziehung oder eine Handlung
«) Mottram, 276.
*) Mottram, 279.
— 22 —
gibt, die tief ernst ist und immer sein wird, so ist es mein Ver-
hältnis zu Mr. Lewes. Schwache, leicht zerbrechliche Bande
wünsche ich weder in der Theorie, noch könnte ich in der
Wirklichkeit für sie leben. Frauen, die solche Bande befriedigen,
handeln nicht, wie ich es tat Daß jemand, der nicht weltlich,
nicht abergläubisch und mit dem realen Leben hinreichend be-
kannt ist, mein Verhältnis zu Mr. Lewes unmoralisch finden kann,
wird mir nur durch die Erwägung verständlich, wie fein und
verwickelt die Einflüsse sind, welche eine Meinung bilden.«
Die beste Rechtfertigung ihrer eigenmächtigen Tat war, daß
sie sie zu einer glücklichen Ehe im vollsten und höchsten Sinne
des Wortes gestaltete. Sie hatte bei Feuerbach gelesen, die Ehe
allein sei eine religiöse, die zugleich eine wahre sei und dem
Wesen der ehelichen Liebe entspreche. Dieses Wort des deutschen
Denkers übertrug sie nicht nur in ihre Sprache, sondern auch
in ihr Leben. Sie hatte über das unbedingte Zusammenstehen
von Mann und Frau schon als Backfisch die entschiedensten An-
sichten gehabt. In einem der »Clematis-Briefe« (30. Juli 1840)
heißt es: »Was sollte wohl eine Frau sein, wenn nicht treu, hin-
gebend und bis ans äußerste fest zu ihm haltend, selbst wenn
die prächtigen Zweige, die in den Augen aller die Schönheit der
Eiche bildeten - (der Mann wird als kräftige Eiche personifiziert)
- entlaubt und welk sind?«
So schrieb Lewes am 28. Jan. 1859 in sein Tagebuch:
»Ich habe gegen Spencer eine Dankesschuld. Seine Bekannt-
schaft war der hellste Strahl in einer sehr unglücklichen Periode
meines Lebens. Ich hatte jeden Ehrgeiz aufgegeben, lebte von
der Hand in den Mund und ließ es an dem Übel des Tages
genug sein. Der Stimulus seines Geistes weckte wieder meine
Energie und belebte meine schlummernde Liebe zur Wissenschaft.
— Ich schulde Spencer noch ein Anderes, Größeres. Er war
eSj durch den ich Marfan kennen lernte. Sie kennen, hieß sie
lieben — und seitdem war mein Leben wiedergeboren. Ihr ver-
danke ich all mein Gedeihen, all mein Glück. Gott segne sie!«
IV.
Am Tage ihrer Abreise begann Marfan ein Tagebuch. Lewes
— 23 —
war schon früher einmal in Deutschland gewesen. Er hafte sein
Leben Qoethes in der Arbeit, das er nun in Dichters Landen
vollenden wollte. Den längsten Aufenthalt nahmen sie in Weimar
und in Berlin. Dort gingen sie Qoethe-Erinnerungen nach, be-
suchten pietätvoll den geistig schon halb erloschenen Eckermann
und ließen sich von Liszt bezaubern. Hier wurden sie bei Varn-
hagen in einen Kreis erlesener Oeister eingeführt, in dem sie
sich heimisch und angeregt fühlten.
Der literarische Ertrag der deutschen Reise war für Marfan:
Three Months in IT^fZ/Tior (Fräsers Magazine 1855), Oerman WH:
Heinrich Heine {Westminster Review 1856) und The natural
History of Oerman Life: Riehl {Westminster Review 1856). Ob-
zwar sie sich alle Mühe gibt, den Eigenschaften und Verdiensten
der Deutschen gerecht zu werden, bekunden diese Aufsätze im
ganzen nicht viel Sympathie. Die traditionellen komischen Seiten
der Deutschen werden in der landläufigen Weise lächerlich ge-
macht. Der typische Deutsche ist für sie der Vetter Michel, den
das endloseste endloser Trauerspiele höchst fesselnd dünkt, das
schwerste schwerer Bücher gründlich und die langsamste Reise
im Postwagen nicht langweilig, weil er um so mehr Zigarren
rauchen kann, bevor er ankommt. Ein deutsches Lustspiel ist
wie ein deutscher Satz; man sieht nicht ab, warum sie je ein
Ende nehmen sollten, und erblickt in dem Schluß mehr eine
gdttliche Fügung als ietwas anderes. Das weite Ausholen in diesen
Aufsätzen, das Heranziehen von Vergleichen aus entlegenen Ge-
bieten verrät den Einfluß von Lewes, während zugleich ihre
eigene reife Persönlichkeit in zahlreichen direkten Äußerungen,
die sie sich gestattet, imponierend und anziehend hervortritt
Indes wurde auch, abgesehen von diesen unmittelbaren
Ergebnissen der Reiseeindrücke, fleißig gearbeitet. Marian half
treulich den Lebensunterhalt für Lewes' Kinder und deren Mutter
(die sie beide überlebte)^) gewinnen. »Wir führen kein Leben
der Genußsucht,« schreibt sie in dem schon erwähnten Brief an
Mrs. Bray (Sept. 1855); »ausgenommen, daß wir, ineinander
beglückt, alles leicht finden. Wir arbeiten schwer, um für andere
«) Mottram, S. 272.
— 24 —
besser zu sorgen, als wir für uns selbst sorgen, und um jede
Verantwortung zu erfüllen, die uns obliegt.« So verfaßte sie
eine Reihe von Zeitschriftenaufsätzen, die, wenn sie auch nicht
als Selbstzweck entstanden und von ihr selbst nur zum kleineren
Teil eines Wiederabdrucks gewürdigt wurden, dennoch durch die
Fülle der eingeflochtenen Betrachtungen über alle Gebiete mensch-
licher Erfahrung selbständiges Interesse beanspruchen können.
Der universelle Oeist der Verfasserin tritt in ihnen bereits voll zutage.
Vor allem fesseln natürlich ihre Äußerungen über die Entwicklung
des weiblichen Geschlechts und speziell über schriftstellemde
Frauen. Sie zieht (SiUy Novels by Lady Novelists, Leader,
Oktober 18S6) zornig gegen das nichtige, eitle Geschwätz affek-
tierter weiblicher Autoren zu Felde, gegen die Schriftstellerinnen,
f/ welche glauben, verblüffender Mangel an Kenntnissen sowohl in
der Wissenschaft wie im Leben sei die beste Qualifikation zu
einem Urteil über spekulative und sittliche Fragen«. Sie fordert
für die schriftstellernden Frauen das volle nachsichtslose Ausmaß
der Strenge. Denn wer einen unparteiischen Einblick in die
Erzeugnisse schriftstellemder Frauen hat, müsse sich darüber klar
sein, daß ihre größten Mängel nicht durch das Fehlen intellek-
tueller Kraft verschuldet würden, sondern durch das Fehlen jener
moralischen Eigenschaften, die zu literarischer Vorzüglichkeit bei-
tragen : des geduldigen Fleißes, des Gefühles der Verantwortlich-
keit, das die Publikation mit sich bringt, des Würdigens der
Heiligkeit der Schriftstellerkunst.
Ein anderer Aufsatz, WorldUness and Other-Worläliness
(18S7, Westminster Review) enthält eine scharfe Verurteilung
des Dichters Young. Marian erblickt in ihm ein typisches
Beispiel jener Verwechslung des interessierten Gehorsams, der
den Egoismus Religion tauft, mit der sympathetischen Empfindung
und erkennt in seiner Oberweltlichkeit yiel eitel weltliche Triebe.
Im März 1855 waren Lewes und Marian wieder in London.
Gedrückte Verhältnisse, erzürnte Freunde, eine erschütterte soziale
Stellung harrten ihrer. Die Brays, von deren Freundschaft Marian
geglaubt hatte, sie müsse unverändert so lange dauern wie sie
selbst (an Miss Hennell, April 1852), konnten über ihre Verletzung
der Sitte nicht hinweg. Der briefliche Verkehr wurde allmählich
— 25 —
wieder aufgenommen, aber das alte herzliche Sichgehenlassen war
für immer dahin. Marian empfand den Verlust der Freunde
bitter, wenn ihr im übrigen auch die gesellige Zurückhaltung,
die ihr die Verhältnisse auferlegten, nicht schwer fiel. »Es war
mir niemals eine Prüfung,« schreibt sie im April 1861 an Mrs.
Taylor, »von dem, was man die Welt nennt, abgeschnitten zu
sein, und ich glaube nicht, daß ich darum eines meiner Neben-
geschöpfe weniger liebe. Dennoch muß ich jenen stets eine be-
sondere Hochschätzung bewahren, die mir damals in Wort oder
Tat Freundlichkeit erwiesen haben, als nicht der geringste Beweis
zu meinen Qunsten sprach. Die Liste derer, die es taten, ist
eine kurze, so daß ich sie oft und leicht wiederholen kann."
Tatsächlich entschädigte sie das von Jahr zu Jahr inniger
werdende Zusammenleben mit Lewes für alles. Er widmete ihr
jene zärtliche, schützende Fürsorge, die sie ersehnt hatte. Denn
sie wollte gegängelt, gehätschelt, vor der rauhen Außenwelt
behütet sein, wie die Schwächste ihres Geschlechts. »Ich will
nicht nur geliebt sein, man soll es mir auch sagen, daß man
mich liebt«, schreibt sie an Mrs. Bume Jones (1875). Ein Zug
weiblicher Unmündigkeit blieb zeitlebens in ihr vorherrschend.
Sie war schreckhaft, ängstlich, unselbständig in der äußeren Hand-
habung des Lebens, überempfindlich gegen Tadel, sie bedurfte der
kräftigen, stützenden, führenden Männerhand, die Lewes ihr willig
gewährte. Er wachte über ihre zarte Gesundheit, besorgte ihre
Geschäftskorrespondenz, verschaffte ihr das wissenschaftliche Ma-
terial zu ihren Arbeiten, sichtete die Kritiken ihrer Werke und
ließ sie davon nur sehen, was ihr inneres Gleichgewicht nicht
gefährdete. Seine optimistische Natur bot ihrer zur Schwermut
neigenden die glückliche Ergänzung. Im Gegensatz zu ihrer Ver-
zagtheit während des Schaffens beglückte ihn die Arbeit. Sein
enthusiastischer Glaube an ihren Genius half ihr in den Stunden
der Niedergeschlagenheit, denn sie »meinte nie, daß das, was
sie schreibe, etwas tauge, bis andere es ihr sagten, und dann
schien es ihr, als würde sie nie wieder etwas Lesenswertes
schreiben«. Ebenso glückiidi ergänzten und förderten einander
ihre mannigfaltigen Studien. Und diese gegenseitige Anregung
wuchs und vertiefte sich mit den Jahren. »Sie kennen das Glück
— 26 —
eines solchen Zustandest schrieb sie (Mai 1876) an Mrs. Beecher
Stowe, »wenn Mann und Frau dem eigenen Werke nachgehen,
aber jedes gern von dem Fortgang des andern unterrichtet
sein will."
Und Hand in Hand mit diesem Ober- und Aufgehen in
emander schritt zugleich der Respekt vor der Individualität, die
eines im andern in lauterer Unberührtheit zu erhalten wünschte.
Mit Recht wendet Trollope auf Lewes das Sprichwort an: Conus
Jamndus in via pro vehicuh est, und rühmt seine zarie, bis ins
kleinste gehende Fürsorge für Marian, seine schlaflose Wachsam-
keit, daß sie ihren Fuß an keinen Stein stoße. ^)
Lewes war ein vorzüglicher Kritiker. Er förderte sie auch
in dieser Hinsicht in glücklichster und verständnisvollster Weise.
Er hatte von je in sie gedrungen, es mit einer Novelle zu ver-
suchen. Unklar träumte sie wohl selbst immer davon, aber den
Plan ernst ins Auge zu fassen, konnte sie sich nicht entschließen.
Zu Papier brachte sie nicht mehr als ein einleitendes, ganz be-
schreibendes Kapitel, die Schilderung eines Staffordshire- Dorfes.
In der Beschreibung fühlte sie sich zu Hause, während sie sich die
dramatische Kraft im Aufbau und im Dialoge nicht zutraute.
Lewes teilte diese Befürchtung, obwohl er, als sie ihm in Berhn
ihr Staffordshire-Kapitel vorlas, von ihrer konkreten Darstellungs-
kraft betroffen war. Ihr Aufsatz über Evangelical Teaching:
Dn Cuffuning {Westminster Review 18S5), der eine leidenschaftliche
Polemik gegen zelotische Pfaffen enthält, gab Lewes jedoch die
Oberzeugung, daß Marian, die er bisher für ein großes Talent
gehalten, ein Genie sei. Er drängte sie nun zu einem neuen
Romanversuch, den sie in ihrem Selbstmißtrauen wieder und
wieder verschob. Eines Morgens aber, als sie, noch im Bette,
Ober ein Thema sann, sah sie sich im Halbschlummer eine No-
velle schreiben, deren Titel The sad Fortunes of the Rev.
Arnos Barton war. Lewes fand dies einen vorzüglichen Titel,
und sie beschloß nun, daß es ihr erster belletristischer Versuch
werden sollte. »Wir nahmen uns vor, meine Erzählung, wenn
sie gut genug würde, an Blackwood zu schicken. Aber George
») What I remember, 11, 269.
— 27 —
meinte, das wahrscheinlichere Ergebnis würde wohl sein, daß ich
sie beiseite legen und es mit einer andern versuchen müßte.«
Am 21. September 1856 begann sie Arnos Barton, und
als sie eine Woche später Lewes das Anfangskapitel vorlas, war
seine Besorgnis zerstreut Nur ein Bedenken hegte er noch : ob
sie auch Pathos habe. Da schrieb sie eines Abends, während
er nicht zu Hause war, die Szene von Millys Tod. Und als
sie sie ihm noch in später Stunde vorlas, weinten sie beide
darüber. Dann kam er auf sie zu, küßte sie und sagte: »Ich
glaube, dein Pathos ist besser als dein Scherz!« Am 5. November
war Arnos Barton vollendet und wurde von Lewes tags darauf
als die Arbeit eines Freundes an Blackwood geschickt mit dem
Zusätze, daß seines Erachtens seit dem Vicar of Wakefield
nicht soviel Humor, Pathos, Lebhaftigkeit der Darstellung und
Schärfe der Beobachtung an den Tag gelegt worden sei.
Marfan hatte ihre Essays nie unterzeichnet, weil sie fürchtete,
ihren Eindruck zu schwächen, wenn sie als die Erzeugnisse eines
weiblichen Autors bekannt würden. Als sie nun dem Verleger
gegenüber nicht namenlos bleiben konnte, wählte sie das Pseu-
donym George Eliot. Sie selbst zögerte so lange wie möglich,
ihre persönliche Identität mit George Eliot zu bekennen.
Sie war 37 Jahre alt, als sie ihre erste Prosadichtung wagte.
Sie begann in einem Alter, in dem andere ihren Höhepunkt
häufig überschritten haben. Die schönsten Jahre hatte Pegasus
im Joche gefront, das Dichtergemüt in der Redaktionsstube ge-
fangen gesessen. Aber die lange, mühsame Vorbereitung schien
ihre Fähigkeiten nur desto köstlicher gereift zu haben. Ihre
Frische war unverbraucht, ihre Kraft in reicher Fülle aufgestapelt
Und mit dem ersten Wurfe war auch alles für sie gewonnen.
Kampflos, künstlerisch fertig und ausgestaltet sprang sie, eine zweite
Pallas, mitten in den Ruhm hinein. Sie hatte einen Verleger
gefunden, der bald zu ihren besten Freunden zählte und dem
sie nachrühmt, er hätte einen treffenden Blick für Schriftstellerei
gehabt, «weil er gelernt, Menschen und Dinge gut zu beur-
teilen, nicht nur mit Scharfsinn und Einsicht, sondern mit der
Erleuchtung des Herzens". (Blackwood Magazine.) Und
schon nach Jahresfrist (6. Januar 18S8) konnte dieser Verleger
— 28 —
ihr schreiben: »George Eliot hat sich bei der Kritik einen schönen
literarischen Ruf gemacht, und das Publikum muß folgen, wenn
es auch Zeit braucht
Noch während der Arbeit an Arnos Barton hatte die
Dichterin den Plan zu einer Reihe von Novellen gefaßt, die
Skizzen aus dem Leben der Geistlichen enthalten sollten, wie sie
selbst es beobachtet hatte. Der Schwerpunkt der Schilderung
sollte nicht auf das Theologische, sondern auf das Menschliche
fallen und dabei trotz möglichster Vermeidung aller Schönfärberei
die Sympathie des Lesers für den geistlichen Stand erregt werden.
So kommt es, daß George Eliot, die als Philosophin keine Christin
und keine Theistin war, weil sie an keinen persönlichen Christus
und keinen persönlichen Gott glaubte, beides als Dichterin ist;
denn ihre Werke vertreten nicht hur einen Standpunkt, der religiös
im höchsten Sinne genannt werden kann, sondern sie hat Ge-
stalten geschaffen, die tief religiös auch im kirchlichen Sinne sind.^)
Das Packende an den Scenes of Clerical Life war die
Durchdringung des Erlebten mit frei schaffender Phantasie.
Stätten und Personen und zahlreiche Momente der Handlung
waren der Nuneatoner Heimat entnommen, aber dennoch keine
photographischen Abbilder, sondern vielmehr umgegossen zu
künstlerisch geschauten Figuren von plastischer Realität In dem
Streben, die Charaktere zu erschöpfen und verständlich zu machen,
war sie, wie Blackwood nach der ersten Lektüre meinte, vielleicht
zu weit gegangen und hatte über der Charakteranalyse das novel-
listische Moment vernachlässigt Indes fanden die Scenes of
Clerical Life den lauten Beifall der Maßgebendsten. Dickens
schrieb dem unbekannten Autor einen liebenswürdigen Brief.
Er hätte nie etwas Ähnliches gesehen wie das Pathos und den
Humor dieses Buches; er wäre geneigt, den Verfasser als eine
Frau anzusprechen. Mrs. Carlyle dagegen drückte in einem
enthusiastischen Schreiben ihre Überzeugung aus, daß George
Eliot ein Mann in mittleren Jahren sei mit einer Frau, von der
er die schönen weiblichen Züge habe, und mit vielen Kindern
und einem Hunde. Thackeray und Mrs. Oliphant glaubten eben-
») Vgl. H. Bonneil, S. 197.
— 29 —
falls an einen männlichen Verfasser, und die große Mehrzahl
der Leser stritt nur darüber, ob er der Hochkirche oder der
Low Churth angehöre.
Marian fühlte sich glücklich - »glücklich in dem höchsten
Segen, den uns das Leben gewähren kann - der vollkommenen
Liebe und Sympathie einer Natur, die die eigene zu gesunder
Tätigkeit spornt« (an Mr. John Cash 18S7); glücklich in dieser
Tätigkeit selbst Es schien ihr jetzt, als wäre ihr ganzes bis-
heriges Leben mit all dem Leid, das ihr teils äußere Dinge, teils
ihre eigene Unvollkommenheit verursacht hatten, nur eine Vor-
bereitung auf das Werk gewesen, das sie vollbringen sollte.
Was sie alle die Jahre her gedrückt und geängstigt hatte, es war
ihr Qenius gewesen, der sich nach einer Äußerung sehnte. 1 849
schrieb sie: »Was ist irgend etwas wert, bis es geäußert wird?
Ist nicht das Weltall eine große Äußerung? Äußerung muß
sein in Wort oder Tat, damit das Leben einen Wert habe. Jedes
wahre Pfingsten ist eine Qabe der Äußerung.« Und nun war ihr
diese Qabe geworden, und sie schwelgte in ihr. Zwar fehlte es
auch jetzt nicht an Stunden der Niedergeschlagenheit, in denen ihre
Vergangenheit ihr aus nichts als Irrtümern und Selbstsucht
zusammengesetzt und nur zurückzukommen schien, um Vergebung
zu fordern (an Mrs. Bray, November 1857). Aber diese Stunden
waren doch in der Minderzahl.
V.
Im Oktober 18S7 begann George Eliot den Roman Adam
Bede. Er entstand zum Teil in Deutschland, wo sie mit Lewes
im Frühling 18S8 weilte. Es sollte eine »ländliche Geschichte
werden, voll Heuduft und Kuhgeruch«, und sie befolgte darin
in meisterhafter Verwirklichung theoretischer Grundsätze eine
Regel, die sie in ihrem Essay über Riehl in folgenden Tadel
ausgedrückt hatte: »Die deutschen Romanschriftsteller, die es
unternehmen, Bilder des Bauemiebens zu geben, verfallen in den-
selben Fehler wie die englischen. Sie übertragen ihre eigenen
Gefühle auf Pflüger und Holzhacker und verleihen ihnen sowohl
Freuden als Leiden, von denen sie nichts wissen. Der Bauer
zieht niemals Familienbande oder die Sitte in Zweifel, aber
— 30 —
zarte Neigungen, wie sie in den verfeinerten Klassen existieren,
sind ihm so fremd wie weiße Hände und mandelförmige Nägel."
Die Echtheit der Schilderung war womöglich in Adam Bede
noch gesteigert; die Gestalten aber hatten bei aller individuellen
Prägung einen größeren, universelleren, monumentaleren Zug als
in den Clerical Scenes.
Familientraditionen und persönliche Erinnerungen gaben
den äußeren Rahmen. In Adam waren Jugenderlebnisse und be-
sonders der Charakter Robert Evans' verwendet; während die
autobiographischen Aufzeichnungen seines Bruders Samuel unge-
fähr Seth Bedes Erlebnissen^) entsprechen, abgesehen davon, daß
in Wirklichkeit Seth Dinah heiratete und nicht Adam. George
Eliot selbst aber verwahrte sich entschieden dagegen, daß sich in
Adam Bede auch nur ein einziges Porträt finde; sie habe nur
»Anregungen der Erfahrung in neue Kombinationen verarbeitet".
Adam sei so wenig ihr Vater als Dinah mit ihrem kräftigen
Äußeren und ihrem milden Wohlwollen der zarten kleinen Eliza-
beth Evans gleiche, die in Glaubenssachen von vehementer Leiden-
schaftlichkeit und zur Zeit und Unzeit zum Predigen bereit war.
»Ich sah niemals etwas von den Schriften meiner Tante,« schrieb
sie (Oktober 1857) an Blackwood; »und Dinahs Worte kamen
aus mir, wie die Tränen kommen, weil unser Herz voll ist und
wir sie nicht zurückhalten können.« In Wahrheit war Dinah
die Verkörperung eines Lebensprinzipes, das sich in George Eliot
seit ihrem Anschluß an den Positivismus immer lebensvoller
entfaltete.
Bald nach dem Beginn der neuen Arbeit (November 1857)
schrieb George Eliot an Charles Bray: »Meine eigene Erfahrung
und Entwicklung vertieft jeden Tag die Überzeugung, daß unser
Mitgefühl für individuelle Leiden und individuelle Freuden der
Maßstab ist, mit dem unser moralischer Fortschritt gemessen
werden kann.« Aus dieser Erkenntnis heraus wurde Dinah
Morris geschaffen, die die Selbstentsagung und Selbstaufopferung
zu ihrem Lebensberufe gemacht hat ~ nicht aus Sühne, nicht
aus Askese, auch nicht aus einem besonderen Streben nach
») Vgl. Mottram, Kap. VII.
— 31 —
Tugend, sondern einfach in dem instinktiven Drange ihrer Natur,
die sich nur auf diese Weise ausleben kann und den Pfad der
Nächstenliebe als den sie allein beglückenden, ihr allein möglichen,
betritt Der Ernst des Lebens wird der Dichterin selbst mit
jedem Tage klaren Aus München, wo sie fleißig an Adam
Bede schafft, schreibt sie (14. Juni 1858) an Miss HenneU, wie
ihr, je mehr sie im Leben fortschreite, die Freude als ein so
leichtes Ding erscheine und die Pflicht, die Sorge, das Dulden
als so große; das kleinste Stückchen Menschendasein beriUire sie
jetzt in einer Weise, wie es nie geschah, als sie jünger war. So
erwählt der Edle sich das Schwere und schöpft daraus seine
Freude. In Dinah wird die Pflichterfüllung und treue Fürsorge
zum Genuß.
Dennoch war, der Dichterin selbst vielleicht kaum bewußt, von
den Jugenderinnerungen soviel in ihrem Oeiste haften geblieben,
daß man Ortschaften und Personen bald nach dem Erscheinen des
Romans agnoszierte. Selbst Namen (Poyser, Bartle Massey)^)
hatte sie aus Nuneaton herübergenommen; der Dialekt, auf den
sie die größte Sorgfalt verwendete, war eine Vermengung der
Warwick- und Staffordshire-Mundart,*) wie die zugrunde liegen-
den Erinnerungen diesen beiden Grafschaften entstammten. So
war auch in sprachlicher Hinsicht bei anscheinend höchster
Realistik ein gewisser Idealismus gewahrt. Es war in ihrem Buche
nichts aus der Luft gegriffen und doch alles eigenste Schöpfung.
Die größte und zugleich für ihre typische Mustergültigkeit
charakteristische Anerkennung von George Eliots Gestalten aus
dem Volke liegt darin, daß man ihnen als würdige Ahnherren die
mit aller blühenden Kraft des Elisabethinischen Genies gezeichneten
Figuren Robert Greenes an die Seite gestellt hat.®)
George Eliot selbst liebte Adam Bede und war dankbar,
das Buch geschrieben zu haben. Die Handschrift des Romans
widmete sie, wie alle späteren, Lewes. Die Widmungen sind in
1) Blind, S. 117.
2) Mottram, S. 42.
*) Vgl. J. M. Brown, An eariy Rival of Shakespeare, New
Zealand Magazine 1877, abgedruckt in Orosarts Ausgabe von Greenes
Prosaschriften.
— 32 —
ihrem sich immer steigernden Ausdruck von Dankbarkeit, Liebe
und Glück die schönsten Dokumente dieser Ehe, die in jedem
Sinne auf außergewöhnliche Bedingungen gegründet war. Marian
fühlte, daß sie ohne Lewes ihr Werk nicht geschaffen hätte;
nicht ohne seinen literarischen Rat, nicht ohne jenen »Quell des
Mutes, der Heiterkeit und der überlegten Sorgfalt, ihren eigenen
Mangel jener Tugenden wettzumachen« (an Miss Hennell, Sep-
tember 1863), nicht ohne »das innige Glück ihrer Verbindung,
nicht ohne jene Verehrung für ihn, die ihr bestes Leben aus-
machte" (an Miss Hennell, 16. März 18S8).
Am 16. März 1858, als sie morgens gerade die Horazische
Ode Non omnis moriar gelesen hatte, erhielt sie einen Brief
von Blackwood, der ihr schwarz auf weiß versicherte, daß sie
ein populärer und großer Autor sei.
Das Aufsehen, das Adam Bede erregte, und das Geheimnis,
das seinen Verfasser umgab, führte zu einem lustig-ärgerlichen Nach-
spiel: es verbreitete sich das Gerücht, ein armer Dorfgeistlicher,
Liggins, aus der Nuneatoner Gegend habe das Buch geschrieben.
Er selbst lehnte die Ehre nicht, oder jedenfalls nicht energisch
genug ab. »Es ist sonderbar,« hieß es in einem Briefe an Marian
aus Warwickshire, »daß die Westminster-Review Zweifel hegt, ob
er eine Frau sei, da man ihn hier so gut kennt. - Man sagt,
er ziehe keinen Gewinn aus Adam Bede und gebe ihn Black-
wood umsonst, was eine Schande ist.« George Eliot schickte
(10. April 18S8) den Brief an den Verleger mit den Worten: »Ich
singe mein Magnifikat auf eine stille Weise und habe eine große,
ruhige, tiefe Freude. Aber ich glaube, daß nicht viele Autoren, die
einen wirklichen Erfolg hatten, weniger von der Erregung und
den Sensationen des Triumphes kennen gelernt haben, von denen
man als den Begleiterscheinungen des Erfolges spricht«
Isaak Evans wußte, daß seine Schwester die Verfasserin von
Adam Bede sei, denn er hatte schon in Arnos Barton ihr
geistiges Eigentum erkannt, behielt es aber ängstlich für sich,
um die Familienehre nicht zu gefährden, indem er die häuslichen
Vorgänge der Öffentlichkeit preisgab.^) Seit ihrem Zusammenleben
1) Blind, S. 123.
— 33 —
mit Lewes war Marian mit ihren Angehörigen so gut wie außer
Beiülirung, was sie indes nicht hinderte, sich eben um diese
Zeit ihrer verwitweten und kranken Stiefschwester tatkräftigst
anzunehmen.
Die Freunde, die in ihr den vielgerühmten George Eliot
errieten, wurden dringend ersucht, das Inkognito zu respektieren,
ihre in den Augen der Welt illegale Stellung mochte auf ihr
Gemüt einen Druck ausüben, der sie vor jedem Hervortreten
mit ihrer Person eine unüberwindliche Scheu empfinden ließ.
Doch fürchtete sie auch ihre künstlerische Seelenruhe zu gefähr-
den, wenn sie zu viele Urteile hörte. »Würden mich die Leute
mit ihren Bemerkungen und Komplimenten umsummen,» schrieb
sie (Juni 1859) an die Brays, »so ginge mir die Gemütsruhe
und die Zuverlässigkeit der Produktion verloren, ohne die kein
gutes, gesundes Buch geschrieben werden kann." Diese Furcht
vor fremden Enflüssen paarte sich dennoch mit einer großen
Entschiedenheit der künstlerischen Überzeugung. Was sie für
Recht hielt, gab sie auch gewichtigen Stimmen gegenüber nicht
auf. Bulwer tadelte z. B. die Vermählung Dinahs mit Adam und
den Dialekt in Adam Bede, sie aber »wollte sich lieber die
Zähne ausreißen lassen, als eins von beiden aufgeben".
Die Genugtuung über den außergewöhnlichen Erfolg wurde
in George Eliot wettgemacht durch die Sorge, die ihr das Gefühl
der Verantwortung für ihre künftigen Arbeiten auferlegte. »Ich
habe den Glauben an die Vergangenheit gewonnen,« schrieb sie
an Blackwoods -Bruder (Mai 1859), »aber nicht den Glauben an
die Zukunft" Und im Juli 1859 an Mrs. Bray: »Die Last
meines künftigen Lebens, die Zweifel an mir selbst, ob meine
Natur imstande sein wird, den schweren Anforderungen an per-
sönliche Pflicht und geistige Produktion zu entsprechen, drückt
mich fast beständig in einer Weise, die mir sogar den Genuß
der stillen Freude raubt, welche ich an der getanen Arbeit haben
könnte. Schwungkraft und Jubel, glaube ich, sind außer Frage,
wenn man so lange gelebt hat wie ich. - Ich denke oft an
meine Träume, als ich vier- oder fünfundzwanzig Jahre alt war.
Ich dachte damals, wie glücklich mich der Ruhm machen würde.
Ich beklage es nicht, daß der Ruhm als solcher keine Freude
Wisscnschaftl. Frauenarbeiten. V. IV. Richter, Eliot ^
— 34 —
bringt, aber es tut mir leid, mich nicht immer stark zu fühlen
in der Dankbarkeit, daß mein verflossenes Leben seinen Zweck
gerechtfertigt hat und mir Grund gibt, froh zu sein, daß ein so
wenig versprechendes Mädchen auf die Welt kam.«
Ihre Verzagtheit schien in der Tat nicht ganz unbegründet,
als ihr nächstes Werk, die Novelle The Ufted Veil (begonnen 1858,
erschienen im Blackwood Magazine 1860), sich Adam Bede nicht
ebenbürtig zeigte. Der Erfolg dieser Arbeit kam zum Teil schon
auf die Rechnung ihres Namens. Sie hatte sich in diesem Werke
aus ihrer ureigensten Sphäre, der realen Welt, in die vierte
Dimension begeben, in das schrankenlose All spritistischer Mög-
lichkeiten, wo dem normalen Leser die Luft zu dünn wird und
ihr selbst mitunter der Atem ausgeht. Ihr universaler Geist
wollte auch dieses damals viel bebaute Gebiet nicht unberührt
lassen, doch bedeutete der Versuch eher eine Verirrung als eine
Eroberung. Die Anregung dazu war von Giorgiones Lucrezia
in der Wiener Belvedere-Galerie ausgegangen, von deren »grau-
samen, grausaumen Augen« sie einen tiefen Eindruck empfing,
George Eliot arbeitete rastlos weiter. Am 21. März 1860
hatte sie einen neuen Roman vollendet, in dem die urwüchsige Kraft
und Jugendfrische Adam Bedes gesteigert wieder auflebte: The
MUl Ott the Floss. Die Perle des Ganzen bildeten ihre Kindheits-
erinnerungen, deren liebevolle Darstellung die Proportion der
einzelnen Teile verletzte. Sie selbst sah den Kompositionsfehler
mit Bedauern ein, als Bulwer sie darauf aufmerksam machte;
unter ihren Lesern hat ihr vielleicht gerade diese breite Wieder-
gabe eines unsäglich reizenden Kinderlebens die meiste Liebe
und Bewunderung eingetragen. Einem andern Tadel: daß Maggies
Benehmen gegen Stephan Guest ihr ganzes Wesen in ein anderes
Licht setze und nicht recht im Einklang mit ihrem Charakter
stehe, begegnete sie jedoch aufs entschiedenste. »Wenn die Ethik
der Kunst die wahrheitsgetreue Darstellung eines Charakters nicht
gestattet, der im wesentlichen vornehm, aber großen Irrtümern
unterworfen ist - Irrtümern, die für seine eigene Vornehmheit
Qual und Angst bedeuten -, dann scheint mir die Ethik der
Kunst zu eng und muß erweitert werden, um einer erweiterten
Psychologie zu entsprechen.«
— 35 —
So faßt sie hier ihre Kunst der »gemischten Charaktere«
bewußt in eine Theorie, jene Kunst, der sie die ergreifendsten
Wirkungen verdankt, und neben der nur noch ein zweites Mo-
ment als ebenso spezifisch und wichtig für ihre Schreibart her-
vortritt: die eigene Unparteilichkeit g^;en ihre Oestalten. Sie
schrieb an Blackwood (August 1860): »Soweit meine eigenen
Gefühle und Absichten in Betracht kommen, wird von keiner
Klasse von Verhältnissen, von keiner Form von Charakteren be-
hauptet, daß sie tadelnswert sei oder ausschließliche Bewunderung
verdiene. Tom ist mit ebensoviel Liebe und Mitleid geschildert
wie Maggie. Ich bin selbst so weit davon entfernt, die Familie
Dodson zu hassen, daß ich fast entsetzt bin, sie mit so häßlichen
Nennwörtern bezeichnet zu finden.« (Der Kritiker der Times
hatte sie gemein und uninteressant genannt). Die Sympathie,
die George Eliot selbst für ihre Gestalten hat, erzeugt
im Leser jenes große Mitgefühl, das sie für das Endziel aller
Poesie hielt. »Wenn die Kunst die Sympathie der Menschen
nicht erweitert, tut sie moralisch nichts, "^ heißt es in einem Briefe
an Charles Bray (Juli 1859). wDie einzige Wirkung, die ich mit
meinen Schriften sehnlichst hervorzubringen wünsche, ist, daß
jene, die sie lesen, fähiger werden sollten, die Freuden und
Leiden von Wesen zu empfinden, die von ihnen in allem ab-
weichen, bis auf die einfache Tatsache, daß sie ringende, irrende
Menschengeschöpfe sind.«
Nach dem großen Erfolge von The Mill on the Floss, der
auch in materieller Hinsicht glänzend war, reisten Marian und
Lewes nach Italien. Ihr Tagebuch hält fast ausschließlich nur
das Tatsächliche fest und verzeichnet die Eindrücke überwiegend
mit einer gewissen Nüchternheit. Sie hatte für die bildende
Kunst nicht dasselbe Interesse und kaum dasselbe Verständnis
wie für die andern Äußerungen des menschlichen Geistes. In
ihrer Jugend hatten die altgotischen Denkmäler ihrer Heimat
nur komisch auf sie gewirkt. In München hören wir 1858 fast
ausschließlich von Rubensschen Bildern, die sie ihrer realistischen
Darstellung wegen fesseln. Jetzt machte ihr die Antike gleichfalls
wenig Eindruck. Eine starke Verminderung der Freude, die
weltberühmten Dinge zu sehen, bewirkte das häufige Doppel-
— 36 —
bewußtsein, das ihr vorwarf, den oft ersehnten wirklichen Anblick
der Schätze nicht genug zu genießen. So verbitterte ein innerer
Zwiespalt ihr auch diesen Genuß, und in Florenz, wo sie Trollope
kennen lernte, sagte sie ihm einmal, sie wünschte, sie wäre nie
geboren. ^)
George Eliots nächstes Werk war gleichsam wieder eine
Zwischenstation ihres Genius auf der Fahrt nach einer großen,
neuen Eroberung: die wenig glückliche Erzählung Brother Jacob.
Und selbst nach ihrer Vollendung war zu dem großen Wurf,
den sie mit den italienischen Eindrücken zu tun dachte, noch
nicht weit genug ausgeholt, und sie griff erst noch einmal in
die altvertraute heimische Welt mit Silos Mamer.
Als Kind hatte Marfan in Wirksworth die bleichen, hageren
Handweber in ihren ärmlichen Hütten gesehen, die Rastlosen,
Freudlosen, wie sie bis tief in die Nacht über den rasselnden
Webstuhl gebückt saßen. Aus dieser blassen Erinnerung, »aus
dem Hirsekorn eines Gedankens", wie sie an Blackwood schreibt,
ist Silos Mamer entstanden. Sie arbeitet hier mit noch gerin-
geren Mitteln als in den früheren Romanen. Menschen und
Verhältnisse sind womöglich noch einfacher, aber auch noch ge-
rundeter, plastischer und unbedingt knapper in der Form. So
ist SUas in seiner schlichten Größe in künstlerischer Hinsicht
George Eliots vollendetstes Werk.
Nach seiner Beendigung (10. März 1861) begann die lang-
wierige und oft mühselige Arbeit an Romolo. Je älter George
Eliot wurde, eines um so größeren Aufwandes an eiserner Energie
bedurfte sie, um ungünstiger Stimmungen aller Art Herr zu werden.
Mehr und mehr schrumpfte das freudige Hochgefühl des Schaffens
zu kurzen Episoden in einer langen Leidenszeit der Komposition
zusammen.
Sie selbst hatte in ihrem Aufsatze Siüy Novels by Lady
Novelists den historischen Roman für die schwierigste Aufgabe
erklärt, zu der das seltenste Zusammentreffen von Genie und
Kenntnissen erforderlich sei. Das schönste Streben, die Ver-
gangenheit wiederzubeleben, erreiche sein Ziel immer nur an-
») Wkat I remember, II, 287.
— 37 —
nähernd und bleibe mehr oder minder stets ein Einflößen mo-
dernen Geistes in die alte Form. George Eliot zitiert Goethes
Wort* irWas Ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigener Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln."
Und sie meint, diese Art der Einbildungskraft müsse immerdar
zu den seltensten gehören, weil sie ebensoviel exaktes Wissen als
schöpferische Kraft erfordere.
So war George EUot sich des kühnen Fluges bewußt, den
sie in Romola nahm. In wunderbarer Durchdringung des
entlegenen, fremdartigen Stoffes mit ihrem eigensten Wesen
ist gerade Romola getränkt von ihrer sibyllinischen Moral- und
Weisheitslehre. Nirgends hat sie kräftiger als in der Gestalt des
Tito den Satz verkörpert: daß der Mensch sich selbst sein Los
schafft, daß der Same, den er ausstreut, die Frucht ist, die er
erntet, daß keine Tat sich ungeschehen machen läßt, keine ihm
vom Schicksal geschenkt wird. Nirgends hat sie diesen Richter-
spruch plastischer zusammengefaßt als in dem Satze: »Unsere
Taten sind wie Kinder, die uns geboren werden, sie leben und
handeln, von unserem Willen gesondert. Nein, Kinder kann
man erwürgen, Taten nimmermehr: sie haben ein unzerstörbares
Leben sowohl in als außer unserem Bewußtsein."
Keine ihrer Heldinnen verkörpert in dem Maße wie Romola
den für George Eliot so charakteristischen Grundsatz: daß man
leben und nützlich sein könne ohne eigenes Glück (vgl. Brief an
Madame Bodichon, 5. März 1879). Sie hatte während ihres
ersten Aufenthaltes in Florenz einen Ausflug nach Camaldoli ge-
macht, dem von dem hlg. Romuald gegründeten Kloster, dessen
Pforten ihr als einer Frau zwar verschlossen blieben, das aber
noch ganz unter dem Zauber der gewaltigen Persönlichkeit des
hlg. Franziskus stehend, dennoch einen tiefen Eindruck auf sie
machte. Vielleicht klingen Erinnerungen an diesen Ausflug in dem
Namen der Romola und ihrer Franziskischen Nächstenliebe nach.
Der Triumph oder auch nur die stille Freude über das
Gelingen der Romola, die auf der Beifallsleiter ihrer Werke
eine noch höhere Sprosse erklomm als die früheren, tritt zwar
in George Eliots Briefen weit weniger hervor als die Angst
— 38 —
während der Arbeit, aber ihr Selbstgefühl war doch insofern er-
starkt, als sich ihr Ehrgeiz fortan kein literarisches Gebiet mehr
verschlossen sehen wollte. Die Prosadichtung hatte ihr Lor-
beeren die Fülle gebracht Sie meinte nun auch die Poesie
kommandieren zu können. Im September 1864 begann sie ein
Drama The Spanish Gipsy. Am 29. April 1 868 wurde es nach
unsäglichen inneren Kämpfen, langen Unterbrechungen und viel-
fachen Ummodelungen vollendet. Es war ihr erster ernstlicher
Versuch im Blankvers - mit fünfundvierzig Jahren! Dies be-
sagt wohl am schlagendsten, daß der Vers nicht ihre natürliche
Sprache war. Es ist etwas Gekünsteltes, Absichtliches, Unfreies
in ihrer gebundenen Rede. Es fehlt ihr meistens der hohe Flug,
sie kriecht flügellahm an der Erde hin, sie kommt nicht warm
und unmittelbar vom Herzen wie George Eliots Prosa, und findet
darum auch nicht den Weg zum Herzen.
Von nun ab schrieb Marfan mitunter Gedichte, die 1876
gesammelt erschienen. Sie selbst sagt, daß jedes von ihnen eine
Idee enthalte, die sie möglichst zu verbreiten wünschte; sonst
hätte sie sich nicht gestattet, noch etwas zu den berghohen An-
häufungen der Gedichtsammlungen beizutragen. Man merkt ihnen
auch, abgesehen von diesem Geständnis, die bewußte Absichtlich-
keit an. Die holde Zwecklosigkeit, das stolze Sichselbstgenügen
der echten Lyrik, das spielerische wie das musikalische Moment
fehlen ihnen. So fanden sie das Schicksal, das sie verdienten.
Sie wurden mit Respekt aufgenommen, aber sie sind kein Schatz
der Literatur, geschweige denn des Volkes, geworden.
In ihrem Drama sah George Eliot, wie es in der eng-
lischen Dichtung so häufig geschieht, von vornherein von aller
Bühnenfähigkeit ab; ja es erhob kaum Anspruch auf dramatische
Führung der Handlung und Realität der Gestalten. Den ersten
Gedanken dazu empfing sie auch hier von einem Gemälde, von
Tizians Verkündigung in der Scuola Rocca zu Venedig. Ein
junges Mädchen, das knapp vor ihrer Vermählung steht - vor
dem wichtigsten Ereignis ihres Frauenlebens - empfängt die
himmlische Verkündigung, sie sei ersehen, ein großes Schicksal
zu erfüllen. Sie gehorcht: »Siehe die Magd des Herrn!« George
Eliot glaubte hier einen ungemein dramatischen Gegenstand ge-
— 39 —
funden zu haben, größer als den der Iphigenie, und noch niemals
benützt (Notes to the Spanish Oipsy.J Die Erwählung gesdiieht
auf Grund ererbter Bedingungen; so sollte symbolisch angedeutet
werden, daß das, was wir Pflicht nennen, das Ergebnis solcher
ererbter Bedingungen sei. In Fedalma, der Heldin, wurde die
unbedingte Unterwerfung unter die Pflicht verkörpert, die in immer
asketischerem Verzichtleisten auf jedes persönliche Glück George
Eliots Endziel aller menschlichen Vervollkommnung wird. In
diesem Sinne durfte sie die Fabel »durchaus eine Verkörperung
eigener Ideen* nennen. Das Drama lehnt sich nicht an Er-
lebtes; die Gestalten sind große Schatten, und jedes historische
Kolorit fehlt. Hier hatte der Genius die Dichterin im Stich
gelassen. Dennoch rechnete sie es Lewes besonders hoch an,
daß er sie dazu angeregt hatte, und liebte es - wie jeder
Mutter ihr Schmerzenskind das teuerste ist.
Noch während der Arbeit an The Spanish Gipsy wurde
Felix Holt begonnen und vollendet (März 1865 bis April 1866).
Das Thema des Altruismus — mehr und mehr ihr Lieblings-
thema — ist hier als das Verhältnis zwischen Individuum
und Gesellschaft behandelt. Das Interesse des einzelnen tritt
hinter dem der Gesamtheit zurück, er hat ihr gegenüber die
Pflicht der Selbstaufopferung. George Eliots Ideal ist nicht das
ihres Freundes Spencer, nicht der letzte, vollkommene Mensch,
dessen persönliche Bedürfnisse mit den allgemeinen zusammen-
fallen werden; der, indem er seiner eigenen. Natur gestattet, sich
selbständig auszuleben, gleichzeitig die Funktionen einer sozialen
Einheit ausüben wird.^) Sie klammert sich an das christliche
Ideal des Entsagens, der Selbstentäußerung, die bis zur Vernich-
tung der eigenen Persönlichkeit zugunsten anderer getrieben ist.
Noch in einem zweiten Punkte tritt die Dichterin dem
philosophischen Freunde selbständig entgegen. Spencer zieht mit
spartanischer Härte gegen die weinerliche Philanthropie zu Felde
und erblickt in den sogenannten Wohltätigkeitseinrichtungen ihr
gerades Gegenteil, ein Züchten der schwachen, verkommenen Mit-
glieder der Gesellschaft auf Kosten der kräftigen, gesunden.*)
») Pnndples of Sodology, III, 601.
4 The Stuäy of Sodology, 344, 350.
— 40 —
George Eliot dagegen verkündet ein Evangelium der Mildtätigkeit
und des Erbarmens, und dies allein bringt einen weicheren Ton
in ihren sozialen Katechismus, dessen beide strenge Schlagworte
Fleiß und Pflicht heißen.
George Eliot stand jetzt im Zenit ihres Ruhmes und auf
der Höhe des Lebens. Zahlreiche große und kleine Reisen,
zahlreiche Landaufenthalte brachten Erholung nach getaner Arbeit
und Kraft und Anregung für neue. In London bewohnte sie
ein in vornehmer Abgeschiedenheit in St. Johns Wood gelegenes
Haus, The Priory, dessen Einrichtung Bume Jones geleitet hatte.
Ihre Sonntagsempfänge vereinigten hier die geistige Blüte der
Londoner Gesellschaft und die hervorragendsten Fremden. Man
rechnete es sich nun zur Ehre an, ihr huldigen zu dürfen.
Lewes glänzte bei dieser Geselligkeit im großen Stil mehr als
sie, die überhaupt wenig Freude an ihr fand und ein Gefühl
der Befangenheit nicht überwinden konnte, wich kehre mein
inneres Schaudern in äußeres Lächeln und spreche rasch mit
einem Gefühl wie Blei auf der Zunge," schreibt sie im Februar
1865 an Miss Hennell.
Matilda Blind sagt, George Eliot habe zu jenen erlesenen
Naturen gehört, die im Alter schöner werden, indem ihr inneres
Selbst sich dann gleichsam an die Oberfläche der Züge arbeite
und sie zu seinem eigenen Abbild mache. Ihre großlinigen,
ernsten Züge sollen in ihren späten Jahren an Dante erinnert
haben. Lewes erzählte, er habe in einem Konzert in St James's
Hall jemanden, auf sie deutend, flüstern hören: »Dantes Tante!«
TroUope spricht mit Begeisterung von ihrem herrlichen Organ,
das sie völlig in ihrer Gewalt hatte, und dessen sie sich bewußt
zu gewaltigen emphatischen oder sanften Redewirkungen bediente.
Sie verwendete große Sorgfalt auf ihre Rede und erklärte wieder-
holt, die englische Sprache sei, wenn man sie nur richtig aus-
spreche, auch für das Ohr schön.
Lewes' Söhne waren nun zu guten, tüchtigen Menschen
herangewachsen. Marian durfte sich sagen, daß sie redlich das
ihre dazu getan hatte, und als Charles, der älteste, nach Vollen-
dung der Studien ganz in das Elternhaus zog, empfand sie die
— 41 —
dauernde Nähe dieses jungen Lebens als ein Glück, musizierte
mit ihm und hatte jeden Tag »so viel zu tun, daß sie sich in
vier Frauen hätte zerteilen müssen« (an Mrs. Bray, Juli 1860).
Ihr Verhältnis zu Lewes war noch immer dasselbe; sie geizten
nach den Abenden, die sie »in glücklicher Einsamkeit zu zweien '<
verbringen konnten. TroUope hält es für unmöglich, den Qrad
zu überschätzen, in dem »der Sonnenschein seiner unbedingten,
verständnisvollen Sympathie und seiner vergötternden Liebe ihre
literarische Kraft entwickelte«. *)
Doch war sie häufig leidend, und das Gefühl des Alters
stellte sich frühzeitig ein, jene reife Milde und weise Ruhe, die
der Ertrag eines ernsten Lebens zu sein pflegt und bei aller
Gelassenheit nicht ohne einen Hauch von Wehmut ist. Im
April 1866 schreibt sie: »Wir werden patriarchalisch und denken
an Alter und Tod als an Reisen, die nicht mehr weit abliegen.
Alles Wissen, alles Denken, alle Werke scheinen mir kostbarer
und erfreulicher wie früher im Leben. Aber kaum hat man den
Schlüssel zum Leben gefunden, »so öffnet er das Tor des Todes«.
Die Jugend hat die Kunst zu leben nicht gelernt, und wir fahren
fort zu stümpern, bis uns unsere Erfahrung nur mehr eine kurze
Spanne Zeit nützen kann«. Und weiter: »Ich quäle mich weniger
mit dem sonderbaren Bedauern, daß mein Einzelleben nicht voll*
kommener war. Die jungen Wesen wachsen heran, und es hat
für mich nichts Melancholisches, daß die Welt, wenn ich ge-
schieden bin, lichter sein wird als sie es zu meinen Lebzeiten war.«
Aus dieser Altersstimmung heraus entstand Middlemarch
(begonnen 1869, vollendet 1871), der am größten angelegte
ihrer Romane, der das altmodische Provinzleben einer ganzen
Reihe von Familien schildert Sie will »die allmähliche Wirkung
gewöhnlicher - nicht außerordentlicher - Ursachen zeigen und
zwar in einer Richtung, die nicht seit undenklichen Zeiten der
ausgetretene Pfad gewesen ist« (an Blackwood, Juli 1871). Selbst-
sucht und Selbstlosigkeit sind auch hier die beiden Grundmotive,
auf die in letzter Linie alles hinausläuft. George EHots Freund-
schaft mit Richard Congreve, dem Führer der Positivisten in
») What l remember, W, 298.
— 42 —
London, und mit seiner Gattin war die äußerliche Ursache der
sich immer steigernden Durchdringung ihres Wesens mit Q)mte-
scher Philosophie. Rosamond, das Prototyp des Egoismus in
Middlemarch, fiel ihr von allen ihren Charakteren zu zeichnen
am schwersten ; vielleicht weil von ihr selbst am wenigsten in ihr
liegt. In Rosamonds Gegenbild, Dorothea, wird die Selbstent-
äußerung zu einem Grade des Verlöschens der individuellen
Züge gesteigert, welcher der Verflachung ihrer reichen Persön-
lichkeit zu einer wohlwollenden Durchschnittsnatur gleichkommt.
Auch hier steht George Eliot in scharfem Antagonismus zu
Spencer, dessen Freundschaft sie doch mehr und mehr schätzen
lernte (an Miss Hennell, 20. November 1868). Er forderte für
jede Individualität das Recht, sich zu entfalten und unbedingt
auszuleben. »Das zu sein, was man von Natur aus ist - eben
das zu tun, was man spontan tun würde - ist wesentlich für
das volle Glück eines jeden und darum für das größte Glück
aller. "^) George Eliot erblickt in der Persönlichkeit immer ent-
schiedener den zur Sünde lockenden Teufel, der ausgetrieben
werden muß. Der Zwiespalt dieser Theorie mit ihrer eigenen
kräftig ausgeprägten Individualität läßt auf Seelenkämpfe schließen,
die um so herber gewesen sein mögen, als ihre Briefe an die
Freundinnen darüber völliges Stillschweigen beobachten.
Dem ins Ungeheure gesteigerten Pflichtgefühl gegen den
Nächsten, das ihre späteren Werke beherrscht, genügt kein Leben
für die Menschheit, sondern nur die Aufopferung für sie. Darum
empfand George Eliot lebenslang eine Abneigung gegen Lord
Byron. »Er scheint mir der mit der niedrigsten Seele begabte
Genius, der je in der Literatur eine große Wirkung hervor-
gebracht hat,« schrieb sie im September 1869 an Miss Hennell.
Dieser Abneigung gegenüber ist es andererseits charakteristisch
für ihr Rechtsgefühl und ihre Wahrheitsliebe, daß sie Dr. Cum-
mings verleumderische Behauptung, der ketzerische Dichter habe
»die letzten Augenblicke seines genialen, aber prinziplosen Daseins«
dem Gedichte „Though gay Companions o'erthe bovfV* gewidmet,
zu einer Rettung Byrons veranlaßte. (EvangecicU Teacking, 1855.)
1) Soäal Status, S. 249.
— 43 —
Während der Arbeit an Middkmarch tobte der deutsch-
französische Krieg, und das furchtbare Vöikerschauspiel ließ ihr die
Nächstenh'ebe und Selbstaufopferung in noch heilerem Olanze
erscheinen. Sie stand anfangs auf Seiten der Deutschen und war
fffroh über die Kalamität» die man Sieg nennt''. Späterhin erstickten
die Greuel des Krieges jede Freude. »Kein Volk kann einen
längeren grimmigen Krieg führen, ohne dadurch mehr oder
weniger zu verrohen, und es betrübt mich, daß die Stimme der
Gebildeten keinen höheren sittlichen Ton über nationale und
internationale Pflichten und Aussichten anschlägt" Im übrigen
flüchtet sie zu Goethes Beispiel, der sich von den Weltvorgängen
zu naturwissenschaftlichen Problemen wendete. Man müsse sich
beständig den trotz zeitweiliger noch so heftiger Reaktion be-
ständig wachsenden Einfluß der Idee vor Augen halten, um
Mut und Ausdauer für jede Arbeit zu gewinnen, die von den
unmittelbaren Bedürfnissen der Gesellschaft abliegen (an Miss
Hennell, November 1870).
Eben diese Arbeit ist es, die ihr das Leben trotz alledem
schön und interessant macht. Im August 1871 schreibt sie an
Mrs. Bray: »Ich bin eine bittere Feindin aller Selbsttäuschung
über das menschliche Los. Aber ich glaube, es liege wahre
Linderung im Leide darin, an den intensiven Genuß zu
denken, der jede spontane, vertrauensvolle intellektuelle Tätigkeit
begleitet. Dies mag kein Gegengewicht gegen vorhandene Übel
sein, aber es bedeutet doch zum mindesten einen Anteil an sterb-
lichem Gut und ein Gut erlesener Art.« Doch läßt sie dieses
Gutes, dieses Segens der Arbeit keine ihrer begabtesten Hel-
dinnen teilhaftig werden; nicht Maggie, nicht Dorothea.
Am I.Januar 1873 konnte sie Miss Hennell mitteilen, daß
keines ihrer früheren Bücher, selbst Adam Bede nicht, mit
größerem Beifall aufgenommen worden sei als Middlemarch.
Und sie fügte hinzu: »Es hätte mir kaum etwas begegnen
können, was ich für ein größeres Glück hielte als das Wachsen
meines geistigen Seins, da das körperliche verfällt."
