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Full text of "Old Surehand. 2. Band. Reiseerzählung"

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The University of Michigan 


| 


Karl May's 
Geſammelte Werke 


Old Surehand 


II. Band 


III 


Karl⸗May⸗Verlag 
Radebeul bei Dresden 


Old Surehand 


Il. Band 


Reiſeerzählung 


Karl May 


107. bis 114. Tauſend 
— Volksausgabe — 


Karl⸗May⸗Verlag 
Radebeul bei Dresden 


RAD 


* As 
4 
74 — Inhalt 
„l- | Selte 
vi | I 1. Bei Mutter Thil . 2.2... ale ar re 5 
2. Am Baum der Lanze a ee ee 64 
3. Ein unerwartetes Zufammentreffen 2 2 2 22000. 105 
4. Auf Harbours Faiuil¶AdV¶¶n 148 
5. Der Geheimnis voll e7eU'7 . 222 
6. Vertauſchte Rollett nns 280 
7. Ein Zyklopenkamow̃ „„ 348 
ee IM en eur and Birke 404 
9. Old Wabbles Tod. Re! 485 
10. Am „Teufelskopcff k.. 534 


nn 


Das Recht der Überſetzung 
in fremde Sprachen bleibt vorbehalten 


Ar Y NY YYY 


= 


Drud der Spamerſchen Buchdruckerei in eln gis 


Erſtes Kapitel 
Bei Mutter Thick 


Jefferſon⸗City, die Hauptſtadt des Staates Miffouri 
und zugleich der Hauptort des County Cole, liegt am 
rechten Ufer des Miſſouri auf einer anmutigen Höhe, 
die einen feſſelnden Blick auf den unten ſtrömenden Fluß 


‚und das auf ihm herrſchende rege Leben und Treiben 


bietet. Die Stadt hatte damals viel weniger Einwohner 
als jetzt, war aber trotzdem bedeutend durch ihre Lage 
und durch den Umſtand, daß hier die regelmäßigen 


Sitzungen des Diſtriktsgerichts abgehalten wurden. Es 


gab dort mehrere große Gaſthäuſer, die für gutes Geld 


leidliche Wohnung und genießbares Eſſen gewährten. Ich 


verzichtete aber auf eine ſolche Unterkunft, weil ich lieber 
dahin gehe, wo ich die Menſchen in ihrer Urſprünglich⸗ 
keit kennen lernen kann, und weil ich auch einen Ort 
wußte, wo man für viel weniger Geld ſehr gut wohnte 
und vortrefflich verpflegt wurde. Das war Fireſtreet 
Nr. 15 bei Mutter Thick, in dem von den Seen bis 
zum mexikaniſchen Golf und von Boſton bis San Fran⸗ 
eisko wohlbekannten Boardinghoufe; denn dort ging gewiß 
kein echter Weſtmann, falls er einmal nach Jefferſon⸗ 
City kam, vorüber, ohne einen kürzeren oder längeren 
drink zu halten und dabei den Erzählungen zu lauſchen, 
die im Kreiſe der anweſenden Jäger, Trapper und 
Squatter die Runde machten. Mutter Thicks Haus war 
bekannt als ein Ort, wo man auf dieſe Weiſe den wilden 


Weſten kennen lernen konnte, ohne die dark and bloody 
grounds ſelbſt aufſuchen zu müſſen. 

Es war Abend, als ich den mir bisher unbekannten 
Gaſtraum betrat. Mein Pferd und meine Gewehre hatte 
ich auf einer flußaufwärts liegenden Farm gelaſſen, wo 
Winnetou meine Rückkehr erwarten wollte. Er liebte die 
Städte nicht und hatte deshalb für einige Tage dieſen 
Aufenthalt auf dem Lande genommen. Ich beabſichtigte, 
in der City verſchiedene Einkäufe zu machen. Auch be⸗ 
durfte mein Anzug, der außerordentlich mitgenommen 
war, einiger Aufbeſſerung oder vielmehr, er bedurfte ihrer 
ſehr; beſonders die langen Stiefel waren an vielen 
Stellen höchſt „offenherzig“ geworden und hatten ihren 
früheren Gehorſam in einer Weiſe verloren, daß ſie, 
ſo oft ich auch die Schäfte herauf bis an den Leib ziehen 
mochte, doch immer wieder bis auf die Füße hinunter⸗ 
rutſchten. | 

Zugleich wollte ich meinen kurzen Aufenthalt hier 
in der Stadt dazu benutzen, eine Erkundigung nach Old 
Surehand einzuholen. Als ich ihn bei unſrer Trennung 
gefragt hatte, ob, wann und wo ich ihn vielleicht wieder⸗ 
ſehen könne, war er nicht imſtande geweſen, mir eine 
beſtimmte Antwort zu geben, hatte mir aber geſagt: 

„Wenn Ihr einmal zufällig nach Jefferſon⸗City, 
Miſſouri, kommt, ſo geht in das Bankgeſchäft von Wal⸗ 
lace & Co.; dort werdet Ihr erfahren, wo ich mich gerade 
befinde.“ . | 

Nun war ich da und wollte dieſe Gelegenheit nicht 
vorübergehen laſſen, ohne Wallace & Co. aufzuſuchen. 

Alſo es war abends, als ich bei Mutter Thick ein⸗ 
trat. Ich ſah einen langen und ziemlich breiten Raum, 
der von mehreren Lampen hell erleuchtet war. Es ſtan⸗ 
den wohl gegen zwanzig Tiſche da; die Hälfte davon war 


5 


beſetzt, und zwar von einer ſehr gemiſchten Geſellſchaft, 
die einen dichten Tabakqualm um ſich verbreitete. Es 
gab da einige fein gekleidete Gentlemen — die Papier⸗ 
manſchetten weit aus den Aermeln hervorſtrebend, den 
Zylinder tief im Nacken und die in glanzledernen Stiefeln 
ſteckenden Füße auf dem Tiſch; Trapper und Squatter 
in allen Formen und Farben und in die unbeſchreiblichſten 
Gewandungen gehüllt; farbige Leute vom tiefſten Schwarz 
bis zum hellen Graubraun, mit wolligem, lockigem und 
ſchlichtem Haar, mit wulſtigen und ſchmalen Lippen, mit 
geſtülpten Negernaſen oder ſolchen von mehr oder weniger 
kaukaſiſchem Schnitt; Flößer und Schiffsknechte — die 
Stiefelſchäfte hoch heraufgezogen und das blitzende Meſſer 
neben dem heimtückiſchen Revolver im Gürtel; Halbblut⸗ 
indianer nebſt andern Miſchlingen von allen möglichen 
Sorten und Schattierungen. 


Dazwiſchen fegte die wohlbeleibte, ehrbare Mutter 
Thick umher und ſorgte eifrig dafür, daß keinem ihrer 
Gäſte etwas mangelte. Sie kannte alle, nannte jeden 
beim Namen, warf dem einen freundlichen Blick zu und 
drohte jenem, der zum Streit aufgelegt zu ſein ſchien, 
heimlich warnend mit dem Finger. Sie kam auch zu 
mir, als ich mich geſetzt hatte, und fragte nach meinen 
Wünſchen. N — 

„Kann ich ein Glas Bier bekommen, Mutter Thick?“ 
fragte ieh. N 

„Ves,“ nickte fie, „ſehr gutes ſogar. Habe es gern, 
wenn meine Gäſte Bier trinken; iſt beſſer und geſünder 
und auch anſtändiger als Brandy, der oft tolle Köpfe 
macht. Seid wahrſcheinlich ein Deutſcher, Sir?“ 

„Ves.“ 

„Dachte es mir, weil Ihr Bier verlangt. Die Deut⸗ 


ſchen trinken immer Bier, und fie find klug, daß fie es 
tun. Ihr waret noch nicht bei mir?“ 

„Nein, möchte aber heut Eure Gaſtfreundlichkeit in 
Anſpruch nehmen. Habt Ihr ein gutes Bett?“ 

„Meine Betten ſind alle gut!“ 

Sie muſterte mich mit prüfendem Blick. Mein 
Geſicht ſchien ihr beſſer zu gefallen als mein ſonſtiges 
Aeußere, denn ſie fügte hinzu: 

„Scheint lange keine Wäſche gewechſelt zu haben; 
aber Eure Augen ſind gut. Wollt Ihr billig boarden?“ 

Billig boarden heißt, das. Bett mit noch andern 
teilen. N 

„Nein,“ antwortete ich. „Es würde mir ſogar lieb 
ſein, wenn ich nicht im gemeinſchaftlichen Saal ſchlafen 
müßte, ſondern ein eigenes Zimmer haben könnte. Zah⸗ 
lungsfähig bin ich trotz meines ſchlimmen Anzugs.“ 

„Glaube das, Sir. Sollt ein Zimmer haben. Und 
wenn Euch hungern ſollte, da iſt der Speiſezettel.“ 

Sie gab mir das Papier und ging fort, um das 
Bier zu holen. Die gute Frau machte den Eindruck 
einer ſehr verſtändigen, freundlichen und beſorgten Haus⸗ 
mutter, deren Glück es iſt, Zufriedenheit um ſich zu ſehen. 
Auch die Einrichtung der Gaſtſtube heimelte mich an; ſie 
war mehr deutſch als amerikaniſch. | 

Ich hatte an einem leeren Tiſch Platz genommen, 
der in der Nähe einer langen Tafel ſtand. Dieſe war 
- bollftändig beſetzt von Gäſten, die eine beſonders leb⸗ 
hafte und ſpannende Unterhaltung führten. Sie erzählten 
ſich abenteuerliche Geſchichten aus dem wilden Weſten, 
die ſie teils vom Hörenſagen kannten, teils auch ſelbſt 
erlebt hatten. Manch einer hatte lange und gefährliche 
Jahre draußen zugebracht und kam wohl nur ganz 
gelegentlich herein zu Mutter Thick, um dann wieder 


zurückzukehren zu feinem aufreibenden und doch auch 
freudvollen Gewerbe. Aus den Reden der Gäſte an der 
langen Tafel entnahm ich bald, wer die Leute waren: 
ein Trapper, ein Indianeragent, ein Pedlar, ein Fallen⸗ 
ſteller und mehrere Squatter. Faſt jeder von ihnen 
wußte zu der Unterhaltung aus eigenen Erfahrungen 
beizutragen. Man ſchilderte Zuſammenkünfte und Erleb⸗ 
niſſe mit Old Firehand, Old Death, Sans⸗ear, und mit 
meinen alten drolligen Freunden Dick Hammerdull und 
Pitt Holbers; von Old Surehand wurde gleichfalls 
geſprochen, und auch mein Name wurde erwähnt. Einer 
der Männer berichtete vom Kanada⸗Bill, ein anderer 
vom Kapitän Kaiman, und zwar war der Erzähler ſogar 
jener Detektiv Treskow, der dieſen Seeräuber mit zur 
Strecke gebracht hatte und dabei mit Winnetou zuſam⸗ 
mengetroffen war; er wohnte gleichfalls hier im Gaſthaus. 

Mutter Thick ſchenkte mir zum zweitenmal ein und 
raunte mir dabei vertraulich zu: „Es iſt heute beſonders 
hübſch hier, Sir. Ich habe es immer gern, wenn die 
Gents ſolch ſchöne Geſchichten erzählen, denn dann lauſcht 
alles, und es iſt ſtill und friedlich. Ich meine, das iſt 
viel beſſer und vornehmer, als wenn ſie ſich miteinander 
zanken und balgen und mir dabei die Tiſche und Stühle 
zerſchlagen, und die Becher und Gläſer zerbrechen.“ 

Einige Stunden waren ſo mit Erzählen und Zuhören 
vergangen, da kamen neue Gäſte. Es waren ſechs Perſonen, 
die lärmend eintraten und mehr Spiritus genoſſen zu 
haben ſchienen, als ihnen zuträglich war. Sie ſahen ſich 
nach Plätzen um, und obgleich genug andre leer waren, 
zogen ſie es vor, ſich an meinen Tiſch zu ſetzen. 

Am liebſten wäre ich aufgeſtanden, das hätten ſie 
aber gewiß als eine Beleidigung betrachtet; und da ich 
keine Veranlaſſung zu rohen Streitigkeiten geben wollte, 


— 10 — 


fo blieb ich ſitzen. Sie verlangten Brandy und bekamen 
welchen, doch wurden ſie von Mutter Thick in einer 
Weiſe bedient, die erkennen ließ, daß ſie dieſe Leute lieber 
gehen als kommen ſah. 

Bewohner der Stadt konnten ſie nicht ſein, denn ſie 
hatten außer ihren Meſſern und Revolvern auch Gewehre 
mit. Sie ſahen wie echte Rowdies aus und ſtanken förm⸗ 
lich nach Schnaps. Es koſtete mich wirklich Ueberwindung, 
mit ihnen an demſelben Tiſch auszuhalten. Sie führten 
das große Wort und ſprachen ſo laut und ſo unaus⸗ 
geſetzt, daß von der Unterhaltung der andern Gäſte faſt 
nichts zu hören war. Die Ruhe und Gemütlichkeit, 
die vorher geherrſcht hatten, waren verſchwunden. 

Der lauteſte von ihnen war ein ſtark und ungeſchlacht 
gebauter Kerl mit einem wahren Bullenbeißergeſicht. 
Seine Glieder und Geſichtszüge ſchienen aus Holz roh 
zugehackt worden zu ſein. Er ſpielte ſich als den Anführer 
der andern auf, und es war allerdings zu bemerken, daß 
ſie ihn nach ihrer We mit einer Art Ehrerbietung 
behandelten. 

Sie ſprachen von Heldentaten, die ſie begangen 
hatten und wieder begehen wollten, von Vermögen, die 
ſie beſeſſen und verjubelt hatten und jedenfalls bald wieder 
erwerben würden; ſie goſſen ein Glas nach dem andern 
hinunter, und als Mutter Thick ſie mahnte, langſamer 
zu trinken, wurden ſie grob und drohten, vom Schenk⸗ 
tiſch Beſitz zu nehmen und ſich ſelbſt zu bedienen. 

„Das würde ich mir verbitten,“ antwortete die 
mutige Wirtin. „Da liegt der Revolver; der erſte, der 
ſich an meinem Eigentum vergreift, bekommt eine Kugel!“ 

„Von dir etwa?“ lachte der Bullenbeißer. 

„Ja, von mir!“ 

„Mach dich nicht lächerlich! In ſolche Hände gehört 


— 11 


eine Nähnadel, aber kein Revolver. Glaubſt du wirklich, 
uns zum Fürchten zu bringen?“ 

„Was ich glaube, iſt meine Sache. Jedenfalls fürchte 
ich mich nicht, und wenn es an einer Hilfe fehlen ſollte, 
ſo ſind Gentlemen genug da, die ſich einer wehrloſen 
Witfrau annehmen würden!“ 

„Gentlemen genug?“ wiederholte er ihre Worte 
höhniſch lachend, indem er von ſeinem Stuhl aufſtand 
und ſeinen Blick herausfordernd rundum gehen ließ. 
„Sie mögen herkommen und verſuchen, wer den Kürzeren 
zieht, ſie oder ich!“ 

Es antwortete ihm kein Menſch, ich natürlich auch 
nicht. Auf einen Widerſtand meinerſeits ſchien er über⸗ 
haupt nicht gerechnet zu haben, denn mich hatte er bei 
ſeinen Worten gar nicht angeſehen. Vielleicht kam ihm 
mein ruhiges Geſicht ſo zahm vor, daß er es nicht der 
Mühe wert hielt, mich mitzurechnen. Ich gehöre näm⸗ 
lich zu den Menſchen, deren Züge grad dann einen 
recht beſcheidenen Ausdruck annehmen können, wenn es 
in ihrem Innern arbeitet. Einer, der ſich für einen 
großen Pſychologen hielt, erklärte mir das einmal mit 
dem Satz: Wenn der Geiſt ſich nach innen zieht, muß 
außen das Geſicht dumm ausſehen; das iſt doch ſelbſt⸗ 
verſtändlich. 

Als der Bulldogge ſah, daß niemand ſeiner Auf⸗ 
forderung folgte, wurde er noch dreiſter. 

„Dachte es mir; es wagt ſich keiner her!“ lachte er. 
w, Möchte auch den ſehen, der es wagte, einen Gang mit 

Toby Spencer zu machen! Ich drehte dem Kerl das 
Geſicht auf den Rücken! Toby Spencer iſt nämlich mein 
Name, und wer wiſſen will, was für ein Kerl dieſer 
Toby iſt, der mag kommen!“ 

Er ſtreckte die geballten Fäuſte aus und ließ den 


12 — 


Blick noch einmal herausfordernd in die Runde ſchweifen. 
War es wirklich Furcht oder nur der Ekel vor einem 
ſolchen Menſchen, es rührte ſich auch jetzt niemand. Da 
lachte er noch lauter als vorher und rief: 

„Seht ihr es, Boys, wie ihnen die Herzen in die 
Schuhe und Stiefel fallen, wenn Toby Spencer nur ein 
Wort von ſich hören läßt! Es iſt wirklich keiner, aber 
auch kein einziger unter ihnen, der es wagt, nur einen 
Mucks zu tun. Und das wollen Gentlemen ſein!“ 

Da ſtand doch einer der Squatter auf, dem Aus⸗ 
ſehen nach ein Farmer, ein kräftiger Menſch, der dem 
Rowdy aber immerhin nicht vollauf gewachſen ſein 
konnte. Er trat einige Schritte näher und ſagte: 

„Ihr irrt Euch ſehr, Toby Spencer, wenn Ihr 
glaubt, es gebe niemand, der ſich an Euch traut. Hier 
ſteht zum Beiſpiel ein Mann, der für Mutter Thick ein⸗ 
tritt. 

„So, ſo!“ Der Rowdy muſterte ihn mit verächt⸗ 
lichem Blick. „Warum bleibt Ihr denn ſtehen, wenn 
Ihr ſolchen Mut habt? Warum kommt Ihr nicht näher?“ 

„Ich komme ſchon!“ ſprach der andre, indem er 
noch einige Schritte machte und dann wieder halten blieb. 
Seine Stimme klang aber nicht mehr ſo zuverſichtlich wie 
zuvor. Da Toby Spencer auch etwas vorgetreten war, 
ſtanden ſie nun in ganz geringer Entfernung von einander. 

„Well! Alſo Ihr ſeid der Mann, der ſich nicht 
fürchtet?“ fragte der Rowdy. „So ein Kerlchen, das ich 
mit einem einzigen Finger aus dem Gleichgewicht hebe!“ 

„Beweiſt es, wenn Ihr könnt!“ 

„Beweiſen? Das ſoll ſofort geſchehen!“ Mit dieſer 
Drohung trat Spencer zwei Schritte auf ihn zu. 

„Ja, come on!“ rief der andre, indem er aber zwei 
Schritte rückwärts machte. 


1 


„So bleib doch ſtehn, du großer Held! Halte dich 
feſt, ſonſt nagle ich dich an die Wand, daß du daran 
kleben bleibſt.“ 

Spencer ging abermals vorwärts; der Farmer wich 
auch jetzt wieder zurück, indem er ſich auf die Vertei⸗ 
digung mit dem Mundwerk legte: 

„Denkt ja nicht, daß wir uns von Euch hier ein⸗ 
ſchüchtern laſſen!“ 

„Pshaw, laß ſehen, ob du mir ſtandhältſt oder nicht! 
Ich werde dich ein wenig höher hängen, damit die Leute 
ſehen, was für einen tapferen Beſchützer Mutter Thick 
an dir hat.“ 

Er gab ihm zwei blitzſchnelle, 1 Hiebe auf 
die Achſeln, nahm ihn dann bei den Oberarmen, drückte 
ſie ihm an den Leib, ſchob ihn an die Wand und hob 
ihn ſo empor, daß er mit dem Kragen an einem Kleider⸗ 
haken hängen blieb. Das war kein ganz gewöhnliches 
Kraftſtück, und er führte es aus, ohne daß man ihm 
dabei eine Anſtrengung anmerkte. Der andre blieb einen 
Augenblick zappelnd an der Wand hängen, dann riß der 
Kragen ſeines Büffellederrocks und er fiel zu Boden. 
Spencer lachte aus vollem Hals; ſeine Gefährten ſtimmten 
ein, und auch die andern konnten nicht ganz ernſt dabei 
bleiben, obgleich der Rowdy gar nicht ihren Beifall hatte. 
Dieſer ſchickte dem kleinlaut auf ſeinen Platz zurück⸗ 
kehrenden Farmer ſein Gelächter nach, und jetzt hatte ich 
das große Glück, daß er mich ſeiner Aufmerkſamkeit 
würdigte. Er betrachtete mich mit neugierigem Blick und 
richtete dann die Frage an mich: 

„Seid wohl auch ſolch ein tapferer Gent wie der 
da drüben, he?“ 

„Glaube nicht, Sir,“ antwortete ich ruhig. 


— 14 — 


Man war an allen Tiſchen ſtill, um zu hören, was 
nun kommen werde. Vielleicht gab es wieder etwas zu 
lachen. ö 

„Alſo nicht?“ fuhr er fort. „Ihr ſcheint mir kein 
Held zu ſein! Das iſt Euer Glück, ſonſt würde ich Euch 
auch an den Nagel hängen!“ ö 

Da ich hierauf ſchwieg, fuhr er mich an: 

„Glaubt Ihr es etwa nicht?“ 

„Hm! Ich glaube es ganz gern.“ | 

„Im Ernſt? Toby Spencer ift nämlich nicht der 
Mann, mit dem man Späße treibt!“ 

Es war klar, daß er nun mit mir Streit ſuchte. 
Ich ſah den beſorgten Blick, den Mutter Thick auf mich 
warf, und tat ihr den Gefallen, ſehr höflich zu antworten: 

„Davon bin ich überzeugt, Sir. Wer die Körper⸗ 
ſtärke beſitzt, einen Mann mit einem Griff an den Nagel 

zu hängen, der hat es nicht nötig, ſich von andern 
Leuten foppen zu laſſen.“ 
f Sein boshaft auf mich gerichteter Blick wurde milder, 
und ſein Geſicht nahm einen faſt freundlichen Ausdruck 
an, als er jetzt in befriedigtem Ton ſagte: 

„Habt recht, Sir. Ihr ſeid anſcheinend doch kein 
unrechter Kerl. Wollt Ihr mir ſagen, was für eine Art 
von Beruf Ihr habt?“ 

„Fm! Eigentlich keinen, denn grad jetzt betreibe ich 
gar nichts.“ 

„Ihr müßt doch aber irgend etwas ſein oder irgend 
etwas machen. Oder nicht?“ 

„Freilich wohl. Ich habe mich fon in verſchiedenen 
Dingen verſucht.“ 

„Es aber zu nichts gebracht?“ 

„Leider!“ 

Was waret Ihr zuletzt?“ 


= IE: 


„Zuletzt bin ich in der Prärie geweſen.“ 

„In der Prärie? Alſo Jäger? Könnt Ihr denn 
ſchießen?“ 

„So leidlich.“ 

„Und reiten?“ 

„Auch.“ 

„Ihr ſcheint mir aber von etwas ängſtlicher Natur 
zu fein!“ 

„Hm! Es kommt auf die Verhältniſſe an. Mut ſoll 
man nur zeigen, wenn es nötig iſt, ſonſt iſt's Prahlerei.“ 

„Das iſt richtig! Hört, Ihr beginnt mir zu 
gefallen. Ihr ſeid ein beſcheidener Boy, der zu brauchen 
iſt. Wenn ich wüßte, daß Ihr vicht grad ein ausgemachtes 
Greenhorn wärt, f — — —' 

„So — — —?” fragte ich, weil er den Satz nicht 
ganz ausſprach. 

„So würde ich fragen, ob Ihr Luſt habt, mit uns 
zu gehen.“ 

„Wohin?“ 

„Nach dem Weſten. Wollt Ihr mit?“ 

„Ehe ich das ſagen kann, muß ich doch erſt wiſſen, 
wohin Ihr gehen und was Ihr dort treiben wollt.“ 

„Well, auch das iſt richtig und vernünftig. Wir 
wollen ein wenig ins Kolorado hinauf, nach dem Park 
von San Luis!) jo ungefähr. Seid Ihr vielleicht ſchon 
einmal da oben geweſen?“ 

„Ja.“ 

„Was? So weit? Das hätte ich Euch nicht zuge⸗ 
traut! Iſt Euch die Gegend der foam-cascade?) bekannt?“ 

„Nein.“ 

„Dahin wollen wir. Dort oben in den Parks wird 


) Spaniſche Schreibweiſe: franzdfiig: Saint Louis. 
) Schaumfall. 


— 16 — 


in neuerer Zeit wieder eine ſolche Menge Gold gefunden, 
daß man die Gelegenheit nicht verſäumen darf.“ 

„Ihr wollt graben?“ 

„Dom — — — jaaa — aaa!” dehnte er. 

„Und wenn Ihr nichts findet?“ 

„So finden andre etwas,“ erwiderte er mit g 
bezeichnenden Achſelzucken. „Man braucht nicht grad 
Digger zu ſein, um in den Diggins etwas zu verdienen.“ 

Ich verſtand, was er meinte. Er wollte ernten, wo 
er nicht geſät hatte. 

„Daß wir nichts finden, darum braucht Ihr Euch 
nicht zu ſorgen,“ fuhr er fort, um mir Luſt zu machen. 
Es war ihm Ernſt damit, mich mitzunehmen, denn je 
zahlreicher ſeine Geſellſchaft war, deſto beſſere Geſchäfte 
mußte ſie machen, und mich hielt er wohl für einen 
Mann, den man ausnutzen und dann — mindeſtens — 
fortjagen konnte. „Wir ſind alle überzeugt, daß wir 
gute Ausbeute machen werden, denn wir haben einen 
Mann bei uns, der ſich darauf verſteht.“ 

„Einen Geologen?“ 

„Er iſt noch mehr als Geolog; er beſitzt alle Seu 
niſſe und Erfahrungen, die in den Diggins nötig ſind. 
Ihr werdet nicht daran zweifeln, wenn ich Euch ſage, daß 
er ein Offizier von höchſtem Rang iſt, nämlich General.“ 

„General?“ fragte ich, indem mir ein Gedanke lam. 
„Wie heißt der Gentleman?“ 

„Douglas. Er hat eine Menge Schlachten tec 
und dann in den Bergen ſehr eingehende wiſſenſchaftliche 
Forſchungen angeſtellt, deren Ergebnis die Ueberzeugung 
iſt, daß wir viel Gold finden werden. Nun, habt Ihr 
Luſt?“ | 

Wenn es wirklich feine Abſicht geweſen wäre, nach 
Gold zu graben, ſo hätte er ſich ſehr gehütet, hier, vor 


— 17 — 


ſo vielen Zeugen, davon zu ſprechen. Er hatte alſo etwas 
ganz andres vor, und daß dies nichts Gutes war, erhellte 
daraus, daß der Quaſi⸗General zu der Geſellſchaft gehörte. 
Daß dieſer ſich noch Douglas nannte und keinen andern 
Namen angenommen hatte, war von ihm eine Unvorſich⸗ 
tigkeit, die ich kaum begreifen konnte. 

„Nein, Sir, ich habe keine Luſt,“ entgegnete ich. 

„Warum nicht?“ 

„Sehr einfach, weil mir die Sache nicht gefällt.“ 

„Und warum gefällt ſie Euch nicht?“ 

Seine vorher freundlichen Züge verfinſterten ſich 
mehr und mehr und wurden ſchließlich drohend. 

„Weil ſie nicht nach meinem Geſchmack iſt.“ 

N „Und was für eine Art von Geſchmack habt Ihr, 
Sir?“ 

„Die Art, die es mit der Ehrlichkeit hält.“ 

Da ſprang er auf und ſchrie mich an: 

„Alle Teufel! Wollt Ihr etwa ſagen, daß ich nicht 
ehrlich bin?“ 

Auch einige von den andern Gäſten ſtanden auf. 
Sie wollten den Auftritt genau ſehen, der jetzt unbedingt 
folgen mußte. 

„Ich habe mich um Eure Ehrlichkeit ebenſowenig zu 
kümmern, wie Ihr Euch um meinen Geſchmack.“ Ich 
blieb ruhig ſitzen, behielt ihn aber ſcharf im Auge. „Wir 
gehen einander nichts an und werden uns in Ruhe laſſen!“ 

„In Ruhe laſſen? Ihr habt mich beleidigt, und 
ich muß Euch zeigen, wer Toby Speneer eigentlich iſt.“ 

„Das braucht Ihr mir nicht erſt zu zeigen.“ 

„So? Ihr wißt es ſchon?“ 

„Ja. Grad das, was ich auch bin, nämlich Gaſt bei 
Mutter Thick, und als Gaſt hat man ſich anſtändig zu 
betragen, wenn man anſtändig behandelt ſein will.“ 

Ray, Old Surehand. II. 2 


— 18 — 


„Ah! Und wie wollt Ihr denn mich behandeln?“ 
„So, wie Ihr es verdient. Ich habe Euch nicht auf⸗ 
gefordert, Euch zu mir zu ſetzen; es waren genug andre 
Plätze da. Ich habe auch nicht von Euch verlangt, mit 
mir zu ſprechen. Und nachdem ich von Euch ins Geſpräch 
gezogen worden bin, habe ich höflich und ſachgemäß 
‚geantwortet. Eure Pläne und Abſichten find mir gleich⸗ 
gültig; da Ihr mich aber fragtet, ob ich mit Euch nach 
Kolorado wolle, habe ich Euch ruhig geſagt, daß ich keine 
Luſt habe.“ 

„Ihr habt von Ehrlichkeit geſprochen, Boy! Das 
dulde ich nicht!“ 

„Nicht? Hm! Ich denke, ein ehrlicher Mann kann 
ruhig von Ehrlichkeit ſprechen hören, ohne darüber in 
Grimm zu geraten.“ 

„Mann, nehmt Euch in acht Das 6 wieder eine 
Schmähung, die ich — — — 

Er wurde von der Wirtin unterbrochen, die ihn auf⸗ 
forderte, Ruhe zu halten; er hob den Arm gegen ſie. 

„Begebt Euch nicht in Gefahr, Mutter Thick!“ bat 
ich ſie. „Ich bin gewöhnt, für mich ſelbſt zu ſorgen, und 
pflege ſtets mein eigner Schutz zu ſein.“ 

Das brachte den Rowdy in noch größere Wut. Er 
ſchrie mich an: 

„Dein eigner Schutz? Nun, ſo ſchütze dich! Hier, 
das iſt für die Beleidigung!“ 

Er holte mit der Fauſt zum Schlag aus; darauf war 
ich gefaßt. Im Nu hatte ich das Bierglas ergriffen und 
begegnete damit dem Hieb. Anſtatt daß dieſer mich traf, 
wurde er von dem Glas aufgefangen, das ſofort zerſchellte. 
Zugleich ſprang ich auf und ſtieß dem Kerl die Fauſt mit 
ſolcher Wucht von unten her unter das Kinn, daß ſeine 
Geſtalt, ſo ſtark und ſchwer ſie war, hintenüberflog und, 


— 39 


einen Tiſch und mehrere Stühle umreißend, zur Erde 
ſtürzte. 

Der war beſorgt, und ich hatte zunächſt meine Augen 
auf ſeine Genoſſen zu richten. Dieſe drangen denn auch 
ſofort mit wildem Geſchrei auf mich ein. Zwei Fauſt⸗ 
hiebe von mir, und zwei von ihnen flogen nach rechts 
und links auseinander; dem dritten fuhr ich mit beiden 
Fäuſten gegen die Magengrube, daß er mit einem über⸗ 
ſchnappenden Schrei zuſammenknickte; die beiden letzten 
wichen beſtürzt zurück. 

Jetzt aber hatte ſich Spencer wieder aufgerafft; ſeine 
Hand blutete von den Glasſplittern, und noch mehr Blut 
floß ihm aus dem Mund; er hatte ſich bei meinem Fauſt⸗ 
hieb in die Zunge gebiſſen. Mir das Blut entgegenſpuckend, 
brüllte er: 

„Hund, das iſt dein Tod! So ein Kerl, der nicht 
einmal weiß, was für einen Beruf er hat, wagt es, ſich 
an Toby Spencer zu vergreifen! Ich werde — — —“ 

„Halt! Augenblicklich die Hand vom Gürtel!“ unter⸗ 
brach ich ihn, denn er griff nach dem Revolver; zugleich 
zog ich den meinigen und richtete den Lauf auf ihn. 

„Nein, ſondern die Hand in den Gürtel!“ ſchäumte 
er. „Meine Kugel fol dich — — —“ 

„Noch einmal: fort mit der Bart, ſonſt ſchieße ich!“ 
fiel ich ihm wieder in die Rede. 

Er zog ſie dennoch. Ich zielte auf ſeine Hand; er 
ſtieß einen Schrei aus, ließ ſie ſinken, und ſein Revolver 
fiel zu Boden. 

„Hände hoch! Augenblicklich, ihr alle, Hände hoch! 
Wer nicht gehorcht, bekommt die Kugel!“ befahl ich nun. 

„Hände hoch!“ iſt im Weſten ein gefährliches Wort. 
Wer zuerſt die Waffe in der Hand hat, der befindet ſich 
im Vorteil. Um ſich ſelbſt zu retten, darf er den Gegner 


— 20 — 


nicht ſchonen. Wenn er Hände hoch!“ gebietet und es wird 
nicht augenblicklich gehorcht, ſo ſchießt er unbedingt; das 
weiß jedermann. Auch dieſe ſechs Burſchen wußten es; 
ihre Arme fuhren unverzüglich in die Höhe. Ich hatte 
auch den zweiten Revolver gezogen und ſie vor den Läufen 
der Revolver behaltend, warnte ich: 

„Laßt ja die Hände oben, bis wir miteinander fertig 
ſind! Ich habe noch elf Kugeln. Mutter Thick, nehmt den 
Kerls die Gewehre, Revolver und Meſſer weg! Morgen 
früh mögen ſie ſchicken oder ſelber kommen, um ſie abzu⸗ 
holen. Und unterſucht ihre Taſchen nach Geld! Ihr zieht 
ihnen die Zeche ab, die ſie gemacht haben und den Preis 
des Glaſes, das Spencer zerſchlagen hat; daun mögen ſie 
ſich trollen.“ 

Mutter Thick war ſchnell bei der Hand, dieſe Wei⸗ 
ſungen auszuführen, und es ſah ſich eigentlich komiſch an, 
wie die ſechs Menſchen mit hoch erhobenen Armen um 
den Tiſch ſtanden und nicht wagten, ſich zu bewegen. Zu 
welcher Sorte von Leuten ſie gehörten, zeigte ſich durch 
die Reichtümer, die ſie beſaßen; nur wenige Cents über 
den Betrag der Zeche hinaus. Als die Wirtin ihr Gut⸗ 
haben eingeſteckt hatte, ſagte ich: 

„Nun macht die Tür auf, Mutter Thick; ſie mögen 
hinausmarſchieren! Draußen können ſie die Arme ſinken 
laſſen, eher aber nicht, ſonſt ſchieße ich noch im letzten 
Augenblick.“ 

Die Tür wurde geöffnet und ſie zogen mit hoch erho⸗ 
benen Händen ab, einer nach dem andern. Der letzte war 
Spencer. Ehe er den letzten Schritt tat, drehte er ſich um 
und drohte, halb brüllend und halb ziſchend: 

„Auf Wiederſehen! Dann aber hebſt du die Arme 
in die Höhe, Hund!“ 

Nun löſte ſich die e Spannung in einem 


— 4 


Hauch, der hörbar durch den Gaſtraum ging. So hatten 
ſich die guten Gentlemen das Ende nicht gedacht! Als 
Mutter Thick mir ein neues Bier brachte, gab ſie mir 
die Hand und ſagte: . 

„Ich muß mich bei Euch bedanken, Sir. Ihr habt 
mich von dieſen Menſchen befreit, die wer weiß was noch 
angefangen hätten. Und wie habt Ihr das fertig gebracht! 
Ihr ſollt das beſte Zimmer bekommen, das ich habe. 
Aber nehmt Euch ja vor dieſen Leuten in acht! Sie fallen 
ganz gewiß bei der erſten Begegnung über Euch her.“ 

„Pshaw! Ich fürchte mich nicht.“ 

„Nehmt es nicht zu leicht! Derartige Halunken kom⸗ 
men nicht von vorn, ſondern hinterrücks.“ 

Ich ſah dann, daß ſie nach mir gefragt wurde, doch 
konnte ſie keine Auskunft geben. Man hätte gern gewußt, 
wer ich war, doch hatte ich keine Gründe, Bekanntſchaften 
anzuknüpfen, die nur die Dauer von höchſtens zwei oder 
drei Tagen haben konnten; länger wollte ich in Jefferſon 
nicht bleiben. 

Als ich mir dann meine Stube anweiſen ließ, ſah 
zich, daß Mutter Thick Wort gehalten hatte; ich wohnte 
ſo gut und ſauber, wie ich es nur wünſchen konnte, und 
ſchlief weit beſſer, als ich vorher vermutet hatte; denn 
wenn der Weſtmann zum erſtenmal wieder in einem 
geſchloſſenen Raum ſchläft, pflegt er gewöhnlich kein Auge 
zuzutun. 

Am nächſten Morgen ſorgte ich dafür, daß mein 
äußerer Menſch ein beſſeres Ausſehen erhielt, und dann 
ſuchte ich das Bankhaus Wallace & Co. auf, um mich 
nach Old Surehand zu erkundigen. Ich war höchſt neu⸗ 
gierig, in welchem Verhältnis er zu dieſem Hauſe ſtand, 
und welchen Beſcheid man mir geben würde. 

„Ich hatte von Mutter Thick aus nicht weit zu gehen, 


— 22 — 


denn das Geſchäft lag in derſelben Straße. Als ich in 
der Office nach Mr. Wallace fragte, ſollte ich meinen 
Namen nennen; aber weil ich nicht wußte, wie die Ver⸗ 
hältniſſe ſtanden, verſchwieg ich ihn lieber. Es iſt oft 
gut, wenn man nicht gekannt wird. Ich hatte viele Vor⸗ 
teile, die ich auf meinen Wanderungen errang, nur 
dem Umſtande zu verdanken, daß man nicht wußte, wer 
ich war. 

„Sagt Mr. Wallace, ich ſei ein Bekannter von Old 
Surehand!“ 

Kaum hatte ich dieſen Namen ausgeſprochen, ſo 
fuhren die Köpfe ſämtlicher Clerks nach mir herum. Ich 
wurde in der erbetenen Weiſe angemeldet und dann in ein 
Zimmer geführt, wo ein einzelner Herr am Schreibtiſch 
ſaß und ſich bei meinem Eintritt erhob. Er war ein 
Yankee mit einem recht einnehmenden Geſicht und ſtand 
in den mittleren Lebensjahren. Den Blick forſchend und 
erwartungsvoll auf mich gerichtet, ſtellte er ſich vor: 

„Ich heiße Wallace, Sir.“ 

„Und mich nennt man Old Shatterhand.“ 

„Ah! Seid mir herzlich willkommen und nehmt 
Platz, Sir. Ich habe viel Gutes über Euch gehört. Ihr 
ſeid natürlich ſoeben erſt in Jefferſon⸗City angekommen?“ 

„Nein, ich bin ſeit geſtern hier.“ 

„Was? Ohne mich ſofort aufzuſuchen? Wo habt 
Ihr gewohnt, Sir?“ 

„Bei Mutter Thick, hier in der Nähe.“ 

„Kenne ſie; eine brave, ehrliche Frau, aber keine 
Wirtin für einen Gentleman wie Old Shatterhand!“ 

„O, ich wohne da vortrefflich und bin ganz zufrieden.“ 

„Ja, weil Ihr das Lagern im Freien bei jeder 
Witterung gewöhnt ſeid, darum ſind Eure Anſprüche ſo 
beſcheiden. Aber wenn Ihr Euch einmal an einem zivili⸗ 


— 23 — 


ſierten Ort befindet, müßt Ihr Euch erholen und Euch 
bieten, was Ihr Euch bieten könnt; das ſeid Ihr Eurer 
körperlichen und geiſtigen Geſundheit ſchuldig.“ 

„Grad dieſer Geſundheit wegen will ich keine großen 
Unterſchiede, Sir.“ 

„Mag ſein! Aber ich hoffe, daß Ihr meine Ein⸗ 
ladung annehmt und während Eures hieſigen Aufent⸗ 
haltes bei mir wohnt!“ 

„Verzeiht, wenn ich mit beſtem Danke ablehne! Ich 
gehe wahrſcheinlich ſchon morgen von hier fort; ferner 
liebe ich es, vollſtändig unabhängig zu ſein und unab⸗ 
hängig handeln zu können, was aber nicht der Fall ſein 
würde, wenn ich bei Euch wohnte. Und ſodann bin ich 
es Mr. Surehand ſchuldig, Euch nicht zu beläſtigen.“ 

„Wieſo?“ 

„Ihr lennt ihn gut“ 

„Beſſer als jeder andre; ich will Euch ſogar ſagen, 
daß wir verwandt miteinander find.” 

„Well! Er hat mich gebeten, nicht nach ſeinen Ver⸗ 
hältniſſen zu forſchen. Wenn ich bei Euch wohnte, würde 
mir wahrſcheinlich manches nicht entgehen, oder ich würde 
manches erraten, was ich nicht zu wiſſen brauche.“ 

„Hm!“ nickte er nachdenklich. „Dieſen Grund und 
auch den von Eurer Selbſtändigkeit muß ich freilich gelten 
laſſen; ich will alſo nicht in Euch dringen: aber höchſt 
willkommen würdet Ihr mir ſein, das will ich Euch auf⸗ 
richtig ſagen.“ 

„Danke, Mr. Wallace! Der Grund meines Beſuchs 
iſt nur der, zu fragen, ob Ihr wißt, wo Mr. Surehand 
ſich jetzt ungefähr befindet.“ 

„Er iſt hinauf in die Parks, zunächſt nach dem von 


San Luis.“ 


„Ah! Wann iſt er fort von hier?“ 


— 24 — 


„Vor drei Tagen erſt.“ 

„Da kann ich ihn ja einholen.“ 

„Ihr wollt hinauf? Ihr wollt zu ihm?“ 

„Ja. Winnetou reitet mit.“ 

„Auch Winnetou? Das freut mich ungemein! Wir 
ſtehen immerfort ſo große Sorge um Old Surehand aus. 
Wenn wir da zwei ſolche Männer bei ihm wiſſen, können 
wir viel ruhiger ſein. Ihr habt ihm ſchon 0 das 
Leben gerettet; darum denke ich, daß — — —“ 

„O bitte!“ ſchnitt ich ihm das Lob ab. „Ich will, 
wie geſagt, nicht in ſeine Geheimniſſe dringen; aber kann 
ich vielleicht erfahren, ob er damals in Fort Terret den 
geſuchten Dan Etters gefunden hat?“ | 

„Nein. Etters iſt gar nicht da geweſen.“ 

„Alſo war es eine Lüge des Generals?“ 

„Ja.“ 

In dieſem Augenblick kam ein Clerk herein und 
zeigte ein Papier mit der Frage vor, ob es eingelöſt 
werden ſolle. 

„Ein Scheck über fünftauſend Dollars von Grey 
& Wood in Little Rock,“ las Wallace. „Iſt gut und 
wird ausgezahlt.“ 

Der Clerk entfernte ſich. Nach einiger Zeit ging ein 
Mann an unſerm Fenſter vorüber; ich ſah ihn und der 
Bankier auch. 

„Himmel!“ rief ich aus. „Das war der General!“ 

„Wie? Meint Ihr den General, der Old Sure⸗ 
hand ſo unnötigerweiſe nach Fort Terret geſchickt hat?“ 

„Ja.“ 

„Er ging hier vorbei, ſcheint alſo faſt in meiner 
Office geweſen zu ſein. Erlaubt mir, einmal nachzufragen, 
was er gewollt hat!“ 

„Und ich muß ſehen, wohin er geht!“ 


4’ 

= — „ 
2 

“ur” 


— 25 — 


Ich eilte hinaus, doch er war verſchwunden. Ich 
ging bis zur nächſten Straßenkreuzung, ſah ihn aber auch 
da nicht. Das konnte mich freilich nicht enttäuſchen, denn 
ich hatte ja nichts mehr mit ihm zu tun. Nur hatte ich 
mich, falls er mich bemerkte, vor einem hinterliſtigen 
Angriff zu hüten. Als ich zu Wallace zurückkehrte, erfuhr 
ich, daß der General es geweſen war, der den Scheck vor⸗ 
gelegt hatte. Natürlich hatte ihn niemand gekannt. 

Wallace lud mich, da ich nicht bei ihm wohnen 
wollte, wenigſtens zum Frühſtück ein. Ich wurde von 
den Seinen ſo aufgenommen, daß ich mich bewegen ließ, 
bis zum Mittageſſen zu bleiben, und als dies vorüber 
war, wurde ich noch ſo lange feſtgehalten, daß das Abend⸗ 
eſſen beinahe ſchon aufgetragen wurde. Es war alſo faſt 
neun Uhr, als ich den Rückweg zu Mutter Thick antrat. 

Die Wirtin hatte Luſt, mit mir zu ſchmollen, weil 
ich ſo lange weggeblieben war. Sie geſtand mir, heut 
was ganz Beſonderes für mich gebraten zu haben; weil 
ich jedoch nicht gekommen ſei, habe es Mr. Treskow 
gegeſſen. Die geſtrigen Gäſte waren teilweiſe wieder da, 
und es gab abermals eine angeregte Unterhaltung. 