Kann man im allgemeinen die Resignation die Grund-
stimmung eines edlen, reifen Alters nennen, so ist dies ganz be-
sonders bei George Eliot der Fall. Im April 1873 schreibt sie
— 44 —
an Mrs. Smith: »Wir sind nicht in ein nur individuelles Leben
eingeschlossen, und es ist einer der Vorteile des fortschreitenden
Alters, daß das Wohl junger Wesen eine bestimmte intensivere
Freude für uns wird. Mit jener Entsagung für unsere eigene
Person, die das Alter unvermeidlich bringt, erlangen wir größere
Freiheit der Seele, in das Leben anderer einzudringen. Was
wir nicht lernen können, werden sie wissen, und die Fröhlich-
keit, die für uns eine geschiedene Sonne ist, geht ihnen mit der
Kraft des Morgens auf.« Am 10. Dezember 1874 schreibt sie
an Mrs. Ponsonby: «Was die Leiden und Schranken des persön-
lichen Schicksals betrifft, so gibt es, glaube ich, keinen einzigen
Mann oder keine einzige Frau, die nicht mehr oder weniger
der stoischen Resignation bedürfte, welche oft ein verborgener
Heroismus ist"
Diese letzten Worte werfen ein scharfes Licht auf George
Eliots Innenleben. Sie scheinen im Widerspruch mit ihrem äußer-
lich so glücklichen Leben, im Widerspruch mit ihrem eigenen
energischen Durchsetzen dessen, was sie für ihr Glück und für
das Glück der ihr zunächst Stehenden erkannt hatte. Größere
Vollständigkeit des biographischen Materials würde wahrscheinlich
eben jenes Quantum «heroischer Resignation« enthüllen, das auch
dieses allen äußeren Bedingungen nach so völlig gelungene Leben
von seiner Trägerin forderte. Es ist nicht zu bezweifeln, daß bei
ihrer großen Sensitivität Zeiten kommen mußten, in denen sie
trotz allen Ruhmes und allen häuslichen Glückes unter ihrer
schiefen sozialen Stellung schwer litt, so daß sie es aus eigenster
Erfahrung wußte, was es heiße, sein Los in Ergebung tragen
und ohne Klage resignieren»
Daniel Deronda (begonnen Juni 1874, vollendet Juni 1876)
ist das Werk, das recht eigentlich ihr Roman der Duldung und
Ergebung genannt werden kann. TroUope spricht von der fast
universellen Toleranz, mit der George Eliot ihre Mitmenschen
betrachtete. «Ich glaube,« sagt er, «daß unter allen Menschen,
die mir je begegnet, sie den wunderbarsten und vollkommensten
Beichtvater abgegeben hätte.« ^)
») What l remember, II, 287.
— 45 —
Toleranz und Resignation meinte sie nun am besten in
Vertretern des Volkes personifizieren zu können, dem beides
durch seine Religion zur Pflicht und durch jahrhundertelange
Unterdrückung zu einer wenigstens äußerlich erworbenen Ge-
wohnheit geworden sind. So kam sie auf den Gedanken dieses
jüdischen Milieus. Die Wahl entsprach zugleich ihrem eigenen
Streben nach Außerachtlassung des persönlich Wünschenswerten^
denn sie war sich dessen bewußt, daß das jüdische Element
wahrscheinlich niemanden befriedigen werde (Tagebuch, 3. Juni
1874). In ihrer Jugend hatte sie selbst eine entschiedene Anti>
pathie gegen die semitische Rasse empfunden. Sie haßte D'Israeli,
und obzwar sie teilweise die von ihm behauptete Superorität der
Orientalen anerkennen mußte, tat sie es doch unter möglichstem
Vorbehalt und möglichstem Sträuben. Der jüdische Stamm
habe einen Moses und einen Jesus hervorgebracht, schrieb sie 1 84&
an J. Sibree; aber Moses wäre von ägyptischer Philosophie durch?
tränkt, und Jesus werde nur um dessentwillen verehrt und ange-
betet, worin er dem Judentum widerstand oder sich darüber erhob.
Selbst die von den Juden ausgehende Erhöhung der Idee einer
Nationalgottheit zum geistigen Monotheismus scheine von andern
morgenländischen Stämmen entlehnt Alles spezifisch Jüdische
stehe auf niedrigem Niveau.
Nun, nach 25 Jahren, führt unumschränkte Duldung ihre
Feder und sie schildert trotz - oder vielleicht gerade wegen
ihrer geringen eigenen Sympathie — ihr jüdisches Milieu in so
leuchtenden Farben, daß man ihr nicht mit Unrecht Parteilichkeit
vorgeworfen hat Sie mußte stärkere Lichter auftragen, denn sie
verfolgte mit dem Romane einen Lieblingsplan. »Es gibt nichts,
was ich lieber täte,« schrieb sie im Oktober 1876 an Mrs. Beecher
Stowe, »als die Einbildungskraft der Männer und Frauen wecken,,
daß sie die Menschenansprüche jener Rassen ihrer Mitmenschen
einsehen, die in Glauben und Sitte am meisten von ihnen ab-
weichen.«
Sie selbst hatte es jetzt zu religiöser Gleichgültigkeit in
dem schönen Sinne gebracht, daß alle Religionen ihr gleich
viel galten. »Alle großen Weltreligionen sind, historisch be-
trachtet, mit Recht Gegenstände tiefer Sympathie und Verehrung,»
— 46 —
heißt es in einem Briefe an J. Gross, Oktober 1873. »Sie sind
die Urkunden geistiger Kämpfe, die die Typen unserer eigenen
darstellen. ~ Und in diesem Sinne habe ich keinen Antagonis-
mus gegen irgend einen religiösen Glauben, sondern meine
Sympathie strömt ihm mächtig entgegen. Jede Gemeinde, die
zusammenkommt, das höchste Gute zu verehren (das wir unter
Gott verstehen), reißt mich in ihrer Hauptströmung fort«
Am deutlichsten erhellt ihr Religionsbegriff aus einem Briefe
an Mrs. Ponsonby (Dezember 1874). Es heißt hier: »Der
Hauptzweck meiner Bücher ist eine Schlußfolgerung, ohne die
es mir nicht der Mühe wert gewesen wäre, eine Darstellung des
menschlichen Lebens zu versuchen, nämlich: daß die Gemein-
schaft zwischen Mensch und Mensch, die das Prinzip einer
sozialen und sittlichen Entwicklung ist, nicht von der Auffassung
außermenschlicher Dinge abhängt, und daß die Gottesidee, insofern
sie einen hohen geistigen Einfluß bedeutet, das Ideal der Güte
ist, vollkommen menschlich, d. h. eine Erhöhung des Menschlichen.«
Diese Religion der Menschlichkeit soll die Nebeneinander-
stellung verschiedener Dogmen in Daniel Deronda predigen;
Jude und Christ sollen sich vorurteilslos als Mensch und Mensch
gegenüberstehen. Vielleicht ist es das Überwiegen der Theorie,
das die Lebenswahrheit dieses Romans geschädigt hat, vielleicht
auch ist Daniel Deronda darum das einzige ihrer Bücher, das
der unbedingten Realität entbehrt, weil es - Romola ausgenommen
- das einzige ist, mit dessen Milieu sie nicht unbedingt, aus
persönlicher Erfahrung, vertraut war. Diese Neigung zum Un-
bestimmten, Theoretischen, Unwirklichen, die George Eliots bis-
heriger literarischer Gepflogenheit entgegensteht, spitzt sich zum
Schluß mehr und mehr zu, bis Deronda ohne weitere Vorbe-
reitung nach dem Osten absegelt zur Gründung eines jüdisch-
nationalen Wolkenkuckucksheims, dessen Herrscher er werden soll.
Es ist auffallend, daß sowohl in The Spanish Gipsy als
in Daniel Deronda, also in jenen Werken, in denen es sich
um fremde Volksstämme handelt, das nationale Element stark
betont wird, während es in den englischen Romanen nirgends
selbständig oder absichtsvoll hervortritt, sondern nur die warme,
— 47 —
behagliche Atmosphäre bildet, in der sich die Dinge ganz selbst-
verständlicherweise abspielen, die Lebensluft, ohne deren wohl-
tuenden Einfluß kein Wesen leben kann, wenn es ihn auch nicht
unmittelbar bewußt empfindet
Eine Fusion der Gegensätze beider Rassen faßt George
Eliot in Daniel Deronda nicht ins Auge. Der Held, der von
Geburt aus Jude, der Erziehung nach Engländer ist, muß das
Engländertum aufgeben, um wieder Jude zu werden. Dem
Problem: wie der Jude von Geburt durch Bildung und Ge-
sinnung Engländer wird und es bleibt, ohne dem Judentume gegen-
über ein Renegat zu werden, geht sie aus dem Wege.
VI.
Während der Arbeit an Daniel Deronda starb (im Ok-
tober 1875) Lewes' zweiter Sohn Herbert, der im Mai desselben
Jahres, unheilbar erkrankt, aus Natal heimgekehrt war. Marian
pflegte ihn mütterlich während seines Siechtums. Am Kranken-
lager des Jünglings erwachten die eigenen Kindheitserinnerungen
wieder in ihr, und sie faßte sie in den Sonettenkranz Brother
and Sister, der, wenn auch etwas hart in der Form, doch durch
die unvergleichliche Innigkeit und Anmut des Inhalts alle ihre
übrigen Gedichte überragt und würdig neben The Mill on the
Floss steht
Ein Jahr vorher (Juli 1874) hatte Marian an Mrs. Smith
geschrieben: »Der Tod scheint mir jetzt eine nahe, wirkliche Er-
fahrung wie das Nahen des Herbstes oder des Winters, und ich
bin froh, zu finden, daß das fortschreitende Leben die Kraft mit-
bringt, sich die Nähe des Todes vorzustellen.« Nun, bei Her-
berts Ableben, schrieb sie in ihr Tagebuch: »Dieser Tod scheint
mir der Beginn unseres eigenen.« Dennoch hatte ihre Heiterkeit
gerade in den letzten Jahren in erfreulicher Weise zugenommen.
Im Juli 1874 schreibt sie an Madame Bodichon: »Ich bin nicht
länger eine von denen, die Dante in der Hölle traf, weil sie
unter dem segenspendenden Sonnenlichte traurig gewesen waren
(Inf. VII, 121). Ich bin jetzt gleichmäßig heiter im Gefühl der
Kostbarkeit jener Augenblicke, in denen Liebe und Gedanken
— 48 —
noch mein sind.« Und im November 1876 an Miss Hennell:
»Ich wäre geneigt, die unzufriedenen jungen Leute auszuzanken,
die mir in einem Atemzuge sagen, daß ihnen niemals etwas
fehlte und daß das Leben kein wünschenswertes Gut sei -
erinnerte ich mich nicht meiner eigenen Jugend. Es ist mir
merkwürdig, daß ich meine persönliche Melancholie ganz ver-
loren habe. Ich habe natürlich oft melancholische Gedanken
über das Geschick meiner Nebengeschöpfe, aber ich bin nie in
der trüben Stimmung, die inmitten äußeren Glückes meine stäUr
dige Heimsuchung zu sein pflegte. Und das trotz eines sehr
lebhaften Gefühls, daß das Leben ebbe und der Tod nahe zur
Hand sei.«
Ihr starker Geist hatte sich zur Klarheit durchgerungen.
Für ihre aus Optimismus und Pessimismus gemischte Philosophie
hatte sie selbst den Namen Meliorismus gefunden, weil sie ein
stetiges Besserwerden, ein ununterbrochenes, wenn auch langsames
Wachstum der den Menschen eingeborenen guten Keime an-
nahm. Von der Steigerung des Mitgefühls erwartete sie eine
Hebung des menschlichen Zustandes. Und so »war es ihr oft
im Sinn und auf der Zunge,« sagt Gross, »der einzig würdige
Zweck aller Gelehrsamkeit, aller Wissenschaft, alles Lebens wäre in
der Tat: daß die menschlichen Wesen einander mehr lieben sollten«.
Zu dem Gleichgewicht ihrer Seele trug in den letzten
Jahren auch der Umstand bei, daß sie, die in ihrer Abneigung
gegen die Stadt niemals das Landkind verleugnete, London nun
häufig mit ländlichen Aufenthalten vertauschte. Und im De-
zember 1876 erfüllte sie einen lang gehegten Wunsch durch den
Ankauf eines in lieblicher Surrey-Gegend gelegenen Landhauses,
The Heights bei Witley, von dem sowohl sie wie Lewes völlig
entzückt waren. Sie schwelgten in seinem Besitz und hätten am
liebsten auch den Winter draußen zugebracht. Die Stille in
Wald und Feld tat ihr unsäglich wohl; Sonnenschein und milde
Luft, schrieb sie einmal an Mrs. Stowe, machten ein neues Ge-
schöpf aus ihr. Und Lewes behauptete, sie fühle sich niemals zu
Hause, wenn sie nicht einen weiten Horizont und Hochlandsgrün
um sich habe. Dies alles sollte sie nun als ihr Eigentum ge-
nießen - aber nicht lange.
— 49 —
Lewes' Oesundheit war, wie die ihre, oft schwankend. Sie
hatte häufig über Erkrankungen zu berichten, »aber', fügte sie im
Oktober 1873 einer solchen Mitteilung an Mrs. Taylor hinzu,
«wir sind in allem anderen so unaussprechlich glücklich, daß
wir über diesen uns ältlichen Sterblichen auferlegten Tribut nicht
murren dürfen«« Seit dem Juni 1878 war Lewes beständig
leidend, doch ertrug er es mit dem ihm eigenen liebenswürdigen
Optimismus, so daß seine Umgebung sich über die bevorstehende
Oefahr täuschte. Ein Jahr vorher hatte Marian an Mr. Gross
geschrieben: »Liebe ist nie ohne ihren Schatten von Angst Wir
haben diesen Schatz in irdenen Gefäßen.'' Und nun, ehe sie
noch recht Zeit hatte, für den Gefährten zu zittern, war er ihr
entrissen. Am 28. November 1878 schied Lewes aus dem Leben.
Er hatte bei Mrs. Brownings Tod an Trollope geschrieben (5. Juli
1861): »Wenn Menschen einander lieben und eine Zeitlang zu-
sammen gelebt haben, sollten sie miteinander sterben. Was
mich betrifft, liegt mir nicht das mindeste daran, zu sterben.
Das Furchtbare wäre für mich, zu leben, nachdem ich die ver-
loren - wenn ich sie je verlieren sollte -, die mein Leben
gemacht hat«^)
Dies war ihm erspart geblieben. George Eliot hingegen
schien unter der Wucht des Schicksals zusammenzubrechen. Sie
•ergab sich unbedingter Einsamkeit, verschloß sich in ihr Haus,
las selbst die Briefe nicht, die einliefen, und widmete sich aus-
schließlich dem Ordnen von Lewes' Nachlaß, der Erfüllung
seiner letzten Wünsche und der Ehrung seines Andenkens. Und
da einer seiner letzten Handgriffe die Absendung ihres Manu-
skriptes von Theophrastus Such an den Verleger gewesen war,
beschloß sie, daß das Buch, wenn auch in aller Stille, ohne
vorhergehende Ankündigung gedruckt werden solle.
Seit Daniel Deronda hatte sie nichts mehr veröffentlicht
Ihr klarer Geist täuschte sich nicht darüber, daß die Erwartung
begründet sei, ihr Leben werde sich künftighin weniger fruchtbar
gestalten. Es wäre vernünftig, anzunehmen, schrieb sie (Dezember
1877) an Mr. Gross, daß sie ihr Bestes bereits getan habe. Die
') What I remember, W, 299.
Wissensclufti. Franenftrbeiten. V. IV. Richter, Eliot.
— so —
Schwierigkeit läge nur darin, zu entscheiden, ob der Entschluß
lieber zugunsten der Tätigkeit einsetzen solle oder zugunsten der
Hinnahrne eines mehr negativen Zustandes. In Theophrastus
Such kehrte sie nun mit kleineren Aufsätzen zu der Verstandes-
arbeit ihrer Jugendjahre zurück. Der humoristische Ton, den
sie darin anschlägt, wird häufig zur Ironie und ist in seiner
erkünstelten Lebhaftigkeit weit entfernt von der herzhaften Frische
seines früheren Klanges. Es schien, sie hätte als Mensch wie als
Dichterin das Maß ihrer Tage erfüllt Sie selbst dachte und
wünschte nichts anderes. »Der Winter der Welt scheidet,' schrieb
sie im Februar 1879 an Mrs. Bume Jones, »ich hoffe, mein
ewiger Winter hat eingesetzt"
Doch es sollte noch anders kommen. George Eliot,
die schon zweimal durch ihren ungeheuren Impuls einen Anlauf
genommen, der ihr ganzes früheres Leben über den Haufen
warf, tat es zum drittenmal, als niemand mehr und am
wenigsten sie selbst diese kolossale Spannkraft in ihr vermutete*
Eineinhalb Jahre nach Lewes' Tode (6. Mai 1880) ließ sie sich
mit John Gross trauen, dem wesentlich jüngeren, angesehenen und
wohlhabenden Inhaber eines Bankhauses, den sie 1867 in Rom
kennen gelernt, und der ihr und Lewes seither warme Freund-
schaft entgegengebracht hatte.
»Was gibt es Besseres als lieben und mit dem Geliebten
leben?« hatte sie im Juli 1871 an Mrs. Lytton geschrieben.
»Nur, daß dies manchmal auch ein Leben mit den Toten mit
sich bringt Und auch das wird schließlich zu einem ruhigen,,
süßen Bande, sicher vor Wechsel und Unrecht« Doch als es
ihr nun selbst beschieden war, den Rest ihres Daseins mit einem
teuren Schatten zu verbringen, zeigte es sich, daß ihr Herz noch
zu weit, zu kräftig war, daß es noch mit allen Fasern am Leben
und den Lebenden hing.
Mr. Gross hatte vier Wochen nach Lewes* Tode seine Mutter
verloren; aus Mitgefühl mit dem gleichfalls schwer Getroffenen^
empfing ihn George Eliot früher als die andetn Freunde. Er
hatte sich in das Studium von Dante versenkt, um darin Samm-
lung und Stärkung zu finden. Sie fühlte sich angeregt, mit ihm.
— 51 —
zu lesen. »Der göttliche Dichter fährte uns in eine neue Welt»''
erzählt Gross. »Es war eine Erneuerung des Lebens.'
Im April 1879 schon berichtet sie Bladnvood, daß sie sich
kräftiger fühle und wieder »Interesse an unserem wunderbar
interessanten Leben' finde. Im Juni sieht sie Madame Bodichon;
und obgleich sie so abgemagert ist, daß sie in ihrem losen
schwarzen Gewände wie ihr eigener Schatten aussieht, ist die
Freundin doch beruhigt über ihre Zukunft. »Die Welt sei so
riesig interessant! - Wir stimmten in unserer Liebe zum Leben
überein. In der Tat glaube ich, sie wird mehr für uns tun denn
je.« (Madame Bodichon an Miss Bonham Carter, 12. Juni 1879.)
George Eliot war eine intensiv bejahende Natur, die der
Liebe nicht widerstehen konnte. So fand sie mit sechzig Jahren
noch einmal den Mut, dem Urteil der Welt durch einen Bruch
mit der konventionellen Sitte zu trotzen. »Die Quellen der
Neigung sind wieder in mir geöffnet," schreibt sie kurz vor der
Hochzeit an Eleanor Gross, und bald nachher an Mrs. Gongreve:
»Die Heirat gibt mir eine tätigere Stellung, in der ich nicht in
mich selbst zusammensinken, nicht in Trägheit verfallen kann, wie
ich in Gefahr war, es zu tun.« Und an Gharles Lewes, der ihr
Trauzeuge war: »Die Heirat scheint mir mein altes Selbst wieder-
gegeben zu haben. Ich war im Begriff, hart zu werden und
wäre, hätte ich mich anders besonnen, sehr selbstisch geworden.
Täglich die Nähe einer anmutigen Natur zu fühlen und dafür
dankbar zu sein, ist der Quell der Zärtlichkeit und der Kraft
zum Dulden.«
Die Befriedigung über die neue Existenz geht Hand in Hand
mit wehmütig treuen Erinnerungen. Auf der Hochzeitsreise in
Grenoble ist es ihr einziger Gram, daß Lewes die Kathedrale
nicht gesehen habe, und sie gäbe gern ihr Leben, könnte er an
ihrer Statt glücklich sein. An Madame Bodichon schreibt sie am
1. Juni 1880: »All dieser wunderbare Segen fiel mir zu über
mein Teil hinaus, als ich dachte, mein Leben sei zu Ende und
mein Sarg stünde, sozusagen, im andern Zimmer. Tief unten
ist eine verborgene Strömung von Traurigkeit, aber dies muß
wohl immer sein bei denen, die lange gelebt haben - und ich
bin fähig, das mir neu erschlossene Leben zu genießen. Ich
— 52 —
werde ein besseres, Hebevolleres Geschöpf sein, als ich in der
Einsamkeit gewesen wäre. Beständig lieben und dankbar sein für
die Gabe vollkommener Liebe, ist die beste Erleuchtung für alles
mögliche Gute, das dieser mühevolle, kleine Planet für deii
Menschen in Vorrat haben kann."
So, voll Hoffnung und edelster Absichten, kehrte sie im
Sommer 1 880 vom Kontinent heim. Sie dachte noch eine weite
Strecke vor sich zu haben, als der Tod ihr schon die Hand auf
die Schulter legte. Von einer schweren Krankheit genas sie
noch einmal, aber nur eine Galgenfrist war ihr gegönnt. Bei
einem Konzert in St. James's Hall zog sie sich am 17. De-
zember 1880 eine Erkältung zu, der sie am 22. Dezember erlag.
Sie starb aus dem vollen Leben heraus, ungebrochen an Geist
und Herz, im Vollbesitz der Liebe, des Ruhmes und des Glaubens
an jene Art unsterblicher Fortdauer, die sie in einer Hymne
verherrlicht, welche bei ihrer Beerdigung gesungen ward:
O mög' ich eingehn zu dem unsichtbaren Chor
Der Toten, der Unsterblichen, die wiederum
In Geistern leben, welche ihre Gegenwart
Erhob, in Pulsen, die der Edelmut erregt,
In Taten kühner Redlichkeit, in der Verachtung
Erbärmlich kleinen Ziels, das endet mit dem Selbst,
Im Denken, das erhaben, sternengleich, die Nacht
Durchbricht und, milde und beharrlich, spornt den Menschen
Dem weitem Ausw^ nachzuforschen.
Dies ist das künftige Leben,
Das Märtyrer erhabener gemacht für uns.
Die wir zu folgen streben. O, erreichte ich
Den reinsten Himmel! Würde ich für andere Seelen
Der Kelch der Kraft in einer ungeheuren Pein;
Entzündet' edeln Eifer, nährte reine Liebe,
Erregte Lächeln, das die Grausamkeit nicht kennt, -
Würd' ich die holde Gegenwart des Guten, rings zerstreut
Und immerdar nur starker noch in der Zerstreuung.
So werd' ich eingehen zu dem unsichtbaren Chor
Dess' Harmonie die Heiterkeit der Welten ist.
Sie ist eingegangen zu der Unsterblichkeit, die sie erflehte.
Der Humor bei George Eliot
I.
Eine Dichterin, die Humor hat - ein weißer Rabe! Und
George Eliot hat nicht nur Humor, sondern Humor von aus-
geprägt eigenartiger Färbung. Diese Eigenart charakterisiert ein
Wort Lafontaines,^) auf das George Eliot sich in den Leaves
front a NotAook (Tauchnitz, S. 296) bezieht Es lautet: ^Je
n'appelle pas gayeU ce qui excite le rire, mais un certain charme,
un air agr&ible, qu'on peut donner ä toutes sortes de sujetSj
mime les plus sMeux** Die ernste Heiterkeit, die lächelnde
Wehmut, das Abstoßende, das zugleich rührt, ist auch George
Eliots Humor.
In ihrer eigenen Persönlichkeit heben sich nur spärliche
Streiflichter heiterer Laune von dem Hintergrunde einer fast
schwerfälligen Gemütsart ab. Ihr ist die anmutige Leichtigkeit
versagt, die den Lebenskünstler über dürre und düstere Strecken
hinweghebt, ohne daß die Schatten der Außenwelt dem inneren
Sonnenschein etwas anhaben könnten. Sie besitzt weder die über-
wältigende Phantasie, die sich in kühnem Fluge über alles Irdische
emporschwingt, noch jene Afterart der Einbildungskraft, die sich
in selbstgefälliger Verlogenheit über die Wirklichkeit täuscht.
George Eliot wurzelt im Realen; sie sieht die Dinge, wie sie sind,
und kann sich nicht über sie hinwegsetzen.
Ein Hang zur Schwermut liegt ihr im Blute. Ihre Jugend
füllen sehnsüchtige Rühmesträume. Als dann der Ruhm kommt,
bringt er das erwartete volle Ausmaß des Glückes nicht mit sich.
Sie macht sich Vorwürfe, daß sie den reichen Segen, der ihr
ward, nicht freudigeren Herzens genieße — aber die Reflexion
*) Vorrede zu den Fabeln.
— 54 —
vermag die urwüchsige Fröhlichkeit nicht zu kommandieren. Selbst
der Nachdruck, mit dem ihre Freunde von ihrem harmlos heiteren
Lachen und seinem herzerquickenden Klange sprechen, scheint
indirekt zu besagen, daß es nicht zum alltäglich Gewohnten ge-
hörte, daß die Qrundstimmung ihres Wesens mehr zu sibyllini-
schem Ernst als zur Lustigkeit neigte.
Wie George Eliot über die Kritik und Philosophie zur
Poesie gelangt ist, so erörtert sie auch das Wesen des Humors
theoretisch, bevor sie ihn künstlerisch in ihren Dichtungen
verwertet. In ihrem Aufsatze Oerman WU: Heinrich Heine
(1856, Westminster Review) nennt sie ihn ein frühreiferes Produkt
als den Witz. Charakteristischen Situationen und Kennzeichen
entnehme er seinen Gegenstand; dieser liege zumeist in der
Darstellung und Beschreibung. Er fließe weitläufig dahin ohne
anderes Gesetz als seinen eigenen phantastischen Willen, oder er
flattre wie ein Irrlicht daher und verblüffe durch grillenhafte
Obergänge. Diejenigen, die am beredtesten über ihn schrieben,
verweilten nur bei seinen höheren Formen. Sie definierten ihn
als die sympathetische Darstellung nicht übereinstimmender Ele-
mente in der Natur und im Leben des Menschen. Hierin erblickt
George Eliot eine Quelle der Verwirrung über die Natur des
Humors. Sie hält diese Definition nur für seine spätere Ent-
wicklung anwendbar; denn es könne — wie im Mittelalter —
sehr viel Humor mit sehr viel Barbarei Hand in Hand gehen,
und in diesem Falle erhalte er seine Hauptwürze nicht von der
Sympathie, sondern wahrscheinlich von der siegreichen Eigenliebe,
der Unduldsamkeit oder der Freude am Lächerlichen.
IL
Das Merkwürdige an jener Erörterung ist nun folgendes:
eben dasjenige, was George Eliot nicht als charakteristische
Definition des Humors gelten lassen will, trifft das Wesen
ihres eigenen. Er ist in der Tat »sympathetische Darstellung
nicht übereinstimmender Elemente in der Natur und im Leben
der Menschen«.
Der Schwerpunkt fällt hierbei auf das Sympathetische. Es
ist oft gesagt worden, daß der wahre Humorist der Menschheit
— SS —
gegenüber nicht den Spötter oder Verächter, den Prediger oder
Erzieher mache, sondern ihr ein mitfühlender Bruder und Freund
sei. Qervinus^) betont als eine Haupteigenschaft Jean Pauls
»die Teilnahme an jedem, der wie ein Mensch aussieht, die
eine verdichtete Menschenliebe, die rechte Schlagkraft des Herzens,
ausbrütete*. Forster sagt von Dickens:*) »Sein Genius war sein
Mitgefühl mit seinem Geschlecht« Der Humorist, der selbst
von liebevoller Teilnahme für die Menschheit erfüllt ist, kann
naturgemäß kein anderes Gefühl in seinem Leser erregen wollen
als wiederum liebevolle Teilnahme. So sagt Thackeray:^ »Der
humoristische Schriftsteller will deine Liebe, dein Mitleid, deine
Freundlichkeit, deine Zärtlichkeit für die Schwachen, Armen, Be-
drückten, Unglücklichen wecken und leiten. Nach besten Kräften
legt er fast alle die gewöhnlichen Handlungen und Leidenschaften
des Lebens aus.''
Während Thackeray selbst dieses Streben nur in zweiter
Linie besitzt, kennzeichnet es das Wesen George Eliots. Das
Mitgefühl ist für sie die erste und maßgebende Eigenschaft, und
nur wo sie es vermißt, kann sie selbst hart werden und den
Stab brechen. So entsprang ihre schroffe Verurteilung Youngs
(Westminster Review 1857) der Überzeugung, er habe der lau-
teren, innigen Teilnahme an den Leiden und Freuden der
Menschheit ermangelt in demselben Aufsatze läßt sie einen
fingierten Gegner der Unsterblichkeitstheorie sagen: i»Ich bin
rechtschaffen, weil ich in diesem Leben niemandem Böses zu-
fügen will, nicht weil ich in einem künftigen Böses für mich
fürchte.'' Die Menschenliebe steht ihrer Meinung nach in einer
Linie mit der Religion; sie ist dem Herzen ebenso tief, ja tiefer
eingepflanzt wie diese. »Es ist ein Schmerz für mich, Zeuge
der Leiden eines Mitgeschöpfes zu sein/ sagt sie; »und ich fühle
sein Leiden um so schärfer, weil es sterblich ist - weil sein
Leben so kurz ist und ich es womöglich mit Glück und nicht
mit Elend gefüllt sehen möchte." George Eliot verfügt über ein
unumschränktes Wohlwollen. Sie ist immer bereit, das Gute zu
») Gesch. der deutschen Dichtung, V, 213.
«) Life of Dickens, V, 41.
») Engiish Humorists of the 18^ Cent. Works, XXIII, 128.
— 56 —
sehen und es neben, ja vor dem Schlechten gelten zu lassen.
Ihr allezeit reges Mitleid unterbindet den Haß, die Gering^^
Schätzung, die Schadenfreude. Sie kennt kein höhnisches Qrinsen
über menschliche Gebrechen, sondern höchstens »ein liebevolles
Lachen, in dem die einzige anerkannte Überlegenheit die des
Ideals selbst ist, der Gott im Innern, der den Spiegel und die
Geißel sowohl für unsere eigene Kleinheit wie für die unseres
Nachbars bereit hält«. {Looking Inward, S. 24.) Und sie fährt
fort: »Darum, wenn ich über euch lache, o meine Mitmenschen,
wenn ich mit neugierigem Interesse euren labyrinthischen Selbst^
täuschungen nachgehe, die Unbeständigkeit eures eifrigen Sich^
anschließens bemerke und eure ratlosen Bemühungen innerhalb
einer rasch erwählten Partei belächle, ist es nicht, weil ich mich
euch fem fühle. Je vertrauter ich mit euren Schwächen scheine,
desto stärker ist für mich der Beweis, daß ich sie teile. — —
Kein Mensch kann nur als Zuschauer seinen Bruder kennen.
Ihr lieben Stümper, ich bin eine von euch!« (S. 11.)
Schildert sie Schwächen und Mängel, so geschieht es nie-
mals in Feindseligkeit, sondern in dem Wunsche wohlzutun, den
Fortschritt im Guten zu fördern. Legt sie den Finger auf einen
wunden Punkt, so tut sie es wie der Arzt, der heilt, wie die
Mutter, die ihren Liebling zu seinem Besten straft. Belächelt sie
dne Torheit, so geschieht es in Gutmütigkeit, wie unter Kamera^
den, die sich kennen und aneinander glauben. »Ich möchte
nicht gern verletzen«, schrieb sie (11. Juni 1857) an Blackwood,
»und möchte bei meinen Lesern jedes Herz durch nichts anderes
als liebevollen Humor, Zärtlichkeit und den Glauben an Güte
rühren."
So weiß sie an jeder abstoßenden oder komischen Figur
einen Punkt ausfindig zu machen, der das allgemein Menschliche
in ihr zur Geltung bringt, von dem aus eine Brücke vom
Sonderling zur Normalnatur geht. Der ganz widerliche, trunk^
süchtige Dempster, der seine Frau mißhandelt (fanefs Repeit^
tance), ist ein guter Sohn, und seine alte Mutter meint, er wäre
an der Seite der rechten Gattin auch ein guter Ehemann ge-
worden. Der saft- und kraftlose, egoistisch-dünkelhafte Casaubon^
(Middlemarch), der verknöcherte Pedant, der mit Scheuklappen
— 57 —
durchs Leben geht, hat gleichwohl das redlichste Streben nach
tadelloser Korrektheit in allen Dingen. Was kann er dafür, daß
er mit einem alten, verstaubten Herzen und einem pergamentenen
Hirn zur Welt kam? Wer kann über seine Natur hinaus? So
erregt George Eliot unvermerkt unser Mitleid mit dem steifleinenen
Gesellen, und wir empfinden schließlich etwas wie Rührung über
den vertrockneten Bücherwurm, der niemals jung und glücklich
war und dessen unfruchtbarer Fleiß im Leben wenig gefördert hat.
Nichts gelingt George Eliot besser als die Dämmerstimmung
gemischter Gefühle. Man nehme ihre alten Jungfern. Bei Dickens
ist das überreife, heiratslustige Mädchen ~ desto heiratslustiger,
je reifer — eine typische lächerliche Figur, der gegenüber er
nur eine Mitleidsäußerung kennt: er bringt die junge Dame
von 40 oder SO Jahren - wofern es nur halbwegs geschehen
kann, ohne dem männlichen Geschlechte allzu hart mitzuspielen
- zum Schlüsse doch noch glücklich unter die Haube. George
Eliots alternde Mädchen zwingen zur Betrachtung »mit einem
lachenden und einem weinenden Auge". Wem erschienen die
Damen des Wohltätigkeitskränzchens in Milby (Janefs Repen^
tance) nicht mindestens ebenso rührend wie lächerlich? Die
sentimentale Mary Unnet, ihre bissige Schwester, der Blaustrumpf
Miss Prat, sie alle sind mehr oder weniger in das Vereinsober-
haupt, den ausgezeichneten jungen Pfarrer, verliebt, und es ist
nicht lediglich der Drang der humanitären Begeisterung, der
ihren Wetteifer entflammt
Aber: »Der Himmel verhüt' es«, sagt George Eliot, »daß
ich über euch lachte und billige Spaße über eure Empfänglichkeit
für das Geschlecht der Geistlichen machte, als wäre sie nichts
Tieferes, Lieblicheres als das bloße Angeln nach einem Gatten".
(Tauchnitz, II, SO.) Doch bedürfte es dieser Bemerkung nicht.
Ihre Gestalten sprechen laut für sich selbst. Eine ganze Galerie
jener Freudlosen, Uninteressanten, die lebenslang im Schatten
stehen und die das Bewußtsein ihrer Oberflüssigkeit drückt, führt
sie an uns vorüber. Da sind die verschüchterten alten Mädchen,
die selbst ihre Wohltaten nur zaghaft im Geheimen ausüben,
deren Freude sich in einem herzhaften Weinen äußert und deren
einsames Herz doch unverbittert geblieben. (Miss Noble, Miss
— 58 —
Farebrother, Middlemarclu) Wer übersähe über ihren Schrullen
das goldene Qemüt dieser Geschöpfe?
Ebenso fern wie alle Bosheit aber liegt George Eliot auch
jede Schönfärberei. Es sei keineswegs ihre Absicht, nur die an-
genehmen Wahrheiten poetisch zu verwerten, schreibt sie an
Blackwood (14. Juni 1857). Sie erblickt darin eine Ähnlichkeit
mit Thackeray, »dem gewaltigsten unter den lebenden Roman-
schriftstellern". In Wahrheit aber ist eben dies der Punkt, in
dem sie sich am meisten von Thackeray unterscheidet. Sein Humor
gründet sich auf eine gewisse Menschenverachtung. Er entbrennt
in Zorn über die menschliche Unzulänglichkeit und schwingt
über sie die Geißel seines Spottes. Thackerajrs Grundstimmung
ist pessimistisch. Die stärkste Eigenschaft George Eliots dagegen
hat Mathilde Blind mit Recht die Sympathie genannt.^) Ihr
großes Mitgefühl wird die Handhabe, an der sie sich gewisser-
maßen in ein anderes Leben hinein schwingt, dessen Hoffnungen,
Sorgen, Wünsche sie zu den ihren macht. Thackerays Humor
streift gerade in seinen glänzendsten Kundgebungen an die Satire.
Bei George Eliot fehlt diese vollkommen. Wo sie einen Anlauf
dazu nimmt, leidet sie Schiffbruch. Selbst jene Ironie, die z. B^
in Carlyles Sartor Resartas jeden Satz in bewußter Absichtlich-
keit zu einer witzigen Bedeutung zuspitzt, ist ihr versagt. Der
Gelehrtenkrieg in Romola, der die schwache Seite einer großen
Zeit unserem Gelächter preisgeben möchte, verfehlt diese Absicht.
Denn der Leser fühlt sie und geht nicht auf sie ein. Er lacht
nicht, sondern ~ überschlägt das Kapitel.
IlL
Es bedurfte eines so reichen Schatzes an Sympathie in
George Eliot, um der kalten Schärfe ihrer Vernunft das Gleich-
gewicht zu halten. Als sie in gereiftem Alter (1856) zu dichte-
rischer Produktion überging, hatte sie bereits eine jahrelange
schriftstellerische Tätigkeit hinter sich, die lediglich Verstandes-
arbeit gewesen war. Die Gefahr lag nahe, daß sich nun in ihren
poetischen Werken der nüchterne Gedanke auf Kosten der
») George Eliot, S. 42.
— 59 —
Phantasie in den Vordergrund dränge. Ihre künstlerische Oe-
staltungskraft vermied nicht nur diese Klippe, sondern sie machte
sich die analytische Verstandesgabe dienstbar in der bis ins
kleinste Detail, durch alle HfiUen, in alle Winkel und Tiefen
hineinleuchtenden Beobachtung.
In ihrem Aufsatze über Riehl {Natural Histoiy of Oerman
Uft, Tauchn., S. 1 92) bezeichnet George Eliot die Irrealität
der Darstellung als einen großen Fehler. »Sie selbst beobachtet'',
wie schon Wilhelm Scherer hervorhob,^) »mit dem kühlen Blick
des Naturforschers; sie bleibt immer betrachtend; diese Ruhe hat
etwas Oroßartiges und erzeugt eine epische Stimmung, welche
um so höher anzuschlagen ist, als die Methode und Darstellung
nicht immer eine streng epische ist«
Niemals geht ihr, wie es Dickens oft geschieht, das Herz
mit dem Kopfe durch; niemals wird ihre klare Beobachtung
durch den warmen Impuls der Empfindung getrübt. Dickens
hat mitunter seinen »Humanitätsrausch«. Dann trägt er Licht
und Schatten stärker auf, als ein objektives Auge verantworten
könnte. Oeorge Eliot will nichts als Lebenswahrheit Ein mög-
lichst treues Bild der Wirklichkeit ist alles, was sie bezweckt.
»Ich bin es zufrieden, meine schlichte Geschichte zu erzählen, ohne
daß ich versuchte, die Dinge besser zu machen, als sie waren,
ohne Furcht vor irgend etwas außer vor Falschem.« So schreibt
sie in Adam Bede (I, 235) fast mit denselben Worten, mit denen
im Tom Jones Fielding die Wahrheit als das unverrückbare Ziel
seines Strebens bezeichnete.
Was die realistische Wiedergabe des Lebens betrifft, scheint
in der Tat kein anderer als er ihr Ahnherr. Weil sie es, wie
Fielding, vor allem auf Naturtreue absieht, entnimmt sie ihre
Charaktere, wie er, der Sphäre, in der sie aufgewachsen ist
»Malerische Lazzaroni und romantische Verbrecher sind nicht
halb so häufig als der gemeine Arbeiter, der sich sein Brot ver-
dient und es gemein, aber unbescholten mit seinem Taschen-
messer verzehrt.« {Adam Bede, Tauchn., I, 236.)
George Eliot hat, wie Fielding, eine eingewurzelte At>-
George Eliot und ihr neuester Roman, Deutsche Rundschau, X.
— 60 —
neigung gegen die Romantik, die - verbunden mit dem mangel-
haften Sinn für die Satire ~ ihre künstlerisch ungerechte, feind-
selige Haltung gegen Byron erklärt. Oeorge Eliot ist, wie Fielding,
entschlossen, ohne alle übernatürlichen oder erdichteten Hilfs-
mittel ihr Auskommen zu finden. Das Leben ist auch ohne sie
interessant. Die große Mehrzahl der Durchschnittsmenschen, die
weder außerordentlich dumm, noch außerordentlich weise, weder
besonders gut, noch besonders schlecht sind, die keine wunder-
baren Schicksale erleben, die kein Qenie, keine glühende Leiden-
schaft beherrscht - alle diese ganz gewöhnlichen Menschen
haben doch ein Gewissen, haben den hohen Trieb, das Rechte
zu tun, das ihnen schwer fällt, haben unausgesprochene Sorgen
und heilige Freuden. »Liegt nicht ein Pathos eben in ihrer
Unbedeutendheit," ruft sie aus, »wenn wir ihre trübe, eng be-
grenzte Existenz mit den glorreichen Möglichkeiten eben der
menschlichen Natur vergleichen, an der sie teilhaben?« {Arnos
Barton, Tauchn., I, 189.)
Das Herausarbeiten dieser Gegensätze wird eine Quelle
ihres Pathos wie ihres Humors. Sie besitzt den schärfsten Blick
für den Widerspruch zwischen der Persönlichkeit und ihrem
Milieu einerseits und für die heterogenen Elemente, die das Ganze
einer Persönlichkeit bilden, andererseits. Sie hat dabei eines vor
Fielding voraus: sie besitzt in höherem Grade das feine Gefühl
für jede leiseste Schwankung des Züngleins an der Wage. Sie
versteht es, die komplexe Einheit des Charakters in ihre vielen
über- und untergeordneten Eigenschaften, den Knoten eines Ereig-
nisses in seine feinen Einzelfäden aufzulösen und sie in desto
größerer Lebenswahrheit aus ihnen wieder zusammen zu setzen.
Ihr Blick haftet so wenig an der Oberfläche des Charakters, wie
an dem äußeren Scheine der Verhältnisse. Sie zeigt uns, wie in
derselben Brust Vernunft und Torheit, Pathos und Banalität,
Heldentum und Kleinlichkeit wohnt, zeigt uns, wie Charaktere
und Lebenslagen einander oft schrill widersprechen. Selbst ihre
Nebenfiguren werden, weit entfernt bloße Schablonen oder Typen
zu sein, der Wirklichkeit abgelauschte Menschen.
Dowden sagt von George Eliots Humor, ^) er verbinde
Studies in Literature, S. 255.
— 61 —
sich einerseits mit ihrem Verstände, andererseits mit ihrem Mit-
gefühl, ihrer moralischen Empfindung. Man denke nur an die-
jenige ihrer Qestalten, die man vielleicht vor allem im Auge hat,
wenn von George. Eliots Humor die Rede ist an Mrs. Poyser.
»Warum ist sie so reizend?« fragt Leslie Stephen *) und er-
widert: nDit Antwort liegt, wie ich vermute, im allgemeinen
genommen, in dem köstlichen Gegensätze, den Mrs. Poysers in-
tensiver Scharfsinn und ihre starken Gemütsbewegungen zu dem
raschen Temperament und der Lebhaftigkeit bilden, mit der sie
die verkehrtesten Einfälle ihrer Phantasie erfaßt, wodurch sie
ihren Gegner für den Augenblick verblüfft und verwirrt.« Die
Herbheit ihres äußeren Wesens, die den Schein des Praktisch-
Verstandesgemäßen hervorbringt, und die Herzensgüte, die ihr
Innerstes beherrscht, bringen eine Kontrastwirkung des glück-
lichsten Humors zuwege. Die Strenge, die sie zur Schau trägt,
ist, genau besehen, nur eine Form ihres Wohlwollens. Zu aller
Nutz und Frommen muß Zucht und Ordnung im Hause auf-
recht gehalten werden. Daher auch die leichten Übergänge vom
offiziellen Schelten zum traulichen Geplauder. Ein zweiter Gegen-
satz liegt in ihrer urwüchsigen Klugheit und dem beschränkten
Horizont ihrer Erfahrung. Auf ihm beruht zum Teil der Humor
ihrer originellen Aussprüche. Ihre Lebensweisheit ist aus der
engsten Alltäglichkeit in Küche und Hof geschöpft, scheinbar
ganz anspruchslos und doch von einer Tragweite und Prägnanz,
die sie hoch über diesen Ursprung emporhebt; z. B. wenn sie
von den drei ihrer Obhut anvertrauten Mädchen sagt: »;Es ist,
als ob man Braten auf drei Feuern hätte; kaum hat man den
einen begossen, brennt ein anderer an!« Oder: »Ich glaube,
eine Made muß im verfaulten Käse geboren sein, damit er ihr
schmecke!« Oder: »Du wirst nicht viel Gutes damit ausrichten,
wenn du die Ernte des vorigen Jahres begießt!« - und viele,
viele andere, denen sich fast gleichwertig manche Reden der
Mrs, Hackit (Arnos Barton) und Mrs. Winthrop (Silos Mamer)
anschließen.
Eine ernstere, rührende Art des Humors bringen die in-
neren Widersprüche in Silas Mamer hervor, dem verknöcherten,
George EUoi, S. 80.
— 62 —
geizigen Junggesellen, der sich vor Qott und den Menschen
verschließt, bis ein fremdes Kind sich in sein Herz stiehlt, daß
er darüber ein anderer wird. Qenau genommen, wirken hier die-
selben Gegensätze wie in Thackerays Colonel Newcome (The
Newcomes), dem alten Soldaten mit dem Kindergemüte, dessen
Ende im Armenhause erschütternder ist als ein Heldentod auf
dem Schlachtfeide.
Beachtenswert ist es, daß bei der alternden Qeorge Eliot
mit den »gemischten Charakteren'« auch der Humor abnimmt
Ihre letzten Schöpfungen, Daniel Deronda, Mirrah, Fedalma (The
Spanish OipsyJ sind sentimentale Mustermenschen, die Fürstin
Halm-Eberstein (Deronda) durch und durch schlecht, ihr Lebens-
lauf unwahrscheinlich, das ermüdend eintönige Pathos nirgends
durch ein humoristisches Qlanzlicht gemildert
IV.
Das Mißverhältnis zwischen dem Innenleben des Menschen
und seiner äußeren Existenz ergibt zwei Kontrastwirkungen:
glänzende, große Verhältnisse und eine armselige Persönlichkeit,
oder umgekehrt: reiche Begabung in ein enges, kleinliches Milieu
gezwängt. Der erste Gegensatz erzeugt ein Gefühl des Lächer-
lichen, das leicht in Bitterkeit umschlägt und zur Satire wird,
dem zweiten haftet» eine Lächerlichkeit an, die wir nicht ohne
Wohlwollen und Rührung betrachten. Ihn haben Humoristen
deshalb von jeher bevorzugt. George Eliot neigt schon darum
zu ihm, weil sie sich am liebsten in den mittieren oder unteren
Schichten der Bevölkerung aufhält
Sie unterscheidet sich in diesem Punkte scharf von Bulwer,
der gern große Verhältnisse und komplizierte Lebensläufe
schildert und mit seinen reiselustigen Helden die Abenteurer-
romane fortsetzt, während Dickens im Gegenteil mit Vorliebe in
die tiefsten Sphären hinabsteigt und mitunter den Abschaum der
Gesellschaft zum Träger einer moralischen Beweisführung macht
George Eliots eigenflicher Vorläufer^ in der Wahl des
schlichten, bürgerlichen Milieus, das über den Kreis der eigenen
Erfahrung nicht hinausreicht, ist Richardson, der dem Land-
mädchen Pamela die glühende Teilnahme eines Publikums ge-
— 63 —
wann, das bisher nur galanten Abenteuern und verwickelten In-
trigen gelauscht hatte. Durch ihn wurde zuerst der Schwerpunkt
des Interesses von den äußeren Geschehnissen ab- und einer
anatomischen Zei^liederung der Seelenvorgänge sowie der Klein-
malerei schlichtester Vorgänge zugelenkt
George Eliot greift aus dem Umkreise kleiner Verhältnisse
mit Vorliebe den geistlichen Stand heraus. Sie knüpft hierin
an Goldsmith an, dessen wackerer Landprediger von Wakefield
in einer »entsetzlich illustrierten« Ausgabe das Entzücken ihrer
Kinderjahre bildete. Indirekt griff sie hier allerdings weiter zu-
rück, nämlich auf Fieldings Pfarrer Adams (Joseph Andrews),^) den
klugen, ehrenfesten, aber weltfremden Herrn, den seine Herzens-
einfalt und arglose Hilfsbereitschaft mitunter in Lagen versetzen,
die der Würde seines Amtes wenig angemessen sind, ohne daß
ihn diese Abenteuer um die Liebe und Achtung seiner Pfarr-
kinder brächten, welche mit Recht sagen: »Es gibt keinen solchen
mehr im Weltall.« Auch George Eliots Pfarrer haben alle einen
mehr oder weniger weltlichen Zug. Den stattlichen Rektor Irvine
(Adam Bede) nennt sie einen Epikureer ohne Enthusiasmus,
ohne Sinn für Askese, ja ohne besonderes Pflichtgefühl. Er ist
für den Glanz und das Behagen einer guten Stellung so emp-
finglich wie für die Schönheit griechischer Verse; er ist ein
Lebenskünstler. Er kennt weder erhabene Ziele, noch die selbstlose
Hingabe an Ideale, aber sein moralisches Gefühl ist stark und
echt. Er ist für alle Tage ein guter Mensch, tolerant gegen den
Glauben, nachsichtig gegen die Fehler anderer, seiner Gemeinde
mehr Vertrauter und Ratgeber als strenges geistliches Oberhaupt.
Mrs. Poyser sagt von ihm: »Mr. Irvine war wie eine tüchtige
Portion Essen. Man fühlt sich durch sie wohler, ohne an sie
zu denken; Mr. Rydes (- sein gelehrter Nachfolger -) war
eine Dosis Medizin; sie kneipt und quält euch und läßt euch
sonst ziemlich unverändert"
Noch einen Grad weltlicher ist der Vikar Farebrother
1) Vgl. Entstehungsgeschichte von Goldsmiths Vicar of Wakefidd,
Diss. von B. Neuendorff, Berlin 1903, und Der gute Pfarrer in der engl
Literatur bis zu Goldsmiths Vicar of Wakefield von H. Schacht, Diss.,
Berlin 1904.
— 64 —
(Middkmarch), der den Naturwissenschaften ein warmes In-
teresse widmet und dem Whist huldigt in der ganz unzwei-
deutigen Absicht, den allzu knappen Verhältnissen im Pfarrhause
auf diese profane Weise ein wenig nachzuhelfen. Der innerste
Kern seiner Natur ist dennoch lauter und echt Er ist vielleicht
kein mustergültiger Geistlicher, aber eine grundgute Seele und
selbst, wo es eigene teure Hoffnungen gilt, von opfermütiger
Selbstverleugnung; dabei fröhlich und frei von jeder Sentimen-
talität George Eliot erwähnt in einem Briefe an die Brays vom
6. Juni 1856 einen »entzückenden kleinen Pfarrer" Tugwell in
Ilfracombe, der Lewes und ihr bei ihren zoologischen Studien
an die Hand ging, und in ihrem Tagebuch sagt sie von ihm:
»Ihn kennen hieß eine liebenswürdige Natur mehr auf der Welt
kennen," Vielleicht hat er Züge für Farebrother geliefert
Ein ähnliches Gemüt ist der wackere Rektor Gascoigne
(Dßniel Deronda), der ehemalige Offizier, der immer noch
über eine gewisse Schneidigkeit verfügt und es versteht, die
Dinge praktisch anzufassen, allem die beste Seite abzugewinnen.
Zu dem gleichen Menschenschlage gehören der fröhliche Angler
Cadwallader (Middlemarch) mit dem unverwüstlichen Behagen
und der eifrige Jäger John Lingon (Felix Holt), dessen bloßer
Anblick in seinen Pfarrkindern die Erwartung einer Schnurre
erweckt
Neben den Geistlichen mit dem weltlichen Einschlag stehen
jene, die bei entschiedenen Vorzügen doch ein wenig lächerlich
veranlagt sind. So der treffliche Rufus Lyon (Felix Holt), der
kleine, dürftige Mann, den für seine armselige Gemeinde die
Begeisterung eines Religionsstifters durchglüht, und der bei allem
Zelotentum der persönlichen Oberzeugung dennoch über ein
gleiches Maß milder Duldung für die entgegengesetzten Ansichten
anderer verfügt.
Hierher gehört femer Amos Barton, das Urbild der Mittel-
mäßigkeit und Unfähigkeit, die instinktiv immer das Richtige
verfehlt und unter einem gleichen Mangel an Takt wie an Geld
und orthographischen wie grammatikalischen Kenntnissen leidet
Nichtsein Mangel an theologischer Gelehrsamkeit, seine Tölpelhaftig-
keit ist es, die ihn um den Respekt bringt und Ärgernis err^
— 65 —
Selbst Tryan (fanefs Repentance), der mit seiner leisen,
silbernen Stimme und seiner selbstaufreibenden Berufstreue unter
allen Eliotschen Oeistlichen dem Ideal des Seelsorgers am nächsten
kommt, ist nicht aus dem Holze des religiösen Märtyrers geschnitzt
Er strahlt nicht sowohl im Lichte des großen Theologen als des
guten Menschen. Er tut, was er tut, weniger um Qottes als
seiner Brüder willen. Seine Seele glüht mehr von Nächsten- als
von Qottesliebe.
Alle diese Gestalten, so verschieden sie untereinander sind,
haben das miteinander gemein, daß sie in erster Linie Menschen
und nur in zweiter Männer der Kirche sind. Mit ihrer Gelehr-
samkeit ist es im allgemeinen nicht weit her. Den meisten von
ihnen kommt es gar sehr zustatten, daß sie jener guten alten
Zeit angehören, die keine religiösen Skrupel und Zweifel plagte,
die keine Kritik an dem Pfarrer übte, und der eine Ausstellung
an der Predigt gleichbedeutend schien mit einer Ausstellung am
Evangelium {Mr. QUß's Love Story, Tauchn., I, 143). Das
konfessionelle Moment steht bei George Eliot ganz im Hinter-
grunde. > Es liegt ihr nichts an theologischen Ansichten irgend
welcher Art; High Church oder Low Church oder Evan-
gelicalism - kein Bekenntnis bedeutet für sie Religiosität oder
Irreligiosität Das, worauf es ihr allein ankommt, die wahre
Frömmigkeit, die wahre Sittlichkeit, fällt in ihren Augen mit der
echten, allumfassenden, allverzeihenden Nächstenliebe zusammen.
Diese allein ist auch ihr Maßstab für die Tugend und Würde
des Priesters. Wer Humanität besitzt, hat sie beide. Denn,
wie es in Janefs Repentance heißt: »Der Stand des göttlichen
Erbarmens ward noch niemals Lippen geglaubt, von denen man
nicht fühlte, daß menschliches Erbarmen sie bewege.« Der
Schwerpunkt fällt bei ihr nicht auf die Theologie, sondern auf die
Ethik des Christentumes, und als »deren universellsten Erklärer«
lassen auch unbedingt Orthodoxe sie gelten.^) Darum haben vor
ihrem Richterstuhl die Geistlichen, die über menschliche Schwäche
betrübt und nicht voll Eifers und keine Pharisäer sind, darum
haben die Freundlichen, Hilfsbereiten, Fröhlichen ihren Beruf
1) Vgl. Crombie Brown, The Ethics of George Eliot. Works, 1879.
Wisscnschaftl. Frauoiarbdtai. IV. V. Richter, Eliot. ^
— 66 —
erfaßt und erfüllt — gleichviel wie es um ihren Buchstaben-
glauben bestellt sein mag, gleichviel ob sie nach klösterlichen
Begriffen nicht ein wenig über die Schnur hauen und leben und
leben lassen.
Sie selbst hatte sich in schweren inneren Kämpfen durch-
gearbeitet zu einer Qläubige und Ungläubige mit gleicher Duldung
umschließenden religiösen Neutralität, einer innigster Sympathie
und tiefstem Verständnis entspringenden Toleranz, in deren Kelch
auch kein Tropfen von Bitterkeit gegen Andersdenkende zurückblieb.
Nur aus dieser Toleranz heraus erklärt es sich, daß sie alle ihre
so verschiedenartigen Kleriker mit gleicher Gerechtigkeit und
gleichem Wohlwollen zeichnen konnte.
In dem Aufsatze Silly Novels by Lady Novelists hatte
George Eliot sich, ehe sie noch an eine eigene Produktion dachte,
über die „White Neckdoih Spedes of Novels, eine Art heil-
samen Zuckerwerks für junge Damen der puritanischen Kirche«,
lustig gemacht und ausgerufen: »Warum können wir nicht ebenso
interessante Bilder des religiösen Lebens unter den industriellen
Klassen Englands haben wie Mrs. Stowes Bilder des religiösen
Lebens unter den Negern?"
Sie selbst hat uns später solche Bilder in einer der leben-
digen Wirklichkeit abgelauschten Mannigfaltigkeit gegeben, die in
der Literatur kaum überboten worden ist Aber mag auch George
Eliot auf theologische Einzelheiten mit einer Gründlichkeit eingehen,
für die nur ein englisches Publikum volles Verständnis aufbringt,
die wissenschaftliche Vertiefung ihrer Helden verschwindet doch
im Vergleich mit ihrem allgemein menschlichen Wert oder
Unwert. Auf ihn kommt es der Dichterin in erster Linie an.
Die Autorität des Dogmas tritt weit in den Hintergrund vor
der Macht der reinen Humanität Sie spricht in George Eliots
Ethik das letzte Wort
Sie wird in diesem Punkte von einer Strömung des klas-
sischen Romans getragen. Auch Dickens und Bulwer zeichnen
nur liebenswürdige, wohlwollende Geistliche. Unter Bulwers
Kirchenmännem ist der Dorfpfarrer Caleb Price (Night and
Moming, 1841) ein leidenschaftlicher Angler wie George Eliots
Cadwallader, und Dale {My Novel, 1852) spielt wie Farebrother
— 67 —
Whist, ohne gegen den Mammon ganz gleichgültig zu sein -
»die Besten unter uns sind nur menschlich''. Es sind köstliche
Vertreter des heiteren alten Klerus, der in der Theologie und
Archäologie nicht sonderlich beschlagen war, aber ein Geheimnis
besaß: das, die Kirche zu füllen. Alle diese biederen Geistlichen
werden von dem liberalen, philanthropischen Zuge des 1 9. Jahr-
hunderts belebt, und die wahrhaft menschliche Vermischung von
Schwäche und Seelengröße, von Erhabenem und Kleinlichem
macht sie zu Vertretern echtesten, herzerquickendsten Humors.
V.
Es ist ein oft zitiertes Wort Ooethes (Wahrheit und Dich-
tung, II. Teil, 10. Buch), daß der protestantische Landgeistliche
vielleicht der schönste Gegenstand einer modernen Idylle sei,
weil er in den natürlichen und kleinen Verhältnissen der Menge
wurzle und sich doch zugleich durch seine Pflichten, sein Wissen
und seine Verantwortung über sie erhebe. Ahnlich drückt auch
Wordsworth in The Excursion seine Genugtuung aus, einen
Landgeistlichen zu schildern, der an der Verfeinerung der oberen
Gesellschaftsschichten teilhabe, während er durch sein Amt und
die Liebe zur Natur mit den unteren Klassen in Fühlung sei
Aus dieser Doppelseitigkeit des geistlichen Berufes erwuchs
für George Eliot ein heilsames Schutzmittel gegen das Ober-
handnehmen der Kieinmalerei. Die Gefahr, sich ins Hausbackene
zu verlieren, lag für sie fast so nahe wie für ihre gefeierte Vor-
gängerin Mary Mitford, die das Veilchenpflücken und die Nuß-
lese mit der umständlichen Wichtigkeitweltbewegender Ereignisse
behandelt hatte. George Eliot wagt nun Detailschilderungen, die
noch über jene in Our VUlage hinausgehen. Es ist, als sollte
das Allerunbedeutendste, das Allerprosaischeste für die Dichtung
erobert werden. Wer hat je die Poesie der Milchkammer in
ähnlicher Weise zur Anschauung gebracht! Die wunderbare Kühle,
die Reinlichkeit; den frischen Duft des jungen Käses, der kernigen
Butter, der sauber gespülten Holzgefäße, die sanfte rötliche Farbe
des irdenen Geschirrs, das blinkende Zinn! {Adam Bede, I, 110).
Sie gerät förmlich in Ekstase darüber: »Ach, mir ist, als kostete
ich diese Molken - mit einem so zarten Geschmack, daß man
— 68 —
sie kaum von dnem Duft unterscheiden kann^ und mit jener
sanften, gleitenden Wärme, die unsere Phantasie mit stiller, glück-
licher Traumseligkeit erfüllt Und ich habe die leichte Musik der
tropfenden Molken im Ohr, vermengt mit dem Zwitschern eines
Vogels außerhalb des Drahtgitters am Fenster, das den Garten
überblickt und von dem hohen Schneeballbaume beschattet wird.«
Man kann getrost sagen: es gibt nichts, was ihrer Detail-
malerei zu banal oder zu trivial wäre. Aber sie hat den weiten
Blick, der über dem nahen Kleinen nie das große Ganze und
nie die Stelle aus dem Auge verliert, die dem Kleinen im Ganzen
gebührt. Die Lappalien geben sich für nichts als Lappalien; sie
werden nicht mit sentimentaler oder pedantischer Wichtigtuerei zu
übertriebener Bedeutung aufgebauscht Andererseits leugnet George
Eliot den Wert nicht, den sie in unserem Leben haben, das sich
aus Kleinigkeiten zusammensetzt »Diese kleinen Dinge sind
groß für den kleinen Menschen« (Goldsmith), ist ein Motto in
Middlemarch (Kap. 63, B. VH). So braut sie aus Ernst und Scherz
jene humoristische Stimmung, in die alle ihre Kleinmalerei ge-
taucht ist, und diese humoristische Färbung bewahrt die Be-
schränkung davor, Beschränktheit zu werden, wie es bei Miss
Mitford gelegentlich geschieht Und doch geht George Eliot im
Realismus noch einen guten Schritt weiter als Miss Mitford.
Obzwar Oar ViUage seinen alten Ehrentitel als wohlgetroffenes
Bild eines englischen Dorfes behauptet, so läßt sich doch bei
schärferem Zusehen nicht leugnen, daß die Verfasserin die
Sonnenseite ein' wenig zu ausschließlich ins Auge faßte, daß sie
nur die Vorderansicht der zierlichen Häuschen, nur den Blüten-
duft der freundlichen Gärtchen schildert, die Rückansicht des
Gehöftes aber, die unvermeidlichen Schattenseiten, kaum streift.
Es ist ein Dorf im Stile von Defreggers Bauern - mehr wie
es sein sollte, als wie es ist
George Eliot dagegen - obgleich es auch ihre Art nicht ist,
den Nachdruck auf die Nachtbilder zu legen - befleißigt sich größter
Echtheit und Naturtreue. Sie verwendet z. B. außerordentliche
Sorgfalt auf die Sprache der Landleute; die dialektische Färbung
wird genau dem Schauplatze der Handlung angepaßt Sie geht
auch sonst mit einem Realismus zu Werke, der die Schminke
— 69 —
jeglicher Verfeinerung verschmäht Ihre ländlichen Schilderungen
unterscheiden sich darin wesentlich von denen der George Sand,
die sie » wegen ihrer tragischen Kraft und ihres milden, liebe-
vollen Humors«' so aufrichtig verehrte. George Sand hat für
den dritten Stand in der französischen Literatur dasselbe getan,
wie George Eliot in der englischen. Man hat ihre ländlichen
Erzählungen treffend die französischen Georgiken genannt Doch
eben durch diesen klassischen Charakter sind sie so verschieden
von George Eliots mit schärfster. Lokalfarbe ausgestatteten Schill
derungen, in denen man unter den erdichteten Namen gar bald
die zugrunde gelegten Örtlichkeiten und Perspnen erkannte.^)
Aber trotzdem George Eliot ihre Kolleginnen an Intensität
der Detailschilderung und des Realismus überbietet, gibt sie
diesem Detail selbst immer nur eine nebensächliche Bedeutung,
während es bei jenen zur Hauptsache ward. Nur ihr erster
belletristischer Versuch bewegte sich im Anschlüsse an Miss Mit-
ford innerhalb der exakten Beschreibung eines Dorfes in Stafford-
shire.*) Bei gereifter Künstlerschaft verwies sie diese Schilde-
rungen des Äußerlichen und Tatsächlichen, ohne sie in ihrer
Anschaulichkeit zu verkürzen, auf den ihnen zukommenden
bescheidenen Platz im gerundeten Ganzen. Man vergleiche die
Hallfarm in Adam Bede oder die Dorlecotmühle in The MUl
Ott the Hoss. Auch ihre Naturschilderungen sind nicht breite
Beschreibungen im Stile der Miss Mitford, sondern knappe, aber
lebendige Ausschnitte, Szenen, in denen sich ein Naturereignis
abspielt, z. B. die Vorfrühlingsstimmung oder der Sonnenunter-
gang in Adam Bede (II, 98 und II, 6), oder das Herbstbild in
Middlemarch (II, 205) und unzählige andere. Die Natur-
stimmung festzuhalten ist dabei die Absicht, auf die es ihr zu-
meist ankommt
Die Landleute vollends, deren Darstellung bei Miss Mitford
einen Mangel an poetischer Gestaltungskraft oder an Einblick in
das Triebwerk des inneren Menschen bekundet, gehören bei
George Eliot gerade zu jenen Figuren, in denen sie die Lebens-
^) Vgl. Autobiographisches in The Mill on the Floss von Moritz
Müller, Aussig 1897, oder George EUot in Derbyshire by Ouy Roslin, 1876.
^) Robert Evans stammte aus Ashbume in Staffordshire.
— 70 —
treue gleichsam erschöpft: der Dorftischier Adam Bede, der Dorf-
weber Silas Mamer, die Müllerfamilie Tulliver usw. Selbst in
den kleinsten Episoden, selbst in den Nebenfiguren ihrer Romane
leben ihre Landleute echt und natürlich sich vor uns aus. Man
denke an die zwei berühmten Wirtshausszenen im »Roten Löwen«
zu Milbey (Janefs Repentance) mit der ergötzlichen KannegieBerei
der Spießbürger und im »Regenbogen« zu Raveloe (Silas Mamer),
jene unvergleichliche Versammlung der verschiedenartigsten Dorf-
typen in ihrem schwerfälligen, wortkargen Behagen.
Der naive Humor solcher miniaturartig ausgeführter Kabinett-
stücke des Kleinlebens bewahrt George Eliot vor dem pathetisch-
moralisierenden Tone einer Miss Edgeworth, deren Populär
Tales den künstlerischen Bankrott nicht scheuen, wenn nur da-
bei eine moralische Belehrung abfällt Der naive Humor ist es
auch, der ein Band zwischen George Eliot und Walter Scott
herstellt, »diesem geliebten Schriftsteller, der einen Hauptanteil
an dem Glück so manches jungen Lebens hat,« wie sie in
Middlemarch (III, 224) sagt. Erfolgreich strebt sie seinen
schlichten, wackeren Kemnaturen aus dem Volke nach: Jeanie
Deans (Heari of Midlothian) oder Dominie Sampson (Guy
Mannering). Die naturtreue Schilderung des Alltagslebens mit
seinem Scherz und Ernst, der nationale Anstrich in der Sprache
und Darstellung, dies, nicht die Hochlandsromantik, nicht die
historische Gelehrsamkeit, wird ihr in Scott vorbildlich.
VL
Bei weitem den größten Einfluß auf George Eliots Schil-
derung des Kleinlebens aber hat Wordsworth ausgeübt. Manchen
wichtigen Zug hatte sie von Natur aus mit ihm gemein. Beide
wurzelten fief in der englischen Landbevölkerung, beide waren
Kinder des Volkes, hatten aber Not und Sorge nie an sich selbst
erfahren. Infolgedessen suchten sie »in ihrer Dichtung nicht
das Elend des niederen Volkes auf, sondern die Goldkömer rein
menschlicher Empfindung, die trotz Not und Elend im Herzen
des Bauern ruhen, ja hier oft urwüchsiger erscheinen als bei
solchen Menschen, in denen Konvention und Sitte das Beste hat
— 71 —
erstarren lassen«.*) In George Eliot wie in Wordsworth vertrug
sich urwüchsige Einfachheit sonderbar mit einem starken Hange
zur Reflexion. Beiden ist ein bewußt didaktischer Zug eigen.
Wordsworth wünschte »als Lehrer betrachtet zu werden oder als
gar nichts«. In George Eliots Briefen finden sich Stellen wie
folgende: »Ich denke: lebe und lehre! sollte so gut ein Sprich-
wort sein wie: lebe und lerne« (an Miss Hennell, 27. November
1847); oder: »Mein Amt ist das des ästhetischen, nicht des
unterrichtenden Lehrers« (an Mrs. Taylor, 1878). Sie hat, wie
Wordsworth, bei dieser Belehrung mehr die Bildung des Herzens
als des Geistes im Auge, mehr die Erziehung zur Menschlichkeit
als die Bereicherung des Wissens. Wie er möchte sie den
Menschen durch ihre Unterweisung in erster Linie wohltun.
Beiden wohnt ein tiefes Mitgefühl mit der Menschheit inne, das
der wachsende Hang zu weltentrückter, stiller Betrachtung nicht
erstickt, sondern mehr und mehr vertieft. In beiden äußert sich
die ausgesprochene Humanität in entschieden konservativen po-
litischen und sozialen Ansichten. Beiden ist eine Begeisterung
für die Pflicht gemein. George Eliot war sich dieser Oberein-
stimmung mit Wordsworth bewußt. Sie schrieb in bezug auf
ihn an ihrem zwanzigsten Geburtstage an Sara Hennell: »Nie
zuvor stieß ich auf so viele meiner eigenen Gefühle, gerade so
ausgedrückt, wie ich es mochte.« Mr. Gross bemerkt, daß diese
Empfindung bis an ihren Tod vorhielt. Eines der letzten Bücher,
das sie las, war Frederick Meyers Wordsworth, Seinen Ein-
fluß auf Silos Mamer deutet schon das vorgesetzte Motto an;
und zu Blackwood äußerte George Eliot, sie hätte, da Words-
worth tot sei, nicht gedacht, daß dieses Werk außer ihr selbst
noch jemanden interessieren könnte.
George Eliot hatte, wie Wordsworth, ein gutes Stück Eu-
ropa gesehen, aber sie verherrlicht, wie er, die typisch englische
Landschaft, deren Schönheit sie jeder anderen vorzieht. »Sie ver-
dient so viel mehr, daß man sie kennt, als die meisten Orte, die
zu sehen man in die Fremde reist« (an Miss Hennell 1874).
Dieselben Gefühle drückt sie in Looking Backward aus.
«) Marie Qothein, William Wordsworth, Halle 1903.
— 72 —
Die Vorliebe für das nationale Moment beschränkt sich
nicht auf die Schilderung der unbelebten Natur, sondern sie
erstreckt sich auf Menschen und Lebensverhältnisse. Sie alle
sind in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Eliotschen
Romane ausgesprochen englisch, wenn George Eliot auch nicht in
ihrem Engländertume aufgeht wie Wordsworth, der darum der
englische Nationaldichter wurde, während er im Auslande unter
jene Größen zählt, deren Namen jeder kennt, deren Werke aber
die wenigsten gelesen haben. Für George Eliots so viel um-
fassenderen Geist zeugt nicht nur das glänzend gelungene
Wagnis der Romola, sondern auch der mißlungene Daniel
Deronda; dort das Einfühlen in das Leben der Renaissance,
hier in das Denken und Fühlen der semitischen Rasse.
Eine noch schärfere Verschiedenheit macht sich in der
Behandlung des nach der landläufigen Schätzung Minder-
wertigen bei beiden Dichtem geltend. Dieser Unterschied läßt
sich in ein Wort zusammenfassen: George Eliot hat Humor,
Wordsworth nicht. Darum reicht für die kindische Einfältigkeit
oder idiotische Schwäche seiner Helden unsere Geduld nicht
immer aus, während sie uns die uninteressantesten Gestalten vor-
führen darf, ohne das Gespenst der Langeweile zu beschwören.
Was für ganz gewöhnliche alte Frauen sind z. B. unter ihnen!
Die mürrische Lisbeth Bede, Adams nörgelnde Mutter, beschränkt,
derb, abergläubisch, aber durchaus rechtschaffen; Mrs. Davillow,
Gwendolins Mutter (Daniel Deronda)^ eine nicht minder all-
tägliche, gedrückte Frau aus den höheren Klassen, ohne irgend
welche hervorstechende Eigenschaft - es wäre denn eben die
Unbedeutendheit, die sie in allem bekundet, in allem bis auf
ihre große, echte, rührende Mutterliebe.
Diese Gestalten sind vielleicht nicht immer ganz frei von
Plattheit oder Trivialität; niemals aber fühlt sich der Leser ver-
sucht, den Grund ihres geistigen Defizits in einem analogen
Mangel der Dichterin zu suchen. Immer empfindet er wohltuend,
wie hoch sie selbst über ihnen steht, und wie liebevoll sie sich zu
ihnen herabläßt, während man sich bei Wordsworth mitunter doch
erst ins Gedächtnis rufen muß, daß sein eigener Horizont nicht
mit dem seines alten Simon Lee und seiner Ruth zusammenfällt.
— 73 —
Oder man hebe die Dienstboten in George Eliots Werken
heraus. Welch köstlicher Humor in diesen urwüchsigen Mägden,
die gewöhnlich - nach altberfihmten Mustern - das heitere
Oegenbild ihrer Herrschaft sind! Da ist der Unglücksrabe Liddy
(Fdix Holt), bei der man nie sicher ist, ob sie nicht in die
Suppe geweint hat, die über einer erschütternden Lektüre die Eier
vergißt und eine Antwort in der Regel so findet wie einen Schlüssel :
indem man nämlich eine ganze Tasche voll vermischter Schlüssel
ausschüttet Da ist die Prachtfigur der Kammerzofe Denner (Felix
Holt), deren stille Selbstzufriedenheit den Groll der Herrin über
das erbärmliche Frauenschicksal mit den treffenden Worten be-
schwichtigt: i/Es mag gerade kein Glück sein, eine Frau zu sein,
aber man fängt von Kind auf damit an - man gewöhnt sich daran!"
George Eliot schildert nur gute, treue Diener, die wie Nanny,
die wackere Magd der Bartons, ihr eigenes Wohl und ihre Würde
mit denen der Herrschaft identifizieren, und wo es sich um deren
Vorteil handelt, kurzen Prozeß mit allem machen, was ihm im
Wege steht. George Eliots Werke spielen noch in jener Zeit,
trder es lächerliche Anmaßung geschienen hätte, würde eine ge-
borene Dienerin das herbe Schicksal, das ihr geborene Herren
bereiten, nicht untertänig hingenommen haben». So kommt
es, daß ihr Dienerideal nicht als sentimentale Schönfärberei er-
scheint und keine bitteren Erwägungen des Kontrastes auslöst.
Ihre Vorliebe für die gute alte Zeit geht, wie sie gesteht (Arnos
Barton), so weit, daß sie selbst für »die entschwundenen
Schatten gemeiner Irrtümer eine gewisse Sympathie« empfindet,
und diese Vorliebe wird ein den Humor fördernder Faktor. Die
zeitliche Entfernung wirkt als poetisches Medium. Gedämpft
klingt die Trauer wie die Lustigkeit längst vergangener Tage zu
uns herüber; ihre Schuld ist gesühnt, erlittenes wie zugefügtes
Unrecht verwunden. Was uns, in das grelle Licht der Gegen-
wart gerückt, ans Herz griffe, vergoldet der Humor mit seinem
heiter schillernden Licht, wenn wir die nötige Distanz dazu
gewonnen haben. Auch noch in anderem Sinne, im Hinblick
auf die Freiheit des Urteils, kann man von George Eliot sagen,
daß sie ihren Gestalten gegenüber immer Distanz hat, und auch
das hat sie vor Wordsworth voraus.
— 74 —
VII.
Von den einfachen, der Natur nahe stehenden Menschen
war der Weise von Rydalmount einen Schritt weiter gegangen
zu den Kindern, den hilflosen Kleinen, deren Einfalt so oft den
Verstand der Verständigen aussticht. George Eliot folgte ihm
auch darin. In dem Zuge ihrer Gestalten läuft eine ganze Schar
sehr irdischer rotbackiger, dickbeiniger, schelmischer Cherubim
mit, dralle Kerlchen, die von gesunder Lebensfreude, naiver
Selbstsucht und instinktiver Urwüchsigkeit strotzen.
Nirgends feiert George Eliots liebenswürdiger Humor größere
Trium|jhe als in diesen reizenden kleinen Quälgeistern, die für
die Sorgfalt ihrer Umgebung durchaus nicht engelhaft erkenntlich,
sondern vielmehr sehr unartig, für den objektiven Zuschauer
aber meistens entzückend sind: Totty, der verwöhnte Liebling
der Mrs. Poyser, oder Eppie, an der Silas Mamers schüchterne
Versuche der Strenge so kläglich zuschanden werden, und wie
sie alle heißen. Ja, in den Kindergestalten bleibt der Humor
George Eliot auch dann noch treu, als bereits die Zeit der Dürre
angebrochen ist, und sie stellt noch in dem kleinen Jakob
Alexander Cohen (Daniel Deronda) eine köstliche Miniatur-
gestalt hin, die im Keime alle guten und schlechten Eigen-
schaften der Rasse besitzt, ohne daß aus dem Erfahrungskreise
des Erwachsenen etwas, was in der Kinderseele nicht Raum hat,
in sie hineingetragen wäre.
Hierin liegt, genau besehen, überhaupt die Erklärung, warum
George Eliots Kinder vor denen Wordsworths und der meisten ihrer
Zeitgenossen so viel voraus haben: sie sind Kinder, ganze Kinder,
nichts als Kinder, und die Dichterin bezweckt mit ihnen nichts
a,nderes, als Kinder zu schaffen. Bei Wordsworth ist es ein
Herablassen zu den Unmündigen und daneben die eigene Sehn-
sucht nach dem Stande der Unschuld, dem jene Kleinen noch
angehören. Bei George Eliot spielt kein persönliches Moment
mit Sie vergißt ihr erwachsenes Ich, wenn sie sich in das Ge-
müt des Kindes versetzt Sie besitzt in vollem Maße diese Fähig-
keit, die Bulwer, Dickens und Thackeray nicht haben. Bulwers
Kinder sprechen wie die Bücher und sind erfüllt von der Weis-
heit gereifter Erfahrung und klarer Überlegung, oder ihr Emp-
— 75 —
finden wird von ausgeprägten Leidenschaften beherrscht. Der
Knabe Angelo Viilani (Rienzi) führt Reden wie ein verliebter
Ritter; Helen Digbys Hingabe für den kranken Vater (My Novel)
ist von übertriebener Feinfühligkeit und ihr Schmerz bei seinem
Tode der eines ausgewachsenen Pessimisten.
Dickens' »übernatürlich tugendhafte IQnder« erschienen
George Eliot selbst im Widerspruch mit seiner ungewöhnlichen
Fähigkeit, die äußeren Züge der Stadtbevölkerung wiederzugeben.^)
Seine kleinen Helden sind nicht lediglich um ihrer selbst willen
da. Sie sollen möglichst kraß ein soziales Übel zur Anschauung
bringen, das sich von der Folie ihrer Unschuld doppelt scheuß-
lich abhebt. Er schildert darum meistens unglückliche Kinder;
Oliver Twist, Florence und Paul (Dombey and Son), Little
Neil (Old Curiosify Shop), David Copperfield. Wenn nun
aber auch ungeliebte oder verwahrloste Kinder frühreifer sind als
die verhätschelten, sorglich behüteten, so fehlt es doch auch in
ihrem Sein nicht so völlig an jedem Kinderschelmenstück, an
jedem Kindergelächter; so empfinden und denken sie doch nicht
so klar bewußt und führen keine so volltönenden abstrakten
Worte im Munde, mit denen die am Konkreten haftende Kinder-
seele keine Vorstellung verbinden kann. Florence und Paul
müssen den geldgierigen Dombey, dessen Grundsatz lautet: Geld
vermag alles! dazu bringen, daß er ihre Kinderweisheit erkenne:
»was ist schließlich das Geld?« Darum muß Florence den
Tiefsinn einer Sibylle mit der selbstlosen Hingebung einer Gri-
seldis und der Resignation eines einsam gealterten, liebedürstenden
Herzens verbinden, während Paul »ein zweihundert Jahre alter
Zwerg in Kindergestalt« ist. In OUver Twist und David Copper-
field führt Dickens einen erbitterten Kampf gegen die Ruchlosig-
keit und Gewissenlosigkeit der Erziehung. Bei George Eliot
hing^[en fehlt jede polemische Absicht Ihre Schilderungen der
Leiden und Freuden der Kindheit sind Selbstzweck, und es
genügt ihr an einem gelegentlichen leichten Geißelhieb, wie z. B. daß
die Erziehung »in jenen fernen Tagen« lediglich eine Sache des
Glückes oder des Pechs gewesen sei.
Natural History of Qerman Life, Tauchn., S. 194.
— 76 —
In ihren Werken ist das Kind um seiner selbst willen da.
Sie, die Kinderlose, besitzt in erstaunlichem Orade das Organ
für die Naivität des Kindes, das Elizabeth Browning, der glück-
lichen Mutter, so ganz versagt blieb. Die Erinnerung an das
eigene intensive Leben der Kindheit ermöglicht ihr dieses voll-
kommene Einfühlen in die Natur und in die Welt des Kindes,
so daß bei ihren Kleinen selbst außergewöhnlich starkes Denken
und Fühlen niemals den Eindruck einer Verkleidung der Tem-
peramente Erwachsener macht. George Eliot erklärte in reifen
Jahren wiederholt, sie halte die Kindheit keineswegs für das
glücklichste Alter. An Sara Hennell schrieb sie im Mai 1844:
vDie Kindheit ist nur in der Betrachtung, im Rückblick die
schöne, glückliche Zeit; für das Kind ist sie voll tiefer Sorgen,
deren Sinn ihm unbekannt ist Beispiele: Kolik und Keuch-
husten und Furcht vor Geistern, ganz zu schweigen von der
Hölle und dem Satan und einer beleidigten Gottheit im Himmel,
die böse war, wenn ich zu viel Rosinenkuchen haben wollte.
Dann die Sorgen der älteren Leute, welche die Kinder sehen
und nicht verstehen, — sie sind schlimmer als alles.''
Diese Erfahrung wird in Maggies Kindheit verwertet (The
Mill on the Floss), Wen haben die Leiden und Kümmernisse,
die Streiche und Abenteuer des bezaubernden Wildfangs nicht
gerührt und ergötzt; wer ist nicht mit gespanntem Interesse den
nichtigen Kleinigkeiten gefolgt, die in der Welt des Kindes so
gewichtig und weittragend sind. Das Mißverhältnis zwischen
dem tiefen Ernst des kindlichen Denkens und Fühlens und der
geringfügigen Ursache, die den Sturm im Glase Wasser hervor-
ruft, wird hier zu einer Quelle reinsten und frischesten Humors.
Maggies kleine Persönlichkeit überragt in ihrer interessanten
Eigenart, ihrer scharf ausgeprägten Individualität weitaus die
Durchschnittsmenschen ihrer Umgebung. Trotzdem gehen ihre
Vorstellungen und Gefühle niemals über den Horizont des Kindes
hinaus. Ihre außergewöhnlich rege Phantasie bleibt durchweg
in den Schranken kindlicher Einbildungskraft. Es genügt ihr,
daß Bob Jakin einmal eine Schlange in seinem Hut hatte, um
ihn für einen im ganzen etwas teuflischen Charakter zu halten.
In höchster Erregung fühlt sie ein andermal den unabweisbaren
— 77 —
Drang, ihrer Leidenschaft in einer ungeheuerlichen Tat Luft zu
machen: da schneidet sie sich zu allgemeinem Entsetzen und
eigener tiefster Zerknirschung das ungefüge Haar ab! Ehrgeiz
und Selbstgefühl bilden hervorstechende Züge in Maggies Cha-
rakter. Aber ihr Ehrgeiz äußert sich in der kindlichen Entrüstung,
daß man sie nicht für reif hält, das Oeheimnis zu verstehen, das Tante
Pullets Hut umschwebt, und ihr Selbstgefühl ist in naiver Weise be-
friedigt, wenn die alte Zigeunerin sie eine schöne, kluge junge Dame
nennt Ähnlich drückt sich die Eifersucht aus, in der ihr em-
pörtes kleines Herz sich bäumt, als das artige Bäschen sie in
Toms Gunst auszustechen droht: sie stößt die zarte, reinliche
Lucy in den Schmutz! Wie stark auch ihr Empfinden ist, es
geht nie über die dem Kinde zu Gebote stehenden Ausdrucks-
mittel hinaus. Eine Entfernung von zwei Stunden bedeutet auch
für die kluge Maggie das Ende der Welt und ihr Plan, Zigeuner-
königin zu werden, büßt allen Reiz ein, als sie sich überzeugt,
daß es im Zigeunerlande keinen Tee und kein Honigbrot gibt
Fast noch bewundernswerter ist die Präzisierung des Cha-
rakters innerhalb der weichen Züge des Kindes bei dem weniger
S3rmpathischen Tom durchgeführt. Auch seine rhadamantische
Gerechtigkeit, seine Selbstsicherheit und nüchterne Klugheit sind
durchaus knabenhaft und werden fast liebenswürdig durch den
humorvollen Gegensatz zwischen der ernsten Energie seiner Ge-
sinnung und der kindlichen Art ihrer Äußerung. In Toms
spaterem Leben wird sein schwungloser Geist nur durch den
starken Sinn für Ehre und Rechtschaffenbeit in eine höhere
Sphäre gehoben. Erst die Todesstunde knüpft wieder verklärend
an die Traditionen der Kindheit an. Die trauten Erinnerungen
erwachen und drängen sich hervor in dem einen kindischen
Kosenamen: Magsie! und die Geschwister durchleben im letzten
Augenblick die Tage wieder, da sie liebevoll die Händchen in-
einander legten und selbander durch die blütenbesäten Felder
streiften.
VIII.
Von der unentwickelten Geistes- und Gefühlswelt des Kindes
hatte Wordsworth sich in erbarmender Sympathie noch eine Stufe
— 78 —
tiefer herabgelassen zu den armen Zurückgebliebenen, die ihr
Leben lang auf dem geistigen Niveau des Kindes bleiben. Er
hatte sie, sozusagen, literaturfähig gemacht Oeorge Eliot tut es
ihm in ernster Rührung über jene Unglüddichen nicht gleich.
Sie hat den Idioten nur ein einziges Mal in den Kreis ihrer
Dichtung aufgenommen: in der minderwertigen Erzählung Brother
Jacob. In richtigem Instinkt taucht sie hier das Thema in jene
ironisch-humoristische Stimmung, die es vielleicht allein für die
Kunst genießbar machen kann. Der schlaue, seines Erfolges
sichere Betrüger David Fox wird durch den blödsinnigen Jakob zu
Falle gebracht, der seinerseits den Verrat natürlich nicht bewußt
begeht, sondern gerade durch sein Obermaß von Liebe den
stattlichen, freigebigen Bruder verdirbt Zwar wird auch George
Eliot des Abstoßenden, das einem solchen Gegenstände unver-
meidlich anhaftet, nicht immer Herr, doch sie verfällt weder in
Wordsworths Sentimentalität, noch in jene unwahr- pathetische
Apotheose des Gebrechens, wie Bulwer sie in Night and Monüng
bietet, wo er im Gegensatz zu seiner sonstigen Vorliebe für
glänzende Helden dem zurückgebliebenen Kinde Fanny eine
Hauptrolle überträgt. Andererseits aber hält sich unsere Dichterin
auch von Dickens' Neigung fem, pathologische Erscheinungen
geistiger Oberreizung zu komischen Wirkungen zu verwenden,
wie bei Mr. F.'s Aunt und Maggie in Liäle Dornt oder Mr.
Dick in Copperfield, ganz abgesehen davon, daß ja in den
Köpfen seiner meisten Gestalten eine Schraube los ist
Von den geistig Verkürzten ist es nur mehr ein Schritt
zur stummen Kreatur. Wordsworth hatte ihn getan, aber die
doppelte Klippe nicht immer glücklich vermieden, die trockene
Moral: quäle nie ein Tier zum Scherz, und die Erhebung der
Tiematur über sich selbst hinaus. George Eliots Vermögen, sich
ganz und ausschließlich in das zu schildernde Geschöpf zu
versenken, hilft ihr auch über diese Gefahr hinweg.
Sie steht mit den Tieren von dem ländlichen Vaterhause
her auf du und du. Auf dem Lande gehört das Tier zur
Familie. Bei George Eliot sind für ein behagliches, gesegnetes
Heim die Haustiere so unentbehrlich wie die Kinder. Als Silas
Marner aufgehört hat, ein verbitterter Junggesell zu sein, ist es
— 79 —
selbstverständlich, daß in dem traulichen Idyll seiner Hütte auch
Hund und Katze nicht fehlen dürfen. »Ich habe ein sonder-
bares Gefühl für die stummen Dinge,« läßt sie Dinah Morris
sagen (Adam Bede, 1, 156), »als wollten sie sprechen und wären
bekümmert, daß sie es nicht können. Ich kann nicht umhin,
die Hunde immer zu bedauern, obwohl vielleicht kein Orund
dazu vorhanden ist Doch sie mögen wohl mehr in sich haben,
als sie uns verständlich machen können, denn wir können ja mit
allen unseren Worten nicht die Hälfte von dem sagen, was wir
fühlen.« Und Bob Jakin sagt {Mill on the Floss, S. 455): »Es ist
etwas Schönes, wenn ein stummes Vieh einen lieb hat; es bleibt einem
treu und macht kein Oeklatsch.« Sie selbst gibt in ihren Briefen
heitere Momentbilder aus dem Leben eines Mopses, den ihr Blackwood
schenkte, und in London sind die Spaziergange im Zoologischen
Garten ihre Hauptzerstreuung. In Italien dünken sie die huschen-
den Eidechsen ein Teil des hellen Sonnenscheins dieses Landes.
Oft gibt sie in wenigen Strichen eine lebensvolle Skizze des
Tieres, deren Meisterschaft eben darin liegt, nie über die Naivität
und die Bescheidenheit der Natur hinauszugehen. Man ver-
gleiche mit ihnen Mrs. Brownings To Flush, das überschweng-
liche Gedicht an den kleinen King Charles, ihren unzertrenn-
lichen Gefährten in der Krankenstube, den sie in Wordsworth-
scher Manier als »freundliches Mitgeschöpf« anredet und als
Symbol der Treue segnet Was wir erblicken, ist weniger das
wirkliche Hündchen als sein verklärtes Spiegelbild in der Seele
der erregten Dichterin.
So verrät auch Dickens' köstlicher Rabe Grip (Bamaby
Rudge) mehr den Humor des Dichters als den des Tieres, über
dessen Fähigkeiten Grips witzige Redefertigkeit hinausgeht
George Eliot dagegen überträgt ihre Vorliebe für die Mittel-
mäßigkeit des Durchschnittes vom Menschen auf das Tier. In
Arnos Barton erklärt sie ihre Sympathie für die plumpen
Hundemischarten, die niemandes Lieblinge sind. Auch das Tier
lebt in ihren Werken sein eigenes Leben; es ist um seiner selbst
willen da, so gut wie die höhere Kreatur. Zumal ihre Hunde
sind von unnachahmlicher Echtheit und Mannigfaltigkeit Man
hebe beispielsweise die Hunde in Adam Bede heraus. Jeder
— 80 —
hat seine ausgeprägte Individualität, welche zugleich ein feines
Beiwerk zur Charakteristik seines Herrn bildet Da ist Adams
unschöner Hund Qyp. Ihm ist das Ausdrucksmittel seiner Ge-
fühle, der Schwanz, versagt; aber er ist ein Muster redlicher
Pflichterfüllung, nicht allerwelts Freund, doch von unverbrüch-
lieber Treue, wie Adam selbst. Dann die Hunde des Rektors
Irvine: der braune Spürhund Juno mit seinem matronenhaften
Mutterstolze und der altjüngferliche übellaunige Mops. Da ist
femer Mrs. Poysers vielverdächtigter schwarzgelber Terrier und
vor allem das Teckelweibchen Vixen, an deren Klugheit und Treue
der eingefleischte Weiberhaß des wackeren Schulmeisters Bartle
Massey zuschanden wird. Die Schilderung, wie i;das schlaue,
heuchlerische Frauenzimmer«, das er ahnungslos über sein Ge-
schlecht vom Wassertode gerettet hat, nun zum Dank sein Haus-
gesetz verletzt, indem es ihm die junge Brut beschert, und das
noch dazu am Sonntage zur Zeit des Kirchganges - wie Bartle
aber trotz seiner Entrüstung gewissermaßen unter dem Pantoffel
des klugen Tieres steht, das sich ihm ins Herz gestohlen: alles
das ist in seinem unnachahmlichen Humor eine Glosse zum
Verhältnis zwischen Mann und Weib, wie sie feiner und heiterer
nicht gedacht werden kann. Wenn George Eliot nichts Humo-
ristisches geschrieben hätte als die wenigen Blätter, deren Heldin
Vixen ist, so würde sie sich mit dieser einen Perle, in der Ernst
und Scherz, Rührung und Lachen, Sympathie und Ironie zu
einem wunderbaren Ganzen verschmelzen, würdig unter die großen
Humoristen reihen.
IX.
Ein einziges Mal ist George Eliot, einer Zeitstimmung folgend,
von ihrem Prinzip, mit dem Natürlichen, Alltäglichen auszu-
kommen, abgewichen und hat eine Abschwenkung in das Gebiet
des Spiritistisch -Mystischen gemacht Die Erzählung The lifted
Veil (1859) war ein Zugeständnis an jene Epoche, die sich für
Mesmerismus, Tischrücken und dergleichen interessierte, und der
auch die übrigen zeitgenössischen Romanschriftsteller ihren Tribut
zahlten. Bulwer, der sich über The lifted Veil in bewundern-
den Ausdrücken erging, hatte (l 842) ebenfalls einen spiritistischen
— 81 —
Roman Zanoni - vielleicht unter der unmittelbaren Einwirkung
von Codwins St Leon und Shelleys St Irvyne — geschrieben :
die Geschichte zweier Rosenkreuzer, die ein Lebenselixier be-
sitzen und Generationen überdauern. Bulwer wollte dartun, daß
Wissen die Magie in Natur auflöse, und er empfand über
sein Werk die größte Befriedigung, obzwar er dem Leser selbst-
redend die Auflösung der letzten Geheimnisse schuldig bleiben
und seine Zuflucht zu dem Notbehelf nehmen mußte, daß die
Ordensregel verbiete, sie dem Neophyten mitzuteilen.
Dickens' The haanted Man or the Ghost Bargain nennt
Forster*) eine Qeisterphantasie. Der Geist, der dem schwer-
mütigen, über seine unglückliche Jugend brütenden Chemiker
erscheint, kann für eine Verkörperung seiner eigenen Gefühle
gelten, mit der er Zwiesprache pflegt
Charlotte Bronte enthält sich bei dem Wunder in Jane Eyre
- Rochester vernimmt die Stimme der fernen Jane (Band IV,
S. 336) - jeder erklärenden Anmerkung oder persönlichen
Meinungsäußerung. Vielleicht ist es eine Wirkung der alle
irdischen Schranken durchbrechenden Macht der Liebe, ähnlich
der magischen Anziehungskraft zwischen George Sands Consuelo
und dem jungen Grafen von Rudolstadt, dessen Halluzinationen
die Folgen seiner Heräensvereinsamung sind, während sich hinter
der anscheinenden geistigen Unzurechnungsfähigkeit seines Freun-
des und Dieners Zdenko in Wahrheit der Tiefsinn des Weisen
verbirgt
In The Ufted Veil ist Latimers anormaler Geisteszustand
die Folge einer Erkrankung. Er besitzt einen übernatürlichen
Einblick in künftige Geschehnisse und in die Gedanken seiner
Mitmenschen. Da er das Üble nicht abzuwenden vermag, wird
ihm die Gabe zum Flüche. Jedes schreckliche Ereignis hat er
lange voi-her schon im Geiste erlebt, so daß es, wenn es wirk-
lich eintrifft, für ihn nur wie eine Erinnerung altvertrauter Qual
ist Möglich, daß die mit überempfindsamen Nerven ausgestattete
Dichterin ihre eigene hochgradige Fähigkeit, sich im voraus zu
ängstigen und durch einen gesteigerten Tiefblick in Dinge und
1) Ufe of Dickens, IV, 220.
Wissensdiaftl. Franoiarbeiten. IV. V. Richter, Eliot.
— 82 —
Geschehnisse zu quüen, hier objektiviert und ins Übernatürliche
vergrößert hat.
Es erhellt aus The Ufled Veil nicht unmittelbar, daß
George Eliot eine G^[nerin des Spiritismus war. Aber er dünkte sie
dennoch entweder »erniedrigende Geistesschwäche bei der Schätzung
des Sinnenfälligen oder freche Betrügerei« (Brief an Mrs. Beecher
Stowe, Juli 1 869). Ja, es berührte sie fast wie eine »Irreligiosität, die
Aufmerksamkeit von den sicheren Methoden für das Studium des
offenen Geheimnisses der Natur ab- und angeblichen Offen-
barungen zuzulenken, die durch niedrige Abenteuer und hand-
greifliche Prellereien so verunglimpft und hoffnungslos in die
ganze Zweifelhaftigkeit individueller Zeugenaussagen verwickelt
sind'«. Der Schwerpunkt ihrer Erzählung sollte darauf fallen,
wie. entsetzlich das Los des Menschen sich gestalten würde, wenn
seine Natur den einfachen menschlichen Verhältnissen nicht an-
gepaßt wäre (The lifted Veil, Tauchn., S. 36). Um dieser Idee
willen war ihr die Novelle lieb (Brief an Blackwood, Febr. 1873).
Dennoch verliert sie gewissermaßen den Boden unter den Füßen
in dem Augenblicke, da sie ihr ureigenstes Gebiet, die reale
Wirklichkeit, verläßt und sich in eine Sphäre des Unberechen-
baren und Phantastischen wagt, in der der Mensch über sein
Tun und Lassen keine Rechenschaft mehr geben und für sein
Schicksal nicht mehr verantwortlich gemacht werden kann. Die
erlösende Kraft des Humors, durch die sie sich allein über einen
solchen Gegenstand hätte erheben können, bleibt völlig aus, und
sie steht ihrem fremdartigen Thema wie in scheuer Unfreiheit
gegenüber.
X.
Und doch beweist auch dieser mißglückte Versuch, auf eine
ihr fremde und unsympathische Weltanschauung einzugehen, die
ungeheuere Weite ihres Horizontes, die recht eigentlich das Merk-
mal ihrer künstlerischen Persönlichkeit ist. Diese Vielseitigkeit
bewahrt auch George Eliots Humor vor jener Gefahr, die für
die Humoristen nur allzu leicht verhängnisvoll wird: vor der
Karikatur. Stets hat sie das Ganze der menschlichen Natur mit
allen ihren Ungleichheiten und Gegensätzen im Auge, und die
— 83 —
Fähigkeit, sie sozusagen bis zum letzten Rest in ihren innersten
Tiefen auszuschöpfen, verhütet das einseitige Hervorheben einer
einzigen Eigenschaft auf Kosten der anderen. Bei Dickens ist
häufig die ganze Gestalt nur um einer Eigenschaft willen da.
In einem Aufsatze,') an dem nur das eine tadelnswert ist, daß er ein
Jahr nach dem Tode des bei Lebzeiten uneingeschränkt bewun-
derten Dichters erschien, behauptete Lewes nicht mit Unrecht,
Pecksniff, Micawber, the Marchioness seien nur Masken; keine
Charaktere, sondern nur personifizierte Eigentümlichkeiten oder
vielmehr Verzerrungen der menschlichen Natur. Er verglich sie
mit hölzernem Kinderspielzeuge, das auf Rädern laufe, und gestand
Dickens im großen und ganzen nicht Humor, sondern nur Scherz
zu. Dies mag wohl für jene kleinlichen Mittel gelten, durch
welche er auf unsere Ladimuskeln zu wirken sucht: die fort
und fort wiederkehrenden Redensarten oder die in geschmack-
loser Weise zu Tode gehetzten äußerlichen Unarten oder an sich
unwesentlichen Schrullen. Freilich darf man nicht außer acht
lassen, daß die Grenzlinie zwischen Posse und Humor jenseits
des Kanals nicht vollkommen mit der uns geläufigen zusammen-
fällt Man vertragt und liebt dort grellere Farben, derbere Töne.
Gestalten, die uns grotesk erscheinen, werden von englischen
Kritikern als humoristische Meisterwerke gepriesen. Mrs. Gamp
(Chazzlewip nennt Forster die glücklichste Schöpfung humo-
ristischer Kunst in sämtlichen Werken von Dickens, und Micawber
(Copperfield) die Krone englischer Fröhlichkeit. Vieles, was
wir als burlesk empfinden, nahm das englische Publikum
einfach als eine Äußerung jenes köstlichen Spieltriebes auf,
der in Dickens ein schier unerschöpflicher Quell harmlosen
Ergötzens geworden schien. So ist es begreiflich, daß sein
viel bejubeltes Beispiel auch einmal vorbildlich auf George Eliot
wirkte. Die Dodsons (MiU on the Floss) haben eine ent-
schiedene Familienähnlichkeit mit Dickensschen Gestalten. Die
stark aufgetragene Lächerlichkeit der drei Ehepaare Deane, Q\t%g
und Pullet verletzt trotz vieler fein beobachteter und ergötzlicher
Einzelzüge doch die bescheidene Zurückhaltung der Natur, über
1) Dickens in Relation to Criticism. Fortnighüy Rev. Febr. 1872.
6*
84
die George Eliot gewöhnlich nicht hinausgeht. Die karikatur-
mäßigen Züge überwuchern in aufdringlicher Weise die Gestalten,
die schließlich nichts anderes als Personifikationen schrullen-
haften Eigendünkels und tränenreicher Eigenliebe scheinen, ohne
daß diese Übertreibung einem praktischen, erzieherischen Zwecke
diente wie bei Dickens. Indessen darf auch hier nicht ver-
schwiegen werden, daß viele von George Eliots englischen Kri-
tikern gerade die Onkel und Tanten in The MUl on the Floss
als Kabinetstücke humoristischer Porträtkunst gepriesen haben.
Der deutsche Leser dürfte ihnen die mit matteren aber desto
feiner abgetönten Farben und mit lebenswahrer Rundung gezeichnete
Gestalt des Hausierers Bob Jakin vorziehen, dieses grundehrlichen
Jungen, dem es doch einen Hauptspaß macht, die feilschenden
Weiber ein wenig übers Ohr zu hauen, und der bei allertreuester
Ergebenheit den eigenen Vorteil doch auch den herabgekom-
menen Herrenkindem gegenüber nicht aus dem Auge läßt.
Im großen und ganzen bekundet George Eliot gerade im
Humor ihre hochstehende Persönlichkeit, die gelernt hat, ihre
eigene Fülle zu beherrschen, jedes Obermaß zu meiden, jede
Willkür zu verschmähen. Ihr Humor entquillt dem inneren
Reichtum ihrer Natur; er ist darum auch in ihren Werken kein
äußerliches Moment der Darstellung, das sich ausscheiden ließe,
sondern ein unzertrennlicher Bestandteil der Charaktere uiid
Situationen. Er ist nicht querköpfig, fessellos, sprunghaft wie der
Humor Jean Pauls oder Sternes, nicht phantastisch, satirisch,
zynisch wie der Humor Swifts; er entspringt als unscheinbare
Pflanze einem nicht überfetten aber gesunden Boden und ent-
faltet im warmen Sonnenschein inniger Menschenliebe eine Blüte,
die vielleicht nicht durch Farbenpracht blendet oder durch üp-
pigen Wohlgeruch betäubt, aber in ihrer schlichten Schönheit
Auge und Sinn erfreut, erquickt und sich in vieler Hinsicht auch
als heilkräftig erweist.
Die Frauenfrs^e.bei George Elioi
George Eliot war durch und durch, was man in England ä
womanfy . woman nennt »Sie war und wünschte als Frau
vor allen Dingen weiblich zu sein« sagt ihr Gatte, Mr. Gross.
Als einen der bezeichnendsten Züge ihres Charakters hebt er
ihre Abneigung gegen alles an den Begriff des Männweibes
Streifende hervor, wobei er unter diesem abschreckenden Gattung»^
namen eine viel größere Menge von Frauenarten und Abarten
zusammenzufassen scheint, als wir es in der Regel tun.
Ererbte Anschauungen und erste Kindheitseindrücke be-
festigten in George Eliot die Oberzeugung, daß das Haus, die
Familie naturgemäß das ausschließliche Gebiet weiblicher Tätig-
keit sei. Dem Kinde Mary Ann pflanzte die wackere Mutter den
Sinn für Ordnung und Pflicht ein. Seine erste Anleitung war
auf praktische Tüchtigkeit gerichtet, sein erstes Ideal von Frauen-
wert und Frauenglück war das segensvolle Walten des Weibes in
seinen vier Wänden als Tochter, Gattin, Mutter. So tief drang
der jungen George Eliot der Glaube an die notwendige Erfüllung
häuslicher Pflichten ins Blut, daß sie darin auch der ungestüme
Wissensdurst nicht säumig machte, der sie zu weit über den ge-
wöhnlichen Ideenkreis heranwachsender Mädchen hinausgreifenden
theologischen, philosophischen und philologischen Studien führte.
Selbst noch in späteren Jahren galten ihr die Haushaltungspflichten
als die Grundlage aller Frauentätigkeit, und der Gedanke ver-
letzte sie, daß eine Frau sich von ihnen freisprechen sollte, weil
sie außergewöhnlidie geistige Fähigkeiten besäße. »Sie tat sich
etwas darauf zugute, eine vortreffliche Wirtin zu sein,« erzählt
Mr. Gross. Die Wichtigkeit, die sie einem geordneten Haus-
— 86 —
wesen beilegte, erhellt aus Briefstellen über Dienstbotenangelegen-
heiten und kleine Wirtschaftssorgen. Mr. Gross, der sie im Voll-
besitze des Ruhmes und eines stattlichen Vermögens kennen lernte,
erwähnt ihre Oeschicklichkeit mit der Nadel Noch 1 874 tut sie den
echt weiblichen Ausspruch: »Eine oder die andere manuelle Fertig-
keit ist notwendig für die Vollkommenheit des Lebens und über-
brückt Zeiten des Zweifels und der Niedergeschlagenheit."
Dies alles soll nun nicht etwa beweisen, daß George Eliot
ihre Vormittage gleichmäßig zwischen dem Kochlöffel, der Näh-
nadel und der Feder verteilt habe. Wenn nichts anderes, so
hätte sie eben ihr praktisches Pflichtgefühl und ihr haushälterischer
Sinn davor bewahrt. Sie hatte durch ihre Verbindung mit Lewes
die Sorge für eine Familie übernommen und MoiBte den Wert
des Geldes zu schätzen. Paul Heyse erzählt, wie sie sich bei
ihrem Aufenthalt in München (1858) einmal von einer Landpartie
ausschloß und ruhig erklärte, sie wolle zu Hause bleiben:
,,/ mast mähe mon^J* »Es liegt mir sicherlich sehr viel am
Gelde," schreibt sie im Mai 18S9 an Btackwood, »wie wohl
allen Leuten daran liegt, die die Unabhängigkeit lieben und ge-
lernt haben, Schulden und Bettel, abgesehen vom Verbrechen,
für die zwei entehrendsten Dinge zu halten.« Den Verlegern
gegenüber lernte sie rasch ihre Preise stellen. Einer amerika-
nischen Zeitschrift, die sie 1859 um eine Erzählung anging,
erklärte sie, für weniger als 1000 Mark keine überlassen zu
können. Ihr ganzes Gebaren trägt in allem den Stempel der
Pünktlichkeit, Klugheit, Überiegung.
In allem - bis auf das eine, das von alledem das Gegen-
teil ist und doch den Kern ihres Lebens bildet: ihre Liebe.
Auch darin äußert sich das spezifisch Weibliche ihres Charakters,
daß wie in jedem richtigen Frauenleben, in ihrem Dasein voll
Arbeit, voll Ruhm, voll weltumfassender Ideen die Liebe ein
Hauptkapitel, ja den Brennpunkt ihres Glückes, den Schwerpunkt
ihres Alls bildet.
Die Überschwenglichkeit ihres Empfindens trug häufig selbst
über ihren starken Verstand den Sieg davon. Als Kind schon
überflutete ihr kleines Herz eine Fülle leidenschaftlicher Liebe, die
größtenteils dem älteren Bruder galt Ihr folgt die sentimentale
— 87 —
Freundschaft der Backfischjahre. Nach dem Tode des Vaters
beschleicht Mary Ann ein Gefühl schmerzlicher Vereinsamung.
Mit der ihr eigenen Gabe, durch ein der Alltäglichkeit entnom-
menes Bild einem Gedanken die schärfste Prägung zu geben,
schreibt sie 1849: irich bin eine Art überzähligen Löffels, und
das Service wird nicht Schaden nehmen, wenn ich verloren gehe.«
Ihr heißester Wunsch geht nach einer » Frauenpflicht«, nach
irgend einer Möglichkeit, sich »ganz zu widmen, wo ein tägliches
Resultat reinen, stillen Glückes im Leben eines andern sichtbar
würde«. Mit dieser großen Sehnsucht im Herzen sitzt sie in
der Redaktionsstube der Westminster Review. Der Beruf ist ihr
die zum Lebensunterhalt notwendige Arbeit, kein Ausleben des
Geistes. Da zeigt ihr das Schicksal den Mann, dem sie alles
werden kann, und der ihr seinerseits jenes reiche Maß von liebe-'
vollem Verständnis entgegenbringt, nach dem sie dürstet. Und
George Eliot folgt mit jener weiblichen Ausschließlichkeit des
Empfindens, die nur das eine erkorene Ziel ins Auge faßt und
sich über alles andere hinwegsetzt, widerstandslos getrieben, der
Gewalt ihrer Liebe zu dem vor dem Gesetze bereits gebundenen
Lewes. Und als dieser nach einem zwanzigjährigen- Zusammen-
leben, das im höchsten Sinne des Wortes eine Ehe war, stirbt,
überrascht die an der Schwelle des Greisenalters stehende Witwe
die Welt zum zweiten Male durch ihre Vermählung mit einem
wesentlich jüngeren Manne. Wie das erste, so schien dieses
zweite Bündnis ihr ganzes früheres Leben Lügen zu strafen.
Und doch äußerte sich gerade in diesem doppelten Widerspruch
die tiefe Konsequenz ihres innersten Wesens. Lewes erklärt
Mr. Gross, und Mr. Gross erklärt Lewes, sagt sehr richtig Arvide
Barine. ^) Solange ihr Herz noch schlug, war es von jener
eingeborenen Kraft der Liebe beherrscht, die es nicht ertrug,
brach zu liegen. Wären ihr Kinder beschieden gewesen, hätte
die alternde Frau ihren Herzensreichtum in der Mutterliebe be-
tätigen können, würde ihr der Gedanke an eine Wiedervermählung
wahrscheinlich nicht gekommen sein. Aber das Alleinsein ertrug
sie nicht. Sie hatte ein Bedürfnis, sich an andere zu schmiegen,
Portmits de Femmes, Paris, Hachette.
— 88 —
von ihnen gehätschelt zu werden, sidi ihnen liebend unterzu-
ordnen. Als Kind erkannte sie willig die Autorität des henrisdien
Bruders an, späterhin konnte sie der schützenden Bevormundung
des Gatten nicht entraten. ' Eine an sich ganz gleichgültige Stelle
in The Mill on tke FIoss ist so recht bezeichnend für ihr
eignes Veriangen nadi einer Stütze: Stephan Ouest bietet Maggie
den Arm, und George Eliot knüpft daran folgende Reflexion:
»Es liegt für die meisten Frauen etwas merkwürdig Anziehendes
in diesem Darreichen eines starken Armes. Die Hilfe wird
physisch im Augenblick nidit gefordert, aber der Begriff der
Hilfe, das Vorhandensein, die Gegenwart der Starke, die auBer
dieser Person ist und doch ihr gehört, begegnet in der Phantasie
einem dauernden Mangel."
Wie die erhabene Romola wonnevoll erbebt bei der Um-
armung des ungetreuen Tito, so bedurfte George Eliot des
Mannes. Sie war physisch auf ihn angewiesen. Ein üb^-
empfindliches Nervensystem schien sie von Natur aus zu einer ge-
wissen Schwäche und Abhängigkeit verurteilt zu haben. Als
Kind litt sie wie ihre Gwendolin (Daniel Deronda) an Ge-
spensterfurcht, an quälenden Anfällen von Angst, die sie nachts
heimsuchten. Eine übertriebene Schreckhaftigkeit blieb ihr zeit-
lebens eigen. Ein Mangel an seelischem Gleichgewicht verbitterte
ihr einen guten Teil des Lebens. »Jede Art Besorgnis wird bei
mir gleich zu einem ungeheuren Geier «<, klagt sie, ff und drangt
mir seine Gegenwart mehr auf als meine reichen Quellen des
Glückes." Qualvolle Zweifel an ihrer Schaffenskraft bereiten ihr
während der Arbeit Stunden und Wochen bitterster Pein, die alle
Triumphe des vollendeten Werkes kaum aufwiegen. Bei zu-
nehmendem Alter steigert sich das Gefühl der Verantwortlichkeit,
das die früheren Erfolge in ihr erregen, zur Gewissensangst. So
bedurfte sie mehr als andere des Zuspruches und der Aufmunte-
rung. Ein Tadel traf sie unendlich tiefer als weniger sensitive
Naturen. Die Energie, fremdem Urteil gegenüber ihrer selbst
Herr zu bleiben, besaß sie nicht und strebte sie kaum an. Zur
Zeit ihres höchsten Ruhmes, als ihr Empfangszimmer ein Sammd-
punkt der geistigen Elite geworden war, blieb ihrem Wesen eine
gewisse, dem Bewußtsein ihrer nicht einwandfreien geseilschaft-
-- 89 ^
lidien Siellut^ entspringende Schüchternheit eigen, die sich hinter
einer feierüdien Stattli^keit der Manieren verschanzte.^) In
ihren Briefen kann man zwischen den Zeilen. lesen, wie wohl es
ihr tat, als die Damen der Familie Gross sich um ihre Liebe
bewarben, ja wie es ihr schmeichelte - ihr, der ersten Frau des
Jährhunderts. Sie war so wenig frei von dem ausgesprochen
weiblidien Kriterium der Dinge, daß sie auch der Name Oeoiige
Eliot nicht völlig für den »guten Namen "^ zu entschädigen ver-
mochte, den sie durch ihr Zusammenleben mit Lewes in den
Augen vieler eingebüßt hatte.