Auf mein Befragen erfuhr ich, daß Toby Spencer 
gleich nach meinem Fortgang die Waffen hatte abholen 
laſſen. Ich ſaß ſo, daß ich den Eingang beobachten konnte; 
darum war ich einer der erſten, der zwei Männer ein⸗ 
treten ſah, auf die ſich bald die Blicke aller Anweſenden 
richteten. Ihre äußere Erſcheinung war freilich auch ganz 
geeignet, die größte Aufmerkſamkeit zu erregen. 

Der eine war kurz und dick, der andre lang und 
dünn. Der Dicke hatte ein bartloſes, ſonnverbranntes 
Geſicht. Dasjenige des Langen war ebenſo von der Sonne 
gefärbt, die ihm aber faſt die ganze Fruchtbarkeit ent⸗ 
zogen zu haben ſchien; denn ſein Bart beſtand aus nur 


— 26 — 


wenigen Haaren; ſie hingen ihm von den Wangen, dem 
Kinn und der Oberlippe faſt bis auf die Bruſt hernieder 
und gaben ihm das Ausſehen, als ob er von den 
Motten zerfreſſen und gelichtet worden ſei. Noch auf⸗ 
fälliger war, wie ſich die beiden Männer gekleidet hatten. 
Sie trugen ſich nämlich von den Köpfen bis zu den Füßen 
herunter zeiſiggrün. Kurze, weite, zeiſiggrüne Jacken, 
kurze, weite, zeiſiggrüne Hoſen, zeiſiggrüne Gamaſchen, 
zeiſiggrüne Schlipſe, zeiſiggrüne Handſchuhe und zeiſig⸗ 
grüne Mützen mit zwei Schirmen, hinten einen und vorn 
einen, ganz nach Art der Orienthelme. Es fehlte ihnen 
nur noch das Einglas ins Auge, ſo hätten ſie für die 
Erfinder oder Vorläufer des heutigen Gigerltums erklärt 
werden können, zumal ſie auch ſehr dicke und unförmliche 
zeiſiggrüne Regenſchirme in den Händen hatten. 

Es lenkten ſich natürlich aller Augen auf ſie. Ich 
erkannte ſie trotz ihrer Kleidung, die man beſſer eine 
Maskerade hätte nennen können, ſofort als alte Freunde. 
Da ich mir aber den Spaß machen wollte, ſie zu über⸗ 
raſchen, ſo drehte ich mich mit meinem Stuhl ſo um, 
daß fie mein Geſicht nicht ſehen konnten. Es fiel ihnen 
nicht ein, zu grüßen; ſie fühlten ſich als Leute, die es 
nicht nötig hatten, ſich dazu herabzulaſſen. Auch hielten 
ſie es nicht für notwendig, leiſe zu ſprechen. Sie ſahen 
ſich kurz um, dann blieb der Dicke vor einem leeren Tiſch 
ſtehen und fragte den Dünnen, der ihm langſam und 
bedächtig gefolgt war: 

„Was meinſt du, Pitt, altes Coon, ob wir hier an 
dieſem vierbeinigen Ding Lager machen?“ | 

„Wenn du denkſt, daß es da für uns paſſend ift, 
ſo habe ich nichts dagegen, alter Dick,“ antwortete der 
Lange. 

„Well! Setzen wir uns alſo her!” 


— 27 — 

Sie nahmen Platz. Die Wirtin kam zu ihnen und 
fragte nach ihren Wünſchen. 

„Seid Ihr die Wirtin dieſes Trink⸗ und Schlaf⸗ 
palaſts, Ma'am?“ erkundigte ſich Dick Hammerdull. 

„Les. Wollt Ihr vielleicht bei mir übernachten, Sir?“ 

„Ob wir da übernachten wollen oder nicht, das bleibt 
ſich gleich; wir haben ſchon eine Hütte, in der wir wohnen. 
Was habt Ihr zu trinken?“ 

„Alle Sorten von Brandy. Beſonders kann ich Euch 
meinen Mint⸗ und Carawayjulex empfehlen, der ganz 
vorzüglich iſt.“ 

„Julex hin und Julex her, wir trinken keinen 
Schnaps. Habt Ihr denn kein Bier?“ 

„Sehr gutes ſogar.“ 

„So bringt zwei Töpfe voll; aber groß müſſen fie 
fein!“ 

Sie bekamen das Verlangte. Hammerdull ſetzte das 
Glas an und trank es in einem Zug aus. Als Pitt 
Holbers dies ſah, leerte er das ſeinige auch bis auf die 
Nagelprobe. 

„Was meinſt du, Pitt, wollen wir nochmals ein⸗ 
gießen laſſen?“ 

„Wenn du denkſt, Dick, daß wir nicht daran erſaufen, 
ſo habe ich nichts dagegen. Es ſchmeckt beſſer als Savan⸗ 
nenwaſſer.“ 

Ihre Krüge wurden wieder gefüllt und jetzt erſt 
nahmen ſie ſich die Zeit, die Wirtsſtube und die darin be⸗ 
findlichen Gäſte in Augenſchein zu nehmen. Dabei fiel das 
Auge des Dicken zunächſt auf den Detektiv Treskow, der 
beide mit überraſchten und e ee Augen 
betrachtet hatte. 

„Alle Donner!“ rief er aus. „Pitt, altes Coon, ſchau 
doch einmal nach der langen Tafel! Kennſt du den Gent⸗ 


— 28 — 


leman, der dort rechts in der Ecke ſitzt und uns anlacht, 
als ob wir Schwiegerväter oder ſonſtige Verwandte von 
ihm wären?“ 

„Wenn du denkſt, daß ich ihn kenne, lieber Dick, ſo 
will ich nichts dagegen haben.“ 

„Iſt's nicht der Poliziſt, der es damals auf den 
Piraten abgeſehen hatte? Komm, wir wollen ihm die 
Vorderfüße ſchütteln!“ | 

Sie eilten nach der Tafel. Treskow kam ihnen hoch⸗ 
erfreut entgegen. Ich hatte ihn ſchon geſtern bei ſeiner Er⸗ 
zählung vom „Kapitän Kaiman“ genau beobachtet. Sein 
Geſicht war von Wind und Wetter gegerbt und von der 
Sonne tief gebräunt, wenngleich er immerhin nicht etwa 
den Eindruck eines Weſtmanns machte; aber ſeine durch⸗ 
geiſtigten Züge, ſein kluger, klarer und ſcharfer Blick 
deuteten auf Entſchloſſenheit, Kaltblütigkeit und Ziel⸗ 
bewußtſein. Er hatte die zwei Weſtmänner nicht zuerſt 
begrüßen wollen, um zu ſehen, ob er von ihnen erkannt 
würde. Dick Hammerdull und Pitt Holbers, von denen 
erſt geſtern erzählt worden war, hier bei Mutter Thick! 
Das war natürlich ein großes, freudiges Ereignis. Es 
wurden ihnen von allen, die an der Tafel ſaßen, die 
Hände geſchüttelt, und es verſtand ſich von ſelbſt, daß 
ſie ihre jetzigen Plätze aufgeben und ſich zu ihren alten 
und neuen Bekannten ſetzen mußten. 

„Wir haben erſt geſtern von euch geſprochen,“ ſagte 
Treskow. „Ich erzählte unſre damaligen Erlebniſſe. 
Ihr dürft euch alſo nicht darüber wundern, daß ihr den 
Gentlemen hier ſehr liebe Bekannte ſeid. Dürfen wir 
wiſſen, wie es euch dann ſpäter ergangen iſt? Ich mußte 
mich in New Pork von euch trennen, nachdem wir der 
Hinrichtung des Kapitän Kaiman, der „Miß Admiral‘ und 
ihrer Genoſſen beigewohnt hatten.“ 


—  — 


„Wie es uns ergangen iſt? Sehr gut,“ antwortete 
Hammerdull. „Wir ſind ſchnurgerade nach dem Weſten, 
wo wir natürlich ſogleich unſer hide-spot aufſuchten. 
Seither haben wir noch viel erlebt und auch immer ein⸗ 
trägliche Jagden gehabt. Unſere Beutel haben ſich ſo 
gefüllt, daß wir nicht wiſſen, wohin mit dem Geld.“ 

„Da ſeid Ihr ja zu beneiden, Mr. Hammerdull!“ 

„Zu beneiden, Mr. Treskow? Schwatzt keine Dumm⸗ 
heit! Was ſoll man mit dem vielen Geld tun, wenn 
man nichts damit anfangen kann? Was kann ich mit 
meinen Goldſtücken, mit meinen Schecks und Anweiſungen 
im wilden Weſten machen, he?“ 

„Geht nach dem Oſten und genießt da Euer Leben!“ 

„Danke! Was gibt's da zu genießen? Soll ich mich 
in ein Wirtshaus ſetzen und eine Speiſekarte herunter⸗ 
eſſen, von der nichts draußen am Lagerfeuer, ſondern alles 
in der Ofenröhre gebraten iſt? Soll ich mich im Menſchen⸗ 
gewühl eines Konzertſaals halb zerdrücken laſſen, die 
ſchlechteſte Luft des ganzen Erdballs verſchlingen und 
meine guten Ohren in die Gefahr bringen, von Pauken 
und Trompeten vollſtändig ruiniert zu werden? Unſer 
Herrgott bietet da draußen im Rauſchen des Urwalds 
und in den geheimnisvollen Stimmen der Wildnis jedem, 
der Sinn dafür hat, ein Konzert, gegen das eure 
Geigen und Trommeln nicht aufkommen können. Soll 
ich mich in ein Theater ſetzen, meine Naſe in die dort 
herrſchenden Moſchus⸗ und Patſchulidüfte ſtecken und mir 
ein Stück vorſpielen laſſen, das meine Geſundheit unter⸗ 
gräbt, weil ich mich darüber entweder krank lachen oder 
krank ärgern muß? Soll ich mir eine Wohnung mieten, 
in der kein Wind wehen und kein Regentropfen fallen 
darf? Soll ich mich in ein Bett legen, über dem es 
keinen freien Himmel, keine Sterne und keine Wolken 


— 30 — 


gibt, und wo ich mich ſo in die Federn wickle, daß ich 
mir ſelbſt wie ein halb gerupfter Vogel vorkomme? Nein! 
Geht mir mit eurem Oſten und ſeinen Genüſſen! Die 
einzigen und wahren Genüſſe finde ich im wilden Weſten, 
und für die hat man nichts zu bezahlen. Darum braucht 
man dort weder Gold noch Geld, und Ihr könnt Euch 
denken, wie ärgerlich es iſt, ein reicher Kerl zu ſein, dem 
ſein Reichtum nicht den geringſten Genuß oder Nutzen 
bringt. Da haben wir denn nachgedacht, was wir mit 
unſrem Geld, das wir nicht brauchen, machen ſollen. Wir 
haben uns darüber monatelang den Kopf zerbrochen, bis 
Pitt Holbers endlich auf einen ſehr guten, auf einen vor⸗ 
trefflichen Gedanken gekommen iſt. Nicht war, Pitt, altes 
Coon?“ | 

„Hm, wenn du wirklich denkſt, daß er vortrefflich 
iſt, ſo will ich dir beiſtimmen. Du meinſt doch meine 
alte Tante?“ | Ä 

„Ob fie eine Tante ift oder nicht, das bleibt ſich 
gleich; aber dieſer Gedanke wird ausgeführt. Pitt Hol⸗ 
bers hat nämlich ſchon als Kind ſeine Eltern verloren 
und wurde von einer alten Tante erzogen, der er aber 
davongelaufen iſt, weil die Art und Weiſe, mit der ſie 
ihn erzog, für ihn ſehr ſchmerzlich war. Es gibt, wie ihr 
alle zugeben werdet, Meſch'ſchurs, Gefühle, die man ſich 
nicht abgewöhnen kann, beſonders wenn ſie von Tag zu 
Tag mit Hilfe von Stockhieben und Backpfeifen immer 
wieder von neuem aufgefriſcht werden. Solche ſchmerz⸗ 
liche Gefühle waren es, denen ſich Pitt Holbers durch 
die Flucht entzog. Er hielt nämlich in ſeiner jugend⸗ 
lichen Weisheit die Erziehungskunſt der alten Tante für 
zudringlicher, als ſie in Beziehung auf gewiſſe, ſehr 
empfindliche Körperteile eigentlich zu ſein brauchte. Jetzt 
aber iſt ihm der Verſtand gekommen, und er hat einge⸗ 


a, BL, 


ſehen, daß er eigentlich noch viel mehr Hiebe hätte kriegen 
ſollen. Die gute Tante erſcheint ihm jetzt nicht mehr 
in der Geſtalt eines alten Drachen, ſondern als eine liebe⸗ 
volle Fee, die ſeinen äußeren Menſchen mit dem Stock 
bearbeitete, um ſeinen inneren glücklich zu machen. Dieſe 
Ueberzeugung hat in ihm das Gefühl der Dankbarkeit 
hervorgerufen und zugleich den Gedanken erweckt, nach⸗ 
zuforſchen, ob die Tante noch am Leben ſei. Iſt ſie tot, 
ſo leben wahrſcheinlich Nachkommen von ihr, denn ſie 
hatte neben dem Neffen ſelbſt auch Kinder, die ebenſo 
erzogen wurden und darum ganz gewiß verdienen, jetzt 
glückliche Menſchen zu ſein. Zu dieſem Glück wollen wir 
ihnen verhelfen. Die Tante ſoll, wenn wir ſie finden, 
unſer Geld bekommen, auch das meinige, denn ich brauche 
es nicht, und es iſt ganz gleich, ob ſie meine Tante oder 
ſeine Tante iſt. Nun wißt ihr alſo, Meſch'ſchurs, warum 
ihr uns hier an der Grenze des Oſtens ſeht. Wir wollen 
die gute Fee von Pitt Holbers aufſuchen, und da man 
vor den Augen eines ſolchen Weſens unmöglich ſo erſchei⸗ 
nen darf, wie wir im Urwald herumlaufen, haben wir 
unſre geflickten Leggins und Jagdröcke abgeworfen und 
uns dieſe ſchönen grünen Anzüge zugelegt, weil ſie uns 
an die Farbe der Prärie und der grünenden Buſhwoods 
erinnern.“ 

„Und wenn Ihr nun die Tante nicht findet, Sir?“ 
fragte Treskow. 

„So ſuchen wir ihre Kinder und geben ihnen das 
Geld.“ 

„Und wenn nun die auch tot ſind?“ 

„Tot? Unſinn! Die leben noch! Kinder, die nach 
ſolchen Grundſätzen erzogen werden, haben ein zähes Leben 
und ſterben nicht ſo leicht.“ 

„So habt Ihr wohl Euer Geld mit?“ 


J 


9 


„Ves.“ 

„Aber doch wohl gut verwahrt, Mr. Hammerdull? 
Ich frage das nämlich, weil ich weiß, daß es Weſtmänner 
gibt, die in Beziehung auf das Geld oft eine verblüffende 
Argloſigkeit zeigen.“ 

„Ob arglos oder nicht, das bleibt ſich gleich; wir 
haben es ſo gut verwahrt, daß es auch dem pfiffigſten 
Spitzbuben unmöglich iſt, es zu erwiſchen.“ 

Er hatte ebenſo wie Pitt Holbers eine zeiſiggrüne 
Taſche umhängen, ſchlug mit der Hand daran und ſagte: 

„Wir tragen es ſtets bei uns; hier in dieſer Taſche 
ſteckt's, und des Nachts legen wir es unter den Kopf. 
Wir haben unſer Vermögen in ſchöne, gute Anweiſungen 
und Schecks verwandelt, ausgeſtellt von Grey & Wood 
in Little Rock; jedes Bankhaus zahlt die volle Summe 
aus. Da, ſeht her; ich will's Euch zeigen!“ 

Als er die Firma Grey & Wood in Little Rock 
nannte, dachte ich unwillkürlich an den „General“, der heut 
bei Wallace & Co. einen Scheck von dieſem Bankhaus 
vorgelegt hatte. Dick Hammerdull ſchnallte die Taſche auf, 
griff hinein und nahm eine lederne Brieftaſche heraus, 
die er mit einem kleinen Schlüſſel öffnete. 

„Hier ſteckt das Geld, Meſch'ſchurs,“ ſagte er; „alſo 
in zwei Taſchen doppelt verwahrt, ſo daß kein Menſch 
dazukommen kann. Wenn ihr dieſe Schecks — — — —“ 

Er hielt inne. Die Rede ſchien ihm nicht bloß im 
Mund, ſondern hinten im Hals ſtecken zu bleiben. Er 
hatte Schecks aus der Taſche nehmen und vorzeigen wollen; 
ich ſah von weitem, daß er ein kleines, helles Päckchen 
in der Hand hielt; ſein Geſicht hatte den Ausdruck des 
Erſtaunens, ja der Beſtürzung. 

„Was iſt das?“ fragte er. „Habe ich die Schecks 


— 33 — 


denn in eine Zeitung gewickelt, als ich ſie geſtern in den 
Händen hatte? Weißt du das, Pitt Holbers?“ 

„Ich weiß nichts von einer Zeitung,“ antwortete Pitt. 

„Ich auch nicht, und doch iſt das ein Zeitungspapier, 
in das fie eingeſchlagen find. Sonderbar, höchſt ſonderbar!“ 

Er faltete das Papier auseinander und rief, indem 
ſein Geſicht erbleichte, erſchrocken aus: 

„Alle Teufel! Die Schecks ſind nicht da!“ Er griff 
in die andern Fächer der Brieftaſche; ſie waren leer. „Die 
Schecks ſind fort! Sie ſind nicht hier — nicht hier — und 
auch nicht hier. Sieh gleich einmal nach, wo die deinigen 
ſind, Pitt Holbers, altes Coon! Hoffentlich haſt du ſie 
noch!“ 

Holbers ſchnallte ſeine Taſche auf und erwiderte: 

„Wenn du etwa meinſt, daß ſie verſchwunden ſind, 
lieber Dick, ſo wüßte ich nicht, wie das geſchehen ſein ſollte.“ 

Es zeigte ſich bald, daß ſeine Schecks auch fort waren. 
Die beiden Weſtmänner waren aufgeſprungen und 
ſtarrten einander faſſungslos an. Das ſchon ſo ſchmale 
und lange Geſicht von Pitt Holbers war noch um die 
Hälfte länger geworden, und Dick Hammerdull hatte ver⸗ 
geſſen, nach ſeinen letzten Worten den Mund zu ſchließen; 
er ſtand ihm weit offen. 

Nicht nur die um die Tafel ſitzenden, ſondern auch 
alle andern Gäſte nahmen teil an dem Schreck der Beſtoh⸗ 
lenen, denn daß ein Diebſtahl vorlag, das war allen und 
auch mir ſofort klar; ich glaubte ſogar, den Dieb zu erraten. 
Man ſprach von allen Seiten auf Hammerdull und Hol⸗ 
bers ein. Dieſe konnten die an ſie gerichteten Fragen gar 
nicht beantworten, bis Treskow mit lauter Stimme in 
dieſen Wirrwarr hineinrief: 

„Still, Gents! Mit dieſem Lärm erreichen wir nichts. 
Die Sache muß anders angefaßt werden; ſie ſch igt in 

May, Old Surehand. II. 


— 84 — 


mein Fach, und ſo bitte ich Euch, Mr. Hammerdull, mir 
einige Fragen ruhig und mit Ueberlegung zu beantworten. 
Seid Ihr feſt überzeugt, daß die Wertpapiere ſich in dieſer 
Brieftaſche befunden haben?“ 

„Genau ſo feſt, wie ich überzeugt bin, daß ich Dick 
Hammerdull heiße!“ 

„Und dieſe Zeitung war nicht drin?“ 

„Nein.“ 

„So hat der Dieb die Papiere herausgenommen und 
die zuſammengefaltete Zeitung an ihre Stelle gelegt, um 
Euch möglichſt lange in der Meinung zu halten, die Schecks 
ſeien noch da. Die Brieftaſche war ſo dick wie vorher, 
und wenn Ihr ſie in die Hand nahmt, ſo mußtet Ihr 
denken, ſie ſei nicht geöffnet worden. Wer aber iſt der 
Dieb?“ | 

„Ja, wer — — iſt — — der — — Dieb?“ dehnte 
Hammerdull in großer Aufregung. „Habe keine Ahnung, 
nicht die geringſte! Und du, Pitt?“ 

„Ich auch nicht, lieber Dick,“ antwortete Holbers. 

„So müſſen wir nach ihm forſchen,“ meinte Tres⸗ 
kow. „Gibt es irgendeinen, der es wußte, daß Ihr Geld 
oder Geldeswert hier in der Taſche hattet?“ 

„Keinen Menſchen!“ brummte der Dicke. 

„Seit wann ſteckten die N drin?“ 

„Seit vorgeſtern.“ 

„Wann habt Ihr die Brieftasche zum letztenmal 
geöffnet?“ 

„Geſtern, als wir uns ſchlafen legten. Da waren 
ſie noch drin.“ 

„Wo habt ihr übernachtet?“ 

„Im Boardinghouſe von Hilley, Waterſtreet.“ 

„Dieſer Wirt iſt ein ehrlicher Mann; auf ihn kann 
kein Verdacht fallen. Aber er hat keine einzelnen Zimmer, 


BE: 


ſondern nur einen großen, gemeinſchaftlichen Schlafraum?“ 

„Ja; da ſtanden unſre Betten.“ 

„Ah! Und in dieſem Raum habt ihr die Taſchen 
aufgemacht?“ 

„Nein, ſondern unten in der Gaſtſtube.“ 

„Man hat euch dabei beobachtet?“ 

„Nein. Wir waren in dem betreffenden Augenblick 
die einzigen Gäſte, und es gab kein Auge, das uns zuſehen 
konnte. Dann ſind wir ſchlafen gegangen und haben die 
Taſchen unter die Kopfkiſſen gelegt.“ 

„So! Hm! Das gibt keinen Anhalt. Wir müſſen 
ſchnell zu Hilley gehen, damit ich mir die Räumlichkeiten 
betrachte und nach andern Anhaltspunkten ſuche. Kommt, 
Mr. Hammerdull, Mr. Holbers! Wir wollen eilen!“ 

Da ſagte ich, noch immer auf meinem Platz ſitzend, 
während alle andern Gäſte die Tafel umdrängten: 

„Bleibt in Gottes Namen hier, Mr. Treskow! Ihr 
findet den Dieb dort nicht.“ 

Die Augen richteten ſich alle auf mich, und Tres⸗ 
kow ließ die ſchnelle Frage hören: 

„Wer ſagt das? Ah, Ihr! Wie kommt Ihr zu dieſer 
Behauptung? Seid Ihr Juriſt oder Poliziſt?“ 

„Allerdings nicht; aber ich denke, man braucht keins 
von beiden zu ſein, um irgend eine Sache richtig anfaſſen 
zu können. Erlaubt, daß ich nun einmal einige Fragen 
an Mr. Hammerdull und Mr. Holbers richte!“ 

Ich ſtand von meinem Stuhl auf und ging auf die 
Tafel zu. Dadurch wurde es den beiden Genannten trotz 
der vielen Perſonen, die ſie umſtanden, möglich, mich zu 
ſehen. Was ich erwartet hatte, das geſchah. Dick Ham⸗ 
merdull ſtreckte beide Arme aus, wies mit beiden Zeige⸗ 
fingern auf mich und ſchrie: 

„Heavens! Wen ſehe ich da? Iſt das die Mög⸗ 


— 38 


lichkeit, oder täuſchen mich meine Augen? Pitt Holbers, 
altes Coon, ſiehſt du dieſen Gentleman?“ 

„Hm, wenn du denkſt, daß ich ihn ſehe, ſo ſcheinſt 
du das Richtige getroffen zu haben, lieber Dick, ant⸗ 
wortete der Lange 5 

„Welcome, welcome, Mr. Shatterhand! Iſt das 
eine Ueberraſchung und eine Freude, Euch hier zu ſehen! 
Ihr ſeid eben erſt gekommen?“ 

„Nein. Bei eurer Ankunft war ich ſchon da. Ich 
drehte mich mit Abſicht um, denn ihr ſolltet mich nicht 
gleich erkennen.“ 

„So habt Ihr alles gehört und wißt, daß wir 
beſtohlen worden ſind?“ 

„Gewiß. Ich hoffe ſogar, euch helfen zu können.“ 

Seit mein Name genannt worden war, herrſchte in 
dem großen Raum tiefe Stille. Man war von der Tafel 
zurückgetreten, um mir Platz zu machen, und ich ſah um 
mich einen Kreis von Menſchen, deren Augen mich neu⸗ 
gierig betrachteten. Da drängte ſich die Wirtin durch den 
Kreis, ſtreckte mir beide Hände hin und rief: 

„Old Shatterhand ſeid Ihr, Old Shatterhand? Will⸗ 
kommen, Sir, tauſendmal willkommen! Das iſt für mein 
Haus ein Ehrentag, den ich mir anmerken werde! Hört 
ihr es alle, ihr Leute? Old Shatterhand wohnt ſchon 
ſeit geſtern hier, und ich habe es nicht gewußt! Freilich, 
als er geſtern abend die ſechs Rowdies hinausmarſchieren 
ließ, da konnten wir es uns eigentlich denken! Nun möchte 
ich aber von — — —“ 

„Davon ſpäter, Mutter Thick!“ bat ich, ſie unter⸗ 
brechend. „Ich will Euch vorläufig ſagen, daß es mir 
hier gefällt und daß ich mit Euch zufrieden bin; ſpäter 
ſollt Ihr von mir alles hören, was Ihr wollt. Jetzt 
aber haben wir es mit dem Diebſtahl zu tun. Alſo, Dick 


— 87 — 


Hammerdull, ihr habt die geſtohlenen Papiere vorgeſtern 
in die Brieftaſchen geſteckt?“ 

„Ja,“ antwortete er. „Die Taſchen haben wir uns 
erſt vorgeſtern hier gekauft.“ 

„Und wo die Papiere hineingetan?“ 

„Gleich in dem betreffenden Laden.“ 

„Waret ihr die einzigen Käufer dort?“ 

„Nein. Es kam ein Mann dazu, der, ich weiß nicht 
was, kaufen wollte. Dem gefielen die Taſchen ſo, daß er 
von ganz derſelben Sorte auch zwei kaufte.“ 

„Sah er, daß ihr die Papiere in die eurigen ſtecktet?“ 

„Ja.“ 

„Wußte oder ahnte er, was für Papiere es waren?“ 

„Gewußt hat er es nicht. Ob er es aber ahnte, 
das kann man doch nicht wiſſen, nicht wahr, Pitt Hol⸗ 
bers, altes Coon?“ | 

„Wenn du denkſt, daß man es nicht wiſſen konnte, 
ſo haſt du unrecht, lieber Dick,“ antwortete Pitt, ihm 
dieſes Mal nicht beiſtimmend. 

„Unrecht? Wieſo?“ 

„Weil du es geſagt haſt.“ 

„Ich? Das iſt ja nicht wahr! Ich habe mit die⸗ 
ſem Mann kein einziges Wort geſprochen.“ ö 

„Aber mit dem Verkäufer. Zu dem ſagteſt du, als 
du die Papiere hineinſteckteſt, daß dieſe Art von Taſchen 
ſich ſehr gut zur Aufbewahrung von ſolch hohen Schecks 
eigne.“ 

„Das war eine große Unvorſichtigkeit!“ nahm ich 
wieder das Wort. „Hat der Mann die Taſchen gekauft, 
ehe er das hörte?“ 

„Nein, ſondern nachher,“ antwortete Holbers. 

„Wer ging dann eher fort, er oder ihr?“ 

„Wir.“ 


„Habt ihr a etwa bemerkt, daß er euch nach⸗ 

gegangen iſt?“ 
„Nein.“ 

„Ich nehme trotzdem an, daß er euch gefolgt iſt, 
natürlich heimlich; er hat ſehen wollen, wo ihr wohnt.“ 

Da fiel Hammerdull ſchnell und eifrig ein: 

„Ob wir gewohnt haben oder nicht, das bleibt ſich 
gleich; aber er war dann auch da.“ 

„In eurem Boardinghouſe?“ 

„Ja. Er wohnte dort.“ 

„Er ſchlief wohl in demſelben Raum mit euch?“ 

„Natürlich, denn es gab keinen andern Platz.“ 

„So iſt er der Dieb. Die Brieftaſchen, die ihr habt, 
ſind gar nicht die eurigen.“ 

„Nicht — — —?“ fragte er, indem feine fonft fo 
pfiffigen Züge einen ganz entgegengeſetzten Ausdruck an⸗ 
nahmen. 

„Nein; es ſind die, die jener Mann gekauft hat. Er 
hat Zeitungen hineingelegt und ſie dann, wahrſcheinlich 
als ihr ſchlieft, ganz einfach mit den eurigen umgetauſcht. . 

„Ah — — —! Das hätte der Halunke ja außer⸗ 
ordentlich ſchlau angefangen!“ 

„Allerdings. Er muß eine bedeutende Fertigkeit als 
Taſchendieb beſitzen, denn es gehört etwas dazu, zwei 
Weſtmännern, die doch gewohnt ſind, ſehr leiſe zu ſchlafen, 
die Brieftaſchen unter dem Kopfkiſſen wegzuziehen.“ 

„Was das betrifft, Sir, ſo haben wir gar nicht leiſe, 
ſondern wie die Ratten geſchlafen. Die ſchlechte Luft in 
dieſem Raum und der Oeldunſt, das war ſchrecklich. Wir 
haben gelegen wie betäubt.“ 

„Nun, ſo iſt ihm der Diebſtahl leicht geworden. Iſt 
Euch ſein Name bekannt?“ 

„Nein.“ 


— 39 — 


„Den werden wir im ae erfahren,” fiel 
da Treskow ein. 

„Wahrſcheinlich nicht,“ e ich. „Er hat doch 
jedenfalls einen falſchen Namen geſagt, wie Ihr als Polis 
ziſt ja beſſer wißt als ich. Zu wiſſen, wie er ſich genannt 
hat, bringt uns alſo gar keinen Nutzen.“ 

„Aber es gibt uns einen Anhalt, ihn aufzuſuchen.“ 

„Glaubt Ihr etwa, daß er noch hier in Jefferſon⸗ 
City iſt, Mr. Treskow?“ 

„Nein. Ich werde augenblicklich gehen, um — die 
Polizei zu benachrichtigen und — — —“ 

„Denkt nicht an die Polizei,“ unterbrach ich ihn. 
„Von ihr haben die Beſtohlenen gar nichts zu erwarten.“ 

„Ich denke doch!“ 

„Nein, gar nichts! Wenn wir nicht ſelbſt das Rich⸗ 
tige treffen, ſo trifft es die Polizei noch viel weniger als 
wir. Wollen es überlegen! Aber nicht hier, wo es ſo 
laut hergeht. Kommt heraus in die kleine Stube! Mutter 
Thick mag uns die Gläſer nachbringen.“ 

Wir gingen in ein kleines Nebenzimmer. Mit dem 
wir find Treskow, Hammerdull, Holbers und ich gemeint. 
Es lag nicht in meiner Abſicht, noch andere hören zu 
laſſen, was wir beſprachen, denn es konnte leicht eine 
zweifelhafte Perſon dabei ſein, die uns die Sache ver⸗ 
darb. Es hatte aber auch keiner Miene gemacht, uns 
zu folgen. | 

Als wir min unbelauſcht und unbeläftigt beiſammen 
ſaßen, ſagte ich rund heraus: 

„Ich kenne den Dieb, Meſch'ſchurs, und da ich ihn 
euch nennen will, habe ich euch hier hereingeführt. Es 
braucht da draußen niemand ſeinen Namen zu hören, 
denn es könnte möglicherweiſe jemand da ſein, der ihn 
warnt. Ich habe nämlich den Kerl zufällig geſehen, als 


— 10 — 


er einen der Schecks zu Geld machte; es waren fünf⸗ 
tauſend Dollars.“ 

„Was? Schon fünftauſend Dollars?“ zürnte Dick 
Hammerdull. „Der Kuckuck ſoll den Halunken reiten, 
wenn er uns dieſe Summe verkrümelt, ehe wir ihn fangen! 
Wie heißt der Menſch?“ 

„Er wird ſich wohl ſchon verſchiedene Namen bei⸗ 
gelegt haben. Ich habe ihn unter dem Namen Douglas 
kennen gelernt.“ 

„Douglas?“ fiel da Treskow ein. „Den Namen 
kenne ich auch. Ha, wenn dieſer Douglas der wäre, den 
ich ſuche!“ | 

„Ihr ſucht einen Menſchen dieſes Namens?“ fragte 
ich. 

a „Ja. Das heißt, dieſer Name iſt nur einer von den 

vielen, die er ſich ſchon beigelegt hat. Da Ihr ihn ge⸗ 
ſehen habt, könnt Ihr mir wohl eine Beſchreibung ſeiner 
Perſon geben, Sir?“ | 

„Sogar eine fehr genaue. Ich bin zwei Tage mit 
ihm zuſammen geweſen.“ Ich beſchrieb ihm den ‚General‘. 

„Es ſtimmt; es ſtimmt genau,“ rief er. „Ich will 
Euch im Vertrauen mitteilen, daß ich hier nach Jefferſon⸗ 
City gekommen bin, um ihn zu fangen. Wir erfuhren, 
daß er ſich wahrſcheinlich hierher. wenden werde. Wo 
habt Ihr ihn kennen gelernt, Mr. Shatterhand?“ 

„Im Llano eſtakado. Er trat auch dort ſogleich als 
Dieb auf.“ Ich erzählte die Geſchichte kurz. 

„Nur fünfzig Hiebe hat er erhalten?“ bedauerte 
Treskow. „Das war viel zu wenig. Er hat mehr Werg 
am Rocken, als Ihr glauben werdet. Ich muß ihn 
fangen; er darf mir nicht entgehen!“ 

„Ihr braucht Euch keine Mühe zu geben, Sir; ich 
habe die Spur ſchon gefunden.“ 


Zen Ze 


„Wo führt fie hin?“ 

„Weit fort von hier! So weit, daß Ihr vielleicht 
davon abſehen werdet, ihr zu folgen. 

„Das denke ich nicht. Ich bin damals dem See⸗ 
räuber quer durch den ganzen Erdteil gefolgt; um den 
General“ zu fangen, werde ich nicht weniger tun. Alſo 
ſagt, wohin er will!“ N | 

„Hinauf nach den Rocky⸗Mountains.“ 

„Wirklich? Mit ſo viel Geld in der Taſche?“ 

„Trotzdem! Dieſer Mann iſt zu klug, als daß er 
im Oſten bliebe, um es zu verjubeln und ſich dabei fangen 
zu laſſen.“ | 

„Aber die Felſengebirge ziehen ſich durch die ganzen 
Vereinigten Staaten. Kennt Ihr den Ort, wohin er will, 
ganz genau?“ 

„Ja. Ihr kennt ihn ja auch.“ f 

„Ich?“ fragte er verwundert. „Von wem ſollte ich 
ihn erfahren haben?“ | 

„Von demſelben Mann, der ihn mir nannte, näm⸗ 
lich von Toby Spencer.“ 

„Spencer — — Spencer — — wer heißt denn — — 
ah, Ihr meint den geſtrigen Grobian, dem von Euch ſo 
vortrefflich hinausgeleuchtet wurde?“ 

„Ja. Ihr habt doch gehört, was er mit mir ſprach? 
Daß er mir einen Antrag machte!“ 

„Mit ihm nach dem San Luis⸗Park zu gehen?“ 

„Ja. Dorthin geht der ‚General‘ auch.“ 

„Hat Spencer es geſagt?“ 

„Iſt Euch das entgangen?“ 

„Daß er den General erwähnt hat, weiß ich nicht. 
Meine Aufmerkſamkeit für Euer Geſpräch muß in dem 
betreffenden Augenblick durch irgend etwas abgelenkt wor⸗ 
den fein. Alſo, der „General“ will auch hinauf?“ 


* 
— 48 22 


„Natürlich! Er iſt ja der Anführer dieſer Kerls, 
die anſcheinend beabſichtigen, eine Räuberbande zu bilden. 
Wollt Ihr ſolchen Leuten folgen und Euch in ihre Nähe 
wagen, Mr. Treskow?“ 

„Um ihn zu fangen, ſchrecke ich vor keinem Wagnis 
zurück.“ 

„So muß er ja ein ganz bedeutender Verbrecher ſein, 
. auch das abgerechnet, was ich von ihm weiß?“ 

„Das iſt er allerdings. Ich könnte von ihm Geſchich⸗ 
ten erzählen, die aber nicht hierher gehören; wir haben 
auch keine Zeit dazu.“ 

„Aber bedenkt, was das heißt, einen Ritt hinauf in 
den Park zu machen! Ihr müßt durch das Gebiet der 
Oſagen!“ | 

„Sie werden mir wohl nichts tun!“ 

„Meint Ihr? In neueſter Zeit ſind ſie wieder ein⸗ 
mal aufſtändig. Sie ſind ein Stamm der Sioux, und was 
das heißt, das haben Euch damals die Ogellallahs gezeigt. 
Und noch eine Frage: Habt Ihr Begleiter?“ 

„Hm! Ich bin allein, denke aber, daß ich auf Mr. 
Hammerdull und auf Mr. Holbers rechnen kann.“ 

„Warum auf uns?“ fragte Dick, der Dicke. 

„Weil er euer Geld bei ſich hat. Oder wollt ihr 
es ihm laſſen, Sir?“ 

„Fällt uns gar nicht ein! Wenn es unſer wäre, 
könnten wir es noch eher ſchwinden laſſen; aber es gehört 
doch der Tante von Pitt Holbers, und darum müſſen wir 
es für ſie wieder holen.“ 

„So haben wir ja gleichen Zweck und gleiches Ziel, 
und ich denke doch nicht, daß ihr für euch allein handeln 
und mich allein reiten laſſen werdet.“ 

„Zweck hin und Zweck her, wir reiten mit Euch.“ 


— 486 — 


„Schön! So find wir alſo zu dreien; das verdrei⸗ 
facht meine Hoffnung, den ‚General‘ zu fangen.“ 

„Ob dreifach oder nicht, das iſt ganz gleich; aber 
wenn er mir zwiſchen die Hände kommt, ſo kommt er 
nicht wieder heraus. Meinſt du nicht, Pitt Holbers, 
altes Coon?“ 

„Wenn du denkſt, lieber Pitt, ſo reiten wir mit, 
nehmen ihm das Geld ab und prügeln ihn tüchtig durch; 
dann übergeben wir ihn an Mr. Treskow, der einen 
ſchönen Galgen für ihn ausſuchen kann. Alſo wir drei 
reiten zuſammen, aber wann?“ 

„Das muß erſt noch überlegt werden. Vielleicht 
wird uns Mr. Shatterhand einen guten Rat geben,“ 
ſagte Treskow. 

„Das will ich gern tun,“ erwiderte ich. „Er lautet: 
Reitet nicht zu dreien, ſondern nehmt auch mich mit, Mr. 
Treskow.“ | 

„Euch?“ fragte er, ſchnell aufblickend. „Wirklich? 
Ihr wollt mit?“ ö 

„Gewiß! Und Winnetou wird auch dabei ſein.“ 

„Ah, Winnetou! Iſt der auch hier in Jefferſon?“ 

„Nein, aber in der Nähe.“ 

„Und Ihr denkt, daß er ſich uns anſchließt?“ 

„Ganz gewiß. Unſre Abſicht war, uns hier nach 
jemandem zu erkundigen und ihn dann aufzuſuchen, wenn 
er nicht zu weit von hier ſein ſollte. Wir haben erfahren, 
daß er hinauf nach Kolorado iſt, und werden ihm folgen. 
Das gibt denſelben Weg wie den eurigen. Ihr dürft alſo 
nicht denken, daß wir ein Opfer bringen.“ 

„Wenn wir auch nicht von einem Opfer ſprechen 
wollen, ſo iſt es doch ein großer Dienſt, den ihr uns 
leiſtet. Nun ſind wir alſo fünf Perſonen.“ 

„Und werden ſpäter ſechs ſein.“ 


er 


„Sechs? Wer iſt die ſechſte?“ 

„Der, nach dem ich mich hier erkundigt habe. Und 
wenn ihr deſſen Namen hört, wird euch ſeine Geſellſchaft 
auch ſehr willkommen ſein. Es iſt Old Surehand.“ 

„Was? Sogar noch Old Surehand? Nun mag 
dieſer ‚General‘ laufen, wohin er will, wir finden ihn! 
Freut Ihr Euch denn nicht darüber, Dick Hammerdull, 
daß wir drei ſolche Männer bei uns haben werden?“ 

„Ob ich mich freue oder nicht, das bleibt ſich gleich; 
aber ich bin ganz entzückt darüber, mich in ſolcher Geſell⸗ 
ſchaft befinden zu dürfen. Was ſagſt du dazu, Pitt Hol⸗ 
bers, altes Coon?“ 

„Wenn du denkſt, daß es für uns eine Ehre iſt, ſo 
ſtimme ich dir bei, lieber Dick, und ſchlage vor, daß wir 
uns nicht überflüſſig lang in dieſem Neſt, das ſie Jeffer⸗ 
ſon⸗City nennen, herumtreiben.“ 

Der gute Pitt Holbers pflegte nur zu ſprechen, wenn 
fein ‚lieber Did‘ ihn fragte, und dann auch nichts andres 
zu tun, als ihm beizuſtimmen; jetzt ſchwang er ſich ſo 
weit auf, einen Vorſchlag zu machen. Ich antwortete: 

„Wir werden allerdings hier keine Zeit verſäumen, 
aber auch nichts unterlaſſen, was zu bedenken iſt. Vor 
allen Dingen handelt es ſich um die Pferde. Ihr wolltet 
nach dem Oſten, habt alſo wahrſcheinlich keine Pferde mit?“ 

„Keine Pferde mit? Da kennt Ihr Dick Hammerdull 
ſchlecht, Mr. Shatterhand! Wenn er ſich ja von ſeiner 
alten, guten Stute trennen muß, dann aber nur im letzten 
Augenblick. Ich habe ſie mitgebracht und Pitt Holbers 
ſein Pferd auch. Wir wollten ſie hier in Pflege geben 
und dann bei unſrer Rückkehr abholen. Das iſt nun 
unnötig.“ | 

„Gut! So ſeid ihr beide alſo beritten. Aber eure 
Trapperanzüge?“ 


„Denen haben wir freilich den Abſchied gegeben 
Wir gehen ſo, wie wir hier ſitzen.“ 

„Und die Regenſchirme?“ fragte ich ſcherzhaft. 

„Die nehmen wir auch mit, ſie ſind bezahlt; was ich 
bezahlt habe, das iſt mein, und was mein iſt, das kann 
ich mitnehmen, ohne daß die Polizei das Recht hat, ſich 
darum zu bekümmern.“ 

„Well! Und Waffen?“ 

„Die haben wir im Boardinghouſe.“ 

„Alſo alles gut. Aber Ihr, Mr. Treskow?“ 

„Ich habe einen Revolver bei mir; alles andre muß 
ich mir kaufen. Wollt Ihr mir dabei behilflich ſein?“ 

„Gern. Gewehr und Munition kauft Ihr Euch hier, 
das Pferd aber erſt in Kanſas⸗City oder Topeka.“ 

„Kommen wir dorthin?“ 

„Ja. Wir reiten nicht von hier aus, ſondern fahren 
mit dem Steamer. Erſtens geht das ſchneller, und zwei⸗ 
tens ſchonen wir dadurch die Tiere. Wenn Old Sure⸗ 
hand klug handelt, ſo iſt er am Republican⸗River hinauf, 
dem auch wir folgen werden. Das gibt einen Ritt, bei 
dem man gute Pferde braucht.“ 

„Wißt Ihr, wann der Steamer von hier abgeht?“ 

„Ich glaube, morgen kurz nach Mittag. Wir haben 
alſo den ganzen Vormittag für die Vorbereitungen, die 
noch zu treffen ſind. Aber es gibt Erkundigungen ein⸗ 
zuziehen, mit denen wir nicht bis morgen warten dürfen.“ 

„Welche?“ 

„Der „General“ iſt ganz gewiß ſchon fort; wir 
brauchen uns alſo gar nicht die Mühe zu geben, nach ihm 
zu ſuchen. Aber gut wäre es, zu erfahren, wann und 
auf welchem Weg Toby Spencer mit ſeinen fünf Kerlen 
die Stadt verläßt oder verlaſſen hat.“ 


— 46 — 


„Das kann ich Euch ſagen, Sir. Er iſt mit dem 
Zweiuhr⸗Zug fort.“ 

„Ahl Alſo mit der Bahn? Sie find nach St. Louis 
gefahren?“ 

„Ja, mit der Miſſouribahn nach St. Louis. Ihr 
habt gedacht, daß fie mit dem ‚General‘ gehen?“ 

„Das tun ſie auch!“ 

„Aber, Sir, das ſtimmt doch nicht! Er will nach 
dem Park hinauf, alſo nach dem Weſten, ſie aber ſind 
oſtwärts abgereiſt.“ 

„Gewiß. Sie fahren rückwärts, um dann deſto 
ſchneller vorwärts zu kommen. Es iſt doch klar, daß ſie 
von St. Louis aus mit der Bahn nach Kanſas wollen.“ 

„Alle Teufel! Wo beabſichtigen ſie denn da mit dem 
„General“ zuſammenzutreffen?“ 

„Sie ſind ſchon mit ihm beiſammen.“ 

„Wie? Ihr denkt alſo, daß — — — daß — — — 
er mit ihnen gefahren iſt?“ 

„Ja. Wo habt Ihr denn Toby Spencer geſehen?“ 

„Auf dem Bahnhof. Er ſaß mit ſeinen fünf Burſchen 
ſchon im Abteil. Sie ſchienen mich von geſtern abend her 
zu kennen, denn ſie grinſten mich aus dem Fenſter höh⸗ 
niſch lachend an.“ 

„Aber einer hat Euch nicht angelacht, ſondern ſich 
gehütet, zum Fenſter herauszuſehen.“ 

„Den „General“ meint Ihr?“ 

„Ja. Es ſteht bei mir feſt, daß er mit ihnen gefahren 
iſt, Mr. Treskow.“ 

„Wenn das ſo wäre! Da hätte ich den Kerl hier 
vergeblich geſucht und, als er fortfuhr, kaum fünf 
Schritt weit von dem Wagen geſtanden, in dem er ſaß!“ 

„Sicherlich!“ x 


— 47 — 


„Wie ärgerlich! Aber der Fehler iſt noch gut zu 
machen, wenn wir unſern Plan ändern.“ 

„Wied“ 

„Wir fahren nicht mit dem Schiff, ſondern noch in 
dieſer Nacht mit dem nächſten Zug nach St. Louis.“ 

„Dazu würde ich nicht raten. Schon der Pferde 
wegen möchte ich auf die Eiſenbahn verzichten. Ferner 
iſt Winnetou nicht da; ich muß einen Boten zu ihm 
ſchicken, der ihn holt. Und drittens iſt es ſehr leicht mög⸗ 
lich, daß die Kerls nicht gleich von St. Louis fortfahren, 
ſondern ſich aus irgend einem Grund dort aufhalten. 
Dann kämen wir ihnen voraus und wüßten nicht, 
wohin.“ 

„Das iſt richtig!“ 

„Nicht wahr, Ihr ſeht es ein? Wir könnten uns 
den ganzen Fang verderben. Nein, wir müſſen die, die 
wir erwiſchen wollen, vor uns haben, aber nicht hinter 
uns. Dann folgen wir ihrer Spur und können uns nicht 
irren. Seid ihr nun einverſtanden, Meſch'ſchurs?“ 

„Ja,“ antwortete Treskow. 