II.
Diese durch und durch weibliche Persönlichkeit hatte die
Natur zum Träger eines Genius von außergewöhnlicher Kraft
und Energie gemacht Viele charakteristische Eigenschaften ihrer
Begabung waren solche, die man gewöhnlich als männliche be-
zeichnet Die Tiefe und Vielseitigkeit ihrer Studien gab ihr einen
Horizont, dessen Weite Goethisch genannt werden kann und
unter den Frauen des Jahrhunderts kaum seinesgleichen haben
dürfte. Ein zielbewußter Wille bewahrte sie trotz ihrer mannig-
faltigen Interessen vor Zersplitterung, und weder ihr inniges Zu-
sammenleben mit dem geistig so bewegliehen Lewes, noch der
anregende Verkehr mit den gewaltigen Persönlichkeiten ihres
Londoner Kreises vermochte ihre innere Selbständigkeit anzutasten.
In ihrer Jugend überwog die Verstandestätigkeit, und selbst
in ihren Romanen herrscht noch die klare Vernunft entschieden
über die Phantasie. Dieser ihrer vom Verstände ausgehenden
Künstlerschaft ist es heiliger Ernst mit ihrer Aufgabe. Die Dich-
hing ist für George Eliot kein traumhaftes Spiel, sondern ein
hohes, mitunter schweres Schaffen. Hiermit hängt eine gewisse
Ungelenkigkeit in der Handhabung der Form zusammen; der
Vers wird ihr leicht zur Fessel. Ihr scharfer, kühler Blick er-
möglicht die Unparteilichkeit ihren Helden gegenüber, die strenge
Verteilung von Licht und Schatten, das gerechte Abwägen von
Schuld und Sühne, das ausgleichende Ineinandergreifen von Leben
*) Vgl. Ch. Oordon Arnes, Qeorge Eliots two Marriages, Phila-
delphia 1886.
— 90 —
und Tod. Alles männliche Eigenschaften! Und doch ist George
Eliot auch als Schriftstellerin ganz Weib, ausschließlich Weib.
Sie ist es mit vollem Bewußtsein, mit voller Absicht In
ihrem Aufsatze Women In France (Westminster Review, Ok-
tober 1854) führt sie den Beweis, daß nur in Frankreich die
Frauen einen wesentlichen Einfluß auf die Literatur ausgeübt
hätten, daß sie nur dort eine klaffende Lücke hinterließen, wenn
sie daraus verschwänden; und die Quelle ihrer Überlegenheit
erblickt George Eliot darin, »daß sie den Mut ihres Geschlechtes
hatten. Sie dachten und empfanden als Frauen, und ihre Bücher
wurden zum vollsten Ausdruck ihrer Weiblichkeit Weil sie sich
selbst treu waren, weil sie ihre Inspiration aus ihrer eigenen
Lebenserfahrung schöpften und nicht in knechtischer Weise die
der Männer nachahmten, eben darum haben ihre Briefe und
Memoiren, ihre Novellen und Gemälde für den Kunst- und Litera-
turforscher einen entschiedenen, ja einzigen Wert«
George Eliot behauptet, die physiologische Verschiedenheit
beider Geschlechter äußere sich auch in ihrer Lebensauffassung und
dürfe nicht verwischt werden. Die englische Frauenliteratur
bestehe mit wenigen Ausnahmen aus Büchern, die Männer besser
geschrieben hätten, aus Büchern, die sich zur Literatur verhielten
wie akademische Preisgedichte zur Poesie: wenn sie keine schwache
Nachahmung sind, so sind sie gewöhnlich eine alberne Über-
treibung. Dies soll nicht sein. »Die Wissenschaft ist geschlechtlos.
In der Kunst und Literatur aber, die die ganze Tätigkeit des
ganzen Wesens umfaßt, in die jede Fiber der Natur verwickelt
ist, in der jede Modifikation des Individuums sich fühlbar macht,
hat die Frau etwas Spezifisches beizutragen.«
Dieselbe Frage hatte von demselben Standpunkt aus schon
zwei Jahre vorher Lewes ins Auge gefaßt (Lady Novelists, West-
minster Review, Juli 1852). Wie Männer zu schreiben, das sei das
Ziel und die fortwährend lauernde Sünde der Frauen, sagte er;
wie Frauen zu schreiben, hingegen das wahre Amt, das ihnen
obliege. Der Mann sei außerstande, das Leben anders darzu-
stellen, als er es aus Erfahrung kenne. Das Hinzukommen der
Frau verspreche der Literatur nun die Lebensanschauungen und
Erfahrungen des Weibes. Der häusliche Kreis erhalte seine wahrste
— 91 —
und gemfitiicfaste Darstellung durch die Frau, die in ihm lebt.
Ihre größere Liebe, der größere Umkreis und die größere Tiefe
ihrer Oemfitserfahrung befähigt sie, Qemütstatsachen des Lebens
zum Ausdruck zu bringen. Die Frau fordert in der Literatur einen
Platz, der demjenigen entspricht, den sie in der Gesellschaft ein-
nimmt Darum hält Lewes die Prosadichtung (Fictionf von allen
Gebieten der Literatur am besten für sie geeignet; denn ihr Haupt-
inhalt sei Liebe, und Liebe bilde die Geschichte eines Frauen-
lebens. Er ist der Meinung, daß die Feinheit des Details und
das Pathos der Empfindung der Frau besser gelingen werde als
dem Manne, während George Eliot, bescheidener, die charakte-
ristischen Elemente, die die Frau der Literatur zuführe, in jener
Klasse von Gefühlen sieht, die dem Manne unbekannt seien: in
den mütterlichen Empfindungen und in der verhältnismäßigen
physischen Schwäche der Frau.
George Eliot ahnte nicht, als sie dies schrieb, wie weit sie
selbst über das Gebiet, das sie den schriftstellemden Frauen hier
absteckt, hinausgehen Mrürde. Dem damals ausgesprochenen Prinzip
ist sie jedoch auch zu einer Zeit treu geblieben, in der ihre
Universalität es wagen durfte, das Gesamtleben der Kleinstadt
zum Gegenstande eines Romans zu machen (Middkmarch): sie
hat niemals angestrebt, durch die Brille des Mannes zu sehen.
IT Vergeblich hat sie die Maske eines Mannes gewählt, die Züge
einer Frau sind überall sichtbar. Kein Mann hätte ihre Bücher
schreiben können, denn kein Mann hätte, selbst mit einem dem
ihren ebenbürtigen Genius, ihre Erfahrung haben können.« Diese
Worte, die Lewes über George Sand schrieb, gelten auch für
George Eliot. Alle Vielseitigkeit und Tiefe des Geistes, alle
kritische Schärfe, alle wissenschaftliche Schulung des Denkens
sind nur die Folie für ihren spezifisch weiblichen Charakter, dienen
nur dazu, ihn destomehr hervortreten zu lassen. Ihr politisch-
sozialer Standpunkt bleibt stets der Antigones: nicht mit zu
hassen, mit zu lieben bin ich da! Ihr Humor wird nie zur
Satire; ihre Kleinmalerei verrät durch minutiöse Feinheit das Auge
des Weibes, während ihrer Naturschilderung das Idyll am besten
gelingt Die Kunst wird ihrem Frauenherzen zur Religion, und
ihr ethisches Pathos überwiegt ihren ästhetischen Sinn.
— 92 —
Trotz des Männeraamens, unter dem die Ckrical Scenes
erschienen, trotz der theölogisdien Spezialkenntnisse, die sie be-
kunden, schrieb Dickens doch nach ihrer Veröffentlichung: wenn
sie von keiner Frau herrührten^ so glaube er, daß seit Beginn
der Welt kein Mann so sehr die Kunst besessen habe, sich geistig
der Frau anzupassen.
Die Tatsache, daß George Eliot ein männliches Pseudonym
wählte, scheint auf den ersten Blick ein Widerspruch gegen ihre
absolute Weiblichkeit, scheint ein Gegensatz zwischen Theorie und
Praxis, wie er bei unserer Dichterin mehrfach aufstößt. Als ihre
Schwägerin Mary Gross 1871 zweifelte, ob sie eine Novelle unter
ihrem eigenen Namen herausgeben sollte, schrieb ihr George Eliot:
»Meine Oberzeugung ist, es sei Recht, zu unterzeichnen, wenn
nicht widitige Gründe dagegen sprechen." Der wichtigste Grund,
der sie selbst abhielt, mit ihrem Namen hervorzutreten, war wohl
der, daß sie keinen rechtmäßigen Namen besaß. Sie war nicht
mehr Miss Evans und war vor dem Gesetze nicht Mrs. Lewes.
Daß sie nun, da sie zu einem Pseudonym greifen mußte, wie
George Sand den Namen des Geliebten als das Zeichen wählte,
in dem sie zu siegen hoffte, ist einesteils ein Beweis ihrer weib-
lichen Unterordnung, andernteils ein Zugeständnis an ihre gegen
Frauenarbeit von vornherein mißtrauische Zeit.
IIL
Diese Zeit (die Mitte des XIX. Jahrhunderts) war, von
wenigen vereinzelten Kämpfern abgesehen, in der Frauenbewe*
gung eine Periode der Reaktion oder zum mindesten des Still-
standes. George Eliot bezeichnet 1855 Mary Wollstonecrafts
Vindication of the Rights of Women als ein verschollenes Buch
(Margaret Füller und Mary WoUstonecraft m The Leader). In
gewisser Hinsicht war Mary Wollstonecrafts Werk nicht ohne
Wirkung geblieben; die Frauenerziehung hatte sich dodi aus dem
gröbsten herausgerungen. Die absichtliche Schwächung des Geistes
und Körpers, die für die Damen der Rokoközeit feine Erziehung be-
deutete, war nun ein überwundener Standpunkt. Man kam jetzt darauf,
daß Ohnmachtsanfälle und Weinkrämpfe an sich noch nicht inte-
ressant oder bezaubernd seien, und daß ein krankhaft zarter Körper
— 93 —
nicht vornehmer wäre als ein gesunder, kräftiger. Man erkannte
alimählich, daß Stumpfheit und Unwissenheit doch nicht die
Träger des weiblichen Reizes bildeten, und daß es dem Glück
der Familie zustatten komme, wenn die Frau, der die Sorge des
Hausfö obliegt, ein halbwegs vernünftig denkendes Wesen sei.
Dennoch prägte Grillparzer damals das für die Zeit so charakte-
ristische Dichterwort von dem Weibe »in seiner Schwäche sie-
gender Gewalt". Man wollte auf diese bezaubernde Schwäche
nicht verzichten; darum durfte an die Unselbständigkeit nicht
gerührt werden. Die Abhängigkeit des schönen Geschlechtes
von dem starken bedeutete zum guten Teil den Reiz der Frau
für den Mann, und dieser Reiz war der Zweck und der Inhalt
ihres Lebens. Daß sie ihr Dasein auch unter einem eigenen
Gesichtswinkel betrachten könnte und nicht ausschließlich im
Hinblick auf den Mann oder vom Standpunkt des Mannes aus,
galt noch immer als die ausschweifende Phantästik einzelner extra-
vaganter Köpfe. Wenn man dennoch auf die Erziehung der
Mädchen verhältnismäßig mehr Sorgfalt verwendete und sie geistig
und körperlich widerstandsfähiger zu machen suchte, so geschah
es nicht um ihrer Selbständigkeit willen, sondern im Interesse
des Mannes, dessen Heim sie dereinst schmücken, dessen Kinder
sie pflegen sollten. Die Bildung der Frau, die nicht die Ver-
tiefung ihrer Persönlichkeit bezweckte, sondern ihr die Fähigkeit
verschaffen sollte, möglichst viel Anregung zu bieten, wurde zur
oberflächlichen Vielwisserei, zum planmäßigen Dilettantismus.
George Eliot nennt in Women in France das Ver-
ständnis, durch das die Frau den Geist des Mannes fördere,
eine der vorzüglichsten Dieristieistungen des weiblichen Ingeniums
für den Fortschritt der Kultur; und sie meint, eben der Mangel
eigener Originalität sei es, der die Frau für die anderer so emp-
fänglich gemacht habe. Alles, was an Selbständigkeit streifte,
war als überspannte oder dreiste Emanzipation verpönt. Man
hatte jetzt einen höhen Begriff von der häuslichen Mission der
Frau. Um ihr gerecht zu werden, bedurfte sie priester-
licher Reinheit; darum sollte das Weib nicht den Gefahren und
Versuchungen des handelnden Lebens ausgesetzt werden. So
empfanden gerade die hochsinnigsten unter unseren Müttern.
— 94 —
Je tiefer sie von der Größe und Heiligkeit ihrer Aufgabe inner-
halb der vier Wände ihres Heims durchdrungen waren, um so
zweckwidriger dünkte sie die wilde Himmelsturmerei, die für die
Frau eigene Persönlichkeit und selbständige Existenz forderte.
Eine Frau, die es an Vornehmheit des Empfindens und an Klar-
heit des Denkens mit den besten ihrer Zeit aufnahm, schrieb
noch 1881 an ihre junge Tochter, die sich nach berufsmäßigem
Wirken sehnte: wDas Weib ist klein, wenn es in den Wirkungs-
kreis des Mannes tritt, es ist groß, wenn es im eigenen das
Höchste leistet Auf dem großen Gebiete der männlichen Tätig-
keit wird das Weib, wenn sie eine Scholle erobert, immer eine
kleine Herrscherin sein, in ihrer eigenen kleinen Welt kann sie
die beglückende, angebetete Gottheit werden. Durch Heiterkeit
und Frohsinn verschönt sie das Leben, durch stilles Walten
macht sie das Haus zum sicheren Hafen, durch Ratschläge und
geistige Teilnahme an dem Wirken der ihr Nahestehenden hilft
sie jedes Werk fördern - ist dies keine schöne Aufgabe, kein
zu erstrebender Ruhm?"
Das war im großen und ganzen auch George Eliots Stand-
punkt Sie empfand ihre eigene Berufstätigkeit als einen Aus-
nahmezustand, der gewissermaßen mit ihrer Frauenexistenz nichts
zu schaffen hatte.
Ihre Jugend stand unter dem Einflüsse der orthodox-klein-
bürgerlichen Grundsätze des Vaterhauses. Wie man daheim
etwaige Nachrichten von Frauenemänzipation beurteilen mochte,
die sich nach Griffhouse verirrten, läßt sich denken. In Coventry
fand Mary Ann in dem geistig hochstehenden Schwesternpaar
Miss Hennell und Mrs. Bray zwar nicht ein Beispiel von Selb-
ständigkeit der äußeren Existenz des Weibes, wohl aber von
ernster geistiger Arbeit
In George Eliots reifen Jahren wurde sie auch in diesem
Punkte von Comte beeinflußt, dessen Verhalten gegen die Frau
recht eigentiich typisch für seine Zeit ist Er erhebt sie in ihrem
Heim zur Göttin und ordnet sie in allen Verhältnissen des
äußeren Lebens bedingungslos dem Manne unter. Das Weib
verkörpert ihm die sittliche und religiöse Macht in der Familie,
das Regiment des Haushaltes aber untersteht dem Manne. Die
— 95 —
Veredelung des Mannes und die Erziehung der Kinder ist die
Aufgabe der Frau, und damit sie für dieses Amt desto geeigneter
sei, ist sie aufs entschiedenste von jedem anderen auszuschließen.
Am charakteristischesten für die Stellung der Frau zu jener
Zeit, in die George Eliots bestes Schaffen fällt, ist ein Erlaß
der Königin Viktoria (1870) in folgendem energischen Wort-
laut: »Die Königin wünscht dringend, alle, die sprechen
oder schreiben können, dafür zu gewinnen, daß sie sich ver-
einigen, um dieser wahnwitzigen und bösartigen Narrheit der
»Frauenrechte'' Einhalt zu hin und allen ihren begleitenden
Greueln, denen ihr armes, schwaches Geschlecht sich jetzt mit
Außerachtlassung jedes Sinnes für weibliche Empfindung und Schick-
lichkeit zuwendet . . . Gott schuf Mann und Weib voneinander
verschieden — laßt also jedes an seinem Platze bleiben. . . .
Die Frau würde das hassenswerteste, herzloseste und widerwär-
tigste menschliche Geschöpf, gestattete man ihr, ihr Geschlecht
abzulegen. Und wo bliebe der Schutz, den der Mann bestimmt
ward, dem schwächeren Geschlecht zu leihen?«*)
IV.
Wenn die Regentin von ihrem Thron herab solche Worte
verkündet, deren Spitze sich in bitterer Ironie gegen sie selbst
wendet, richtet sich die allgemeine Meinung wohl nach der ton-
angebenden der Majestät Und da George Eliot das wirkliche,
lebendige Leben schildern wollte, nicht psychologische Probleme und
gesetzte Fälle, so mußte sie auch die Frauen nehmen, wie sie waren.
Daher kommt es, daß uns in der ganzen Galerie ihrer mannig-
faltigen weiblichen Gestalten keine einzige entgegentritt, die wir
h^ut eine moderne Frau nennen würden. Der Blick der meisten
geht nicht über den engbegrenzten Kreis ihrer Häuslichkeit hinaus.
»Die Welt eines liebenden Weibes liegt innerhalb der vier
Wände ihres eigenen Heimes,« sagt sie in Arnos Barton (S.i 00),
»und nur durch ihren Gatten steht sie in einer elektrischen
Verbindung mit der Außenwelt«
1) Sidney Lee, Queen Victoria as a Sovereign.
— 96 —
Da haben wir vor allem die braven, tüchtigen Haus-
frauen in fein abgestufter Reihe, von dem Blumenwesen Milly
mit dem Madonnenantlitz (Arnos Barton) bis zu der in ihrer
kernigen Urwüchsigkeit unerreichten Prachtfigur der Mrs. Poyser,
aller der anderen nicht zu gedenken, deren jede, wie die
anmutige Nancy Lammeter oder die an Pflicht und Arbeit uner-
sättliche Mrsl Winthrop (Silos Mamer), einen Ruhmestitel für
ihre Schöpferin bedeuten und nur durch den Glanz der Mrs.
Poyser in den Schatten gestellt werden. Sie ist vielleicht die popu-
lärste aller Eliotschen Figuren, von einer Beliebtheit und Volks-
tümlichkeit, die nur eine Gestalt erlangt, in der sich Tausende
und Hunderttausende wiedererkennen. Ihre Zunge ist scharf wie
ihr Verstand, flink wie ihre Hand, und sitzt am rechten Fleck
wie ihr Herz. Ihre Kemsprüche treffen so sicher den Nagel auf
den Kopf, daß sie für lokale volkstümliche Redensarten gehalten
Mmrden und George Eliot ausdrücklich versichern mußte, sie
selbst geprägt zu haben. Was könnte treffender für die Klassi-
zität dieser Reden sein, als daß die Dichterin es wagen durfte,
einen Ausspruch der Mrs. Poyser von einer anderen Person des
Romans als »eine Asopsche Fabel in einem Satze« bezeichnen
zu lassen.
Alle diese Frauen haben einen klugen Verstand, aber einen
schwungloisen Geist. Sie wurzeln im Boden der realen Wirklich-
keif und kennen kein Sehnen oder Streben, das sie über ihre
enge Welt hinaustrüge. Die beste Verkörperung dieser wackeren,
treuherzigen Beschränktheit ist Priscilla Lammeter, die ihrer
Schwester Nancy rät, die Leere in ihrem Leben durch eine Milch-
wirtschaft auszufüllen; sie würde gewiß nie mehr in gedrückter
Stimmung sein, wenn sie erst für eine Milchkammer zu sorgen
hätte! Und doch fördern diese beschränkten Hausfrauen mit
ihren fleißigen Händen das Glück und Gedeihen des Heimes,
dessen Mittelpunkt sie sind.
Neben ihnen schildert George Eliot mit besonderer Vor-
liebe die häuslichen Dulderinnen. Alle ihre Heldinnen gehören
mehr oder weniger in diese Rubrik. Janet (Janefs Repeniance),
die Griseldis, die vor Entzücken strahlt, wenn ihr roher Gatte
sie in einem Anfall guter Laune einmal mit dem Kosenamen
— 97 —
Gipsy nennt, kann aus dem Bannkreise dieses sie mißhandelnden
Mannes einfach nicht heraus und kehrt mit der Zustimmung
ihres Seelenhirten wieder zu ihm zurück, sobald er ihrer bedarf
- eine Romola in kleinbürgerlichen englischen Provinzverhält-
nissen. In einem Briefe an Sara Henriell 0^* 1371) erklärt sich
George Eliot gegen hündische Anhänglichkeit der Frau für
den Mann, obgleich sie in letzter Linie auch hierin den Aus-
druck des Pflichtgefühls und menschlichen Mitleids erkennt Sie
hat den feinsten Blick für das passive Heldentum der Frau; im
Ertragen findet sie die Stärke des Weibes; der Grad seiner
Selbstentäußerung, seiner Opferwilligkeit wird zum Maßstabe der
Tugend. George Eliot ist von dem Comteschen Evangelium der
Entsagung und des Altruismus völlig durchsättigt und verfolgt
es bis in seine äußersten Konsequenzen. In The Spanish Gipsy
genügt ihr der Opfertod noch nicht, er muß, um ganz ideal
zu wirken, auch noch vergeblich sein. (The gründest death,
to die in vain.) Wie gläubige Menschen, die das Glück ihres
Lebens verwirkt haben, ins Kloster gehen und Gott den Rest
ihrer Tage weihen, so bringen die Eliotschen Frauen, die auf
kein eigenes Glück mehr hoffen können, was ihnen vom Leben
übrig bleibt, ihren leidenden Brüdern und Schwestern dar. Es
ist in Wahrheit die Religion der Menschheit, die sie bekennen.
Die Dichterin selbst schrieb nach Lewes' Tode, im März 1879,
an ihre Freundin, Madame Bodichon: »Wir können leben und
nützlich sein ohne Glück.« ^) Ihr Streben ging dahin, sich immer
unabhängiger über die eigenen Wünsche und Neigungen zu er-
heben und mehr und mehr die der andern zur Triebfeder ihrer
Handlungen zu machen. Sie versucht, »sich an dem Sonnen-
schein zu freuen, der sein wird, wenn sie ihn nicht mehr sieht,"
und schreibt im Juli 1870 an Mrs. Lytton: »Ich glaube, daß
diese Art von unpersönlichem Leben große Intensität erlangen
kann; glaube, daß wir viel mehr Unabhängigkeit von diesem
kleinen Bündel von Tatsachen, aus dem unsere Persönlichkeit
besteht, erlangen können, als man gewöhnlich annimmt.«
1) Man vergleiche damit Madame de Staels Wort in Delphine: „On
peiä encore faire servir au bonheur des autres une vie, qui ne nous promet
ä nous mimes que des chagrins, et cette espirance nous lafait supporter.^*
Wissenschaf tl. Frauenarbeiten. IV. V. Richter, Eliot. '
— 98 —
Dem entsprechend ist bei George Eliots Heldinnen weder
ihre Tüchtigkeit noch eine andere Eigenschaft maßgebend für
ihren Charakter, sondern ausschließlich ihr Altruismus oder
Egoismus. Hetty Sorrel (Adam Bede), Owendolin Harleth (Daniel
Deronda), Rosamond Vincy (Middlemarch) sind nicht wegen ihres
Leichtsinnes, ihres Stolzes oder ihrer Untüchtigkeit schlecht und
werden nicht durch sie unglücklich, sondern allein infolge ihrer
Selbstsucht.
Hetty, die siebzehnjährige Dorfschöne, richtet ihren naiven
Ichkultus lediglich auf ihren anmutsvollen Leib; seine Lieblichkeit
saugt gleichsam alle Kräfte ihrer Seele auf.
Komplizierter liegt der Fall bei Owendolin. Eine be-
schränkte, unbeholfene Mutter hat sie zur Selbstsucht und Selbst-
herrlichkeit erzogen, sie von Kind auf an ein unbedingtes Durch-
setzen ihres Ichs gewöhnt Sie ist ebenso eitel, gefühllos, ober-
flächlich und aller Illusionen bar wie Hetty, aber eine vielseitigere
Natur, ein spröder, interessanter, mit Aufgebot einer Fülle psycho-
logischen Details gezeichneter Mädchencharakter. Hettys selbst-
süchtiges Vergehen ist ein negatives: sie hat keine Anhänglichkeit
an Familie und Heimat. Owendolin begeht eine positive Schuld:
sie heiratet, um ihre Zukunft zu sichern, einen verwelkten Lebe-
mann, obleich sie weiß, daß sie damit die älteren Rechte einer
andern Frau kreuzt Die unerbittliche Eliotsche Nemesis aber
läßt nun Owendolins eigensinnige Selbstsucht in Orandcourt ihren
Meister finden. Die zum Herrschen Oeborene muß sich seiner
kalten Tyrannei fügen; die Rücksichtslose, der für ihr Olück kein
Preis zu hoch schien, hat sich nun auf immer davon » hinweg-
gesündigt".
Es hätte so nahe gelegen, Owendolins Schicksal von einem
ganz anderen Standpunkte aus zu beleuchten. Diese talentvolle,
stolze, unsinnliche Mädchengestah scheint von der Natur bestimmt,
ohne Mann mit dem Leben fertig zu werden. Aber ihre Un-
fähigkeit, sich selbst ein Fortkommen zu schaffen, treibt sie zu
einer Heirat als Versorgung. Nicht anders hätte sie ein mo-
demer Schriftsteller schildern können, der der sogenannten guten
Gesellschaft die Sünde vorhalten wollte, daß sie ihre scheinbar
so überaus sorglich gehüteten Töchter häufig in Ehen dränge^
— 99 —
die nichts anderes sind als legalisierte Prostitution. Oder ist
Qwendolins Verheiratung mit einem Manne, von dem sie als
höchstes Lob nur sagen kann, daß sie keinen besonderen Ekel
vor ihm empfinde, kein Selbstverkauf? Dächte sie auch nur
daran, Orandcourt zu nehmen, wenn er nicht reich wäre oder
sie nicht arm? Aber die begabte Owendolin, die von ihrer
Familie als ein Wunder an Bildung, Kunstfertigkeit und Energie
angestaunt wird, ist in Wahrheit nur ein Urbild des Dilettantis-
mus und der Unselbständigkeit. Was sie zu leisten vermag, hält
keiner ernsten Prüfung stand, kann keinem ernsten Zwecke dienen,
und vor allem ihrem eigenen Leben keinen befriedigenden Inhalt
geben. Nie ist ihr eine gediegene Schulung zuteil . gewojden,
nie hat man sie an planmäßiges Arbeiten gewöhnt. George Eliot
legt hier den Finger in eine blutende Wunde der Gesellschaft.
Die meisterhaft gezeichnete, lebensvolle Gestalt der Gwendolin
scheint uns zuzurufen: seht her! so richtet eure sorgfältige Er-
ziehung Hunderte, Tausende von Mädchen zugrunde, die die
Natur zu tüchtigen, glücklichen und beglückenden Menschen
schuf! Owendolin war mit den Fähigkeiten ausgerüstet, sich
ihr Leben selbst zu zimmern; wären diese Fähigkeiten etit-
wickelt und ihr Charakter gefestigt worden, hätte man sie zu
einem Berufe erzogen, statt sie zu einer Modedame zu verbilden,
so hätte ein zufriedenes Geschöpf aus ihr werden können, das
seinen Platz in der menschlichen Gesellschaft anständig ausfüllte.
So, wie sie nun ist, in allem halb und haltlos, bleibt ihr nichts
anderes übrig als eine Ehe, die nur ein verzweifeltes Hasardspiel
ist, dem in Homburg ähnlich, das symbolisch vorbedeutend, den
Roman so packend eröffnet
Von alledem aber sagt, ja denkt vielleicht George Eliot
nichts. Ihre Absicht geht lediglich dahin, Gwendolins besseres
Teil zu retten. Dazu muß Owendolin innerlich kehrt machen,
vom Egoismus zur Selbstentäußerung, vom Eigenwillen zur Hin-
gebung. So ist es denn, als würde mit ihrer stolzen Jungfräu-
lichkeit die Kraft von ihr genommen wie von Simson mit seinem
Haar. Sie steht dem rohen Gatten willen- und hilflos gegenüber
und nicht minder dem Seelenfreunde Deronda, der — Gwendolins
Savonarola - ihr Insichgehen bewirkt. Sie lernt sich fügen.
— 100 —
lernt ihr Schicksal erdulden, statt es in kühner Vemiessenheit
selbst gestalten zu wollen, lernt, wie man auf die Stimme des
Herzens nicht hört und auf jedes eigene Glück verzichtet Es
ist in Wahrheit der Zusammenbruch einer kraftvollen Persönlich-
keit, das klägliche Zugrundegehen eines Lebens, das zu schönen
Hoffnungen berechtigte. Aber in George Eliots Augen bedeutet
es eine Rettung, eine Erlösung.
Stopford Brocke nennt ihre Werke mit Recht einen ver-
hohlenen Angriff auf den Individualismus und eine Exaltation
der Selbstentsagung als einziger Kraft des Fortschrittes, als ein-
ziger Grundlage der Sittlichkeit Wenige hätten ihre Werke so
individualisiert, aber sie tue es fast mit dem Vorsatze zu zeigen,
daß der Individualismus dem allgemeinen Wohle geopfert werden
müsse. ^) Bruneti^re glaubt sie in diesem Punkte von George
Sand beeinflußt. ®) In Jacques ist die Betätigung des Individua-
lismus ebenfalls gleichbedeutend mit Egoismus. In einem
schönen Briefe an ihren Sohn (13. Jan. 1836) behauptet George
Sand, daß kein Jahrhundert den Egoismus in so empörender
Weise bekannt hätte als das neunzehnte, und sie warnt ihn vor
allem vor der Selbstliebe. Vielleicht hat der überall so kraß im
Vordergrunde stehende Materialismus und Rationalismus auch bei
George Eliot das überschwengliche Betonen des Altruismus ver-
anlaßt Das Ausleben des Charakters, die selbständige Eigenart
sind häufig nur verhüllte Selbstsucht Sie muß gebrochen werden.
Das »heilige Recht der Leidenschaft," das moderne Dichter für
ihre Kraftnaturen in Anspruch nehmen, existiert für George Eliot
nicht. Sie fordert mit sibyllinischer Strenge Unterwerfung unter
das Gesetz, Einordnung in die Gesamtheit, und wäre die Selbst-
überwindung auch nur durch Selbstvernichtung möglich. In
Lydia Glaser (Deronda), in Mrs. Transom (Felix Holt), in Hetty
und Maggie läßt sie diejenigen von einem furchtbaren Gericht
ereilt werden, die ihrem Ich einen Übergriff über die Schranken
des Gesetzes gestatteten. Die besser Gearteten unter ihnen ent-
sagen dem ersehnten Glück, der heißen Liebe, die mit der Pflicht
in Widerspruch steht (Gwendolin, Fedalma). Es liegt etwas
*) George Wallis Cooke, George Eliot, a Critical Study, 1893.
*) U Evolution de la Poisie lyrique en France, 1894.
— 101 —
Rührendes in dieser Resignation unter Tränen und Herzeleid.
Alle jene Frauen sind weit entfernt von pomphaft gespreiztem
Romanheldentum; sie trauern im Innersten um ihr Olück, das sie
dennoch hingeben, durchdrungen und bezwungen von der
unbeugsamen Strenge des sittlichen Gebotes.
Das unwiderrufliche Qeltenlassen des Moralgesetzes ohne
Klausel, ohne Hypothese bildet im allgemeinen ein Charakteristi-
kum des englischen Romanes in seiner Glanzzeit. Man vergleiche
z. B. Jcme Eyre. In dem Augenblicke, in dem Jane erfährt, daß
Rochester eine Frau habe — gleichviel ob sie unheilbar wahn-
sinnig sei — erscheint es ihr so unbedingt notwendig, ihn zu
verlassen, daß jedes Schwanken, jeder Zweifel, ja eigentiich jeder
Seelenkampf von vornherein ausgeschlossen ist. Ein modemer
Dichter hätte das Problem der Pflicht hier wahrscheinlich psycho-
logisch zugespitzt, indem er seine Heldin vor den tragischen
Konflikt einer doppelten Verbindlichkeit stellte: die Pflicht gegen
das allgemeine Gebot und das eigene jungfräuliche Gewissen
einerseits, und andererseits die Pflicht gegen den Unglücklichen,
der, sich selbst überlassen, der Verzweiflung anheimfällt
Von besonderem Interesse ist George Eliots Urteil über
den Fall Rochester-Jane. Sie schreibt im Juni 1848 an Charles
Bray: »Jede Selbstaufopferung ist gut, aber man würde wünschen,
daß sie einer edleren Sache gelte als einem teuflischen Gesetze,
das einen Menschen, Leib und Seele, an einen verwesenden
Leichnam kettet« Dieser Ausspruch beweist, daß sie, als sie sechs
Jahre später Lewes gegenüber selbst in Jane Eyres Lage war,
nach einem überlegten Prinzip handelte, einem Prinzip, das den
Mut der Liebe und der eigenen Überzeugung vertrat und nicht
jenes später so eindringlich gepredigte Heldentum der Entsagung.
Es war der Mut des tatkräftigen Impulses, der Mut ihrer Jugend.
Theoretisch verkündet sie ein anderes Ideal.
Laut und vernehmlich betont George Eliot wieder und
wieder, die wahre Reife des Geistes äußere sich darin, »daß
wir aufhören, um uns zu blicken und zu fragen: wie werde ich
genießen? sondern wie in einem Lande, das von Schwert und
Pestilenz und Hungersnot heimgesucht worden, nur daran
denken, wie wir den Verwundeten helfen und Samen finden
— 102 —
sollen für die nächste Ernte, wie wir die Erde pflügen und denen
eine kurze Zeit der Freude bereiten sollen, die geboren werden,
ohne es selbst zu verlangen«. (Brief an Mrs. Burne Jones, 3. Aug.
1874.) Zu dieser Höhe schwingt sich Gwendolin auf.
Nicht gerettet wird dagegen Rosamond Vincy, das Prototyp
der Eigensucht, ein weiblicher Tito. Sie ist, wie Gwendolin, das
verwöhnte Kind schwacher, unwissender Eltern und von be-
rückendem Liebreiz. Auch sie setzt ihre Verheiratung als einen
vorgefaßten Plan energisch und erfolgreich in Szene; auch sie
hat dabei nur äußere Vorteile im Auge, obzwar sie sich selbst
mit einer gewissen Backfischromantik über ihre wahren Empfin-
dungen oder vielmehr über ihren Mangel an Empfindung täuscht.
Das Strafgericht, das über sie ergeht, ist noch härter als Gwen-
dolins Schicksal. Ihre Selbstsucht vernichtet zwei Leben, denn
sie beugt den genial veranlagten Lydgate schließlich in das Joch
ihres zähen Eigensinnes. Er wird von seiner glänzend begonnenen
Laufbahn abgelenkt und hat schließlich ein Recht, Rosamond sein
Basilikum zu nennen — das Kraut, das wunderbar auf dem Hirn
eines gemordeten Mannes gedeihe.
Einem modernen Auge erschiene vielleicht in diesem Falle
so wenig wie in dem Gwendolins der Egoismus als die Ursache
alles Unheils. Rosamonds Oberflächlichkeit, ihre Unfähigkeit,
den Ernst des Lebens ins Auge zu fassen, ihr Mangel an Ver-
ständnis für den Ideenkreis des arbeitenden Mannes verschuldet
die unglückliche Ehe der Lydgates. Gehört nicht auch das
Scheitern dieser beiden Existenzen auf das Kerbholz der Er-
ziehung, jener nichtsnutzigen, verderbten, verschrobenen Mädchen-
erziehung, die das junge Geschöpf in allen Nichtigkeiten unter-
weist und es in allem Praktischen unvorbereitet ins Leben entläßt?
Lydgate, der geniale Gelehrte und warme Menschenfreund, be-
durfte einer teilnehmenden, hilfreichen Gefährtin. An Rosamond
hat er eine reizende Puppe, eine Last und Sorge geheiratet.
Aber er ist dabei nicht frei von eigenem Verschulden. Er suchte
in seiner Gattin keine Kameradin und keine andere als »jene
Hilfe, die der Sonnenhimmel oder blumenbesetzte Wiesen unserem
Geiste gewähren". Er wünschte von ihr Schönheit, Heiterkeit,
Liebenswürdigkeit; von der Würde der Frau und der Stellung,
— 103 —
die ihr im Leben des Mannes gebührt, hatte er selbst keinen
klaren Begriff. Er fühlt sich, wie die meisten Eliotschen Helden,
verantwortlich für ihr Tun und Lassen und spielt ihre Vorsehung*
Die Dichterin scheint dieser Ansicht beizupflichten. Sie hält sich
an das Bibelwort: »Er soll dein Herr sein.« Daß auch ge-
schrieben steht: »Ich will ihm eine Gehilfin machen«, kommt
für sie weniger in Betracht Wenn man sie in diesem Punkte
mit Swift vergleicht und z. B. den beißenden Ausfall gegen die
Frauenerziehung in der Reise zu den Houyhnhams^) bedenkt,
so ergibt sich eher ein Rückschritt als ein Fortschritt.
Es fehlt den Eliotschen Frauen im allgemeinen an Rück-
grat, an individueller Tüchtigkeit, an persönlicher Energie. Die
besten und hervorragendsten unter ihnen fühlen, daß sie für sich
allein nichts sind (Romola). Es ist, als hauchte ihnen erst der
Mann die Seele ein. Von der großen Weltatmosphäre dringt
gerade nur so viel Zugluft in ihre Kemenate, als er bei seinem
Ein- und Ausgehen hineinläßt. Sie alle sind in erster Linie
Frauen, nicht Menschen. Dies tritt am schärfsten an jenen beiden
Gestalten hervor, denen George Eliot die meisten Züge ihrer
eigenen Persönlichkeit geliehen hat: an Maggie Tulliver (The Mill
on the Fbss), in der sie ihre Kindheit, und an Dorothea Brooke
(Middlemarch), in der sie ihre Jugend poetisch verarbeitete.
Maggie, »das Frauenzimmerchen«, eine der entzückendsten
Kinderg^talten der Weltliteratur, besitzt im Keime alle die reichen
Herzens- und Geistesgaben ihres Urbildes Marian Evans: Wissens-
durst, rege Phantasie, überquellendes Empfinden. Es ist eine
vielversprechende Menschenknospe, die dem ungünstigen Boden
einer ländlichen Umgebung entspringt, in der alles von der unter-
geordneten Stellung und dem untergeordneten Werte der Frau
durchdrungen ist. Selbst der alte Tulliver kann in seinem Vater-
stolze nur bedauern, daß Maggie nicht aus gewöhnlicherem Stoffe
My master thought U monstrous in us to give the females a
different kind of education front the males . . . whereby . . . one half of
our natives were good for nothings, etc.
— 104 —
gemacht sei, denn »sie werde ja doch weggeworfen werden".
Als sie bei dem Oymnasialunterricht ihres Bruders ein wenig
mi^enascht und den wenigbegabten Tom bald überflügelt hat,
fragt sie ehrgeizig den Lehrer, ob Mädchen nicht auch den Euklid
lernen könnten, den Tom ihr als den Gipfelpunkt alles Schwierigen
und Ungenießbaren dargestellt hat. Die Antwort lautet: Mädchen
könnten wohl von allem ein wenig aufschnappen, aber weit
brächten sie es in nichts; sie seien rasch und oberflächlich. Und
Maggie, diese sonst so findige, eigenartige kleine Persönlichkeit,
läßt sich dadurch von vornherein abschrecken. Es fällt ihr nicht
ein, den Lehrer eines Besseren zu überführen. So kämpft sie auch
später gegen die Ungunst der Verhältnisse nicht an. Sie läßt die
Hände in den Schoß sinken. Sie hat keine Spur von Initiative, das
heiße Verlangen nach einer Betätigung ihrer starken Individualität
zu verwirklichen. Vielmehr beherrscht sie willenlose Ergebung in
das Verhängnis, daß das Herkommen die Frau zu geistiger In-
differenz verdammt habe. Noch kaum recht ins Leben getreten, ist
die Entsagung bereits das Ziel ihres Daseins. Thomas a Kempis,
der auf George Eliot selbst einen so starken Einfluß ausübte, und
den der Positivismus zu den großen, heiligen Männern zählte,
wird Maggies Leitstern. Seine Lehre streut Asche auf ihre jugend-
liche Glut. Einen inneren Halt gewinnt sie dadurch nicht. Das
Schicksal findet sie unvorbereitet, hilflos, wie Gwendolin. Ein
wenig Näharbeit ist alles, was sie aufbringt, als es notwendig
wäre, auf eigenen Füßen zu stehen. Und selbst diesen schwachen
Versuch zur Selbständigkeit läßt sie sich von dem herrischen
Bruder verbieten. Maggie, das Kind, überraschte durch die
erfinderische Regsamkeit ihres Geistes; herangewachsen, versinkt
sie, als der Augenblick da ist, das Leben mit einem kräftigen
Ruck anzupacken, in schlaffe Untätigkeit, in unfruchtbares Träumen
und verstrickt sich, unsicher und willenlos, in Liebeshändel, die
sie zugrunde richten. Sie wünschte sehnlich neben ihrer Welt
noch eine andere, «wie sie die Männer haben«, aber sie nimmt
auch nicht den geringsten Anlauf, sich eine solche zu schaffen.
Als der selbstherrliche Tom ihr vorhält, wie himmelweit sein Be-
nehmen dem ihren überlegen sei, erwidert sie: »Weil du ein
Mann bist und Macht hast und etwas in der Welt leisten kannst.«
— 105 —
Und zerknirscht muß sie seine herbe, aber gerechtfertigte Antwort
über sich ergehen lassen: »Wenn du nichts leisten kannst, so
füge dich denen, die es können.«
Ihr Geschlecht ist die Fessel, die Maggie zu Boden reißt
Sie läßt sich sinken im verzweifelten Gefühl des Unabänderlichen.
Ein Beruf, eine Beschäftigung würde sie vor dem moralischen
Hungertode retten, dem sie ausgesetzt ist Ihm will sie in dem
instinktiven Lebensdrange der Kreatur entfliehen und läuft dabei
in die Irre. Niemals kommt ihr der Gedanke: Ich will ver-
suchen, ob ich mich nicht dennoch auch als Weib rechtschaffen
durchs Leben schlagen und die Welt zwingen kann, mich gelten
zu lassen trotz alledem und alledem. Ihr innerstes Sein ist bereits
vernichtet, als ihm die Überschwemmung des Floss äußerlich
ein Ende macht.
The Mill ort the Floss entstand 1860. Das Jahr 1869
brachte J. St Mills Subjection of Women, das goldene Buch der
Frauenfrage, das Stellen enthielt, die wie für Maggie geschrieben
waren, gleich der folgenden: »Was drückt der modernen Welt ihr
besonderes Gepräge auf, was unterscheidet die modernen Ein-
richtungen, die modernen sozialen Ideen, das moderne Leben
selbst von den längst vergangenen Zeiten? Es ist das, daß die
Menschen nicht mehr für ihre Lebensstellung geboren werden,
sondern frei sind, ihre Fähigkeiten und die Vorteile, die sich ihnen
bieten, zu gebrauchen, um das Los zu erlangen, das ihnen am
wünschenswertesten scheint« (S. 29). Und femer: »Wir sollten
nicht verfügen, daß es mehr über die Lebensstellung eines Menschen
entscheide, ob er als Mädchen geboren wird oder als Knabe,
denn ob als Schwarzer oder als Weißer, als Gemeiner oder als
Edelmann; daß hierdurch Menschen von allen höheren sozialen
Stellungen und, bis auf wenige, von allen angesehenen Beschäf-
tigungen ausgeschlossen werden« (S. 33).
In Mill erstand der armen Maggie ein männlicher Anwalt.
George Eliot selbst brach keine Lanze für ihre Heldin, für die
kein Platz in der Welt war, weil sie als Mädchen geboren wurde.
Für sie lag auch hier der Schwerpunkt des Problems, der Brenn-
punkt des Interesses nicht in der Erziehung zur Tüchtigkeit,
sondern in der Läuterung der impulsiven Natur von dem Ge-
— 106 —
währenlassen angeborener Triebe zur Selbstentäußerung und
Unterordnung. Welcher Unterschied zwischen George Eliots
Verwahrung gegen jedes Ausleben der Persönlichkeit und Mills
energischem Tadel, daß man die Frauen in dem Glauben erziehe,
ihr Charakterideal sei das Gegenteil des männlichen: Unterwerfung
und Nachgiebigkeit. Wie gründlich verwirft Mill, was George
Eliot predigt: die Frauenpflicht, sich des eigenen Seins zu ent-
äußern, nur für andere, nur in ihrer Liebe zu leben! Die Zeit
hatte in den zehn Jahren, die zwischen der Schöpfung Maggies
und der Subjecäon qf Women lagen, Fortschritte gemacht. Am
8. Juli 1870 schrieb auch George Eliot an Mrs. Lytton: «Wir
Frauen sind stets in Gefahr, zu ausschließlich unserer Liebe zu
leben, und obgleich unsere Liebe die beste Gabe ist, die wir
besitzen, sollten wir doch auch an einem unabhängigeren Leben
unseren Anteil haben, an Freuden und an Dingen um ihrer selbst
willen. Es ist kläglich, die Hilflosigkeit mancher anmutigen Frau
zu sehen, wenn ihre Liebe enttäuscht ward; denn man hat sie
gelehrt, sie könnte an wie immer gearteten Studien nur um einer
persönlichen Liebe willen Freude finden. Selbständige Freude
an Ideen hat sie nie als etwas, worüber man nicht ausgelacht
wird, betrachtet. Und sicherlich bedürfen die Frauen dieser Art
Schutz gegen leidenschaftlichen Schmerz noch mehr als die Männer.«
Dasselbe wie für Maggie gilt auch für Dorothea Brooke
(1872), das schöne, vornehme Mädchen, da? sich in ihrer philister-
haften Umgebung ausnimmt „wie ein Zitat aus der Bibel oder
einem älteren Dichter in einer Zeitungsnummer von heute«. Sie
ist erfüllt von einer abstrakten Schwärmerei für alles Gute, Große,
Erhabene, als dessen vollkommenster Ausdruck ihr, wie einst der
jugendlichen Marfan Evans, die Religion erscheint Ihr ganzes
Sehnen geht dahin, sich in hingebungsvollster Weise dem Wohle
anderer zu widmen. Sie erstrebt eine segensvolle philanthropische
Wirksamkeit und hat bei ihrer Verheiratung nicht ihr persön-
liches Lebensglück, sondern hochfliegende allgemeine Ziele im
Auge. Daß Dorothea den ältlichen Stubengelehrten Casaubon
heiratet, ist an sich nichts absonderlich Seltsames. Es kommt
vor, daß sich ein überspanntes, führerloses Mädchen, das die
Liebe liebt und sich für die Begeisterung begeistert, in dem
— 107 —
Gegenstände ihrer Schwärmerei vergreift. Das Befremdliche liegt
darin, daß sie nach der bitteren Enttäuschung, die sie in der
Ehe erfährt, nicht mit desto ungeteilterem Herzen zu den altru-
istischen Bestrebungen ihrer Mädchenjahre zurückkehrt. Casau-
bon, der ihr vor der Hochzeit wie Pascal erschien, entpuppt sich
nach der Heirat als verknöcherter, langweiliger Pedant. Wäre
es nicht natürlich, daß Dorothea ihren materiellen und geistigen
Reichtum anderen zuwendete, daß sie ihre glühende junge Seele,
die das mumifizierte Herz des alternden Gatten brach liegen läßt,
für möglichst viele Beistandsbedürftige fruchtbringend machte?
Wäre es nicht natürlich, daß sie aus ihrem modrigen Ahnen-
schlosse, in dem ihr die Tage nutz- und freudlos vergehen,
hinausträte ins frische Leben und allen ringsumher mit vollen
Händen ihren Segen ausstreute?
Aber davon geschieht nichts. Dorothea verharrt in ihrer
allgemeinen, platonischen Humanitätsschwärmerei. Ihre Nächsten-
liebe nimmt keine bestimmte praktische Form an, reift nicht zu
greifbarer Tatsächlichkeit. Als Casaubon stirbt, weiß sie auch
mit ihrer Freiheit nichts anzufangen. Dorothea, die als Backfisch
Schoßhunde nicht leiden mochte, weil selbst das Tier etwas leisten
und kein Parasit sein solle, entbehrt so sehr aller Selbständigkeit,
daß ihr die Unabhängigkeit keinerlei Vorteile bietet Sie gesteht,
noch niemals einen Plan ausgeführt zu haben, nie das tun zu
können, was sie will. Ladislaw, ein geistvoller, aber unfertiger
junger Mann, der bei weitem nicht an ihre Persönlichkeit heran-
reicht, wird nun der Held, dem sie sich in demütiger und aus-
schließlicher Hingebung unterwirft. Sie opfert ihm eine Zeitlang
sogar den Umgang mit ihren über diese Verbindung erzürnten
Angehörigen - wohl eine biographische Reminiszenz an George
Eliots Bündnis mit Lewes. In ihrer zweiten, glücklichen Ehe
findet Dorothea, was ihr die erste schuldig blieb: geistige Ge-
meinschaft mit dem Gatten und die Genugtuung, ihm »ihre
weibliche Hilfe« zu leihen. Eine andere Tätigkeit als diese mittel-
bare für und durch den Mann scheint von vornherein nicht in Frage
zu kommen. Dowden sagt sehr richtig, sie gehe nur von einem
Mißerfolge, der ein Leid für sie bedeute, zu einem andern Miß-
erfolge über, der ihr Glück sei; sie schreite von einem unbe-
— 108 —
stimmten Ideal zu jener allgemeinen Sehnsucht des Weibes vor,
mit allen Qaben ein Wesen zu beglücken und die Liebe eines
Herzens zu empfangen.^)
Im Präludium zu Middlemarch erzählt George Eliot, sie
hätte in Dorothea eine der zahlreichen weiblichen Existenzen
zeichnen wollen, die an hoher Absicht und Begeisterung der
heiligen Theresa gleichkommen und doch nichts gründen; »deren
Herz unerreichter Trefflichkeit entgegenpocht, die aber durch
Hindernisse abgelenkt werden und erliegen«. Allein Dorothea
unternimmt nichts, ihrem Streben greifbare Gestalt zu geben ;
ihre allgemeine Sehnsucht faßt gar kein bestimmtes Ziel ins Auge.
Sie ist nicht gescheitert, sie hat von vornherein nichts versucht;
sie hat - als einzige Äußerung ihres großen Altruismus - zwei-
mal geheiratet!
Wie sich aus dem vielversprechenden Kinde Maggie kein
tüchtiger Mensch entwickelt, so aus Dorotheas philanthropischer
Backfischschwärmerei keine zielbewußte Tätigkeit. Beide lassen
sich willenlos, kampflos von den Verhältnissen bestimmen. Ihr
Standpunkt wird charakterisiert durch folgenden Ausspruch in
Felix Holt: »Alles in allem war sie ein Weib und konnte sich
ihr Los nicht selbst wählen." Die Eliotschen Heldinnen werden,
was sie sind, erst durch den Mann. Sein veredelnder Einfluß
zieht sie hinan; durch schlechte Lenker würden sie ebenso sicher
verdorben. Esther Lyon, die gleichfalls durch ihre Liebe zu dem
tüchtigen Felix Holt von der Selbstsucht zur Selbstlosigkeit ge-
läutert wird, sagt einmal: »Eine Frau muß geringere Dinge
wählen, weil nur geringere ihr geboten werden." Und die
energische Mrs. Transom (Felix HoU) klagt: »Was für einen Zweck
hat der Wille einer Frau? Sie setzt ihn nicht durch und hört
auf, geliebt zu werden, wenn sie es versucht. Gott war grausam,
als er die Frauen schuf!«
Die in einem frei gewählten Beruf tätige Frau hat George
Eliot - von der Haushälterin und Gouvernante abgesehen -
nur zweimal geschildert, keinmal mit Glück: Armgart, die Heldin
des gleichnamigen Dramoletts, und die Fürstin Halm- Eberstein
Studies in LUerature, 1878, S. 281.
— 109 —
(Daniel Deronda). Beide sind gefeierte Sangerinnen, denen der
Ruhm mehr gilt als die Liebe. Armgart weist einen treuen Be-
werber ab, die Fürstin trennt sich von ihrem Kinde, um fessellos
und unbehindert der Kunst zu leben und uneingeschränkt den
mächtigen Lebensgeist auszugeben, der in ihr glüht. Armgarts
Charakter ist nur in seinen Umrissen skizziert; die Fürstin bietet
das Zerrbild einer hartherzigen, kalten Natur. Der äußere Glanz
lockt sie mindestens ebenso sehr wie die Kunst, um derentwillen
sie angeblich die engsten Bande der Familie zerrissen hat. Recht
besehen, ist die rückhaltlose Hingabe an den Beruf bei beiden
Frauen nur Selbstsucht und Eitelkeit, die sich denn auch an
beiden rächt. Armgart muß auf ihre kaum begonnene Laufbahn
verzichten, der Fürstin ist ein einsames, unglückliches Alter be-
schieden,
George Eliots Verhalten gegen die berufliche Seite der
Frauenfrage wäre also ein ganz negatives, käme nicht noch Dinah
Morris, die Methodistin (Adam Bede)^ in Betracht. Freilich kann
ihre sie selbst befriedigende und andere beglückende Tätigkeit
nur bedingt als Beruf gelten. Dinah ist die abgeklärteste aller
Eliotschen Frauengestalten; ihre Seele ist im Gleichgewicht, mit
sich und der Welt in Frieden, ihr Geist gereift und heiter, ihr
Herz voll warmer Menschenliebe. So echt und urwüchsig ist
ihr ganzes Wesen, daß Irvyne, der Pfarrer, meint, man könnte
ebensogut die Bäume zurechtweisen, daß" sie so und nicht anders
wüchsen, als an ihr den Erzieher spielen wollen. Ihren Beruf
hat sie nicht vorsätzlich gewählt Unvorbereitet sprang sie einst
für einen erkrankten Glaubensbruder ein; sie sprach nur einfach
die Worte, die ihr in Fülle auf die Zunge strömten: Gott rief
sein Kind. Mag für uns dieser Glaube an übernatürliche Ein-
gebungen, an ein unmittelbares Eingreifen höherer Mächte auch
an Überspanntheit grenzen - jenseits des Kanals ist das religiöse
Leben ein intensiveres und der Methodismus nach der Hochkirche
das verbreitetste Bekenntnis. Die predigende Frau, für uns eine
fremdartige Erscheinung, gehörte in England noch in der ersten
Hälfte des 1 9. Jahrhunderts zu den volkstümlichen Typen. Später
wurde den Methodistinnen das Abhalten öffentlicher Andachts-
übungen untersagt. Aber George Eliot selbst fand bekanntlich
— 110 —
die Anregung und das Urbild zu ihrer Dinah im Kreise ihrer
eigenen Familie. Übrigens fällt, von dem Predigen abgesehen,
ihre Berufstätigkeit mit dem zusammen, was im engsten und
landläufigsten Sinne als spezifisch weibliches Wirken gilt: Kranke
pflegen, Freunde trösten. Dürftigen beistehen, Kinder unterweisen.
Ihre hilfreiche Hand, ihre Olaubenskraft, ihre Seelenstärke be-
tätigen sich in der Nächstenliebe und Selbstverleugnung, die in
George Eliots Augen das Alpha und Omega echter Weiblichkeit sind.
Zum Schlüsse heiratet Dinah Adam Bede, aber die Heirat
bedeutet für sie kein Aufgeben, sondern nur eine Konzentration
des Berufes: die Familie tritt an die Stelle der Gemeinde. Viele
Kritiker haben diese Lösung, die auf Lewes' Anregung entstand,
für verfehlt erklärt Doch widerspricht sie weder Dinahs Cha-
rakter, noch ihrer bisherigen Lebensführung und hat noch das
für sich, die einzige von George Eliot geschilderte Ehe zu sein,
in der Mann und Frau in selbständiger Kraft einander gleich-
wertig und ebenbürtig sind, durch eine Liebe verbunden, die
desto hingebungsvoller und selbstloser ist, je mehr sie sich auf
gegenseitige Hochachtung und innere Freiheit gründet. Dinah
ist die einzige unter George Eliots Frauen, die des Mannes als
Führers und Leiters nicht bedarf, sondern ihm in ihrem sicheren,
gefestigten Charakter selbst eine Genossin und Helferin wird.