„Ob einverſtanden oder nicht, das bleibt ſich gleich,“ 
erklärte Dick Hammerdull; „es wird aber ſo gemacht, ganz 
genau ſo, wie Ihr geſagt habt. Es iſt beſſer, wir folgen 
Euch als unſern dummen Köpfen. Was ſagſt du dazu, 
Pitt Holbers, altes Coon?“ 

Dieſer entgegnete in ſeiner trockenen Weiſe: 

„Wenn du denkſt, daß du ein Dummkopf biſt, ſo 
habe ich nichts dagegen, lieber Dick.“ 

„Unſinn! Ich habe von unſern Köpfen, aber nicht 
von dem meinigen geſprochen.“ 

„ daran haſt du ſehr unrecht getan! Wie kannſt du 
von einem Kopf ſprechen, der gar nicht dir gehört, ſon⸗ 


= A 


dern mir? Ich werde mir nie erlauben, von deinem 
Kopf zu ſagen, daß er dumm iſt; du aber ſagſt es ſelber 
und mußt es beſſer wiſſen als ich, lieber Dick.“ 

„Ob ich dein lieber Dick bin oder nicht, das bleibt 
ſich gleich, aber wenn du mich beleidigſt, ſo werde ich es 
nicht lange mehr bleiben. Sagt jetzt, Mr. Shatterhand, 
ob es für uns beide heut noch etwas zu tun gibt!“ 

„Ich wüßte nicht, was. Kommt morgen mit euern 
Pferden an den Landeplatz des Steamers; das iſt alles, 
was ich euch noch zu ſagen habe. Aber, faſt hätte ich 
ein Wichtiges vergeſſen: Ihr ſeid beſtohlen worden und 
habt alſo kein Geld?“ 

„Wollt Ihr uns etwas borgen, Sir?“ 

„Gern.“ x 

„Danke! Wir borgen Euch auch, wenn Ihr etwas 
braucht. Ich ſtelle Euch ſogar dieſen ganzen Beutel zur 
Verfügung und würde es als große Ehre ſchätzen, wenn 
Ihr die Güte hättet, ihn als Geſchenk von mir anzu⸗ 
nehmen.“ 

Er zog bei dieſen Worten einen großen, ganz vollen 
Lederbeutel aus der Taſche und warf ihn auf den Tiſch, 
daß es nur ſo klirrte; es klang nach lauter Gold. 

„Wenn ich ihn nähme, hättet Ihr dann ſelbſt nichts 
mehr,“ antwortete ich. 

„Das ſchadete nichts, denn Pitt Holbers hat einen 
grad ſo großen und grad ſo vollen Lederſack. Wir ſind 
nämlich ſo geſcheit geweſen, nur die Papiere in die Brief⸗ 
taſche zu tun. Einige Tauſend Dollars haben wir uns 
in Goldſtücke umwechſeln laſſen und ſie hier in dieſe 
Taſchen geſteckt. Wir können alſo alles bezahlen, was 
wir brauchen. Nun aber wird es klug ſein, zu ſchlafen, 
denn von hier bis Kanſas⸗City werden wir wohl wenig 
ſchlafen können. Man weiß, daß es auf dem Steamer 


— 49 — 


kaum möglich iſt, ein Auge zuzutun. Komm, Pitt Hol⸗ 
bers, altes Coon! Oder haſt du noch Luſt, zu bleiben?“ 

„Hm! Wenn ich es mir richtig überlege, ſo iſt das 
Bier, das bei Mutter Thick aus dem Faſſe läuft, eine 
Flüſſigkeit, in der man ſich da oben in den Felſenbergen 
wohl nicht wird baden können. Oder ſchmeckt es dir nicht, 
lieber Dick?“ g 

„Ob es mir ſchmeckt oder nicht, das iſt ganz gleich; 
aber es iſt ein großartiges Getränk, und wenn du Luſt 
haſt, noch länger hier zu bleiben, ſo werde ich dich nicht 
im Stich laſſen, zumal ich nur deshalb vom Schlafen⸗ 
gehen ſprach, damit du nicht mitgehen ſollteſt. Ich habe 
nämlich auch noch Durſt.“ 

Sie blieben alſo ſitzen, und ich war ebenſo wie Tres- 
kow nicht ſo unmenſchlich, ſie in dem traulichen Stübchen 
allein zu laſſen. Es entſpann ſich noch eine recht angeregte 
Unterhaltung, während der mir die drollige Art der 
beiden Trapper viel Vergnügen bereitete. Sie waren 
trotz des Diebſtahls unerſchöpflich mit ihrem Humor und 
ihrem launiſchen Wortgeplänkel, dieſe zwei „verkehrten 
Zoajt3”. So wurden fie nämlich im wilden Weiten 
genannt. Toaſts ſind bekanntlich geröſtete Butterſchnitten 
oder Butterbrote, die man mit den Butterſeiten zuſam⸗ 
menlegt; Hammerdull und Holbers pflegten aber während 
des Kampfes Rücken an Rücken zu ſtehen, um ſich gegen- 
ſeitig zu decken; ſie kehrten ſich alſo die Kehrſeiten zu und 
hatten darum den Beinamen verkehrte Toaſts bekommen. 

Es war mir recht lieb, daß ich ſie hier gefunden 
hatte. Der heitere Dick und der trockene Pitt waren zwei 
Begleiter, in deren Geſellſchaft ich auf keine Langeweile 
zu rechnen hatte, und da ſie viel beſſere Weſtmänner 
waren, als zum Beiſpiel Sam Parker und Jos Hawley, 
ſo brauchte ich auch nicht zu befürchten, daß ſie mir durch 

May, Old Surehand. II. 4 


BE 


fehlerhaftes Verhalten die gute Stimmung verderben wür⸗ 
den. Treskow war kein Weſtmann, aber ein Gentleman 
von Geiſt und Erfahrung, kenntnisvoll und doch dabei 
beſcheiden. Es ſtand alſo zu erwarten, daß wir recht gut 
zuſammenhalten würden. 

Mutter Thick beſorgte mir einen zuverläſſigen Boten, 


den ich zu Winnetou ſchickte. Dieſer Mann hatte ſich fehr . 


beeilt, denn der Häuptling der Apatſchen traf vor dem 
Boardinghouſe ein, als ich am andern Morgen oben beim 
Kaffee ſaß. Natürlich brachte er mein Pferd mit. Ich 
freute mich innerlich über die ehrerbietigen und bewun⸗ 
dernden Blicke, mit denen die Anweſenden ihn betrachteten, 
und über die zuvorkommende Art, mit der ihn Mutter 
Thick bediente, obgleich er nur um ein Glas Waſſer 
gebeten hatte. 

Ich erzählte ihm, was geſchehen war und weshalb 
ich ihn hatte holen laſſen. Er erkannte Treskow ſofort 
wieder, ſchien aber an die Fehler zu denken, die damals 
gemacht worden waren, denn er ſagte: 

„Deadly-gun war der gebietende Häuptling ſeiner 
Bleichgeſichter; darum hat Winnetou von dem Augenblick 
an, in dem er das Hide-spot betrat, keinen Befehl mehr 
gegeben, ſondern ſich nach ihm gerichtet. Auch war mein 
Bruder Shatterhand nicht dabei. Jetzt wird es anders 
ſein; wir werden weniger Blut vergießen und jeden 
Fehler vermeiden. Welchen Weg hat Old Surehand ein⸗ 
geſchlagen?“ 

„Das weiß ich nicht; ich werde es aber erfahren, 
denn ich gehe noch einmal zu Mr. Wallace, um mich von 
ihm zu verabſchieden.“ 

Vorher begleitete ich Treskow, um ihn bei ſeinen Ein⸗ 
käufen zu unterſtützen. Von Gewehren verſtand er nichts 
und wäre gewiß mit einer ſehr blanken, aber ebenſo 


— 51 — 


untauglichen Rifle übervorteilt worden. Wurde es doch 
ſogar mir nicht leicht, dem Pulver, das man uns erſt 
borſetzte, anzuſehen, daß es wenigſtens zwanzig Prozent 
zerſtoßene Holzaſche enthielt. 

Als dieſe geſchäftlichen Angelegenheiten erledigt 
waren, begab ich mich zu dem Bankier, um ihm zu ſagen, 
daß . ich jetzt im Begriff ſtehe, die Stadt zu verlaſſen. 
Von dem „General“ und den Vorkommniſſen des letzten 
Abends fagte ich nichts; es gab ja nichts, was mich 
drängte, es ihm mitzuteilen, und es iſt immer beſſer, zu 
ſchweigen, als etwas zu ſagen, was man nicht grad ſagen 
muß oder nicht zu ſagen braucht. Da fiel mir eine Frage 
ein, die ich noch an ihn richten mußte: 

„Ihr wißt, Sir, daß Old Surehand auf feinem Ritt 
nach Fort Terret von Apanatſchka, dem jungen Häuptling 
der Komantſchen, begleitet wurde?“ 

„Ja, er hat es mir erzählt,“ antwortete Wallace. 

„Wo iſt dieſer Indianer hin? Wo hat er ſich von 
Old Surehand getrennt?“ 

„Sie ſind von Fort Terret miteinander nach dem 
Rio Pecos geritten, wo ſich Apanatſchka von ihm ver⸗ 
abſchiedet hat, um zu ſeinem Stamm zurückzukehren.“ 

„Schön! Und wißt Ihr vielleicht, welchen Weg Old 
Surehand jetzt eingeſchlagen hat?“ 

„Er iſt mit dem Schiff bis Topeka gefahren und 
wollte dann zu Pferd an dem Republican⸗River hinauf.“ 
„Dachte es mir. Was hat er für ein Pferd?“ 
„Dasſelbe, das Ihr ihm geſchenkt habt, Sir.“ 

„So iſt er vorzüglich beritten. Ich hoffe, ſehr bald 
ſeine Spur zu finden.“ 

„Was das betrifft, ſo kann ich Euch vielleicht einen 
Fingerzeig geben. Sucht, wenn Ihr nach Topeka kommt, 
Peter Lebruns Weinſtube aufl Dort ift er jedenfalls 


Zi. ED: u 


eingekehrt. Er kennt den Wirt. Und dann gibt es zwei 
Tagesritte am Republican⸗River hinauf an deſſen rech⸗ 
tem Ufer eine große Farm, zu der bedeutende Ländereien 
gehören. Der Beſitzer hat große Pferde⸗ und Rinder⸗ 
herden. Er heißt Fenner, und ſo oft Old Surehand in 
jene Gegend gekommen iſt, hat er dieſen Farmer befucht. 
Weiter kann ich Euch leider keine Andeutung geben, Mr. 


Shatterhand.“ 


„Iſt auch nicht nötig. Das, was Ihr geſagt habt, 
genügt, um mich zu unterrichten. Ich hoffe, u 
Surehand ſicher zu treffen.“ 

Ich ging. 

Als die Zeit gekommen war, den Landeplatz der 
Steamer aufzuſuchen, fragte ich Mutter Thick nach der 
Rechnung; da hatte ich aber einen Pudel geſchoſſen, über 
den ſie ſich ſo gekränkt fühlte, daß ſie beinahe Tränen 
vergoß. Sie erklärte, daß es eine großartige Beleidigung 
ſei, ihr Geld dafür anzubieten, daß ſie den unvergeßlichen 
Vorzug gehabt habe, Old Shatterhand bei ſich zu ſehen. 
Ich meinerſeits bemerkte ihr dagegen, daß ich mich nur 
dann als Gaſt betrachten könne, wenn ich eingeladen 
worden ſei, und daß mein Charakter es mir nicht erlaube, 
mir etwas ſchenken zu laſſen, was ich beſtellt und genoſſen 
habe, weil ich annahm, daß ich es bezahlen müſſe. Sie 
ſah ein, daß ich auch nicht unrecht hatte, und bot mir 
den höchſt überraſchenden Ausgleich an: 

„Nun wohl, Ihr wollt durchaus geben und ich laſſe 
mich durchaus nicht bezahlen; ſo gebt mir etwas, was kein 
Geld iſt!“ 

„Was?“ f 

„Etwas, was mir höher ſteht als alles Geld, und 
was ich als ein Andenken an Old Shatterhand heilig 


— 53 — | 
halten werde, fo lange ich lebe, nämlich eine Locke von 


Euerm Haar.“ 

Ich fuhr förmlich einige Schritte zurück. 

„Eine L — — — eine Lo — — — eine Locke — 
— — von mir — — — von mir? Habe ich recht gehört? 


Habe ich Euch richtig verſtanden, Mutter Thick?“ 

„Ja, ja, Sir. Ich bitte Euch um eine Locke Eures 
Haars.“ 

Trotz dieſer Verſicherung war es mir ſchwer, es zu 
glauben. Mein Haar, und eine Locke! Wirklich zum 
Lachen! Ich beſitze nämlich einen wahren, dichten Urwald 
von Haaren. So dicht wie dieſes Haar iſt, ſo dick und ſtark 
iſt jedes einzelne. Und jetzt bat mich die gute Mutter 
Thick um eine Locke! Wenn fie noch Strähne geſagt 
hätte! Sie hielt mein Staunen für Einwilligung und 
lief fort, um eine Schere zu holen. 

„Alſo, ich darf?“ fragte ſie dann, mit dem Blick 
ſchon diejenige Stelle des Kopfes ſuchend, der die Locke 
entlockt werden ſollte. 

„Na, wenn es wirklich Euer Ernſt iſt, Mutter Thick, 
ſo nehmt Euch, was Ihr wollt!“ 

Ich neigte mein Haupt, und die lockenhungrige Alte 
— denn ſie war über ſechzig Jahre — ließ ihre Finger 
prüfend darüber gleiten. Sie entdeckte den Punkt, wo der 
Wald am dichteſten war, fuhr mit der Schere in das 
Unterholz — — ſchrrrrrr! Es klang, als ob Glasfäden 
zerſchnitten würden, und Sie hatte die gewünſchte Locke“. 
Sie hielt ſie mir triumphierend vor das Geſicht und ſagte: 

„Ich danke Euch herzlich, Mr. Shatterhand! Dieſe 
Locke von Euch kommt in ein Medaillon und wird jedem 
Gaſte gezeigt, der fie ſehen will. 

Ihr Geſicht ſtrahlte vor Vergnügen, das meinige 
aber nicht, denn das, was fie in der Hand hatte, war 


u Ei 


keine Locke, auch keine Strähne, ſondern ein ſolcher Pack 
von Haaren, daß man einen dicken Malerpinſel davon 
hätte binden können. Ein Medaillon! Sehr niedlich aus⸗ 
gedrückt! Wenn ſie dieſe Haare in eine große Konſerven⸗ 
büchſe ſteckte, ſo war ſie ſo voll, daß nichts mehr hinein⸗ 
ging! Ich fuhr mit der Hand erſchrocken nach der Stelle, 
wo die Schere gewütet hatte; ſie war kahl; ich fühlte 
eine Platte, die ſo groß wie ein ſilbernes Fünfmark⸗ 
ſtück war. Dieſe ſchreckliche Mutter Thick! Ich ſtülpte 
mir ſchleunigſt den Hut auf den Kopf und habe mir 
ſeitdem nie wieder eine Locke vom Haupte ſchneiden 
laſſen, weder von einer Mutter, noch von einer Tochter! 

Nach dieſem Verluſt wurde mir der Abſchied von 
der braven Wirtin leichter, als ich ihn mir vorgeſtellt 
hatte, und ich ſuchte mir, auf dem Steamer angekommen, 
eine einſame Stelle aus, wo ich ungeſtört und unbemerkt 
eine planimetriſche Unterſuchung anſtellen konnte, wie 
viele oder wie wenige ſolcher Scherenſchnitte dazu ge⸗ 
hörten, das Haupt eines kriegeriſchen Weſtmannes in 
einen friedlichen Kahlkopf zu verwandeln. 

Das Schiff, das uns an Bord genommen hatte, war 
nicht einer jener ſchwimmenden Paläſte, an die man denkt, 
wenn von einer Miſſiſſippi⸗ oder Miſſourifahrt die Rede 
iſt, ſondern ein ſchweres, plumpes Paketboot, das von der 
keuchenden Maſchine nur langſam fortgeſchleppt werden 
konnte. Wir brauchten volle fünf Tage bis nach Topeka, 
wo ich mich in Peter Lebruns Weinſtube nach Old Sure⸗ 
hand erkundigte. Er war vor drei Tagen hier geweſen. 
Wir fanden ein gutes Pferd für Treskow und kauften 
es. Dann ging es fort, hinaus auf die ‚rollende‘ Prärie, 
den Republican⸗River entlang. Der Oſten von Kanſas 
iſt nämlich ſehr hügelig; Bodenwellen, ſoweit das Auge 
reicht; das bietet einen Anblick, als ob ein „rollendes 


2 


Meer plötzlich mitten in der Bewegung erſtarrt ſei; daher 
die Bezeichnung „Rolling⸗Prärie“. N 

Gegen Abend des zweiten Tages erreichten wir Fen⸗ 
ners Farm. Wir hatten uns nach ihr erkundigt, denn 
auf dem Weideland, über das wir kamen, beaufſichtigten 
eine Menge Cowboys die Herden. Fenner war ein 
freundlicher Mann, der uns zwar erſt mißtrauiſch betrach⸗ 
tete, uns dann aber, als ich Old Surehands Namen 
nannte, einlud, ſeine Gäſte zu ſein. 

„Ihr dürft euch nicht wundern, Meſch'ſchurs,“ ſagte 
er, „daß ich euch nicht gleich willkommen hieß; es geraten 
gar verſchiedene Leute hier ins Land. Erſt vorgeſtern 
lagerten bei mir ſieben Kerls, die ich gaſtfreundlich auf⸗ 
nahm; aber als fie früh fort waren, fehlten mir ſieben 
Stück meiner beſten Pferde. Ich ließ ſie verfolgen, aber 
ſie konnten nicht eingeholt werden, weil ihr Vorſprung 
zu groß war und weil ſie mir eben grad die beſten Pferde 
genommen hatten.“ 

Er mußte ſie mir beſchreiben, und wir überzeugten 
uns, daß es der ‚General‘, Toby Spencer und die fünf 
andern geweſen waren. Old Surehand hatte eine Nacht 
auf der Farm zugebracht. Wir beſchloſſen, dasſelbe zu tun. 

Da wir es vorzogen, im Freien anſtatt in der Stube 
zu ſein, wurden Stühle und ein Tiſch herausgebracht. 
Da ſaßen wir eſſend und uns unterhaltend vor dem 
Hauſe; ſeitwärts davon graſten unſre Pferde, die wir 
abgeſattelt hatten, und weiter draußen jagten Cowboys 
hin und her, um die Herden für die Nacht zuſammen 
zu treiben. Von links her kam auf galoppierendem Pferd 
ein Reiter geſprengt, gerade auf das Farmhaus zu; etwas 
Weißes wehte wie eine Mähne hinter ihm her. Ich mußte 
ſogleich an Old Wabble denken. 

„Ah, da kommt der!“ ſagte Fenner. „Ihr werdet 


— 56 — 


jetzt einen Höchſt merkwürdigen Mann kennen lernen, der 
in früheren Jahren berühmt war und der „King of the 
cowboys‘ genannt wurde.“ 

„Uff!“ ließ ſich Winnetou hören. 

„Habt Ihr den Mann auf Eurer Farm angeſtellt, 
Mr. Fenner?“ fragte ich. 

„Nein. Er kam heute mittag mit einer kleinen 
Geſellſchaft von Weſtmännern hier an, mit denen er da 
draußen am Buſch Lager macht, um morgen wieder fort⸗ 
zureiten. Er iſt weit über neunzig Jahre alt und ſitzt 
noch wie ein Jüngling im Sattel. Seht, jetzt iſt er da!“ 

Ja, er war da. Er kam, ohne uns ſchärfer anzuſehen, 
faſt bis ganz zu uns herangejagt, hielt ſein Pferd an und 
wollte abſpringen; da erſt richtete er das Auge voll auf 
uns, fuhr ſofort mit dem rechten Fuß in den Bügel und 
rief: ö 

„All thousand devils! Old Shatterhand und Win⸗ 
netou! Mr. Fenner, bleiben dieſe Kerls heut hier?“ 

„Ves,“ antwortete erſtaunt der Farmer. | 

„So reiten wir fort. Wo ſolche Halunken find, 
haben ehrliche Menſchen keinen Platz. Lebt wohl!“ 

Er riß ſein Pferd herum und galoppierte wieder 
fort. Der Farmer war nicht bloß über das Verhalten 
des Alten überraſcht, ſondern auch über die Namen, die 
dieſer genannt hatte. 

„Sir, Ihr ſeid Old Shatterhand? Und dieſer rote 
Gentleman iſt Winnetou, der Häuptling der Apatſchen?“ 

„Ja, Mr. Fenner.“ 

„Warum habt Ihr mir das nicht eher geſagt? Ich 
hätte Euch noch ganz anders aufgenommen!“ 

„Wir ſind Menſchen wie alle Menſchen und haben 
nicht mehr und nichts Beſferes zu beanſpruchen als andre 
Leute!“ 


ie. BE 


„Mag fein; aber wie ich euch bewirten will, das 
iſt nicht eure, ſondern meine Sache. Werde meiner Frau 
ſagen, für was für Gäſte ſie zu ſorgen hat.“ 

Er ging ins Haus. Winnetou hielt ſein Auge dort⸗ 
hin gerichtet, wo die weiße Mähne Old Wabbles noch 
wehte. 8 N 

„Sein Blick war Haß und Rache,“ ſagte er. „Old 
Wabble hat geſagt, er gehe fort; aber er kommt in dieſer 
Nacht zurück. Winnetou und ſeine weißen Brüder werden 
vorſichtig ſein.“ u 

Wir waren mit dem Eſſen noch nicht fertig, als 
Fenner wieder herauskam. Er ſchob Fleiſch, Brot, die 
Teller, kurz alles, was vor uns lag, zuſammen und ſagte: 

„Bitte, Meſch'ſchurs, macht eine Pauſe! Meine Frau 
deckt drinnen einen andern Tiſch. Weigert euch nicht, 
ſondern gönnt mir die Freude, euch zeigen zu dürfen, 
wie willkommen ihr mir ſeid!“ 

Dagegen war nichts zu machen; er meinte es gut, 
und wir fügten uns in ſeinen Willen. Als uns die Frau 
dann hineinholte, ſahen wir alles aufgetragen, was eine 
Farm, die zwei Tagereiſen von der nächſten Stadt ent⸗ 
fernt liegt, an Schmackhaftem zu bieten vermag. Das 
Eſſen begann alſo von neuem, in zweiter, verbeſſerter 
Auflage. Dabei erklärten wir unſrem Wirt das für ihn 
ſonderbare Betragen des alten Wabble, indem wir ihm 
den Diebſtahl der Gewehre und deſſen Beſtrafung erzähl⸗ 
ten. Er konnte aber trotzdem den Grimm des alten 
‚Königs der Cowboys nicht begreifen. Old Wabble hatte 
allen Grund, uns dankbar zu fein, denn wir waren eigents 
lich ſehr gnädig mit ihm verfahren; er hatte keine Strafe 
bekommen, obgleich er bei dem Diebſtahl beteiligt geweſen 
war, indem er den ‚General‘ in das Haus des Bloody» 
Fox geführt hatte. | 


— 358 


Während des Eſſens wurde es dunkel. Wir waren 
um unſre Pferde beſorgt und ſtellten das dem Jarmer 
vor. Er machte uns den Vorſchlag: 

„Wenn ihr ſie wegen Old Wabble und der Geſell⸗ 
ſchaft, die er bei ſich hat, nicht im Freien laſſen wollt, 
ſo habe ich hinter dem Haus einen Schuppen, worin wir 
ſie anbinden können. Für Waſſer und gutes Futter werde 
ich da ſorgen. Der Schuppen iſt zwar unverſchloſſen, weil 
von einer Seite offen. Aber ich werde einen zuverläſſigen 
Mann als Wächter hinſtellen.“ | 

„Was das betrifft,“ fagte ich, „fo verlaſſen wir uns 
lieber auf uns ſelbſt. Wir werden alſo der Reihe nach 
wachen, erſt Pitt Holbers, dann Dick Hammerdull, hierauf 
ich und nachher Winnetou, jeder zwei Stunden lang.“ 

„Well! Und ſchlafen werdet ihr nebenan in der 
andern Stube, wo ich euch gute Lager machen laſſe; da 
ſeid ihr vor einem hinterliſtigen Ueberfall ſicher. Außer⸗ 
dem habe ich ja genug Cowboys draußen auf den Weiden, 
die auch mit achtgeben können.“ 

Die Pferde wurden alſo in dem Schuppen unter⸗ 
gebracht, und Pitt Holbers ging hinaus, um ſeine Wache 
anzutreten. Wir andern ſaßen in der Stube um den 
Tiſch herum und unterhielten uns. Wir waren noch nicht 
müde, und Fenner trieb uns von einer Erzählung zu 
der andern; er wollte von unſren Erlebniſſen gern ſo viel 
wie möglich hören. Ihm und ſeiner Frau machte beſonders 
die witzige Art Spaß, wie der wohlbeleibte Dick einzelne 
Epiſoden ſeines abwechslungsreichen Lebens ſchilderte. 

Nach Verlauf von zwei Stunden ging er hinaus, 
um Pitt Holbers abzulöſen. Dieſer meldete uns, daß 
alles ruhig ſei und nichts Verdächtiges ſich habe hören 
oder ſehen laſſen. Es verging wieder eine Stunde. Ich 
erzählte eben ein humoriſtiſches Erlebnis unter dem Zelt⸗ 


— 59 — 


dach eines Lappländers und hatte nur auf die lachenden 
Geſichter meiner Zuhörer acht, als mich Winnetou plötzlich 
beim Kragen faßte und mit ſolcher Gewalt auf die Seite 
riß, daß ich faſt vom Stuhl ſtürzte. 

„Uff! Ein Gewehr!“ rief er, indem er nach dem 
Fenſter zeigte. 

Zugleich mit ſeinen Worten fiel draußen ein Schuß; 
die Kugel zertrümmerte eine Fenſterſcheibe und drang 
hinter mir in den Säulenbalken, der die Decke ſtützte. 
Sie hatte mir gegolten und wäre mir in den Kopf 
gegangen, wenn Winnetou mich nicht weggeriſſen hätte. 
Im Nu hatte ich meinen Stutzen in der Hand und ſprang 
nach der Tür; die andern folgten mir. 

Die Vorſicht gebot mir, die Tür nicht ganz zu 
öffnen, um nicht einem zweiten Schuſſe als Ziel zu dienen. 
Ich machte ſie alſo nur eine Lücke weit auf und blickte 
hinaus. Es war nichts zu ſehen. Jetzt ſtieß ich ſie ganz 
auf und trat hinaus ins Freie; Fenner und meine 
Gefährten ſchoben ſich hinter mir her. Wir lauſchten. 

Da hörten wir hinter dem Hauſe das Stampfen und 
Schnauben von Pferden, und zu gleicher Zeit rief Dick 
Hammerdulls Stimme: 

„Zu Hilfe! Die Pferde, die Pferde!” 

Wir ſprangen um die erſte und um die zweite Ecke 
des Hauſes. Da ſahen wir Geſtalten mit bäumenden, 
widerſtrebenden Pferden kämpfen; zwei Reiter wollten an 
uns vorüber, um zu fliehen. 

„Halt! Herunter mit euch!“ rief Fenner. 

Er hatte, als der Schuß auf mich gefallen war, ſeine 
Doppelbüchſe von der Wand geriſſen und richtete ſie jetzt 
auf dieſe Reiter; zwei Schüſſe von ihm, und ſie ſtürzten 
von den Pferden. Die Kerls, die ſich mit unſern Pferden 
vergeblich abgemüht hatten, gaben den mißglückten Ver⸗ 


— 60 — 


ſuch auf und rannten davon. Wir fandten nen einige 
Schüſſe nach. 

„Recht ſo, recht ſo!“ hörten wir Dicks Stimme 
wieder. „Gebt ihnen gutes Blei in die Köpfe! Dann 
aber kommt hierher! Der Schuft will nicht ſtill liegen 
bleiben.“ 

Wir folgten dem Ruf und ſahen ihn auf einem 
Menſchen knieen, der ſich gegen ihn ſträubte, und den er 
mit Aufbietung aller ſeiner Kräfte niederhielt. Dieſer 
Menſch war — — der alte Wabble! Er wurde ſofort 
feſtgenommen. 


„Sagt mir doch, wie das gekommen iſt!“ 1 ich 
den Dicken auf, der jetzt vor mir ſtand und, von der 
Anſtrengung keuchend, tief Atem holte. Er antwortete: 


„Wie es gekommen iſt, das bleibt ſich gleich; aber 
ich lag im Schuppen bei den Pferden; da war es mir, als 
hätte ich hinter dem Stall leiſe ſprechen hören. Ich ging 
hinaus und lauſchte. Da fiel vor dem Hauſe ein Schuß, 
und gleich darauf kam jemand, der ein Gewehr in der 
Hand hatte, um die Ecke gerannt. Das weiße Haar war 
trotz der Dunkelheit deutlich zu ſehen; ich erkannte Old 
Wabble, ſprang auf ihn zu, riß ihn nieder und rief um 
Hilfe. Seine Kumpane hatten hinter dem Schuppen 
geſteckt und ſprangen jetzt hinein, um unſere Pferde fort⸗ 
zuſchaffen. Euer und Winnetous Hengſt und meine alte, 
pfiffige Stute wollten nicht mit fort; Pitt Holbers' und 
Mr. Treskows Pferd aber waren nicht ſo geſcheit; zwei 
von den Spitzbuben ſtiegen auf und wollten ſich eben 
davonmachen, als Ihr kamt und ſie mit Euern Kugeln 
herunter holtet. So iſt die Sache. Was ſoll mit dem 
alten ‚King of the cowboys‘ geſchehen, den man beſſer 
König der Spitzbuben heißen möchte?“ 


=; 6 


„Schafft ihn hinein in die Stube! Ich komme gleich 
nach!“ ö 

Durch unſere Schüſſe waren mehrere von Fenners 
Cowboys herbeigerufen worden, mit denen ich unſere 
Pferde wieder in den Schuppen brachte. Sie mußten als 
Wächter bei ihnen bleiben. Wir ſuchten die nächſte 
Umgebung ab; die Diebe waren fort. Die zwei von ihnen 
aber, die Fenner von den Pferden geſchoſſen hatte, 
waren tot. N 

Als ich in die Stube kam, lehnte Old Wabble an 
dem Säulenpfoſten, in den ſeine Kugel gedrungen war; 
man hatte ihn da feſt angebunden. Er ſchlug nicht etwa 
die Augen nieder, ſondern ſah mir mit offnem, frechem 
Blick ins Geſicht. Wie gut und nachſichtig war ich früher 
mit ihm geweſen! Ich hatte Achtung vor ſeinem hohen 
Alter gehabt, jetzt widerte er mich an. Man hatte über 
die Strafe geſprochen, die er bekommen ſollte; denn eben, 
als ich eintrat, ſagte Pitt Holbers: 

„Er iſt nicht nur ein Dieb, ſondern ein ganz gefähr⸗ 
licher Meuchelmörder; er muß aufgehängt werden!“ 

„Er hat auf Old Shatterhand geſchoſſen,“ erwiderte 
Winnetou, „folglich wird dieſer ſagen, was mit ihm 
geſchehen ſoll.“ 

„Ja, er iſt mein; ich nehme ihn für mich in 
Anſpruch,“ ſtimmte ich bei. „Er mag die Nacht hier am 
Balken hängen; morgen früh werde ich ſein Urteil fällen.“ 

„Jäll' es doch gleich!“ ziſchte mich der Meuchler an. 
„Gib mir eine Kugel in den Kopf, daß du als frommer 
Hirte dann für meine arme, verlorene Seele etwas zu 
wimmern und zu beten haſt!“ | 

Ich wendete mich, ohne zu antworten, von ihm 
ab. Fenner entfernte ſich, um ſeine Cowboys auf die 
Suche nach den entflohenen Dieben zu ſchicken. Sie ritten 


— 62 — 


die ganze Nacht durch die Umgegend, konnten aber nie⸗ 
mand finden. Es läßt ſich denken, daß wir nur ſehr wenig 
ſchliefen; es war kaum Tag, fo hatten wir die Lager ſchon 
verlaſſen. Old Wabble zeigte ſich ganz munter; die Nacht 
am Balken ſchien ihm nicht übel bekommen zu ſein. Als 
wir frühſtückten, ſah er ſo unbefangen zu, als ob gegen 
ihn gar nichts vorliege und er der beſte unſerer Freunde 
ſei. Das empörte Fenner ſo, daß er zornig ausrief: 

„So eine Frechheit iſt mir in meinem ganzen Leben 
noch nicht vorgekommen! Ich habe dieſen Menſchen ſtets, 
wenn er zu mir kam, mit Achtung behandelt, ſchon ſeines 
Alters wegen; nun aber bin auch ich dafür, daß er nach 
den Geſetzen der Prärie behandelt wird. Pferdediebe und 
Mörder werden gehängt. Mag er in das Grab ſtürzen, 
in dem er ja doch ſchon längſt mit einem Fuß ſteht!“ 

Da knurrte ihn der Alte höhniſch an: 

„Bekümmert Euch doch ja nicht um mein Grab! Ob 
mein Kadaver noch einige Jahre leben bleibt, oder ob er 
jetzt ſchon im Grab verfault, das macht gar keinen Unter 
ſchied; ich pfeife drauf!” 

Wir waren alle empört über dieſe Worte. 

„Welch ein Menſch!“ rief Treskow aus. „Er ver⸗ 
dient den Strick und weiter nichts. Sprecht ihm ſein 
Urteil, Mr. Shatterhand! Wir werden es unbedenklich 
vollziehen.“ 

„Ja, ich werde es ſprechen; zu vollziehen braucht 
ihr es nicht,“ antwortete ich. „Ob lebendig oder tot, 
das iſt ihm gleich; Gott wird ihm vielleicht Gelegenheit 
geben, zu erfahren, daß jede Sekunde des Lebens einen 
Wert hat, an den alle Reichtümer der Erde nicht reichen. 
Dann wird dieſer Mann um eine einzige Minute der Ver⸗ 
längerung ſeines Lebens wimmern; und wenn die Fauſt 


des Todes feinen Körper krümmt, wird er nach der Ver⸗ 
gebung ſeiner Sünden heulen!“ 

Ich band ihn vom Balken los. Er blieb ſtehen, | 
dehnte und reckte feine eingeſchlafenen Arme und ſah mich 
fragend an. 

„Ihr könnt gehen,“ ſagte ich. 

„Ah! Ich bin frei?“ 

„Ja.“ 

Da ſchlug er ein höhniſches Gelächter auf und rief: 

„Ganz wie es in der Bibel ſteht: Glühende Kohlen 
auf das Haupt des Feindes ſammeln. Ihr ſeid ein Muſter⸗ 
chriſt, Mr. Shatterhand! Aber das fruchtet bei mir nichts, 
denn ſolche Kohlen brennen mich nicht. Es mag zwar 
außerordentlich rührend ſein, den großmütigen Hirten 
ſpielen zu können, der ſeine böſen Lämmlein laufen läßt, 
mich aber rührt es nicht. Lebt wohl, Meſch'ſchurs! Wenn 
wir uns wiederſehen, wird es in einer ganz andern Weiſe 
fein als jegt!“ 

Er ging hocherhobenen Hauptes fort. Wie bald 
ſollte dieſes ſein letztes Wort in Erfüllung gehen! Wir 
ſahen ihn wieder, ja, und wie anders, wie ganz anders 
ftand es da um ihn! — — — 


Zweites Kapitel 
Am Baum der Lanze 


Wie oft ſind mir von den Leſern meiner Bücher 
Vorwürfe gemacht worden, daß ich ſchlechte Menſchen, 
die uns nichts als Feindſchaft erwieſen und nichts als 
Schaden bereiteten, dann, wenn ſie in unſere Hände 
gerieten, zu mild und nachſichtig behandelt habe! Ich 
habe dieſe Vorwürfe in jedem einzelnen Fall auch von 
der Seite aus betrachtet, von der aus ſie berechtigt 
ſchienen, habe aber ſtets gefunden und finde auch heute 
noch, daß mein Verhalten richtig war. Es iſt ein großer 
Unterſchied zwiſchen Rache und Strafe. Ein rachſüchtiger 
Menſch iſt kein guter Menſch; er handelt nicht nur unedel, 
ſondern verwerflich; er greift, ohne dazu irgend ein Recht 
zu beſitzen, der göttlichen und der menſchlichen Gerechtig⸗ 
keit vor und läßt dadurch, daß er ſeiner Selbſtſucht, ſeiner 
Leidenſchaft die Zügel überwirft, nur merken, wie ver⸗ 
ächtlich ſchwach er iſt. Ganz anders ſteht es um die Strafe; 
ſie iſt eine ebenſo natürliche wie unausbleibliche Folge 
jeder Tat, die von den Geſetzen und von der Stimme des 
Gewiſſens verurteilt wird. Nur darf nicht jedermann, 
auch nicht einmal derjenige, an dem ſie begangen wurde, 
denken, daß er zum Richter berufen ſei. Sie kann in 
dem einen Fall unerlaubt ſein, in dem andern leicht 
den Charakter eines verwerflichen Racheakts annehmen. 
Welcher Menſch iſt fo rein, fo frei von Schuld und ſitt⸗ 


Er, EB: 


lich fo erhaben, daß er fich, ohne von der Staatsgewalt 
dazu berufen zu ſein, zum Richter über die Taten ſeines 
Nächſten aufwerfen darf? 

Dazu kommt, daß man ſich wohl hüten ſoll, 
den, der einen Fehler, eine Sünde, ein Verbrechen 
begeht, für den allein Schuldigen zu halten. Man forſche 
nach der Vorgeſchichte jeder böſen Tat! Sind nur 
körperliche und geiſtige Mängel angeboren? Können 
es nicht auch ſittliche ſein? Sodann bedenke man wohl, 
welche Macht in der Erziehung liegt! Ich meine da die 
Erziehung im weiteren Sinne, nicht bloß die Einwirkung 
der Eltern, Lehrer und Verwandten. Es ſind tauſend 
und abertauſend Verhältniſſe des Lebens, die oft tiefer 
und nachhaltiger auf den Menſchen wirken als das Tun 
oder Laſſen der Perſonen, die nach landläufiger Anſicht 
ſeine Erzieher ſind. Ein einziger Abend in einem minder⸗ 
wertigen Theater, das Leſen eines einzigen ſchlechten Buches, 
die Betrachtung eines einzigen unſittlichen Bildes können 
alle Früchte einer guten elterlichen Erziehung in Fäulnis 
übergehen laſſen. Welche Menge, ja Maſſe von Sünden 
hat die millionenköpfige Hydra, die wir Geſellſchaft 
nennen, auf dem Gewiſſen! Und gerade dieſe Geſellſchaft 
ſitzt mit wahrer Wonne zu Gericht, wenn der Krebs, 
an dem ſie leidet, an einem einzelnen ihrer Glieder zum 
Ausbruch kommt! Mit welch frommem Augenaufſchlag, 
mit welch abweiſendem Naſenrümpfen, mit welcher Angſt 
vor fernerer Berührung zieht man ſich da von dem armen 
Teufel zurück, der das Unglück hatte, daß die allgemeine 
Blutentmiſchung grad an ſeinem Körper zur Entzündung 
und zur Eiterung führte! 

Wenn ich da von den Verhältniſſen der „ziviliſierten“ 
Geſellſchaft ſpreche, ſo muß meine Anſicht in bezug auf 
die ſogenannten halb und ganz wilden Völker noch viel 

May, Old Surehand. II. 5 


u 66 

milder fein. Der wilde oder verwilderte Menſch, der nie 
einen rechten, ſittlichen Maßſtab für ſein Handeln beſaß 
oder dem dieſer Maßſtab abhanden gekommen iſt, kann 
für ſeine Gebrechen noch weniger verantwortlich gemacht 
werden als der Sünder, der ins Straucheln kam und 
fiel, obgleich ihm alle moraliſchen Stützen unſerer viel⸗ 
gerühmten Geſittung zur Verfügung ſtanden. Ein von 
den Weißen abgehetzter Indianer, der zur Verteidigungs⸗ 
waffe greift, iſt des Mitleids, nicht der Peitſche wert. Ein 
wegen irgend eines Vergehens von der very moral and 
virtuous society für immer ausgeſtoßener Menſch, der 
im „wilden Weſten“ Aufnahme findet und dort immer 
tiefer ſinkt, weil es ihm da an allem Halt gebricht, ſteht 
als Weſtläufer zwar unter den ſtrengen, blutigen Geſetzen 
der Prärie, iſt aber in meinen Augen der Nachſicht und 
Entſchuldigung bedürftig. Auch Winnetou, der ſtets groß⸗ 
mütige und edeldenkende, verſagte ſolch einem Entarteten 
die Schonung nie, wenn ich ihn darum bat. Ja, es kam 
ſogar vor, daß er ſie aus eigenem Antrieb und Entſchluß 
übte, ohne meine Bitte erſt abzuwarten. 

Dieſe Milde hat uns zuweilen in ſpätere Verlegen⸗ 
heiten gebracht; das gebe ich wohl zu; aber die Vorteile, 
die wir mittelbar durch ſie erreichten, wogen das reich⸗ 
lich wieder auf. Wer ſich uns anſchließen wollte, 
mußte auf die Grauſamkeiten und Härten des Weſtens 
verzichten und wurde, ohne es eigentlich zu wiſſen und 
zu wollen, wenn nicht in Worten, ſo doch in Taten ein 
Lehrer und Verbreiter der Menſchenliebe, die er bei uns, 
ſozuſagen, einatmete. 

Old Wabble war auch einer jener Entarteten, dem 
wir mehr Nachſicht ſchenkten, als er an uns verdiente. 
Hieran war neben der von uns grundſätzlich und all⸗ 
gemein geübten Milde der erſte Eindruck ſchuld, den feine 


r 


— 67 — 


ungewöhnliche Perſönlichkeit beſonders auf mich gemacht 
hatte. Sein hohes Alter trug auch dazu bei, und zu⸗ 
dem hatte ich in ſeiner Gegenwart ſtets ein ganz eigen⸗ 
artiges Gefühl, das mich abhielt, ihn nach ſeinen Taten 
und ſeiner ſo frech gezeigten Gottloſigkeit zu behandeln. 
Es war, als ob ich mich nach einem von mir unab⸗ 
hängigen und doch in mir wohnenden Willen richten 
müſſe, der mir verbot, mich an ihm zu vergreifen, weil 
er, wenn er ſich nicht bekehre, für ein ganz beſonderes 
göttliches Strafgericht aufgehoben ſei. Darum hatte ich 
ihn auch am Morgen nach dem Mordverſuch auf Fenners 
Farm wieder freigelaſſen und damit auch ganz nach dem 
Willen Winnetous gehandelt. Dick Hammerdull und Pitt 
Holbers waren freilich nicht damit einverſtanden und 
Treskow als Poliziſt noch weniger als ſie. Doch wurden 
mir von dieſen dreien wenigſtens nicht die Vorwürfe 
gemacht, die ich von dem Beſitzer der Farm zu hören 
bekam; der konnte gar nicht begreifen, daß ein Menſch, 
vor deſſen Kugel mich nur die ſcharfen Augen des 
Apatſchen errettet hatten, ohne alle Strafe von uns ent⸗ 
laſſen worden war. Eine ſolche Dummheit, wie er es 
nannte, war ihm in ſeinem ganzen Leben noch nicht vor⸗ 
gekommen, und er ſchwur, daß er die Rache in ſeine 
Hände nehmen und Old Wabble wie einen Hund nieder⸗ 
ſchießen werde, wenn der Alte es wagen ſollte, ſich noch 
einmal auf der Farm blicken zu laſſen. Im übrigen aber 
zeigte Fenner uns auch heut, wie willkommen ihm unſer 
Beſuch geweſen war; er verſah uns beim Abſchied ſo 
reichlich mit Mundvorrat, daß wir wenigſtens für fünf 
Tage zu eſſen hatten und alſo ebenſolange davon befreit 
waren, unſere Zeit auf das Fleiſchmachen durch die Jagd 
zu verwenden. Was das zu bedeuten hat, merkt man 
erſt dann, wenn man wegen der Nähe roter oder weißer 


—ñ 5 e 


— 68 — 


Feinde nicht ſchießen darf, alſo entweder hungern muß 
oder Gefahr läuft, ſich zu verraten. 

Eigentlich hätten wir gleich nach dem Aufbruch von 
der Farm nach Old Wabbles Spur ſuchen müſſen. Wir 
kannten jetzt ſeine Gehäſſigkeit und hatten allen Grund, 
uns über ſeine weiteren Abſichten zu unterrichten. Aber 
wir wollten Old Surehand ſo ſchnell wie möglich ein⸗ 
holen, denn wir hatten den „General“ und Toby Spencer 
vor uns, die mit ihren Leuten auch hinauf nach Kolorado 


ritten, und fo mußte uns der alte „König der Cowboys“ 


jetzt weniger wichtig ſein. 

Da der Republican⸗River hinter Fenners Farm 
einen großen Bogen beſchreibt, den wir abſchneiden 
wollten, verließen wir ſeine Nähe und ritten grad in die 
Rolling⸗Prärie hinein, um den Fluß ſpäter wieder zu 
erreichen. Wir ſahen da die Spuren der Cowboys, die 
während der letzten Nacht nach Old Wabble und ſeinen 
Begleitern geſucht hatten, ohne ſie zu finden. Später 
hörten dieſe Fährten auf, und wir fanden bis gegen 
Abend kein Anzeichen eines menſchlichen Weſens mehr. 

Um dieſe Zeit mußten wir auf das andere Ufer des 
Fluſſes hinüber, und obgleich der Republican⸗River, wie 
alle Flüſſe von Kanſas, breit und ſeicht iſt und alſo faſt 
überall unſchwer überſetzt werden kann, ſo hatte uns 
Winnetou doch nach einer Furt zu lenken gewußt. Sie 
war ſo ſeicht, daß ihr Waſſer in ſeiner ganzen Breite den 
Pferden nicht bis an die Leiber reichte. 

Am andern Ufer angekommen, durchquerten wir den 
Saum des Gebüſches, das ſich am Fluß hinzog, und 
gelangten dann wieder auf die offene Prärie. Kaum 
hatten wir das Geſträuch hinter uns, ſo erblickten wir 
eine Spur, die in einer Entfernung von vielleicht fünf⸗ 

hundert Schritten neben dem Strom herlief. Dick Ham⸗ 


— 69 — 


merdull deutete mit dem Finger darauf und ſagte zu 
ſeinem hagern Freund: 

„Siehſt du den dunkeln Strich da drüben im Gras, 
Pitt Holbers, altes Coon? Was meinſt du, was das iſt? 
Bloß ein Gedankenſtrich oder eine menſchliche Fährte?“ 

„Wenn du meinſt, daß es eine Fährte iſt, ſo habe 
ich nichts dagegen, lieber Dick,“ erwiderte der Gefragte 
in ſeiner trockenen Weiſe. 

„Ja, ſo iſt es. Wir müſſen hin, um zu ſehen, woher 
ſie kommt und wohin ſie führt.“ 

Er glaubte, daß wir derſelben Anſicht ſeien und hin⸗ 
reiten würden; aber Winnetou lenkte, ohne ein Wort zu 
ſagen, nach rechts und führte uns, ohne ſich um die Spur 
zu kümmern, an dem nahen Ufer entlang. Hammerdull 
konnte das nicht begreifen und wendete ſich deshalb an 
mich: 

„Warum wollt ihr denn nicht hin, Mr. Shatter⸗ 
hand? Wenn man im wilden Weſten eine unbekannte 
Fährte ſieht, muß man ſie doch leſen; die Sicherheit 
gebietet das!“ 

„Allerdings,“ nickte ich zuſtimmend. 

„Alſo! Wir müſſen unbedingt erfahren, welche Rich⸗ 
tung ſie hat!“ 

„Von Oſt nach Weſt.“ 

„Wieſo von Oſt nach Weſt? Das kann kein Menſch 
wiſſen, bevor er ſie genau unterſucht hat. Sie kann auch 
von Weſt nach Oſt gehen.“ 

„Pshaw! Sie läuft von Oſt nach Weſt und nicht 
anders. Wir haben jetzt einige Tage lang den Wind aus 
Weſt gehabt, und ihr könnt Euch überzeugen, daß infolge⸗ 
deſſen alles Gras mit den Spitzen nach Oſten liegt. Jeder 
gute Weſtmann ſollte wiſſen, daß eine Fährte mit dieſem 
Strich nicht ſo deutlich iſt als eine ſolche gegen ihn. Die 


— 70 — 


Spur da drüben tft wenigſtens fünfhundert Schritte ent⸗ 
fernt; daß wir ſie trotz dieſer weiten Entfernung ſehen, 
iſt ein Beweis, daß ſie gegen den Strich, alſo von Oſten 
nach Weſten geritten iſt.“ 

„All devils, das iſt ſcharf gedacht! Darauf wäre ich 
nicht gekommen! Meinſt du nicht auch, Pitt Holbers, 
altes Coon?“ 

„Wenn du denkſt, daß ich dich für dumm genug 
halte, nicht auf dieſen pfiffigen Gedanken zu verfallen, 
ſo haſt du recht,“ nickte Holbers. 

„Recht oder nicht, das bleibt ſich gleich. Jedenfalls 
haſt du die Klugheit auch nicht ſchockweiſe von den 
Bäumen geſchüttelt! Aber, Mr. Shatterhand, wir müſſen 
die Fährte dennoch unterſuchen, denn es gilt, zu erfahren, 
von wem und von wie viel Perſonen ſie kommt.“ 

„Warum deshalb fünfhundert Schritte weit aus 
unſerer Richtung weichen? Ihr ſeht doch, daß wir ſehr 
bald mit ihr zuſammentreffen werden!“ 

„Richtig! Auch daran habe ich nicht gedacht. Da 
hat man ſich ſo viele Jahre lang für einen guten Weſt⸗ 
mann gehalten und muß nun hier am alten Republican⸗ 
River einſehen, daß man noch viel zu lernen hat! Sit 
das nicht wahr, Mr. Shatterhand?“ 

„Lobenswerte Selbſterkenntnis! Aber wer ſeine 
Fehler und Mängel erkennt, befindet ſich ja ſchon auf 
dem Weg der Beſſerung.“ 

Wir hatten uns noch nicht weit von der Furt ent⸗ 
fernt, ſo machte der Fluß einen ſcharfen Winkel nach 
Norden und gab die Prärie nach Weſten frei. Ein grüner 
Streifen, der aus dieſer Richtung kam und im Norden 
auf den Buſchſaum des Republican⸗River ſtieß, ließ einen 
kleinen Waſſerlauf vermuten, der ſich rechts, weit von 
uns, mit dem Fluß vereinigte. Dieſer Bach wand ſich 


— 1 — 


in vielen Krümmungen feinem Ende zu. Der äußerſte 
Punkt des letzten Bogens, den er ſchlug, war durch ein 
Wäldchen bezeichnet, das, vielleicht eine halbe Stunde 

weit, uns gegenüber lag. Wir hielten an, denn die Fährte, 
von der wir geſprochen hatten, kam plötzlich von links 
herüber an die Ecke des Fluſſes, wo wir uns befanden. 
Es war die Spur eines einzelnen Reiters, der hier eine 
kurze Zeit gehalten hatte. Er war nicht abgeſtiegen. Die 
Stapfen der Vorderhufe ſeines Pferdes bildeten einen 
Halbkreis, auf deſſen Mittelpunkt die Hinterhufe geſtanden 
hatten. Daraus war zu ſchließen, daß der aus Oſten 
gekommene Mann ſich hier nach den drei andern Him⸗ 
melsrichtungen umgeſehen, alſo wohl irgend etwas geſucht 
hatte. Darauf war er in ſchnurgeradem Galopp nach dem 
vorhin erwähnten Wäldchen geritten. Folglich mußte 
hier der Ort ſein, den er geſucht hatte. Dieſer Gedanke 
lenkte unſere Blicke in die angegebene Richtung. 

Eigentlich konnte es uns gleichgültig ſein, wer 
der Reiter geweſen war, und zunächſt bot das Wäldchen 
auch gar keinen Grund zu beſonderer Aufmerkſamkeit; 
aber die Fährte war kaum eine halbe Stunde alt, und 
das war für uns Grund genug, Vorſicht walten zu laſſen. 

„Alf! Wo⸗uh⸗ke⸗za!“ ließ ſich da der Apatſche hören, 
indem er den Arm hob, um einen ganz beſtimmten Punkt 
des Wäldchens zu bezeichnen. 

„Wo⸗uh⸗ke⸗za“ iſt ein Dakota⸗Wort und bedeutet 
eine Lanze. Warum bediente ſich Winnetou nicht des 
betreffenden Apatſchenwortes? Ich ſollte die Urſache 
bald erfahren und da wieder einmal, wie ſchon oft, 
bemerken, was für ſcharfe Augen er beſaß. Der Rich⸗ 
tung ſeines ausgeſtreckten Armes folgend, erblickte ich 
am Rand des Wäldchens einen Baum, der einen ſeiner 
Aeſte weit vorſtreckte; auf dieſen Aſt war ſenkrecht eine 


— 72 — 


Lanze befeſtigt; das ſah auch ich. So weit von uns ent⸗ 
fernt, glich ſie einem Bleiſtiftſtrich am Himmel, den die 
untergehende Sonne rot gefärbt hatte. Wären wir nicht 
durch die Fährte auf das Wäldchen aufmerkſam gemacht 
worden, ſo hätte keiner von uns dieſe Lanze bemerkt. Sie 
mußte jedem entgehen, der nicht ganz nahe am Wäldchen 
vorüberkam. Als Dick Hammerdull von ihr hörte, ſagte er: 

„Ich kann ſie nicht erkennen; aber wenn es wirklich 
ſo ein Spieß iſt, wie ihr denkt, ſo weiß jedermann, daß 
Lanzen nicht auf Bäumen wachſen. Es muß alſo ein 
Zeichen ſein!“ 

„Das Zeichen eines Dakota,“ nickte Winnetou. 

„So iſt es eine Dakota⸗Lanze? fragte der Dicke 
erſtaunt. 

„Ja; nur weiß ich noch nicht, von welchem Stamme 
der Dakota.“ 

„Ob Stamm oder nicht, das bleibt ſich gleich! Es iſt 
ſchon überhaupt ein ſtaunenswertes Wunder, daß es 
Augen gibt, die auf eine Meile hin dieſe Lanze ſo genau 
erkennen. Die Hauptſache iſt die Frage, ob wir etwas 
mit ihr zu ſchaffen haben.“ 

Da dieſe Worte an mich gerichtet waren, ſo klärte 
ich ihn auf: 

„Sie kann uns natürlich nicht gleichgültig ſein. Es 
hauſen außer den Oſagen hier keine Dakota, und weil 
wir wiſſen, daß die Oſagen jetzt die Kriegsbeile aus⸗ 
gegraben haben und dieſe Lanze ein Zeichen für irgend 
jemand bildet, ſo müſſen wir die Bedeutung dieſes Zei⸗ 
chens kennen lernen.“ 

„So reiten wir hinüber!“ Er wollte ſeine alte Stute 
in Bewegung ſetzen; ich griff ihm aber in die Zügel und 
warnte: 

„Wollt Ihr Eure Haut zu Markte tragen? Die 


— 73 — 


Lanze hat als Zeichen wahrſcheinlich zu bedeuten, daß 
Oſagen da drüben ſtecken und auf irgend jemand warten 
oder vielmehr gewartet haben; der Reiter, deſſen Spuren 
wir hier ſehen, iſt zu ihnen hinübergeritten und ſcheint 
vorher nach der Lanze ausgeſchaut zu haben. Wenn wir 
ihm geradewegs auf ſeiner Fährte folgen, müſſen wir 
geſehen werden“ 

„Meint Ihr denn, daß man uns noch nicht geſehen 
hat?“ 

„Ja, das meine ich. Wir ſtechen von dem Geſträuch 
hinter uns nicht im geringſten ab, können alſo noch nicht 
bemerkt worden ſein. Dennoch müſſen wir ſchleunigſt von 
hier fort. Kommt alſo; Ihr ſeht, daß Winnetou ſchon 
voran iſt!“ 

Der Apatſche hatte unſere Rede gar nicht beachtet 
und war, ſich vorſichtigerweiſe nordwärts wendend, fort⸗ 
geritten. Wir folgten ihm, bis wir das Wäldchen aus 
den Augen verloren hatten, und wendeten uns dann 
nach Weſten, um den Bach zu erreichen. Dort angekom⸗ 
men, brauchten wir nur flußaufwärts zu reiten, um 
im Schutz der Büſche von Norden her an das Wäldchen 
zu gelangen. Da hielt Winnetou an, ſtieg vom Pferd, 
gab mir ſeine Silberbüchſe aufzuheben und ſagte: 

„Meine Brüder werden hier warten, bis ich wieder⸗ 
komme und ihnen ſage, wen ich am Baum der Lanze 
geſehen habe!“ 

Er beabſichtigte ſomit, als Kundſchafter nach dem 
Wäldchen zu gehen, und kroch in das Geſträuch, um die 
Löſung ſeiner nicht leichten Aufgabe anzutreten. Der⸗ 
gleichen Obliegenheiten nahm er am liebſten in ſeine 
eigene Hand, und man hatte auch allen Grund, ſie ihm 
zu überlaſſen. Wir ſtiegen ab und trieben unſere Pferde 
u. das Gebüſch bis an den Bach, wo ſie trinken konnten. 


Dann festen wir uns nieder, um auf die Rückkehr des 
Apatſchen zu warten. Seine Abweſenheit konnte, falls 
wirklich Oſagen in dem Wäldchen waren, mehrere Stun⸗ 
den dauern. Doch war höchſtens eine halbe vergangen, 
als er wieder bei uns erſchien und uns meldete: 

„Ein Bleichgeſicht ſitzt unter dem Baum der Lanze 
und wartet auf die Rückkehr eines roten Kriegers, der 
einen halben Tag lang dort geweſen und dann fort⸗ 
geritten iſt, um Fleiſch zu machen.“ 

Mir genügten dieſe Angaben, die den großen Scharf⸗ 
ſinn des Apatſchen beſtätigten, vollſtändig. Dick Hammer⸗ 
dull aber, dem ſie nicht ausführlich genug erſchienen, 
erkundigte ſich: 

„Iſt der Häuptling der Apatſchen mitten drin im 
Wäldchen geweſen?“ | 

Winnetou nickte. Der Dicke fuhr fort: 

„Er hat alſo keinen Indianer geſehen?“ 

Winnetou ſchüttelte den Kopf. ö 

„Wer mag wohl der Weiße fein, der unter dem 
Baum ſitzt?“ 

„Old Wabble,“ entgegnete der Apatſche kurz. 

„Zoundsl Was mag der alte Cowboy dort wollen?“ 

Winnetou zuckte die Achſel; dann fragte Hammerdull 
weiter: 5 | 
„Was für ein Indianer iſt es wohl, auf den Old 
Wabble wartet?“ 

„Matto Schahko!, der Kriegshäuptling der Oſagen.“ 

„Matto Schahko? Kenne den Kerl nicht. Habe noch 
nie von ihm gehört. Kennt ihn der Häuptling der Apat⸗ 
ſchen?“ 
Winnetou nickte wieder. Er ließ ſich nie gern in 
dieſer Weiſe ausfragen, und ich wartete mit ſtillem Ver⸗ 


5 „Sieben Bären.“ 


e we. et 


a 76 


gnügen auf den Zeitpunkt, an dem feine Geduld zu Ende 
gehen würde. Der kleine Trapper aber ſetzte feine Erkun⸗ 
digungen neugierig fort: 

„Iſt der Rote ein tapferer Kerl?“ 

Dieſe Frage war höchſt überflüſſig. Matto Schahko 
heißt „ſieben Bären“; es ſind da Grizzlies gemeint. Wer 
ſieben graue Bären erlegt hat und ohne alle Begleitung 
den Kriegspfad betritt, muß Mut beſitzen. Darum beant⸗ 
wortete Winnetou dieſe Frage nicht, und dies war für 
Hammerdull Grund, ſie zu wiederholen. Als er auch hie⸗ 
rauf keine Antwort bekam, fragte er: 

„Warum ſpricht Winnetou nicht weiter? Es iſt 
doch vorteilhaft, zu wiſſen, mit wem man es zu tun hat. 
Darum habe ich meine Frage zweimal ausgeſprochen.“ 

Da wendete ihm Winnetou, der bisher vor Nic) hin⸗ 
geblickt hatte, ſein Geſicht voll zu und entgegnete in jenem 
milden und doch ſo abweiſenden Ton, den 2 nur bei ihm 
gehört und gefunden habe: 

„Warum hat mein Bruder Old Seed mich 
nicht gefragt? Warum iſt er ſtill geweſen? Man ſoll 
erſt denken und dann ſprechen. Zum Denken gehört nur 
ein einziger Mann, zum Sprechen aber ſind wenigſtens 
zwei nötig. Mein weißer Bruder Hammerdull muß ſehr 
viel Gehirn haben und ein guter Denker ſein; wenigſtens 
iſt er dick genug dazu!“ 

Ich ſah, daß der Zurechtgewieſene zunächſt zornig 
auffahren wollte; aber die Hochachtung, die er Winnetou 
widmete, veranlaßte ihn, ſich zu beherrſchen, und ſo recht⸗ 
fertigte er ſich in ruhigem Ton: 

„Ob dick genug oder nicht, das bleibt ſich gleich; nur 
darf ich ſo frei ſein, zu bemerken, daß ich nicht mit dem 
Bauch denken kann, weil das Gehirn bekanntlich nicht im 
Leib, ſondern im Kopf zu ſuchen iſt. Habe ich da 


— 76 — 


nicht recht, Pitt Holbers, altes Coon? Sag mir das 
doch!“ 

„Nein,“ antwortete der Gefragte in ſeiner kurzen 
Weiſe. N 

Es geſchah nicht oft, daß der Dünne dem Dicken 
unrecht gab; darum rief Dick Hammerdull ſehr ver⸗ 
wundert aus: 

„Nicht? Ich habe nicht recht? Warum nicht?“ 

„Weil du Fragen ausgeſprochen haſt, die vermuten 
laſſen, daß du das Gehirn allerdings nicht im Kopf, 
ſondern in der Körpergegend haſt, wo bei andern, richtig 
gebauten Leuten die Milz oder die Leber liegt.“ 

„Was? Du willſt mich foppen? Höre, Pitt Hol⸗ 
bers, altes Coon, wenn du dich auf dieſe ſchlechte Seite 
legſt, jo kann es leicht —— — 

Ich unterbrach ihn durch einen Wink meiner Hand, 
der ihm Schweigen gebot, denn Winnetou hatte ſeine 
Silberbüchſe genommen und den Zügel ſeines Pferdes 
ergriffen, um die Stelle zu verlaſſen, wo wir uns befanden. 
Er ſah es gar nicht ungern, wenn Dick und Pitt ſich halb 
ſcherz⸗ und halb ernſthaft miteinander ſtritten; aber jetzt 
gab es Wichtigeres zu tun. Wir nahmen unſere Pferde 
und folgten ihm hinaus an den Rand des Gebüſches. Er 
führte uns, ohne in den Sattel zu ſteigen, daran entlang, 
bis wir in die Nähe des Wäldchens gelangt waren; dort 
bogen wir wieder in das Geſträuch ein und der Häupt⸗ 
ling ſagte, ſeine Stimme dämpfend: 

„Old Shatterhand wird mit mir gehen. Die andern 
weißen Brüder bleiben hier, bis ein Pfiff dreimal erſchallt. 
Dann kommen ſie nach dem Baum der Lanze geritten, 
wo ſie uns mit zwei Gefangenen finden werden.“ 

Das war mit ſolcher Gewißheit geſagt, als ob er das, 
was geſchehen würde, ganz genau vorher beſtimmen könne. 


— 77 — 


Er legte ſeine Büchſe ab, ich meine beiden Gewehre auch, 
und dann folgten wir, ohne das Buſchwerk wieder zu ver⸗ 
laſſen, dem Bach, der uns, ſeinem Lauf aufwärts, nach 
dem Wäldchen führen ſollte. 

Die Dämmerung brach herein, und da wir uns im 
Dickicht befanden, war es um uns dunkler als draußen 
auf der Prärie. Unſer Vordringen ging ohne das geringſte 
Geräuſch vor ſich. Wir erreichten die Stelle, wo die Ufer 
des Baches ſich nach rechts wendeten und wir das Wäld⸗ 
chen vor uns hatten. Es gab kein Unterholz und das 
Anſchleichen war ſomit bequemer. Von Stamm zu Stamm 
ſchlüpfend, näherten wir uns dem Baum, auf deſſen Aſt 
wir die Lanze geſehen hatten. Da er am Rand des Gehölzes 
ſtand, wo es wieder Büſche gab, war es dort heller als 
bei uns unter dem dichten Wipfeldach, und ſo konnten 
wir, ohne ſelbſt bemerkt zu werden, ſehen, wer ſich an 
dem oft erwähnten Signalbaum befand. 

Dort gab es einen alten, verlaſſenen Kaninchenbau, 
der einen kleinen, aber doch über meterhohen Hügel bil⸗ 
dete; bei ihm ſaß der einſtige „König der Cowboys“. Sein 
Pferd weidete draußen auf der Prärie, ein Beweis, daß 
Old Wabble ſich hier an dieſem Ort ſicher fühlte; wäre 
dies nicht der Fall geweſen, ſo hätte er ſein Tier innen 
im Gehölz verſteckt, wo wir ein zweites Pferd erblickten, 
das mit den Zügeln an einem Baum angebunden war. 
Es war indianiſch aufgezäumt und, ſo viel wir bei der 
zunehmenden Dunkelheit ſehen konnten, ein vorzüglich 
gebauter dunkelbrauner Hengſt. Zwiſchen Haut und Sattel 
lag — eine Seltenheit für ein Indianerpferd — eine 
dunkle Lederdecke mit ausgeſchnittenen Figuren, die, durch 
untergelegtes weißes Leder hervorgehoben, ſieben Bären 
darſtellten. Das war der Grund, daß Winnetou mit 
ſolcher Beſtimmtheit hatte ſagen können, daß Old Wabble 


— 78 — 


auf Matto Schahko warte; denn nur dieſem, deſſen Namen 
„ſieben Bären“ bedeutete, konnte der Hengſt gehören. 

Die Umſtände machten es zweifellos, daß der Häupt⸗ 
ling nur fortgegangen war, um irgend ein Wild zu 
beſchleichen; der Mundvorrat war ihm ausgegangen. Daß 
er das wertvolle Pferd zurückgelaſſen hatte, deutete darauf, 
daß auch er dieſe Gegend und das Wäldchen für voll⸗ 
ſtändig ſicher hielt. Bei Winnetou und mir aber wäre 
eine ſolche Sorgloſigkeit ausgeſchloſſen geweſen. Daß 
Old Wabble hierher gekommen war und nun ſo ruhig 
auf ihn wartete, ließ auf ein ganz beſonderes Einver⸗ 
nehmen zwiſchen beiden ſchließen. Von welcher Art, das 
läßt ſich leicht erraten. Old Wabble hatte in früheren 
Zeiten den Beinamen „Indianerſchinder“ getragen und 
war als ſolcher von allen Roten gehaßt und gefürchtet 
worden; der Häuptling eines roten Stammes konnte daher 
nur dann mit ihm in Verbindung treten, wenn er davon 
große Vorteile erwartete. Da die Oſagen ſich jetzt auf 
dem Kriegspfad befanden, ſo konnte es ſich nur um irgend 
eine Teufelei handeln, die wahrſcheinlich gegen Weiße 
gerichtet war. Offenbar war das nicht das erſte Zuſam⸗ 
mentreffen zwiſchen Matto Schahko und dem Alten, und 
ich hielt es für wahrſcheinlich, daß Old Wabble ſich von 
den Oſagen als Spion benutzen ließ. Ihm war dies 
ſchon zuzutrauen. 

Wenn Winnetou vorhergeſagt hatte, daß unſere 
Gefährten zwei Gefangene bei uns finden würden, ſo 
war er überzeugt, daß der Oſage nicht lange auf 
ſeine Rückkehr warten laſſen werde. Dies war auch meine 
Anſicht, weil von der Erlegung eines Wildes nach ein⸗ 
gebrochener Dunkelheit kaum mehr die Rede ſein konnte. 
Als ob er die Richtigkeit dieſer Anſicht zu beweiſen habe, 
ſahen wir, zwiſchen den Stämmen hindurch und hinaus 


— 79 — 


auf die Prärie blickend, beim letzten Dämmerlicht einen 
Indianer, der ſo ſorglos auf das Wäldchen zugeſchritten 
kam, daß er gewiß nicht den Gedanken hegte, es könne ſich 
hier ein ihm feindliches Weſen befinden. 

Je mehr er ſich uns in dem eigentümlichen Gang, 
der eine Folge der dünnen, abſatzloſen Mokaſſins iſt, 
näherte, deſto deutlicher konnten wir ihn erkennen. Die 
Oſagen ſind meiſt ſehr hohe, ſtattliche Geſtalten. Dieſer 
hingegen war nicht groß, aber ungemein breit gebaut 
und machte trotz der ungewöhnlichen Krümmung ſeiner 
Beine und feines Alters — er mochte über fünfzig zäh⸗ 
len — den Eindruck eines körperlich außerordentlich kräf⸗ 
tigen Menſchen. In der einen Hand trug er das Gewehr, 
in der andern ein erlegtes Präriehuhn. Als er das Wäld⸗ 
chen faſt erreicht hatte, mußte er trotz des jetzt herrſchenden 
Dreivierteldunkels die Fährte des Alten ſehen. Er blieb 
ſtehen und rief, gegen das Gehölz gerichtet, in leidlich 
gutem Engliſch: 

„Wer iſt der Mann, der dieſe Spur machte und ſich 
jetzt unter den Bäumen befindet?“ 
Winnetou legte mir die Hand auf den Arm, ihn 
leiſe drückend, als Erſatz eines mitleidigen Lächelns. Ent⸗ 
weder befand fich der Verbündete des Oſagen im Wäld⸗ 
chen, das er in dieſem Fall getroſt betreten konnte, oder 
es war ein Feind darin verſteckt, vor deſſen Anſchlägen 
ihn die Frage unmöglich ſchützen konnte. Der alte Cow⸗ 
boy antwortete mit lauter Stimme: 

„Ich bin es, Old Wabble; komm herein!“ 

„Sind noch andere Bleichgeſichter bei dir?“ 

„Nein. Du mußt doch an meiner Spur ſehen, daß 
ich allein gekommen bin!“ 

Das war nicht richtig. Er konnte auch Gefährten 
haben, die ſich vorher von ihm getrennt und dann von 


— 80 — 


— 7. u — 2 
* 
* 


einer entfernten Stelle aus, grad ſo wie wir, nach dem 
Gehölz begeben hatten. Wir wußten, daß Old Wabble 
ſich nicht allein am Republican⸗River befand. Wo waren 
jetzt ſeine Begleiter? Durften ſie von ſeiner Zuſammen⸗ 
kunft mit dem Oſagen nichts wiſſen, oder hatte er ſie 
aus einem andern Grund zurückgelaſſen? Ich hoffte, das 
zu erfahren. 

Matto Schahko kam herein, ging mit taſtenden 
Schritten zu ihm hin, ſetzte ſich bei ihm nieder und 
fragte: i 

„Wann iſt Old Wabble hier angekommen?“ 

„Vor faſt zwei Stunden,“ antwortete der Alte. 

„Hat er das Zeichen, das wir verabredeten, ſofort 
bemerkt?“ 

„Nicht gleich. Ich ſah mich drüben an der Fluß⸗ 
ecke um und dachte, daß das Wäldchen hier ein gutes 
Verſteck ſein müſſe. Darum ritt ich her und ſah, als ich 
näher gekommen war, dann auch die Lanze ſtecken. Du 
haſt dieſen Ort ſehr gut gewählt.“ 

„Wir ſind hier ſicher, denn außer mir und dir 
befindet ſich kein Menſch im weiten Umkreis. Ich weile 
ſchon ſeit geſtern hier. Das war der Tag, an dem du 
kommen wollteſt. Weil ich bis heut auf dich warten 
mußte, iſt mein Fleiſch zu Ende gegangen, und ich war 
gezwungen, fortzugehen, um dieſen Vogel zu ſchießen.“ 

Das klang wie ein Vorwurf. Old Wabble erwiderte: 

„Der Häuptling der Oſagen wird mir nicht zürnen, 
daß er warten mußte. Ich werde ihm dann ſagen, wes⸗ 
halb ich ſpäter gekommen bin, und hege die Ueberzeugung, 
daß dieſe Nachricht ihm große Freude bereiten wird; 
it's clear.“ 

„Iſt Old Wabble auf Fenners Farm geweſen?“ 

„Ja. Wir kamen geſtern kurz vor Mittag dort an. 


— 81 — 


Der Beſuch der andern drei Farmen, die ihr auch über⸗ 
fallen wollt, hat uns länger aufgehalten, als wir dachten. 
Daran, daß ich erſt vorhin kommen konnte, trägt ein 
großer und wichtiger Fang die Schuld, den du machen 
kannſt, wenn du auf meine Vorſchläge eingehſt.“ 
| „Was für einen Fang meint Old Wabble?“ 
„Davon ſpäter! Zunächſt will ich dir berichten, wie 
ich die vier Farmen, auf die ihr es abgeſehen habt, 
gefunden habe.“ | 
Wir hatten ung leiſe bis an die andere Seite des 
Kaninchenbaus vorgeſchoben und hörten jedes Wort. Aus 
dem, was wir belauſchten, bekam ich zunächſt die Gewiß⸗ 
heit, daß Old Wabble wirklich den Spion der Oſagen 
cn Es handelte ſich um den Ueberfall und die 
Beraubung von vier großen Farmen, Fenners Beſitztum 
mit eingerechnet. Es war die alte leider immer wieder. 
kehrende Geſchichte: Die Oſagen waren von den Weißen 
bei den ihnen zukommenden Lieferungen betrogen worden 
und hatten, um ſich einigermaßen zu entſchädigen und das 
nötige Fleiſch zu haben, die Rinder einer Farm weg⸗ 
getrieben. Man hatte ſie verfolgt und eine Anzahl ihrer 
Krieger getötet. Nach ihren Anſchauungen forderte das 
ihre Rache heraus, und ſo wurde am Beratungsfeuer 
der Kampf gegen die Bleichgeſichter beſchloſſen. Zunächſt 
ſollten die vier größten Farmen am Republican⸗River 
überfallen werden. Da auf dieſen aber eine anſehnliche 
Schar von Cowboys bedienſtet war und die Roten dieſe 
halbwilden und verwegenen Kerls mehr als alle andern 
Gegner fürchten, mußten Kundſchafter ausgeſandt werden, 
um die ungefähre Zahl der Cowboys zu ermitteln. Die 
Klugheit verbot, Indianern, wenigſtens Kriegern des 
eigenen Stammes, dieſe Aufgabe zu erteilen. Da führte 
der Zufall den Roten Old Wabble und ſeine Begleiter 
May, Old Surchand. II. 8 


7 
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zu. Er ſchien mit ihm Schon früher einmal in einer ähn⸗ 
lichen Verbindung geſtanden zu haben, ſonſt hätte der 
Oſage dem Alten einen ſolchen Vorſchlag wohl nicht 
gemacht. Das Uebereinkommen lautete dahin, daß die 
Oſagen die Skalpe, Waffen und Herden der Ueber⸗ 
fallenen bekommen ſollten, während Old Wabble für ſich 
und ſeine Leute alles übrige in Anſpruch nahm. Natür⸗ 
lich war es ſeinerſeits nur auf Geld und ſonſtige Gegen⸗ 
ſtände abgeſehen, die leicht verkauft werden konnten. Wer 
von beiden, Matto Schahko oder Old Wabble, der eigent⸗ 
liche Halunke war, braucht wohl nicht erſt geſagt zu 
werden. Wir bemerkten, daß der Häuptling den „König 
der Cowboys“ nicht ein einziges Mal „mein weißer 
Bruder“, ſondern ſtets nur bei ſeinem Namen nannte, 
ein Beweis, daß derartige Leute bei den Indsmen auch 
nicht mehr Achtung e als bei den ziviliſierten 
Bleichgeſichtern. ö 

Als Old Wabble feinen. Spionenritt begann, waren 
die Oſagen noch nicht mit ihrer „Mobilmachung“ zu 
Ende. Da jedoch die Erkundung der Verteidigungsverhält⸗ 
niſſe der vier Farmen von größter Wichtigkeit für das 
Gelingen war, ſo hatte ſich der Häuptling ſelbſt und 
allein aufgemacht, um den Bericht des Alten an der 
Biegung des Republican⸗River entgegenzunehmen. Die 
Lanze ſollte die Stelle bezeichnen, wo Matto Schahko zu 
treffen war. 

Nun hatten ſie ſich hier im Wäldchen zuſammen⸗ 
gefunden, und Old Wabble erſtattete ſeinen Bericht dahin, 
daß die Farmen mit nur geringem Verluſt an roten 
Kriegern wegzunehmen ſeien. Er machte Vorſchläge, die 
ich übergehen kann, weil infolge unſers Einſchreitens die 
geplanten Ueberfälle aufgegeben werden mußten. Der 
Häuptling ging teilweiſe darauf ein und kam dann auf 


den „wichtigen Fang“ zurück, den Old Wabble ihm beim 
Beginn des Geſprächs in Ausſicht geſtellt hatte. Der alte 
Cowboy erwiderte in ſeiner ſchlauen, wohlberechnenden 
Weiſe: 

„Der Häuptling der Oſagen muß mir einige Fragen 
beantworten, ehe ich ihm ſagen kann, um was es ſich 
handelt. Kennſt du den Apatſchenhäuptling Winnetou?“ 

„Dieſen Hund? Ich kenne ihn.“ 

„Du nennſt ihn einen Hund. Hat er ſich dir gegen⸗ 
über etwa einmal feindlich gezeigt?“ 

„Mehr als einmal! Wir hatten vor drei Sommern 
die Kriegsbeile gegen die Cheyennes ausgegraben und in 
mehreren Kämpfen ſchon viele ihrer Krieger getötet; da 
kam der Apatſche und ſtellte ſich neben ihrem Häuptling 
an ihre Spitze. Er ift feig wie ein Coyote, aber ſchlau 
wie tauſend alte Weiber. Er tat, als ob er mit uns 
kämpfen wolle, zog ſich aber zurück und war, als wir 
ihm folgten, plötzlich jenſeits des Arkanſas verſchwunden. 
Während wir ihn und die entflohenen Kröten der Cheyen⸗ 
nes dort ſuchten, ritt er mit größter Eile zu unſern Wig⸗ 
wams, nahm unſere Herden weg und alles, was daheim 
geblieben war, gefangen. Als wir dann ankamen, hatte 
er aus unſern Lagerplätzen Feſtungen gemacht, in denen 
unſere zurückgebliebenen Krieger, Greiſe, Frauen und 
Kinder ſteckten und in denen er mit den Cheyennes ſtand, 
uns zu einem Frieden zu zwingen, der ihn keinen Tropfen 
Blut, uns aber allen Ruhm unſerer Tapferkeit gekoſtet 
hat. Wolle doch der große Geiſt es geben, daß dieſer 
räudige Pimo einmal in meine Hände gerät!“ 

Die Kriegstat, von der der Häuptling jetzt erzählte, 
war ein wahres Meiſterſtück meines Winnetou geweſen. 
Ich hatte mich zu jener Zeit leider nicht bei ihm befunden, 
kannte aber aus ſeinem Munde alle Einzelheiten dieſes 


— 84 — 


geſchickten Schachzugs, durch den er die uns befreundeten 
Cheyennes nicht nur vom gewiſſen Untergang errettet, 
ſondern ſie, obgleich ſie viel ſchwächer als ihre Feinde 
geweſen waren, zum vollſtändigen Siege geführt hatte. 
Der Grimm, den Matto Schahko gegen ihn hegte, war 
wohl zu begreifen. 

„Warum habt ihr euch noch nicht an ihm gerächt?“ 
fragte Old Wabble. „Es iſt doch ſo leicht, ihn zu 
faſſen? Er befindet ſich nur ſelten in den Wigwams 
ſeiner Apatſchen, ſondern wird vom böſen Geiſt immer 
fortgetrieben, über die Savannen und Gebirge. Er liebt 
es nicht, Begleiter bei ſich zu haben; alſo braucht man 
da bloß zuzugreifen, wenn man ihn packen will.“ 

„Du redeſt, ohne über deine Worte nachgedacht zu 
haben. Eben weil er ſich unabläſſig unterwegs befindet, 
kann man ihn nicht faſſen. Das Gerücht hat uns ſchon 
oft den Ort bezeichnet, wo er geſehen worden war; aber 
wenn wir dann hinkamen, war er ſtets ſchon wieder fort. 
Er gleicht dem Ringer, den man nicht faſſen und nicht 
halten kann, weil er ſeinen Körper eingefettet hat. Und 
wenn man einmal glaübt, ihn ganz ſicher zu haben, ſo 
befindet ſich das Bleichgeſicht, das Old Shatterhand 
genannt wird, an ſeiner Seite. Dieſer Weiße iſt der 
größte Zauberer, den es gibt, und wenn er und der 
Apatſche beieinander find, jo beſitzen hundert Waſaji!) 
nicht Macht genug, ſie anzugreifen oder gar ſie feſt⸗ 
zunehmen.“ N 

„Ich werde dir beweiſen, daß dies ein Irrtum von 
dir iſt. Du betrachteſt dieſen Old Shatterhand auch als 
euern Feind?“ | 
„uff! Wir haſſen ihn noch viel mehr als Winne⸗ 
tou. Der Häuptling der Apatſchen iſt doch wenig⸗ 


) So nennen fi die Oſagen jelbR. 


— Arm. 3 
S 
r * 

. . 


ſtens ein roter Krieger; Old Shatterhand aber iſt 
ein Weißer, den wir ſchon deshalb haſſen müſſen. Er 
hat ſchon zweimal den Utahs gegen uns beigeſtanden; er 
iſt der grimmigſte Feind der Ogellallah, die unſere 

Freunde und Brüder ſind. Er hat mehrere unſerer 
Krieger, als ſie ihn feſtnehmen wollten, lahm geſchoſſen, 
ſo daß ſie nun wie alte Weiber ſind. Das iſt ſchlimmer, 
als wenn er fie getötet hätte. Dieſer Hund jagt näm⸗ 
lich, daß er ſeinen Feinden nur dann das Leben nehme, 
wenn er von ihnen dazu gezwungen werde; er gibt ihnen 
die Kugeln ſeines Zaubergewehrs entweder in die Knie 
oder in die Hüfte und nimmt ihnen ſo für ihr ganzes 
Leben die Fähigkeit, zu den Männern, zu den Kriegern 
gerechnet zu werden. Das iſt entſetzlicher als der lang- 
ſamſte Martertod. Wehe ihm, wenn er einmal in unſere 
Hände geraten ſollte! Aber das wird wohl nie geſchehen, 
denn er und Winnetou gleichen den großen Vögeln, die 
hoch über dem Meere ſchweben: ſie kommen nie herunter, 
daß man ſie fangen kann.“ 

„Du irrſt abermals. Sie kommen ſehr oft herunter; 
ich weiß ſogar, daß ſie grad jetzt wieder unten und leicht 
zu faſſen ſind.“ 

„Uff! Iſt es die Wahrheit, die du ſagſt? Haſt du 
fie geſehen?“ 

„Ich habe ſogar mit ihnen geſprochen.“ 

„Wo, wo? Sag' es mir!” 

Er ſtieß dieſe Aufforderung raſch und eifrig her⸗ 
vor. Wir hörten, wie begierig er darauf war, ſeinen 
heißen Wunſch, ſich unſer einmal bemächtigen zu können, 
in Erfüllung gehen zu ſehen. Old Wabble antwortete 
um fo ruhiger und bedächtiger: | 

„Ich kann dir behilflich fein, Winnetou, Old Shatter- 
hand und noch drei andere Bleichgeſichter zu ergreifen, 


— 86 — 


denn ich weiß, wo fie zu finden find; aber ich kann dir 
dieſes Geheimnis nur unter einer Bedingung mitteilen.“ 

„So ſag, was für eine Bedingung dies iſt!“ 

„Wir nehmen ſie alle fünf gefangen; Ihr bekommt 
die drei andern Weißen und überlaßt mir Old Shatter⸗ 
hand und den Häuptling der Apatſchen.“ 

„Wer find die drei andern Bleichgeſichter?“ 

„Zwei Weſtmänner, die Hammerdull und Holbers 
heißen, und ein Poliziſt, der ſich Treskow nennt.“ 

„Die kenne ich nicht. Wir ſollen dieſe fünf Männer 
fangen und nur die drei bekommen, die uns gleichgültig 
ſind, dir aber die zwei überlaſſen, an denen uns ſo viel 
gelegen iſt? Wie kannſt du das von mir verlangen!“ 

„Ich muß es fordern, weil ich gegen Winnetou und 
Old Shatterhand eine Rache habe, die ſo grimmig und 
unerbittlich iſt, daß ich mein Leben dafür geben e 
ſie auszuführen!“ 

„Wir haben nicht geringeren Zorn gegen ſie!“ 

„Das mag ſein; aber ich bin es, der ſie in der Falle 
hat, und ſo gebührt mir der Vorzug, die zu nehmen, die 
ich will.“ 

Der Häuptling dachte eine kleine Weile nach und 
ſagte dann: „Wo befinden ſie ſich?“ 

„Ganz in der Nähe.“ | 

„Uff, uff! Wer hätte das gedacht? Aber haft du 
ſie ſchon ſicher? Befinden ſie ſich ſchon in der Falle, von 
der du ſprichſt?“ 

„Ich brauche nur eine Anzahl deiner Krieger, um 
ſie feſtzunehmen.“ 

„Krieger brauchſt du von mir? So haſt du ſie auch 
noch nicht feſt. Meine Krieger ſollen dir zu der Falle 
behilflich ſein, die du dieſen Hunden ſtellen willſt; ohne 
neine Leute würde dir der Fang mißlingen. Wie darfit 


— 97 — 


du da eine ſo hohe Forderung ſtellen und grad die für 
dich verlangen, an denen uns am meiſten gelegen iſt!“ 

„Weil ihr gar nichts bekommt, wenn du mir nicht 
den Willen tuſt.“ 

„Uff! Und was bekommſt du, wenn du keine Krieger 
der Waſafi haſt? Nichts, gar nichts! Du verlangſt zu 
viel von mir!“ 

Sie ſtritten eine Weile hin und her. Matto Schahko 
war zu klug, ſich übertölpeln zu laſſen, und da Old 
Wabble einſah, daß er auf ſeine Rache wahrſcheinlich 
ganz verzichten müßte, wenn er nichts von ſeiner For⸗ 
derung abließ, ſo zog er es vor, nachzugeben: 

„Nun gut! Damit du ſiehſt, daß ich dir entgegen⸗ 
komme, will ich euch zu den drei Weißen noch Winnetou 
überlaſſen; aber den Old Shatterhand muß ich unbedingt 
haben! Er iſt es, deſſen Rechnung bei mir höher, viel 
höher angelaufen iſt als die des Apatſchen, und wenn 
du mir ſeine Perſon verweigerſt, ſo laſſe ich lieber alle 
fünf entkommen. Das iſt mein letztes Wort. Nun tue, 
was du nicht laſſen kannſt!“ 

Der Oſage zeigte keine große Luft, auf dieſe Forde⸗ 
rung einzugehen; er ſagte ſich ſchließlich aber doch, daß 
es beſſer ſei, ſich mit dem, was ihm geboten wurde, zu 
begnügen, und ſtimmte deshalb mit den Worten bei: 

„Old Wabble ſoll ſeinen Willen haben und den Old 
Shatterhand bekommen. Nun will ich aber auch endlich 
wiſſen, wo die fünf Männer ſich befinden und auf welche 
Weiſe wir ſie fangen können.“ 

Der alte Cowboy ſagte, daß er uns auf Fenners 
Farm getroffen hatte, hütete ſich aber, von der unrühm⸗ 
lichen Lage zu ſprechen, in die er dabei gekommen war. 
Als er ſeine Erzählung beendet hatte, fügte er hinzu: 

„Du weißt nun, warum ich nicht zur rechten Zeit 


hier bei dir eintreffen konnte: ich mußte alles erfahren, 


was dieſe fünf Kerls angeht, und durfte nichts verſäumen, 
was geſchehen mußte, wenn dieſer Fang uns gelingen 
ſoll. Die Cowboys auf der Farm wußten nicht, wie ich 
mit Winnetou und Old Shatterhand ſtehe. Einer von 
ihnen hatte in dem Gebäude erfahren, weshalb dieſe 
beiden an den Republican⸗River gekommen ſind, und es 
den andern geſagt. Ich habe ſie ausgehorcht und mich 
dann, als es dunkel war, an das Fenſter geſchlichen. 
Fenner ſaß mit ihnen in der Stube. Sie erzählten ver⸗ 
ſchiedene ihrer Erlebniſſe. Dazwiſchen fiel zuweilen eine 
Bemerkung über die Abſichten, die ſie jetzt verfolgen. Sie 
wollen nach Kolorado hinauf, wohin ihnen ein anderer 
Weißer, der ſtets auch ein unerbittlicher Feind der roten 
Männer war, vorangeritten iſt. Sie werden — ich konnte 
nicht hören, wo — mit ihm zuſammentreffen und dann 
einen Trupp von Bleichgeſichtern überfallen, die — — —“ 

„Wer iſt der Weiße, von dem du ſprichſt?“ unter⸗ 
brach ihn der Häuptling der Oſagen. 