So liefert die Dichterin, vielleicht unbewußt, hier dennoch einen
Beitrag zur Erhärtung des Satzes, daß die äußere Freiheit und
die innere Selbständigkeit der Frau nicht nur ihr eigenes Glück
fördert, sondern auch das des Mannes und der Kinder. Anderer-
seits bedeutet Dinahs edle und segensreiche Tätigkeit nichts oder
wenig für die Frage der Frauenarbeit im modernen Sinne.
Eine Prüfung von George Eliots weiblichen Gestalten ergibt
also die merkwürdige Tatsache, daß sie, die selbst eine so ernste
und erfolgreiche Arbeiterin war, unter allen ihren Frauen keine
wahre Repräsentantin der Berufsarbeit geschaffen hat
VL
Im großen und ganzen spielt das Weib bei George Eliot
dieselbe Rolle wie bei den anderen großen Romanschriftstellern
ihrer Zeit Die Frau als ein dem Manne nebengeordnetes, mit
— 111 —
ihm um die Palme der Tätigkeit ringendes Geschöpf existiert
noch nicht oder nur als Ausnahme. Das Mädchen der Mittel-
klasse, das darauf angewiesen ist, sich sein Brot zu verdienen,
muß Gouvernante, Haushälterin oder Gesellschafterin werden -
oder sich durch eine Heirat »versorgen«. Auf dem Kontinent
bietet häufig auch die Bühne eine annehmbare Zuflucht, die
aber in England infolge der geringeren Wertschätzung und Be-
liebtheit des Theaters entfällt.
Betrachten wir z. B. die Frau bei Jane Austen (1817), die
von Männern wie Scott und Macaulay als Darstellerin des alltäg-
lichen Lebens enthusiastisch gepriesen wurde und eben durch
ihr Streben, keine »feinen Dinge«, sondern ganz gewöhnliche Vor-
gänge zu malen, eine Art literarischer Ahnfrau George Eliots ist
Da finden wir neben der in naiver Dummdreistigkeit nach
Schwiegersöhnen angelnden Mutter (Pride and Prejudice) Miss
Austens weibliches Ideal: das junge Mädchen von selbstlosester
und schüchternster, des eigenen Wertes völlig unbewußter Hin-
gebung, sinnig bis zur Gefühlsduselei, aufopfernd bis zur Selbst-
vernichtung, unsinnlich bis zur Schattenhaftigkeit (Elinor, Sense
and Sensibilify; Fanny, Mansfield Park). Je mehr sie unter-
drückt und zurückgesetzt wird, desto verklärter strahlt ihre passive
Tugend. Nie dämmert in dem Aschenbrödel der Gedanke auf,
daß ein armes Mädchen versuchen könnte, sich auf die eigenen
Füße zu stellen. Der Inbegriff echter Weiblichkeit ist das Helden-
tum bedingungsloser Ergebung: dulden und auf den Rechten
harren, dessen starke, rettende Liebe dann einen überschweng-
lichen Lohn für die bestandene Prüfung bildet.
Jane Austens Streben, unromantische Wirklichkeit darzustellen,
setzten die Brontes fort. Nichts war natürlicher, als daß die drei
hochbegabten Mädchen, deren kurzes Leben selbst ein so harter
Kampf ums Dasein war, die Frage aufwarfen: was tut eine Frau,
die selbständig sein will, sein muß? Und wie lösten sie diese
Frage nun in ihren Romanen? Agnes Grey (Anne Bronte)
wird Gouvernante, kostet das ganze Elend dieses Berufes durch
und heiratet. Jane Eyre wird Gouvernante, duldet und hei-
ratet. Caroline Heistone (Shirley, Charlotte Bronte) will Gou-
vernante werden, doch ihre Mutter, die in diesem Berufe die
— 112 —
traurigsten Erfahrungen gemacht hat, hält sie zurück - und
sie heiratet.
Jane Eyres Selbständigkeit wird zwar von Rochester ge-
rühmt, doch sie tritt in Wirklichkeit nirgends hervor. Sie ist
seinen Herrenlaunen gegenüber eine Griseldis. Ihrer Efeunatur
ist es Bedürfnis, sich an eine Autorität zu klammern: erst an
Rochester, dann an das Sittengesetz, dem sie sich blindlings unter-
wirft, hernach an den jungen Missionar. Der Schwerpunkt ihrer
Natur liegt außerhalb ihrer selbst, in einem andern. Darum
erreicht ihr Wesen auch seine liebenswürdigste Entfaltung erst
dann, als es ihre Pflicht geworden ist, sich ganz dem blinden
Rochester zu widmen. Nichts ist bezeichnender für den Unter-
schied zwischen weiblicher und männlicher Anschauung der Dinge
als ein Vergleich des Schlusses von Jane Eyre und einer Stelle
über das Märtyrertum der Frauen an Krankenbetten in Vanify
Fair. Thackeray sagt (Routledge, S, 266): »Wir würden wahn-
sinnig, hätten wir den hundertsten Teil jener Leiden zu dulden,
die von vielen Frauen sanft ertragen werden." Charlotte Bronte
dagegen schildert in Janes selbstvergessenem Aufgehen in der
Sorge um den geliebten Kranken nicht Leiden noch Entsagung,
sondern das höchste Glück des weiblichen .Herzens, die selige
Erfüllung sehnsuchtsvoller Träume, den herrlichen Preis aller
Kämpfe und Drangsal.
Shirley tritt der Frage der Frauentätigkeit etwas näher.
Caroline Heistone nimmt bei aller mimosenhaft zarten Sensitivität
ihres Wesens die Unterdrückung der weiblichen Individualität
doch nicht als etwas Selbstverständliches hin. Sie reflektiert bereits
darüber. Sie bemerkt, daß eine Art menschlicher Wesen von
der andern fordere, sie solle ihr Leben für sie aufgeben. Zum
Lohne würden sie dann hingebungsvoll, tugendhaft genannt.
»Ist das genug? Heißt das leben?« fragt Chariotte Bronte.
»Liegt nicht eine furchtbare Hohlheit und Ironie, ein Mangel und
ein Verlangen in der Existenz, die andern hingegeben wird, weil
nichts Eigenes da ist, an das man sie setzen könnte? Ich ver-
mute, es ist so. Liegt die Tugend in der Selbstentäußerung?
Ich glaube es nicht.«
So besinnt sich in Caroline Heistone die Frau auf ihre
— 113 —
eigene Persönlichkeit Sie sehnt sich nach einer Berufstätigkeit
- allerdings in der Fabrik des Vetters, den sie liebt Immerhin
könnten ihre Betrachtungen über den Müßiggang, zu dem die
Frau verurteilt ist, und über seine schädlichen Folgen für die
Gesellschaft in jedem modernsten Aufsatz zur Frauenfrage stehen
(Routledge, S. 132). Caroline fühlt, „daß die Arbeit, wenn sie
allein auch ein menschliches Wesen nicht glücklich mache, uns
doch davor bewahren könne, uns mit irgend einer tyrannischen
Hauptquälerei das Herz zu brechen.« Und den Beleg dazu
liefert ihr Gegenbild Shirley, die junge Gutsherrin, die bei der
Geburt den Namen des sehnlich erwarteten Sohnes und Erben
erhält und seinen Platz im Leben prächtig auszufüllen weiß. In ihr
vereinen sich urwüchsige Sicherheit, freudige Tatkraft, stramme
Selbständigkeit und eine frühlingsfrische Phantasie. Sie hat auch
Humor und den Mut, ihn auszudrücken. »Milton versuchte, das
erste Weib zu sehen," sagt sie einmal; „aber er sah es nicht,
tx sah nur seine Köchin.« Sie möchte ihn erinnern, daß die
ersten Menschen Titanen waren und Eva ihre Mutter. Für ihre
Tapferkeit und Selbstbeherrschung (z. B. die Episode des Hunde-
bisses) wurden Züge aus Emily Brontes Leben verwertet, die
»stärker als ein Mann, einfältiger als ein Kind, für andere voll
Mitleid, erbarmungslos gegen sich selbst war". Und doch läßt
Charlotte Bronte Shirleys starkes, stolzes Herz nicht seinen Ge-
ehrten, sondern seinen Bändiger finden. Solange es noch aka-
demische Erwägungen gilt, schaudert sie vor dem Gedanken, daß
sie in der Ehe aufhören könnte, ihre eigene Herrin zu sein.
Als es aber zur Praxis kommt, schmilzt die Eifersucht auf ihre
Freiheit wie Schnee in der Sonne. Es ist auch Charlotte Brontes
unzweideutige Meinung, daß die gute Gattin nicht Selbständigkeit
und Energie, sondern Selbstentäußerung und Demut in die Ehe
bringen müsse. Daher die plötzliche Schwenkung in Shirleys
Charakter.
Die genialste der drei Schwestern war wohl Emily Bronte.
Ihre Gestalten handeln unter einem gewissen dämonischen Zwang,
einem instinktiven Naturtrieb, dessen unwillkürliche Gewalt an
die geheimnisvollen Äußerungen eines dunkeln Unterbewußtseins
bei modernen Dichtem erinnert. Emilys Heldin Catherine
Wissenschaftl. Frauenarbeiten. IV. V. Richter, Eliot. ^
— 114 —
(Wuthering Heights) ist eine 'wilde Heideblume, schön, hochmütig,
eigensinnig, mit dem Erdgerach des entlegenen Landes, dem sie
entsprossen. Der verwahrloste Heathcliff, ihr Jugendgespiele,
erinnert an das Ungeheuer in Mary Shelleys Frankenstein. Cathe-
rine liebt ihn, ihre Seelen sind wesensverwandt Trotzdem hei-
ratet sie den feinen und reichen Bewerber. Daran muß sie
sterben. Ihre Tochter Cathy aber macht gut, was sie verbrach:
sie gewinnt den wilden Heathcliff der Menschenwürde wieder.
So liegt der Orandgedanke von Wuthering Heights, einem in
vieler Hinsicht von dem typischen Roman jener Zeit abweichenden
Werke, in einer Liebesschuld und Liebessühne. Im Gegensatz
zu der sonst gepredigten Selbstentäußerang und Selbstüberwindung
heißt es hier: was die Natur ins Herz gelegt, das soll sich aus-
leben !
Wenden wir uns von diesen Vorläuferinnen George Eliots
zu ihren Zeitgenossen, so können wir an der Frau nicht vorbei-
gehen, die ihre Mitbewerberin um den Dichterlorbeer war: Eliza-
beth Barrett Browning. Ihre Heldin Aurora Leigh wirft sich mit
dem ungestümen Enthusiasmus eines jungen Talentes auf den
Dichterberaf und schlägt die Hand des wackeren Vetters Romney
aus. Sie arbeitet mit ihrem Herzblut, aber es gelingt ihr nichts
Vollkommenes; was sie erreicht, ist Selbstbetäubung, nicht Selbstr
befriedigung. Das emsigste Schaffen vermag die große Liebes-
sehnsucht ihres Herzens nicht zu beschwichtigen; kein literarischer
Erfolg füllt die klaffende Leere ihres Innern. Als der Vetter ins
Unglück gerät, erkennt Aurora in ihrer Selbständigkeit geistige
Oberhebung und gelangt zu der Einsicht, daß Kunst viel sei,
doch Liebe mehr. Dem in seinem Lebenswerk schiffbrüchigen,
erblindeten Romney wird sie nun die ergänzende, beglückende
Gefährtin. So behält er schließlich recht mit dem Vorwurfe,
der Aurora einst so bitter verletzte: daß dem Weibe der Sinn
für die Allgemeinheit abgehe; daß ihr die Liebe aller ein kleines
Ding sei im Vergleich mit der Liebe eines einzigen.
Aurora Leigh, der Makellosen, Stolzen, steht in Marian
Earle die aus der Hefe des Volkes hervorgegangene Arbeiterin
gegenüber, die ihrerseits in tiefster Erniedrigung und äußerstem
Elend die Lauterkeit des Herzens bewahrt. Hier erhebt Elizabeth
— 115 —
Browning ihre weithin tönende Stimme gegen den Mädchenhandel,
»jene Sache, die von Frauen nur mit halben Worten und zarter
Zurückhaltung angedeutet werden darf, obzwar Frauen sie in
vollstem Ausmaß fühlen müssen«. Eine solche Stelle suchen
wir bei George Eliot vergebens. Und doch schrieb sie 1857
über Aurora Leigh an Sara Hennell: »Ich weiß kein andres
Buch, das mir ein so tiefes Gefühl der Gemeinschaft mit einem
ebenso großen als schönen Geist gäbe.« George Eliots Stellung
war eben nicht wie die Elizabeth Brownings eine in jeder Hin-
sicht so unantastbare, daß sie rückhaltslos alles sagen durfte.
Bei ihren engeren zeitgenössischen Kollegen läßt die Über-
fülle der Gestalten nur Stichproben unter Bulwers, Dickens' und
Thackerays Figuren zu. Selbst bei solcher Beschränkung fiele
eine Auswahl noch schwer, ermöglichte nicht eine gewisse Uni-
formität die Einteilung in Typen. So treffen wir bei Bulwer
die ziemlich schablonenhaft gezeichnete Heroine der Liebe: Isoras
Lebenszweck ist ihre Liebe zu Devereux; seine leisesten Wünsche
modeln sie wie weiches Wachs, und schließlich stirbt sie den
ersehnten Opfertod für ihn. Rienzis Gattin, Nina, ist von einer
an Schillers Frauen gemahnenden pathetischen Liebesexaltation
erfüllt, die sie zu politischer Intrige, zu » unwiderstehlicher
Heldengröße« führt.
Viel zahlreicher vertreten ist, besonders bei Dickens, der
entgegengesetzte Typus: die schlichte, rührige Hausfrau, ohne
Anspruch auf Geist oder Bildung, aber praktisch und gewöhnlich
klüger als ihre Umgebung: Pegotty und Betty Trottwood (David
Copperfield), Susan Nipper (Domb^ and SonJ, Kate Caxton
(Bulwer, The Caxtons). Die Zahl dieser Wackeren, Getreuen ist
Legion. Sie sind der goldene Kern in unscheinbarer oder rauher
Schale. Ihr Ehrgeiz, ja ihr Denken geht in keiner Weise über
die Sphäre ihres bescheidenen Frauendaseins hinaus; innerhalb
dieser Sphäre aber füllen sie ihren Posten redlich aus.
Die eigentliche Heldin des bürgerlichen Romans ist indessen
die Idealgestalt des jungen Mädchens, das die unberührte Herzens-
reinheit des Kindes mit der leidenschaftslosen Selbstvergessenheit
oder Selbstüberwindung des gereiften Alters verbindet: Demut
und rührende Schwäche mit heldenhafter Ausdauer und Auf-
— 116 —
Opferung - aber immer nur für den Hausgebrauch. Der Dichter
tut alles für seine Heldin; er stattet sie mit den köstlichsten Gaben
aus, aber sie ihrerseits muß sich und was sie vermag, ausschließ-
lidi dem Helden zu Füßen legen. Man vergleiche bei Dickens:
Agnes (Copperfield), Little Dorrit, Esther (Bkak Hoase), Florence
{Dombey and Son); bei Bulwer: die schöne, kluge Madeleine
mit ihrer süßen Indolenz (Eugene Aram); bei Thackeray: Amelia
Sedley (Vanify Fair). Sie alle sind die guten Geister, der Sonnen-
schein im Hause, der verkörperte Pflichtbegriff, die unwandelbare
Treue. Sie glichen in ihrer übersinnlichen Schattenlosigkeit höheren
Wesen, wäre ihr Leben und Weben nicht so völlig in die engsten
Schranken des irdischen Daseins gebannt.
Eine besondere Abart dieser körperlich zarten und seelisch
starken Heldinnen bilden die Obemaiven: Clive Newcomes
Gattin Rosy (The Newcomes), oder Copperfields Childwife Dora,
mit ihrem passiven Pflanzenleben.
Wie sich diese Dichter zur sozialen Frage der Frau stellen,
kennzeichnet Pelhams Ausspruch über »die fesselndste Frau seiner
Zeit«. Er sagt von Lady Roserith: »Trotzdem sie nicht über
fünfundzwanzig war, befand sie sich doch in jener Lage, in der
die Frau allein aufhört, abhängig zu sein: im Witwenstande.''
Dickens schildert in Mrs. Jellyby (Bleakhouse) die berufs-
mäßig tätige Frau als Karikatur mit tragikomischer Wirkung.
Während ihr ganzes Sinnen und Trachten einer schrullenhaften
Begeisterung für afrikanische Kaffeepflanzungen gewidmet ist, ver-
kommt ihr Haus, und ihre verwahrlosten Kinder entfremden sich
ihr. Die gelehrte Tätigkeit zehrt wie ein Krebsschaden an ihrem
gesunden Gefühl und ertötet in ihr die Gattin, die Mutter, ja
nicht nur das Weib, sondern den Menschen.
Die aufflackernde Sehnsucht nach einer eigenen freien
Persönlichkeit streift Dickens in Tatticoram (LitÜe Dorri^, der
Magd, die, obgleich sie es bei ihren Dienstgebem nicht
schlecht hat, plötzlich von einem Drange nach selbständiger Be-
tätigung ihrer Individualität gepackt wh-d, aber sogleich wieder
kehrt macht. Die Auflehnung gegen Knechtschaft und erlittenes
Unrecht war Verhetzung, Wahnsinn, ein Mißverstehen durchaus
freundlichster Absichten. Sie wird nie wieder so schlecht sein,
— 117 —
an der Güte ihres Herrn und der Gerechtigkeit der Weltordnung
zu zweifeln.
Eine sehr vereinzelte Erscheinung im modernen englischen
Roman der Blütezeit ist die vornehme Halbweltsdame Edith
Dombey (Dambey and Son). Sie empfindet ihre gesetzmäßige
Trauung mit Dombey als einen schmählichen Verkauf, die Lauter-
keit der jungen Florence erfüllt sie mit Ehrfurcht; obzwar sie
von Kind auf verdorben ward„ ist doch in ihrem Innersten ein
edler Kern von der Fäulnis unberührt geblieben. Gäbe ihr die
Gesellschaft ein anderes Mittel an die Hand, emporzukommen,
als das Ausbeuten ihrer Gewalt über den Mann, so wäre Edith
nicht gefallen.
Dasselbe gilt in noch höherem Grade für Thackerays Becky
Sharp (Vanify Fair). Sie ist keine so feine Natur, aber dafür
geistig begabter als Edith. Energie, Ehrgeiz, Scharfsinn drängen
in ihr gebieterisch nach Betätigung. Das große Defizit ihrer
Veranlagung trifft das Gemüt Eine vernünftige Gesellschafts-
ordnung würde sie von der Ehe ablenken und auf einen Beruf
verweisen. Aber so, wie die Dinge liegen, muß Becky zur Heirat
und zu allerlei Liebschaften greifen als der einzigen Laufbahn,
die eine Aussicht bietet auf mögliche Befriedigung ihres bren-
nenden Verlangens, der dürftigen, verborgenen Existenz zu ent-
gehen. Mit ihrer kalten Berechnung würde sie als Kaufmann»
als Diplomat Glück machen. Sie hätte das Zeug zu einer Riesen-
karriere in sich, während sie nun desto tiefer sinkt, je höher sie
sich emporschwindelt.
Aber weder Dickens noch Thackeray machen die Gesell-
schaft für Gestalten wie Edith Dombey oder Becky Sharp ver-
antwortlich. Sie kennen kaum eine andere Bestimmung der Frau
als die für die Küche des Mannes oder für seinen Salon; ihre
verderbliche Tätigkeit erstreckt sich auf Flirt und Intrige, ihre
heilsame auf das liebevolle Schalten und Walten im Hause. Nur
eine Stelle in den Newcomes^ dem Romane, dessen leitendes
Thema das Elend erzwungener oder schlecht gepaarter Ehen ist,
scheint vorbedeutend wie das Aufdämmern einer neuen Erkenntnis.
Mrs. Pendennis, die einzige glückliche und beglückende Gattin
des geschilderten großen Kreises, stellt eine Betrachtung über
— 118 —
Bajaderen an, deren Beruf es sei, zu tanzen, Geschmeide zu tragen,
schön zu sein, und die im Pagodenlande geachtet würden (Tauch-
nitz, IV, 81). »Es scheint mir,« fährt Mrs. Pendennis fort, »^als
würden die Mädchen unserer Welt in keiner sehr verschiedenen
Weise erzogen. Sie wissen kaum, daß das, was sie tun, schlecht
ist Sie werden für die Welt herangebildet und gelehrt, sich
zur Schau zu stellen. Wie können sie ernstlich an Seelen denken,
die zu retten, an schwache Herzen, die vor Versuchungen zu
hüten sind, an Gebete, an bessere Welten, wenn die Eitelkeiten
dieser Welt ihr ganzes Sinnen und Trachten bilden?«
VII.
Diese im englischen Romane zutage tretende einstimmige
Verbannung der Frau von allen Lebensgebieten, auf denen sie
als die Arbeitsgenossin oder Rivalin des Mannes auftreten könnte,
erklärt sich daraus, daß die tiefgreifendste Umwertung der Werte,
die das 1 9. Jahrhundert vollzogen hat, damals erst eine prinzipielle
Forderung einzelner fortschrittlicher Denker war, in der Wirklich-
keit aber noch nicht Boden gefaßt hatte. Selbst Mill, der streit-
bare Vorkämpfer und begeisterte Anwalt der Frau, erklärte sich
gegen einen selbständigen Erwerb der verheirateten Frau. Die
Fähigkeit dazu sei zwar für ihre Würde erforderlich, falls sie
kein unabhängiges Vermögen besitze, aber im Interesse der Familie
wäre es wünschenswert, daß sie sie nicht ausübe.
Herbert Spencer zog konsequenterweise auch das weibliche
Geschlecht mit ein in seine Hochachtung vor der Individualität
und seine Abneigung gegen die Willkür eines Wesens über das
andere. Auf jener höheren Stufe der Zivilisation, auf die ihm alles
loszusteuern scheint, hält er ein Abhängigkeitsverhältnis der Ge-
schlechter für ausgeschlossen. Dem verfeinerten Mann, der selbst
gegen Untergebene nicht mehr den Herrn spielen mag, wird es
widerstreben, sich der Frau gegenüber zum Befehlshaber aufzu-
werfen. Sein wachsendes Gerechtigkeitsgefühl wird ihr gewähren,
was er für sich selbst beansprucht, und in der Frau selbst wird
allmählich die Erkenntnis dessen erwachen, was ihr gebührt (So-
cial StaticsJ. In seinem Buche On Education fordert Spencer
für die Mädchen dieselbe Bewegungsfreiheit wie für die Knaben
— 119 —
(S. 154), und mahnt zu einer Bildung, welche die Papageien-
fähigkeiten weniger und die Menschenfähigkeiten mehr entwickele
(S. 170).
Diesen ersten Rufern im Streite, die das Zeichen zum An-
griffe geben, gesellt sich George Eliot nicht. Ja, sie läßt sich sogar
von manchen ihres Geschlechtes überholen, z. B. von Harnet
Martineau, die schon in den dreißiger Jahren Wahlbeteiligung im
weitesten Ausmaß für die Frau gefordert, das Prinzip der Ritter-
lichkeit des Mannes gegen die Frau als etwas ihrer wahren Frei-
heit und Würde durchaus Abträgliches verworfen und die Unter-
scheidung einer weiblichen und männlichen Tugend als eine
Gebhr für die ganze Menschheit bezeichnet hatte (Society in
America), Doch wenn Miss Martineau einerseits den Männern
mit energischen Forderungen entgegentrat, versäumte sie anderer-
seits auch nicht, die Frauen eindringlich zu mahnen, daß sie das
große Werk der Reform nicht in Sturm und Drang ertrotzen
könnten, sondern in stiller, mühevoller Selbsterziehung bei sich
selbst beginnen müßten. Die wahren Anwälte der Frauensache
seien jene, die sich moralisch und intellektuell den ernstesten
Anforderungen des Lebens gewachsen zeigten, die glücklichen
Gattinnen und die tätigen, heiteren, zufriedenen Ledigen, die kein
persönliches Unrecht zu rächen hätten und in der Arbeit nicht
Linderung für eine schmerzliche Leere oder eine erlittene De-
mütigung suchten {Autobiography, I, 411 f.).
Zu diesen letzteren gehörte Harriet Martineau selbst Mit
den Jahren mäßigte sich ihr revolutionärer Eifer in ein gelassenes,
sicheres Zuwarten. Sie meinte, die Frauen würden jedes Ziel
erreichen, sobald sie sich die wahre Eignung dazu verschafft
hätten. Darum sollte vorläufig jede Frau das Werk der Selbst-
befreiung in ihrem eigenen Kreise fördern.
So läuft schließlich alles auf Erziehung, innere Kräftigung
und Veredlung hinaus; und dies ist der Punkt, in dem wir auch
George Eliot den lebhaftesten Anteil an der Frauenbewegung
nehmen sehen, während sie die politische Seite kaum streift
1853 schrieb sie die strengen Worte: »Das Frauenwahlrecht macht
nur schleichende Fortschritte, und das ist das beste, denn die
Frau verdient noch kein viel besseres Los als das, welches man
— 120 —
ihr gewährt.« Freilich sagte sie in Felix Holt auch den Männern,
sie seien für die politische Freiheit nicht reif. Als Mill 1866
dem Unterhause eine mit 1500 Namen unterfertigte Petition
um das Stimmrecht vorlegte, schrieb sie (30. Mai 1867) doch
auch an Mrs. Peter Taylor: »Ich sympathisiere aufs entschiedenste
mit Ihnen in dem Wunsche, die Frauen gehoben zu sehen, der-
selben Erziehung teilhaftig wie die Männer und, soweit als mög-
lich, gesichert vor der Ausübung jeder unrechtmäßigen Gewalt.
~ Im ganzen bin ich geneigt, viel Gutes von der ernsten Ver-
tretung der Frauenforderungen im Parlamente durch Mill zu
hoffen.«
Das weitaus Wichtigste aber bleibt für George Eliot die
moralische Hebung der Frau. Sie nahm den lebhaftesten Anteil
an der Entwicklung des Frauenstudiums. Als der erste Plan von
Girton College auftaucht und die Idee, daß Mädchen dieselben
Professoren, Prüfungen und Würden haben sollten wie die jungen
Männer, so neu ist, daß sie ein Ausrufungszeichen dahinter macht,
fügt sie triumphierend hinzu: „Si muove!** Eine bessere Er-
ziehung der Frauen ist eines jener Dinge, über die sie keinen
Zweifel hegt (an Mad. Bodichon, Dezember 1867). Als es dann
zur Gründung des College kommt, spendet sie 50 £, „from
the author of Romola", und ist besorgt, daß man fürs erste ein
gutes Studentenmaterial wähle, damit das Experiment gerecht-
fertigt und der Erfolg gesichert werde (an Miss Smith, April
1873). Sie selbst bestimmte die zum Andenken ihres Gatten
gegründete George Henry Lewes Studentship für Studierende beider
Geschlechter. Schon 1854 hatte sie in dem Aufsatze Women in
France die Überlegenheit der Französin aus dem Umstände her-
geleitet, »daß man ihr Zutritt gestatte zu einem allgemeinen Ka-
pital von Ideen und Interessen, die ihr mit dem Manne gemein-
sam seien«. Schon damals hatte sie gemahnt, der Frau das ganze
Gebiet des wirklichen Lebens zu erschließen wie dem Manne;
dann würde sich ihre geistige Eigenart als eine notwendige Er-
gänzung für die Wahrheit und Schönheit des Seins erweisen.
Einen Haupterfolg der besseren Erziehung versprach George
Eliot sich für die Zukunft »von der Erkenntnis, was für eine große
Menge nicht einträglicher Arbeit durch Frauen getan werden
— 121 —
muß und jetzt gar nicht oder sehr schlecht gemacht wird''. Mit
anderen Worten: sie hoffte, daB eine pünktlichere, gründlichere
Erfüllung der täglichen kleinen Obliegenheiten Platz greifen würde.
»Den Frauen kann so wenig wie irgend einer Klasse männlicher
Sterblichen Gutes zuteil werden, so lange ein jedes danach strebt,
die höchste Art von Arbeit zu tun, die gewissermaßen heilig ge-
halten werden müßte als dasjenige, was nur die wenigen Aus-
erlesenen gut machen können. Ich glaube - und wünschte, es
würde recht deutlich gezeigt -, daß eine gediegenere Erziehung
dazu dienen wird, mit der abscheulichen Gemeinheit unserer Ideen
über Amter und Beschäftigungen aufzuräumen und das wahre
Evangelium zu verbreiten: die größte Schmach sei die, in der
Ausübung einer Arbeit zu verharren, zu der man untauglich ist
- irgend eine Arbeit schlecht zu tun'' (an Mad. Bodichon).
Nicht die hohen Berufe, die immer nur für einzelne Auserwählte
sein können, waren das segensreiche Ergebnis, das George Eliot
von einer höheren Kultur für ihr Geschlecht erhoffte, sondern
neben einer allgemeinen Veredlung des Denkens und Fühlens,
die Erhebung der Frau zu einer tüchtigen und gewissenhaften
Arbeiterin in was immer für einer noch so bescheidenen Tätigkeit
»Die Gewissenhaftigkeit erstreckt sich bis auf das Einschlagen von
Nägeln,« schrieb sie (30. Oktober 1857) an die Brays. »Es kann
jedenfalls nicht schaden, wenn man den Frauen dies predigt.«
Das beste Mittel, der herrschenden Ungerechtigkeit gegen
die Frauen abzuhelfen und ihre gesellschaftliche Lage im allge-
meinen zu heben, fand George Eliot darin, daß sie ihre Arbeit
besser machten, daß sie aufhörten, Dilettantinnen zu sein (Gross,
Ufe, IV, 282). Sie hoffte von einer den Charakter wie das Können
vertiefenden Erziehung, daß sie das Weib bescheidener, strenger
gegen sich, milder gegen andere mache. Eine gute, tüchtige
Leistung, gleichviel auf welchem Gebiete, eine Arbeit, die gleich-
sam den Befähigungsnachweis ihrer Schöpferin erbringt, schien
ihr die beste und nachdrücklichste Art, den Rechtsanspruch der
Frau auf Gleichstellung mit dem Manne geltend zu machen. Als
sie 1857 Bilder von Rosa Bonheur sah, rief sie aus: »Welche
Kraft! Das ist die Art, wie die Frauen für ihre Rechte einstehen
sollten!« (An Sara Hennell, 19. August 1857.)
— 122 —
So sind George Eliots Briefe und Tagebücher durchwirkt
von Beweisen ihres tiefgehenden Interesses an einer Frage, die
sie ja zu nahe berührte und von zu vitaler Bedeutung war,
um nicht ihr Innerstes zu erregen. Öffentlich für sie einzu-
treten, lehnte sie dennoch entschieden ab. »Ich möchte nicht
wagen, mich belehrend über eine so verwickelte Frage wie die
Frauenfrage auszusprechen,« schreibt sie an die. Brays (30. Ok-
tober 18S7) und fügt scherzend hinzu: „La Carriire ouverte aux
talents, seien die Talente nun weibliche oder männliche, ist -
davon bin ich überzeugt - ein richtiger Grundsatz. Entscheiden,
ob la carriere ouverte ä la soUise bei gleicher Verallgemeinerung
ebenso gerecht wäre, hieße für mich zu sehr Partei ergreifen.«
Und 1876 schreibt sie an Mrs. Taylor: „Ich dachte, Sie ver-
stünden, daß ich ernste Gründe hätte, über gewisse öffentliche
Dinge nicht zu sprechen. ~ Meine Tätigkeit ist die des ästhetischen,
nicht des doktrinären Lehrers — die Erregung der edleren Ge-
fühle, die in der Menschheit den Wunsch nach sozialem Recht
wecken, nicht das Vorschreiben gewisser Maßregeln, über welche
das Künstlergemüt, wie stark es auch durch soziale Sympathie
bewegt sein mag, oft nicht der beste Richter ist.«
Dieser w ernsten Gründe« waren drei. Erstens der künst-
lerische, hier angedeutete. Die poetischen Gebilde haben mit
der Theorie nichts zu tun. Aus dem ersten ergibt sich der zweite
Grund. Weil sie ihren Frauentypus aus den breiten Schichten
der Wirklichkeit herausgreift, empfindet sie ihr eigenes großes
Schaffen als Ausnahmszustand, und es widerstrebt ihrem weiblichen
wie ihrem künstlerischen Zartgefühl, etwas rein Persönliches vor die
Öffentlichkeit zu bringen, gleichsam pro domo zu schreiben. Auch in
The Mill on the Floss brechen die biographischen Momente in
der Schilderung der Heldin an dem Punkte ab, wo sich aus
Marian Evans die selbständige Persönlichkeit, die berufsmäßige
Schriftstellerin zu entwickeln begann.
Die Fürstin Halm-Eberstein sagt: „Du weißt nicht, was es
heißt, männliche Kraft des Genies in sich fühlen und die Sklaverei
erdulden, ein Mädchen zu sein!« Auch diese Worte sind erlebt.
Oft genug und bitter genug mochte Marian den unversöhnten
Gegensatz des noch dunkel und unbestimmt in ihr gärenden
— 123 —
Schaffensdranges und der engen Schranken ihrer spieBbürgerlichen
Existenz qualvoll empfinden. Nirgends aber schildert sie uns,
was sie doch gleichfalls im tiefsten Innern erlebt hatte: das Sich»
emporringen zu befreiender Tätigkeit, zu einer für sie selbst und
unzählige andere beglückenden Lebensarbeit Nirgends führt sie
uns jene eigene Erfahrung vor, daß es auch eine weibliche Kraft
des Genies gibt, die sich durch das Schicksal, ein Mädchen zu
sein, nicht niederdrücken läßt, sondern darin nur einen Sporn
erblickt, die unbezwingbare innere Freiheit durch die Bewältigung
aller Hemmnisse auch äußerlich zu betätigen.
Der dritte Grund, der George Eliot abhielt, öffentlich für
die Befreiung der Frau einzutreten, lag in dem einschüchternden
Bewußtsein ihrer angezweifelten gesellschaftlichen Stellung. Lord
Acton hat in seinem gehaltvollen Aufsatze im Nineteenth Century
(März 1885) leise die Tragik im Leben dieser tief sittlichen und
tief denkenden Frau angedeutet, die durch einen Schritt, den sie
mit vollem Bewußtsein zu tun glaubte und dessen Tragweite sie
doch nicht ermessen konnte - durch einen Schritt, den sie nie
zu bereuen vermochte — ihrer leuchtenden Erscheinung in den
Augen vieler einen Makel aufdrückte, der sie um die ihrer inneren
Bedeutung entsprechende äußere Machtstellung brachte: um die
rückhaltslose Redefreiheit, um die Führerrolle unter den Edelsten
ihres Geschlechtes und — um das Grab in der Westminsterabtei.
Alle drei Gründe aber lassen sich auf einen gemeinsamen
zurückführen: bei aller Weite ihres Horizontes, bei aller Katho-
lizität ihres Wissens - um einen Ausdruck ihres Gatten zu ge-
brauchen - gibt es eine Schranke in George Eliots Natur. Sie
besitzt das Seherauge nicht, das in die Zukunft blickt; sie ist
keine Bahnbrecherin. Sie hält Schritt mit den Besten ihrer Zeit,
aber sie geht nicht über sie hinaus. Sie hat den schärfsten Blick
für alles Vorhandene, aber nicht für die Keime, die noch unter
der Erde liegen. Sie ist kein Erwecker, keine Kampfnatur und,
an die Grenzscheide zweier Epochen in der Geschichte der Frau
gestellt, wurzelt sie noch in der früheren, im Entschwinden be-
griffenen. Ihr Konservativismus, ihre Vorliebe für die gute, alte
Zeit spricht auch hier ein entscheidendes Wort. Der Verstand
drängt sie vorwärts, das Herz zieht sie zurück. So erklärt es
— 124 —
sich, daß ihre Äußerungen über die Frauenfrage nicht aus einem
Gusse sind. Sie schildert Frauen, die uns in mancher Hinsicht
schon ein wenig altmodisch anmuten, und lebt selbst das Leben
einer modernen Frau. Man kann Lord Acton nur beistimmen,
wenn er den interessantesten von George Eliots Charakteren
ihren eigenen und das interessanteste ihrer Bücher ihren Lebens-
lauf nennt.
George Eliots historischer Roman.
I.
Im März 1860 unternahm George Eliot ihre erste Italien-
fahrt; und die Reise, die sie »mehr in der Hoffnung auf neue
Bildungselemente als auf unmittelbares Vergnügen« angetreten
hatte, wurde für sie eines jener Erlebnisse, die das Dasein in
zwei Abschnitte teilen. Den Höhepunkt der neuen Eindrücke
bildete nicht Rom, sondern Florenz, denn die Renaissance, der
Beginn modemer Kunst und Kultur, fesselte sie mehr als die
Antike. Die alte Herrlichkeit in der Amostadt überwältigte sie.
Sie schrieb an John Blackwood: »Was mich betrifft, so hat mich
der Anblick der großen Dinge, die in ferner Vergangenheit voll-
bracht wurden, in einen Zustand demütigender Passivität versetzt.
Es scheint, als wäre das Leben nicht lang genug, um zu lernen,
als wäre meine eigene Tätigkeit durch den Vergleich so völlig
verkümmert, daß ich nie mehr den Mut zu einer eigenen Schöp-
fung finden würde" (18. Mai 1860). Doch schon die nächsten
Tage brachten einen Umschwung in ihrer Stimmung. Schaffens-
drang regte sich, und am 27. Mai deutet sie Major Blackwood,
dem Bruder ihres Verlegers, bereits geheimnisvoll einen kühnen
Plan an, den Florenz in ihr gezeitigt hatte.
Nach Lord Acton^) sollen die Fresken Fra Angelicos im
Kloster San Marco ihr die erste Anregung zu einem historischen
Roman gegeben haben: »Schauplatz: Florenz. Zeit: das Ende des
IS. Jahrhunderts, das durch Savonarolas Laufbahn und Märtyrer-
tum gekennzeichnet ist" (an Blackwood, 28. Aug. 1860). Allein
das Jahr ging zu Ende, ohne daß sie dem rasch gefaßten Plane
nähertrat Im Mai 1861 war sie wieder in Florenz, diesmal um
George EUofs Ufe, Nineteenth Century, März 1885.
— 126 —
sich in das Renaissance-Milieu einzuleben, in dem ihr Roman
spielen sollte. »Meine Phantasie strebt gewohnheitsmäßig nach
einer so vollständigen Anschauung der Mitte, in der ein Charakter
sich bewegt, als des Charakters selbst,« sagt sie in einem Briefe
an R. H. Hutton (8. August 1863).
So versenkte sie sich in historische, philologische und theo-
logische SpezialStudien, die dem Maßstabe des Gelehrten stand-
hielten. Und es gelang. Die alte Zeit lebte vor ihrem Blicke
auf, aber gleichzeitig wuchs der Stoff ins Ungeheure. Sie rang
mit ihm, ohne ihn bemeistem zu können. Unter dem 1 2. August
1861 lesen wir im Tagebuch: »Geriet über dem Versuch, meine
Gedanken auf die Konstruktion meiner Erzählung zu konzen-
trieren, in einen Zustand solchen Elends, daß mich die Ver-
zweiflung übermannte und ich plötzlich meine Fesseln sprengte
mit den Worten: Ich will nicht ans Schreiben denken.«
Acht Tage später tritt der Plan ihr klarer vor Augen; am
4. Oktober hat sie wieder jedes Vertrauen in ihr Können ver-
loren - und so geht es fort unter beständigen Schwankungen.
Romola kostete einen noch härteren Kampf als ihre anderen
Werke, die sie ja alle mehr oder weniger ihrem Genius abge-
rungen hat. Sie beginnt zu schreiben und ist genötigt abzubrechen.
Am 1 2. November hat sie den Stoff halbwegs gestaltet, doch muß sie
ihn noch mehrmals skizzieren, ehe sie an die Ausführung gehen
kann. Am 1. Januar 1862 meldet das Tagebuch: »Ich begann
meinen Roman Romola aufs neue«; und am 9. Juni 1863:
»Machte den letzten Strich an Romola. Ebenezer!«^)
Fast drei Jahre lang hatte sie mit dem Einsatz ihrer ganzen
Persönlichkeit daran gearbeitet. Sie hatte ein Stück Lebenskraft
dabei verbraucht »Ich begann es als eine junge Frau und voll-
endete es als eine alte,« sagte sie nachmals zu Mr. Gross.
George Eliot hatte von Anfang an das Gefühl, sie betrete
mit Romola eine neue Bahn. Als die erste Idee des Werkes in ihr
keimte, faßte sie den Gedanken, es anonym erscheinen zu lassen.
*) Vgl. Sam. 7, 12: „Da nahm Samuel einen Stein und setzte ihn
zwischen Mizpa und Sen und hieß ihn Ebn Ezer und sprach: Bis hierher hat
uns der Herr geholfen."
— 127 —
»Sie kennen die angenommenen Phrasen, mit denen ein Autor
begrüßt wird, wenn er etwas anderes tut als das, was man von
ihm erwartet," schrieb sie an Blackwood (Aug. 1860). Sie wußte,
daß das Publikum sich daran gewöhnt hatte, mit dem Namen
George Eliot spezifisch »englische« Meisterwerke zu verbinden,
altvertraute Gesichter und Gegenden, von den Ureltem über-
kommene Sitten und Einrichtungen, selbsterlebte Gefühle und
Gedanken — kurz, das liebe Vaterland mit seinen Bewohnern und
seiner Geschichte. George Eliot fühlte selbst zu sehr, wie tief
ihre Begabung im Boden der Heimat wurzelte, um das Miß-
trauen des Publikums nicht zu begreifen: ob wohl ihre Kunst,
in fremde Erde verpflanzt, noch ebenso köstliche Früchte zur
Reife bringen werde? Sie selbst hatte offenbar die Empfindung,
daß es sich um ein Experiment handle.
Und als ein solches gilt Romola noch immer, sei es nun,
daß man mit Frederick Harrison in ihr »etwas höchst ehrgeiziges,
sehr schönes, durchaus vornehmes Mißlungenes« erblickt,^) oder
mit dem Kritiker der Westminster Review (Oktober 1863) »das
höchste Flutzeichen, daß ein Romanschriftsteller, in unserer Gene-
ration zum mindesten, erreicht habe.« Man hatte ein modernes
englisches Buch erwartet und war erstaunt und befremdet, ein
italienisches aus dem 1 5. Jahrhundert zu erhalten. Selbst Lewes,
George Eliots begeistertster Kritiker, tauschte sich nicht dar-
über, daß dieses Gefühl erst überwunden werden müsse, ehe
sich im Publikum die Erkenntnis Bahn brechen könne: Romola
sei »einzig«. (Brief vom 5. Juli 1862.)
Man fand einen Gegensatz zwischen dem Erwarteten und
dem Gebotenen - man findet ihn noch heute. Und doch be-
steht dieser Gegensatz tatsächlich nicht. Denn George Eliots
Begeisterung für die italienische Renaissance war, genau besehen,
nur die Wirkung eines starken Impulses der unmittelbaren eng-
lischen Gegenwart.
Ihr Genius hatte Romola kaum weniger aus dem aktuellen
Leben der Heimat heraus gestaltet als die früheren Werke. Die
Vielseitigkeit ihrer Begabung, die Weite ihres Horizontes machten
Forum, Sept. 1875.
— 128 —
es ihr unmöglich, sich einer eingreifenden Geistesströmung zu
verschließen, auch wenn sie ihr persönlich fem blieb, auch wenn
sie weder die Absicht, noch das Bewußtsein hatte, von ihr ge-
tragen zu werden. So hat George Eliot — wahrscheinlich ohne
es zu wollen oder nur zu wissen - in Romola das epische
Meisterwerk des Praraffaelismus geschaffen.
Das Wort Praraffaelismus erweckt heute vielfach Vor-
stellungen, die dem ursprünglich damit verbundenen Begriffe
diametral entgegengesetzt sind. Rückkehr zur Natur aus dem
Sumpfe der Konvention und Vorurteile, bescheidenste und wahr-
haftigste Hingabe an die Urwüchsigkeit, Schlichtheit und Größe
der Natur im Gegensatze zur geschraubten Hohlheit und Ver-
künstelung, unbedingte und umfassendste Anerkennung der Indi-
vidualität im Gegensatze zu verallgemeinernden Regeln — das
war es, was die Präraffaelitische Bruderschaft als Ziel anstrebte.
Ihr treibendes Element, Dante Gabriel Rossetti, schien durch die
wunderbare Vereinigung von protestantischem Engländertum und
klassischem Italianismus in seiner Person schon von Geburt aus
prädestiniert, jenem Einflüsse Italiens, der wie eine seidene
Schnur die edelsten Perlen englischer Dichtung aus allen Zeiten
aneinander reiht, wieder einmal zu epochalem Ausdruck zu ver-
helfen. Angeblich waren es die Fresken des Campo Santo in
Pisa, die dem unklaren Streben Rossettis und seiner Freunde
nach einer Wiedergeburt der Kunst eine bestimmtere Richtung
gaben. In dieser bestärkte sie ein Ausspruch des von dem jugend-
lichen Kreise schwärmerisch verehrten Keats: mancher der früh-
italienischen Meister übertreffe Raffael. Von ihnen allein meinten
sie den Ausdruck urwüchsiger Kraft und treuherziger Biederkeit
lernen zu können, die ihnen selbst als die Erlösung von dem
herrschenden Mißbrauch erschien, das Wesen der Kunst in äußer-
licher Handfertigkeit zu suchen. Von Cimabue und seinen Nach-
folgern hatte die italienische Malerei den ersten naturalistischen
Impuls empfangen. Zwar waren die Meister des 14. und
15. Jahrhunderts oft noch hart und ungelenk in den Linien, oft
unbeholfen und unzureichend im Ausdruck, aber wie verschwan-
den diese Mängel in ihrer naiven, ehrlichen Begeisterung, ihrer
frommen Einfalt gegenüber dem Natürlichen wie dem Göttlichen.
— 129 —
Ruskin erklärt den Namen und die Ziele der Präraffae-
Htischen Bruderschaft folgendermaßen:^) »Die Präraffaelitcn
ahmen nicht Bilder nach; sie malen nur nach def Natur. Aber
sie haben sich als eine Körperschaft jener oben beschriebenen
Art des Unterrichts widersetzt, die erst nach Haffaels Zeit begann,
und sie haben sich energisch der ganzen Stimmung der Renaid^
sance-Schulen widersetzt; einer Stimfnung, die aus Indolenz, Un-
treue, Sinnlichkeit und oberflächlichem Stolze zusammengesetzt ist
Darum haben sie sich Prä-Raffaeliten genannt Halten sie an
ihrem Prinzip fest und malen die Natur, wie sie sich auslebt, mit
der Hilfe modemer Wissenschaft und dem Ernst der Menschen des
1 3. und 1 4. Jahrhunderts, so werden sie, wie ich sagte, eine neue,
edle, Vornehme Schule in England gründen. Führt ihre Sympathie
mit den alten Künstlern sie ins Mittelalterliche und in den Ro-
manismus, so werden sie natürlich zu nichts kommen.»
In der Tat lagen diese beiden Elemente dem tonangeben-
den Talente der Schule, Rossetti, im Blute. In ihm verband sich
die Poesie des Marienglaubens, Dantesche Liebesmystik und
Shelleysche Exaltation der Frau zur Repräsentantin des Schönheits-
ideals zu einer eigentümlich eklektischen Kunstform, die auf den
nicht Eingeweihten - ganz im Gegensatz zu der angestrebten
Urwüchsigkeit - den Eindruck bewußter oder unbewußter Nach-
empfittdung machte. Ein Weihrauchgewölk mittelalterlicher Ro-
mantik legte sich als eigentümlich reizvoller Kontrast auf die
protestantisch -englischen Motive, die er, seinem Prinzipe treu,
aus der unmittelbaren Umgebung für seine künstlerischen Vor-
würfe wählte« Die von puritanischer Streng« erfüllten, nordisch
ernsten Züge seiner Schwester Christina wurden als Jungfrau
Maria in die Kunst herübergenommen; der Bks^d DamoMel und
den meisten seiner Beatricen gab er das blasse zarte Oval de»
Antlitzes seiner Braut, eines echt englischen Schönh^itstypus mit
dem Gepräge moderner Sentimentalität und physischer Krankheit
So kam es, dafi man in breiteren Schichten lange unter Prä-
raffaelismus eine willkürliche Nachahmung italienischer Früh-
renaissance durch moderne Romantiker verstand - also ziemlich
dasG^enteil von dem, was die Gründer der Bruderschaft anstrebten.
Pre-Raphaditism, S. 2, Atim. 2.
WissenscfaafÜ. Frauenarbeiten. IV. V. Richter, Eliot. 9
— 130 —
In bezug auf George Eliot kommt natürlich nur die ur-
sprüngliche und echte Bedeutung des Präraffaelismus in Betracht
In der Tat war der Griff ins 15. Jahrhundert, den sie mit Ro-
mola wagte, eine so augenscheinliche Folge seines Einflusses,
daß es nur durch die bekannte ablehnende Haltung Ruskins und
Rossettis gegen sie zu erklären ist, wenn dies bis heute übersehen
wurde. Denn während George Eliot für Ruskin offenbar eine
besondere Wertschätzung hatte — er befand sich unter den acht
Bevorzugten, denen sie die Scenes of Clerical Life schicken ließ
- erblickte er in ihr den Gipfelpunkt der Cockneyschule, »in
der die Persönlichkeiten hinter dem Ladentische und in der Gosse
aufgenommen werden und die Landschaft im Vergnügungszug
nach Gravesend mit Retourbillett nach der Stadt«. ^) Rossetti
tadelte speziell Romola; das Buch sei nicht urwüchsig, Ton und
Farbe des italienischen Lebens im 15. Jahrhundert nicht getroffen.
Allein je größer der Abstand zwischen der Romantik des
Präraffaelismus und George Eliots Rationalismus ist, je weniger
Berührungspunkte sie selbst anerkannt hätte, um so merkwürdiger
ist der tatsächliche Einfluß. Die Begeisterung für die italienische
Frührenaissance lag offenbar in der Luft, wie später das Interesse
für die soziale, die Juden- und die Frauenfrage, das George Eliot
gleichfalls in seine Kreise zog.
Aber nicht genug, daß sie den ersten Impuls zur Romola
von den Präraffaeliten empfing, sie ging auch nach den Grund-
sätzen der Bruderschaft zu Werke. Ruskin erklärte die unbe-
dingte Beherrschung und Durchdringung des Stoffes für die
Grundlage alles künstlerischen Schaffens, die Grundlage, wohl-
gemerkt, auf der der Künstler sein Werk selbständig aufbauen,
nicht sklavisch nach gegebenen Mustern ausführen solle. So
strebt George Eliot nach erschöpfendster Detailkenntnis^ um ihren
Stoff nach jeder Richtung hin zu durchdringen. Mit der Ge-
wissenhaftigkeit des Gelehrten tritt sie an ihn heran. Sie macht
topographische Studien über das alte Florenz, sie hält im Schreiben
inne, um sich über eine mögliche Verspätung des Osterfestes
1492 zu unterrichten. »Ich gab mir unsägliche Mühe mit der
Ninäeenth Century, LVII, 521.
— 131 —
Vorbereitung zu Romola"', schrieb sie an Harrison (1 S. Aug. 1866);
»nichts, was ich fand, vernachlässigte ich, wenn es ipir zu dem
verhelfen konnte, was ich im weitesten Sinne des Wortes das
w Idiom" von Florenz nennen möchte. Und dann versuchte ich
nur einige der Normalverhältnisse herauszugreifen. Ich fühlte,
daß die notwendige Idealisierung nur durch ein Zueigenmachen
der äußeren Hülle der Vergangenheit erreichbar wäre.«
Diese w unsägliche Mühe" wurde vielfach verurteilt Ruskin
hatte den Grundsatz, nichts sei jemals gut gemacht, was nicht
leicht gemacht ward.^) Das aber, was George Eliot auf dem
von ihm verpönten Wege erreichte, war eben jene unbedingte
Beherrschung des Stoffes, die er selbst forderte. Und sie ist
auch bei George Eliot nur die selbstverständliche Voraussetzung
für ihren Roman, nur das Rohmaterial für ihr Kunstgebilde.
Romola kann geradezu als ein Beleg für jene Kunstregel in den
Modern Pcdniers gelten, die S. H. Höbson in seinem vortrefflichen
Buche John Ruskin, Social Reformer kürzer und klarer als der
Meister selbst zusammenfaßt in den Worten: »Das Ziel der Kunst
ist nicht Nachahmung oder Sinnestäuschung, sondern Verkündi-
gung der Wahrheit. Aber soll die Kunst alle Wahrheiten aus-
drücken, soll sie eine buchstäbliche Umschreibung aller indivi-
duellen Phänomene der äußeren Welt geben? Nein. Solcher
Realismus ist nicht Kunst. Im Gegenteil, Sache der Kunst ist
die Wiedergabe von Idealen. Die Natur ist die Dienerin dieses
Idealismus, indem sie Ideen von Wahrheit und Schönheit liefert."
George Eliot ist sich ihrer künstlerischen Absicht immer
klar bewußt »Ich glaube, es ist kaum ein Satz, ein Ereignis,
eine Anspielung darin, die ihren Wert für mich nicht von ihrer
vorausgesetzten Dienlichkeit für meinen künstlerischen Hauptzweck
erhielt," schreibt sie an Hutton. Der Kundige wird weniger ihre
Gelehrsamkeit bewundem als die weise Enthaltsamkeit im Zur-
■schautragen ihrer Kenntnisse, den bescheidenen Takt in der Aus-
wahl und die Kraft der Meisterhand im Zusammenfassen des
kolossalen Materials.
Ruskin, Rossetti, Pre-Raphaelitism, Papers, 1854-1868, arranged
and edited by W. M. Rossetti, 1899.
9*
— 132 —
Die historisGheti Vorgänge bilden in Romola genau ge-
nommen nur den Hintergrund für eine frei erfundene Erzählung^
wie ihn die öffentlichen Zustände im modernen Roman bilden.
Die Er2Ahlung ist nur insofern historisch, als sie durchaus im
Oeist und Charakter der Epoche gehalten ist, in der sie spielt
Diese historische Echtheit macht George Eliot zur Reprä-
sentantin einer wissenschaftlich geschulten Kunst auf dem Gebiete
des historischen Romans. Bei Scott herrscht die Romantik. Er
bleibt auch im historischen Roman der liebenswürdige Fabulist,
dem fröhlich und überzeugend von den Lippen fließt, was ihm
ein Gott auf die Zunge legt. Gelingt ihm ein Bild in historischer
Tteuei so dankt er es mehr einer glücklichen Intuition als seinen
vorbereitenden Studien. Historisches Kolorit erzielt er durch
die lebensvolle Schilderung äußerer Geschehnisse, durch die
farbenprächtige Beschreibung von Örtlichkeiten. Psychologische
Probleme legt er sich nicht vor. Für das äußere Bild seiner
Handlung ist ihm kein Detail zu ausführlich, für die Charakteristik
des Innefn seiner Helden begnügt er sich gewöhnlich mit großen,
allgemeinen Umrissen.
Bei Bulwer tritt die Romantik hinter die Geschichte zurück.
Er vertieft sich in die Historie. Die schöne Absichtslosigkeit,
die bei Scott entzückt, ist bei ihm dahin. An die Stelle der
künstierischeri Naivität, der die Erzählung Selbstzweck ist, tritt
ein Hang zum Reflektieren und Moralisieren. Statt der urwüchsi-
gen Sprache längst entschwundener Generationen ertönt in seinen
historischen Romanen das sentimentale Pathos der ersten Hälfte
des 1 9. Jahrhunderts. Bulwer legt auf die Gemütsvorgänge das-
selbe Gewicht wie auf die äußeren Erlebnisse, aber er findet
für jene nicht den überzeugenden Ausdruck wie für diese. Sie
werden uns geschildert, aber wir erleben sie nicht mit. Wir
schauen die Tat, aber nicht, wie sie im Innern seiner Helden reift;
wir sehen seine Gestalten nicht durch ihr Schicksal wachsen,
sich entfalten oder zugrunde gehen. Sie haben keine Entwick-
lung. Sie treten fertig vor uns hin und sind innerlich unge-
brochen, wenn der Vorhang fällt.
Bei George Eliot herrscht die Geschichte. Sie kennt nur
das eine Streben: ihrem Stoffe keine Gewalt anzutuh. Und den-
— 133 —
noch tritt Andererseits da$ Stoffliche, und w^re eß die Welt-
geschiebtei bei ihr in den Hintergrund gegen den Chandder*
Sie legt ihm die Hand ans Herz, sie hält ihm die fiu^kel ins
Gesicht und leuchtet ihm ins Innerste. Der Charakter ist ihr
alles. In der Meisterschaft, mit der sie ihn erschließt und klar-
legt, liegt recht eigentlich ihre Eigenart und ihre Größe.
Wollte man Scott, Bulwer und George Eliot in dreien Ihrer
Meisterwerke nebeneinanderstellen, so könnte man Quentt» Dur-
ward (oder Ivanhoe oder Kenllworth) einem Maskenzuge voll
Lebensfri§phe, vpU hinreißender Ungezwungenheit der Bewegung
vergleichen; Rienzi einem Bühnenhelden in schön gefalteter Ge-
wandung mit großer Pose und schwungvollem Psitbos; Rpmolß
einer jener Porträtstudien des Lorenzo Lotto oder Giorgione, die
uns auf einer Tafel mehrere Köpfe oder auch einen und den-
selben in verschiedener Stellung zeigen; das Kolorit schon ein
wenig gedämpft durch die Jahre, aber von einer Lebenswahrheit
und Schärfe der Charakteristik, daß uns die Dargestellten wie in
Fleisch und Blut entgegentreten.
II.
Das Bewußtsein, daß ihr eigenartigstes Können auf dem
Gebiete der Charakterzeichnung liege, hat George Eliote Art der
Geschichtsbehandlung offenbar beeinflußt Eine historische Per-
sönlichkeit, wenn auch noch so sicher und porträtähnlich, nach-
zuzeichnen, konnte für sie nicht den Reiz und den Wert einer
selbständigen Schöpfung haben. Darum wurde Savönarola nur
insofern der Träger der Handlung, als seine überragende Persön-
lichkeit die Zeit beherrscht, in der Romola spielt und sieh vor
allem im Denken und Fühlen der Heldin spiegelt In kunstvoll
perspektivischer Anordnung rückt die Dichterin den gewaltigen
Mönch so weit in den Hinlergrund, daß seine Riesengestalt die
beiden Hauptträger der Handlung, Tito und Romola, nicht erdrückt
Keinem von George Eliots Vorgängern ist es geglückt, die erfundenen
Partien des Romanes so innig mit den historischen Tatsachen zu
verweben. Hauptmomente im Leben der florentinischen Republik
werden uns vorgeführt: der Einzug Karts Vlll. (1494), Piero de
Medicis mißglückter Versuch, sich der Herrschaft wieder %\x be-
— 134 —
mächtigen (1497), und die Hinrichtung der des Verrates beschul-
digten Häupter der Regierung, Savonarolas Feuerprobe und sein
Tod (1498). Aber alles das wird gewissermaßen nur gestreift,
insofern es den Lebensgang der beiden Helden berührt, der, wie
meistens bei George Eliot, ein ganz einfacher ist: Der schöne,
begabte Oriechenjüngling Tito kommt völlig mittellos nach Florenz,
gewinnt die Hand der vornehmen Romola und steigt zu 'Ämtern
und Würden auf. Aber eine Falschheit, die er, mehr seinem
egoistischen Hange zum Wohlleben als einer bösen Absicht
folgend, begeht, verstrickt ihn in ein Netz von Lügen und macht
ihn schließlich zum Verräter an seinem Wohltäter, seiner Gattin,
seinem Staate, bis ihn die Nemesis ereilt, während die stolze
Romola durch Savonarola Demut und Entsagung lernt und in
selbstloser Hingabe für die Armen und Ärmsten ihrem verödeten
Leben einen Inhalt schafft.
Tito und Romola sind wie fast alle Gestalten der Eliot
Durchschnittsmenschen; aber sie sind die typischen Durchschnitts-
menschen der Renaissance. Sie verkörpern die beiden Strömungen,
deren Ineinanderfließen die große Wiedergeburt hervorbrachte:
das heidnische und das christliche Element. Die Wiedererwecker
der Antike und die religiösen Reformatoren haben in Italien die
neue Zeit heraufgeführt; die Begeisterung für heidnische Lebens-
weisheit und die christliche Extase haben ihr das Gepräge gegeben.
Titos griechische Abkunft ist bedeutungs- und absichtsvoll.
Seit Emanuel Chrysoloras zu Anfang des 15. Jahrhunderts in
Florenz Griechisch gelehrt hatte, waren seine Landsleute dort zu
Ansehen und Einfluß gelangt. Je mehr Cosimo und Lorenzo
das neu erwachte Streben förderten, in den Geist der Antike
einzudringen, desto mehr wuchs die Zahl griechischer Einwanderer,
denen in Florenz eine sichere und ehrenvolle Laufbahn winkte.
Aber nicht jeder, der in die Amostadt gepilgert kam, war ein
Chalcondylas, ein Argyropulos; gar viele trieb weniger die Mission
des Lehrers als die Abenteurerlust, als die Aussicht, sein Glück
zu machen. Einer von diesen ist Tito. Er weiß, daß »für eine
Ware wie er der beste Markt Florenz ist«, wo die klassische
Bildung Mode geworden, die Gelehrsamkeit zum guten Ton ge-
hört und das Mäcenatentum erst den Adel macht.
— 135 —
Titos Gemüt ist zur Zeit seiner Ankunft noch eine glatte
Fläche, auf der keine Eigenschaft hervorragt, weder eine gute
noch eine schlechte. Er ist nichts weniger als von vornherein
ein ausgemachter Bösewicht. Im Gegenteil. Zu anderer Zeit,
in anderer Umgebung würde der schöne, begabte, schmiegsame
Jüngling vielleicht die Freude und das Glück seiner Umgebung.
Aber dem Konflikt, in den ihn das Schicksal bringt, ist er nicht
gewachsen. Er soll dem leichten Erfolge, der ihm in Florenz
gewiß ist, entsagen und sich auf eine gefahrvolle Irrfahrt begeben,
um seinem gefangenen Pflegevater, Baldassare Calvo, Lösegeld
zu bringen. Er soll sein eigenes sicheres Glück für das sehr
problematische eines anderen in die Schanze schlagen. Wie
möglich, wie wahrscheinlich, daß er Baldassare nicht findet, daß
Baldassare längst in der Gefangenschaft gestorben ist! Über ein
Pflichtgefühl, das zu solchen Taten befähigt, verfügt Tito nicht.
Er ist keine Kampfnatur. Er ist ein Egoist Sein Gemüt ist
weich und wohlwollend; er^önnt allen das Beste, vorausgesetzt,
daß ihm selbst kein Abbruch dadurch geschieht Er ist auch
durchaus nicht gewissenlos von vornherein. Anfangs muß er
seine selbstsüchtige Handlungsweise noch durch allerlei Sophismen
vor sich selbst entschuldigen. Sein Studium des Epikur kommt
ihm dabei zustatten. Die Renaissance war nicht die Zeit rigo-
roser Sittenstrenge.
Ganz allmählich geht er dann von der Unterlassungssünde
zum positiven Verbrechen über, von der passiven zur aktiven
Schuld. Tito verleugnet aus Hochmut seinen Wohltäter, der als
Gefangener nach Florenz gekommen ist, und brandmarkt ihn als
einen Wahnsinnigen. Sein Talent zur Verschwiegenheit, zur Vor-
bedachtsamkeit hat ihm im entscheidenden Augenblick, als die
Enthüllung seiner niedrigen Herkunft auf dem Spiele stand, die
Lüge eingegeben, und nun muß er auf der einmal betretenen
Bahn fortschreiten. Er muß sich vor der Rachsucht Baldassare
Calvos schützen. Aber er beschränkt sich gleichsam auf die
Defensive. Er will niemandem schaden, solange seine Sicherheit
es nicht unbedingt fordert. Er zöge bei weitem vor, seinen
Pflegevater glücklich zu machen; aber da das Schicksal es leider
gefügt hat, daß Baldassare seinem Wohlbehagen im Wege ist.
— 136 —
$0 besteht für Tito kein Zweifel, daß er ihn eben aus dem
Wege schaffen müsse. Sein Wohlbehagen ist ihm unbedingt und
selbstverständlich das Höchste.
Ja, der Wunsch, »seine Welt durchweg mit Wohlwollen
ausgepolstert«" zu sehen und alles behaglich und angenehm zu
gestalten, trägt selbst über seine Klugheit den Sieg davon. Er kennt
Baldassare als den Mann, der so wenig von seiner Rache laßt
wie die Schlange von ihrer Beute; dennoch macht er einen An-
näherungsversuch, und trotzdem Baldassare diesen mit einem fehl-
gehenden Dolchstoß erwidert, bittet er den ohnmächtigen Alten
um Vergebung - nicht aus einer großen Sehnsucht des Herzens
nach Versöhnung, sondern weil seinem Geiste ein weiches Ruhe-
kissen der sorglosen Heiterkeit, des Nichtgehaßtwerdens Be-
dürfnis ist.
Grausam und übelwollend wird Tito erst, als ihm kein anderer
Ausweg bleibt, und selbst dann ist er noch nicht der hartgesottene
Bösewicht, der seine Missetat mit ungeteiltem Herzen verübt.
Während er äußerlich triumphiert, wünscht er, daß alles anders
gekommen wäre. »Er hatte bei dem großen Wucherer Falschheit
geborgt, und die Anleihe war mit den Jahren gewachsen und
gewachsen, bis er dem Wucherer schließlich mit Leib und Seele
verfallen war.« In diesen Worten gibt George Eliot den Schlüssel
zu Titos Charakter an die Hand.
Sie erschließen auch sein Verhalten gegen Romola. Sie ist
seine erste Liebe, und wenn auch ihre Neigung für ihn zugleich
die Erfüllung aller weltlichen Hoffnungen bedeutet, ist sie ihm doch
keineswegs nur die Leiter, auf der er zu Rang und Ansehen
emporklimmt. Er ist ihr so aufrichtig und hingebungsvoll zu-
getan, als es seiner Natur möglich ist. Ihre Überlegenheit ist
ein Sporn für seinen Ehrgeiz und schmeichelt ihm zugleich.
Nun fügt es aber der Zufall, daß er Tessa wieder trifft, ein
hübsches, einfältiges Landmädchen, das ihm, dem Fremden, aller
Mittel Entblößten, am ersten Morgen nach seiner Ankunft in
Florenz um seiner schönen Augen willen einen Frühtrunk gereicht
hat. Das arme Ding wird im Volksgewuhl von einem Posswi-
reißer geängstigt. Tito springt ihr bei. Es ist Pflicht der Dank-
barkeit - nichts weiter. Er tändelt mit ihr in harmloser Unbe-
— 137 —
fangenheit. Er küßt sie, wie man eben ein schönes, weinendes
Mädchen tröstet, und fragt sich bei ihrem herzhaften Gegenkusse:
Wann wird Romola mich so küssen? Tessa besitzt allen Zauber
des Kindes: die Schutzbedürftigkeit, das unbedingte Vertrauen,
das kurzsichtige Denken, ihre Schmiegsamkeit, ihre selige Sicher-
heit in seiner Nähe tun ihm unbewußt wohl.
Als er sie das nächste Mal wieder trifft, nähert er sich ihr
bereits freiwillig. Er fürchtet, Romola hätte erfahren, daß er
gegen seinen Pflegevater undankbar gehandelt, und scheut ihr
strenges sittliches Urteil. Da ist die kleine Tessa, die in ihm
eine Lichtgestalt des Paradieses erblickt und täglich eine Anzahl^
Ave für sein Kommen betet, keine unerwünschte Ablenkung für
quälende Gedanken. Er mengt sich mit ihr unter das Volk.
Der Possenreißer traut heut, als Priester verkleidet, Liebespaare.
Es ist ein Scherz. Aber die törichte Tessa nimmt ihn für Ernst, und
Tito läßt sie in ihrem Glauben, der sie lieblich kleidet. Er
verdürbe ihre Anmut, wenn er sie klüger machte. Er prägt ihr
nur ein, über alles zu schweigen.^) Für ihn selbst bedeutet der
Vorfall nichts; Tessa ist ihm, kaum aus den Augen, aus dem Sinne.
Aber die Lüge wird auch hier verhängnisvoll. Als er sie,
just am Tage seiner Verlobung mit Romola, nach einem halben
Jahre wieder trifft, nach einem halben Jahre, das sie in dem Wahne
verlebt hat, seine Frau zu sein, hat er, so ungelegen sie ihm
auch kommt, nicht das Herz, sie barsch abzuweisen. Roheit ist
ihm gegen die Natur; er kann nicht weinen sehen, und er muß
Tessa so rasch wie möglich wieder loswerden. Er verschiebt
die Aufklärung bis nach seiner Hochzeit. Dann wird er
zu ihr gehen. Und er tut es wirklich; er geht, um Abschied
zu nehmen - und mietet ihr ein Häuschen vor der Stadt. Nun
dauert es nicht lange, und das Häuschen ruft in seinen Ge-
danken keinen Vorwurf mehr hervor, sondern wird mit seiner
stets zufriedenen, stets gläubigen und liebevollen Bewohnerin eine
willkommene Zuflucht vor dem strengen Prüferblick der über-
legenen Gattin. Romolas Liebe ist anstrengend. Tito muß vor
*) Vgl. die Scheintrauung in Massimo d'Azeglios Niccold De'Lapi,
Kap. VI (1841).
— 138 —
ihr unausgesetzt auf der Hut sein, nicht durchschaut zu werden.
Vor Tessa kann er sich gehen lassen. Bei ihr ruht er aus. Sie
besitzt den weiblichen Instinkt, dem Manne wohlzutun. »Sie
konnte nichts anderes lesen, aber sie hatte gelernt, in dem Antlitz
ihres Gatten zu lesen.« Dieses Wissen hat sie vor der gelehrten
Romola voraus. Je mehr im Laufe der Jahre die Verschieden-
heit der Charaktere Romolas und Titos hervortritt, je mehr sie
sich einander entfremden, desto ausschließlicher findet er in
seiner gesetzwidrigen Ehe, was ihm die rechtmäßige schuldig
blieb: ein Heim. Während er sich der kinderlosen Romola
gegenüber in kaltem Egoismus verhärtet, kehrt ihm bei Tessa
und den Kindern, die sie ihm geschenkt, die heitere Liebens-
würdigkeit seiner Jugend wieder, und ihnen hält er Treue. Als
sein Stern in Florenz sinkt und er Vorkehrungen zur Flucht
trifft, will er sie mitnehmen — Romola hat längst aufgehört,
unter die wünschenswerten Dinge zu zählen, die zur Verschöne^
rung seines Lebens beitragen können.
Tito erscheint mit jener stärkeren Sinnlichkeit ausgestattet,
die sich im rücksichtslosen Verfolgen natürlicher Instinkte äußert
und sowohl seiner Raubtierschönheit wie seiner Zeit entspricht
- einer Zeit, in der die sozialen und sittlichen Bande die denk-
bar lockersten waren. George Eliot selbst legt wiederholt den
Maßstab modemer Moral an ihn, der für den Sohn der Renais-
sance nicht gelten kann — ihr Genius hat intuitiv, ohne, ja viel-
leicht gegen ihre Überlegung, bei seiner Zeichnung das Richtige
getroffen.
Wie Titos Doppelehe, so wird auch sein dritter Betrug
nur im Hinblick auf seine Zeit verständlich«: sein Verrat am Staate.
Tito, kein geborener Florentiner und im Staatsdienste nicht von
dem Interesse des einheimischen Bürgers beseelt, ist Medicäer,
weniger aus politischer Überzeugung, als weil ihn der Zufall
unter diese Partei gestellt hat. Er ist eines ihrer verwendbarsten
Mitglieder, gehört ihr aber, genau genommen, nicht mehr mit
dem Herzen an als irgend einer anderen. Sein Hauptaugenmerk
ist auf den persönlichen Vorteil gerichtet Er selbst weiß auch
dieser Laxheit einen wohlklingenden Namen zu geben, indem er
sagt, er hätte die innere Hohlheit und Falschheit aller Parteien
— 139 —
durchschaut und den einzig vernünftigen Ausweg ergriffen: den,
sich alle dienstbar zu machen.
Nach Piero de Medicis mißglücktem Versuch, sich der Herr-
schaft wieder zu bemächtigen, verrät Tito die Medicäer an die Gegen-
partei, die Piagnioni, während jene glauben, er arbeite unter der
Maske der Verstellung in ihrem Interesse. Eine Doppelrolle
spielen hieß ja erst den Beweis ausgereifter diplomatischer Kunst
erbringen.
Mit großem Scharfsinn legt George Eliot hier den Finger
darauf, wie das eigene Gebaren der Medicäer Titos falsches Spiel
erst ermöglicht. Das Prinzip der Zweizüngigkeit, das sie zu
ihren Zwecken einreißen ließen, raubt ihnen den Maßstab für
die Verläßlichkeit eines Genossen, dessen Interessen nicht unbe-
dingt mit den ihren zusammenfallen. Den Gegner hintergehen,
gilt ihnen als geschickter Kunstgriff; die eigene Partei hintergehen,
ist gemein. Sie übersehen, daß Tito, dem Mietlinge, die eigene
Partei nicht näher steht als die anderen. Die Gewissenhaftigkeit
einmal aus dem Spiele gelassen, fehlt bei ihm mit den ererbten
Traditionen auch die Hauptgewähr ihrer Redlichkeit gegen ein-
ander. Tito ist ein Sohn des Zeitalters Machiavells, das, wie
die meisten Epochen großer Übergänge, ein demoralisiertes war.
Die Einfügung seiner politischen Laufbahn in die Geschichte
der Republik Florenz ist ein Meisterwert, kunstvollste Berechnung
bei Wahrung des Scheines völliger Ungezwungenheit Man be-
achte z. B. folgendes* Beispiel: Karl VIII. hält seinen Einzug in
Florenz (17. November 1494), dessen Schilderung George Eliot,
nebenbei gesagt, übergeht - wie hätte Scott in ihr geschwelgt!
Tito nimmt hinter der Signoria seinen Platz unter den Sekre-
tären der Republik ein. Luca Corsini soll eine Ansprache an
den König halten, aber ein plötzlicher Regen bringt allgemeine
Verwirrung hervor und droht die ganze sorgfältig vorbereitete
Huldigung zuschanden zu machen.
»Jemand trete vor und spreche ein paar Worte auf Fran-
zösisch,« sagte Soderini. Aber niemand von hohem Einfluß
wollte ein zweites Fiasko wagen. - »Ihr, Francesco Gaddi, ihr
könnt sprechen.« - Aber Gaddi mißtraute seiner eigenen Schlag-.
— 140 —
fertigkeit und wollte nicht heran. Tito anstoßend, sagte er:
»Ihr, Melema«, Tito trat sogleich vor und sprach mit der Ge-
bärde tiefer Ehrerbietung, die ihm so natürlich war wie das Gehen,
die erforderlichen wenigen Worte im Namen der Signoria; trat
dann voll Anstand beiseite und ließ den König vorübergehen. Die
Geistesgegenwart, die ihm in der furchtbaren Krise am Morgen
Versagt hatt?, war diesmal als Werkzeug bereit gewesen. Sie war
ein vorzüglicher Livreebedienter, der ihn nie im Stiche ließ,
wenn die Gefahr nicht sichtbar war. Doch als man ihn zu seiner
rechtzeitigen Dienstleistung beglückwünschte, ging er lachend
darüber hinweg als über etwas ganz Belangloses, und denen
gegenüber, die nicht Zeugen gewesen waren, ließ er Gaddi
die Ehre des improvisierten Willkomms. Kein Wunder, daß Tito
populär war: Der Prüfstein, mit dem uns die Menschen ver-
suchen, ist gar häufig ihre eigene Eitelkeit (S. 206).
Hiermit vergleiche man den nach Gaddi ^) wiedergegebenen
Vorgang bei Villari:*) »Luca Corsini, der den Auftrag erhalten
hatte, erschien, um die vorbereitete Rede zu lesen. Doch in
diesem Augenblicke begann es zu regnen, die Pferde drängten
mit Ungestüm gegeneinander, und die ganze Zeremonie ging in die
Brüche. Nur Messer Francesco Gaddi, einer der Palastbeamten,
trat, behender an Zunge und Geist, inmitten der Verwirrung vor
und sprach auf Französisch einige der Gelegenheit angepaßte
Worte, worauf der König unter einem reichen Baldachin seinen
Weg fortsetzte.«
Dieses charakteristische Beispiel zeigt, wie George Eliot, ohne
im geringsten gegen die historische Wahrheit zu verstoßen, sie
durch einen geschickten Kunstgriff ihrer Komposition dienstbar
zu machen sucht Indem Tito Gaddi als den Helden des Tages
gelten läßt, bleibt die Tradition in Ehren, während sein eigener
Charakter durch die liebenswürdige und zugleich so schlau be-
rechnete Bescheidenheit um einen feinen Zug bereichert wird.
Und dieses Beispiel ist nicht vereinzelt. Man setze neben
Titos Bericht über die berühmte Szene im Lager Karls VIII.
1) Priorista, Arch, Stör, Ital, voL IV, par. 2, p. 42.
>) Sioria di Qirolamo Savoaarüla e d^ suoi Tempil I, 244.
— 141 —
die Erzählung des Vorganges bei Quicciardini^) und Nardl.*)
George Eliot sichert auch hier ihrem Romane einen volkstümlichen,
dem florentinischen Nationalstolze schmeichelnden Vorgänge indem
sie ihn von Tito erzählen läßt, der durch den billigen Triumph^
den er sich mit der frohen Botschaft beim Volke erkauft, seine
Geschicklichkeit im Ausnutzen jeder Situation zeigt. Oder mart
nehme Titos Bötschaft von der Ankunft der Schiffe vor der vott
Feinden umgebenen, von Hungersnot bedrängten Stadt Daä
Volk ist zur großen Prozession eines Mädonnenbildes ver-^
sammelt, Tito sprengt über den Ponte Vecchio mit einem Öl-
zweige in der Hand. Die Szene wird ebenso und mit demselben
Datum von Nardi') erzählt, nur der Bote ist dort ungenannt
George Eliot hatte also freie Hand, ihren Helden für ihn ein-^
springen zu lassen. Doch schützt sie sich tioCh ausdrücklich gegen
den Vorwurf einer Geschichtsverdrehung, indem sie Tito erklären
läßt, Meo di Sasso wäre der eigentliche Überbringer der Nachricht,
und nur ein Unfall seines Pferdes habe es gefügt, daß er, Tito^
Storia tTItalia, I, 186.
^ Le Historie della Cittä di Fiörenta di M, Jacopo Nardi, Ciäa-
ditw Fiöttntinö, 1582, FöL 15: „E tidflt cht dlspuiAfUidsi im le pafti deUa
qaaniitä ddla pecunia che si domandara, pürmd0 alRechela eUtä non sodia^
facesse a quello che a luipareva si convenisse^ sdegnato e venuto in Collera
Minäcdandö dissä, io fafö dare netle ttomdd, alle quaU parole Pierö dt
Qinö Capponi^ üno d^ Sindachi, can tä medeslMd aädada i cofistaniiä
d^animo atmcdahdo la copia de' capitoli die tene^a In matto, riBpostf
e noifaremo dare neue Campane/*
") Fol. 52: „E cosl ritomato il frate a prediödre, fii recato in Fio-
nmä la detta fig&rA di noitra donna a di XXX d^OHobn^ accompagnata
con unu solenne e divota processione coUe soUte eerimonie neUa quaie
fii fatta una grandissima coUetta di limosine per soccorrere aUa moUitu-
dine gründe O^ poveri mendimnti, i qaali per la gran earestid essetuh
seaeüüH dalle dttä fiäne da (^ parte eonemrtpano a FiörenMd ....
// eorriere che portb la prima novella venendo dalla porta Satifrkuta
passb PAmo al ponte aüa Carraia o vero al ponte ä Santa Trinit± e
venendo tango Arno al(a volta det Ponte Vecehio cön uno rafnicdto d'ulivo
in mano in segno della fdiee napeiia, issenda giä il tabemäcolo della
Madonna propinquo alP entrare in porta Santa Mana, per la fiequentia
e calca grande ddla processione, e del dero, e deUe fratemitä, non fö
pvssibile, che ei si conducessi in piazza per la dritta strada, essendogU
ritenuto äiando la cavaUa per la briglia da fa^ ehe per la euriositä
volevanö intenäere piä particolarmente il segaiia deüa casa, önde fit
necessario per altm via condaca^ aüa piatta*' ete.
— 142 —
ihn überholte. Es bleibe also unentschieden, wem in Wahrheit
der Ruhm gebühre.
Die Intrige, die im Romane Tito gegen die Medicäer spinnt,
ein eindringlicher Hinweis auf die der Republik durch dieses
Geschlecht drohende Gefahr, wird von Villari (11, 52) nach der
Überlieferung des Cerretani und Parenti als das Werk einer ein-
flußreichen Fraktion dargestellt ohne Nennung einzelner Namen.
George Eliot legt das verallgemeinernde «man sagte« ihrem
Helden in den Mund. Er beeinflußt Francesco Valori gegen
Bemardo del Nero, den nach Guicciardini^) hauptsächlich Valoris
Haß aufs Schafott führte. George Eliot betont die Integrität del
Neros noch stärker als die Historiker;*) Tito wird in seiner
Handlungsweise gegen ihn nicht durch ein politisches Prinzip
geleitet; seine persönliche Sicherheit ist der Moloch, dem er auch
diesen Gegner skrupellos opfert.
Doch fühlt Tito, daß seine Rolle in Florenz ausgespielt und
es an der Zeit sei, die Stadt zu verlassen. Vorher will er sich
in Mailand eine Machtstellung sichern, und der Meisterstreich,
der ihm zu ihr verhelfen soll, ist nichts Geringeres als die Aus-
lieferung Savonarolas. Der Mönch geht in die Falle. Er über-
gibt dem Verräter einen Brief an den König von Frankreich, in
dem er seine Hilfe zur Einberufung eines Konzils anruft, das allen
Mißbräuchen der Kirche abhelfe. Das Schreiben wird dem
Kurier pünktlich übergeben, aber durch Titos Vermittlung von
Lodovico Moro abgefangen.
So verknüpft George Eliot den Schlußakt in der Laufbahn
ihres Helden mit dem Lebensende des Mannes, in dessen Zeichen
der Roman steht In Wirklichkeit schrieb Savonarola fünf Briefe,
die berühmten Lettere ai Principi, an die Könige von Spanien,
Frankreich, England, Ungarn und den deutschen Kaiser. Vor
ihrer Absendung aber sollten Briefe verläßlicher Anhänger an
ihre Freunde im Auslande Stimmung machen. Einer von diesen,
der nach Frankreich bestimmt war, wurde von den Schergen
*) Storia Fiorentina, 1859; S. 163.
^) Nach Ouicciardini hat Bemardo von dem Anschlage gewußt, „ma
non aveva gia scritto, ni consigliato, nh parlato, ni operato nuäa/* .
— 143 —
Lodovico Moros aufgefangen.^) Der Verfasser der Vita latina und
Burlamacchi, die beiden ältesten Biographen Savonarolas, aber
erzählen, ein Brief von seiner eigenen Hand sei in die Gewalt
des Moro gefallen, so daß George Eliot auch hier nichts erfunden,
sondern nur ihren Helden zu einem der vielen ungenannten
Hebel gemacht hat, die bei dem Zustandekommen einer histo-
rischen Tatsache in Bewegung sind.
Tito scheint sein Spiel gewonnen zu haben. Nur noch ein
Tag trennt ihn von der Abreise von Florenz. Da ereilt ihn das
Schicksal in der Gestalt jenes Ceccone de Ser Barone, den die
Geschichte als den Anfertiger der gefälschten Akten in Savona-
rolas Prozeß gebrandmarkt hat. Er war bis zur Vertreibung der
Medici in der Cancelleria degli Otto di Pratka, und da er sich
der Fälschung von Savonarolas Antworten für 400 Dukaten unter-
zog (von denen er jedoch später nur 30 erhielt), so darf man
annehmen, daß er nicht eben in günstigen Verhältnissen war.
George Eliot macht ihn zu Titos benachteiligtem Rivalen in der
politischen Laufbahn. Tito hält Ceccones Haß für «die üble
Laune eines hungrigen Hundes«. Er glaubt sie beseitigt zu
haben, nachdem er ihm den guten Bissen einer Sekretärstelle hin-
geworfen. Aber er täuscht sich darin. In Jena* Nacht, als der
Pöbel, über das Unterbleiben von Savonarolas Feuerprobe auf-
gebracht, die Stadt durchtobt, wendet Ser Ceccone die Wut des
trunkenen Arrabiatenführers Dolfo Spino gegen Tito, und sein
Haus wird eingeäschert
Ihn selbst aber spart die Dichterin einer gerechteren Nemesis
auf. Er soll durch die Hand desjenigen sterben, gegen den er sich
am meisten vergangen hat Unter dem dreifachen Verrat, dessen
er sich schuldig gemacht, wiegt in George Eliots Augen der des
väterlichen Wohltäters schwerer als der der Parteigenossen und
der Gattin. Darum fällt Tito, der sich durch einen Sprung in
den Arno seinen Verfolgern entzogen hat, als er sich, ans Ufer
*) Vgl. Villari (II, 135): f,Con grandissima ansietä egü aspetava le
risposte alle teuere inviate da^ suoi amici, massime quella che doveva
venire di Franda, quando ecco giangere invece la nuova che il corriere
spedito colä era stato svaligiato dai sicarii delMoro, nette cui mani era sfor-
tunatamente venuta la tettera det Mazzinghi alP ambasäatore in Francia,^^
— 144 —
treibend^ gerettet glaubt, Baldassare in die Arme, der nun seinen
zur Monomanie gewordenen Rachedurst an ihm stillt
Romola zieht die Summe von Titos Qiarakter und Leben
in folgenden an seinen Sohn gerichteten Worten: »Ich glaube,
als ich ihn kennen lernte, dachte er an nichts Grausames oder
Niedriges. Aber weil er allem Unangenehmen stets zu ent-
schlüpfen suchte, und weil ihm an nichts so viel lag als an seiner
eigenen Sicherheit, kam er zuletzt dazu, die niedrigsten Taten zu
begehen - solche, die den Menschen ehrlos machen."
HI.
Tito ist mit Recht eine Verkörperung des Egoismus und
seiner weitestgehenden Konsequenzen genannt worden.^) . In
Romolä dfirfen wir mit gleichem Rechte eine Verkörperung des
Altruismus erblicken. Beide aber sind keine Qedankengerippe
oder Begfiffsschemen, sondern Gestalten von kompliziertester,
lebensvollster Menschlichkeit Wie in seinem dunkeln Bilde die
Lichtseiten nicht fehlen, so in ihrem hellen nicht die Schatten.
Die Unparteilichkeit, die George Eliot ihren Helden gegenüber
erreicht, wird nur dadurch möglich, daß sie sie uns nicht fertig
vorffihrt, sondern sie vor uns wachsen und sich entfalten läßt
Wir $ind 2eugen ihres Kampfes ums Dasein; wir sehen, was
das Leben ihnen schuldig bleibt, was sie dem Leben. Wir
können über sie aüs eigener Anschauung urteilen, ohne etwas
auf Treu und Glauben hinnehmen zu müssen.
So reift auch Romolas Charakter allmählich vor uns. Schon
ihre Abstammung ist mit demselben Vorbedacht gewählt, wie die
Titos. Die Conti Bardi,*) eines der ältesten Patriziergeschlechter
von Florenz, hatten in den Bürgerkriegen des 14. Jahrhunderts
ihren großen Reichtum eingebüßt Doch taten manche Mitglieder
der Familie sich späterhin als Gelehrte und Künstler hervor.
Giovanni Bardi (1508) war ein bedeutender Mathematiker und
Accademico della Crusca; Giovanni Comte Vermio, aus demselben
1) so trod wmit Moittigttt^ EaiPüins fiManH ä» PAngläem, isi5*
^ V^. Sommäria itortto däk fsmigfU eMH Töicam eömpUaio
du DimsÜM TinbmirQüätäfO, H¥. dA L. PMSeHHi, 1855.
— 145 —
Zweige der Bardi, dem auch Romola angehört, glänzte im
16. Jahrhundert als Dichter und Musiker. Die gelehrten und
schöngeistigen Neigungen, die George Eliot Bardo de' Bardi,
Romolas Vater, verleiht, waren also tatsächlich in der Familie,
und auch der Name ist historisch. Ein Bardo, Messer Alessandro
de' Bardi, wurde infolge von Bürgerzwistigkeiten verbannt und
1534 eingekerkert Er war der Vater jener durch Schönheit und
hohe Qeistesgaben ausgezeichneten Alessandra Bardi negli Strozzi,^)
die das Vorbild der Romola sein dürfte, wenn auch die äußeren
Lebensschicksale von George Eliots Heldin mit denen der un-
glücklichen tugendhaften Alessandra nicht übereinstimmen. Die
Dichterin verfährt bei ihrer Schöpfung so selbständig wie bd
der Titos.
*) Vgl. Archivio Storico lialiano, T, IV, 1843, Notizie di alcune
illustri Donne dd Secolo XV. scritte da Vespasiano Bisticd: „Monria
Alessandra d^ Bardi deUa quäle i scriäa la vita sua, fu mirabüe donna
in tutte le specie delle virtH, e fece esperienza della sua virtä cosl netto
stato deW matrimonio come nella santa viduitä, Fu moUo traportata da'
colpi della fortuna, Fu dato per le discordie dvHi Pesiäo al padre; in-
stette a marito anni dua, e di poifu il padre confinato nd tretUaquattro,
e Messer Palla padre del marito; di poi non passb malte tempo, che ä
marito fu confinato, Rimase in Firenze, e fu per le sua viriu esemplo
a tutte le donne di Firenze. Voltossi in tutto a spregiare il mondo e
voUarsi a Dio; e vestissi di panni neri come vedova. Era bdlissima
sopra tutte le donne di Firenze in quella da. Andava in modo coperia
il viso, che diffidlmente si poteva vedere. Fece isperienza delle sua viriä;
in modo che tutta la dttä di Firenze Paveva come uno esemplo innanzi
ag^ occhi. Sendo in lei tante accumulate viriO, restö in Firenze piä anni
dipo* Pesäio del marito; d ogni dl bisognava cKdla andassi a parlare
a qualche dttadino. Era in tanta reverenzia appresso tuttiqueglidPdla
parlava, che non avevano ardimento di guardarla. Voltossi in tutto a
Dio, e ispiccossi dal mondo. Istata piä tempo a Firenze, si parii, d
andb a öobio, dove era il marito; e sempre le avversitä le corsero drieto:
Puna non aspettava P ultra. Fece come Poro al fuoco, che sempre v*affina
drento. Istata alquanto a Gobio in esilio, non bastb questo; chk il
marito uno iscdlerato, per voler lui fare bene, fammazö: e questo fu
P ultimo colpo che ebbe P Alessandra, e quello che le passb infino alcuore.
Trovarsi in esäio fuori della patria, privata di parenti e d^amid, e non
avere persona die fussi per Id! Ed a ogni cosa bisognö dCdia ado-
perassi lo scudo della pcuuenza. Perseverb in fino aUafine deUa vita sua
in grandissima osservanzia d*integritä di vita: e fu di si mirabüe vita,
dCdla fu esemplo non solo alla sua dttä, ma a tutta Italia: ed erano
tante le sua inaudite viriä, che quanto piu se ne iscrivessi, piä resterdfbe
a scrivere. Questo ho fatto per uno brieve ricordo.'^
Wissenschaftl. Frauenarbeiten. IV. V. Richter, Eliot. ^^
— 146 —
In einem düsteren Milieu wächst Romola heran. Auf Bardö
lastet drückend der Niedergang seines Hauses und das für den
Gelehrten doppelt empfindliche Gebrechen der Blindheit So
erscheinen die altvererbten Stammeseigenheiten der Bardi in ihm
ins Krankhafte gesteigert oder verzerrt Der Adelsstolz der Ahnen
lebt in ihm als pedantischer Gelehrtendünkel fort. Neidisch und
engherzig verschließt er sich vor den Zeitgenossen und klagt
über den Undank und die Ungerechtigkeit der Welt, als er sich
überflügelt sieht Er meint das ruhmvolle Fortleben des alten
Namens im Auge zu haben, wenn er als Ziel alles Trachtens
und Wünschens die kleinliche Eitelkeit erstrebt, daß über der
Tür der großen Sammlung, die er zustande gebracht, »Bardi-
Bibliothek« stehe.
Das Vorbild zu einer Sammlung als Lebenswerk sowie
zu dem Schicksale der »Bardi- Bibliothek «^ fand George Eliot in
der Sammlung des Niccolö Niccoli,^) der seine ganze Habe und
Kraft an sie wandte, und dessen letzter Wunsch, sie unzersplittert
dem Publikum zu eröffnen, wie der Bardos, nicht erfüllt wurde.
Was in den Ahnen Kraft und Ausdauer war, das ist in
Bardo Eigensinn geworden. Das Unglück hat ihn reizbar, ver-
bittert, egoistisch gemacht An dem öffentlichen Leben, das ihm
sein alter Freund, Bernardo del Nero, vermittelt, nimmt er keinen
Anteil; selbst für seine Tochter hat er wenig Zärtlichkeit. Und
dennoch widmet Romola dem Vater ausschließlich und rückhaltslos
ihre Kindheit und erste Jugend. Eine gute Schule der Aufopfe-
rung und Entsagung für ihr liebevolles Gemüt! Bardo und
seine Tochter sind aufeinander angewiesen. Romolas Mutter
starb frühzeitig; Dino, ihr einziger Bruder, wurde Mönch und
schied, mit dem Fluche des Vaters beladen, für immer aus dem
Elternhause. Denn Bardo hängt mit dem ganzen unbeugsamen
Starrsinn seiner Natur an der Philosophie der Alten, während
der Sohn sich mit eben derselben alle Kompromisse ausschließenden
Bardischen Leidenschaftlichkeit der christlichen Mystik zugewandt
hat. Auch hier dürfte George Eliot einen Wink der Geschichte
verwertet haben. Im Prozeß des Fra Salvestro, eines treuen
») Vgl. Villari, I, 36, auch Roscoe, The Life of Lorenzo de Mediä, I, 40.
— 147 —
Anhängers und Leidensgefährten Savonarolas, wird ein Frate
Bemardo di Bardo di Firenze genannt.^)
In dem Zwiste zwischen Vater und Sohn steht Romola auf
Seiten des Vaters. Als Kind liebte sie Dino wie Maggie Tulliver
ihren Bruder Tom, wie Mary Ann Evans ihren Bruder Isaak.
Was sie ihm nicht vergeben kann, ist der Schmerz, den er dem
Vater bereitet, nicht der Umschwung seiner Gesinnung, obzwar
auch dieser ihr unfaßlich ist. Denn sie ist durchaus in den
heidnischen Anschauungen Bardos erzogen worden. Er selbst
und der berühmte Chalkondylas waren ihre Lehrer. Sie hat
die zur Renaissancezeit auch für Frauen übliche humanistische
Bildung erhalten und erkennt ihr Vorbild in Cassandra Fedele,
dem Wunderweibe aus Venedig, dem Polizian mit der einzigen
Ausnahme Picos della Mirandola, den höchsten Platz unter beiden
Geschlechtem zuerkannte.
Trotzdem wird Romola keine wirkliche Gelehrte. Das
Studium ist ihr mehr eine Mühe, der sie sich dem Vater zuliebe
willig unterzieht, als Freude und Selbstzweck. Sie leiht Bardo,
dem Blinden, Hilflosen, ihre Augen, wie ihren kräftigen jungen
Arm und schickt sich wie in eine selbstverständliche Pflicht-
erfüllung in seine Launen. Der Alte aber sieht trotz alledem
in ihr nur einen schlechten Ersatz des verlorenen Sohnes, der
ein besserer Gelehrter geworden wäre und seinen Namen fort-
gepflanzt hätte. So ist Romolas stark empfindendes Herz bd
all ihrer Hingebung einsam.
George Eliot verwendet für die junge Romola manchen Zug
der eigenen Kindheit Der frühe Tod der Mutter, die jahrelange
aufopfernde Pflege des Vaters, ihr unbedingter Glaube an ihn
und die über das Grab hinaus währende kindliche Pietät sind
selbsterlebte Momente. An den alten Robert Evans dachte sie,
als sie Romola sagen ließ: nMein Vater besitzt die Größe, die
der Integrität anhaftet.« Autobiographisch ist femer die Gelehr-
samkeit der Bardentochter, wenn auch George Eliot ihr Wissen
nicht, wie Romola, dem Vater verdankte; autobiographisch vor
allem die Vereinsamung der jungen Romola. »Ich bin allein in
») Villari, II, CCXV.
10«
— 148 —
der Welt,'» schrieb auch die 22jährige Mary Ann 1841 an eine
Freundin.
Romola gibt sich freilich nicht, wie sie, darüber Rechen-
schaft Sie kennt noch keinen eigenen Wunsch, kein stärkeres
Oefühl als die Liebe für den Vater und den Vormund, als die
Teilnahme für die Leiden und Freuden des Alters. Sie weiß
selbst nicht, wie farblos ihr Leben ist, bis mit Tito die Sonne
der Jugend und Schönheit an ihrem Horizonte aufgeht. Es ist
George Eliot gelungen, ihre Heldin vor jeder Reflexion und jeder
Sentimentalität zu bewahren. Sie ist frei von aller modernen
Zimperlichkeit, Geschraubtheit und Nervosität, geistig und körper-
lich eine jener Renaissance-Naturen, die uns durch ihre pracht-
volle Gesundheit imponieren.
Durch ihre Kindesliebe steht Romola von vornherein im
Gegensatze zu Tito. Ihre Sünde liegt im anderen Extrem: die
Tochter steht in ihr der Gattin im Wege. Selbst noch im Tode
hat der Vater mehr Gewalt- über sie als der Lebensgefährte.
Auch Romola ist mit einem guten Erbteil Bardischen Starrsinns
bedacht Als der erste Liebestraum verflogen ist, zeigt sie Tito
gegenüber nur in sehr geringem Maße die Absicht geschweige
denn die Fähigkeit, auf seine anders geartete Natur einzugehen.
Sie, die Gefestigtere, Überlegene, die dem Schwankenden eine
rettende Stütze sein könnte, begibt sich von vornherein jedes
Einflusses auf ihn, sie läßt sich von einem unbestimmten Gefühl
seiner Falschheit leiten und strebt nicht nach einem Einblick in
sein Inneres. Sie läßt ihn den Abstand ihrer Naturen fühlen,
sie schüchtert ihn ein und treibt ihn durch das Unbehagen in
ihrer Nähe den Einflüssen entgegen, denen sie ihn entziehen
möchte. Für Titos erstes Vergehen - den Verkauf der Biblio-
thek — findet sie weder Nachsicht noch Vergebung; er ist fortan
ihr Gegner, ein unebenbürtiger Gegner, den sie schließlich
fallen läßt
Es ist von größter Bedeutung, daß Romola, als sie den
Entschluß faßt, Tito zu verlassen, sein Verhältnis zu Tessa nicht
ahnt. George Eliot beabsichtigte nichts weniger als einen Ehe-
bruchsroman. Romola geht von Tito, weil sie sein Unrecht
nicht ertragen kann, das er mehr noch ihrem toten Vater als ihr
— 149 —
selbst. zugefügt hat; weil sie sich innerlich von ihm geschieden
fühlt, weil »ihre Liebe tot ist« - aber ohne ihn in ihrem Herzen
einer wirklichen Missetat zu zeihen. Ihre Flucht ist wohl ein
Nachklang jener dreiwöchentlichen Entfernung der nicht minder
impulsiven und kategorischen Mary Ann von ihrem Vater (1 842),
als sie infolge religiöser Skrupel wegen des Kirchenbesuches mit
ihm in Streit geriet — ein Zwischenfall, der, so kurz er war,
ihr doch zeitlebens als ein Vorwurf im Gedächtnis haftete, daß
sie einmal, wenn auch nur vorübergehend, ihre, nächste und un-
mittelbarste Pflicht verletzt hatte.
Der fliehenden Romola verweist Savonarola ihre Pflicht-
verletzung. Sie sieht ihn nicht zum erstenmal, als er ihr nun
den Weg vertritt Er stand an Dinos Sterbelager. Damals, da
ihr die kalte Hand des Todes schaurig ans Herz griff, war auch
der gewaltige Mönch zugegen, und seine Ehrfurcht gebietende Er-
scheinung hat ihren vorgefaßten, tiefgewurzelten Widerwillen gegen
die Kutte überwunden.
Dieser erste Eindruck Savonarolas auf die ungläubige Ro-
mola ist unter Wahrung des Scheines vollster Natürlichkeit äußerst
kunstvoll berechnet. Lenau fand es nötig, das Antlitz seines
Savonarola zu idealisieren und ihm ein durchgeistigtes Aussehen zu
verleihen, das er in Wirklichkeit nicht besaß. George Eliot läßt
ihm die harten Züge, die Habichtsnase, die volle Unterlippe, die
Fra Bartolomeos Bild in San Marco aufweist Romola aber ver-
nimmt, damit sie nicht von ihnen abgestoßen werde, zuerst die
Stimme des Mönches, die mächtige, zu Herzen gehende, deren
Klang die Gemüter Tausender erbeben machte und ihm zuwandte.
Romölas erster Blick fällt auf seine Hand, »die heilige Hand,
die zu leuchten schien,« wie sein Mitbruder Fra Benedetto in
seinem Gedichte Cednts Libani sagt, das Savonarolas Leben und
Tode gewidmet ist Jetzt erst, da Romola bereits unwillkürlich
das Knie gebeugt hat, fällt die Kapuze, und das Antlitz wird
sichtbar. Sie aber sieht nichts mehr als das gewaltige Auge,
dessen Bann für sie nun unauslöschlich mit dem erschütternden
Eindruck von Dinos Tode verschmilzt.
Auch eine Predigt Savonarolas hat Romola schon gehört.
Als die Frau eines Staatsbeamten hatte sie Interesse an den öffent-
— ISO —
liehen Vorgängen gewonnen und war einmal in den dicht ge-
füllten Dom getreten, und nun erhalten auch wir eine Probe von
seiner Beredsamkeit Ihrem Grundsatz treu, der Geschichte zu
folgen, ohne sie abzuschreiben, unternimmt George Eliot das
Wagnis, eine Predigt nachzudichten, die gleichsam in nuce den
Gesamtinhait jener Kanzelreden enthält, die damals die Herzen
erschütterten und entflammten. Savonarolas drei Hauptthesen
werden verkündet: die Kirche wird gegeißelt, sie wird erneuert
werden, und dies wird bald geschehen. Er erfleht das Märtyrer-
tum für sich, daß ihm gegeben werde, dem Heilande gleich, in
seiner Liebe leiden zu dürfen für sein Volk, daß ihm gegönnt
werde, sein Volk gerettet und sein Werk gekrönt zu sehen. Wir
sehen ihn von Ekstase überwältigt und erleben den erschüttern-
den Eindruck seines Wortes auf die Versammlung. Er, der so
vieles bringt, hat allen etwas gebracht; jeder hat das gehört, was
seiner Seele zunächst lag.
So ist Romolas Gemüt auf Savonarola vorbereitet, als er
ihr nun an einem Wendepunkte ihres Lebens entgegentritt mit
dem Befehle: umzukehren. Sie hat in ihrer Flucht etwas Großes
erblickt, etwas wie ein rührendes freiwilliges Verzichten auf alles
Glück und alle Hoffnungen des Lebens. Er zeigt sie ihr in
einem neuen Lichte: als einen Plan der Selbstsucht Störrisch
entfliehe sie dem ihr gefallenen Lose; feige, wie sich ein Schuldner
seiner Schuld entzieht, weiche sie vor ihrer unerfüllten Frauen-
pflicht zurück. Und Romolas stolze Widersätzlichkeit schmilzt
in nichts vor der überzeugenden Kraft seines Wortes. Sie hat
ein Gefühl, als spräche die Wahrheit selbst zu ihr, als wäre der
Mönch nur ihr Bote. Es war eine Gepflogenheit Savonarolas,
sich für das Werkzeug und Sprachrohr der Gottheit auszugeben
— halb Pose, halb Überzeugung und an seinem tragischen
Ende nicht ohne Mitschuld. Glücklich ist auch dieses Moment
im Roman verwertet
Was Savonarola über das Sakrament der Ehe spricht, quillt
aus George Eliots innerstem Herzen. Sie war, wie Auguste
Comte, von der Heiligkeit der Ehe durchdrungen und glaubte,
wie er, daß die Frau sich dem Manne unterzuordnen habe.
»Und wäre er ein Verbrecher, so wäre dein Platz in der Zelle,
— 151 ~
neben ihm!'» ruft Savonarola der fliehenden Romola zu. Das
Hauptgewicht seiner donnernden Zurechtweisung aber fällt nicht
auf die Verletzung des kirchlichen Gebotes von der Unzertrenn-
lichkeit der Ehe, sondern auf das der Pflichtverletzung.
Der Pflichtbegriff ist für George Eliot das Absolute, an
dem sich nicht rütteln und klügeln läßt Er war es auch für
Savonarola. Man hat eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den
Gesichtszügen des Reformators und der Dichterin gefunden.
Diese äußerliche Ähnlichkeit kann man als den Reflex einer
Seelenverwandtschaft deuten. Beiden war ein hohes moralisches
Pathos gemein, ein unbedingter Glaube, daß das Gedeihen des
Einzelnen wie des kirchlichen oder staatlichen Gemeinwesens von
seiner Sittlichkeit abhänge. Wie Savonarola gegen das Dogma
gleichgültig war, wie seine Angriffe nicht der Kirche, sondern den
Mißbräuchen der Kirche, nicht dem Papsttum, sondern dem ver-
worfenen Papste Alexander Borgia galten, so stand auch George
Eliot, nachdem sie unter die Freidenker getreten war, der Religion
niemals feindselig gegenüber und bewahrte für sie zeitlebens eine
milde Anhänglichkeit wie an die Stätten der Jugend. Dies er-
klärt die Anziehungskraft, die Savonarola auf sie ausübte. Dies
ist auch der Grund, warum sie ihm ohne Gefahr eines Ana-
chronismus ihre eigene Oberzeugung unterschieben konnte.
Savonarola war einer jener Neuerer, die die Reformation
von innen heraus durchführen und mit der Wiedergeburt des
geistigen Menschen beginnen wollen. Selbstentäußerung und
Nächstenliebe sollten die grundlegenden Tugenden für seinen
Bau sein.*) Im Proem zu Romola legt George Eliot den Kern
seiner Tätigkeit in die Lehre: Christenpflicht sei vor allem, nicht
dem eigenen Wohle zu leben und sein Gut nicht äußerem Glanz
zu widmen, wäre es selbst der Glanz der Kirche, solange noch
Mitbürger durch Mangel und Krankheit leiden.
So war auch in George Eliots Augen von Kind auf hilfreiche
') Vgl. Villari, II, 3 : ,Jnyero nd Savonarola la caritä era la legge
universale, e la cosdenza era la normo suprema, Egü non voleva alterare
i domnü, ma neppure credeva che una riforma paramente ecclesiastica potesse
bastare a correggere la corruzione universale dei Christiani: bisognava
ridestare la fede negü animi, bisognava ringiovanire il cuore deW uomo/*
— 152 —
Nächstenliebedie Triebfeder efneswahrhaftmenschlichen Lebens. Ihre
Jugendjahre erfüllte die verzehrende Sehnsucht nach einer gemein-
nützigen Tätigkeit, und als sie sie endlich gefunden hatte, schwebte
ihr als höchster Zweck des Dichterberufes die Steigerung der
Nächstenliebe vor, die Entwicklung eines verständnisinnigen Mit-
gefühles zwischen Mensch und Mensch. Ihre Humanität trägt
den Stempel eines die ganze Menschheit umfassenden Weltbürger-
tums, während es in Savonarola zu jenem Lokalpatriotismus
kondensiert ist, den Ruskin für alle größten Männer in Anspruch
nimmt ^) Er verweist Romola in ihren engen Pflichtkreis inner-
halb der Mauern ihrer Vaterstadt Ein florentinisch Weib habe
die Pflicht, für Florenz zu leben, für die Armen und Ärmsten,
denen sie durch Mitbürgerschaft verschwistert ist Der einzelne
gehe auf im Ganzen, das Individuum im Volke. Selbst der per-
sönlichen Eigenart müsse man gegebenenfalls willig entsagen
können. So eifere in den Schranken schwachen Erdenkönnens
ein jeder jenem höchsten Liebesopfer nach, das ein Gott, sterbend,
der bedrängten Menschheit brachte.
Es sind Worte, die in Savonarolas Munde vollkommen echt
klingen und zugleich George Eliots innerster Überzeugung ent-
sprechen. »Von keinem meiner Bücher fühle ich tiefer, daß ich
von jedem Satze beschwören könnte, er sei, so wie er ist, mit
meinem Herzblute geschrieben und mit dem heißesten Streben
nach Wahrheit, dessen ich fähig bin,« schrieb sie, als sie 1877
ihr Werk wiederlas. Im Proem nennt sie dasjenige Leben das
allezeit höchste, das ein bewußtes, freiwilliges Opfer sei. Die
bis zur Selbstvemichtung gesteigerte Nächstenliebe ist das Ideal,
das George Eliot aus den Werken der Philosophen abstrahierte,
die entscheidenden Einfluß auf sie geübt haben: Bray, Spinoza,
Feuerbach, Comte.
Ahnlich ist auch, nach dem treffenden Ausdruck des Kri-
tikers der Edinburgh Review (1866), Savonarola »der Fürsprecher
Vgl. Art of England, S. 39; ''The largest sota qf any Countryis
aUogether äs own, Not the dtizen of the worid, but qf its own dfy—
nay for the best nun, you may say, of his own vUlage. Patriot always,
provinäal always, of his own crag or field always .... AngeUco from
the Rock of Fiesole, or Virgilfrom the Mantaan MarshP
— 153 —
der vergöttlichten Menschheit, nicht der menschgewordenen Gott-
heit«. Darin liegt das Geheimnis seiner Gewalt über einen Geist
wie Romola.
Dieser Geist ist in Wirklichkeit nicht so stark und in sich
gefestigt als er auf den ersten Blick scheint Wie ihre Dichterin
verbirgt sie unter einer würdevollen Erscheinung und hoheits-
vollen Bewegungen eine leicht erregbare Natur, die mehr durch
das Gemüt als den Verstand bestimmt wird, wie denn George
Eliot in Obereinstimmung mit Comte im allgemeinen das Vor-
herrschen der Gefühle für ein Charakteristikum des Weibes hielt.
Sie sucht seine wahre Größe, wie sein wahres Glück im Bereich
seiner Liebe. Von ihren drei geistig begabtesten Heldinnen geht
Maggie Tulliver an einem Liebeshandel zugrunde, Dorothea
Brooke wird eine glückliche Gattin und Mutter, Romola eine
Piagnone - eine barmherzige Schwester. Bernardo del Nero
rühmt an ihr, «daß das Einpauken von Griechisch und Latein
sie ebenso weiblich gelassen habe, als hätte sie den ganzen Tag
lang nichts getan als ihre Finger mit der Nadel zerstochen«.
George Eliot selbst war und blieb unbeschadet ihrer glänzenden
Laufbahn eine durch und durch weibliche Natur mit spezifisch
weiblichen Fehlern und Tugenden. Zu lieben und geliebt zu
werden, war ihr die erste Lebensbedingung; dem äußeren Leben
stand sie vielfach in weibischer Hilflosigkeit gegenüber. Es gefiel
ihr, sich stützen, gängeln, bevormunden zu lassen. Mont^gut
weist darauf hin, daß ihre Heldinnen alle eines geistigen Er-
weckers, eines Führers auf die rechte Bahn bedürfen; aber George
Eliot selbst hätte wahrscheinlich nie Selbständiges geschaffen ohne
Lewes' Anregung und Leitung.
So findet auch Romola ihren Weg nur an der Hand Sa-
vonarolas. Und sie hat diese starke Hand kaum ergriffen, als
eine förmliche Sehnsucht nach völliger Passivität sie überkommt,
ein Bedürfnis, jeder Selbständigkeit zu entsagen, die eigene Indi-
vidualität durch die größere des Meisters gewissermaßen aus-
löschen zu lassen. Nicht seine Lehre hat sie durch allmähliches
Oberzeugen bekehrt, seine Persönlichkeit hat sie mit einem Schlage
bezwungen. Er besitzt die Wünschelrute, alle Goldadern ihres
Gemütes bloßzulegen, und sie setzt nun das starke Wollen und
— 154 —
Empfinden ihrer impulsiven Natur einzig an die Erfüllung seiner
Vorschrift: Bringe Gott deinen Qram zum Opfer.
Auch dieser rasche und völlige Umschwung hat eine Paral-
lele in George Eliots eigenem Leben.. 1839 hatte die Zwanzig-
jährige an Miss Lewis geschrieben: nEin einziges Wort genfigt
oft, unserem Denken eine völlig neue Gestalt zu geben - we-
nigstens fühle ich selbst mich so beschaffen.'« Und in der Tat
war sie zwei Jahre später (1841) nicht minder rasch und unbe-
dingt wie Romola vom orthodoxen Glauben zum Rationalismus
übergegangen und hatte sich gehoben gefühlt bei dem Gedanken,
fortan lediglich von einem vornehmeren Pflichtbegriff geleitet
zu werden.
Als junges Mädchen besuchte George Eliot die Kranken in
den ärmlichsten Häusern von Coventry und blieb noch lange
bei ihnen in gesegnetem Andenken.