„Er wird gewöhnlich Old Surehand genannt.“ 


„Old Surehand? Uff! Dieſen Hund haben wir 


einmal drei Tage lang gejagt, ohne ihn erwiſchen zu 


können. Er hat uns dabei zwei Krieger und mehrere 


Pferde erſchoſſen und iſt ſeitdem nicht wieder in unſer 
Gebiet gekommen. Er meidet dieſe Gegend, weil er Angſt 
vor unſerer Rache hat.“ 

„Da befindeſt du dich ſchon wieder im Irrtum. Er 
war vor einigen Tagen auf Fenners Farm, und weil er 
von da aus hinauf nach Kolorado gezogen iſt, muß er 
durch euer Gebiet geritten ſein. Er ſcheint ſich alſo nicht 
vor euch zu fürchten.“ 

„So muß er vom böſen Geiſt die Gabe bekommen 
haben, ſich unſichtbar zu machen! Dafür aber ſoll er uns, 


> Si 

| — 89 — 
wenn er nicht über das große Gebirge geht, bei ſeiner 
Rückkehr in die Hände fallen. Er bleibt uns alſo ſicher. 
Er wird aus Furcht vor uns nur bei Nacht geritten ſein, 
ſonſt hätten wir ihn geſehen.“ 

„Selbſt wenn dies der Fall geweſen wäre, hättet ihr 
am Tage ſeine Spur ſehen müſſen. Furcht kennt dieſer 
Kerl nicht. Wie wenig man ſich überhaupt vor euch 
fürchtet, das könnt ihr wieder daraus erkennen, daß 
Winnetou und Old Shatterhand, eure Todfeinde, hierher⸗ 
gekommen ſind, obgleich ſie wiſſen müſſen, daß ihr die 
Kriegsbeile ausgegraben habt.“ 


„Schweig! Das tun ſie nicht aus Mangel an Furcht 
vor uns, ſondern weil der große Geiſt ſie verblendet hat, 
um fie uns in die Hände zu treiben. Die Hauptſache iſt, 
zu wiſſen, wo ſie ſich befinden und welchen Weg ſie ein⸗ 
ſchlagen wollen.“ 


w, Meinſt du, daß ich zu dir komme, ohne dies erfahren 
zu haben? Ich habe meine Maßregeln ſo gut getroffen, 
daß ſie uns nicht entgehen können. Wie lange ſie auf 
Fenners Farm geblieben ſind, das weiß ich allerdings 
nicht, denn ich mußte leider fort; ſicher aber iſt, daß ſie 
heut von dort aufgebrochen ſind, weil ſie Old Surehand 
einholen wollen. Sie werden ſelbſtverſtändlich dem Fluß 
folgen, und weil ſie an das andere Ufer überſetzen müſſen, 
habe ich an den Stellen, die ſich beſonders dazu eignen, 
je einen meiner Begleiter als Wächter zurückgelaſſen. Dies 
iſt auch der Grund, weshalb ich allein hier angekommen 
bin. Dieſe Wächter haben die Weiſung, den Flußübergang 
der fünf Halunken abzuwarten, ihnen heimlich zu folgen 
und dann hierherzueilen, um uns zu melden, wohin ſie 
geritten ſind. Sag', ob das nicht ſchlau von mir ge⸗ 
weſen iſtl“ 


— 90 — 


„Old Wabble hat klug gehandelt!“ ſtimmte der 
Oſage bei. 

Wir beiden Lauſcher waren da freilich anderer Mei⸗ 
nung. Der alte „King of the cowboys“ hatte im 
Gegenteil, indem er annahm, daß wir dem Fluß folgen 
würden, einen großen Pudel geſchoſſen. Wir hatten, wie 


bereits erwähnt, den Bogen, den der Republican⸗River 


machte, in gerader Linie abgeſchnitten und waren ſeinen 
Wächtern weit vorausgekommen. Jetzt konnten ſie auf 
uns warten, ſo lange es ihnen beliebte, und an ihrer 
Stelle ſollte Old Wabble uns zu ſehen bekommen. 

„Der Häuptling der Oſagen,“ fuhr Old Wabble fort, 
„wird zugeben, daß ich alles getan habe, was ich tun 
konnte. Nun iſt nur noch nötig, daß deine Krieger zur 
Stelle ſind, wenn ſie gebraucht werden.“ 

„Ich werde ſofort aufbrechen, ſie zu Holen, ſagte 
Matto Schahko. 

„Wo befinden ſie ſich? Sind ſie weit von hier?“ 

„Sie haben den Befehl, ſich am Wara⸗tu! zu ver⸗ 
ſammeln, das am großen Pfad der Büffel liegt. Dieſer 
Ort iſt von den Flüſſen, denen die Bleichgeſichter gern 
folgen, ſo weit entfernt, daß alle meine Krieger dort 
zuſammenkommen können, ohne von einem Weißen geſehen 
zu werden. Alſo können die Bleichgeſichter, die zwar 
wiſſen, daß wir die Beile des Krieges ausgegraben haben, 
nicht ahnen, von welcher Stelle aus und in welcher Rich⸗ 
tung ſie unſern Angriff zu erwarten haben.“ 


„Ich weiß nicht, wo das Wara⸗tu liegt. Wie lange 


mußt du reiten, um hinzukommen?“ 

„Mein Pferd hat ſich ausgeruht und iſt der beſte 
Renner der Waſaji. Ich kann lange vor Tagesanbruch 
dort ſein und dir bis Mittag ſo viele Krieger bringen, 


) Regenwaſſer. 


— 91 — 


wie zur Gefangennahme der vier Weißen und des Apa- 
tſchen nötig ſind.“ 

„Wie viel werden das wohl ſein?“ 

„Zwanzig ſind mehr als genug.“ 

„Das glaube ja nicht! Ja, wenn der verdammte 
Henryſtutzen Old Shatterhands nicht wäre, der von euch 
für eine Zauberflinte gehalten wird! Ich weiß zwar, daß 
von einem Zauber da keine Rede iſt, aber dieſer Stutzen 
hat denſelben Wert wie zwanzig oder dreißig gewöhn⸗ 
liche Gewehre. Dir kann ich es ſagen, daß ich Old Shatter⸗ 
hand den Stutzen einmal geſtohlen habe; es iſt mir aber 
nicht gelungen, einen einzigen Schuß daraus zu tun. Der 
Bau iſt ſo geheimnisvoll, daß ich mir damals vergeblich 
den Kopf damit zerbrochen habe. Es war keine Feder, 
keine Schraube in Bewegung zu ſetzen.“ 

„Uff, uff! Du haſt ihm das Gewehr geſtohlen und 
es nicht behalten?“ | 

„Ja. Du magſt dich zwar mit Recht darüber wun⸗ 
dern, daß ich mich zwingen ließ, es wieder herzugeben; 
aber es war damals grad ſo, als ob alle Teufel gegen 
mich wären; it's clear. Ich hätte es zerſchlagen und 
zerbrechen ſollen. Ich habe dieſen Gedanken auch wirk⸗ 
lich gehabt, aber der General wollte nicht. Dieſer Schuft 
hatte die Abſicht, das Gewehr für ſich zu behalten, und 
fo gab er es nicht zu, daß ich — — —“ 

Er hielt mitten im Satz inne; es mochte ihm ein⸗ 
fallen, daß es beſſer ſei, von jener für ihn ſo ſchlecht 
abgelaufenen Begebenheit zu ſchweigen. Darum fragte 
der Häuptling: 

„Old Wabble ſpricht von einem General. Warum 
läßt er ſeine Rede ſo plötzlich zu Ende gehen?“ 

„Weil nichts dabei herauskommt. Es gibt Namen, 
die man am liebſten gar nicht in den Mund nimmt; 


aber ich hoffe, daß dieſer General mir vor meinem Tode 
noch einmal in die Hände läuft. Dann ſoll er zehnmal 
mehr Hiebe bekommen als damals in Helmers Home, 
wo er die Niederträchtigkeit beging, es zu verraten, daß 
ich — — — pshawl Alſo der Häuptling der Oſagen 
will jetzt fortreiten, um zwanzig Krieger zu holen? Die 
genügen nicht, es müſſen wenigſtens fünfzig fein; it's 
clear.“ | 

Der Häuptling hatte vorhin von bloß zwanzig 
geſprochen, wohl nur, um nicht den Schein der Furcht⸗ 
ſamkeit auf ſich zu laden; jetzt ſtimmte er ſchnell bei: 

„Old Wabble muß wiſſen, was er ſagt. Wenn er 
denkt, daß wir fünfzig Krieger haben müſſen, ſo ſoll er 
ſeinen Willen haben. Ich werde fortreiten, um ſie 
zu holen.“ 

„Und ich ſoll hier bleiben, bis du zurückkehrſt? Wäre 
es nicht beſſer, wenn ich mit dir ritte?“ 

„Nein. Du mußt hier bleiben, um deine Leute zu 
empfangen. Sie kennen die Stelle, an der du dich befindeſt, 
nicht genau; darum iſt es notwendig, daß du ein großes 
Feuer anzündeſt, das weithin leuchtet.“ 

„Das darf ich nicht, denn Old Shatterhand und 
Winnetou würden es ſehen, wenn ſie kämen. Beſſer iſt 
es, daß — — —“ 

Er konnte nicht weiterſprechen, denn er wurde in 
dieſem Augenblick von Winnetou mit beiden Händen am 
Halſe gepackt. Matto Schahko war nämlich aufgeſtanden 
und zu ſeinem Pferde getreten, um es loszubinden; darum 
war die Zeit zum Handeln für uns gekommen. Während 
der Apatſche Old Wabble auf ſich nahm, huſchte ich hinter 
dem Häuptling her, richtete mich in ſeinem Rücken auf, 
nahm ihn mit der linken Hand beim Genick und ver⸗ 
ſetzte ihm mit der rechten Fauſt meinen Jagdhieb, daß 


— 93 — 


er zuſammenknickte und zu Boden fiel. Ich trug ihn nach 
der Stelle, wo er geſeſſen hatte, und wo Winnetou eben 
mit Old Wabble fertig geworden war. Es dauerte nicht 
zwei Minuten, ſo waren ſie gefeſſelt, und Winnetou ließ 
drei ſcharfe Pfiffe als das verabredete Zeichen hören. In 
kurzer Zeit kamen unſere drei Kameraden mit unſern 
Pferden und Gewehren; die beiden Gefangenen, die ſich 
noch im Zuſtand der Betäubung befanden, wurden quer 
über ihre Tiere gelegt und dort wie Säcke feſtgebunden. 
Dann verließen wir das Wäldchen, wo wir wegen der 
Begleiter Old Wabbles nicht bleiben durften. Wenn ſich 
auch nur einer von ihnen zum „Baum der Lanze“ fand, 
ohne daß wir es bemerkten, ſo konnten oder vielmehr 
mußten wir in die größte Gefahr geraten. Darum ritten 
wir zunächſt einige Zeit am Bach aufwärts, überſchritten 
ihn dann und hielten grad in die Prärie hinein, bis wir 
eine kleine vereinzelte Buſchinſel erreichten, wo wir Halt 
machten. Der Boden war hier feucht und von den Büf⸗ 
feln ziemlich tief ausgewälzt, ſo daß wir es wagen konnten, 
zwiſchen den Sträuchern auf dem Grund der Vertiefung 
ein kleines Feuer anzubrennen, deſſen Schein nicht hinaus 
auf die Prärie drang. 

Als wir die beiden Gefangenen von den Pferden 
gebunden hatten und neben dem Feuer niederlegten, war 
die Betäubung längſt von ihnen gewichen. Sie hatten 
unterwegs geſchwiegen; als ſie nun unſere Geſichter ſahen, 
ſagte zwar der Häuptling auch jetzt kein Wort, aber Old 
Wabble rief erſchrocken aus, indem er an ſeinen Feſſeln 
zerrte: 

„Donnerwetter, das ſind die frommen Hirten wieder, 
die dieſes Mal nicht ein, ſondern zwei Lämmlein auf die 
Weide führen! Was fällt euch denn ein, mich wieder feſt⸗ 
zunehmen! Haben euch die feurigen Kohlen doch gereut, 


En. 


die ihr euch einbildet, mir aufs alte, graue Haupt gelegt 
zu haben?“ 

Winnetou war zu ſtolz, eine Antwort zu geben; ich 
folgte ſeinem Beiſpiel. Aber Dick Hammerdull wußte, 
was der Alte gegen uns geplant hatte, denn ich hatte zu 
ihm und den beiden anderen unterwegs davon geſprochen; 


. 


er war voller Zorn auf Old Wabble, hielt es für feig, 


die höhnenden Worte ruhig hinzunehmen, und antwortete 
deshalb: 

„Laßt es euch doch nicht einfallen, euch Schäflein 
zu nennen! Ihr ſeid ärger als die ſchlimmſten Raub⸗ 
tiere, die nur töten, weil ſie leben müſſen! Da ein Feuer 
brennt, habe ich große Luſt, Euch wirkliche glühende 
Kohlen auf Eure alte Perücke zu legen. Ihr braucht 
gar nicht viele Worte zu machen, ſo tue ich es; darauf 
könnt Ihr Euch verlaſſen!“ 

„Das würde der fromme Shatterhand nicht dulden!“ 
lachte der greiſe Cowboy. 

„Ob er es duldet oder nicht, das iſt ganz gleich. 
Wenn geſtern Euer Maß noch nicht voll war, ſo iſt es 
heut am Ueberlaufen, und wenn Ihr meint, Eure Lage 
durch Frechheit verbeſſern zu können, ſo befindet Ihr 
Euch in einem Irrtum!“ 

„Wirklich? So laßt Euch wenigſtens fragen, mit 
welchem Recht Ihr uns als Gefangene betrachtet und 
behandelt!“ 

„Fragt nicht To dumm, alter Sünder! Old Shatter⸗ 
hand und Winnetou haben im Wäldchen hinter Euch 
gelegen und jedes Eurer Worte gehört. Wir wiſſen alſo 


genau, was Ihr mit uns vorhattet, und denken, wir haben 


allen Grund, Euch unſchädlich zu machen!“ 
Dieſe Mitteilung ließ den Mut des alten Wabble 
ſinken. Wenn wir wußten, daß man uns hatte gefangen- 


nehmen wollen, um uns zu töten, fo reichte ſelbſt feine 
Frechheit nicht aus, der Angſt vor unſerer Rache die 
Wage zu halten. Zwar hatte ich ihm ſeinen Mordan⸗ 
ſchlag auf mich verziehen, und es war ja immerhin mög⸗ 
lich, daß ich mich noch einmal zur Verzeihung geneigt 
zeigte, falls es ſich nur um mich ſelbſt handelte; aber ſein 
heutiger Plan war gegen uns alle gerichtet geweſen, und 
ſo ſah der Cowboy gar wohl ein, daß es unmöglich war, 
durch Hohn ferner etwas zu erreichen. Er ſprach alſo 
nicht weiter, und ſo mußte auch Dick Hammerdull 
ſchweigen. 

Nun geſchah etwas, was mir abermals bewies, wie 
geiſtesverwandt mir der Häuptling der Apatfchen war, 
und mit welcher wunderbaren Uebereinſtimmung ſich 
unſere Gedanken zu begegnen pflegten. Gleich als wir 
das Wäldchen verließen, hatte ich an Fenner und an die 
andern Farmer gedacht, die überfallen werden follten. 
Dieſe waren ahnungslos; ſie mußten gewarnt werden. 
Zwar war der Häuptling der Oſagen in unfre Hände 
geraten, und wir konnten erwarten, daß dadurch die 
Ausführung ſeiner räuberiſchen Pläne einen Aufſchub 
erleiden werde; aber wir waren ſo wenig Herren der 
gegenwärtigen Verhältniſſe und auch unſerer Zeit, daß 
ſtündlich ein unvorhergeſehenes Ereignis eintreten konnte, 
durch das uns der Vorteil, den wir errungen hatten, 
wieder entriſſen wurde. Der geplante Ueberfall war 
jetzt aufgeſchoben, keineswegs aber ganz aufgehoben, und 
ſo mußte wenigſtens Fenner benachrichtigt werden. Er 
konnte die Warnung dann weiterſchicken. Aber wer ſollte 
ihn benachrichtigen? Treskow keinesfalls. Hammerdull 
und Holbers waren zwar tüchtige Weſtmänner, aber 
etwas ſo Wichtiges mochte ich doch keinem von ihnen 
anvertrauen; es handelte ſich nicht nur um den glück⸗ 


— 96 — 


lichen Hinritt, ſondern auch um den vielleicht noch 
ſchwierigeren Wiederherritt. Alſo blieben nur Winnetou 
oder ich. Mir war es lieber, wenn der Apatſche die Bot⸗ 
ſchaft übernahm. Denn er paßte weniger als ich zu den 
drei Gefährten, mit denen er ohne meine Vermittlung 
hätte zuſammen ſein müſſen, wenn ich nach Fenners 
Farm geritten wäre. Ich ſah, daß er Matto Schahkos 
Pferd mit ſcharfen Kennerblicken abſchätzte. Nun ſtand er 
auf, ging zu dem Tier hin, griff in die Satteltaſchen, 
warf alles heraus, was ſie enthielten, ſteckte mehrere 
Stücke Fleiſch hinein, warf ſeine Silberbüchſe über und 
wendete ſich dann mit der Frage an mich: 

„Was ſagt mein Bruder zu dieſem Oſagenhengſt?“ 

„Seine Lunge iſt geſund;“ antwortete ich; „ſeine 
Sehnen dauern aus, und ſeine Beine gleichen den Läufen 
der Antilope. Der Rappe meines roten Bruders mag 
ſich für den Ritt nach Kolorado Kräfte ſammeln; ich 
werde ihn unter meine beſondere Aufſicht nehmen, und ſo 
mag Winnetou dieſen Dunkelbraunen beſteigen, der ihn 
ſchnell hin⸗ und wiederbringen wird.“ | 

„Uff! Mein Bruder Shatterhand weiß, wohin 
ich will?“ 

„Ja. Wir werden hier liegen bleiben und warten. 
Du kommſt morgen wieder, ehe die Sonne untergeht.“ 

„Howgh! Meine Brüder leben wohl!“ 

Er ſchwang ſich in den Sattel und ritt von dannen. 
Er wußte, daß er mir nichts weiter zu ſagen brauchte, 
am allerwenigſten aber Verhaltungsmaßregeln zu erteilen 
hatte. Anders freilich ſtand es mit meinen drei Kame⸗ 
raden, die mich, kaum daß er den Rücken gewendet hatte, 
nach dem Zweck und dem Ziel ſeines nächtlichen Rittes 
fragten. Ich teilte ihnen das Nötige leiſe mit; denn die 
Gefangenen brauchten nicht zu erfahren, daß die Beſitzer 


aus, KOT 


der bedrohten Farmen gewarnt werden ſollten. Hierauf 
aßen wir. Dann verteilte ich die Wachen, und zwar ſo, 
daß ich bis nach Mitternacht ſchlafen konnte. Die Zeit 
zwiſchen da und dem Morgen iſt im Prärieleben ſtets 
die kritiſche; da wollte ich munter ſein, weil ich mir mehr 
traute als den Kameraden. 

Nachdem ich meinen drei Genoſſen die größte Auf⸗ 
merkſamkeit in Beziehung auf die Gefangenen und auf 
das Feuer eingeſchärft hatte, legte ich mich nieder und 
ſchlief augenblicklich ein. Es gab ja keine Sorge, die mir 
den Schlaf hätte verſcheuchen können. Ich ſchlief ſo 
lange, bis mich Dick Hammerdull weckte, der die dritte 
Wache hatte. Ich fand alles in Ordnung und ſtieg, 
während mein Vormann ſich niederlegte, aus der Ver⸗ 
tiefung heraus, um außerhalb der Büſche auf und ab 
zu ſchreiten. Dabei überlegte ich mir, was mit den 
beiden Gefangenen zu geſchehen habe. 

An das Leben wollte ich ihnen nicht, obgleich wir 
durch die Geſetze der Savanne vollberechtigt waren, ſie 
zu töten und ſo für uns und andere unſchädlich zu machen. 
Aber durfte ihr Mordanſchlag ganz ohne Ahndung 
bleiben? Und wenn nicht, welche Strafe ſollten wir 
für ſie wählen? Es kam mir der Gedanke, ſie ſoweit 
mit uns hinauf nach Kolorado zu nehmen, daß inzwiſchen 
die geeignete Zeit zum Ueberfall der Farmen verſtreichen 
mußte; aber es gab dagegen gewichtige Bedenken. Die 
Gegenwart zweier gefeſſelter Menſchen mußte uns ſehr 
aufhalken und in vielen Beziehungen unbequem werden. 
Am beſten war es, ich ließ dieſe Gedanken für einſtweilen 
fallen und wartete, was Winnetou für eine Meinung 
äußern werde. 

Den Ort, wo ſich die Oſagen jetzt befanden, kannte 


ich genau; ich war mit Winnetou ſchon wiederholt 
Map, Did Surehand. II. 7 


— 98 — 


dort geweſen. Die im Herbſt nach Süden und im 
Frühjahr wieder nach Norden ziehenden Büffelherden 
pflegten immer dieſelben Wege einzuhalten, Wege, die 
ſtellenweiſe tief ausgetreten wurden und während des 
ganzen Jahres kenntlich blieben. An einem ſolchen 
Büffelpfad lag das Wara⸗tu, zu deutſch „Regenwaſſer“. 
Es war eine Stelle, ähnlich der, wo wir uns jetzt 
befanden, nur daß ſie weit mehr Gebüſch und Gras⸗ 
wuchs hatte und viel tiefer lag, ſo daß ſich das Regen⸗ 
waſſer ſammeln konnte, ohne ſelbſt in der heißen Jahres⸗ 
zeit ganz zu verdunſten. Winnetou hatte uns abſichtlich 
nach dem Ort geführt, an dem wir lagerten; denn dieſer 
lag genau in der Richtung, die von dem Wäldchen, wo 
wir die Gefangenen gemacht hatten, nach dem Wara⸗tu 
führte. Er ſchien gewillt zu ſein, das „Regenwaſſer“ 
nach ſeiner Rückkehr einmal, wenn auch nur von weitem, 
in Augenſchein zu nehmen. 

Die Nacht verging, und der Morgen brach an; ich 


weckte dennoch die Gefährten nicht, ſondern ließ ſie weiter⸗ 


ſchlafen. Wir hatten ja nichts vor und konnten die 
Kräfte, die der Schlaf uns brachte, ſpäter wahrſchein⸗ 
lich gut gebrauchen. Als ſie erwacht waren, aßen wir als 
Morgenbrot ein Stückchen Fleiſch. Die Gefangenen 
bekamen nichts; eine Hungerkur von einigen Tagen konnte 
ſolchen Menſchen gar nichts ſchaden. Dann legte ich mich 
wieder zum Schlafen nieder, und ſo verging uns der 
Vor⸗ und auch der Nachmittag unter abwechſelndem 
Schlafen und Wachen, bis gegen Abend, wie ich geſtern 
vorausgeſetzt hatte, Winnetou zurückkehrte. Er war 
gegen zwanzig Stunden unterwegs geweſen, hatte keinen 
Augenblick geſchlafen und ſah doch ſo friſch und munter 
aus, als ob er ſich ebenſo ausgeruht hätte wie wir. Auch 
der Dunkelbraune, den er geritten hatte, ſchien nicht über⸗ 


998 


anſtrengt zu ſein, und ich ſah, mit welch befriedigtem, 
ja ſtolzem Blick ſein bisheriger Beſitzer, der Häuptling 
der Oſagen, dies bemerkte. Ich hatte mir vorgenommen, 
ſeinen Stolz in Wut zu verwandeln. Nach den Geſetzen 
der Savanne gehört der Gefangene nebſt allem, was er 
bei ſich hat, dem, in deſſen Hände er gefallen iſt. 
Wir brauchten gute Pferde. Winnetous und mein Rappe 
waren vorzüglich. Dick Hammerdulls Stute war zwar 
grundhäßlich, aber ſtark und ausdauernd; er wäre auch 
nicht dazu zu bewegen geweſen, ſich von ihr zu trennen. 
Treskows Pferd war unter denen, die uns zur Ver⸗ 
fügung geſtanden hatten, das beſte geweſen, hatte ſich 
aber ſchon in der kurzen Zeit bis heut als ungenügend 
erwieſen. Dasſelbe war mit dem Gaul von Pitt Hol⸗ 
bers der Fall. Wir hatten das zwar noch nicht zu 
beklagen gehabt; aber wenn einmal der Fall eintreten 
ſollte, daß die Erreichung eines wichtigen Zwecks oder 
gar unſere Rettung von der Schnelligkeit unſerer Pferde 
abhing, — und das war kaum zu vermeiden — ſo hatten 
wir in den beiden genannten Pferden zwei Hemmniſſe, 
die uns verderblich werden konnten. Matto Schahko ſollte 
feinen Dunkelbraunen nicht wiederbekommen. 

Winnetou ſprang vom Pferd, nickte uns grüßend 
zu und ſetzte ſich neben mich. Wir wechſelten die Blicke 
und wußten nun ohne Worte, woran wir waren: er 
hatte feine Warnung glücklich nach Fenners Farm 
gebracht, und hier bei uns war nichts Erwähnenswertes 
vorgekommen; dies hatten wir uns durch einen Wechſel⸗ 
blick geſagt: Worte waren alſo unnötig. Treskow, 
Hammerdull und Holbers freilich ſahen ihn erwartungs⸗ 
voll an; ſie waren enttäuſcht, daß er nichts ſagte, wagten 
aber doch nicht, ihn mit Fragen zu beläſtigen. 

Wenn er über ſeinen ſoeben beendeten Ritt jedes 


* 


Wort für überflüſſig hielt, ſo kannte ich ihn doch gut 
genug, um zu wiſſen, daß in anderer Beziehung ſein 
Schweigen nicht lange dauern würde. Wir mußten wiſſen, 
wie es mit den am „Regenwaſſer“ lagernden Oſagen 
ſtand. Wieviele waren es? Und vielleicht konnte man 
ſie auch Fenners wegen auf irgendeine Weiſe wiſſen 
laſſen, daß die Bleichgeſichter vor dem Ueberfall gewaͤrnt 
worden waren. Jedoch lag dieſer Ort nicht in der Rich⸗ 
tung, die wir auf dem Wege nach Kolorado einzuſchlagen 
hatten. Auch konnten wir, wenn wir die Oſagen 
beſchleichen wollten, die beiden Gefangenen nicht mit bis 
in die Nähe dieſer Roten nehmen, wo wir mit der Mög⸗ 
lichkeit zu rechnen hatten, daß ſie uns wieder abgenommen 
würden. Dieſe Angelegenheit mußte Winnetou ebenſo 
beſchäftigen wie mich, und ſo war ich überzeugt, recht 
bald darüber eine Aeußerung von ihm zu hören. Ich 
hatte mich darin auch nicht geirrt, denn er ſaß noch keine 
fünf Minuten neben mir, ſo fragte er: 

„Mein Bruder Scharlih hat gut ausgeruht. Iſt er 
bereit, jetzt gleich nach dem Wara⸗tu zu reiten?“ 

„Ja,“ erwiderte ich. | 

„Wir nehmen die Gefangenen bis an die Grenze von 
Kolorado mit, müſſen aber wiſſen, wie es hinter uns mit 
den Kriegern der Oſagen ſteht. Das wird mein Bruder 
zu erfahren trachten.“ 

„Reitet mein Bruder Winnetou mit ihnen von hier 
aus Eu geradem Weg fort?“ 

„Ja. — Sobald das hungrige Pferd des Oſagen 
Gras gefreſſen hat.“ 

„Will Winnetou nicht lieber warten bis morgen 
früh? Er hat die ganze Nacht nicht ſchlafen können, 
und wir wiſſen nicht, ob die nächſte Nacht uns Ruhe 
bringen wird.“ 


— 101 — 


„Der Häuptling der Apatſchen iſt gewohnt, nur dann 
zu ſchlafen, wenn er Zeit hat. Mein Bruder Shatter⸗ 
hand hat auch ſo einen eiſernen Körper; er weiß alſo, 
daß ich nicht müde bin.“ 

„Gut, wie du willſt! Wo treffen wir uns?“ 

„Mein Bruder Scharlih kennt das große Loch, das 
die Dakota Wako⸗kan !), die Schwarzfüße Kih⸗pe⸗ta⸗kih!) 
nennen?“ ö 

„Ja. Es wird ſo genannt, weil es die Geſtalt eines 
ſitzenden alten Weibes hat. Willſt du mich dort erwarten?“ 

„Ja. Da du einen Umweg machen mußt und auch 
Zeit zur Beobachtung der Oſagen brauchſt, werden wir 
eher dort ankommen als du und Hammerdull.“ 

„Hammerdull? Der ſoll mit? Denkt mein Bruder, 
daß dieſe Begleitung nötig iſt?“ 

„Ja, doch nicht der Zahl der Oſagen wegen. Aber es 
iſt leicht möglich, daß Old Shatterhand einen Gehilfen 
braucht, und wenn es auch nur wäre, um ſein Pferd zu 
bewachen, das er doch nicht ſo weit mitnehmen kann, wie 
er ſich vorwagen muß. Gibt mir mein Bruder Scharlih 
recht?“ | 

„Ja, obgleich ich wohl weiß, daß mehr deine 
Liebe als deine Sorge mir dieſen Begleiter an die Seite 
ſtellt.“ 

Er ſah ſich durchſchaut und nickte lächelnd. Dann 
wendete er ſich an den gefangenen Häuptling der Oſagen, 
mit dem er bis zu dieſem Augenblick noch kein Wort 
geſprochen hatte: 

„Matto Schahko mag meine Frage beantworten: 
Ihr habt vier Farmen der Bleichgeſichter überfallen 
wollen?“ 

Der Oſage antwortete nicht, und ſo wiederholte 

3) Beides bedeutet „alte Frau“. 


— 102 — 


Winnetou die Frage. Als er auch hierauf keine Antwort 
bekam, ſagte er: 

„Der Häuptling der Oſagen hat ſolche Angſt vor 
dem Häuptling der Apatſchen, daß ihm die Worte im 
Munde ſtecken bleiben.“ 

Er erreichte den Zweck, den dieſe Worte hatten, denn 
Matto Schahko fuhr ihn zornig an: 

„Ich, der oberſte Häuptling der Waſaji, habe ſieben 
graue Bären mit dieſer meiner Hand getötet; mein Name 
ſagt es jedem, der es hören will. Wie kann ich mich da 
vor einem Coyoten fürchten, der zum Volk der Pinto 
gehört?“ 

Das Wort Pimo war hier als Schimpfwort gegen 
Winnetou gebraucht; der blieb trotzdem ruhig und fuhr 
. fort: 

„Matto Schahko wird nicht zugeben, daß er beabſich⸗ 
tigt hat, die Farmen zu überfallen?“ 

„Nein. Ich gebe es nicht zu; es iſt nicht wahr.“ 

„Wir wiſſen dennoch, daß es ſo iſt, denn wir haben 
hinter euch gelegen, ehe du mit dem Präriehuhn kamſt, 
und dann jedes Wort vernommen. Deine Lanze iſt auf 
dem Aſt ſtecken geblieben. Sie ſoll denen, die ſie ſpäter 
ſehen, verkünden, wie dumm ein Menſch ſein kann, der 
ſich einen Häuptling nennt. Winnetou hat noch nie 
gehört, daß ein Menſch, der ſich verſtecken will, ſein 
Verſteck mit einem Zeichen verſieht, das jedem andern 
ſagt: hier hat ſich jemand verborgen. Du brauchſt den 
Ueberfall der Farmen nicht einzugeſtehen, denn er wird 
nicht ſtattfinden können. Ich bin geſtern abend fort⸗ 
geritten und habe die Bleichgeſichter gewarnt. Sie würden 
die Hunde der Oſagen, wenn ſie ja noch kämen, mit 
Peitſchen erſchlagen. Ich habe auch geſagt, daß Old 
Wabble dein Spion geweſen iſt. Wenn er ſich noch ein⸗ 


) 


— 103 — 


mal in den Farmen ſehen läßt, bekommt er keine Kugel, 
ſondern einen Strick um den Hals, wie es ſich für einen 
Spion geziemt.“ 

Der Oſage antwortete nicht, doch ſah man es ihm 
an, wie grimmig er darüber war, daß Winnetou ſeine 
Pläne verraten hatte. Der alte König der Cowboys 
aber rief: 

„„Ich ein Spion? Das iſt die größte Lüge, die es 
gibt! Wenn Winnetou mich als Spion bezeichnet hat, 
ſo iſt er ein Schuft!“ 

Der Geſchmähte antwortete nicht. Mir aber war 
dieſe Frechheit denn doch zu graß, als daß ich ſie 
ungeſtraft hätte hingehen laſſen können. Dieſer Kerl 
verdiente Hiebe. Ich gab aber Holbers einen andern 
Befehl: 

„Pitt, ſchnürt ihm die Feſſeln ſo feſt um die 
Gelenke, daß er ſchreien muß, und macht ſie nicht cher 
wieder locker, als bis er um Gnade wimmert!“ 

Pitt Holbers wollte gehorchen, doch Winnetou, der 
Edle, verbot es ihm mit den Worten: 

„Es ſoll nicht geſchehen! Dieſer Mann kann mich 
nicht beleidigen. Seine Tage find ihm nur noch ſpärlich 
zugezählt; er ſteht der Grube, die ihn verſchlingen wird, 
viel näher, als er denkt, und einen Sterbenden ſoll nie⸗ 
mand quälen!“ 

„Ah!“ lachte der Alte höhniſch. „Jetzt fängt ſogar 
der Rote zu predigen an! Und wenn die Grube ſich 
jetzt hier vor mir öffnete, ich würde ſie nicht fürchten, 
ſondern lachen. Das Leben iſt nichts; der Tod iſt nichts, 
und euer Jenſeits iſt der größte Schwindel, von klugen 
Pfaffen für Kinder und für alte Weiber ausgedacht! Ich 
habe es euch ſchon einmal geſagt, und ich denke, daß ihr 
euch meiner Worte noch erinnern werdet: Ich bin ins 


— 104 — 


Leben hereingehinkt, ohne um Erlaubnis gefragt zu wer⸗ 
den, und der Teufel ſoll mich holen, wenn ich nun meiner⸗ 
ſeits beim Hinaushinken irgend wen um Erlaubnis frage! 
Ich brauche dazu weder Religion noch Gott!“ 

Ja, er hatte dieſe Worte, ganz dieſelben Worte ſchon 
einmal geſagt; ich erinnerte mich genau an ſie. Und wie 
es mir damals vor ihm förmlich gegraut hatte, ſo war 
es mir auch jetzt, da ich ſie wieder hören mußte, als ob 
mir mit einem Stück Eis über den Rücken geſtrichen 
würde. Konnte ſolche Läſterung ungeahndet bleiben? 
Nein, und abermals nein! Ich wendete mich ab und 
trat zu Dick Hammerdull, um ihm ſo leiſe, daß die 
Gefangenen es nicht hören konnten, mitzuteilen, daß er 
jetzt mit mir nach dem Warastu reiten ſolle. Er war 
ſehr erfreut darüber, da er meine Aufforderung als ein 
Vertrauenszeugnis betrachtete. Wir verſahen uns für 
einen Tag mit Fleiſch und ſtiegen dann auf unſre Tiere. 


” 
Drittes Kapitel 
Ein unerwartetes Zuſammentreffen 


klis wir den Lagerplatz verließen, ſtand die Sonne 
bereits am Horizont. In einer halben Stunde mußte 
es dunkel ſein. Das konnte uns aber nicht ſtören; der 
Weſtmann iſt gewöhnt, keinen Unterſchied zwiſchen Tag 
und Nacht zu machen, und wenn er die nötige Uebung 
beſitzt, ſo dienen ihm ſelbſt in mondloſer Nacht die Sterne 
des Himmels als Wegweiſer, die jo untrüglich find, daß 
er ſich niemals irren kann. Wie wunderbar iſt es, daß 
jene Millionen Himmelslichter, die Körper bedeuten, 
gegen die unſere Erde nur ein winziges Stäublein iſt, 
uns doch als nie irrende Führer durch die pfadloſeſten 
Gegenden und durch die irdiſchen Nächte dienen! Genau 
ſo wahr und ohne Falſchheit iſt auch der Fingerzeig, mit 
dem ſie den Blick des Sterblichen nach dem Jenſeits 
lenken und die große, angſtvolle Frage nach dem ſpäteren 
Leben mit einem Glück und Ruhe bringenden Ja beant⸗ 
worten. 

Die Sonne ſank; das Abendrot verglomm; die letzten 
matten Streifen der Dämmerung verſchwanden wie ſter⸗ 
bende Hoffnungen am Horizont. Glücklicherweiſe gibt es 
einen Oſten, der uns Licht und Hoffnung wiederbringt! 
Es trat die erſte, tiefe Dunkelheit des Abends ein, die 
finſterer als die Nacht ſelber iſt, weil noch kein Stern 
am Himmel ſteht. Ein Städtebewohner hätte vom Pferde 
ſteigen und auf die Sterne warten müſſen, wollte er nicht 


— 106 — 


den Hals wagen. Wir aber flogen im Galopp über die 
hier nicht mehr „rollende“, ſondern tiſch⸗ebene Prärie. 
Unſere geübten Augen waren ſcharf und die unſerer. 
Pferde noch ſchärfer. Einmal lief mein Rappe, ohne daß 
ich den Grund erſah, einen Bogen; ich ließ ihm den 
Willen, denn ich wußte wohl, daß er es nicht ohne Ver⸗ 
anlaſſung tat. Wahrſcheinlich flogen wir an einer Kolonie 
von Präriehunden vorüber. Dieſe Tiere wohnen oft zu 
Hunderten beiſammen und unterhöhlen den Boden der⸗ 
art, daß jeder Reiter, der nicht ſein Pferd und ſich die 
Beine brechen laſſen will, einen Umweg machen muß. 
Der Klang der Hufe war hart; es gab kein Gras. Wir 
befanden uns nun ſchon im weſtlichen Teil des Staates 
Kanſas, der kahler, trockener und weniger fruchtbar als 
der öſtliche iſt. 

Es gab keinen Baum und auch ſonſt keinen Gegen⸗ 
ſtand, der als Merkmal dienen konnte, und wenn es 
etwas gegeben hätte, wir hätten es in dieſer Finſternis 
nicht ſehen können. In ſolcher Lage muß man ſich nach 
jenem Sinn richten, der nur Lieblingen der Wildnis 
angeboren iſt, und den noch kein Gelehrter zu erklären 
vermochte. „Ortsſinn“ iſt nicht bezeichnend genug dafür; 
„Orientierungsſinn“ kommt dem Weſen vielleicht ſchon 
näher. Iſt es Inſtinkt? Wohl jenes geheimnisvolle, 
innerliche Schauen, das den Wandervogel den geradeſten 
Weg von Schweden nach Aegypten finden läßt? Ich 
weiß es nicht; aber ſo oft ich mich auf dieſes verborgene, 
unbegreifliche Auge verlaſſen habe, wurde ich von ihm 
genau ans Ziel geführt. 

Dick Hammerdull fragte mich einige Male, ob ich 
auch den richtigen Weg hier wiſſe; ich konnte ihm 
nichts anderes antworten, als daß es in dieſer unbe⸗ 
wohnten Gegend gar keine Wege gebe; alſo könne ich 


— 17 — 


weder auf dem richtigen, noch auf einem falſchen fein. 
Er klagte in ſeiner drolligen Weiſe: 

„Jagt doch nicht ſo, Mr. Shatterhand! Wollen 
langſamer reiten! Es iſt doch grad, als ob wir durch 
eine umgeſtürzte, meilenlange Feuereſſe galoppierten. Mein 
Hals iſt auch was wert, und wenn ich mit dem Pferd 
ſtürze und ihn mir zerbreche, ſo habe ich keinen zweiten. 
Haben wir denn gar ſo große Eile, Sir?“ 

„Allerdings. Wir müſſen noch lange vor dem 
Morgenlicht das Wara⸗tu erreichen. Dieſer Ort liegt in 
einer ziemlich weiten, offenen Ebene und bei Tage würden 
die Oſagen uns kommen ſehen.“ 

„Ob ſie uns ſehen oder nicht, das bleibt ſich gleich; 
aber beeilen müſſen wir uns da allerdings, denn wenn 
ſie uns bemerken, ſo haben wir den weiten Ritt umſonſt 
gemacht. Pitt Holbers, altes Coon, denkſt du — —“ 

Ich lachte laut auf. Er hielt mitten in ſeinem Frage⸗ 
ſatz inne und lachte mit. Er war es gewöhnt, ſeinen 
alten Pitt zu Rate zu ziehen, daß er auch jetzt die bewußte 
Frage an den leider Abweſenden hatte richten wollen. 

Später erſchien ein Stern und noch einer; zu dieſen 
zweien geſellten ſich mehr und immer mehr, bis wir den 
ſchönſten Aſtralhimmel über uns hatten und alſo aus 
Dick Hammerdulls „meilenlanger Feuereſſe“ herausgekom⸗ 
men waren. Nun ritt es ſich freilich beſſer als vorher, 
und das war ſehr gut, denn das Gelände war, ohne 
beſonders Wellen zu zeigen, „faltig“ geworden, wie der 
militäriſche Ausdruck lautet. Es gab zahlreiche Senkungen, 
die ſo unregelmäßig verliefen, daß wir, immer die gerade 
Richtung einhaltend, ihnen bald folgen, bald ſie durch⸗ 
queren mußten. Das war anſtrengend für unſere 
Tiere; aber ſie hatten ſich einen ganzen Tag lang aus⸗ 
geruht; meinem Hatatitla war nichts anzumerken, und 


— 18 — 


Hammerdulls Stute lief ſo beharrlich nebenher, als ſei 
ſie der Seitenſchatten meines Hengſtes. Zuweilen ließen 
wir die Tiere auch langſam gehen, und einmal, als wir 
an ein Waſſer kamen, durften ſie trinken; doch ritten wir 
durchſchnittlich ſo ſchnell, daß Holbers und Treskows 
Pferde gewiß zurückgeblieben wären. 

So ging Mitternacht vorüber, und die Sterne ver⸗ 
ſchwanden, nicht weil es Zeit für ſie geweſen wäre, unter⸗ 
zugehen, ſondern weil ſich der Himmel mit Wolken bedeckte, 
die immer dichter wurden und ihn ganz umzogen. Es 
bereitete ſich ein Gewitter vor. ö 

„Das hat noch gefehlt!“ zürnte Hammerdull. „Es 
wird wieder ſchwarz um uns, ſchwärzer als vorher. Ich 
ſchlage vor, hier anzuhalten und uns niederzuſetzen!“ 

„Warum?“ 

„Nun, wird der Name Wara⸗tu nicht mit ‚Regen 
waſſer“ überſetzt?“ 

„Allerdings.“ 

„Gut! Warum alſo weiterreiten? Wenn wir uns 
hier mitten in die alte Prärie ſetzen und einige Zeit 
warten, bekommen wir ſo viel Regenwaſſer, wie wir uns 
nur wünſchen können.“ 

„Macht keine ſchlechten Witze! Mögt Ihr über dieſen 
Umſchlag des Wetters ſchimpfen, mir kommt er ſehr 
gelegen.“ 

„Das begreife, wer da will!“ 

„Seht Ihr denn nicht ein, daß es uns bei dieſer 
Finſternis viel leichter wird, an die Oſagen zu kommen, 
als wenn es noch ſo ſternenhell wie vorhin wäre?“ 

„Hm, ja; daran habe ich nicht gedacht. Ihr habt 
recht, vorausgeſetzt, daß Ihr Euch trotz der Dunkelheit 
zutraut, das Wara⸗tu überhaupt zu finden.“ 

„Noch eine gute halbe Stunde, ſo haben wir es.“ 


— 19 — 


„Schon? Es muß doch weiter fein! Matto Schahko 
wollte doch am Abend fortreiten und ſeine Krieger erſt 
am nächſten Mittag bringen.“ 


„Es ſtimmt dennoch. Die Stelle, wo wir lagerten, 
liegt von hier aus eine Stunde näher als der „Baum 
der Lanze“. Der Oſage hätte nicht ſofort nach ſeiner 
Ankunft bei dem Waras⸗tu wieder aufbrechen können; er 
mußte wenigſtens eine halbe Stunde dort verweilen. Und 
ſodann hätte er mit den ſchlechteren Pferden ſeiner Leute 
den Rückweg nicht ſo raſch zurücklegen können wie den 
Hinweg auf ſeinem ſchnellen Dunkelbraunen. Das alles 
hat er in Berechnung gezogen, als er Old Wabble ſagte, 
wie lange er ausbleiben würde. Nehmt dazu, wie wir 
beide geritten oder vielmehr gejagt ſind, ſo werdet Ihr 
Euch nicht wundern, wenn ich Euch ſage, daß wir nur 
noch zwei Meilen!) haben, bis wir am Ziel find.“ 

„Well — wenn wir es finden und bei dieſer ägyp⸗ 
tiſchen Sonnen⸗, Mond⸗ und Sternenfinſternis nicht dar⸗ 
über hinausreiten!“ | 

„Habt keine Sorge, lieber Dick! Ich kenne mich 
hier aus.“ 

„Ob Ihr Euch auskennt oder nicht, das iſt gleich, 
wenn Ihr Euch nur zurechtfindet!“ 

Ich ſprach zu ihm mit großer Sicherheit; es mußte 
ſich bald zeigen, ob ich mir nicht zu viel zugetraut hatte. 
Es galt, ein langgeſtrecktes, breites, muldenförmiges Tal 
zu durchqueren; wenn wir nicht darauf trafen, hatten 
wir uns verritten. Schon wollte ein Zweifel in mir auf⸗ 
ſteigen, da begann der Boden ſich ziemlich raſch zu ſenken. 
Wir ſtiegen ab und führten, der Senkung folgend, unſere 
Pferde. Unten angekommen, ſetzten wir uns wieder auf, 


1) Engliſche; 1 engl. Meile = 1,6 km. 