Es schwebte ihr damals als Ideal vor, der Pflanze im
Krankenzimmer zu gleichen, die selbst in einer Sphäre, in der ihr
Grün verblaßt und ihr natürliches Wachstum zurückgedrängt wird,
noch die Luft reinigt (an Miss Lewis, 24. Okt. 1 840). So waltet
nun Romola während der Pest und Hungersnot. Sie überwindet
ihre stolze Natur, die nie an Mägdearbeit gewöhnt ward, deren
angeborene Neigung sie nicht zu dem Jammer und Elend des
Volkes hinabzieht. Sie ist nun mit Leib und Seele Piagnone.
Alle ohne Unterschied umfaßt ihre hilfreiche Nächstenliebe -
alle, bis auf den Gatten. Man möchte ihr das Sprichwort zurufen:
Charify begins at home. Sie durchschaut seinen Anschlag gegen
Savönarola, und ohne den leisesten Versuch, ihn von seinem
Vorhaben abzubringen, droht sie, ihn bei der Signoria anzugeben.
Es kostet sie augenscheinlich keinen Kampf zwischen Bürger-
und Gattenpflicht. Auch ist Titos Vorwurf jedenfalls nicht ganz
unbegründet, daß sie um Baldassares feindselige Absichten gewußt
und ihn dennoch unterstützt habe. Was kann es dem gegen-
über nützen, wenn sie sich ihm dann plötzlich in einem leiden-
schaftlichen Gefühlsausbruche wieder zuwendet? Romola muß
allem Frauenglück entsagen, sie muß lernen, ihr Leben dem Wohle
fremder Menschen zu widmen. Aber sie muß es nicht ohne
eigene Schuld.
— ISS —
»Unsere wahre Bestimmung setzt sich aus Tätigkeit und
Resignation zusammen«, sagt Comte. Für andere tätig, jedem
eigenen Wunsche abgestorben, erfüllt Romola diese ihre Be-
stimmung. Resignation war in George Eliots Augen das Ziel
aller ernsten Selbstzucht; verzichten, sich ins Unvermeidliche
fügen lernen, schien ihr im Leben vor allem anderen not zu
tun. Es gibt so unsäglich viele Fälle, in denen es wie Hohn
klänge, riefe man dem Menschen zu: suche dein Glück! »Die
möglichst größte Annäherung an Wohlsein führt in diesen Fällen
durch große Resignation und Hinnahme des Unabänderlichen,
begleitet von einer so großen Anstrengung, alles Nachteilige
zu überkommen, als der Verstand mit irgend einer Möglichkeit
des Erfolges vereinbaren kann« (Bemerkungen zu The Spanish
Oipsy, 1868).
Romola ist zu einer solchen ungeheuchelten, heiteren Resig-
nation, zu einer innerlichen Versöhnung mit dem Schicksal noch
nicht durchgedrungen. Sie ist noch zu leidenschaftlich von
der ausschließlichen Wahrheit ihrer Oberzeugung erfüllt; ihr
fehlt noch die höchste Blüte des Altruismus, die Toleranz. »So
machen wir es alle,« sagt George Eliot in The MUl on the
Floss, »wenn wir weit eher den Pfad der Verzichtleistung auf
allen Egoismus ergreifen, den Pfad des Märtyrertums und des
Duldens, wo die Palmenzweige wachsen, als die steile Heerstraße
der Toleranz, der gerechten Nachsicht und des Selbsttadels, wo
man keine Ehrenkränze pflückt«.
Romola lehnt sich selbst gegen Savonarola auf, als er sich
weigert, in den Prozeß Bemardo del Neros einzügreifen. Sie
möchte den väterlichen Freund um jeden Preis gerettet sehen.
Ihm gilt das Schicksal des einzelnen wenig, wenn das Wohl der
Republik in Betracht kommt. ^) Die ergreifende Szene zwischen
^) Vgl. Guicciardini, III, 130. Savonarolas Anhänger hätten auf Ber-
nardos schleunige Hinrichtung gedrungen und ihm verwehrt, gegen das Urteil der
seifave an den ConsigUo Maggiore zu appellieren. „M?/{ senza infamia
sua (Savonarolas), die non avesse dissuaso a que^ massimamente die
lo seguitavano, U vblare una legge proposta podii anru innanzi da lui
come molto salutare e quasi necessaria alla conservazione ddla liberta."
Denselben Vorwurf erhebt Machiavell gegen Savonarola, während Villari (II, 60)
ihn davon frei bricht.
— 1S6 --
dem in seinem Entschlüsse unerschütterlichen Savonarola und
der leidenschaftlich erregten Romola, die alles daran setzt, Ber-
nardos Leben zu erhalten, gründet sich auf Dokumente aus
Savonarolas Prozeßakten, denen wir auch die Einführung der mit
Romola so wirksam in Gegensatz gestellten hysterischen Prophetin
Camilla Ruceliai verdanken.^)
Romola vermag Savonarolas Beweggründe nicht zu fassen
und wendet sich in Bitterkeit von ihm, nicht viel anders als sie
sich von Tito wandte, weil er dem Idealbilde nicht entsprach,
das sie sich von ihm gemacht hatte.
Das hier eingeschaltete mehr poetische als wahrscheinliche
Intermezzo - Romolas Treiben im steuerlosen Boote auf dem
nächtlichen Meere unter dem Sommer-Sternenhimmel - ist viel-
leicht symbolisch zu verstehen. Sie ist müde von all dem
*) Dolcumcnt 26. Erster falscher Prozeß des Savonarola (Villari, II, CLXIV).
Savonarola sagt hier: „DdP ordine et preparazione che si fece U venerdl
sanäo hora Panno, non ne seppi ne so ättro particolare, se non in questo
modo io ko Inteso da Filippo Ar^^ucci, che allora era d^ Signori, che
voleva gätare dalie finestre del palazzo Bemardo del Nero, che era allora
ghonfalonieri di justitia; et che in quel tempo il diäo FiUppo mandö a
dimandare madonna Camilla Ruceliai, qudlo si haveva a fare allora
et che lei gii mandö a rispondere che lei haveva havuto in revelatione
ehe gittasseno delle finestre Bemardo del Nero et che madonna
Camilla lo disse a Fra Malaiesta, Frate di San Marco, se questo gittar
di Bemardo del Nero ^üe finestre em inspimtione divina; ä Fm Mala-
testa ne domandö me, se poträ essere inspiratione divina, et s'era üdto
il fario; et io risposi, voi sapete come s'ä a rispondere per me in questi
casi rispecto älla irregularitä, ma io non lo confortai, si facesse, rispecto
alla irregularitä dicta; ben mandai a dire et a confortare Filippo Arigucci
per Domenico Mazinghi che io adopemva a simile imbasdate che stessi
forte con qualchuno de sua compdgni; et cosi confortai Domenico Mazinghi,
die em ghonfalonieri di compagnia a fare U simile, et cosi confortai
facessi come suoi compagni; et stare forte tutti contra la opinione di
Bemardo del Nero; percht era contra aW opem nostra; ma non con-
fortai chefosse morto; ben avrei havuto charo che fasse stato mandato via,"
Im Dokument 28, Prozeß des Fra Salvestro (Villari, II, CCXXVII), sagt
der Angeklagte: „E questa State passata Micchde Niccoüni, che fu dd
Signori in compagnia con deto Philippo, mi disse Philippo avergli piä
voUe decto: S*io avesse compagnia, io gicterei d Qonfaiunieri (che em
Bemardo dd Nero) da le finestre. E disegli, perdik Dio voleva cusi.
Et dimandandone io Fm Qirolamo, se de questo sapeva cosa alcuna, e
dicendomi di no, io presumpsi che questa cosd nasdessi da mona Camilla
Rucdlai, perdü PhÜippo gü prestava fede,"
— 157 —
Schrecklichen, das auf sie eingestürmt, und doch eine zu gesunde,
lebenskräftige Natur, um selbst ein Ende zu machen. Erschöpft
und unfähig, selbstbestimmend eine entscheidende Wendung ihres
Geschickes herbeizuführen, läßt sie sich gleichsam auf den Wellen
des Zufalls treiben, bereit, Leben oder Tod anzunehmen, wie sie
sich ihr bieten. Das Los entscheidet fürs Leben. Romola er-
fährt in einem von der Pest verödeten Fischerdorfe eine geistige
Wiedergeburt. Eines der poetischesten Kapitel, das der Feder
George Eliots geglückt ist, schildert ihr Walten uriter den we-
nigen überlebenden, die da glauben, die allerbarmende Himmels-
königin sei in Person herabgestiegen, sich ihrer anzunehmen.
Auch dies ist ein symbolischer Zug: hilfreiche Güte macht das
Weib zur Heiligen, die Sterbliche der Gottheit gleich.
In weltabgeschiedener Einsamkeit, inmitten einfacher Natur-
kinder kommt nun wie eine Erleuchtung die Selbsterkenntnis
über Romola, die in dem lärmenden Treiben von Florenz auch
Savonarolas Lehre nicht in ihr zeitigen konnte: sie war selbst
nicht frei von Tugendstolz und Hochmut, während ihr die andern
in der Güte nie genug taten. Sie glaubte, sich der Not ihrer
Mitmenschen barmherzig zu opfern und hat die Not der ihr
Zunächststehenden nicht empfunden. Mit dieser Erkenntnis kommt
Demut über Romolas Herz. Was ihr vergeblich gepredigt ward,
schöpft sie nun aus sich selbst. Sie kehrt nach Florenz zurück
- nicht, wie das erstemal auf Befehl eines andern, sondern
einem unbezwingbaren inneren Drange folgend.
Aber Tito ist tot und Savonarola stirbt - stirbt nicht, wie
er es in verzückten Träumen erflehte, den freiwilligen Märtyrer-
tod, vom Glorienscheine der Begeisterung umflossen, sondern er
leidet, an sich selbst irre geworden, den Tod, weil er sich nicht
mehr für würdig hält, ein Vorkämpfer der Wahrheit zu sein.
Mathilde Blind*) zieht einen geistvollen Vergleich zwischen der
Idee, die George Eliot im Einklänge mit der Geschichte ihrer
Savonarola-Gestalt zugrunde legt, und Goethes Mahometplan :*)
»So wurde der Gedanke in mir rege, daß freilich der vorzüg-
») Geoi^ Eliot, S. 154.
>) Wahrh. u. Dicht. T. III, B. 14.
— 158 —
liehe Mensch das Göttliche, was in ihm ist, auch außer sich
verbreiten möchte. Dann aber trifft er auf die rohe Welt, und
um auf sie zu wirken, muß er sich ihr gleichstellen; hierdurch
aber vergibt er jenen hohen Vorzügen gar sehr, und am Ende
beffbi er sich ihrer gänzlich. Das Himmlische, Ewige wird in
den Körper irdischer Absichten eingesenkt und zu vergängh'chen
Schicksalen mit fortrissen.'
Romola widmet Savonarolas Andenken einen Kultus, der,
obzwar historisch, doch auch an die vom Positivismus vorge-
schriebene Verehrung großer Abgeschiedener erinnert Sie nimmt
die hilf- und ratlose Tessa zu sich; sie erzieht Titos Kinder, die
nicht die ihren sind. Und tut sich doch nichts darauf zugute.
So handelt sie nach dem Worte des Meisters: »Demütig sei der
Qläubige gegen seine Vorgesetzten und gegen die, so ihm gleich-
gestellt sind, demütig auch gegen die Untergebenen. Aber wenn
er, an diesen Punkt gelangt, glauben wird, etwas Großes getan
zu haben, dann wird die äußere Demut auf Kosten der inneren
gewachsen und jedes Verdienstes bar sein.«^)
Der Gefahr übermenschlicher Großmut, die für Romola
nahe lag, beugt George Eliot durch zwei Momente vor: erstens
hat Tessa nicht wissentlich gegen sie gefehlt, und zweitens ist
das Band, das sie an Tito fesselte, innerlich längst gelöst, als sie
von seiner Untreue Kunde erhält, so daß die erste Empfindung,
die in ihr rege wird, die der Befreiung aus dem Joch der Ehe
ist. Nunmehr aber ist Romola zur Klarheit durchgedrungen. Die
Stürme schweigen in ihrem Innern. Eine zweite Antigone, sühnt
sie durch ihre selbstentäußernde Liebe, was die Eigensucht Titos
verschuldet. Und wie die wahrhaft gute Tat ihren Lohn in sich
trägt, zeigt uns ein freundliches Schlußbild Romola, die Kinder-
lose, Vereinsamte, von blühender Jugend umgeben, von Seelen
voll frischer Empfänglichkeit, neuen kräftigen Gefäßen für ihr
Wissen, ihre Erfahrung und jene Lebensfreude, die ihr selbst
versagt blieb.
Siegreich, verklärt geht sie aus dem Kampfe herv.or. Den-
noch fragen wir uns: hat sie nicht etwas von ihrer urwüchsigen
*) Trattato ddP Umütä.
— 159 —
Menscfaenschönheit eingebüßt? In Romola sollten die beiden
großen Strömungen der Renaissance, Heidentum und Christentum,
in eins verschmelzen. Aber das Heidentum kommt dabei zu kurz.
Die heitere Unbefangenheit, die Lebensfreudigkeit des hellenischen
Qeistes wird von dem asketischen Ernst der christlichen Ethik
erdrückt. Die Resignation ist bis zum völligen Verzichtleisten
auf alle persönliche Eigenart getrieben, die Selbstüberwindung
bis zur Ausmerzung der Individualität.
Romolas große Liebessehnsucht, der das Leben nur mit
dem ehernen Gebote der Entsagung antwortet, gibt ihren Zügen
etwas von dem schwermutsvollen Ausdruck der präraffaelitischen
Idealgestalten mit dem klassischen Profil und dem ins Leere
starrenden Blick der weitgeöffneten, traurigen Augen.
IV.
Was die Nebenfiguren des Romanes betrifft, so hebt George
Eliot mit künstlerischem Takt aus der Fülle der Geistesheroen
um die Wende des 15. Jahrhunderts nur die Sterne zweiter oder
dritter Größe heraus, die nicht schon durch die bloße Zauber-
kraft ihres Namens die Aufmerksamkeit gefangen nehmen und
von den Hauptgestalten ablenken. Sie wählt z. B. Cronaca, den
unbedingten Anhänger Savonarolas, strebt jedoch auch für ihn keine
detaillierte Charakteristik an, die auf Grundlage von der Vasaris:
»er war ein guter, religiöser Mensch, aber ein schwacher, eigen-
sinniger Kopf« (III, 204) nicht schwer gewesen wäre. Für
Piero di Cosimo, den sie gleichfalls einführt, wird hingegen eine
ziemliche Anleihe bei Vasari gemacht (B. III); doch scheint er
bei George Eliot zum Sonderling gemildert, während der alte
Biograph von seinem Leben sagt, es sei »mehr die Existenz eines
tierischen als eines menschlichen Menschen« gewesen.^)
Der junge Machiavell gleitet leise wie ein Schatten durch
den Roman. Seine Reden stehen mit den aus seiner späteren
Zeit überlieferten im Einklang, denn aus den Jahren, die für
Romola in Betracht kommen, ist nur eine spärliche Oberlieferung
>) una vita da uomo bestiale piattosto che umano.
— 160 —
vorhanden. Zwei Winke werden von George Eliot benützt: daß
Machiavell als Jüngling abfallig über Savonarola urteilte, und daß
er zu den Arrabiati neigte.
Im übrigen kann man nicht sagen, daß sich die Neben-
figuren in plastischer Durchbildung vom Hintergrunde ablösten.
Vielmehr leiden die frei erfundenen unter ihnen in der zweiten
Hälfte des Romanes unter einem entschiedenen Erlahmen der
schöpferischen Kraft. Nello, der Barbier, und Bratti, der Krämer,
versprechen anfangs sich unter George Eliots gelungenste Charakter-
typen zu reihen. Nichts Lebensvolleres als der frische Humor,
der gesunde Witz dieses Nello, dessen Zunge nicht minder scharf
ist als sein Rasiermesser, der es, ein anderer Figaro, versteht, sich
bei hoch und niedrig unentbehrlich und beliebt zu machen, der wie
Burchiello, sein dichtender Vorgänger in Via Calimala, ein Genie,
der wie Olivier le Dain ein Freund der Staatslenker und Gelehrten
ist, und trotz all dieser Ähnlichkeiten in der Reihe der welthisto-
rischen Barbiere seine scharf ausgeprägte Physiognomie bewahrt.
Nichts Liebenswürdigeres, Findigeres als Brattis schlaue Krämer-
philosophie mit ihrer höchst eigenmächtig formulierten Moral und
ihrer südländischen Suada, die geschwätzig, aber nie schwülstig
wird. Allein im Verlaufe der Handlung verblassen die Gestalten.
Sie wiederholen sich, statt sich zu entwickeln, und gehen schließ-
lich schemenhaft verloren.
Dasselbe gilt von den Volksszenen. Anfangs kommt die
historische Stimmung in lebhaft bewegten Zeitbildern, in scharf
charakterisierten Gesprächen von Bürgern und Herren zum Aus-
druck; so gleich in der ersten Szene, in der wir den Tod Lorenzos
und die ihn begleitenden (von Guicciardini überlieferten) Wunder-
zeichen erfahren; so in der Jahrmarktszene, der nach Mont^gut
ein Gemälde des Callot zugrunde liegt. Nur ein einziger Ton
fehlt in den farbenprächtigen Bildern: der dem damaligen Volks-
leben eigene derbe Humor. Den Raufbold, den Trunkenbold,
den Lanzknecht, diese Typen, die in keinem Scottschen Romane
fehlen, sucht man bei George Eliot vergeblich. In Dolfo Spini
und seiner Rotte wäre Gelegenheit die Fülle gewesen, stärkere
Drucker, ja wohl einige Farbenklexe anzubringen, aber die Dichterin
scheint hier geflissentlich jedem Detail aus dem Wege zu gehen.
— 161 —
Um so ausführlicher wird sie in dem Kapitel, das »Ein
gelehrter Streit« Aberschrieben ist Es will eine historische
Genreszene sein und uns eine jener unter den Humanisten
üblichen Fehden vorführen, in denen sich persönliche Gehässig-
keit und Eitelkeit unter dem Deckmantel der Gelehrsamkeit breit
machten. In Wirklichkeit aber leistet die Dichterin nicht viel
mehr als die Obersetzung einer Epistel des Polizian an Barto-
lomeo Scala und dessen Antwort. George Eliots eigene Vorliebe
für philologische Studien täuscht sie über den spärlichen Humor
und das geringe Interesse dieses Wortgeplänkels, das sich in der
Umrahmung jener großen Zeit um so armseliger ausnimmt
Je mehr es dem Ende zugeht, desto mehr wird der Draht
sichtbar, an dem sie ihre Gestalten lenkt Im Schluß des Kapitels 29
tritt sie mit eigenen Betrachtungen vor den Leser; Kapitel 35 ist
wenig mehr als eine Geschichtslektion, und die Erzählung von
Savonarolas Ende wirkt bei George Eliot weniger erschütternd
als bei Villari.
Auf voller Höhe steht hingegen in Romola die Meisterschaft
im minutiösen Detail. Die Gestalten sind auch äußerlich bis in
die kleinsten Einzelheiten individualisiert, ohne jemals geschildert
zu werden, z. B. ihre Hände. Bardo hat eine alte, weiße, stark
geäderte, Tito eine feine, dunkle Hand mit geschmeidigen Fingern;
Brigida eine kleine, fette, die wie aus Teig gemacht scheint; Tessa
eine Kinderhand; Baldassare eine große mit breiten Fingern;
Savonarola eine Hand von durchsichtiger Zartheit und ausge-
prägter Physiognomie; Romola eine vornehme Hand mit langen,
schmalen Fingern, wie George Eliot selbst, die ihrer Heldin auch
ihre eigene wohlklingende, ausdrucksfähige Stimme leiht, welche
Bardo tiefen Flötentönen vergleicht, und von der er sagt, sie sei
ihm in den Jahren der Blindheit das Licht gewesen.
Jede Person redet ihre eigene Sprache. Bardo spricht in
den schwerfälligen Wendungen des gelehrten Pedanten, Tessa in
den kurzen, abgerissenen Sätzen des Kindes; selbst der sonst
ziemlich farblosen Gestalt der gutmütig . schwätzenden Muhme
Brigida wird ab und zu durch eine originelle Wendung ein Licht
aufgesetzt, z. B.: Romola gehe wie eine ganze Prozession. Nello,
der Anhänger Pulcis, verfügt über eine zierliche, bilderreiche
WissensdiafU. Frauenarbeiten. IV. V. Richter, Eliot ^^
— 162 —
Ausdnicksweise, während in Brattis Krämerjargon Beten und
Fluchen ineinander übergeht Zahlreiche sprichwörtliche Redens-
arten des italienischen Volkes sind mit mehr oder weniger Glück
verenglischt worden; zahlreich freilich ~ noch zahlreicher als
die fremden oder altertümelnden Ausdrücke bei Scott - sind
auch die italienischen Brocken, die den Fluß der Rede unliebsam
durchsetzen und häufig eine die Stimmung zerreißende Erläute-
rung nötig machen.
Der Aufbau des Romanes, der bei George Eliot fast nie
auf gleicher Höhe mit der Charakterschilderung steht, ist auch
in Romola nicht einwandfrei. Die Einheit der Handlung wird
durch einen Mangel an Kontinuität der Erzählung vielfach durch-
brochen, und die Symmetrie der einzelnen Teile ist nicht gewahrt
Romolas Flucht nach Viareggio macht den Eindruck eines tech-
nischen Notbehelfes, um sie aus Florenz zu entfernen, wo ihre
Anwesenheit für die nächsten Vorgänge überflüssig wäre. Künst-
lerisch vornehm ist das Ausklingen des Romanes ohne jedes
Pathos mit einer an Adam Bede erinnernden Schlußwendung.
George Eliots politisch -sozialer Roman.
George Eliot wurde im Respekt vor der Arbeit und vor
denen, die sie ausüben, erzogen. Ihr Vater, der pflicht- und
königstreue Robert Evans, soll für die Worte »Regierung« und
»Arbeit« einen ganz besonderen Ton der Andacht zur Verfügung
gehabt haben. Von ihm lernte Mary Ann das Ernstnehmen jed*
weder Obliegenheit, der kleinsten wie der größten. Unter den
ersten maßgebenden Eindrücken, die in ihrem Gemüte Wurzel
schlugen, war der der Arbeit als etwas Heiliges, Beglückendes,
Notwendiges. Neben der frohen und ersprießlichen Tätigkeit im
Vaterhause aber lernte das scharf beobachtende Kind bei den
Grubenarbeitern und Webern des nahen Bedworth ebenso früh
auch die harte Plage um das kärgliche Brot, die Not und Mühsal
der Enterbten kennen. Sie hatte in ihrer ersten Jugend Fühlung
mit dem Volke, und dieser Verkehr bildete eine glückliche Er-
gänzung ihrer Bekanntschaft mit dem Schloßherrn und den Geist-
lichen der Gegend. Mit zwölf Jahren kam Mary Ann dann in
die Stadt, nach Coventry, und das Jahr darauf war sie in Nuneaton
Zeuge eines Aufruhrs bei der nach der ersten Reformbill abge-
haltenen Parlamentswahl.
Die leidenschaftlich erregle Teilnahme des Volkes an den
jahrelangen Kämpfen um die Wahlreform war wohl geeignet, sich
einem wie Mary Ann veranlagten Kinde dauernd ins Gedächtnis
einzuprägen. Seit der Bill of Rights, der englischen Freiheits-
urkunde, konnte sich kein Gesetz an Wichtigkeit mit ihr ver-
gleichen. Sie bedeutete die größte Verfassungsänderung inner-
halb der letzten 150 Jahre und war seit langem vorbereitet. Pitt
hatte schon 1 795 eine bessere Organisation der Volksvertretung im
11*
— 164 —
Parlamente beantragt 1821 — 26 machte Lord John Rüssel Vor-
schläge zu einer Wahlreform. 1831 legte er als Vertreter der
Regierungspolitik dem Unterhause die Reformbill vor, die end-
lich 1832 im Oberhause durchging. Das bisherige Wahlsystem
war prinziplos, verworren, mit jeder vernünftigen Theorie
der Volksvertretung unvereinbar gewesen. Die Vertreter der
Burgflecken, sowohl der nomination boroughs^) als der rotten
borvaghs,^ wurden zum Teil geradezu von den Peers und Grund-
eigentümern ernannt Man kaufte Burgflecken, man kaufte Parla-
mentssitze. In den Grafschaften war nur der Grundeigentümer
von 40 £ Rente wahlberechtigt. 1831 überstieg die Zahl der
Grafschaftswähler nicht 2500. In Edinburgh und Glasgow bestand
die Wählerschaft aus je 33 Personen. Die Wahlreform brachte
nun einen gründlichen Umschwung in der Verteilung des Wahl-
rechtes. Die kleinen Burgflecken verloren es, die großen Städte
erhielten es; jeder Eigentümer eines 10 £ Rente tragenden Grund-
stückes wurde Wähler. Die Volksvertretung war damit auf eine
viel breitere Grundlage gestellt
Dennoch zeigten sich sogleich ernste Schäden, die dringend
Abhilfe forderten: je mehr Stimmen man geschaffen hatte, desto
mehr waren käuflich. Wo nicht moralische Einflüsse das Gegen-
gewicht hielten, da förderte das Reformgesetz die Korruption eher,
als daß es sie vermindert hätte.') Das plötzlich verallgemeinerte
politische Interesse ließ die Unreife des Volkes nur in um so
grellerem Lichte erscheinen.
Dieses Mißverhältnis zwischen dem lebhaften Erfassen und
dem verständnisvollen Bewältigen der politischen Situation bildet
den Kern von George Ellots Roman Felix Holt Ihre persönliche
Erinnerung an jenen Nuneatoner Wahlvorgang während ihrer
Schulzeit tritt in Einzelheiten fühlbar hervor. Treby Magna, die
typische alte Marktstadt mit der prächtigen gotischen Kirche,
deren majestätischer Turm weithin alles überragt, erinnert an das
^) Kleine, unbedeutende Wahlorte, in denen ein einziger Qrundeigentfimer
das Resultat der Wahl bestimmt.
^) Herabgekommene Ortschaften, deren Bevölkerung aus den Abhängigen
eines großen Landbesitzers bestand.
») Vgl. Th. E. May, En^h Constitutional History.
— 165 —
altertümliche Coventry und seine St Michaelskirche mit dem
300 Fuß hohen Turm. Der Kanalbau in Treby hat sein Vorbild
offenbar im Coventry- Kanal, und wenn in Felix Holt der von
Sir Maximus Debarry begonnene Bau zu einer Bandfabrik
»degradiert« wird, so erinnern wir uns daran, daß Bandfabriken
einen Hauptzweig der Industrie Coventrys bilden. Eine Mit-
Schülerin George Eliots in Coventry (1832) erkannte in Rufus
Lyons Behausung die Amtswohnung des alten Mr. Franklin,
eines baptistischen Geistlichen, für den Mary Ann als Schülerin
seiner beiden Töchter eine große Bewunderung hegte. Ihm sollen
auch viele Eigentümlichkeiten des wackeren Rufus entlehnt sein:
die kurzen Beine, die Gewohnheit, beim Arbeiten auf- und ab-
zugehen, und andere kleine Züge. Miss Rebecca Franklin ragte
durch Geist und Eleganz im mündlichen wie im schriftlichen
Ausdruck hervor; auf sie mag Esther Lyons charakteristischer,
ihrer sozialen Stellung überlegener, feiner Geschmack zurück-
gehen.^) Übrigens soll ja George Eliot selbst in ihrer Jugend
Wert auf Parfüms und gut sitzende Handschuhe und derlei ele-
gante Nichtigkeiten gelegt haben.
Die Dichterin nennt ihre Erinnerungen an die Reformbill-
kämpfe kindisch und ohne Zusammenhang (Brief an Blackwood,
27. April 1866); dennoch hätten sie viel dazu beigetragen,
ihr das, was sie darüber las, anschaulich zu machen. Wie immer,
ließ sie es an Vorstudien und ernstesten Anstrengungen nicht fehlen,
ein klares Bild der Zeit zu gewinnen, die sie behandeln wollte.
Sie hatte sich in Wahrheit jene Kunst des Mühegebens zu eigen
gemacht, von der Dickens einmal behauptete, sie sei für jedes
Studium oder Unternehmen die einzige verläßliche, lohnende
Eigenschaft, und Genie nicht halb so viel wert als Aufmerksamkeit
Sie sah z. B. die Times von 1832 — 33 durch, um in ihren
Details sicher zu gehen;
Langsam, durch quälende Zweifel an der Arbeit gehemmt
und durch körperliche Leiden gehindert, wuchs das Werk »wie
ein kränkliches Kind«. Sie war mitunter auf dem Punkte, es
ganz liegen zu lassen. Am 29. März 1865 hatte sie es begonnen,
Vgl. Gross, Life of George Eliot, I, 33.
— 166 —
am 31. Mai 1866 wurde es vollendet Und als Felix Holt
nun erschien, offenbarte es sich, daß das Zurückgreifen der
Dichterin in eine dreißigjährige Vergangenheit in Wahrheit nur
der instinktive Zug des Genies nach dem Zeitgemäßen, dem Be-
dürfnis der G^enwart Entsprechenden gewesen war. Der Roman
hatte nicht historisches, sondern aktuelles Interesse. Die Wahl-
reform war 1866 wieder ein Hauptaugenmerk des Tages. Schon
1859 hatte Lord John Rüssel wiederholte Vorschläge zu einer
neuerlichen Erweiterung des Wahlrechtes eingebracht; und am
12. März 1866 legte Gladstone dem Unterhause einen Entwurf
vor, demzufolge die Zahl der Wähler um 400000 (darunter
200000 eigentliche Arbeiter) vermehrt werden sollte. Die Reform
kam dem allgemeinen Stimmrechte nah. Sie wurde abgelehnt
und ging erst im folgenden Jahre in veränderter Fassung durch.
Das ganze Land war in Bewegung; an allen Orten tagten stür-
mische Versammlungen. So boten die in Felix Holt dem Romane
zugrunde gelegten Begebenheiten des Jahres 1832 eine unmittel-
bare Parallele zu den allerjüngsten Vorgängen, ja sie hielten ge-
wissermaßen der Gegenwart den Spiegel vor. Wie sehr dies
empfunden ward, bestätigte nicht nur der Erfolg des Buches, son-
dern auch Blackwoods Drängen, die Dichterin solle im Namen
des Titelhelden eine Adresse an die Arbeiter verfassen. Sie gab
diesem Drängen 1867 nach.
IL
Und doch war George Eliot nichts weniger als eine Ten-
denzschriftstellerin. Zwar gab bei ihrer Art zu schaffen nicht so
sehr die Lust am Fabulieren den Ausschlag als das überlegte
Zuwerkegehen im Vollbewußtsein einer ethischen Mission, und
ihre ausgeprägte Neigung zur Reflexion, ihr starkes subjektives
Empfinden durchbrach mitunter auch in formeller Hinsicht die
Schranken des Kunstwerkes. Aber die rein künstlerische Freude
an der Darstellung trat bei ihr niemals in den Hintergrund; ihre
Romane entstanden stets als Kunst um der Kunst willen.
In Felix Holt lag nun die Gefahr nahe, daß die Dichtung
im sozialen Problem unterginge. Und so wendet sie, als wollte
ihr künstlerischer Instinkt sich vor dem gewitterten Unheil
— 167 —
verschanzen, der Fabel des Romanes eine Aufmerksamkeit zu,
die ihrer sonstigen Gepflogenheit widerspricht Während sie
gewöhnlich der sogenannten »Handlung" auffallend geringe
Wichtigkeit beimißt, betont sie in Felix Holt das Stoffliche offen-
bar in dem Streben, daß es dem überwiegenden Verstandes-
interesse das Gleichgewicht halte. Leider fand dieser echt künst-
lerische Impuls nicht den entsprechenden Ausdruck. Der ver-
worrene Rechtskasus Transom-Bycliffe war ein Mißgriff, und die
Geduld zur Entwirrung des allzu künstlich gesponnenen Fadens
dieser Erbschaftsgeschichte dürfte nur der weitaus kleinere Bruch-
teil der Leser aufbringen.
Der Inhalt des Romans ist in kurzen Worten folgender:
1729, also etwa 100 Jahre vor dem Einsetzen der Erzählung, hat
John Justus Transom seine Güter als unveräußerlichen Grund-
besitz seinem Sohne Thomas und dessen männlichen Erben ver-
macht, mit der Klausel, daß sie, wenn seine Linie erlösche, an
einen gewissen Bycliffe und dessen Erben übergehen sollten.
Thomas Transom aber war ein Verschwender, der ohne Vor-
wissen des Vaters sein und seiner Nachkommen Erbrecht seinem
Vetter Durfey und dessen Nachkommen übertrug. Die Durfey-
Transoms haben also nur so lange Anspruch auf das Gut, als ein
direkter Nachkomme des Thomas Transom lebt Mit dem Er-
löschen seiner Linie tritt das Testament des alten John Justus in
Kraft, und der gesamte Besitz geht an die Nachkommen Bycliffes
über. Zu Beginn des 1 9. Jahrhunderts ist dieser Fall tatsächlich
eingetreten. Aber es gelingt, dem Advokaten Jermyn, dem ge-
wissenlosen, habgierigen Geliebten der letzten schönen Durfey-
Transom, einen einfältigen Trunkenbold mit ähnlich lautendem
Namen aufzutreiben und für den letzten Sprößling Thomas Tran-
soms auszugeben. Diesem Kniffe Jermyns kommt eine besonders
unglückliche Konstellation der Verhältnisse Bycliffes zu Hilfe. Er
war in Frankreich gefangen. Ein anscheinend großmütiger Mit-
gefangener, Henry Scaddon, dem die Freiheit geschenkt wurde,
hat ihn an seiner Statt, in seinen Kleidern, unter seinem Namen
fliehen lassen. Aber kaum ist Bycliffe als Scaddon nach England
zurückgekehrt, so stellt es sich heraus, daß dieser sich allerlei
Vei^ehungen schuldig gemacht und sein Offiziersrock nur die
— 168 —
Verkleidung war, in der er einst aus England floh. Auf Jermyns
Veranlassung wird Bydiffe als Scaddon verhaftet und stirbt im
Oefängnis. Die Durfey-Transoms sind wieder gerettet.
Zwanzig Jahre später übernimmt Harald, Isabella Transoms
und Jermyns Sohn, das väterliche Gut. Ahnungslos fiber sein
wahres Verhältnis zu ihm, will er den unredlichen Advokaten vor
Gericht stellen und dieser, zur äußersten Notwehr getrieben, greift
zu dem letzten, höchsten Trumpf, den er gegen Harold aus-
spielen kann: bei den Wahlunruhen in Treby Magna ist der von
ihm einst aufgestellte Strohmann Thommy Trounsem ums Leben
gekommen. Der Stamm der Transoms ist erloschen und damit
Harolds Anspruch auf das Gut. Gleichzeitig aber hat Jermyns
Spürsinn eine Tochter und Erbin Bycliffes ausfindig gemacht, der
nach der allgemeinen Meinung kinderlos gestorben war. Es ist
Esther, die Adoptivtochter des dissentistischen Pfarrers Rufus Lyon.
Einen Augenblick scheint es, als solHen Harold und Esther
sich finden und der Knoten der verwickelten Rechtsfrage durch
einen konventionellen Romanschluß zerhauen werden. Aber Esther
besinnt sich anders. Sie entsagt ihren Ansprüchen auf Tran-
somcourt und reicht ihre Hand Felix Holt, einem jungen, radikal
gesinnten Freunde ihres Ziehvaters.
Möglicherweise hat die Neigung der zeitgenössischen Meister
des Romans (Bulwer, Night and Momlng; Dickens, Bleakhoase,
Our Mutual Friend usw.) die Wahl dieses gesuchten, auf vielerlei
ungewöhnliche Voraussetzungen aufgebauten Themas beeinflußt,
das so weit abliegt von George Eliots sonstiger Vorliebe für
Alltagsgeschichten. Hingegen ist das Motiv der Entdeckung von
Esthers wahrer Abkunft bei ihr nicht vereinzelt. Man vergleiche
Eppie (Silos Mamer), Daniel Deronda und Will Ladislaw (Middle-
march). Vielleicht klingt darin eine Nachwirkung Scotts fort
(Lovel im Antiquary, Harry Bertram in Ouy Manne/in^] wie
ja Scotts Einfluß in ihren Werken vielfach nachweisbar ist, wenn
auch selbstredend nur in der bei starken literarischen Persönlich-
keiten allein möglichen und für den Forscher so anziehenden
Form: der Ähnlichkeit äußerer Motive bei völlig gewahrter innerer
Selbständigkeit, z. B. die Testamentseröffnung in Ouy Mannering
und in Middlemarch; die Zigeuner in Ouy Mannering und in
— 169 —
The Mill an the Floss (obzwar hier auch auf eine persönliche
Erinnerung zurückgehend); die Leiden der Postkutsche als Ein-
leitung zum Antiquary, die Freuden der Postkutsche zu Felix
Holt (auf die Obereinstimmung zwischen The Heart of Mid-
lothian und Adam Bede - gerichtliche Belangung und Ver-
urteilung wegen Kindesmord - wurde schon von anderer Seite
verwiesen).
Die Qesuchtheit und Kompliziertheit des Themas von FeUx
Holt wird noch gesteigert durch einen empfindlichen Mangel an
Klarheit der Darstellung. Der Prozeß soll nicht trocken erzählt,
sondern im allmählichen Verlauf der Handlung bruchstückweise
mitgeteilt werden. Dieses an sich rühmenswerte Verfahren
hat aber den Nachteil im Gefolge, daß der Leser keinen Ober-
blick über den ohnehin so schwierigen Fall gewinnt. Er wird
sich denn, wofern er kein Jurist und kein Literarhistoriker ist,
wahrscheinlich von vornherein jeder eigenen Nachprüfung begeben
und sich daran genügen lassen, daß George Eliot mit der ihr
eigenen Gewissenhaftigkeit jeden Punkt des Prozesses von dem
ihr befreundeten Rechtsgelehrten Sir Frederick Harrison auf seine
juridische Gültigkeit hin prüfen Heß; daß er sie begutachtete und
gegen den Angriff eines Edinburgher Kritikers im Pall Mall ver-
teidigte.
Ein zweiter Kompositionsfehler liegt darin, daß der ganze
Prozeß mit der Geschichte des Titelhelden in keinem oder doch
nur einem ganz losen äußeren Zusammenhange steht. Diese Ge-
schichte ist so einfach, wie es die Lebensführung Eliotscher
Romanfiguren in der Regel zu sein pflegt. Holt, der Sohn eines
dissentistischen Webers und Quacksalbers, hat fünf Lehrjahre bei
einem Apotheker hinter sich, um Arzt zu werden. Da gehen ihm
nach einer sechswöchentlichen Periode der Ausschweifung plötzlich
die Augen auf. Er erkennt, daß er an einem Abgrund steht -
und wird ein anderer. Er will allen denen helfen, für die die
Welt kein schöner Aufenthalt ist; als Arbeiter will er den Ar-
beitern, als Mann des Volkes dem Volke leitend zur Seite stehen.
Aber er findet kein Verständnis. Als er bei den Wahlunruhen
Exzesse zu verhüten sucht, erleidet er einen Schulterbruch und
erhält eine vierjährige Gefängnisstrafe. Die Transoms verwenden
— 170 —
sich für seine Begnadigung - mit welchem Resultat, wird nicht
gesagt Wir hören nur, daß er eines schönen Aprilmorgens — die
Wahl war im Dezember -, als der alte Schwärmer aus seiner
Haff entlassen ist, mit Esther Lyon Hochzeit macht und an ihrer
Seite sein Leben recht eigentlich erst beginnt
IIL
Der Roman hat also, genau genommen, zwei Helden, zwischen
denen George Eliot ihr Interesse unparteiisch verteilt: Harold Tran-
som und Felix Holt. Sie sind scharf gegeneinander kontrastiert.
Harold, der Aristokrat, ist voll Standesgefühl, nicht ohne Standesvor-
urteil; Holt, kleiner Leute Kind, neigt zu feindseliger Geringschätzung
der höheren Klassen. Harold hat 15 Jahre im Ausland gelebt,
ist durch und durch eine praktische Natur und verfolgt rein per-
sönliche und reale Ziele; Holt überschreitet die Grenzen der
Heimat nicht, ist durch und durch Idealist, und seine Lauf-
bahn wird durch kein persönliches Moment bestimmt. Sein
Standpunkt ist der völligster Selbstlosigkeit Harold ist eine
kühle, rücksichtslose Natur, weder zur Sentimentalität noch zur
Grübelei veranlagt, physisch gesund, moralisch im Gleichgewicht;
Holt ist Gefühlsmensch, ein schwärmerischer, impulsiver Charakter.
Harold wird in den Grenzen der Rechtschaffenheit, von der Rück-
sicht auf sein eigenes Behagen bestimmt, während die ihm zu
Gebote stehenden leichten und sicheren Manieren seinem Egois-
mus den Schein des Verletzenden nehmen. Holt empfindet zu
leidenschaftlich, um nicht ausfällig, ja mitunter aufdringlich und
langweilig zu werden. Feine Manieren sind in seinen Augen
eine Bemäntelung oder Verfälschung des Urwüchsigen, doch ist
ihm ein Herzenstakt eigen, der ihn z. B. die andauernde Geduld-
probe, welche die selbstherrliche Beschränktheit seiner nörgelnden
Mutter ihm auferlegt, rücksichtsvoll ertragen läßt Er ist bedürf-
nislos bis zu einer hier und da übertriebenen Abneigung gegen
alle Verfeinerungen des Luxus. Harold besitzt ein sicheres Selbst-
gefühl; Holt fühlt nur zu häufig seine eigene Unzulänglichkeit
und sieht die Notwendigkeit ein, sein philanthropisches Werk mit
einer .Selbstreform zu beginnen.
— 171 —
Diese beiden so grundverschiedenen Menschen, die sich
selbstredend abstoßen, stimmen doch in einem Punkte überein:
sie sind ~ oder nennen sich — beide Radikale. Die Art, wie
sie dazu kommen, und der Begriff, den sie damit verbinden, ist
natürlich ebenso verschieden wie ihr ganzes Wesen.
Harold hat lediglich die Politik im Auge. Die 15 Jahre,
die er als Geschäftsmann im Orient gelebt, ließen ihn zwar die
heimischen Zustände nie aus dem Gesicht verlieren — es war
immer seine Absicht, gegebenenfalls wieder Engländer zu werden
— aber sie haben ihn über die spezifisch englischen Vorurteile
doch so weit hinausgeführt, daß er den seiner Familie völlig
unbegreiflichen Gedanken einer Kandidatur als Radikaler fassen
kann. Als solcher glaubt er nämlich am raschesten an sein Ziel zu
gelangen. Er will eine wichtige Persönlichkeit in seiner Grafschaft
sein. Das nötige Geld besitzt er, nun ist noch eine Rolle im
Parlament dazu erforderlich; und da er den Radikalismus für die
Zeitströmung hält, will er mit ihr schwimmen. Sein Radikalismus
ist Mittel zum Zweck, nicht Überzeugung, nicht Herzenssache.
Er steht dem Volke fremd gegenüber und lächelt innerlich über
das tadellose Proghimm, das er entwickelt: er werde die Kirche
nicht angreifen, sondern nur das Einkommen der Bischöfe; er
wolle nur im Ausrotten der Obelstände ein Radikaler sein, das
faule Holz im Gebäude entfernen und statt dessen frische Eichen-
bäume einfügen. In Wirklichkeit ist sein treibendes Motiv kein
Wohlfahrtstraum für die Allgemeinheit, sondern sein eigener
materieller Vorteil. Sein Nutzen liegt ihm weit mehr am Herzen
als der des Arbeiters, wenn er ihn gewiß auch nicht auf dessen
Kosten suchen wird. Er wünscht vielmehr aufrichtig, daß der
beiderseitige Vorteil Hand in Hand gehe. Übrigens ist er nicht
der Mensch, sich Probleme vorzulegen oder ängstlich auf die
Beweggründe seiner Handlungen zu horchen. Er hat wenig
Phantasie und weder die Anlage noch den Willen zum Märtyrer.
Aber ein deutliches, nicht allzu fem liegendes Ziel ins Auge
fassen und entschlossen anstreben - das ist es, was er vermag.
Soweit es das energische Verfolgen dieses Zieles gestattet, wird
er gewiß stets dem Verbotenen aus dem Wege gehen — schon
um sich des Triumphes der allgemeinen Anerkennung nicht zu
— 172 —
berauben. Doch aufopfern wird er sich niemals. Er ist kein
Tugendheld, aber ein kluger, gutmütiger, ehrlicher Mensch, ein
Mensch, dem man, wenn man ihm im Leben begegnete, nicht
ungern die Hand reichte.
Nichts ist bezeichnender für ihn als der zur raschesten
Lösung der lästigen Rechtsangelegenheit geschäftsmäßig gefaßte
Plan der Geldheirat. Zu seiner eigenen Überraschung gesellt
sich im Verkehr mit der lieblichen Esther zu der kühlen Ver-
standesabsicht eine entschiedene Herzensregung, und Harold findet
seine Situation als Liebhaber mit dem finanziellen Hintergrunde
nun peinlich. Eine feinfühligere Natur fände sie unmöglich. Für
den Leser aber ist der Vorgang durch Harolds Charakter so
motiviert, daß er ihm nicht anders als durchaus menschlich
erscheint, d. h. unendlich kompliziert, aus hunderterlei Fäden ge-
sponnen und darum fast immer ein wenig in zwei Farben schillernd.
Wir zweifeln nicht an Harolds aufrichtiger Neigung für Esther,
aber wir wissen auch, daß er nicht an gebrochenem Herzen
sterben wird, als sie ihm ihre Hand verweigert
Mit demselben Gleichmut erträgt er das Mißlingen seiner
Parlamentswahl, die er sich doch 8 — 9000 £ kosten ließ.
So gehört Harold durchaus zu jener Gattung gemischter
und darum lebenswahrer und interessanter Charaktere, in denen
George Eliot Meisterin ist, zu der großen Klasse der Egoisten,
die sie in allen Abstufungen, vom entschuldbaren Leichtsinn der
Jugend bis zur Verworfenheit des Lasters geschildert hat. Man
denke an den liebenswürdigen Arthur Donnithorne (Adam Bede),
an den ihm ähnlichen Anthony Wybrow, der doch schon
einen herberen Stich ins Charakterlose hat (Mr, QUfiPs Love-
Story); an den banalen Geschäftseleg^nt Stephan Guest (The MM
on the Floss). Einen ernsteren Fall der Pflichtverletzung repräsen-
tiert Godfrey Cass (Silos Marner); in Tito (Romola) zeitigt der
Egoismus den Verbrecher, in Grandcourt (Middlemarch) den
Schurken in Frack und weißer Binde; in Casaubon (Middlemarch)
den allem Lebendigen abgestorbenen Bücherwurm; während die
Dichterin mit Ladislaw (Middlemarch) zu dem faszinierenden jungen
Egoisten zurückkehrt.
Sahen wir nun, daß Harolds Radikalismus nichts weiter
— 173 —
war als die Fla^^e, unter der zu segeln er aus gewissen Gründen
für ratsam fand, so steht es mit dem Holts nicht viel besser.
Die Gründe, die ihn hindern, ein Radikaler zu sein, sind die
entgegengesetzten wie bei Holt, in der Sache selbst aber treffen
beide zusammen. Weil Holt so genau weiß, was das Volk vor
allem braucht, weil sein Wohl ihm unendlich mehr am Herzen
liegt als alle Politik, eben darum verhält er sich gleichgültig gegen
das Stimmrecht, das er selbst nicht besitzt Er meint, daß dem
Volke ganz andere Dinge not täten als das allgemeine Wahlrecht,
von dem er behauptet, es wäre dem Teufel so angenehm wie
Gott Es ist eine Neuerung, die nur das äußere Leben betrifft,
er aber möchte als Reformator zu viel tieferen Wurzeln hinab-
steigen. Er möchte das Volk zu der politischen Freiheit erziehen,
zu der es vorläufig noch nicht reif sei, und die vorderhand eine
zweischneidige Waffe für die Menge bedeute.
IV.
Die Nebenpersonen des Romanes rechtfertigen diese Ansicht
Holts. Die Männer aus dem Volke sind politisch gesinnungslos
und wissen mit dem so eifersüchtig gewahrten Wahlrecht nichts
anzufangen. Chubb, der Wirt vom »Zuckerhut«, hält es mit dem
Radikalen, weil er den Armen schmeichelt und Kunden ins Wirts-
haus lockt, stimmt aber aus ebenso persönlichen Gründen für
seinen torystischen Gutsherrn. Dibbs, der Wirt des Marquis of
Qranby, sagt gerade heraus: »Mir liegt kein Pfifferling daran, für
wen ich wähle." Der Müller Sircome schweigt, weil er es mit
niemandem verderben will. Für den Kohlenarbeiter Brindle be-
deutet die Wahl die Zeit, in der es Bier umsonst gibt. In Treby
Magna sieht man dem Wahltage als einer Art Wettkampf ent-
gegen, und von dem Wahlrevisor hat Pink, der Sattler, eine
dunkle Vorstellung, etwa wie von der jungen Giraffe, die vor
kurzem ins Land kam.
Die Naturtreue dieser Schilderungen fällt in die Augen,
wenn man sie mit Briefen aus jener Zeit vergleicht So schreibt
Bulwer am 16. Juni 1831, ein Junge hätte die Zeitung aus-
gerufen mit diesen Worten: »Gute Nachrichten für die Armen!
— 174 —
GroSe, glorreiche Rede Seiner Majestät, Wilhelms IV.! Die Re-
formbill wird durchgehen. Dann werdet ihr alle Rindfleich und
Hammel um einen Penny das Pfund haben ! Und dann werdet
ihr alle um eine Lappalie so schön sein wie die Pfaue! Ganz
zu schweigen von dem Bier um einen Penny das Quart, worin
ihr die Gesundheit von Seiner Majestät und Seiner Majestät
Minister trinken und die glorreiche Reformbill leben lassen
könnt, alles ohne euch zu ruinieren!«
Nicht viel besser steht es um die politische Reife der höheren
Stände. Der Gutsbesitzer Rose stimmt, um seine Unabhängigkeit
an den Tag zu legen, für den radikalen und den torystischen
Kandidaten zugleich. Jermyn dreht den Mantel nach dem Winde,
spielt bei der Wahl eine Doppelrolle und handelt nach Prinzipien,
wie: das Wesen der Bestechung sei, daß sie bewiesen sein müsse;
wo kein Nachweis möglich sei, gebe es auch keine Bestechung.
Harolds Oheim, Lingon, einer jener jovialen Eliotschen
Geistlichen, die einen nichts weniger als asketischen Lebens-
wandel führen, ohne doch ihrem Amte Unehre zu machen, läßt
sich über die veränderte politische Konstellation so wenig graue
Haare wachsen wie über etwas anderes. Seit der Katholiken-
emanzipation könne sich kein anständiger Mensch mehr einen
Tory nennen. Der Whiggismus sei eine lächerliche Ungeheuer-
lichkeit. Folglich bleibe einem Manne aus gutem Hause nichts
anderes übrig als der Radikalismus.
Schwerer findet sich Harolds Mutter in diese seine politische
Parteifarbe, die sie mit dem Begriff der Würde nicht vereinbar
hält. Es liegt etwas Erschütterndes in der Tragödie dieser Frau,
die eine Jugendsünde mit lebenslanger Reue und ein kurzes
schuldiges Glück mit unsäglichen Gewissensqualen büßt Als
die Trägerin eines gewaltigen Selbstgerichtes schreitet ihre maje-
stätische Gestalt, in der sich ein verängstetes, gebrochenes Weiber-
herz birgt, durch den Roman, Scheu und Mitieid erweckend.
Die kluge, energische Frau, die ihre Güter selbst verwaltet,
interessiert sich gleichwohl für das Schicksal der Landbewohner
nur insofern, als sie einen Teil ihres eigenen Besitzes ausmachen,
und für die politische Frage nur, insofern sie ihren Sohn berührt
In spezifisch weiblicher Art fehlt ihr der Sinn für das Allgemeine.
— 175 —
Dasselbe gilt von Esther Lyon, dem verwöhnten Prinzeßchen,
das in oberflächlicher Weise für Byron schwärmt und sich einen
eigenen kleinen Kodex über Farben, Stoffe und Manieren zurecht-
gemacht hat, nach dem sie über Dinge und Personen aburteilt.
Allmählich zieht Holts Liebe die im innersten Schacht ihres
Wesens verborgenen Geistes^ und Herzensgaben an das Tages-
licht. Die Augen gehen ihr auf über ihre Selbstsucht; sie
erkennt, daß das beste Leben dasjenige sei, in dem man alles eines
einzigen starken Gefühls wegen tut und erträgt. So geschieht es,
daß sie in dem Augenblick, da die Träume ihrer Kindheit sich
erfüllen und ein Leben voll Glanz und Luxus vor ihr liegt, den
Lockungen einer Zukunft widersteht, die alles Teuerste und
Heiligste ihrer Vergangenheit auslöschen würde, und die innere
Vornehmheit Holts der moralischen Mittelmäßigkeit Transoms
vorzieht, ja in blinder Unterordnung unter Holts Grundsätze auf
den ihr zufallenden Reichtum verzichtet Als Holts Gattin wird
sie, willenlos in seinem Ideenkreise aufgehend, vermutlich auch
ihre Abneigung gegen alles Unfeine und Unschöne überwinden
und ihm eine Gehilfin in seinen philanthropischen Bestrebungen
sein. Aber eigenem Drange und eigener Überzeugung entspringt
ihre Teilnahme am sozialen Leben nicht.
Echtes, selbstloses Mitgefühl mit dem Schicksal des Volkes
hat nur Rufus Lyon, der Dissentistenprediger mit dem goldenen
Gemüt voll kindlicher Einfalt, halb Schwärmer, halb Pedant, kein
scharfer Denker, aber desto überzeugungstreuer. Er sieht in
allem die Hand Gottes, verkündet von der Kanzel, das allgemeine
Wahlrecht sei Gottes Wille, die geheime Abstimmung durch
Zettel aber nicht Er gönnt einem jeden sein Recht, aber nur
das, was ein in Gottergebung ergrauter Mann der Pflicht unter
Recht versteht Die Auflehnung ist ihm das Recht zu einem
höheren Gesetz, nicht zur Gesetzlosigkeit Freiheit darf niemals
auch nur dem Scheine nach Zügellosigkeit werden.
Radikale in der eigentlichen Bedeutung des Wortes sind
diese Gestalten alle nicht mit der einzigen Ausnahme des Arbeiters,
der am Wahltage eine Rede hält Dieser Arbeiter, ein Chartist,
durfte in dem Bilde der Wahlunruhen nicht fehlen. Seine Rede
enthält im wesentlichen die sechs Punkte des von O'Connel
— 176 —
The Peopk^s Charter getauften Programmes der Wdrking Men's
Association: 1. Stimmrecht für alle Männer. 2. Jährliche Parla-
mente. 3. Geheime Abstimmung. 4. Abschaffung der Eigen-
tumsbefähigung ins Parlament. 5. Besoldung der Parlaments-
mitglieder. 6. Teilung des Landes in gleiche Wahlbezirke.
Durch den Arbeiter wird der Kontrast zwischen dem be-
dingten oder vorgeblichen Radikalismus der beiden Helden und
dem echtfarbigen des Chartisten veranschaulicht Er erklärt die
politischen Rechte für das einzige Mittel, seinen Standesgenossen
ihren Menschenanteil am Leben zu verschaffen. An nichts denken
als an Nadelziehen oder Glasblasen und um seinen Lohn feilsdien,
um schließlich seine Kinder zu keinem besseren Lose als dem
eigenen erziehen zu können, sei nur ein Sklavenanteil. Die
größte aller Weltfragen sei, wie einem jeden sein Recht werde,
in den Angelegenheiten, die ihn betreffen, auch selbst zu denken,
zu sprechen und zu handeln. Welche Gewähr hat der arme
Mann, daß die Vornehmen, die die Regierung handhaben, seine
Interessen vertreten werden und nicht nur die eignen? Je ärmer
und elender einer ist - sofern er nur nicht bettelt oder
stiehlt - desto nötiger bedarf er einer Stimme, um seinen Ver-
treter ins Parlament zu schicken, sonst wird gerade der, dem es
am schlechtesten geht, am ehesten vergessen. Die Vornehmen
müssen in die Enge getrieben werden, sie, die eine Religion ge-
schaffen haben, welche den Arbeitern den Himmel gibt und
weiter nichts. Nun wollen die Arbeiter einmal mit ihnen tauschen.
Der radikale Chartist glaubt an keinen liberalen Aristokraten,
aber er stimmt dennoch skrupellos für Transom. Wolle ein
feingeschnitzter, goldknöpfiger Stock einen Besen aus sich machen,
so werde er sich nicht lange besinnen, mit ihm zu kehren.
V.