— 110 — 


ritten quer über die Mulde und dann drüben die Lehne 
hinauf. Nun konnte ich in frohem Ton ſagen: 

„Wir ſind ſo genau und richtig geritten, als ob wir 
den hellſten Sonnenſchein gehabt hätten. Jetzt noch fünf 
Minuten lang Galopp über eine glatte, ununterbrochene 
Ebene, und wir ſtoßen mit der Naſe grad an das Wara⸗tu.“ 

„Bitte, nehmt die Eurige dazu, Sir! Ich habe meine 
Naſe zu ganz andern Zwecken im Geſicht. Uebrigens freue 
auch ich mich unendlich, daß wir bei dieſem Mangel aller 
Laternen nicht an den Nordpol geraten ſind. Es gibt 
Gebüſch am Wara⸗tu?“ 

„Viel, und ſogar einige Bäume.“ 

„Reiten wir ganz hinan?“ 

„Um dieſe Frage beantworten zu können, muß ich 
erſt auf Erkundung gehen. Wenn es nicht ſo finſter 
wäre, hätte ich Euch mit den Pferden da hinter uns in 
der Talmulde laſſen und mich allein mühſam anſchleichen 
müſſen. Ihr ſeht, wie gut für uns das Gewitter iſt, das 
den Himmel ganz bedeckt hat und nun bald losbrechen 
wird. Es iſt, als ob es ſich bloß unſertwegen zuſammen⸗ 
gezogen hätte. Reiten wir langſamer; wir müſſen jetzt ſehr 
vorſichtig ſein!“ 

Wir zügelten unſere Pferde und waren dann kaum 
noch eine Minute weitergeritten, ſo zuckte grad vor uns 
ein Wetterleuchten über den Horizont. Da ſahen wir ein 
ſcheinbar lang gezogenes Buſchwerk, dem wir uns auf 
vielleicht fünfhundert Schritte genähert hatten. 

„Wir ſind am Ziel,“ ſagte ich und ſtieg aus dem 
Sattel. „Die Pferde mögen ſich legen. Ihr bleibt bei 
ihnen zurück und nehmt hier meine Gewehre.“ 

„Wollen wir ein Zeichen verabreden, oder werdet Ihr 
mich ſicher finden, Sir?“ erkundigte ſich Hammerdull. 


— 111 — 


„Habe ich das Wara⸗tu gefunden, fo finde ich Euch 
auch. Ihr ſeid ja dick genug!“ 

„Jetzt macht Ihr die ſchlechten Witze, Mr. Shatter⸗ 
hand. Nun habt Ihr das ſchöne Wara⸗tu vor Euch. 
Stoßt mit der Naſe an!“ 

Ich gab meinem Pferde mit der Hand das Zeichen, 
ſich zu legen; es gehorchte, ebenſo die Stute Hammerdulls. 
Dann ſchritt ich vorſichtig auf die Büſche zu. 

Man denke ſich eine ſchüſſelförmige, mit Waſſer 
ziemlich gefüllte Vertiefung von vielleicht fünfzig Meter 
Durchmeſſer, rings von teils dicht, teils einzeln ſtehenden 
Sträuchen umgeben, aber zwiſchen dem Waſſer und dem 
Geſträuch einen ziemlich breiten, buſchfreien Ring, der ſich 
aus lauter muſchelartigen Eindrücken zuſammenſetzte, die 
durch das Wälzen der wilden Büffel entſtanden waren. 
Dieſe Tiere pflegen ſich inſtinktmäßig im weichen Boden zu 
wälzen, um ſich mit einer ſchlammigen Kruſte zu bedecken, 
die ihnen Schutz vor mancherlei Inſekten bietet. Das 
war das Wara⸗itu, das ich jetzt zu umſchleichen hatte. 
Umſchleichen? Nein; dazu ſollte es gar nicht kommen. 

Ich erreichte die erſten Büſche mit Leichtigkeit und 
— — roch und hörte zugleich links von mir Pferde. 
Mich niederduckend, wandte ich mich nach dieſer Rich⸗ 
tung, denn es iſt in ſolchen Fällen ſtets geraten, ſich auch 
um die Pferde der Feinde zu bekümmern. Sie waren 
alle angehobbelt, außer einem, das an zwei in die Erde 
getriebenen Pflöcken hing. Hinter den Büſchen brannten 
mehrere Feuer, deren Schein in der Weiſe durch eine 
Strauchöffnung drang, daß er dieſes Pferd traf. Das 
genügte, mir ſeinen Bau zu zeigen. Es war ein edler, 
ſehr dunkler Rotſchimmel, deſſen prächtige Mähne ſo in 
Knoten und immer kleiner werdenden Knötchen geknüpft 
war, wie ich es bei den Naiini⸗Komantſchen geſehen 


— 112 — 


hatte. Wie kamen die Oſagen zu dieſer Art und Weiſe 
einer Mähnenzierde? Doch das war jetzt Nebenſache; 
wichtiger fand ich den Umſtand, daß keine einzige Wache 
bei den Pferden war. Dieſe Indsmen mußten ſich 
höchſt ſicher fühlen! Ich kehrte, um dem Feuerſchein 
auszuweichen, einige Schritte zurück, legte mich auf die 
Erde nieder und ſchob mich dann in das Gebüſch hinein. 

Von vier großen Feuern hell beleuchtet, hatten ſich 
wohl über zweihundert Oſagen auf dem erwähnten, freien 
Ring rund um das Waſſer gelagert und ſahen mit großer 
Spannung ſechs Kriegern zu, die ſoeben begonnen hatten, 
den Büffeltanz aufzuführen. Indem ich mein Auge 
rundum gleiten ließ, blieb es an einem der wenigen hier 
ſtehenden Bäume haften, an dem ein Indianer lehnte, 
deſſen Geſicht nicht bemalt war. Er war angebunden, 
alſo Gefangener. Sein Geſicht war hell beleuchtet. Ich 
erſchrak, als ich es ſah, aber nur aus Freude. Dieſes 
Geſicht kannte ich genau; es war das eines lieben Be⸗ 
kannten. Und nun konnte ich mir auch die Anweſen⸗ 
heit des Pferdes mit der fremdgeknüpften Mähne 
erklären: der Rotſchimmel gehörte dem Gefangenen. 
Dieſe hohe, breite, volle Geſtalt, dieſer markige und doch 
ſo leichtbewegliche Gliederbau, dieſes kaukaſiſch gemeißelte 
Geſicht mit der ſtolzen, ſelbſtbewußten Ruhe in den 
Zügen, das konnte nur einer ſein, den ich lange nicht 
geſehen, an den ich aber umſo öfter gedacht hatte, näm⸗ 
lich Apanatſchka, der junge, edle Häuptling der Naiini⸗ 
Komantſchen! 

Was hatte ihn nach Kanſas heraufgeführt? Wie war 
er in die Hände der Oſagen gefallen? Oſagen und 
Komantſchen! Ich wußte, welche unerbittliche Feindſchaft 
zwiſchen dieſen beiden Völkern herrſchte; er war verloren, 
wenn es mir nicht gelang, ihn zu retten! Retten? 


— 13 — 


Pah, kinderleicht! Kein Menſch achtete jetzt auf ihn, 
denn aller Augen waren auf die Tänzer gerichtet. Zwei 
Büſche ſtanden hinter dem Baum, an den er gebunden 
war, Deckung genug für mich, von hinten nahe an ihn 
zu kommen! 

So ſchnell mir dieſe Gedanken kamen, ſo ſchnell 
wurden ſie ausgeführt. Ich ſchob mich aus dem 
Geſträuch zurück, ſtand auf und eilte zu Hammerdull. 

„Auf mit den Pferden!“ gebot ich ihm. Setzt Euch 
auf Eure Stute! Kommt!“ 

„Was iſt los?“ fragte er. „Müſſen wir fort?“ 

„Die Oſagen haben einen Gefangenen, den ich kenne, 
und den ich befreien muß.“ 

„Heavens! Wer iſt's, Mr. Shatterhand?“ 

„Das ſpäter; kommt nur, kommt!“ 

Mein Rappe ſprang auf mein Zeichen auf; ich nahm 
ihn beim Zügel und zog ihn fort. Hammerdull hatte 
ſich trotz ſeiner Körperfülle ſchnell in den Sattel 
geſchwungen und folgte mir. Ich führte ihn nicht 
dorthin, wo ich geweſen war, ſondern genau nach 
dem Außenpunkt des Gebüſchs, der hinter Apanatſchkas 
Rücken lag. 

„Wartet hier! Ich bringe noch ein Pferd.“ 

Mit dieſen Worten ſchnellte ich mich wieder fort. 
Ich mußte mich beeilen, denn die Befreiung des 
Gefangenen hatte zu geſchehen, noch ehe der Büffeltanz, 
der die ganze Aufmerkſamkeit der Oſagen in Anſpruch 
nahm, zu Ende war. Ich lief nach der andern Seite zu 
dem Rotſchimmel, löſte ihn von den Pflöcken und wollte 
mit ihm fort. Er weigerte ſich, blieb ſtehen und ſchnaubte 
laut. Das konnte mir und meinem Vorhaben gefährlich 
werden. Glücklicherweiſe wußte ich, was ich zu tun hatte, 
ihn mir willig zu machen. 

Ray, Die Surehand. II. 8 


— 14 — 


[2 


„Minam, kobi, minam, minam!)“ ſchmeichelte ich 
ihm und ſtreichelte ihm den fiſchglatten Hals. 

Als er die bekannten Laute hörte, gab er ſofort den 
Widerſtand auf und ging mit mir. Gerade kam ich mit 
ihm bei Hammerdull an, da zuckte der erſte Blitz über 
den Himmel, und der erſte Donnerſchlag krachte. Nun 
aber ſchnell, ſonſt wurde der Tanz wegen des Gewitters 
eher beendet! 

„Haltet auch dieſes Pferd, das der befreite Gefangene 
beſteigen wird,“ forderte ich den Dicken auf; „ſobald ich 
komme, gebt Ihr mir meine Gewehre!“ 

„Well! Bringt ihn nur erſt, und bleibt nicht ſelber 
ſtecken!“ antwortete er. 

Wieder leuchtete der Blitz, und wieder krachte der 
Donner. Ich drang ſo raſch und doch ſo leiſe wie mög⸗ 
lich in das Gebüſch, warf mich zu Boden und ſchob mich 
unten an der Erde fort. Noch währte der Tanz, den 
jetzt alle Oſagen mit einem lauten, in der Fiſtel gebil⸗ 
deten „Pe⸗teh, Pe⸗teh, Pe⸗teh')!“ begleiteten, wobei fie 
taktmäßig in die Hände klatſchten. Da konnten ſie das 
Rauſchen der Zweige nicht hören; ich kam alſo ſehr 
raſch vorwärts und hinter den Gefangenen. Ich ſah 
kein einziges Auge auf ihn gerichtet; auch er ſchaute wahr⸗ 
ſcheinlich dem Tanz zu. Um ſeine Aufmerkſamkeit auf 
mich zu lenken, berührte ich zunächſt ſeinen Unterſchenkel. 
Er zuckte leicht zuſammen, doch nur für einen Augenblick. 

„Karbune'“)!“ ſagte ich jo laut, daß er, aber auch 
nur er allein, es trotz des Geſangs hören konnte. 

Er ſenkte den Kopf — ein nur mir bemerkbares 
Nicken, zum Zeichen, daß er meine Hand gefühlt und 
mein Wort verſtanden habe. Er war mit drei Riemen 


) Komm Hengſt, komm, komm! 
3 „Büffel, 1 Büffel!“ 
) Paß auf!“ 


— 115 — 


an den Baum gefeſſelt; einer war um ſeine Fußgelenke 
und den Stamm, ein zweiter um ſeinen Hals und den 
Stamm geſchlungen, während man ihm mit dem dritten 
die nach rückwärts um den Baum gezogenen Hände 
zuſammengebunden hatte. Grad ſo wie jetzt hinter 
Apanatſchka, hatte ich einſt hinter Winnetou und ſeinem 
Vater Intſchu tſchuna geſteckt, um fie von den Bäumen 
loszuſchneiden, an die ſie von den Kiowas gebunden 
worden waren!). Ich war überzeugt, daß Apanatſchka 
ſich nicht weniger klug verhalten werde wie damals die 
beiden Apatſchen, und zog das Meſſer. Zwei Schnitte 
genügten, den untern Riemen und dann auch die Hand⸗ 
feſſel zu durchſchneiden; aber um an den Halsriemen zu 
kommen, mußte ich aufſtehen, und das war gefährlich, 
weil ich da geſehen werden konnte, wenn in dieſem Augen⸗ 
blick auch nur ein einziger Oſage nach dem Gefangenen 
ſchaute. Da kam mir der Zufall zu Hilfe. Einer der 
Tänzer war infolge ſeiner allzu lebhaften Bewegungen 
dem Waſſer zu nahe gekommen; der weiche Uferrand 
wich unter feinem Fuß, und er fiel in den Tümpel. Ein 
allgemeines Gelächter erſcholl, und alle Augen richteten 
ſich auf den triefenden Büffeldarſteller. Das benutzte ich. 
Schnell in die Höhe — ein Schnitt — dann ebenſo 
ſchnell wieder nieder! Niemand hatte mich geſehen. 

„Minaml temakimaar! nomahiik!?)“ forderte ich ihn 
in demſelben Ton wie vorher auf und kroch einige 
Schritte zurück. 5 

Ihn ſcharf im Auge behaltend, ſah ich, daß er noch 
eine kleine Weile ſtehen blieb; dann duckte er ſich plötz⸗ 
lich nieder und huſchte zu mir ins Geſträuch. Nun 
konnte es mir gleichgiltig ſein, was weiterhin geſchah: 


) Siebe „Winnetou“ Band l. 
9 „Rommi Schleiche fort! Gib mir die dand!“ 


— 116 — 


erwiſchen ſollten ſie uns nicht! Ich nahm ihn bei der 
Hand und zog ihn, jetzt noch in niedergeduckter, kauern⸗ 
der Haltung, mit mir fort. Da erleuchtete der Blitz das 
ganze Gebüſch; ein ſchrecklicher Donner erdröhnte, und 
mit einem Mal klatſchte wie ein ſtürzender See der 
Regen vom Himmel herab. Mit dem Tanz war es 
aus; man mußte die Flucht des Komantſchen bemerken. 
Ich richtete mich auf, riß auch ihn empor und zog ihn 
mit mir fort, durch die Büſche, hinaus zu Hammerdull. 
Hinter uns ſchrieen, riefen und brüllten hundert Stimmen. 
Der Dicke reichte mir meine Gewehre, die ich überhängte. 
Apanatſchka ſah ſein Pferd und ſprang, ohne ſich einen 
Augenblick darüber zu verwundern, ſogleich in den Sattel. 
Ich war im Nu auch oben, und dann ritten wir fort, 
nicht etwa ſehr eilig, denn das war nicht nötig, weil der 
laut auffchlagende Regen die Schritte unſerer Pferde gar 
nicht vernehmlich werden ließ. 

Wir ritten nicht nach der Richtung, aus der wir 
gekommen waren, ſondern dahin, wo ich mit Winnetou 
zuſammentreffen ſollte, nämlich nach dem Kih⸗pe⸗ta⸗kih, 
bis wohin wir von dem Waras⸗tu ungefähr vier gute 
Reitſtunden hatten. Wenn ich mir die Entfernungen 
genau berechnete und dabei in Betracht zog, daß Winne⸗ 
tou wohl keinen zwingenden Grund gehabt hatte, allzu⸗ 
zeitig von unſerm geſtrigen Lagerplatz aufzubrechen, 
erſchien es mir als wahrſcheinlich, daß wir eher als er bei 
der „alten Frau“ eintreffen würden. Er hatte ange⸗ 
nommen, daß uns das Beſchleichen der Oſagen eine 
geraume Zeit koſten werde. Und nun hatte ſich uns ein 
Erfolg geboten, über den ich mich außerordentlich glück⸗ 
lich fühlte, denn ich hatte Apanatſchka da unten im Llano 
liebgewonnen. 

Er hatte mich nicht deutlich ſehen können und wußte 


— 117 — 


alſo noch nicht, wer ſein Befreier war. Während ich 
jetzt mit Dick Hammerdull voranritt und er hinter uns 
her, ſtrömte der Regen ſo dicht hernieder, daß er nur 
die Umriſſe unſerer Geſtalten erkennen konnte und ſich 
dicht hinter uns halten mußte, wenn er uns nicht ver⸗ 
lieren wollte. Es machte mir Spaß, ihn auch jetzt noch 
über mich im unklaren zu laſſen. Darum bog ich mich 
zu Hammerdull hinüber und ſagte mit unterdrückter 
Stimme zu ihm: 

„Wenn der Fremde fragt, ſo ſagt ihm nicht, wer 
ich bin!“ 

„Wer iſt er denn?“ 

„Ein Häuptling der Komantſchen. Doch verheim⸗ 
licht ihm, daß Ihr das wißt, ſonſt ahnt er, daß ich ihn 
kenne.“ a 
„Darf er erfahren, daß wir zu Winnetou reiten?“ 

„Nein. Von dem Apatſchen dürft Ihr gar nicht 
ſprechen.“ j 

„Well! Soll alles ganz richtig verſchwiegen werden!“ 

Die Oſagen hatten ſich wahrſcheinlich alle ſchnell 
auf die Pferde geworfen und ſchwärmten nun trotz 
des Regens durch die ganze Umgegend des Wara⸗tu; 
eigentümlicherweiſe aber kam uns keiner von ihnen nahe, 
obgleich wir ziemlich langſam ritten. Es war in dieſer 
vom Himmel ſtürzenden Waſſerflut ſehr ſchwer, nicht 
in eine falſche Richtung zu geraten. Die Finſternis 
war, wie man ſich auszudrücken pflegt, mit den Hän⸗ 
den zu greifen, und ſoviel und blendend hell es auch 
blitzte, für die Orientierung war das doch nicht günſtig, 
ſondern erſchwerend, weil der plötzliche Wechſel zwiſchen 
tiefer Finſternis und grellem Licht das Auge angreift 
und der Blitz dann die Gegenſtände nicht wahr erſcheinen 
läßt. Und dieſer ſuppendicke Regen hielt über zwei 


— 118 — 


Stunden an. Es war da unmöglich, eine Unterhaltung 
zu führen; wir mußten uns auf die allernötigſten Zurufe 
beſchränken. 

Da brauchte ich freilich nicht zu befürchten, daß 
Apanatſchka mich eher erkennen werde, als es in meiner 
Abſicht lag, zumal ich einen andern Anzug trug als zu der 
Zeit, in der er mich kennen lernte, und da ich die ſehr 
breite Krempe meines Hutes ſo weit heruntergeſchlagen 
hatte, daß ich ganz entſtellt ſein mußte. 

Endlich, endlich hörte der Regen auf; aber die Wolken 
wichen noch nicht, und es blieb ſo dunkel wie vorher. Ich 
trieb mein Pferd an, um vorzeitigen Erkundigungen zu 
entgehen, und ſo kam es, daß Apanatſchka ſich an Dick 
Hammerdull machte. Sie unterhielten ſich. Ich hatte nicht 
vor, auf ihre Reden zu achten, fing aber doch einige Aus⸗ 
drücke des Dicken auf, die meine Teilnahme erregten. 
Darum ließ ich meinen Schwarzen jetzt weniger ausgreifen 
und horchte hinter mich, doch ohne dies durch meine Hal⸗ 
tung zu verraten. Apanatſchka bediente ſich des zwiſchen 
Weißen und Roten gebräuchlichen Miſchdialekts, der aus 
engliſchen, ſpaniſchen und indianiſchen Wörtern zuſammen⸗ 
geſetzt iſt und von jedem guten Weſtmann verſtanden 
und geſprochen wird. Er ſchien eben erſt gefragt zu haben, 
was ich ſei, denn ich hörte den Dicken antworten: 

„Ein Player!) iſt er, weiter nichts.“ 

„Was iſt das, ein Player?“ 

„Ein Mann, der überall herumzieht und Bären⸗ 
oder Büffeltänze tanzt, wie du vorhin von den Oſagen 
geſehen haſt.“ 

„Uff! Die Bleichgeſichter ſind doch ſonderbare Leute. 
Die roten Männer ſind zu ſtolz, für andere zu tanzen. 
Willſt du mir ſagen, wie ſein Name iſt?“ 

9 Schauſpieler. 


L * 


— 119 — 


„Er heißt Kattapattamattafattagattalattarattaſcha.“ 

„Uff, uff, uff! Ich werde ihn ſehr oft hören müſſen, 
ehe ich ihn nachſprechen kann. Warum ſpricht das gute 
Bleichgeſicht, das mich gerettet hat, nicht mit uns.“ 

„Weil er nicht hören kann, was wir ihm ſagen. Er 
iſt taub!“ 

„Das tut meinem Herzen leid, weil er den Dank 
nicht hören kann, den Apanatſchka ihm bringen möchte. 
Hat er eine Squaw, und hat er Kinder?“ 

„Er hat zwölf Squaws, denn jeder Player muß 
zwölf Frauen haben, und zweimal zwanzig Söhne und 
Töchter, die auch alle taub ſind und nicht hören.“ 

„Uff, uff! So kann er mit ſeinen Frauen und Kin⸗ 
dern nur durch Zeichen ſprechen?“ 

„Ja.“ 

„So muß er zehnmal zehn und noch viel mehr ver⸗ 
ſchiedene Zeichen haben! Wer ſoll ſich dieſe alle merken! 
Er muß ein ſehr mutiger Mann ſein, daß er ſich in die 
Wildnis wagt, ohne hören zu können, denn die Gefahren, 
die es hier gibt, werden doppelt groß, wenn man ſich nur 
auf ſeine Augen verlaſſen muß.“ 

Ob Dick Hammerdull, indem er mich für taub aus⸗ 
gab, irgend eine beſtimmte, luſtige Abſicht hegte, oder ob 
ihm dieſe Behauptung ohne beſtimmten Grund auf die 
Lippen gekommen war, das „blieb ſich gleich“, wie 
er ſich auszudrücken pflegte, denn es trat jetzt ein Umſtand 
ein, durch den ſein Humbug offenbar wurde. Es kam 
mir nämlich trotz des Geräuſchs, das durch die Schritte 
unſerer Pferde verurſacht wurde, ſo vor, als ob ich vor 
uns Hufſchlag hörte. Ich hielt ſofort an und gebot dem 
Dicken und Apanatſchka, natürlich mit leiſer Stimme, 
ihre Pferde auch zu zügeln. Ja, ich hatte recht gehört: 
Es näherte ſich uns ein Reiter, doch kam er nicht gerade⸗ 


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— 120 — 


wegs auf uns zu. Da entſtand die Frage, ob wir ihn 
vorüberlaſſen ſollten oder nicht. Ich war aus nahe⸗ 
liegenden Gründen geneigt, anzunehmen, daß es ein 
Oſage ſei. Wenn ich mich da nicht täuſchte, ſo konnte 
er uns als Bote zwiſchen uns und feinen Kriegern nütz⸗ 
lich ſein, da dieſe doch erfahren mußten, daß wir ihren 
Häuptling ergriffen hatten, und ſo beſchloß ich, ihn 
gefangen zu nehmen. 

„Bleibt hier, und haltet mein Pferd und meine 
Gewehre,“ raunte ich den beiden zu, indem ich abſtieg 
und Apanatſchka meinen Schwarzen und Hammerdull die 
Gewehre gab. Dann eilte ich nach links hinüber, wo ich, 
wenn mich mein Gehör nicht täuſchte, auf den Nahenden 
treffen mußte. Er kam; ich duckte mich nieder, ließ ihn 
ſo weit vorüber, daß ich einen Anlauf nehmen konnte, 
holte aus und ſprang von hinten auf ſein Pferd. Ich 
hatte, als er an mir vorbeikam, geſehen, daß er ein 
Indianer war. Der ahnungsloſe Mann war, als er mich 
ſo plötzlich hinter ſich fühlte, in einer Weiſe überraſcht, 
daß er nicht die geringſte Bewegung zu feiner Verteidi⸗ 
gung machte. Ich nahm ihn ſo feſt bei der Kehle, daß 
er die Zügel fallen und die Arme ſinken ließ. Leider 
verhielt ſich ſein Pferd weniger duldſam als er. Es fühlte 
die plötzlich verdoppelte Laſt, ſtieg vorn empor und begann 
dann zu bocken und mit allen Vieren auszuſchlagen. Das 
war für mich keine Kleinigkeit. Ich ſaß hinter dem 
Sattel, hatte den Reiter feſtzuhalten und mußte verſuchen, 
die Zügel zu erwiſchen. Am Tage wäre das leichter 
geweſen, aber in der jetzt herrſchenden Dunkelheit konnte 
ich die Zügel nicht ſehen und war nur darauf angewieſen, 
mich zu bemühen, ja nicht abgeworfen zu werden. Da 
tauchte an meiner Seite eine Geſtalt auf, die nach dem 
Maul des Indianerpferdes griff. Ich machte meine rechte 


— 121 — 


Hand frei, langte nach dem Revolver in meinem Gürtel 
und fragte: | | 

„Wer iſt das? Soll ich Schießen?“ 

„Ich bin Apanatſchka,“ antwortete der Gefragte. 
„Old Shatterhand mag den Oſagen herabwerfen!“ 

Er hatte aus dem Stampfen der Hufe gehört, in 
welcher Lage ich mich befand, war von ſeinem Pferd 
geſprungen, hatte Hammerdull die Zügel des meinigen 
gegeben und ſich dann beeilt, mir zu Hilfe zu kommen. 
Es gelang ihm, den Zaum des Indianerpferdes zu 
erfaſſen und das Tier zum Stehen zu bringen. Ich ließ 
den Gefangenen herabfallen und ſprang nach, um ihn 
ſofort wieder zu packen, da ſeine Bewegungsloſigkeit nur 
eine Finte ſein konnte, mit der er mich täuſchen wollte. 
Er leiſtete aber auch jetzt keinen Widerſtand. Er war 
nicht etwa beſinnungslos; der Schreck ſchien ihm die 
Gewalt über ſich genommen zu haben. 

„Apanatſchka hat mich erkannt?“ fragte ich den 
Komantſchen. | 

„Als du mir dein Pferd zum Halten gabſt, glaubte 
ich, deinen Hatatitla zu ſehen,“ antwortete er. „Sodann 
bemerkte ich, daß dein Gefährte nicht ein, ſondern zwei 
Gewehre von dir empfing, und wenn ich dann noch im 
Zweifel war, ſo mußte ich, als ich dich hier hinter dem 
roten Krieger ſitzen ſah, endlich wiſſen, wer du biſt. So 
einen Sprung pflegt, noch dazu des Nachts, nur Winnetou 
oder Old Shatterhand zu wagen, obgleich dieſer weiße 
Jäger leider nicht mehr hören kann! Was ſoll mit dem 
Gefangenen, der jedenfalls ein Oſage iſt, geſchehen?“ 

„Ich ahne, daß er ein Kundſchafter iſt, den wir mit 
uns nehmen müſſen.“ 

Wir riefen Hammerdull herbei. Der Indianer bekam 
jetzt ſeine Beweglichkeit wieder; er verſuchte vergeblich, 


— 122 — 


Widerſtand zu leiſten, wurde auf ſein Pferd gebunden, 
und dann ſetzten wir den unterbrochenen Ritt fort. 

Man denke ja nicht, daß nun, wie es unter Weißen 
unvermeidlich geweſen wäre, zwiſchen mir und Apanatſchka 
viel Worte gemacht wurden. Wenn ſich zwei Freunde ſo 
lange nicht geſehen haben und unter Umſtänden, wie 
die heutigen, ſich ſo unerwartet treffen, ſollte man 
meinen, daß zunächſt die Herzen in ihr Recht zu treten 
hätten. Das war ja auch der Fall, aber ſie machten von 
dieſem Recht nicht durch überflüſſige Worte Gebrauch. 
Als wir uns wieder in Bewegung geſetzt hatten, lenkte 
der Naiini⸗Komantſche ſein Pferd dicht an das meinige 
heran, langte zu mir herüber, ergriff meine Hand und 
ſagte im Ton innigſter Freude: 

„Apanatſchka dankt dem großen, guten Manitou, 
daß er ihm erlaubt hat, den beſten unter allen weißen 
Kriegern wiederzuſehen. Old N hat mich vom 
ſichern Tod errettet!“ 

„Seit ich von meinem jungen Freund, dem tapfern 
Häuptling der Naiini, ſcheiden mußte, hat meine Seele 
ſich ſtets nach ihm geſehnt,“ antwortete ich. „Der große 
Geiſt liebt ſeine Kinder und erfüllt ihre Wünſche grad 
dann, wenn ſie es für unmöglich halten!“ 

Weiter wurde nichts geſprochen, doch ritten wir eng 
nebeneinander. Bald wich die Nacht dem grauenden 
Morgen, und ich konnte ſehen, daß ich auch auf dieſem 
Ritt die rechte Richtung nicht verfehlt hatte. Das war 
mir lieb, weil ich gern noch vor Winnetou am Ziel 
ankommen wollte. 

Das Kih⸗pe⸗ta⸗kih liegt im Weſten von Kanſas, der 
zur Kreideformation gehört. Dort und im Südweſten 
wird in neuerer Zeit. viel Salz gewonnen. Tritt an 
einer Stelle das Salz in größerer Menge auf und wird 


— 123 — 


vom Regen oder von irgend einem Quellwaſſer aus 
gelaugt, ſo können unterirdiſche Höhlungen entſtehen, 
deren Decke nachſtürzt, weil fie keinen feſten Halt beſitzt. 
Dieſe Einſtürze haben gewöhnlich tiefe, ſenkrechte Wände 
und ſehr ſcharfe Kanten; ſind die Wände dicht, ſo bildet 
ſich mit der Zeit ein See, der die ganze Vertiefung aus⸗ 
füllt; ſind ſie aber porös, ſo ſickert das Waſſer durch, 
und nur der tief gelegene Boden hält eine Feuchtigkeit 
feſt, die das Entſtehen und Gedeihen eines mehr oder 
minder kräftigen Pflanzenwuchſes begünſtigt. Hat dieſe 
Vegetation erſt aus ſalzbegehrenden Pflanzen beſtanden, 
fo ſiedeln ſich ſpäter in demſelben Grade ſalzfeindliche 
Pflanzen an, als der Salzgehalt des Bodens verſchwindet. 
Liegt eine ſolche Senkung in einer vollſtändig ebenen 
Gegend, ſo macht ſie von weitem einen eigenartigen Ein⸗ 
druck, weil nur die Wipfel der Bäume zu ſehen ſind, die 
unten im tief liegenden Grunde Wurzel geſchlagen haben. 

Eine ſolche Stelle war das Kih⸗pe⸗ta⸗kih, ein Schwarz⸗ 
fußname, der alte Frau‘ bedeutet. Der von der unfrucht⸗ 
baren Ebene ſcharf abgegrenzte, pflanzenreiche Ort zeigte 
nämlich in ſeinen Umriſſen die Formen einer am Boden 
hockenden Indianer⸗Squaw. 

Die Sonne ſtieg eben hinter uns am Horizont auf, 
als wir dieſe grüne Squaw vor uns erſcheinen ſahen. 
Wir erreichten die Stelle an der linken Hüfte der Figur, 
während Winnetou von rechts her zu erwarten war. Ich 
ließ aus Vorſicht halten und ging einmal um die ganze 
Frau herum. Es war keine Spur eines menſchlichen 
Weſens zu ſehen, und ſo führten wir unſere Pferde an 
einer wenig ſteilen Stelle auf den Grund hinab, wo 
wir den Gefangenen von ſeinem Tier nahmen und an 
einen Stamm feſtbanden. Der Rote war wirklich ein 
Oſage. Er hatte ſich mit den Kriegsſtreifen bemalt und 


— 124 — 


ließ auf keine der an ihn gerichteten Fragen eine Ant⸗ 
wort hören. 

Ich hätte nun Zeit gehabt, mit Apanatſchka über die 
Erlebniſſe zu ſprechen, die zwiſchen unſerer Trennung 
und dem jetzigen Wiederſehen lagen, zog es aber vor, 
lieber zu warten, bis er ſelbſt anfangen würde, davon 
zu ſprechen. Einem ſolchen Charakter gegenüber durfte 
ich keine Neugier verraten. Mein dicker Hammerdull 
war von weniger vornehmer Geſinnung. Er hatte ſich 
kaum niedergeſetzt, ſo wendete er ſich an ihn mit der 
Frage: | 

„Ich höre, daß mein roter Bruder ein Häuptling 
der Komantſchen iſt. Wie konnte es geſchehen, daß er in 
die Gefangenſchaft der Oſagen geriet?“ | 

Der Gefragte deutete, indem ein leiſes Lächeln über 
ſein Geſicht ging, mit der Hand nach ſeinen beiden Ohren. 

„Hat ein Kampf zwiſchen dir und ihnen ſtattgefun⸗ 
den?“ erkundigte ſich der zudringliche Dick weiter. 

Apanatſchka antwortete mit derſelben Gebärde. Da 
wendete ſich Hammerdull an mich: 

„Er ſcheint mir nicht antworten zu wollen; fragt 
Ihr ihn doch einmal, Mr. Shatterhand!“ 

„Das würde auch vergeblich ſein,“ erwiderte ich. 
„Ihr ſeht ja, er kann nicht hören.“ 

Da ging dem Dicken ein Licht auf. Er zog den 
Mund breit, ließ ein luſtiges Lachen hören und ſagte: 

„Well! So hat er wohl auch zwölf Frauen und 
zweimal zwanzig Söhne und Töchter wie Ihr?“ 

„Wahrſcheinlich!“ 

„Da will ich mich nur in acht nehmen, daß ich nicht 
auch noch taub werde, ſonſt hören wir alle drei nichts 
mehr! Es geht ſo ſchon ſtill genug hier zu. Habt Ihr 


85 
5 


— 125 — 


nichts für mich zu tun, Sir, damit mir die Zeit nicht 
gar ſo lang wird?“ | 

„Doch. Steigt hinauf, und ſchaut nach Winnetou 
aus! Ich möchte es gern De wiſſen, wenn er 
kommt.“ 

„Ob Ihr es wißt oder nicht, das iſt ganz gleich; 
aber ich werde es Euch ſagen.“ 

Er ging, und nun, als er ſich entfernt hatte, ſchien 
Apanatſchka wenigſtens eine Bemerkung für nötig zu 
halten, um kein für ihn ungünſtiges Urteil in mir auf⸗ 
kommen zu laſſen. Er ließ einen verächtlichen Blick über 
den Gefangenen ſtreifen und ſagte: 

„Die Söhne der Oſagen ſind keine Krieger; ſie fürch⸗ 
ten die Waffen tapferer Männer und fallen nur über 
wehrloſe Leute her.“ 

„Iſt mein Bruder wehrlos geweſen?“ fragte ich. 

„Ja. Ich hatte nur ein Meſſer bei mir, weil mir 
jede weitere Waffe verboten war.“ 

„Ah! Mein Bruder war unterwegs, um ſich den 
heiligen Narak⸗eckſa) zu holen?“ 

„So iſt es, Apanatſchka wurde von dem Rat der 
Alten auserſehen, nach Norden zu reiten, um die heiligen 
Steinbrüche aufzuſuchen. Mein Bruder Shatterhand 
weiß, daß, ſo lange es rote Männer gibt, kein Krieger, 
der bon feinem Stamme nach dem Narak⸗eckſa ausge⸗ 
ſchickt wird, eine andere Waffe als nur das Meſſer 
führen darf. Er hat keinen Pfeil und keinen Bogen, 
kein Gewehr und keinen Tomahawk nötig, weil er kein 
Fleiſch, ſondern nur Pflanzen eſſen darf und ſich gegen 
keinen Feind zu verteidigen braucht; denn es iſt ver⸗ 
boten, einen Mann, der nach den heiligen Steinbrüchen 
reitet, unfriedlich zu behandeln. Apanatſchka hat noch 


1) Roter Pfeiſenton. 


= — 126 — 


nie von einem Fall gehört, daß dieſes Geſetz, das bei 
allen Stämmen Geltung hat, übertreten worden iſt. 
Die Hunde der Oſagen aber haben die Schande auf ſich 
geladen, mich zu überfallen, gefangen zu nehmen und 
zu feſſeln, obgleich ich nur das Meſſer hatte und ihnen 
durch das Wampum des Kalumets bewies, daß ich mich 
auf dem Weg der großen Medizin befand.“ 

„Du haſt ihnen das Wampum vorgezeigt?“ 

„Ja. Sie haben es mir abgenommen und ins 
Feuer geworfen, von dem es verzehrt worden iſt!“ 

„Unglaublich! So etwas iſt allerdings noch nie⸗ 
mals vorgekommen! Sie mußten dich, ſelbſt wenn du 
ihr ärgſter Feind geweſen wärſt, als Gaſt behandeln!“ 

„Uff! Ich ſollte ſogar getötet werden!“ 

„Haſt du dich gewehrt, als ſie dich ergriffen?“ 

„Durfte ich das? Hätte ich mich gewehrt, ſo wäre 
das Blut vieler von ihnen gefloſſen; da ich mich aber 
auf mein Wampum und die uralten Geſetze verließ, die 
noch niemand zu übertreten wagte, bin ich ihnen willig 
wie ein Kind in ihr Lager gefolgt. Von nun an darf 
jedem Oſagen, der einem ehrlichen Krieger begegnet, ins 
Geſicht geſpieen werden und — — —' 

Er wurde unterbrochen, denn Dick Hammerdull kam 
und meldete, daß Winnetou zu ſehen ſei. Ich wollte 
den Apatſchen mit dem Naiini⸗Komantſchen überraſchen, 
bat alſo Apanatſchka, hier bei dem Gefangenen zu bleiben, 
und ging mit Dick Hammerdull nach der andern Seite 
des Kih⸗pe⸗ta⸗kih, wo die Angemeldeten erſcheinen mußten. 
Ich hatte erwartet, fünf Perſonen zu ſehen, nämlich 
Winnetou, Treskow, Holbers, Old Wabble und Matto 
Schahko, bemerkte aber zu meiner Verwunderung, daß 
ſich noch ein Indianer bei ihnen befand. Als ſie 
näher gekommen waren, ſah ich, daß dieſer auch auf das 


— 127 — 


Pferd gebunden war. Winnetou hatte alſo noch einen 
Gefangenen gemacht; die Kriegsfarben in ſeinem Geſicht 
zeigten, daß er ebenfalls ein Oſage war. 

Ich trat, damit der Apatſche nicht erſt Erkun⸗ 
dungen machte, ſoweit vor das Geſträuch, daß er mich 
erkennen mußte. Er lenkte alſo gerade auf mich zu, hielt 
bei uns an und fragte: 

„Befindet ſich mein Bruder ſchon vor mir hier, weil 
ihm etwas Böſes begegnet iſt?“ 

„Nein, ſondern weil alles ſchneller und beſſer ging, 
als ich denken konnte.“ 

„So geleite er uns zu ſeinen Pferden! Ich habe 
ihm ſehr Wichtiges zu berichten.“ 

Matto Schahko hatte dieſe Worte gehört; ich fing 
einen triumphierenden Blick auf, den er auf mich warf, 
und bemerkte infolgedeſſen: 

„Die Pferde befinden ſich auf der andern Seite; wir 
werden aber gleich hier unten lagern.“ 

Der ſcharfſinnige Winnetou ahnte ſofort, daß es ſich 
um eine Heimlichkeit handle; er warf einen kurzen Blick 
in mein Geſicht und ließ ein befriedigtes Lächeln um 
ſeine Lippen ſpielen. Der Häuptling der Oſagen aber 
machte mir in barſchem Tone die Bemerkung: 

„Old Shatterhand wird erfahren, was geſchehen iſt, 
und mich in kurzer Zeit freilaſſen müſſen!“ 

Ich antwortete nicht und ſtieg in die Vertiefung 
hinab. Die andern folgten mir, indem Hammerdull und 
Holbers die Pferde der beiden Indianer führten. Dabei 
hörte ich, daß der Dicke zu ſeinem langen Buſenfreund 
ſagte: | | 

„Alſo bei euch iſt etwas Wichtiges paſſiert, Pitt 
Holbers, altes Coon?“ 


„Wenn du denkſt, daß es wichtig iſt, fo haft du es 
erraten,“ lautete die Antwort. 

„Ob erraten oder nicht, das bleibt ſich gleich. So 
wichtig iſt es aber jedenfalls nicht wie das, was — —“ 

„Laßt das Plaudern!“ unterbrach ich ihn. „Ehe 
die Reihe, zu reden, an Euch it, find vorher ſchon noch 
andere da!“ 

Er merkte, daß er im Begriff geſtanden hatte, einen 
Fehler zu begehen, und fuhr ſich mit dem Handrücken 
über den Mund. Auf dem Grunde des Einſturzes ange⸗ 
kommen, banden wir die Gefangenen von den Pferden, 
legten ſie auf den Boden und ſetzten uns zu ihnen nieder. 
Winnetou, der nicht wiſſen konnte, womit ich hinter dem 
Berge hielt, warf mir heimlich einen fragenden Blick zu, 
worauf ich die Aufforderung an ihn richtete: 

„Mein Bruder laſſe mich das Wichtige wiſſen, was 
er mir mitzuteilen hat!“ 

„Soll ich mit offnem Munde ſprechen?“ 

Er meinte damit, ob er ohne alle Rückſicht auf das, 
was ich noch zu verſchweigen hatte, reden könne. 

„Ja,“ nickte ich. „Hoffentlich iſt nichts Unan⸗ 
genehmes geſchehen!“ | 

Was ic) erwartet hatte, geſchah: Old Wabble fiel 
ſchnell und in höhniſchem Ton ein: 

„Höchſt unangenehm für Euch! Wenn Ihr glaubt, 
uns noch immer feſt und ſicher in den Händen zu haben, 
fo irrt Ihr Euch! Laßt Euch nur von Winnetou Jagen, 
wie die Sachen ſtehen.“ 

Der Apatſche überwand ſeinen Stolz und ſagte in 
wegwerfendem Ton: 

„Der alte Cowboy hat ein Gift auf ſeiner Zunge; 
ich will ihn nicht hindern, es über uns auszuſpritzen.“ 

„Ja, es iſt ein Gift, woran ihr alle zu Grunde 


— 123 — 
gehen werdet, wenn ihr uns nicht ſofort die Freiheit 


gebt; it's clear!“ f 


„Unnütze Redensart, uns bange zu machen!“ lachte ich. 

„Lacht immerhin! Das Lachen wird Euch gleich ver⸗ 
gehen, wenn Ihr hört, was während Eurer glorreichen 
Abweſenheit geſchehen iſt.“ Er deutete auf den neu⸗ 
gefangenen Roten und fuhr fort: „Den Kriegern der 
Oſagen dauerte die Rückkehr ihres Häuptlings zu lange; 
darum ſandten ſie dieſen Mann zu ihm, um den Grund 
ſeines langen Bleibens zu erfahren. Er kam nach dem 
Wäldchen, wo ihr uns überfallen habt; wir waren fort; 
er folgte aber unſerer Spur und entdeckte unſern geſtrigen 
Lagerplatz. Merkt Ihr noch nichts?“ | 

„Ich merke nur, daß er dabei ergriffen wurde.“ 

„Schön! Aber etwas wißt Ihr nicht, nämlich daß 
er nicht allein geweſen iſt. Es war ein zweiter Oſage 
bei ihm, der klüger und vorſichtiger war als er. Dieſer 
entkam und iſt nun zurückgeeilt, um einige hundert 
Verfolger zu holen, die Euch ſicher jetzt ſchon auf den 
Ferſen ſind. Ich rate Euch, uns augenblicklich frei⸗ 
zulaſſen; das iſt das beſte, was Ihr tun könnt; denn 
wenn dieſe Menge von Oſagen kommt und uns noch in 
euern Händen findet, ſo werden ſie keine Schonung üben, 
ſondern euch auslöſchen, wie der Sturm ſchwache Zünd⸗ 
hölzer auszublaſen pflegt!“ 
| „Angenommen, daß alles ganz genau fo ift, wie Ihr 
ſagt, ſo befindet Ihr Euch dennoch in unſerer Gewalt, 
und Eure Oſagen ſind nicht da. Was hindert nun uns, 
euch auszulöſchen, ſo wie der Wind Zündhölzer ausbläſt?“ 

„Das tut Ihr nicht, denn Ihr ſeid dazu ein viel 
zu guter und viel zu liebevoller Chriſt und ſagt Euch 
ganz gewiß, daß die Oſagen unſern Tod blutig rächen 
würden.“ | 

May, Old Surehand. II. 9 


==. 180 = 


„So? Hm. Nun will ich Euch und Matto Schahko 
mal eine kleine Ueberraſchung bereiten.“ 

Ich flüſterte Dick Hammerdull einige Worte in das 
Ohr. Er nickte lachend, ſtand auf und entfernte ſich. 
Alle, ſelbſt Winnetou, obgleich ſich dieſer gar nichts 
merken ließ, waren geſpannt darauf, wen der Dicke 
bringen würde. Als er nach kurzer Zeit zurückkehrte, 
führte er unſern gefangenen Oſagen am Arm. | 

„Uff!“ rief Matto Schahko erſchrocken. 

„All devils!“ ſchrie Old Wabble. „Das iſt ja 
der — —“ 

Er hielt es für geraten, mitten im Satz abzubrechen. 
Ich winkte Hammerdull, den Roten wieder fortzuführen, 
weil dieſer durch ein Wort die Anweſenheit Apanatſch⸗ 
kas verraten konnte, und fragte den alten Cowboy: 

„Das war der Rote, der die Hunderte von Oſagen 
bringen ſollte. Meint Ihr jetzt noch, daß ls fommen 
werden?” 

„Der Teufel hole Euch!“ ziſchte er mich an. 

„Uff!“ fiel Matto Schahko ein. „Old Wabble hat 

ja den Naiini ganz vergeſſen!“ 
NM ein!“ entgegnete dieſer und fügte, zu mir ge⸗ 
wendet, hinzu: „Ich habe nämlich noch eine Karte, die 
Ihr gewiß nicht übertrumpfen könnt, für ſo klug und 
weiſe Ihr Euch immer halten mögt!“ 

„Die möchte ich kennen lernen!“ 

„Werde Euch behilflich ſein! Ihr erinnert Euch ſicher 
noch mit großem Vergnügen an den Llano, wo Ihr die 
Ehre hattet, von — — —' 

„Von Euch beſtohlen zu werden,“ fiel ich ihm in 
die Rede. 

„Auch richtig, doch wollte ich etwas anderes ſagen,“ 


— 131 — 


lachte er. „Es gab dort einen jungen Naiini⸗ Häuptling. 
Wie hieß er doch auch gleich?“ 

„Apanatſchka,“ antwortete ich, mich ahnungslos 
ſtellend. 

„Ves, Apanatſchka! Ihr hattet ihn ſehr lieb, nicht?“ 

„Ja.“ | 

Er ſprach in überlegenem Ton, weil er glaubte, 
ſeiner Sache ganz ſicher zu ſein, und ich ging auf dieſen 
Ton ein, weil ich bemerkte, daß Apanatſchka mir in der 
Rolle, die ich ihm zugedacht hatte, entgegenkam. Hammer⸗ 
dull war, als er den Oſagen fortgeführt hatte, nicht 
wiedergekommen; ich ſah an ſeiner Stelle den Naiini⸗ 
Häuptling im Gebüſch ſtehen. Er mochte vermutet haben, 
daß ich nun auch mit ſeiner Perſon eine Ueberraſchung 
beabſichtigte, und hatte ſich herbeigeſchlichen, ohne abzu⸗ 
warten, bis ich ihn holen ließ. Ein Blick in Winnetous 
Geſicht verriet mir, daß die ſcharfen Augen des Apatſchen 
ihn auch ſchon entdeckt hatten. 

„Alſo wirklich?“ ſpottete Old Wabble. „Ihr wollt 
wahrſcheinlich damit ſagen, daß Ihr ihn noch heut wie 
damals als Euern Freund und Bruder betrachtet?“ 

„Ganz gewiß! Ich würde ihn in keiner Gefahr 
ſtecken laſſen, und wenn ich mein Leben wagen ſollte.“ 

„Schön! Ich kann Euch nun zufälligerweiſe ſagen, 
daß er ſich in der größten Gefahr befindet, die es für 
ihn geben kann: er iſt Gefangener der Oſagen.“ 

„Das glaube ich nicht.“ | 

Old Wabble hatte mich erwartungsvoll angeſehen; 
als aber meine Antwort ſo ſchnell und in ſo gleich⸗ 
gültigem Ton erfolgte, verſicherte er eifrig: 

„Ihr denkt wahrſcheinlich, ich mache Euch etwas vor? 
Fragt den Oſagen hier, den Winnetou geſtern abend 
gefangen nahm! Er hat uns die Botſchaft gebracht, über 


— 132 — 


die wir uns grad ſo ſehr gefreut haben, wie ſie Euch 
ungelegen kommen muß.“ 

„Alſo iſt die Gefangennahme Apanatſchkas wohl die 
Karte, die ich nicht übertrumpfen kann? Ihr ſeid der 
Anſicht, daß wir Euch gegen ihn auslöſen werden?“ 

„Seht, wie klug Ihr werdet, wenn man Euch mit 
der Naſe an die richtige Stelle ſtößt! Ihr habt es aller⸗ 
dings erraten.“ 5 

„So tut es mir um Euretwillen leid, daß es eine 
Stelle gibt, an die ich nun Eure Naſe ſtoßen muß.“ 

„Was für eine denn?“ 

„Der Buſch, da rechts von Euch. Seid Io gut, Eure 
Naſe einmal dorthin zu richten!“ 

Er wendete den Kopf nach der 8 Seite. 
Apanatſchka hatte jedes unſerer Worte gehört und ver⸗ 
ſtanden; er ſchob das Gezweig mit den Armen zur Seite 
und trat zu uns heraus. 

„Nun?“ fragte ich. „Wer hat den größten Trumpf?“ 

Keiner antwortete. Da ertönte die Stimme eines, 
der nur dann zu ſprechen pflegte, wenn ſein Buſenfreund 
Dick Hammerdull ihn fragte, nämlich die Stimme des 
langen Pitt Holbers: 

„Heigh-day, iſt das ein Gaudium! Niemand wird 
ein⸗ und ausgelöſt; Old Wabble hat verſpielt!“ 

Der, deſſen Name da genannt wurde, knirſchte mit 
den Zähnen, daß wir es alle hörten, ſtieß einen gräß⸗ 
lichen Fluch aus und ſchrie mit vor Wut überſchnap⸗ 
pender Stimme zu mir herüber: 

„Hund, tauſendmal verfluchter, Ihr ſteht mit der 
Hölle und allen ihren Teufeln im Bunde! Ihr müßt 
Leben und Seele verfchrieben haben, ſonſt könnte Euch 
nicht alles ſo nach Wunſch gelingen! Ich ſpeie vor Euch 


— 133 — 


aus! Ich haſſe Euch mit einem Haß, wie ihn noch nie 
ein Menſch empfunden hat, Euch, bört Ihr, Euch, ver⸗ 
dammter Dutchman, Euch!“ 

„Und ich bedauere Euch aus vollſtem, tiefſtem Her⸗ 
zen,“ antwortete ich ruhig. „Ich habe viele, viele beklagens⸗ 
werte Menſchen kennen gelernt, der beklagenswerteſte von 
allen dieſen, der ſeid Ihr! Möge Gott dereinſt nur 
einen kleinen, kleinen Teil des Mitleids, des Erbarmens 
für Euch haben, das ich jetzt für Euch hege! Das iſt 
die Antwort, die ich auf Euren Fluch erteile, weil ein 
Fluch aus Eurem Mund für jeden, gegen den Ihr ihn 
richtet, zum Segen werden muß! Ihr ſeid ein ſo arm⸗ 
ſeliges Menſchenkind, daß jedes Auge ſchmerzt, das 
gezwungen iſt, Euch anzuſehen. Macht Euch aus dem 
Staub!“ 

Ich ging zu ihm hin, zerſchnitt ſeine Feſſeln und 
wendete mich ab. Wenn ich geglaubt hatte, daß er nun 
ſchnell aufſpringen und davonlaufen werde, ſo hatte ich 
mich geirrt. Ich hörte nämlich, daß er ſich langſam und 
gemächlich erhob; dann fühlte ich ſeine Hand auf meiner 
Schulter, und er ſagte im Tone hellen Spottes: 

„Alſo das Auge tut Euch wehe, wenn Ihr mich 
anſehen müßt? Darum gebt Ihr mich frei? Bildet 
Euch nur ja nicht ein, moraliſch ſo unendlich hoch über 
mir zu ſtehen! Wenn jener Gott wirklich lebt, an den ſo 
feſt zu glauben Ihr Euch rühmt, ſo ſtehe ich in ſeinen 
Augen ebenſo hoch wie Ihr, ſonſt wäre er ein noch 
ſchlechterer Kerl als ſo einer, für den Ihr mich haltet! 
Er hat mich und Euch geſchaffen und in die Welt geſetzt, 
und wenn ich anders geraten bin als Ihr, ſo bin nicht 
ich, ſondern er iſt ſchuld daran. An ihn habt Ihr Euch 
alſo mit Eurer Entrüſtung zu wenden, nicht an mich, 
und wenn es in Wirklichkeit ein ewiges Leben und ein 


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jüngſtes Gericht gäbe, über das ich aber lache, ſo hat, 
weil er mich mit meinen ſogenannten Fehlern und Sün⸗ 
den ausſtattete, nicht er über mich, ſondern ich habe 
über ihn den Stab zu brechen. Ihr werdet alſo wohl 
endlich einſehen, was für kindiſche, belachenswerte 
Dummheiten Eure Frömmigkeit und Gottesfurcht ſind! 
Ihr glaubt freilich, aus Güte zu handeln; im Grunde 
genommen aber treibt Euch nichts als die Erkenntnis, 
die auch ich hege, nämlich daß kein Menſch gut und 
keiner böſe iſt, weil Gott, der Erfinder der Erbſünde, 
allein ſchuld daran wäre. Lebt alſo wohl, Ihr Mann 
der Liebe und der Barmherzigkeit! Ich bin trotz Eurer 
Albernheit heut wieder einmal ſehr zufrieden mit Euch. 
Aber denkt deshalb ja nicht, daß ich, falls wir uns wieder⸗ 
ſehen, anders als durch eine Kugel zu Euch reden werde! 
Wir haben hier auf der Savanne nicht nebeneinander 
Platz; einer muß fort, und da Ihr ſo große Scheu und 
Angſt vor Menſchenblut habt, ſo werde ich Euch bei 
unſerm nächſten Wiedersehen die Adern öffnen. Den 
andern gilt dasſelbe Wort. Meſch'ſchurs, lebt wohl für 
die nächſten Tage! Ihr werdet bald von mir zu hören 
bekommen!“ 

Es waren den Gefangenen natürlich ihre Waffen 
abgenommen worden. Die Flinte Old Wabbles hing am 
Sattel ſeines Pferdes, und ſein Meſſer hatte ſich Dick 
Hammerdull in den Gürtel geſteckt. Der alte Cowboy 
trat zu dem Dicken und ſtreckte die Hand aus, um ſein 
Meſſer zu nehmen; dieſer aber bog ſich ab und fragte: 

„Was wollt Ihr da? In meinem Gürtel a Ihr 
nichts zu ſuchen!“ 

„Ich will mein Meſſer haben!“ erklärte Old Wabble 
trotzig. „Oder habe ich es mit Dieben zu tun?“ 

„Nehmt Euer loſes Maul in acht, ſonſt ſpringe ich 


— 185 — 


Euch ins Geſicht, alter Gauner! Ihr kennt die Geſetze 
der Prärie und wißt alſo, wem die Waffen eines 
Gefangenen gehören!“ 

„Ich bin jetzt nicht mehr Gefangener, ſondern frei!“ 

„Ob frei oder nicht, das geht mich gar nichts an. 
Wenn Old Shatterhand Euch die Freiheit wiedergegeben 
hat, ſo iſt damit noch nicht geſagt, daß Ihr auch Eure 
Waffen wiederbekommen müßt.“ 

„Behaltet ſie, und ſeid verdammt, dicker Mops! Ich 
werde bei den Oſagen ein anderes Meſſer bekommen!“ 

Er ging zu ſeinem Pferde, nahm das Gewehr vom 
Sattel, hängte es ſich über und wollte aufſteigen. Da 
ſtand Winnetou auf, ſtreckte die Hand gegen ihn aus 
und befahl: 

„Halt! Das Gewehr wieder hin!“ 

Es lag in der Haltung und dem Geſicht des Apat⸗ 
ſchen etwas jo Unwiderſtehliches, daß Old Wabble, 
ſeinem ſonſtigen Weſen ganz entgegen, gehorchte. Er 
hängte die Rifle wieder an den Sattel, drehte ſich dann 
aber zu mir um und wandte ein: 

„Was ſoll das heißen? Pferd und Gewehr gehören 
doch mir!“ 

„Nein,“ enigegnete Winnetou. „Indem mein Bruder 
Shatterhand dir die Freiheit wiedergab, hat er dir nur 
den Ekel zeigen wollen, den jeder Menſch vor dir 
empfinden muß. Wir ſtimmen ihm alle bei, denn es 
graut uns, dich mit der Hand, dem Meſſer oder einer 
Kugel zu berühren. Wir überlaſſen dich nicht unſerer 
Rache, ſondern der Gerechtigkeit des großen Manitou. 
Du würdeſt auch dein Pferd und deine Waffen erhalten, 
aber da du gedroht haſt, uns zur Ader laſſen zu wollen, 
ſo bekommſt du nichts als nur die Freiheit wieder. Du 
wirſt jetzt augenblicklich gehen; biſt du aber nach zehn 


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Minuten noch hier in der Nähe zu ſehen, ſo wird dir ein 
Riemen um den Hals und dann um den Aſt eines 
dieſer Bäume gelegt. Ich habe geſprochen. Howghl! 
Nun augenblicklich fort!“ 

Old Wabble lachte laut auf, verbeugte ſich tief und 
antwortete: | 

„Ganz wie ein König geſprochen; nur ſchade, daß 
es in meinen Ohren wie n klingt! Ich gehe; 
aber wir ſehen uns wieder!“ 

Er drehte ſich um, ſtieg den an dieſer Stelle ein- 
gefallenen Rand der Senkung hinauf und verſchwand. 
Als ich ihm der Vorſicht wegen in kurzer Zeit hinauf⸗ 
folgte, ſah ich ihn in ſeiner ſchlotternden, wabbelnden 
Weiſe langſam über die Ebene ſchreiten. Ich hatte dieſen 
Mann früher nicht nur wegen ſeines hohen Alters 
geachtet, ſondern ihn dem Ruf gemäß, in dem er damals 
ſtand, auch für einen ſehr tüchtigen Weſtmann gehalten; 
jetzt aber war meine Anſicht über ihn in beiden Bezie⸗ 
hungen ganz anders geworden. Er wäre, ſelbſt wenn man 
ihn für einen beſſern Menſchen hätte halten müſſen, als 
„man of the west“ doch für uns unbrauchbar geweſen. 
Daß ich ihn auch diesmal wieder ſtraflos hatte gehen 
laſſen, war weniger die Folge einer Ueberlegung, als 
vielmehr einer augenblicklichen Regung oder Empfin⸗ 
dung, eines Ekels geweſen, der es mir unmöglich gemacht 
hatte, noch ein Wort an ihn zu richten. 

Winnetou hatte ſich mit meinem Verhalten einver⸗ 
ſtanden erklärt. Hammerdull und Holbers waren es nicht, 
das wußte ich; fie wagten nur nicht, mir Vorwürfe dar⸗ 
über zu machen. Treskow aber, deſſen juriſtiſches oder 
polizeiliches Fühlen durch meine wiederholte Milde 
beleidigt worden war, ſagte, als ich wieder zu ihnen 
hinabgeſtiegen war, zu mir: 


— 137 — 


„Nehmt es mir nicht übel, Mr. Shatterhand, daß 
ich Euch tadeln muß! Vom chriſtlichen Standpunkt 
aus will ich gar nicht ſprechen, obgleich Ihr auch 
da nicht richtig gehandelt habt, denn auch das Chriſten⸗ 
tum lehrt, daß jeder böſen Tat die Strafe zu folgen 
habe; aber verſetzt Euch doch einmal an die Stelle eines 
Kriminaliſten, eines Vertreters der weltlichen Gerechtig⸗ 
keit! Was würde ein ſolcher ſagen, daß Ihr einen 
Halunken von der Verdorbenheit und Unverbeſſerlichkeit 
dieſes Fred Cutter immer und immer wieder entkommen 
laßt? Dieſer Menſch hat in ſeinem Leben ſchon mehr 
als hundertmal den Tod verdient, ſelbſt dann, wenn 
nur ſeine Taten als „Indianertöter“ in Betracht gezogen 
werden. Und wenn Ihr ſagt, daß uns dies nichts 
angehe, ſo iſt doch erwieſen, daß er Euch und uns wie⸗ 
derholt nach dem Leben getrachtet und uns auch jetzt 
wieder mit dem Tod bedroht hat. Was ſoll nun ein 
Juriſt dazu ſagen, daß Ihr Euch förmlich Mühe gebt, 
ihn der verdienten Strafe zu entziehen? Es iſt mir 
unmöglich, mich in die Gründe Eures Verhaltens hinein⸗ 
zudenken.“ 

„Bin ich Juriſt, Mr. Treskow?“ antwortete ich. 

„Ich glaube nicht.“ 

„Oder gar Kriminaliſt?“ 

„Wahrſcheinlich nicht.“ 

„Alſo! Es iſt trotzdem gar nicht meine Abſicht, ihn 
der wohlverdienten Strafe zu entziehen, nur will ich 
weder der Richter noch gar der Henker ſein. Ich bin 
feſt überzeugt, daß ſchon längſt der verhängnisvolle, weiße 
Stab über ſeinem Haupte ſchwebt, um von einer ganz 
anderen, mächtigeren und höheren Hand gebrochen zu 
werden. Es hält mich ein Etwas in mir, dem ich nicht 
widerſtehen kann, davon ab, dem gerechten Walten Gottes 


* 


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vorzugreifen, und wenn Ihr mein Verhalten nicht ver⸗ 
ſtehen könnt, ſo werdet Ihr doch wenigſtens nicht 
beſtreiten, daß es im Innern, in der Seele, im Herzen 
des Menſchen Geſetze gibt, die unübertretbarer, unerbitt⸗ 
licher und mächtiger als alle Eure geſchriebenen Para» 
graphen find.“ 

„Mag fein! Ich bin in dieſer Beziehung nun ein⸗ 
mal nicht ſo zartfühlend wie Ihr. Nur muß ich Euch 
auf die Folgerungen aufmerkſam machen, die aus Eurem 
Gehorſam gegen dieſe geheimnisvollen und mir unver⸗ 
ſtändlichen innerlichen Geſetze hervorgehen!“ 

„Wieſo hervorgehen? Nennt einen ſolchen Fall!“ 

„Ihr habt Old Wabble begnadigt. Was tun wir nun 
mit dem Häuptling der Oſagen, ſeinem Mitſchuldigen? 
Soll der etwa auch ohne alle Strafe freigelaſſen werden?“ 

„Wenn es auf mich ankommt, ja.“ 

„Dann hole der Kuckuck alle eure ſogenannten Geſetze 
der Savanne, die ihr nicht gelten laßt, obgleich ihr ihnen 
eine ſo beiſpielloſe Strenge nachrühmt!“ 

„Ich bin erſt in fünfter, ſechſter Stelle Weſtmann, 
zunächſt aber Chriſt. Die Oſagen ſind von den Weißen 
betrogen worden; ſie haben ſich durch den geplanten Ueber⸗ 
fall ſchadlos halten wollen; ſie ſind nach ihren Anſchau⸗ 
ungen vollſtändig berechtigt dazu. Sollen wir Matto 
Schahko nun für die bloße Abſicht beſtrafen, die noch gar 
nicht ausgeführt worden iſt?“ 

„Ihr werdet wiſſen, daß ſchon der Verſuch eines 
Verbrechens ſtrafbar iſt!“ 

„Hm, der Juriſt, wie er im Buch ſteht!“ 

„Dazu bin ich berechtigt und verpflichtet, und ich bitte 
Euch, Euch auf denſelben Standpunkt mit mir zu ſtellen!“ 

„Schön, das will ich tun! Alſo angenommen, daß 
ſchon der Verſuch eines Verbrechens ſtrafbar ſei, iſt die 


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Abſicht des Häuptlings der Oſagen, die Farmen zu über⸗ 
fallen und uns zu töten, ſchon in das Stadium des Ver⸗ 
ſuchs getreten!“ 

Er zögerte mit der Antwort und brummte dann: 

„Abſicht — — Abſicht — — Verſuch — — — 
vielleicht wenigſtens der ſogenannte entfernte Verſuch — 
— — hm, auch dieſer nicht! Laßt mich doch mit ſolchen 
Haarſpaltereien in Ruhe, Mr. Shatterhand!“ 

„Ah, Euer Standpunkt beginnt, zu wackeln! Sagt 
klar und beſtimmt heraus: sit die bloße Abſicht 
ſtrafbar?“ 

„Moraliſch, ja, aber gerichtlich nicht.“ 

„Well! Iſt alſo Matto Schahko zu beſtrafen?“ 

Er wand ſich hin und her und rief zornig aus: 

„Ihr ſeid der ſchlimmſte Advokat, mit dem es ein 
Richter zu tun haben kann! Ich mag von der Sache 
gar nichts mehr wiſſen!“ 

„Nur langſam, langſam, Mr. Treskow! Ich bin 
ſtrenger, als Ihr glaubt. Wenn wir auch die Abſicht 
nicht beſtrafen können, ſo bin ich doch dafür, daß wir 
Vorſichtsmaßregeln ergreifen, die der Strafe geſchwiſter⸗ 
lich ähnlich ſind.“ | 

„Das läßt ſich freilich hören! Was ſchlagt Ihr 
vor?“ 

„Jetzt noch nichts. Ich bin nicht der einzige, der 
da zu ſprechen hat.“ | 

„Sehr richtig!“ ſtimmte da Dick Hammerdull ſchnell 
bei. „Irgend eine Belohnung muß der Rote bekommen; 
meinſt du nicht auch, Pitt Holbers, altes Coon?“ 

„Hm, wenn du denkſt, daß er einen tüchtigen Klapps 
verdient hat, ſo ſollſt du recht haben, lieber Dick,“ ant⸗ 
wortete der Lange. 

„So laßt uns beraten, was wir mit ihm tun!“ 


— 140 — 


ſchlug Treskow vor, indem er, ſeine ſtrengſte Miene 
zeigend, ſich niederſetzte. 

Feſſelnd war das Spiel der Geſichtszüge, mit dem 
Matto Schahko unſern Meinungsaustauſch verfolgte. Es 


war ihm kein Wort entgangen, und ſo wußte er, in 


welcher Weiſe ich mich ſeiner angenommen hatte. Sein 
erſt ſo finſter blickendes Auge ruhte jetzt mit einem 
ganz andern, faſt freundlichen Ausdruck auf mir; es war 
klar, er empfand Dankbarkeit gegen mich. Mir konnte 
das freilich gleich ſein, denn nicht perſönliche Gefühle 
hatten mich geleitet, als ich ſeinetwegen mit Treskow in 
Meinungsverſchiedenheiten geraten war. Als dieſer uns 
jetzt in ſo ernſtem Ton zur Beratung aufforderte, brach 
der Häuptling der Oſagen ſein Schweigen, indem er ſich 
an mich wandte: 

„Wird, nachdem die Bleichgeſichter geſprochen haben, 
Old Shatterhand vielleicht bereit ſein, auch mich zu 
hören?“ g 

„Sprich!“ forderte ich ihn auf. 

„Ich habe Worte vernommen, die ich nicht ver⸗ 
ſtehen kann, weil ſie mir fremd ſind; um ſo deutlicher 
aber hörte ich, daß Old Shatterhand für mich geweſen 
iſt, während das andere Bleichgeſicht gegen mich war. 
Da Winnetou, der Häuptling der Apatſchen, zu dem 
Streit geſchwiegen hat, denke ich, daß er ſeinem Freunde 
und Bruder recht gibt. Beide ſind zwar die Feinde der 
Waſaji, aber alle roten und weißen Männer wiſſen, wie 
gerecht dieſe beiden berühmten Krieger denken und wie 
gerecht ſie handeln, und ſo fordere ich ſie auf, auch heut 
gerecht zu ſein!“ 

Weil er jetzt eine Pauſe eintreten ließ und mich 
anſah, als ob er eine Antwort von mir erwarte, erklärte 


ich ihm: 


2 


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„Der Häuptling der Oſagen täuſcht ſich nicht in 
uns; er hat keine Ungerechtigkeit von uns zu erwarten. 
Ich mache ihn vor allen Dingen darauf aufmerkſam, 
daß wir nicht Feinde der Oſagen ſind. Wir wünſchen, 
mit allen roten und allen weißen Menſchen in Frieden 
zu leben; wenn uns aber jemand in den Weg tritt, uns 
wohl gar nach dem Leben trachtet, ſollen wir uns da 
nicht wehren? Und wenn wir dies tun und ihn beſiegen, 
hat dieſer Mann dann das Recht, zu behaupten, daß wir 
ſeine Feinde ſeien?“ 

„Mit dieſem Mann hat Old Shatterhand wahrſchein⸗ 
lich mich gemeint. Wer aber iſt es, der mit Recht von ſich 
ſagen kann, er ſei angegriffen worden? Matto Schahko, 
der Häuptling der Waſaji, möchte fragen, wozu die 
Bleichgeſichter Richter und Gerichte haben?“ 

„Kurz geſagt, um Recht zu ſprechen, um Gerechtig⸗ 
keit zu üben.“ 

„Wird dieſes Recht geſprochen, dieſe Gerechtigkeit 
geübt?“ 

„Ja. 5 

„Glaubt Old Shatterhand, was er da ſagt?“ 

„Ja. Zwar ſind die Richter auch nur Menſchen, 
die ſich irren können, und deshalb — — 

„Uff, uff!“ fiel er mir ſchnell in 1 0 Rede — — 
„darum irren ſich dieſe Richter ſtets dann, wenn es ſich 
darum handelt, gegen die roten Männer gerecht zu ſein! 
Old Shatterhand und Winnetou haben an tauſend Lager⸗ 
feuern geſeſſen und zehnmal tauſendmal die Klagen 
gehört, die der rote Mann gegen den weißen zu erheben 
hat; ich will weder eine einzige dieſer Klagen wieder⸗ 
holen, noch ihnen eine neue hinzufügen; aber ich bin der 
Häuptling meines Stammes und darf alſo davon ſprechen, 
was das Volk der Waſaji gelitten und auch jetzt wieder 


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von neuem erfahren hat. Wie oft ſchon ſind wir von 
den Bleichgeſichtern betrogen worden, ohne einen Richter 
zu finden, der ſich unſers guten Rechts erbarmte! Vor 
jetzt kaum einem Mond iſt wieder ein großer Betrug an 
uns begangen worden, und als wir Gerechtigkeit ver⸗ 
langten, wurden wir verlacht. Was tut der. weiße 
Mann, wenn ihm ein Richter die Hilfe verſagt? Er 
wendet ſich an ein höheres Gericht. Und wenn ihn auch 
dieſes im Stich läßt, ſo macht er ſeinen eigenen Richter, 
indem er ſeinen Gegner lyncht oder Vereinigungen von 
Leuten gründet, Komitees genannt, die heimlich und 
gegen die Geſetze Hilfe ſchaffen, wenn öffentlich und durch 
die Geſetze keine zu finden iſt. Warum ſoll nicht auch 
der rote Mann tun dürfen, was der weiße tut? Ihr 
ſagt Lynch, wir ſagen Rache. Ihr ſagt: Komitee, wir 
ſagen: Beratung der Alten; es iſt ganz dasſelbe. Aber 
wenn ihr euch dann ſelbſt geholfen habt, ſo nennt ihr das 
erzwungene Gerechtigkeit, und wenn wir uns ſelbſt 
geholfen haben, ſo wird es von euch Raub und Plünde⸗ 
rung genannt. Die richtige Wahrheit lautet folgender- 
maßen: Der Weiße iſt der Ehrenmann, der den Roten 
unaufhörlich betrügt und beſtiehlt, und der Rote iſt der 
Dieb, der Räuber, dem vom Weißen ſtets das Fell über 
die Ohren gezogen wird. Dabei ſprecht ihr ohne Unter⸗ 
laß von Glaube und von Frömmigkeit, von Liebe und 
von Güte! Man hat uns kürzlich wieder um das Fleiſch, 
das Pulver und um vieles andere betrogen, was wir zu 
bekommen hatten. Als wir zum Agenten kamen, ihn 
um ſeine Hilfe zu bitten, fanden wir nur höhniſch lachende 
Geſichter und drohend auf uns gerichtete Flintenläufe. 
Da holten wir uns Fleiſch, Pulver und Blei, wo wir 
es fanden, denn wir brauchen es, ſonſt können wir 
nicht leben. Man verfolgte uns und tötete viele unſrer 


DEP... "sur > ir A: 
= — — zu. 


— 1435 — 


Krieger. Wenn wir jetzt ausgezogen ſind, den Tod dieſer 
Krieger zu rächen, wer iſt ſchuld daran? Wer iſt der 
Betrogene und wer der Betrüger? Wer iſt der Beraubte 
und wer der Räuber? Wer iſt der Angegriffene und wer 
der Feind? Old Shatterhand mag mir auf dieſe Fragen 
die richtige Antwort geben!“ ö 

Er richtete den Blick erwartungsvoll auf mich. Was 
ſollte und was konnte ich ihm antworten, nämlich als 
ehrlicher Mann antworten? Winnetou entzog mich dieſer 
heiklen Lage, indem er, der bis jetzt Schweigſame, das 
Wort ergriff: 

„Winnetou iſt 'der oberſte Häuptling ſämtlicher 
Stämme der Apatſchen. Keinem Häuptling kann das 
Wohl ſeiner Leute mehr am Herzen liegen als mir das 
Glück meines Volkes. Was Matto Schahko jetzt ſagte, 
iſt mir nichts Neues; ich habe es ſelbſt ſchon viele, viele 
Male gegen die Bleichgeſichter vorgebracht — — ohne 
allen und jeden Erfolg! Aber muß denn jeder Fiſch eines 
Gewäſſers, in dem es viele Raubfiſche gibt, vom Fleiſch 
anderer Fiſche leben? Muß jedes Tier eines Waldes, 
eines Gehölzes, in dem Skunks hauſen, notwendig auch 
ein ſolches Stinktier ſein? Warum macht der Häuptling 
der Oſagen keinen Unterſchied? Er verlangt Gerechtigkeit 
und handelt doch ſelbſt höchſt ungerecht, indem er Per⸗ 
ſonen befeindet, die nicht die mindeſte Schuld an der 
Ungerechtigkeit tragen, die an ihm und den Seinen 
verübt worden iſt! Kann er uns nur einen Fall, einen 
einzigen Fall ſagen, daß Old Shatterhand und ich die 
Gegner eines Menſchen geweſen ſind, ohne daß wir vor⸗ 
her von ihm angegriffen wurden? Hat er nicht im Gegen⸗ 
teil oft und oft erfahren und gehört, daß wir felbft 
unſere ärgſten Feinde ſo ſehr und ſo oft ſchonen, wie 
uns irgend möglich iſt? Und wenn er das bis heut noch 


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nicht gewußt hätte, ſo wäre es ihm vorhin vor ſeinen 
Augen und Ohren geſagt und bewieſen worden, als mein 
Freund und Bruder Shatterhand für ihn ſprach, obgleich 
Matto Schahko ihm nach dem Leben getrachtet hatte! Was 
uns der Häuptling der Oſagen mitteilen will, das wiſſen 
wir ſchon längſt und ſo gut, daß er kein Wort darüber zu 
verlieren braucht; aber was wir ihm zu ſagen haben, 
das ſcheint er noch nicht zu wiſſen und noch nie gehört 
zu haben, nämlich daß man nicht Ungerechtigkeit geben 
darf, wenn man Gerechtigkeit haben will! Er hatte uns 
für den Marterpfahl beſtimmt, und er weiß, daß wir 
ihm jetzt den Skalp und das Leben nehmen könnten; er 
ſoll beides behalten; er wird ſogar ſeine Freiheit wieder⸗ 
bekommen, wenn auch nicht gleich am heutigen Tag. Wir 
werden ſeine Feindſchaft mit Güte, ſeinen Blutdurſt mit 
Schonung vergelten, und wenn er dann noch behauptet, 
daß wir Feinde der Oſagen ſeien, ſo iſt er nicht wert, 
daß ſein Name von einem roten oder weißen Krieger 
jemals wieder auf die Lippen genommen wird. Matto 
Schahko hat vorhin eine lange Rede gehalten, und ich bin 
ſeinem Beiſpiel gefolgt, obgleich weder ſeine noch meine 
Worte nötig waren. Nun habe ich geſprochen. Howgh!“ 
Als er geendet hatte, trat eine lange, tiefe Stille 
ein. Nicht ſeine Rede allein, ſondern noch vielmehr ſeine 
Perſon und feine Sprech- und Ausdrucksweiſe brachten 
dieſe Wirkung hervor. Ich war außer ihm wohl der 
einzige, der wußte, daß er nicht bloß zu dem Oſagen 
geſprochen hatte. Seine Worte waren auch an die andern, 
beſonders an Treskow gerichtet geweſen. Matto Schahko 
lag mit unbewegten Mienen da; ihm war nicht anzu 
ſehen, ob die Entgegnung des Apatſchen überhaupt einen 
Eindruck auf ihn gemacht hatte. Treskow hielt die Augen 
niedergeſchlagen und den Blick wie in Verlegenheit zur 


Seite gerichtet. Endlich hob er ihn zu mir empor und 
- fagte: 

„Es iſt eine ganz eigene Sache um Euch und Winne⸗ 
tou, Mr. Shatterhand. Man mag wollen oder nicht, ſo 
muß man ſchließlich doch ſo denken, wie Ihr denkt. 
Wenn Ihr den Häuptling der Oſagen mit ſeinen beiden 
Kerls nun ebenſo laufen laſſen wollt, wie Ihr Old 
Wabble freigegeben habt, ſo bin ich es jetzt, der 
nichts dagegen hat! Ich befürchte nur, daß er uns dann 
mit ſeinem Volk nachgeritten kommt, um uns, falls er 
Glück hat, ſchließlich doch noch feſtzunehmen.“ 

„Warten wir das ab! Wenn ich Euch recht ver⸗ 
ſtehe, ſo haltet Ihr eine Beratung nicht mehr für not⸗ 
wendig?“ fragte ich. 

„Iſt nicht nötig. Tut, was Ihr wollt!“ 

„Well; ſo mache ich es kurz! Hört alſo, was ich 
im Einvernehmen mit Winnetou beſtimme! Matto 
Schahko reitet mit uns, bis wir annehmen, ihn freigeben 
zu dürfen; er wird zwar gefeſſelt ſein, doch mit der 
Rückſicht behandelt werden, die jeder brave Weſtmann 
dem Häuptling eines tapfern Volkes ſchuldig iſt. Seine 
beiden Krieger ſind frei; ſie mögen nach dem Wara⸗tu 
zurückkehren, um den Oſagen zu erzählen, was geſchehen 
iſt. Sie mögen dort ſagen, die Bleichgeſichter ſeien 
gewarnt worden und, wenn trotzdem der Ueberfall der 
Farmen verſucht werden ſollte, werde der Häuptling 
von uns erſchoſſen. Macht ihnen die Riemen auf!“ 

Dieſe Aufforderung war an Hammerdull und Hol⸗ 
bers gerichtet, die ihr bereitwillig nachkamen. Als die 
beiden Oſagen ſich frei fühlten, ſprangen ſie auf und 
wollten ſchnell zu ihren Pferden; dem aber wehrte ich 
ebenſo ſchnell: 

„Halt! Ihr werdet nach dem Wara⸗tu nicht reiten 

May, Old Surehand. II. 10 


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ſondern gehen. Eure Pferde und Gewehre nehmen 
wir mit. Ob ihr ſie wiederbekommt, das hängt von 
dem Verhalten Matto Schahkos ab. Alſo geht, und 
verkündet euern Brüdern, daß Old Shatterhand es 
geweſen iſt, der geſtern Apanatſchka, den Häuptling der 
Naiini, befreit hat!“ | 

Es wurde ihnen ſchwer, dieſem Befehl Gehorſam 
zu leiſten. Sie ſahen ihren Häuptling fragend an; er 
forderte fie auf: 


„Tut, was Old Shatterhand euch geſagt hat! Sollten 


die Krieger der Wafaji dann im Zweifel darüber fein, 
wie ſie ſich zu verhalten haben, ſo mögen ſie Numbeh 
grondeh ) fragen, dem ich den Befehl übergebe. Er wird 
das Richtige treffen!“ 

Als er dieſe Weiſung erteilte, nahm ich ſein Geſicht 
ſcharf in die Augen. Es war undurchdringlich; kein Zug 
verriet, ob dieſe Abtretung des Kommandos für uns 
ſpäter Kampf oder Frieden zu bedeuten haben werde. 
Die zwei Freigelaſſenen ſtiegen die Böſchung hinan und 
entfernten ſich in der Richtung, die auch Old Wabble vor⸗ 
hin eingehalten hatte. Sie gingen auf ſeiner Spur, und 
es war vorauszuſehen, daß ſie ihn bald einholen würden. 

Daß ich ihre Pferde zurückbehalten hatte, war aus 
mehreren Gründen geſchehen. Wären ſie beritten geweſen, 
ſo hätten ſie das Wara⸗tu viel ſchneller als zu Fuß 
erreicht, und die zu erwartende Verfolgung hätte einige 
Stunden eher beginnen können; wir gewannen alſo Zeit. 


Ferner waren fie als Boten, die ſchnell und weit zu 


reiten hatten, mit ſehr guten Pferden verſehen geweſen, 
und grad ſolche Tiere konnten wir brauchen. Auch ihre 
Waffen konnten uns von Nutzen ſein. Apanatſchka, der, 
wie bereits erwähnt, nur mit einem Meſſer verſehen 


Y „Lanze Fand“. 


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— 147 — 


geweſen war, bekam das Gewehr Matto Schahkos. Er 
gab ſein urſprüngliches Vorhaben, nach den heiligen 
Steinbrüchen zu reiten, einſtweilen auf und entſchloß 

ſich dafür, uns hinauf nach Kolorado zu begleiten. Da 
wir faſt mit Sicherheit annehmen mußten, daß die Oſagen, 
ſobald die zwei Boten ſie von der Gefangenſchaft ihres 
Häuptlings benachrichtigten, ſofort nach dem Kih⸗pe⸗ta⸗ 
kih kommen und uns von da aus folgen würden, um 
ihn zu befreien, konnte unſers Verweilens hier nicht länger 
ſein. Matto Schahko wurde auf ſein Pferd gebunden, 
doch in ſo ſchonender Weiſe, wie die Verhältniſſe es uns 
erlaubten. Pitt Holbers und Treskow beſtiegen die zwei 
Oſagenpferde; die andern wurden als Packtiere benutzt, 
und ſo verließen wir die „alte Frau“, bei der uns eine 
nur ſo kurze Raſt vergönnt geweſen war. 


Viertes Kapitel 
Auf Barbours Farm 


Der nun folgende Ritt mußte uns weit vom 
Republican⸗River abbringen, weil dieſer Fluß ſich nun 
nordwärts nach Nebraska wendete. Wir hielten uns 
grad weſtlich, um den Salmon⸗River zu erreichen. 
Dabei befanden wir uns zwiſchen zwei Uebeln, von 
denen das eine vor und das andere hinter uns lag. Das 
vor uns liegende beſtand aus der Truppe des „Generals“, 
von der wir bald eine Spur zu finden hofften, das hinter 
uns befindliche aus den Oſagen, deren Kommen mehr 
als wahrſcheinlich war. Keines dieſer beiden Uebel 
aber war geeignet, uns in große Unruhe zu verſetzen. 
Daß es noch ein drittes, uns viel näherliegendes, geben 
könnte, das ahnten wir nicht. obgleich wir ihm ent⸗ 
gegenritten. 

Wir hätten, um die Oſagen irre zu führen, uns für 
einige Zeit ſüdlich wenden können; aber einesteils hatten 
wir vor dieſen Indsmen keine Angſt, und andernteils 
wäre durch einen ſolchen Umweg die Zeit unſers Zuſam⸗ 
mentreffens mit Old Surehand weiter hinausgeſchoben 
worden, als wir wünſchen durften. Darum behielten 
wir die weſtliche Richtung bis zum Nachmittag des 
nächſten Tages bei, wo wir eine Begegnung hatten, die 
uns veranlaßte, unſerer urſprünglichen Abſicht entgegen 
doch nach Süden einzubiegen. 

Wir trafen nämlich auf drei Reiter, von denen wir 


148 


erfuhren, daß eine ſehr zahlreiche Bande von Tramps 
durch die ganze vor uns liegende Gegend ſchwärme. Die 
Männer waren einem Teil dieſer Bande in die Hände 
gefallen und vollſtändig ausgeraubt worden. Der eine 
von ihnen zeigte mir auch eine nicht ungefährliche Schuß⸗ 
wunde, die er bei dieſer Gelegenheit in den Oberſchenkel 
erhalten hatte. Wer von den Tramps gehört oder gar 
ſie perſönlich kennen gelernt hat, der wird es begreiflich 
finden, daß wir keine Luſt hatten, ſolchen Menſchen 
zu begegnen, vor denen jeder brave Weſtmann ſich wie 
vor Ungeziefer hütet, weil er es für eine Schande hält, 
ſeine Kraft mit der ihrigen zu meſſen. Wie der geübteſte 
und eleganteſte Florettfechter gegen die Düngergabel 
eines rüden Stallknechts unmöglich aufkommen kann, 
ſo hütet ſich jeder ehrliche Prärieläufer, mit dieſen von 
der Geſellſchaft für immer Ausgeſtoßenen in Berührung 
zu kommen, nicht etwa aus Furcht, ſondern aus Abſcheu 
vor der Gemeinheit ihres Auftretens. 

So auch wir. Wir ſchwenkten kurz entſchloſſen nach 
Süden ab und gingen ſchon gegen Abend über den Nord⸗ 
arm des Salmon⸗River, an deſſen rechtem Ufer wir für 
die Nacht Lager machten. 

Hier war es, wo Apanatſchka ſein bisheriges Schwei⸗ 
gen brach und mir erzählte, was er nach unſerer Tren⸗ 
nung im Llano eſtakado erlebt hatte. Sein Ritt mit 
Old Surehand nach Fort Terret war, wie bereits erwähnt, 
ohne Erfolg geweſen, da ſie dort den geſuchten Dan Etters 
nicht gefunden hatten; es gab dort überhaupt keinen 
Menſchen, der dieſen Namen einmal gehört oder deſſen 
Träger gar perſönlich geſehen hatte. Als Apanatſchka 
dies erzählte, ſagte ich: 

„So iſt meine damalige Vorausſage alſo eingetroffen. 
Ich traute dem ſogenannten „General nicht; es kam mir 


— 180 — 


gleich ſo vor, als ob er Old Surehand über dieſen Etters 
täuſchen wollte. Er hatte irgend eine beſtimmte Abſicht 
dabei, die ich leider nicht erraten konnte. Es ſchien mir, 
als ob er das Verhältnis Old Surehands zu Etters 
genauer kenne, als er merken laſſen wollte. Ich machte 
unſern Freund darauf aufmerkſam; er wollte es aber 
nicht glauben. Hat er mit meinem roten Bruder Apa⸗ 
natſchka vertraulich darüber geſprochen?“, 

„Nein.“ 

„Er hat gar keine Aeußerung darüber fallen laſſen, 
warum er ſo eifrig nach dieſem Etters ſuchte?“ 

„Keine.“ 

„Und dann habt ihr euch am Rio Pecos getrennt 
und du biſt zu deinem Stamm heimgekehrt?“ 

„Ja; ich bin nach dem Kaam⸗kulano geritten.“ 

„Wo deine Mutter dich gewiß mit Freude empfing?“ 

„Sie erkannte mich im erſten Augenblick und nahm 
mich liebreich auf; dann aber ging ihr Geiſt wieder von 
ihr fort,“ antwortete er, ſchnell trüb geſtimmt. 