Nach der Übereinstimmung zu schließen, benützte George
Eliot für die Schilderung der Wahlunruhen neben ihren persön-
lichen Erinnerungen auch den Bericht des Nuneatoner Lokal-
blattes.^) Hier wie dort fällt die Wahl in den Dezember; hier
1) Abgedruckt bei Gross, I, 36.
— 177 —
wie dort sucht eine Partei die andere an der Abgabe der Stimmen
zu hindern; von den Fenstern eines Gasthofes wird — ohne
Erfolg — die Aufruhrakte verlesen; Militär wird requiriert Das
Zeitungsblatt meldet von einigen Offizieren der Scotfs Orey, die
bei ihren Bemühungen, die aufrührerische Menge unschädlich zu
machen, verwundet wurden. In Felix Holt stirbt Thommy Troun-
sem, ein Schutzmann fällt von Holts Hand, und dieser selbst
wird verletzt. Seine demagogische Tätigkeit aber ist erfunden,
so daß der politische Hintergrund, wie der historische in Romola,
nur die Folie abgibt für die individuelle Privatexistenz des Helden.
Denn es gibt kein Leben, das nicht durch die öffentlichen Ver-
hältnisse bestimmt würde, sagt George Eliot; die Persönlichkeit
kann sich von der Gesamtheit nicht unabhängig machen.
Der dem Romane zugrunde gelegte politische Gedanke ist
klar und deutlich der Nachweis, daß das übliche Verfahren un-
berechenbares Unheil und das Bestechungssystem in jeder Hinsicht
die verderblichsten Folgen nach sich ziehe. Die Pariamentsmit-
gliedschaft könne unter solchen Verhältnissen nur von Männern
angestrebt werden, deren Vermögensverhältnisse ihnen ein der-
artiges Buhlen um die Gunst des Volkes gestatten. Die Menge
aber, deren Stimmen durch Bestechung in der Form von Geld,
Getränken und windigen Versprechungen erkauft sind, werde zu
einem unzurechnungsfähigen Werkzeuge in der Hand von Leuten,
die nicht immer den Vorteil des Volkes im Auge haben. Und
schließlich müsse das Volk die Exzesse, zu denen es durch Frei-
trinken und erhitzende Reden verleitet wurde, nachher büßen
und komme so durch die ihm zuerkannte scheinbare Macht-
stellung in jeder Weise zu Schaden.
Der Katzenjammer nach der Wahl ist denn auch in Felix
Holt ganz allgemein. Reform oder Nichtreform ist allen gleich-
gültig, sobald das Militär ausrückt. Harold denkt nach
dem Fehlschlagen der ersten Kandidatur an keine zweite. Ein
Wahlverfahren, bei dem nicht Wähler und Gewählte von dem
hohen Ernst ihrer Mission erfüllt sind, hat nichts vor politischer
Unfreiheit voraus, ja es wirkt mitunter verderblicher als diese.
Das ist es, was George Eliot zeigen will.
In Middlemardi kommt sie noch einmal auf das Wahlthema
Wissenschaftl. Frauenarbeiten. IV. V. Richter, Eliot. ^^
— 178 —
zurück. Dieser Roman spielt etwas früher als Felix Holt, kurz
vor und während der Kämpfe um die Reformbill. Der Kandidat
ist hier der Gutsbesitzer Brooke, ein beschrankter Kopf, dessen
lächerliche Eigenheiten vielleicht von Bradwardine, dem »unleid-
lichen Papa' in Waverl^^ beeinflußt sind. Wie Harold Transom
ermangelt auch Brooke jeder politischen Oberzeugung und koket-
tiert mit Philanthropie und Reform, während er aus Sparsam-
keits- und Bequemlichkeitsgründen auf seinen Gütern keinerlei
alten Übeln abhilft. Sein ganzes politisches Interesse ist nur ein
Steckenpferd, und er fällt bei seinem ersten öffentlichen Auftreten
mit Pauken und Trompeten durch.
Anders steht es um seinen Verbündeten, den exzentrischen,
sensitiven Will Ladislaw. In ihm wird uns ein genialer, für
große Aufgaben begeisterter, dem romantisch Heldenhaften zu-
geneigter Jünglingscharakter vorgeführt, ohne daß wir eine Probe
seiner hohen Begabung oder Klarheit über sein Ziel erhielten.
Er ist ein radikaler Anhänger der politischen Reform, von der
er eine durchgreifende Veränderung im Zustande der Menschheit
erwartet, während der kluge, reife Lydgate, dem die Erfahrung
eines praktisch tätigen Mannes zu Gebote steht, über das Markt-
geschrei einer solchen Universalkur nur die Achsel zuckt Zum
Schlüsse wird Ladislaw dennoch ein »eifriger Staatsmann«, ein
guter Arbeiter in einer Zeit jugendlicher Hoffnungsfreudigkeit,
die George Eliot sehr ähnlich wie in Felix Holt als eine Epoche
fieberhafter Neuerungssucht schildert, die bald zu Enttäuschungen
führte. Ladislaw wird Parlamentsmitglied für eine Wählerschaft,
die die Auslagen seiner Wahl bestreitet, so daß hier jenes Problem,
das in Felix Holt negativ erörtert wurde, in positiver Weise ge-
löst erscheint
Diese Wahl Ladislaws führt ein von J. St Mill in den
Thot^hts on Parliamentary Reform aufgestelltes Ideal als ver-
wirklicht vor. Er hatte hier zu beweisen gesucht, daß es in
einem guten Repräsentativsystem keine vom Kandidaten zu
tragenden Wahlkosten geben könne, die für die Kandidaten eine
Eigentumsbefähigung schlimmster Art bildeten und auf die Wähler
einen demoralisierenden Einfluß hätten. »Erwartet jemand von
seinem Advokaten, daß er für das Recht zahlen werde, ihm seinen
— 179 —
Prozeß zu führen? Oder von seinem Arzte, für die Erlaubnis,
ihn von seiner Krankheit zu heilen? Im Gegenteile, er bezahlt
sie um einen hohen Preis, damit sie sich seiner annehmen.
Würde das Amt eines Parlamentsmi^liedes als eine öffentliche
Pflicht empfunden, glaubte man, daß niemand ein moralisches
Recht habe, diese Pflicht zu einem anderen Zweck auf sich zu
nehmen als um seine Schuldigkeit zu tun - könnte man es dann
wohl einen Augenblick dulden, daß er außer der unentgeltlichen
Erfüllung dieser Pflichten noch eine starke Zahlung leiste für das
Vorrecht, sie auszuüben? Eine solche Sitte ist der sicherste Be-
weis, daß man die Stimme, die man dem Kandidaten gibt, ent-
weder als eine Hilfe zur Erreichung privater Zwecke ansieht oder
zum mindesten als ein Kompliment für seine Eitelkeit, das ihn
zu einer gleichwertigen Leistung verpflichtet.«
Als Qladstone seine Reformbill im Parlament einbrachte,
trat Mill auch für das Wahlrecht der Arbeiter auf, das er für
ein Mittel zur nationalen Erziehung hielt, und griff wie Holt,
aber mit besserem Erfolge, persönlich in die Arbeiterbewegung
ein, um Unheil zu verhüten. Dennoch gibt er in den Thoughts
on Parliamentary Reform zu, »daß der größte oder ein sehr großer
Teil des Volkes in diesem Lande und in andern Ländern für
den politischen Einfluß nicht reif sei; daß er einen schlechten
Gebrauch davon machen würde und daß es vorläufig unmöglich
sei, die Zeit abzusehen, in der man ihm beruhigt einen solchen
Einfluß würde anvertrauen können«.
Von dieser Ansicht, die in einem Kreise führender Geister
die herrschende war, fühlte sich auch George Eliot durchdrungen.
Der vom Vaterhause herstammende ausgeprägt konservative Zug
erhielt sich zeitlebens in ihr lebendig. Selbst 1848 hatte »das
Revolutionsfieber die Normaltemperatur des Konservatismus nur
flüchtig in ihr unterbrochen«. Damals begeisterte sie sich für
die Vorgänge in Frankreich und hätte ein Jahr ihres Lebens dar-
um gegeben, einer jener Barrikadenszenen beizuwohnen, in denen
die Männer sich vor dem Bilde Christi beugten, »der die Menschen
zuerst Brüderlichkeit« gelehrt Aber selbst damals erwartete sie
von einer revolutionären Bewegung in England nichts Gutes.
1864 schrieb sie: »Mich, die ich nicht an die Erlösung durch
12*
— 180 —
geheime Abstimmung glaube, ergötzt es recht, daß das erste
Experiment mit ihr gegen ihre Anhänger ausgefallen ist'
Und 1868 an die Brays: »Es drangt mich, Ihnen zu gratulieren^
daß Sie so wunderbar vernünftig gegen die geheime Stimm-
zettelwahl geschrieben haben. - Es war ein Quell des Staunens
für mich, daß Männer, die das wirkliche Leben kennen, an die
Unterdrückung der Bestechlichkeit durch die geheime Abstimmung
glauben können, als wäre es möglich, daß die Bestechlichkeit
in allen ihren proteischen Gestalten jemals kraft einer einzelnen
äußerlichen Einrichtung verschwände."
VI.
Die politische Reform kann nach George Eliots Meinung
erst in Betracht kommen, wenn ihr die innere Reform des Menschen
vorgearbeitet und ihr in geläuterten Charakteren die entsprechende
Vorbedingung geschaffen hat. Hierzu durch strenge Selbstzucht
wie durch Belehrung und Erziehung des Volkes nach Kräften
das Seine beizutragen, scheint ihr die Aufgabe jedes guten, tüch-
tigen Menschen. Lord Adon findet Felix Holts ganze Politik
in Guizots Worten umschlossen: ifVon dem inneren Zustande des
Menschen hängt der sichtbare Zustand der Gesellschaft ab.«^)
Er leugnet dem chartistischen Arbeiter gegenüber, daß das Stimm-
recht zur Lösung der großen Frage beitragen werde, wie man
jedem einzelnen seinen vollen Menschenanteil am Leben ver--
schaffe. Der politische Umschwung, ob auch wünschenswert und
zu hoffen, komme lange nicht in erster Linie. Er vergleicht die
Wahlentwürfe den Maschinen, die Wasser- oder Dampfkraft, die sie
in Bewegung setzt, aber den Leidenschaften, Gefühlen, Wünschen
des Menschen; von diesen - von der Kraft — hänge es ab, wie
die Maschine arbeite, auf sie richtet der wahre Volksfreund daher
sein erstes Augenmerk. Hebt vor allem das Niveau des Denkens
und Empfindens im Volke, ruft er den Parteiführern zu, erweitert
seinen geistigen Horizont, verfeinert sein Fühlen, gebt ihm die
Macht der Bildung und Selbstbeherrschung — und ihr gebt ihm
den wahren Menschenanteil am Leben. Wenn es keine unwissende^
Oeorge Eliot, Nineteenth Century, Afärz 1855.
— 181 —
brutale Menge mehr gibt, dann erst wird die Stunde gekommen
sein, einzelne politische Veränderungen ins Auge zu fassen.
Holts Ansichten sind zugleich die der Dichterin. Der kon-
servative Liberalismus, die gemäßigte Fortschrittsbestrebung, die
sie kennzeichnen, bilden gewissermaßen die Signatur der Zeit.
So erklärte Macaulay sich in seiner ersten Reformbillrede (2. März
1831) gegen das allgemeine Stimmrecht mit dem Zusätze: seine
Einwendungen wären in dem Augenblick hinfällig, in dem die
englischen Arbeiter sich in der Lage befinden würden, in der er
sie von ganzer Seele zu sehen wünschte. In seiner dritten Rede
(20. September 1831) trat er mit begeisterten Worten für die
Reformbill ein und legte schwungvoll die Ziele und Aufgaben
jeder wahren Regierung dar, begegnete aber zugleich entschieden
der »widersinnigen Erwartung« und »trügerischen Hoffnung«,
daß die arbeitende Klasse von diesem Gesetze eine Erleichterung
ihrer Lage zu gewärtigen habe.
Stuart Mill forderte ein mehrfaches, im Verhältnis zu dem
Bildungsgrade des Wählers stehendes Stimmrecht, so daß der
Grad des politischen Rechtes dem Grade der Erziehung ent-
spreche. Hätte z. B. der gewöhnliche Arbeiter eine Stimme, so
müßte der erfahrene, besser geschulte zwei, der Werkführer drei
Stimmen haben, und so fort nach dem intellektuellen Range des
Wählers. Auf diese Weise würde die Bildung des Volkes zur
Grundlage seiner politischen Freiheit gemacht und jedem Miß-
brauche der letzteren ein Riegel vorgeschoben.*)
Spencer behauptete, die Wohlfahrt der Gesellschaft und die
Gerechtigkeit ihrer Einrichtungen hänge von dem Charakter ihrer
Mitglieder ab. Es gäbe keine politische Alchimie, durch die man
ein goldenes Benehmen aus bleiernen Instinkten erhalte.*) Der-
selben Ansicht im Punkte der Volkserziehung war Carlyle. Die
politische Reform ohne die innere hält auch er für Narrheit
Er sagt: »Wahrlich, eure »Reformbewegung« war mir von jeher
merkwürdig, insofern ein jeder darunter nicht »Reformation« ver-
stand, nicht die wirkliche Besserung seines schlechten Lebens-
*) On Parliamentary Reform, S. 25.
*) Man versus State, S. 326.
— 182 —
wandeis oder des Lebenswandels seines Nachbars (was immer viel
willkommener ist); - kein Gedanke daran, obwohl du meinen
würdest, dies sei eben das Ding, das man bedenken und anstreben
solle - sondern insofern er einfach die Erweiterung des Wahl-
rechtes meinte. Bringt mehr Stimmen ein, das wird die allgemeine
Fäulnis wegschaffen, den Sumpf der Verlogenheit, in dem das
arme England ertrinkt. Laßt England nur genügend wählen,
und alles wird wieder rein und lieblich sein. Eine sonderbare
Schwärmerei, die Reformbewegung, das muß ich sagen !«^)
Ebenso intensiv, wenn auch von einem anderen Standpunkt
aus, begeisterte sich Ruskin für die Volkserziehung. Er wollte
der modernen Chartistenbewegung sein mittelalterlich-romantisches
Ideal aufpfropfen. So entstand 1854 das Working Men's College,
eine christlich -soziale Schule, die Frederick Harrison »die eminent
britische und anglikanische Form der revolutionären Bewegung
in Europa« nennt.*) Arbeitern und Unbemittelten sollte eine
bessere Erziehung und akademische Bildung zuteil werden. 1871
gründete Ruskin die auf einem utopistischen Kooperationsprinzip
basierende Arbeitervereinigung der Quild of St George, Der rote
Faden, der sich durch seine sozialistischen wie seine kunstkritischen
Werke zieht, ist die Lehre, daß nur dem redlichen Charakter
ein gutes, wahrhaft schönes Werk gelinge. Die Erziehung zu
einem tüchtigen Menschen muß daher die Grundlage zu jeder
fachlichen Ausbildung legen, wenn anders diese ein befriedigendes
Ergebnis liefern soll. Faulen Verhältnissen kann keine Kunstblüte,
noch ein erfreulicher sozialer Zustand entspringen.
Dieselben Ansichten über Volkserziehung als das nächste
und wichtigste Ziel der Reform finden wir bei George Eliots
Kollegen auf dem Gebiete des Romans. Obwohl Scott einer
früheren Epoche angehört und zur Zeit der Reformbewegung alt,
krank und durch persönliche Schicksale gedrückt, nicht mehr
die Elastizität besaß, der neuen Strömung gerecht zu werden,
stimmen manche seiner Äußerungen über das Wahlrecht doch
merkwürdig mit den Ansichten George Eliots überein. So
1) Shooting Niagara: and after? (1867).
») John Ruskin, London, Macmillan, 1902.
— 183 —
schrieb er 1818:^) »Besitz, Sittlichkeit, Erziehung sind die
wahren Eigenschaften jener, welche politische Rechte innehaben
sollten, und dehnt man diese sehr weit aus, so verringert man
bei weitem die Aussicht, jene Eigenschaften in den Wählern
zu finden.« 1831 sagt er in einem Briefe an H. F. Scott:
»Die Zahl der Wähler vermehren heißt nicht, sie mit mehr
Urteil für die Wahl eines Kandidaten ausstatten, noch sie weniger
käuflich machen, wenn es auch ihren Preis herabsetzen kann.«
In Thackeray, Dickens und Bulwer tritt das Interesse an der
Politik in auffallender Weise gegen das für die Volkserziehung
zurück. Thackerays Kandidatur (1857) und sein Versprechen,
für die geheime Wahl zu stimmen, war mehr eine äußerliche
Formalität als die Folge eines inneren Dranges, sich im öffent-
lichen Leben zu betätigen, und die allgemeinen politischen Zu-
stände spielen in seinen Werken keine Rolle. In sozialer Hinsicht
aber wird er ein Lehrer und Vorkämpfer durch seine leiden-
schaftliche, schonungslose Fehde gegen jede Art des Snobbismus,
durch sein energisches Bloßlegen der Verflachung und Ver-
sumpfung des Charakters, die eine Folge der Kulturlosigkeit in
breiten Schichten des Volkes sind.
Dickens ließ die Politik zeit seines Lebens kalt, er lehnte eine
Wahl ins Parlament von vornherein ab, während er für praktische
soziale Reformen stets bereit war, das ganze Gewicht seiner Per-
sönlichkeit in die Wagschale zu werfen.^)
Bulwer war in seiner parlamentarischen Laufbahn ein Freund
Disraelis, begann als Liberaler und machte die übliche Schwenkung
zum Konservatismus durch. Disraeli kandidierte, wie Bulwer,
zweimal als äußerster Reformer, aber vergeblich, und drang das
drittemal als Konservativer durch. Unter den politischen Be-
kenntnissen der Romanschriftsteller fallen die seinen natürlich am
schwersten ins Gewicht. In Sibyl fragt er: Hat die Reformbill
einen bedeutenden und wohltuenden Einfluß auf das Land gehabt?
Hat sie das Niveau des öffentlichen Geistes gehoben? Hat sie
das Gefühl des Volkes für edle und veredelnde Ziele ausgebildet?
Lockhart, S. 734.
») Vgl. Forster, III, 56; VI, 193.
— 184 —
Er kann diese Fragen nicht bejahen, aber er gibt zu, daß die
Reformbill indirekt durch die Erweiterung des Erfahrungs- und
Gedanken -Horizontes einen beträchtlichen Einfluß geübt habe.
Coningsby, mit dem Disraeli sich selbst identifiziert, sagt: ifWenn
das Volk, welches das Parlament wählt, korrupt ist, so wird ihm
die gewählte Körperschaft gleichen. Das Volk, das korrupt ist,
verdient zu fallen. Aber dies zeigt nur, das es etwas außer der
Regierungsform zu erwägen gilt: den Volkscharakter. Hierauf
sollten wir unsere Hoffnungen hauptsächlich gründen. Wird ein
Volk angeleitet, Gutes und Großes anzustreben, so entspricht -
verlassen Sie sich darauf - die Regierung, was immer ihre Form
sein mag, seinen Überzeugungen und Empfindungen.«
Der führende Gedanke, in dem alle diese Geister von sonst
so verschiedener Komplexion zusammentreffen, ist: nicht durch
politische Reform zur Charakterreform, sondern umgekehrt durch
Hebung des geistigen Zustandes Verbesserung der politischen
Lage. So ist auch George Eliot durchaus gleichgültig gegen
diese oder jene Verfassungsform; das, worauf es ihr allein an-
kommt, ist die Anleitung des Volkes, daß es zum Großen und
Guten hinanstrebe.
Der Verwirklichung dieses Zieles sucht Holt näher zu kommen,
indem er die Arbeiter vom Trünke abzuhalten und für eine
bessere Erziehung ihrer Kinder zu gewinnen trachtet Dem Volke
soll geholfen werden, indem man es Selbsthilfe lehrt In diesem
Punkte unterscheidet sich George Eliot merklich von dem libe-
ralen Torysmus ihrer Kollegen. Nicht allein Scott mit seinen
feudalen Grundsätzen sieht in dem Adeligen von echtem Schrot
und Korn den Segen, das Vorbild, die Stütze der Menge, die
von seiner wohlwollenden Herablassung Schutz und Führung und
das tägliche Brot empfängt. Auch die Liberalen stehen dem
Volke gegenüber auf dem Noblesse -Oblige- Standpunkt Die
Aristokratie des Geistes wie des Blutes - bei dem wahren Aristo-
kraten geht beides Hand in Hand - legt Verpflichtungen gegen
den niedriger Gestellten auf. Dickens ermahnte in seinen Reden
über Erziehung (Birmingham und Liverpool 1844) die Gebildeten,
das Glück des besseren Unterrichts, das ihnen zuteil geworden,
auf alle weniger Bevorzugten nach Kräften zu übertragen. Bei
— 185 —
Disraeli wurde die führende und verantwortungsvolle Rolle, die
er dem Adel zuweist, ein Schlagwort seiner Politik. Die wahre
Aristokratie, sagt er, tut etwas für ihre Privilegien; ja, sie leistet
unendlich mehr, als sie empfängt. Die Mitglieder des Jungen
Erstand, Disraeli und seine adeligen Gesinnungsgenossen, wollten
keine Tyrannen sein, sondern die natürlichen verantwortlichen
Führer des Volkes, das für sich allein niemals stark sein kann.
George Eliot war keine Anhängerin des Jungen England.
Sie schreibt 1848, es liege ihr fast so fern wie der Jakobinismus,
obgleich sie seine Bemühungen zugunsten des Volkes anerkenne.
Sie fühlte sich zu sehr als Tochter des Volkes, um seine Er-
hebung und Befreiung wie ein Almosen aus den Händen des
Adels empfangen zu wollen, und näherte sich hierin Spencers An-
sicht, daß der Liberalismus unter dem Vorwande des Volksschutzes
und der Volksbeglückung die wahre Freiheit fast ebenso schädige
wie der Torysmus.^)
So ist auch Holt voll Standesgefühl, voll Arbeiterstolz. Er
gehört dem Arbeiterstande in doppelter Hinsicht an: durch die
Geburt und durch die freie Wahl. Er hätte Arzt werden sollen
und hat sich für die Uhrmächerei entschieden. George Eliot
scheint erst in dieser zweifachen Zugehörigkeit die wahre Ge-
meinschaft zu erblicken; so ist auch Daniel Deronda Jude von
Geburt und aus freier Entschließung. Vielleicht hätte Holt als
Arzt mehr für das Volk leisten können wie als Uhrmachergehilfe.
Aber seine Tätigkeit wäre leicht gönnerhaft geworden, sie wäre
im besten Falle philanthropische Hilfsbereitschaft gewesen. Das
tief innere Verständnis hätte gefehlt, das nur gleich und gleich
für einander hat; der schlichte Eifer, mit dem der Redliche für
das Wohl der andern eintritt, das zugleich sein eigenes fördert.
Er ist davon durchdrungen, daß das Volk keinen anderen Freund
habe als sich selbst, daß das Los des Handwerkers ein gutes,
ehrenwertes sei, und daß die wahre Würde und das wahre Glück
des Menschen nicht von seinem äußeren Range, sondern von seiner
inneren Gediegenheit abhänge.
Holts Streben geht dahin, die arbeitende Majorität zu heben,
*) Man versus State.
— 186 —
zu läutern, ohne daß sie ihre soziale Stellung aufgebe. Comte
und Stuart Mill verfolgten denselben Gedanken; ja, Mill hatte
schon 1845 den Arbeitern ans Herz gelegt,^) keine Verbesserung
ihrer Lage anzustreben, indem sie »in der Welt emporzukommen«
und ihrem Stande zu entschlüpfen trachten, sondern vielmehr
ihren Zustand zu heben, indem sie dem Stande selbst zu einer
höheren Stufe des Gedeihens und der Selbstachtung verhülfen.
Durch und durch impulsiv, wie Holt ist, übertreibt er sein
Pochen auf die Würde des Arbeiterstandes bis zur Gering-
schätzung und Verdächtigung der höheren Klassen. Die Leute
in Amt und Stellung sind ihm »die Grimassen schneidende Bande,
die Visitenkarten hat und unter der jeder einzelne stolz ist, wenn
man ihn für reicher hält als seinen Nachbar.« Er sei Arbeiter
geworden, weil er kein gewinnsüchtiger Geschäftsmann sein wollte,
der um seines Vorteils willen lügt und heuchelt und der Unehr-
lichkeit gegenüber ein Auge zudrückt. Daß nicht alle, die einen
Beruf ausüben, Geschäftsleute sind, und daß es auch unter diesen
ehrliche und anständige Menschen geben kann, kommt für Holt
offenbar nicht in Betracht. Seine Überschwenglichkeit verleitet
ihn zu einem gewissen Kokettieren mit derber Formlosigkeit als
Parteiabzeichen. Für ihn wird alles Herzenssache, so auch seine
Volksführerschaft Er will ein Demagoge von neuem Schlage
sein: ein ehrlicher Freund der Menge. Fühlt er ihre Not und
Drangsal auch noch so innig mit, muß er ihr gleichwohl sagen,
daß sie blind und töricht sei. Darum hat Holt trotz all seiner
Aufopferung doch wenig Anhang im Volke. Der Pöbel empfindet
den Abstand seiner inneren Vornehmheit und wirft ihm Bildungs-
dünkel vor. Im entscheidenden Augenblick versagt seine Autorität,
und man sieht schließlich das Mißlingen seiner Tätigkeit nicht
ohne Schadenfreude.
Der Grund dieses Mißlingens liegt auf der Hand. Holt
ist nichts weniger als ein praktischer, weltkluger Kopf; er ist
nicht geschickt, handelnd in die Verhältnisse einzugreifen. Ein
Schwärmer, ein Idealist, mehr Redner als Mann der Tat, kommt
er nicht darüber hinweg, daß seine Parteigenossen nicht besser
*) Die Rechtsansprüche der Arbeit, Edinb. Rev., April 1845.
— 187 —
sind als die Gegner; daß die Heuchelei unter der Flagge der
Reform segelt und die Habgier oder das persönliche Interesse
sich als Liberalismus aufspielt. Mit religiöser Inbrunst strebt er
die innere Reform an, die nicht Revolution, sondern Evolution
sein soll, nicht der zerstörungslustigen Geringschätzung alles Vor-
handenen entspringt, sondern der verehrungsvollen Sehnsucht
nach einem hohen Ideale. George Eliot legt einem Phrenologen
das treffende Wort in den Mund: Das Übermaß seines Idealismus,
dem nichts auf Erden genüge, mache ihn zum Bilderstürmer.
Wie alle Eliotschen Helden, die an dem Denken und
Empfinden der Dichterin teilhaben, ist Holt ein Apostel der
Nächstenliebe, der Selbstentäußerung und Pflichterfüllung im
positivistischen Sinne, Und in dem unverbrüchlichen Festhalten
an dieser seiner Überzeugung in allen Wechselfällen des Lebens
zeigt er sich in der Tat als Radikaler von echtem Schrot und
Korn. Er stellt sich an die Spitze des Pöbels mit Außeracht-
lassung der persönlichen Sicherheit, des persönlichen Ansehens,
im vollen Bewußtsein seiner zweideutigen Lage - weil er glaubt,
der Gesamtheit damit nützen zu können. Trotz aller Bitternis
und Enttäuschung, die er erfahren, ist er, als er den Kerker ver-
läßt, derselbe schlichte Freund des Volkes wie früher. Ja, er
hält selbst jener höchsten Versuchung stand, die in der Gestalt
des seinem Herzen teuren Weibes an ihn herantritt, um ihn zu
dem Behagen eines verfeinerten Lebens hinüberzulocken.
Holts radikaler Idealismus ist nicht ohne einen Anflug von
asketischer Barfüßerbegeisterung. Esther sagt, man könnte ebenso
gut Johannes dem Täufer eine Stellung anbieten als ihm. Er
selbst nennt die Armut seine Braut, das Predigen und Erziehen
seinen Beruf. Und eine Predigt ist in der Tat jene Adresse an
die Arbeiter, in der George Eliot Holts Lehre für das Volk,
konzentrierter und absichtsvoller zugespitzt als im Romane, zu-
sammengefaßt hat Eine Predigt, von hohem ethischen Pathos
getragen und von wahrhaft philanthropischer Begeisterung durch-
glüht. George Eliots sozialistische Anschauungen gehen im wesent-
lichen auf Comte zurück. Daher kommt es, daß zwischen Holts
Forderungen und denen Shelleys in der Irischen Adresse eine so
auffallende, selbst bis ins einzelne gehende Übereinstimmung
— 188 —
besteht. Denn Shelleys Grundsätze wurden von Comte auf-
genommen. Shelley hatte ein stärkeres Gewicht auf die Pflichten
als auf die Rechte der Freiheit gelegt und der Positivismus dann
geradezu die sozialen Pflichten an die Stelle der Rechte gesetzt.
So appelliert Holt in erster Linie an das Pfichtgefühl und emp-
findet das Wahlrecht nur als eine schwere Verantwortung. Ein
wenig mag er in seiner sozialen Ethik auch von Mazzini beein-
flußt sein, mit dem George Eliot während seines Londoner Exils
in persönliche Berührung kam. Mazzini sagte: Das Leben ist
eine Mission und die Pflicht sein höchstes Gesetz.^)
Holt bekämpft den Egoismus ganzer Gesellschaftsklassen
wie den des Individuums. In einem wohlgeordneten Gemeinwesen
hat die eine den Vorteil der andern im Auge; der Altruismus
des einzelnen steigert sich zum Altruismus der Partei; alle
nehmen aufeinander Rücksicht, stützen und fördern einander
durch gemeinsames Vorgehen. Das Aufgehen des einzelnen in
der Gesamtheit fordert Holt strenger als selbst Comte, der zugab,
daß der Begriff des allgemeinen Interesses ohne Einzelinteresse
nicht verständlich wäre, und daß das soziale Gefühl durch die
völlige Unterdrückung der eigenen Interessen in eine unbestimmte
und unfruchtbare Nächstenliebe ausarten würde.
Jedes gewaltsame Vorgehen widerrät Holt aufs entschiedenste.
George Eliot selbst war eine so abgesagte Gegnerin revolutio-
närer Maßregeln, daß sie z. B., trotz ihrer Verehrung für Mazzini,
dem Florentiner Komitee einen Beitrag zum Mazzini -Fond ab-
schlug, weil es ihr nicht ausgeschlossen schien, daß das Geld
zu Insurrektionszwecken verwendet würde, und es sie »ein Ver-
brechen dünkt, eine Verschwörung auch nur durch die Regung des
kleinen Fingers zu fördern« (an Mrs. Taylor, Aug. 1865).
So ist denn auch Holts ganzes Streben dahin gerichtet,
entschlossen der Bedrückung zu widerstehen, aber dabei den
Sinn für Ordnung und ein Herz für die Gerechtigkeit zu be-
wahren; nicht den Verstand zu verlieren; das Tier in der
Menschenbrust nicht zu wecken. Die großen Veränderungen,
die bevorstehen, werden nicht rasch durch ein unüberlegtes Weg-
») Note Autobiografiche, S. 124.
— 189 —
fegen des Bestehenden kommen. Das richtigste Verständnis
haben jene für sie bekundet, die in stillem Heroismus duldeten.
Wer hörte hier nicht Shelleys: widerstehet fest, aber ruhig! Wie
er den Iren bewies, daß sie das notwendige Fundament der
Freiheit in nüchternen, regelmäßigen, vernünftigen Lebensgewohn-
heiten legen müßten, so erklärt Holt die Bildung, Tüchtigkeit
und Ehrbarkeit des einzelnen für die Grundlage der allgemeinen
Wohlfahrt und jedes dauernden Vorteils. Doch auch der Posi-
tivismus predigt ähnliches: »Als eine Form der Anbetung ist er
einfach: ein rechtschaffenes Leben, beherrscht durch das Humanitäts-
gefühl,« sagt Frederick Harrison. »Als eine Art Religion be-
deutet er nichts denn eine Religion der Pflicht - Das Wissen
gilt als entscheidend, um Mann und Frau zur Erfüllung der
ihnen zugewiesenen Dienstleistungen für die Menschheit zu
erziehen.«^)
Shelleys - und Mazzinis ~ freudige und unbedingte
Siegeszuversicht teilt hingegen Holt nicht, weil George Eliot sie
nicht teilte. Sie glaubte an den Fortschritt, aber er bedeutete
für sie ein langsames, mühevolles Emporklimmen Stufe für Stufe,
und für die absehbare Zukunft schien es ihr nicht zu umgehen,
daß der Mensch lerne, sich in jeder Weise zu bescheiden. Auch
Comte spricht von gewissen unheilbaren Übeln, denen gegen-
über eine weise Entsagung die beste Zuflucht sei. Holt aber
faßt den Begriff der Resignation viel weiter. Die Aufgabe der
Weisheit im praktischen Leben sei nicht zu sagen: Dies ist gut^
ich will es haben! Sondern: dies ist das geringere von zwei
unvermeidlichen Übeln, und ich will es tragen. So tritt uns
hier auch auf das Völkerleben angewandt, jene Entsagung ent-
gegen, die George Eliot im Leben des einzelnen für die Blüte
oder vielmehr die Reife des menschlichen Geistes hielt
VIL
Sehen wir uns nun die Mittel und Wege an, durch die Holt
sein Ideal der Volksverbesserung und Volksbeglückung zu ver-
wirklichen sucht, so steht uns eine gewaltige Enttäuschung bevor.
Nindeenth Centmy, Mai 1902.
— 190 —
Auf den ersten Blick scheint es fast, als täte er überhaupt nichts.
Oder ist es seinen gewaltigen Plänen gegenüber nicht pygmäen-
haft kleinlich und kläglich, wenn seine Tätigkeit sich darauf be-
schränkt, einige arme Kinder zu unterrichten und im Wirtshause,
seiner »Akadamie«, den Arbeitern unvermerkt beim Bier bessere
Grundsätze und ein etwas klareres Verständnis der Sachlage
beizubringen ? Zum Schluß erfahren wir noch von einer Volks-
bibliothek, die er angelegt hat Das ist alles. Freilich schließt
Felix Holt wie Coningsby mit dem Beginn der eigentlichen Lauf-
bahn des Helden; aber wir sehen in jene nicht voll und zuver-
sichtlich wie in diese. Disraeli entläßt seinen Leser vollkommen
überzeugt von der bevorstehenden glänzenden Laufbahn Coningsbys.
In FeUx Holt geht der Vorhang nieder, ohne daß die zukünftige
Tätigkeit des Helden auch nur angedeutet würde. Wir erfahren
lediglich, daß er seinem Armutsgelöbnisse treu bleibt, und wie wir
ihn kennen gelernt, legen wir das Buch in dem Glauben aus
der Hand, daß er es auch bei der bisherigen, allzu dürftigen
Betätigung seiner Ideale zeitlebens werde bewenden lassen.
Es ist kaum anzunehmen, daß George Eliot das Miß-
verhältnis zwischen Holts Aufgabe und ihrer Verwirklichung nicht
empfunden haben sollte. Man geht unwillkürlich einer ver-
borgenen Absicht nach. Wäre Holts Lehrerberuf symbolisch ge-
meint? Wäre unter seiner Fürsorge für den Waisenknaben Job
Tudge die Heranbildung einer neuen Generation zu verstehen
und unter seinem Kannegießern im Wirtshause die Verbreitung
von Licht und Aufklärung im Volke? Wer mit George Eliots
Schaffen einigermaßen vertraut ist, wird eine solche ihrer ganzen
künstlerischen Eigenart widersprechende Absicht nicht in dem
Werke suchen. Vielmehr dürfte sie gerade der en^egengesetzte
Gedanke geleitet haben. Nicht der Hinweis auf himmelhohe
Ziele in nebelhaft ungewissen Femen lag ihr am Herzen, son-
dern vielmehr die oft wiederholte Mahnung an das Nahe- und
Nächstliegende, was not tue. Eine festumschriebene Wirksamkeit,
und wäre sie die kleinste in den engsten Grenzen, scheint ihr
wertvoller als das unsichere Umhertasten zwischen, großen
Möglichkeiten nach unerreichbaren Gipfelpunkten.
Es ist eine jener Lieblingsanschauungen, die George Eliot
— 191 —
dem schlicliten und doch so selbstbewußten Kreise des Vater-
hauses verdankt, daß die Lebensarbeit, die fernab von dem Ge-
triebe und der Anerkennung der Welt in ihrer kleinen Sphäre
ihr Genügen findet, an sich wertvoller und schöner, ja segens-
reicher sei als das Schalten und Walten in Ämtern und Würden.
In dem stillen Winkel, wo mit der Möglichkeit auch der Wunsch
verschwindet, sich hervorzutun, wird die Sache um ihrer selbst
willen getan oder gemieden. Alle persönlichen Motive, alle
äußerlichen Rücksichten fallen weg. Das ist es, was einem
integren Charakter wie Holt, der für alles weltliche Blendwerk
kein Auge hat, als einzig lockendes Glück erscheinen muß. Das
Wesentliche ist für ihn nicht, was einer tut, sondern wie er es
tut. Sich mit Geringem begnügen, bedeutet für ihn kein Scheitern,
und dieses Geringe mit dem Einsätze und Nachdruck einer
starken Persönlichkeit tun, gilt ihm rühmlicher als Größeres halb
oder unvollkommen tun. Er selbst sagt, er hielte denjenigen für
den prächtigsten Menschen, der sich freuen könnte, gelebt zu
haben, weil er irgend jemandem geholfen, der dessen bedurfte.
Ein einziges Los gemildert zu haben, dünkt George Eliot der
befriedigende, ja der über alles wünschenswerte Ertrag eines
Lebens voll ernsten WoUens und redlichen Mühens.
Die Verherrlichung der engumgrenzten Wirksamkeit im
kleinen Kreise ist einer jener vielen Punkte, in denen George
Eliot ihr Geschlecht sprechen läßt. Andererseits kann dieses
Betonen des Glückes in der Beschränkung auch ein Goethescher
Zug genannt werden, und das Ende von Felix Holt erinnert
gewissermaßen an Wilhelm Meisters Einlaufen in den Hafen des
schlichten Berufes eines Wundarztes. Holts Ziel, das Lehramt,
stand in den Augen der Dichterin sehr hoch. Sie schrieb
an Prof. Kaufmann in Budapest (Okt. 1877): »Persönlich die
Jugend unterrichten, erschien mir stets als der befriedigendste
Ersatz dafür, die Welt durch Bücher zu unterrichten, und ich
habe mir oft die Möglichkeit gewünscht, solche frische, lebendige,
geistige Kinder in meinem Gesichtskreise zu haben.«
Indirekt aber gibt George Eliot, indem sie Holts Tätigkeit
im Sande verlaufen läßt, dieselbe Lehre, die Kingsley in seiner
an die englische Arbeiterschaft gerichteten Vorrede zu AUon Locke
— 192 —
in die Worte faßt: »fWenn die Arbeiter geeignet sein werden,
ihren Anteil an der Regierung zu nehmen, werden alle Mächte
der Erde sie nicht hindern können, es zu tun. Bis dahin ist
der Mann glücklich, der die Pflicht erfüllt, die ihm zunächst liegt;
der seine Kinder erzieht, seine Standesgenossen liebt, sein Tage-
werk tut Qott und seinem Vaterlande, nicht nur sich und seinen
Arbeitgebern gegenüber. Denn nur wer treu ist über wenige
Dinge, wird Herr werden über viele und wird, wenn er es ist,
glücklich sein.«
Indes ist diese Zeit der parlamentarischen Reife und geistigen
Überlegenheit keineswegs das, was George Eliot mit besonderer
Sehnsucht für die kleinen Landleute erstrebt. Ja, sie sind ihr fast
lieber so, wie sie sind. Sie hat eine ausgesprochene Vorliebe
für schlichte idyllische Verhältnisse, und eine ebenso ausgesprochene
Abneigung gegen alles, was an Großmannssucht streifen könnte.
Daher mag es auch kommen, daß wir gerade unter ihren Volks-
typen viele ihrer Meistergestalten treffen.
VIII.
So führt sie uns in Adam Bede, Silas Marner und
Caleb Garth Arbeiter der guten alten Zeit vor, Männer, die
zufrieden oder eingeschüchtert, ohne zu räsonnieren, da stehen
bleiben, wo Gott sie hingestellt. Adam ist ein gesunder, ener-
gischer, selbstsicherer Charakter, dessen Lieblingsspruch lautet:
Gott hilft denen, die sich selbst helfen. Ein wenig gleicht er
seinem Hunde Gyp, der mitunter auffährt, dann aber die Hand
dessen leckt, den er angebellt hat. Er lebt mit sich und seinem
Gott in Frieden, klug, aber keiner Art von Grübelei ergeben,
tüchtig, rechtschaffen, ein Arbeiter, der sich lieber die Hand zer-
rackerte als einen versprochenen Gegenstand nicht pünktlich ab-
lieferte. Er ist nicht ohne eigenes Urteil, nicht ohne gehöriges
Maß Arbeiterstolz; aber etwas anderes zu wünschen als daß er
unter einem guten, achtbaren Herrn diene, kommt ihm nicht in
den Sinn. Ja, dieses Dienstverhältnis bietet seinem tief einge-
wurzelten kindlichen Drange nach Liebe und Verehrung die
beste Befriedigung. Er ist mit Leib und Seele Arbeiter. Sein
ganzer Ehrgeiz richtet sich nur darauf, ein tadelloser Arbeiter zu
— 193 —
sein. Ober seinen Stand hinaus möchte er nicht Die Rang-
unterschiede der Gesellschaftsordnung dünken ihn so selbstver-
ständlich wie die Naturgesetze. Er findet an der dem sozial
Höhergestellten gebührenden Respektbezeugung sogar eine ge-
wisse Freude. Das Wort Edelmann hat einen Zauber für ihn.
Er gehört einer Zeit an, »in der man ein Philosoph oder ein
Proletarier sein mußte, um demokratische Ansichten zu haben«.
Und Adam ist beides nicht. Sein Sinnen und Trachten
geht auf in der täglichen Arbeit. Mit der Revolution verbindet
er eine unklare Vorstellung des abschreckenden Gebarens ver-
schrobener Köpfe oder meuterischer Hungerleider. Daß an-
ständige und vernünftige Menschen auf gesetzlicher Basis eine
annähernde Ausgleichung der sozialen Unterschiede anstreben
könnten, ahnt er nicht.
Auf demselben Standpunkt steht Silas Marner, der einsame,
von kataleptischen Anfällen heimgesuchte, vorzeitig gealterte und
vergrämte Weber von Raveloe. Er gleicht einem spinnenden
Insekt, das nach nichts fragt, was in der Welt vorgeht, bis das
Kind, das sich in seine Hütte verläuft, sein scheintotes Herz zu
neuem Leben erweckt. Er zieht das kleine Mädchen auf; sie ist
durch sechzehn Jahre sein tägliches Glück, sein Alles. Da tritt
plötzlich der Gutsherr Cass, ihr unbekannter Vater, vor ihn mit
dem Anerbieten, sie zu sich zu nehmen. Und der zu Tode er-
schrockene Silas findet kein Wort der Weigerung. Er hat einen
so hohen Begriff vor dem Leben der Reichen und einen soldieti
Respekt vor dem vornehmen Herrn, er fürchtet so sehr, dem
Glück seiner Eppie im Wege zu sein, daß er keine. Widerrede
wagt Cass muß erst das Geheimnis seiner Vatersdiaft entfafillen,
damit in dem gedrückten Weber ein Gefühl seines natürlichen
Rechtes auf das Kind dem unnatürlichen Valer g^enüber auf-
walle und sich in einem freien Worte Luft mache. Aber M^e
zahm, wie ganz innerhalb der Schranken des Erlaubten ist nach
mockmen Begriffen auch dieses Bestehen auf seinem Rechte!
Der dritte von George Eliots kernfesten Vertretern der
guten alten Zeit ist der Gutsverwalter wid Baumakler Caleb Garth
(Middlemardi). Es geht ihm knapp mit seiner zahlreich^)
Familie. Doch das Geld hat für ihn kdnen Wert^ wie fühlbar
Wissenscham. Frauenarbeiten. IV. V. Richter, Eliot. ^^
— 194 —
sich auch mitunter srin Mangel macht Das kleine, unbedeutende
Geschäft ist für Caleb das widitigste auf der Welt, der Inhalt
und Schatz seines Lebens. Er mödite es mit kdner anderen
Stellung vertauschen, er ist mit B^;eisterung und Liebe dabei;
er hat einen eigenen Ton der Andacht, mit dem er das Wort
vOeschäft' ausspricht Ein gut entworfener, solider Bau flöBt
ihm die größte Aditung ein und ist ihm lieber als ein Vermögen.
Den Fürsten der Finsternis stellt er sich unter dem Bilde eines
nachlässigen Arbeiters vor. Caleb ist die Schlichtheit und Be-
scheidenheit in Person, so wohlwollend gegen andere als streng
g^en sich selbst — ein kräftig ausgeprägter Charakter, der sich
aus »einer ehrerbietigen Sede und einem scharfen Verstände«
zusammensetzt Ober den engsten Kreis der persönlichen In-
teressen geht sein Blick gleichwohl nicht hinaus. Seine Gedanken
schweifen nicht weiter als die ihn unmittelbar betreffenden Vor-
fälle des Tages reichen; außer seinem Geschäft und seiner
Familie gibt es nichts für ihn. Wir hören von dem klugen
Caleb kein Wort über die Reformbewegung, die doch auch in
Middlemarch ihre Wellen schlägt, und wir haben ihn zu gut
kennen gelernt, um nicht zu wissen, daß ihm die politischen
Neuerungen, sobald sie aufhören, ihn gleichgültig zu lassen, nur
zuwider sein können.
Diesen und vielen anderen vorrevolutionären Arbeitertypen
stehen in Felix Holt die Arbeiter aus einer Epoche des Um-
schwunges im sozialen Leben gegenüber, doch so, daß sie alle
noch mehr der abgelaufenen als der anbrechenden Periode an-
gehören. .Den modernen Arbeiter, der in zielbewußtem, hartem
Ringen, wenn es not tut, beide Fäuste braucht, um sich seine
Selbständigkeit zu ertrotzen, suchen wir bei George Eliot ver-
geblich. Und doch wurde seine Gestalt schon vor Feüx Holt
in die englische Literatur eingeführt In Hard Times (1859)
hatte Dickens den Arbeiter geschildert, den uns George Eliot
schuldig bleibt Blackpool ist ein Charakter von der Schlichtheit,
Ehrfurcht und biederen Qemütstiefe eines Adam Bede. Er wünscht
den Großen nichts Schlechtes, er möchte nur, daß das Recht
gleich sei für Arme und Reiche. Die Augen sind ihm auf-
gegangen über die traurige Lage der Arbeiter, doch Mittel und
— 195 —
Wege, wie man aus dem Elend hinauskomme, sind ihm ver-
borgen; er sieht nur den großen Wirrwarr ringsum. Er fühlt
nur, daß er sich nicht selbst zu helfen vermag, daß die Rettung
von jenen ausgehen müsse, die über ihm stehen. Der Roman
klingt in melancholische Resignation aus: nicht auf Erden, son-
dern im Tode winkt dem Armen die Hoffnung auf Gerechtigkeit
und Ruhe, zu den Füßen seines Erlösers, zu dem er eingeht
durch Demut, durch Leiden und Vergeben.
Das Gegenstück zu Blackpool hatte noch früher (1848)
Mrs. Gaskell in John Barton geschaffen: den zertretenen Ent-
erbten, der flucht und wütet und tötet. Die erfolglose Chartisten-
bewegung hat ihn um seine Arbeit gebracht; er verfällt dem
Elend, der Grübelei, der Verzweiflung, dem Verbrechen. Die
junge, kräftige Generation aber wandert aus und gründet in
Amerika ein neues Heim.
Auch George Eliots ältere Freundin Harriet Martineau nahm
- allerdings mit mehr Einsicht für die sozialen Zeitforderungen
als künstlerischer Gestaltungskraft — im Manchester Strike einen
Anlauf, das Prototyp des wackeren, redlichen Arbeiters zu zeichnen,
der die Interessen der Arbeiterschaft mannhaft und maßvoll gegen
den Arbeitgeber Wentworth verteidigt Gleichzeitig aber trieb
sie ihre Unparteilichkeit, in Wentworth einen Ehrenmann zu
schildern, so daß sich der ganze Roman als eine Verkörperung
der Mahnung repräsentiert, die feindlichen Lager sollten sich ver-
söhnen und allesamt auf ihre tüchtigen Männer stolz sein.
Noch einen Schritt weiter ging Kingsley mit seinem Alton
Locke (1849), dem dichtenden Schneidergesellen mit dem unbe-
zwingbaren Freiheitsdrange und dem Haß auf alle Bildungs- und
Geburtsaristokratie. Er will, daß die seit Jahrhunderten geheiligte
Kluft zwischen Mensch und Mensch aufhöre, daß die Kasten-
unterschiede verschwänden. »Ist es das Gesetz der Zivilisation,
daß der Reiche den Armen auffrißt und die Armen sich unter-
einander fressen, so sei dieses Gesetz, diese Zivilisation verflucht!«
sagt Alton Locke. »Entweder will ich sie vernichten, oder sie
sollen mich zermalmen!« Aber Alton Lockes äußere Schicksale
bilden in vielen Punkten eine Parallele zu denen Holts; und
selbst das moralische Ergebnis seines Lebens läuft schließlich auf
13*
— 196 —
Holtsche Prinzipien hinaus. Als die Chartistenbewegung ge-
scheitert ist und Locke, krank und gebrochen, mit dem Leben
abgeschlossen hat, erwidert er auf die Frage: ob er noch Chartist
sei: »Wenn Sie unter einem Chartisten jemanden verstehen, der
glaubt, ein Wandel rein politischer Verhältnisse werde ein Mil-
lennium herbeiführen, so bin ich keiner mehr. Der Traum ist
mit anderen verflogen. Aber wenn Chartist sein heißt: meine
Brüder mit ganzer Seele lieben, wünschen, im Kampfe für ihre
Rechte zu leben und zu sterben, indem ich sie nicht nur zu
Wählern, sondern geeignet mache, Wähler, Senatoren, Könige
und Priester Gottes und Christi zu sein - wenn dies der Chartis-
mus der Zukunft ist, dann bin ich ein siebenfacher Chartist und
bereit, es vor den Menschen zu bekennen, würde ich gleich zu
jeder Türe in England hinausgeworfen.«
Radikaler als Alton Locke sind die Arbeitertypen, die sich
in Disraelis Sibyl in düsterer Plastik von dem grauen Hinter-
grunde des Volkselends abheben, die grimmigen Aristokraten-
hasser und streikenden Handwerker mit der Parole: anständiger
Tagelohn für anständige Arbeit!
IX.
Immerhin aber gehört ein so starkes Echo der großen
sozialen Umwälzung in der englischen Romandichtung zu den
Ausnahmen. Im großen und ganzen herrscht die Versöhnungs-
politik. Selbst in Sibyl, wo sich Arme und Reiche als zwei
gesonderte Nationen gegenüberstehen, zwischen denen kein Ver-
kehr, keine Sympathie, keine Gemeinschaft besteht, findet sich
schließlich ein Mittler in dem hochsinnigen Aristokraten Egremönt,
der sich zu dem Volke herabläßt und Sibyl, die Tochter des
Volkes, -- die sich freilich inzwischen als Aristokratin von Ge-
blüt entpuppt hat — zu sich emporhebt
Selbst der ungestüme Alton Locke wirft seinen Brüdern vor,
es sei ihnen nicht bekannt, wie viele edle Seelen in jenen Stän-
den, die sie für ihre Feinde halten, sich sehnen zu lieben, zu
helfen, zu sterben - wüßten sie nur, wie! Und er ermahnt sie,
Hand in Hand mit ihnen zu gehen und sich ihrer würdig zu
zeigen. Diese Mahnung, die für das deutsche Empfinden etwas
— 197 —
Mattherziges, Serviles hat, erscheint dem englischen Geiste wohl
in anderem Lichte. Er hat mehr Sinn für das große Ganze
und verliert nicht so leicht über dem Verfolgen individueller
Ideale und Interessen die Allgemeinheit aus dem Auge. Die
Rücksicht auf das Wohl der Gesamtheit, die bei ihm stets im
Vordergrunde steht, gleicht schroffe Gegensätze aus und bringt
in der Literatur als herrschende Strömung jenen gemäßigten
Konservatismus hervor, von dem sich sonst weit auseinander-
gehende Geister gleichmäßig tragen lassen.
Dies tut auch George Eliot. Ihr Blick ruht offenbar lieber
auf den noch vom Vaterhause vertrauten freundlichen, heiter-
tüchtigen Arbeitergestalten als auf dem modernen Handwerker,
der seine politische Meinung hat und im Reichen nicht den
Herrn, sondern den Arbeitgeber sieht, dem er gerade so not-
wendig ist als er ihm.
Im ganzen läßt sich auf sie anwenden, was sie selbst in ihrem
Aufsatze Naturgeschichte des deutschen Lebens (1856) von Wilhelm
Riehl gesagt hat: »Ihr Konservatismus ist nicht im mindesten
gefärbt durch die Parteilichkeit einer Klasse, durch den politischen
Fanatismus für die Vergangenheit oder die Voreingenommenheit
eines Geistes, der die erhabene Entwicklung der Dinge nicht zu
erkennen vermag, welcher alle sozialen Formen nur vorüber-
gehend dienen. Es ist der Konservatismus eines klar sehenden,
praktischen, aber zugleich großherzigen Menschen .... Riehl ist
so weit als möglich von der Narrheit entfernt, zu glauben, die
Sonne werde zurückgehen, weil wir die Zeiger unserer Uhren
zurückstellen. Er bekämpft nur die entgegengesetzte Narrheit:
anzuordnen, es solle Mittag sein, während in Wirklichkeit die
Sonne eben erst die Bergspitzen berührt und die Menschen im
Tale noch im Zwielicht straucheln.«
George Eliots Sozialismus ist im wesentlichen soziale Mission
gegen den Nächsten. In dem Aufsatze Das moderne hepl hepl
hep! deutet sie in diesem Sinne eine Lösung der sozialen Frage
an: »Möglich, daß wir die Proletarier und ihren Hang, Vereini-
gungen zu bilden, nicht leiden können. Aber die Welt wird sie
darum nicht los. Wollen wir uns von dem Unangenehmen be-
freien, über das wir - sei es in Gestalt der Juden oder der
— 198 —
Proletarier - zu klagen haben, so ist der Weg der, daß wir alle
Mittel anwenden, die Nachbarn, die uns im Gedränge stoßen, zu
heben und ihre unbequeme Kraft in wohltuende Bahnen zu lenken.«
Im Dienste dieser sozialen Mission steht nach George Eliofs
Meinung auch die Kunst. Sie geht darin bis zum Utilitarismus.
Dorothea Brooke {Middlemarch) erblickt, nachdem sie den
Schmutz, die Häßlichkeit, das Elend der Dorfhütten gesehen, in
schönen Gemälden nur verächtliche gemalte Lügen, und kommt
angesichts der römischen Kunstschätze nicht über den Gedanken
hinweg, wie vielen Menschenleben man mit dem Gelde und der
Kraft aufhelfen könnte, die sie gekostet haben. George Eliot
teilt diesen Standpunkt mit Carlyle. v Kunst, hohe Kunst«, sagt
er, »ist sehr schön und ein vortrefflicher Beirat, aber nur für
Leute, die ihre Gemächlichkeit haben. Für Leute, die noch mit
einem schrecklichen Chaos ringen und noch für eine zweifelhafte
Existenz kämpfen, ist sie eher ein Spott. «^)
Doch nicht nur bei dem Puritaner Carlyle, selbst bei dem
Apostel der Kunst, Shelley, finden wir eine ähnliche Stelle. In
der Irischen Adresse sagt er: »Sind nicht die Künste sehr unter-
geordnete Dinge im Vergleiche mit der Tugend und dem Glücke?
Der Mensch, der lieber hübsche Bilder und Statuen sähe als
Millionen freier und glücklicher Menschen, wäre allen edlen
Empfindungen abgestorben.«
So liegt auch George Eliot, wie jedem unbedingten Philan-
thropen, die Rücksicht auf das Wohl ihrer Mitmenschen näher
als alle künstlerischen Ideale, und ihre Nächstenliebe ist stärker
als alle Parteizwecke. »Parteimaßregeln und Parteimänner in-
teressierten sie wenig,« bemerkt Mr. Cross. Sie hat auch bei
der Ausgestaltung ihrer sozialen Anschauungen ihre spezifisch
weibliche Natur nicht verleugnet: das Gemüt hat zum mindesten
ebensoviel Anteil an ihnen als der Verstand. Wir werden sie
darum nicht tadeln, daß sie, wie Edith Simcox sagt, »in der Politik
schlecht zu hassen verstand«, und ihr Werk gibt vielleicht eben des-
halb sozialen und politischen Neuerern manchen wertvollen Wink.
Shooting Niagara: and after?
Inhalt
Seite
George Eliot, ein Charakterbild 1
Der Humor bei George Eliot- 53
Die Frauenfrage bei George Eliot ......... 85
George Eliots historischer Roman 125
George Eliots politisch-sozialer Roman 163
i
G«r9« £]k)t. Mff AufMbs.
3 2044 086 824 299
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