Dennoch fragte ich, ohne auf dieſe Stimmung Rück⸗ 
ſicht zu nehmen: „Erinnerſt du dich noch der ä die 
ich aus ihrem Munde gehört hatte?“ 

„Ich kenne ſie. Sie ſagt ſie ja ſtets.“ 

„Und glaubſt du noch heut ſo wie damals, daß dieſe 
Worte zur indianiſchen Medizin gehören?“ 

„Ja.“ 

„Ich habe es nie geglaubt und glaube es auch jetzt 
noch nicht. Es wohnen in ihrem Geiſte Bilder von Per⸗ 
ſonen und Ereigniſſen, die nicht deutlich werden kön⸗ 
nen. Haſt du denn niemals einen Augenblick bei ihr be⸗ 
merkt, an dem dieſe Bilder heller wurden?“ 

„Nie. Ich bin nicht oft mit ihr beiſammen geweſen, 
denn ich mußte mich nach meiner Heimkehr bald von ihr 


— 151 — 


trennen. Die Krieger der Naiini, und beſonders Vupa 
Umugi, ihr Häuptling, konnten es mir nicht verzeihen, 
daß mein weißer Bruder Shatterhand mich für würdig 
erachtet hatte, die Pfeife der Freundſchaft und der Treue 
mit mir zu rauchen. Sie machten mir das Leben im 
Tal der Hafen‘ ſchwer, und fo ging ich fort.“ 

„Wohin?“ 

„Zu dem Komantſchenſtamm der Pohonim.“ 

„Wurde mein Bruder ſofort von ihnen auf⸗ 
genommen?“ 

„Uff! Ich war zwar der jüngſte Häuptling der 
Naiini geweſen, aber es hatte keinen Krieger gegeben, 
der mich beſiegen konnte. Darum ſprach keine einzige 
Stimme gegen mich, als die Männer der Pohonim über 
meine Aufnahme berieten. Jetzt bin ich der oberſte 
Häuptling dieſes Stammes.“ 

„Das höre ich gern; das macht mir Freude, denn 
ich liebe dich. Konnteſt du deine Mutter nicht von den 
Naiini weg und zu dir nehmen?“ 

„Ich wollte es tun, aber der Mann, deſſen Squaw 
ſie iſt, gab es nicht zu.“ 

„Der Medizinmann? Du nennſt ihn nicht deinen 

Vater, ſondern den Mann, deſſen Squaw ſie iſt. Es iſt 

mir ſchon damals aufgefallen, daß du ihn nicht lieben 
kannſt.“ 

„Ich konnte ihm mein Herz nicht geben, jetzt aber 
haſſe ich ihn, denn er verweigerte mir die Squaw, die 
mich geboren hat.“ 

„Weißt du genau, daß ſie deine Mutter iſt?“ 

Er warf mir einen Blick der Ueberraſchung zu und 
ſagte: „Warum fragſt du ſo? Ich bin überzeugt, daß 
mein Bruder Shatterhand nie ein Wort ſagt, zu dem 
er keinen Grund hat; alles, was er tut oder ſpricht, iſt 


9 
b * 


— 152 — 


vorher von ihm reiflich überlegt worden; darum wird er 
auch gewiß eine Urſache haben, mir dieſe ſonderbare 
Frage vorzulegen.“ 8 

„Die habe ich allerdings; ie fie iſt nicht eine 
Frucht der Ueberlegung, ſondern die Folge einer Stimme, 
die ich ſchon früher in meinem Innern gehört habe und 
auch noch heute höre. Will mein Bruder Apanatſchka mir 
Antwort geben?“ 

„Wenn Old Shatterhand fragt, werde ich antworten, 
auch ohne zu begreifen, warum er geſprochen hat. Die 
Squaw, von der wir reden, iſt meine Mutter; ich habe 
das nie anders gewußt und ich liebe ſie.“ 

„Und iſt ſie wirklich die Squaw des Medizin⸗ 
mannes?“ 

Er erwiderte abermals im Tone der Verwunderung: 
„Dieſe Frage verſtehe ich gleichfalls nicht. Man hat beide, 
ſo lange ich es weiß, für Mann und Weib gehalten.“ 

„Und biſt auch du überzeugt, daß er dein Vater iſt?“ 

„Man hat ihn ſtets meinen Vater genannt.“ 

„Er ſelbſt auch? Denk' genau darüber nach!“ 

Er ſenkte den Kopf, ſchwieg eine Weile, hob ihn 
dann mit einer raſchen Bewegung und ſagte: „Uff! Jetzt 
fällt es mir zum erſtenmal auf, daß er mich niemals, 
kein einziges Mal Itue genannt hat.“ 

„Aber deine Mutter hat Nertuah zu dir geſagt?“ 

„Auch nicht!“ | 

Die Ausdrücke für „mein Sohn“ find nämlich bei 
den meiſten Indianerſtämmen verſchieden, je nachdem 
ſie von dem Vater oder der Mutter angewendet werden. 
In dem vorliegenden Falle wird Itue vom Vater, 
Nertuah aber von der Mutter gebraucht. Apanatſchka 
fuhr fort: 


— 153 — 


„Beide haben ſtets nur Unofo‘) zu mir geſagt, und 
nur die Mutter nannte mich allerdings zuweilen Nertuah 
aber nur dann, wenn fie mit andern von mir ſprach.“ 

„Sonderbar, höchſt ſonderbar! Nun möchte ich nur 
noch wiſſen, ob er fie Fevuete) und fie ihn J⸗vo⸗ 
uſchingwas) zu nennen pflegte.“ | 

Er ſann wieder eine Weile nach und antwortete 
dann: „Es iſt mir, als ob ſie ſich zur Zeit meiner früheſten 
Kindheit ſo genannt hätten; ſeither aber habe ich dieſe 
Worte nicht wieder von ihren Lippen gehört.“ 

„So haben ſie alſo ſeit jener Zeit ſtets nur die Namen 
Tibo taka und Tibo wete gebraucht?“ ö 

„Ja.“ | 

„Und du hältſt diefe Worte für Medizinausdrücke?“ 

„Ja. Der Vater ſagte ſtets, daß ſie Medizin ſeien. 
Sie müſſen es auch ſein, denn kein einziger roter oder 
weißer Mann weiß, was das Wort Tibo zu bedeuten hat. 
Oder ſollte mein Bruder Shatterhand es wiſſen?“ 

Ich wußte es allerdings auch nicht. Zwar mußte 
ich an die franzöſiſchen Namen Thibaut und Thibault 
denken, aber es ſchien mir doch zu gewagt, das freilich 
faſt gleichklingende Wort Tibo damit in Beziehung zu 
bringen. Ich wollte eine entſprechende Antwort geben, 
kam aber nicht dazu, weil mir, und zwar zu gleicher Zeit 
und mit gleicher Eile, zwei Perſonen zuvorkamen, die 
dem erſten Teil unſeres Zwiegeſprächs keine Aufmerk- 
ſamkeit gewidmet hatten, dann uns aber, ſobald ſie von 
mir die Namen Tibo taka und Tibo wete hörten, um 
ſo mehr Teilnahme ſchenkten. 

Es wird noch erinnerlich fein, daß ich damals im 
Llano eſtakado Apanatſchka verſprechen mußte, die geheim⸗ 


) „Du“. ) Meine Squaw. ) Mein Maun. 


— 


— 154 — 


nisvollen Worte keinem Menſchen mitzuteilen; ich hatte 
mein Verſprechen ſo treu gehalten, daß ich ſogar gegen 
Winnetou verſchwiegen war. Darum erregte es meine 
Verwunderung, als er uns jetzt in die Rede fiel: 

„Tibo taka und Tibo wete? Dieſe Worte kenne ich!” 

Und noch hatte er nicht ganz ausgeſprochen, ſo rief 
auch der Häuptling der Oſagen: 

„Tibo taka und Tibo wete kenne ich! Sie ſind im 
Lager der Waſaji geweſen und haben uns viele Felle und 
die beſten Pferde geſtohlen.“ 

Apanatſchka war ebenſo erſtaunt wie ich. Er wendete 
ſich zunächſt an Winnetou: 

„Woher kennt der Häuptling der Apatſchen dieſe 
Worte? Iſt er, ohne daß ich es e habe, im Lager 
der Naiini geweſen?“ 

„Nein; aber Intſchu tſchuna, mein Vater, hat einen 
Mann und ein Weib getroffen, die Tibo taka und Tibo 
wete hießen. Er war ein Bleichgeſicht, ſie eine Indianerin.“ 

„Wo hat er ſie getroffen? Wo iſt das geweſen?“ 

„Am Rand des Eſtakado. Sie und ihre Pferde 
waren dem Tod des Verſchmachtens nahe, und die Frau 
hatte einen kleinen Knaben in ihr Tuch gewickelt. Mein 
Vater, der Häuptling der Apatſchen, hat ſich ihrer 
angenommen und ſie zum nächſten Waſſer geführt, um 
ſie zu ſpeiſen und zu tränken, bis ſie ſich erholten. Dann 
wollte er ſie zur nächſten Anſiedlung der Bleichgeſichter 
bringen; ſie aber baten ihn, ihnen lieber zu ſagen, wo die 
Komantſchen zu finden ſeien. Er ritt mit ihnen zwei Tage 
weit, bis er die Spuren von Komantſchen entdeckte. Da 
dieſe ſeine Todfeinde waren, mußte er umkehren. Er gab 
ihnen aber Fleiſch und einen Kürbis voll Waſſer mit und 
erteilte ihnen eine ſo genaue Anweiſung, daß ſie die 
Komantſchen finden mußten.“ 


1 — 


— 155 — 


„Wann hat ſich das ereignet?“ 

„Vor langer Zeit, als ich noch ein kleiner Knabe war.“ 

„Was hat mein Bruder ſonſt noch über dieſe beiden 
Perſonen und ihr Kind erfahren?“ 

„Daß die Frau ihre Seele verloren hatte. Ihre 
Reden ſind verworren geweſen, und wo es ein Gebüſch 
gab, da nahm ſie einen Zweig, um ihn ſich um den Kopf 
zu winden. Das iſt alles, was mein Vater mir über dieſe 
Begegnung erzählt hat.“ 

Der Apatſche bekräftigte durch eine Handbewegung, 
daß er nichts mehr zu ſagen habe, und fiel dann in ſeine 
frühere Schweigſamkeit zurück. Da ergriff Matto Schahko 
eifrig das Wort: 

„Aber ich kann noch mehr ſagen; ich weiß mehr von 
dieſen Dieben, als Winnetou, der Häuptling der Apatſchen, 
wiſſen kann!“ 

Apanatſchka wollte weiter ſprechen; ich winkte ihm 
aber, zu ſchweigen. Jedenfalls war er der kleine Knabe 
geweſen, und da der Mann und die Frau. die als feine 
Eltern galten, von dem Oſagen des Diebſtahls geziehen 
wurden, wollte ich eine vorausſichtliche große Beleidigung 
dadurch verhüten, daß ich an ſeiner Stelle das Wort ergriff: 

„Matto Schahko, der Häuptling der Oſagen, mag 
uns erzählen, was wir über die Perſonen, die wir meinen, 
von ihm hören können! Es wird wahrſcheinlich nicht viel 
Gutes ſein.“ 

„Old Shatterhand hat recht; es iſt nichts Gutes,“ 
nickte er. „Es kam vor vielen Sommern ein Mann zu 
uns, der ſich Raller nannte und die Kleidung der Offiziere 
trug; er ſei der Bote des großen, weißen Vaters in 
Waſhington!). Es war damals ein neuer weißer Vater 


1) Bräfibent der Vereinigten Staaten. 


— 156 — 


gewählt worden, der angeblich dieſen Boten zu uns 
ſchickte, um uns ſagen zu laſſen, daß er die roten Männer 
liebe, daß er Frieden mit ihnen hegen und beſſer für ſie 
ſorgen wolle als die frühern weißen Väter, die nicht 
gut und ehrlich gegen ſie geweſen ſeien. Das gefiel den 
Kriegern der Waſaji wohl, und ſie nahmen den Boten 
als Freund und Bruder auf und behandelten ihn mit 
größerer Ehrfurcht und Aufmerkſamkeit, als ſie ſelbſt 
ihrem größten und älteſten Häuptling zu erweiſen gewohnt 
waren. Er ſchloß einen Vertrag mit ihnen: ſie ſollten 
ihm Felle und. Häute liefern, wofür er ihnen ſchöne 
Waffen, Pulver, Blei, Meſſer und Tomahawekas, fertige 
Anzüge und auch prächtige Kleider und Schmuckſachen 
für die Squaws verſprach. Er gab ihnen zwei Wochen 
Zeit, dieſen Vertrag zu überlegen, und ritt fort. Schon 
vor dieſer Friſt kehrte er zurück und brachte einen weißen 
Mann, eine ſehr ſchöne, junge, rote Squaw und einen 
kleinen Knaben mit. Der Weiße trug den Arm in der 
Binde; er war durch einen Schuß verwundet worden, 
doch zeigte die Unterſuchung, daß die Wunde in guter 
Heilung ſtand. Das junge Weib war ſeine Squaw und 
der Knabe ſein Sohn. Der ſchöne Körper der Squaw 
war leer, denn der Geiſt hatte ihn verlaſſen. Sie ſprach 
von Tibo taka, von Tibo wete und wand ſich Zweige 
um den Kopf. Auch von einem Wawa Derrick redete ſie 
zuweilen. Wir wußten nicht, was ſie damit meinte, und 
auch der Weiße, deſſen Squaw ſie war, ſagte, daß er 
ihre Reden nicht verſtehe. Sie wurden bei uns auf- 
genommen, als ob ſie Bruder und Schweſter der Waſaji 
ſeien; dann ging Raller wieder fort.“ 

Matto Schahko machte hier eine Pauſe; ich benutzte 
ſie, ihn zu fragen: 

„Wie war das Verhalten der beiden Weißen zu⸗ 


— 157 — 


einander? Ließ es auf Freundſchaft oder nur auf gewöhn⸗ 
liche Bekanntſchaft ſchließen?“ 

„Sie waren Freunde, ſo lange ſie glaubten, beobachtet 
zu ſein; hielten ſie ſich aber für unbemerkt, ſo zankten 
fie ſich.“ 

„Hatte der Mann der Squaw vielleicht ein Merk⸗ 
mal oder ein Kennzeichen an ſeinem Körper?“ 

„Nein, aber der Offizier, der ſich Raller nannte, 
hatte eins; es fehlten ihm zwei Zähne.“ 

„Wo?“ fragte ich raſch. 

„Oben vorn, rechts und links einer.“ 

„Ah! Etters!“ rief ich aus. 

„Uff! Das war Dan Etters!“ ließ ſich auch der 
ſonſt ſo ſtille Winnetou vernehmen. 

„Etters?“ fragte der Häuptling der Oſagen. „Ich 
glaube nicht, dieſen Namen je gehört zu haben. Hat der 
Mann ſo geheißen?“ 

„Urſprünglich wohl nicht. Er war oder iſt ein 
großer Verbrecher, der viele falſche Namen getragen hat. 
Wie wurde denn der andere, der verwundete Weiße von 
ihm genannt? Raller muß doch einen Namen genannt 
haben, wenn er mit ihm ſprach oder ihn gar rief.“ 

„Wenn ſie einig waren, nannte er ihn Lo⸗teh; aber 
wenn ſie glaubten, allein zu ſein, und ſich zankten, ſagte 
er ſehr oft zornig E⸗ka⸗mo⸗teh zu ihm.“ 

„Iſt das kein Irrtum? Hat der Häuptling der 
Oſagen ſich dieſe beiden Namen gut gemerkt? Haben 
ſie ſich während der langen Zeit, die inzwiſchen ver⸗ 
gangen iſt, vielleicht in deinem Gedächtnis verändert?“ 

„Uff!“ rief er aus. „Matto Schahko pflegt ſich die 
Namen von Menſchen, die er haßt, ſo zu merken, daß 
ſie ihm bis zu ſeinem Tod unverändert im Kopf bleiben.“ 

Ich ſtemmte unwillkürlich den Ellbogen auf das 


— 158 — 


Knie und legte den Kopf in die Hand. Es war mir 
ein Gedanke gekommen, kühn und doch ſo naheliegend; 
ich zögerte, ihn auszuſprechen. Winnetou ſah mich an, 
ließ ein Lächeln um feine Lippen gleiten und fagte: 

„Meine Brüder mögen Old Shatterhand genau 
betrachten! Grad ſo wie jetzt pflegt er auszuſehen, wenn 
er eine wichtige Fährte entdeckt hat.“ | 

Ich war mir gar nicht bewußt, beſonders geiſtreich 
dreingeſchaut zu haben; ich weiß vielmehr, daß ich, wenn 
ſich die Seele zum Nachdenken zurückzieht, eigentlich ein 
recht dummes Geſicht zu machen pflege. Dies mochte 
Dick Hammerdull auch finden, denn er ſagte zu Winne⸗ 
tous Bemerkung: 

„Es ſcheint grad das Gegenteil der Fall zu ſein: 
Nr. Shatterhand ſieht aus, als ob er eine wichtige 
Spur nicht gefunden, ſondern ſie ſoeben ganz und gar 
verloren hätte. Meinſt du nicht auch, Pitt Holbers, 
altes Coon?“ 

„Im!“ brummte der Lange, indem er in feiner 
trockenen Weiſe meine Partei ergriff; „wenn du denkſt, 
daß dein Geſicht geſcheiter ausſieht als das ſeinige, 
ſo biſt du der leibhaftige Hornfroſch, der ſich 5 ein 
lebendiges Götterbild hält!“ 

„Schweig!“ fuhr ihn der Dicke an. „Was verſtehſt 
denn du von den Göttern und ihren Bildern? Mich 
mit einem Hornfroſch zu vergleichen! Das iſt eine 
Majeſtätsbeleidigung, für die du wenigſtens zehn Jahre 
Eastern penitentiary!) bekommen ſollteſt!“ 

„Schweig du ſelbſt!“ entgegnete Pitt Holbers. „Die 
Majeſtätsbeleidigung wurde nicht von mir, ſondern von 
dir begangen, indem du das Geſicht Old Shatterhands 
mit dem deinigen verwechſelteſt. Nicht er, ſondern du 


) Strenge Sfoliergefängnis in Philadelphia. 


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ſiehſt grad fo aus, als ob du nicht nur eine Spur ver⸗ 
loren, ſondern überhaupt niemals eine gefunden hätteſt. 
Du biſt zwar mein Freund, aber Mr. Shatterhand laſſe 
ich auch von dir nicht ungeſtraft beleidigen!“ 

Ich belohnte ihn mit einem dankenden Blick, obgleich 
ich Dick Hammerdull nicht ernſt genommen hatte, und 
ſagte, zu Winnetou und Matto Schahko gewendet: 

„Ich befinde mich wahrſcheinlich im Irrtum, aber 
es iſt mir ein Gedanke gekommen, den ich nicht ſo ohne 
alle Prüfung von mir weiſen möchte. Ich glaube näm⸗ 
lich jetzt zu wiſſen, was das geheimnisvolle Wort Tibo 
bedeutet. Es kommt dabei nur darauf an, daß der 
Häuptling der Oſagen die beiden Namen, die er vorhin 
nannte, richtig behalten hat. Der erſte hieß Lo⸗teh. Es 
iſt eine Eigentümlichkeit der Sprache Matto Schahkos, 
daß er den erſten Laut dieſes Wortes halb wie L und 
halb wie R ausſprach. Wahrſcheinlich hat er Lothaire“ 
gemeint, ein Wort, das ein franzöſiſcher Vorname iſt.“ 

„Ja, ja!“ fiel der Oſage ein. „So, grad ſo klang 
dieſer Name, wenn er von Raller ausgeſprochen wurde.“ 

„Gut! Dann bedeutet der zweite Name E⸗ka⸗mo⸗teh 
jedenfalls das franzöſiſche Wort Escamoteur, das einen 
Juggler, einen Taſchenſpieler bedeutet, der große Gewandt⸗ 
heit darin beſitzt, Gegenſtände auf unbegreifliche Weiſe 
verſchwinden und wieder erſcheinen zu laſſen.“ 

„Uff, uff, uff!“ rief Matto Schahko aus. „Ich 
höre, daß Old Shatterhand ſich auf der richtigen Spur 
befindet!“ a 

„Wirklich?“ fragte ich erfreut. „Hat der verwundete 
Weiße vielleicht die Dummheit begangen, damals die 
Oſagen mit derartigen Künſten zu unterhalten?“ 

„Ja, das hat er getan. Er ließ alles, alles kommen 
und verſchwinden, wie es ihm gefiel. Wir haben ihn 


* 


— 10 - 
für einen fo großen Zauberer gehalten, wie bei den 
roten Männern keiner gefunden werden konnte. Alle 
Männer und Frauen, alle Knaben und Mädchen haben 
ihm mit Erſtaunen, oft mit Entſetzen zugeſehen.“ 
„Gut! So will ich den Häuptling der Apatſchen an 
einen Mann erinnern, von dem auch er erzählen hörte. 
Ich weiß, daß in ſeiner und meiner Gegenwart von 
einem einſt hoch berühmten und dann plötzlich verſchol⸗ 
lenen Escamoteur erzählt worden iſt, von deſſen Kunſt⸗ 
ſtücken man behauptete, daß ſie nicht nur unvergleichlich, 
ſondern geradezu unerreichbar ſeien. Er wurde, wie 
Winnetou ſich erinnern wird, nicht anders als Mr. 
Lothaire, the king of the conjurers, genannt.“ 

„Uff!“ ſtimmte der Apatſche bei. „Von dieſem haben 
wir wiederholt erzählen hören, in den Forts und an den 
Lagerfeuern.“ 

„Und weiß mein Bruder noch, weshalb dieſer Mann 
verſchwinden mußte?“ 

„Ja. Er hatte falſches Geld gemacht, ſehr viel 
falſches Geld, und, als er feſtgenommen werden ſollte, 
zwei Poliziſten niedergeſchoſſen und einen verwundet.“ 


„Nicht bloß das!“ fiel da Treskow ein. „Ich kenne, 
wenn auch nicht die Perſon, ſo doch den Fall genau; er 
wurde in Beamtenkreiſen oft erwähnt, weil er höchſt 
lehrreich für jeden Poliziſten iſt. Dieſer Lothaire hat 
ſich nämlich der Verfolgung wiederholt auf eine jo/ 
geſchickte Weiſe entzogen und dabei noch weitere Mord⸗ 
taten verübt, daß ſein Fall uns als Unterrichtsgegen⸗ 
ſtand zur Belehrung dienen mußte. Er ſtammte, ich 
weiß nicht mehr, aus welcher franzöſiſchen Kolonie, wo 
er ſich auch nicht mehr ſehen laſſen durfte. Wenn ich 
mich nicht irre, war er ein Kreole aus Martinique und 


— 161 — 


iſt zuletzt in Bents Fort oben am Arkanſas geſehen 
worden.“ 

„Das ſtimmt; das ſtimmt und wird noch beſſer 
ſtimmen lernen!“ gab ich zu. „Lothaire war nur ſein 
Vorname. Es kommt ja häufig vor, daß derartige Leute 
ihren Vornamen als Künſtlernamen wählen. Sagt, Mr. 
Treskow, iſt es Euch wohl möglich, Euch auf ſeinen voll⸗ 
ſtändigen Namen zu beſinnen?“ | 

„Er hieß — — er hieß — — — qm, wie hieß er 
nur? Es war auch ein echt franzöſiſcher Name, und 
wenn — — — ach, jetzt fällt er mir ein! Er hieß 
Lothaire Thibaut und — — — alle Wetter! Da haben 
wir ja das Tibo, das, wie ich vorhin hörte, ſo lange 
vergeblich geſucht worden iſt!“ 

„Ja, wir haben es! Taka iſt der Mann und Wete 
die Frau; Thibaut Taka und Thibaut Wete ſind Herr 
und Frau Thibaut. Die Frau des Medizinmannes ſagte, 
wenn ſie ſich vollſtändig nannte: Tibo wete elen. Was 
hat dieſes Elen zu bedeuten? Ich ahne es.“ 

„Sollte der Vorname Ellen gemeint ſein?“ 

„Möglich. Wenn die Frau des Medizinmannes ſich 
nicht in ihrem Wahnſinn mit einer andern verwechſelt, 
ſondern die wirkliche Thibaut Wete Ellen iſt, ſo iſt ſie 
eine getaufte Indianerin vom Stamme der Moqui.“ 

„Warum der Moqui?“ 

„Weil ſie auch von ihrem Wawa, d. i. Bruder Der⸗ 
rick ſpricht; Taka, Wete und Wawa aber ſind Worte, 
die der Moquiſprache angehören. Thibaut Taka war ein 
berühmter Taſchenſpieler und verſchwand bei den Indi⸗ 
anern, weil er ſich bei den Weißen nirgends mehr ſehen 
laſſen durfte. Ihm, dem geſchickten Esc. moteur, mußte 
es leicht ſein, Medizinmann der Roten zu werden und 
bei ihnen großes Anſehen zu gewinnen.“ 

May, Old Surehand. II. 11 


— 


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„Aber die Farbe, die Indianerfarbe?“ 

„Pshaw! Für einen ſolchen Künſtler eine Kleinig⸗ 
keit! Ich bin jetzt beinahe überzeugt, daß Tibo taka 
und Tibo wete nicht Mann und Frau ſind. Und ſollten 
ſie es dennoch ſein, ſo möchte ich wenigſtens behaupten, 
daß Apanatſchka nicht der Sohn der beiden iſt, wenigſtens 
nicht der Sohn des Taſchenſpielers, von dem er auch nie 
als Sohn behandelt wurde.“ 

Der Komantſche hatte unſern Folgerungen die größte 


Aufmerkſamkeit geſchenkt. Es verſtand ſich von ſelbſt, 


daß ihm jedes Wort von höchſter Wichtigkeit war. In 
ſeinem Geſicht wechſelten die Ausdrücke der wider⸗ 


ſprechendſten Gefühle. Daß der Medizinmann nicht 


ſein Vater, ja, daß dieſer ein Verbrecher ſein ſollte, 


berührte ihn weniger, als daß ich ihm auch die Mutter 


rauben wollte; ich ſah, daß es ihn drängte, mir darin zu 
widerſprechen, gab ihm aber einen wohlgemeinten Wink, 
zu ſchweigen, und wendete mich wieder an Matto Schahko: 

„Wir haben den Häuptling der Oſagen in ſeiner 
Erzählung unterbrochen und bitten ihn, jetzt fortzufahren. 
Der Weiße, der ſich Raller nannte, hat den Vertrag, 
den er mit euch abſchloß, nicht gehalten?“ | 

„Nein, denn er war ein Betrüger wie alle Bleich⸗ 
geſichter, Old Shatterhand und nur noch einige aus⸗ 
genommen. Die Krieger der Waſaji aber hielten ihm 
ihr Wort. Sie ſuchten die Jagdgruben auf, in denen 
ſie ihre Felle und Pelze aufbewahrt hatten, und brachten 
ſie ihm in das Lager.“ 

„Wo befand ſich das zu jener Zeit?“ 

„Am Fluß, den die Weißen den Arkanſas nennen.“ 

„Ah! Und am Arkanſas iſt Thibaut zuletzt geſehen 
worden. Das ſtimmt auffällig. Waren es viele Häute?“ 

„Viele, ſehr viele Pakete! Ein ganzer großer Kahn 


® . 


; — 163 — 


wurde voll. Wir haben ihn dem Bleichgeſicht aus Holz⸗ 
ſtangen und Fellen gebaut. Allein an Fuchspelzen 
waren es weit über zehnmal zehn Bündel, das Bündel 
zu zehn Dollars gerechnet, die andern Felle, die zuſam⸗ 
men noch viel mehr koſteten, gar nicht mit gezählt.“ 

„Solch eine Menge? Er hat ſie doch unmöglich weit 
fortſchaffen können, ſondern bald verkaufen müſſen. Wohin 
wollte er ſie bringen?“ 

„Nach Fort Mann.“ 

„Ah! das lag am Arkanſas, wo ihn die große und 
ſehr belebte Cimarronſtraße kreuzte. Da gab es reichen 
Verkehr, und es waren ſtets Pelzhändler mit bedeuten⸗ 
den Kapitalien da, die ſolche Summen zu jeder Zeit 
bezahlen konnten. Aber es gab da auch eine zahlreiche 
Garniſon. Daß er ſich überhaupt und nun gar mit der 
Ausführung eines ſolchen Betrugs dorthin wagte, war 
eine Frechheit, die ihresgleichen ſucht. Es war eine große 
Unvorſichtigkeit von euch, ihm dieſe Waren anzuvertrauen. 
Ich vermute, daß ihr ihn nicht fortgelaſſen habt, ohne ihm 
Begleitung mitzugeben?“ 

„Old Shatterhand hat es erraten. Da er ein Ab⸗ 
geſandter des großen, weißen Vaters war, glaubten wir, 
nicht unvorſichtig zu ſein, wenn wir ihm Vertrauen 
ſchenkten. Wir mußten ihm auch ſchon deshalb glauben 
und vertrauen, weil er uns ſelbſt aufforderte, ihn nach 
Fort Mann zu begleiten, wo wir die Bezahlung in 
Waren ausgeliefert bekommen ſollten.“ 

„Wieviel Oſagen bekam er mit?“ 

„Sechs Mann; ich war ſelbſt dabei.“ 

„Hatten ſo viel Perſonen in dem Boot Platz? Wohl 
ſchwerlich!“ 

„Er nahm zwei Mann zur Hilfe beim Rudern 
mit in den Kahn. Die andern vier mußten zu Pferd 


— 164 — 


dem Fluß folgen. Um gleichen Schritt mit dem ſchnell⸗ 
ſchwimmenden Fahrzeug halten zu können, war es not⸗ 
wendig, die beſten Pferde auszuſuchen.“ 

„Wie pfiffig ausgedacht! Ich bin nämlich überzeugt, 
daß er es auch auf dieſe Pferde abgeſehen hatte.“ 

„Old Shatterhand hat auch hier das Richtige 
getroffen. Es war zur Zeit, wo der Fluß viel Waſſer 
und gute Strömung hat; darum erreichte der Kahn das 
Fort einen Tag früher als wir mit den Pferden. Wir 
kamen abends ſo ſpät an, daß wir kurz vor Torſchluß 
das Fort betraten; wir hatten zwei Männer bei den 
Pferden draußen gelaſſen. Dann war das Tor zu, und 


wir durften nicht mehr hinaus. Raller gab uns zu eſſen 


und dazu ſo viel Feuerwaſſer, wie wir haben wollten. 
Wir tranken, bis wir einſchliefen. Als wir erwachten, 
war es ſchon Abend des nächſten Tages. Raller war 
fort; der andere Weiße mit ſeiner Squaw und dem 
Kinde war fort; unſere Pferde waren auch fort und 
mit ihnen die beiden Krieger, die ſie hatten bewachen 
ſollen. Als wir uns erkundigten, hörten wir, daß Raller 
die Felle ſchon vor unſrer Ankunft verkauft und bezahlt 
bekommen hatte. Sobald der Schlaf des Feuerwaſſers 
über uns gekommen war, hatte er für ſich und das 
andere Bleichgeſicht mit Squaw und Kind das Tor 
öffnen laſſen und war dann nicht mehr geſehen worden. 
Nun war es wieder Nacht, ſo daß wir nicht nach ſeiner 
Fährte ſuchen konnten. Wir waren ſehr zornig und 
verlangten unſere Felle, die noch in dem Kahn am 
Ufer lagen. Die Soldaten und andere Bleichgeſichter 
lachten uns aus. Als wir hierauf noch mehr er⸗ 
grimmten, wurden wir eingeſperrt und erſt nach drei 
Tagen, in denen wir weder Eſſen noch Waſſer erhielten, 
wieder freigelaſſen. Die Spuren der Betrüger waren 


= ru — 
2 5 285 


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nun nicht mehr zu ſehen. Wir ſuchten dennoch und 
fanden die Leichen der beiden Krieger, von denen die 
Pferde bewacht worden waren, im Gebüſch des Fluſſes 
liegen. Sie waren vor dem Fort erſtochen und dann 
dorthin geſchafft und verſteckt worden.“ 

„Habt ihr dieſen Mord im Fort gemeldet?“ 

„Wir taten es, aber man ließ uns nicht hinein; 
man drohte, uns ſofort wieder einzuſperren, falls wir 
es wagen ſollten, durch das Tor zu ſchreiten. Der 
Jagdertrag eines vollen Jahres und eines ganzen 
Stammes war verloren; wir hatten zwei Krieger und 
die Pferde eingebüßt. Anſtatt uns die erbetene Hilfe zu 
leiſten, wollte die Obrigkeit der Weißen uns gefangen 
nehmen. Raller, der Mörder und Betrüger, war kein 
Bote des weißen Vaters geweſen, und weil wir keine 
Pferde hatten und eingeſperrt geweſen waren, konnten 
wir ihm nicht folgen, um ihn zu beſtrafen. Das iſt die 
Gerechtigkeit der Bleichgeſichter, die von Liebe, Güte, 
Frieden und Verſöhnung reden und ſich Chriſten, uns 
aber Heiden nennen! Jetzt weiß Old Shatterhand, was 
ich über Tibo taka und Tibo wete zu ſagen habe.“ 

Ich mußte mich als Weißer jeden Urteils über das 
was er erzählt hatte, enthalten und konnte ihm nur die 
allgemeine, nichtsſagende Antwort geben: 

„Der Häuptling der Oſagen hat bereits gehört, daß 
ich keine Raſſe für beſſer als die andere halte; es gibt 
bei allen Völkern und in allen Ländern gute und auch 
böſe Menſchen. Hat Matto Schahko vielleicht ſpäter 
wieder eine Begegnung mit einem dieſer beiden Bleich⸗ 
geſichter gehabt?? 

„Nein. Seit jener Zeit habe ich heut die Namen 
Tibo taka und Tibo wete zum erſtenmal wieder ver⸗ 
nommen. Wir haben nach dem Mann mit den zwei 


— 166 — 


Zahnlücken überall und unabläſſig geforſcht, doch alle 
Nachfragen und Erkundigungen ſind vergeblich geweſen. 
Es ſind inzwiſchen weit über zwanzig Sommer und 
Winter vergangen, und ſo haben wir angenommen, 
daß er nicht mehr lebt. Sollte ihn aber der Tod noch 
nicht ergriffen haben, ſo bitte ich den großen Manitou, 
ihn in unſere Hände zu führen, denn der Manitou iſt 
gütig und gerecht; die Bleichgeſichter aber ſind es nicht, 
obgleich ſie ſich ſeine Lieblingskinder nennen.“ 

Es trat eine lange Pauſe ein, denn keiner von uns 
Weißen fühlte ſich imſtande, die Anklage des Oſagen zu 
entkräften oder gar zu widerlegen. Habe ich mich jemals 
in Verlegenheit befunden, ſo war es dann, wenn ich 
gezwungen war, die Vorwürfe, die der weißen Raſſe von 
Angehörigen anderer Nationen gemacht wurden, ſchwei⸗ 
gend hinzunehmen. Alles, was man dagegen ſagen 
könnte, hat ja doch keinen Erfolg, wenigſtens keinen 
augenblicklichen. Das Beſte, was man hier tun kann, 
iſt, durch den eigenen Lebenswandel den Beweis zu 
führen, daß derartige Anſchuldigungen wenigſtens die 
eigene Perſon nicht treffen. Wollte ein jeder ſo handeln, 
ſo würden ſie gewiß und bald zum Schweigen kommen. 

Das jetzt beendete Geſpräch mußte von uns allen 
am meiſten Apanatſchka berührt haben. Er hatte wahr⸗ 
ſcheinlich viele Fragen und Entgegnungen vorzubringen, 
war aber infolge meines Winkes ſo klug, zu ſchweigen. 
Es war Matto Schahko gegenüber nicht geraten, ſein 
nahes Verhältnis zu Tibo taka noch näher und ausführ⸗ 
licher in Erwähnung zu bringen, als es ſchon geſchehen 
war. Ich fühlte ohnehin große Befriedigung darüber, daß 
der Oſage nicht auf den Gedanken kam, ſich nach dem 
Zuſammenhang zwiſchen Tibo taka und dem Medizin⸗ 
mann der Komantſchen zu erkundigen. 


— 167 — 


Was Haller, den angeblichen Abgeſandten des 
„großen, weißen Vaters“ betraf, ſo wollte ſich in mir 
eine Ahnung geltend machen, deren Berechtigung mir 
- allerdings zweifelhaft erſchien. Ich hütete mich alſo, ein 
Wort darüber zu verlieren, obgleich ich die Erfahrung 
gemacht hatte, daß ich mit derartigen, ſcheinbar grund⸗ 
loſen Vermutungen und unwillkürlichen Gedankenverbin⸗ 
dungen häufig das Richtige traf. 

Als Matto Schahko davon ſprach, daß Raller ſich 
für einen Offizier ausgegeben hatte, war mir nämlich 
Douglas, der „General“, eingefallen. Es gab keinen 
ſtichhaltigen Grund, dieſe Perſonen in ſo nahe Beziehung 
zu einander zu bringen. Sie waren beide Verbrecher; 
ſie hatten ſich unberechtigterweiſe einen militäriſchen Grad 
beigelegt; das war alles, und lange noch nicht genug, 
um annehmen zu können, daß ſie eine und dieſelbe Per⸗ 
ſon ſeien, und doch wurden ſie in meinem Innern, in 
meiner Vorſtellung nach und nach ſo zuſammengewoben, 
daß ſie ſchließlich nicht mehr zwei Figuren, ſondern eine 
einzige bildeten. Das Seelenleben des Menſchen iſt ja 
reich an geheimnisvollen Geſetzen, Kräften und Erſchei⸗ 
nungen, deren Wirkungen wir oft achtlos an uns vorüber⸗ 
gehen laſſen; aber wer ſo viel bei ſeinen Büchern geſeſſen 
und getüftelt hat wie ich, wer ſo viele Nächte unter dem 
Dach des Urwaldes oder unter dem Himmel der Wüſte, 
der Savanne lag und tiefe Einkehr in ſich hielt, der 
lernt, auf die Regungen und Stimmen ſeines Innern 
aufmerkſam zu ſein, und ſchenkt ihnen gern das Ver⸗ 
trauen, das ſie verdienen. 

Daß ich mit allen dieſen Perſonen und Verhältniſſen 
Old Surehand in Beziehung, und zwar in die engſte 
Beziehung, brachte, verſteht ſich von ſelbſt. Jedenfalls 
war er es, der im Mittelpunkt des Geheimniſſes ftand, 


— 168 — 


und der den Schlüffel dazu, jetzt noch ohne es zu willen, 
in den Händen hielt. Darum nahm ich mir vor, meine 
Ahnungen noch für mich zu behalten und ſie erſt nach 
unſerm Zuſammentreffen mit ihm in Worte zu kleiden. 


Wir waren ja hinter ihm her und mußten ihn wahr⸗ 


ſcheinlich bald einholen. N 
Dieſen Gedanken hing ich, als wir uns zur Ruhe 


gelegt hatten, noch lange nach, ehe ich einſchlief. Früh 


dann, beim Aufbruch, waren ſie feſt in mir geworden, 
und ich legte mir nur noch die eine Frage vor, wer 
unter Wawa Derrick gemeint fein könne. 


Es war eine vollſtändig baum⸗ und ſtrauchloſe 
Gegend, durch die wir nun kamen. Wir befanden uns 


zwiſchen dem Nord⸗ und Südarm des Salmon⸗River 


auf einer mit Büffelgras bewachſenen Prärie. Am 


Nachmittag kamen wir dem Südarm näher und ſahen 


da einen einzelnen Reiter, der weit vor uns quer über 
unſere Richtung aus Norden kam. Wir hielten ſofort 
an und ſtiegen ab, um uns von ihm nicht ſehen zu 


laſſen; aber er hatte uns ſchon bemerkt und richtete den 


Lauf ſeines Pferdes auf uns zu. Darum ſetzten wir uns 
wieder auf und ritten ihm entgegen. 


Als wir uns ihm ſo weit genähert hatten, daß wir 


ihn deutlich erkennen konnten, ſtellte es ſich heraus, daß 


er ein Weißer war. Er ſtutzte und hielt an, als er 
entdeckte, daß unſer Trupp aus Leuten von zweierlei 
Farben beſtand; denn das iſt ſtets geeignet, Verdacht zu 
erwecken. Das Gewehr ſchußfertig in den Händen, ſah 
er uns entgegen. Als wir uns ihm bis auf ungefähr 
dreißig Pferdelängen genähert hatte, hob er das Gewehr 
und forderte uns auf, zu halten, widrigenfalls er ſchießen 


werde. Dieſe Drohung war etwas für unſern dicken 


— 169 — 


Hammerdull; er trieb ihr zum Trotz ſeine Stute weiter 
und rief dabei dem Fremden lachend zu: 

„Macht keinen dummen Witze, Sir! Oder ſolltet Ihr 
Euch wirklich einbilden, daß wir uns vor Eurer Garten⸗ 
ſpritze fürchten werden? Tut ſie weg, und ſeid gemüt⸗ 
lich, denn wir ſind es auch!“ 

Das volle Geſicht des Kleinen ſtrahlte allerdings 
eine Freundlichkeit aus, der weder der Reiter noch ſein 
Pferd widerſtehen konnten; denn dieſes ließ ein vergnügtes 
Wiehern hören, und er antwortete, indem er ſein Gewehr 
ſinken ließ: 

„Dieſen Gefallen kann ich Euch ſchon tun. Uebri⸗ 
gens bilde ich mir über Euch vorläufig gar nichts ein, 
weder etwas Gutes noch etwas Böſes, obgleich Ihr zu⸗ 
geben werdet, daß ich allen Grund babe, Verdacht gegen 
Euch zu hegen.“ 

„Verdacht? Warum?“ 

„Weiße und Rote gehören nicht zuſammen, und 
wenn man ſieht, daß dieſe zwei Farben ſich einmal ver⸗ 
tragen, hat man gewöhnlich die Koſten dieſes Schauſpiels 
zu bezahlen.“ 

„Vertragen? Seht Ihr denn nicht, daß einer der 
Indianer gefangen iſt?“ 

„Um ſo ſchlimmer, daß Ihr dem andern nicht auch 
einige Riemen angelegt habt. Der Gefangene ſcheint eine 
Leimrute zu ſein, an der man kleben bleiben ſoll!“ 

„Ob Ihr kleben bleibt oder nicht, das iſt uns ganz 
gleich; aber los kommt Ihr nicht. Wir wollen wiſſen, 
wer Ihr ſeid, und zu welchem Zweck Ihr Euer Pferd 
hier in dieſer alten Prärie ſpazieren reitet.“ 

„Spazieren? Danke! Es war kein angenehmer Ritt, 
den ich hinter mir habe. Aber ehe ich euch Beſcheid gebe, 
will ich erſt wiſſen, wer ihr ſeid!“ 


— 170 — 


„Ah ſo! Bin ſofort bereit, Euch gehorſamſt zu 
Dienſten zu ſtehen!“ Und mit der Hand der Reihe nach 
auf ſich und uns zeigend, fuhr er fort: „Ich bin der 
Kaiſer von Braſilien, wie Ihr mir ja gleich angeſehen 
haben werdet. Der. ungefeſſelte Indianer hier iſt einer 
der heiligen drei Könige aus dem Morgenland, von denen 
bekanntlich der erſte weiß, der zweite rot und der dritte 
ſchwarz geweſen ift; dieſer hier wird alſo wohl der zweite 
ſein. Der Mann mit dem großen und dem kleinen 
Gewehr“ — er deutete dabei auf mich — „iſt Bileam, der 
Euch wohl bald zum Sprechen bringen wird. Der Weiße 
neben ihm“ — er meinte Treskow — „iſt ein verwun⸗ 
ſchener Prinz aus 8 an deſſen Seite Ihr ſeinen 
Hofnarren ſeht —“ f 

Da er bei dem Worte Hofnarr auf Pitt Holbers 
zeigte, fiel ihm dieſer kräftig in die Rede 

„Halte den Schnabel, alte Spottdroſſel! Du gebär⸗ 
deſt dich ja, als ſtändeſt du vor einer Menagerie, deren 
Beſtien du dieſem Fremden zeigen müßteſt!“ 

„Ob Beſtien oder nicht, das bleibt ſich ganz gleich. 
Meinſt du etwa, Pitt Holbers, altes Coon, daß ich ihm 
eure Namen nennen ſoll? Da kennſt du weder mich 
noch die Geſetze des Weſtens. Er iſt allein; wir ſind ein 
ganzer Trupp. Alſo hat er zuerſt zu antworten, nicht aber 
wir, und wenn er das nicht augenblicklich tut, renne ich 
ihm mein Gewehr in den Leib oder reite ihn einfach 
über den Haufen.“ u 

Er meinte das natürlich nur im Scherz. Mochte nun 
der Fremde dies ſo nehmen oder nicht, er warf einen 
verächtlichen Blick auf die alte, haarloſe Stute Hammer⸗ 
dulls und rief, indem er ein lautes Lachen hören ließ: 


„Lack- a-day! Mit dieſer Pfefferkuchenziege fol ich 


* 


— 171 — 


umgeritten werden? Die würde doch ſofort aus allen 
Knochen fallen. Verſucht es doch einmal! Come on!“ 

Der Dicke hielt ſo große Stücke auf ſein Pferd, daß 
ihn nichts ſo ſchnell in Harniſch bringen konnte, als 
wenn man ſich über deſſen häßliches Aeußere luſtig 
machte. So auch hier. Seine gute Laune war wie weg⸗ 
geblaſen, und kaum hatte der Fremde die Aufforderung 
ausgeſprochen, ſo ertönte die zornige Antwort: 

„Sogleich, ſogleich! Go on!“ 

Die Stute hörte das bekannte Wort; ſie fühlte den 
Schenkeldruck und die Zügelhilfe und gehorchte augen⸗ 
blicklich. Sie rannte mit einem Satz, den ihr jeder, der 
ſie nicht kannte, nie zugetraut hätte, das Pferd des Frem⸗ 
den an, das zunächſt ins Straucheln kam und nach einem 
zweiten Angriffsſprung der Stute ſich hinten niederſetzte. 
Das geſchah ſo raſch und unerwartet für den Reiter, 
daß er, ohne Zeit zum Ausweichen zu finden, die Bügel 
verlor und aus dem Sattel flog. Nun war die Reihe, 
zu lachen, an Dick Hammerdull. Er warf ſeine kurzen, 
dicken Arme triumphierend in die Luft und rief: 

„Heigh-day! Da fliegt er hin, der Pfefferkuchen⸗ 
mann! Wenn er nur nicht zerbrochen iſt! Hat das die 
alte Ziege nicht gut gemacht, Pitt Holbers, altes Coon?“ 

Der Lange antwortete in ſeinem gewöhnlichen 
Gleichmut: 

„Wenn du denkſt, daß ſie dafür einen Sack voll 
Hafer verdient hat, ſo magſt du recht haben, lieber Dick.“ 

„Ob Hafer oder nicht, das bleibt ſich gleich; es gibt 
hier leider nur Gras zu freſſen!“ 

Der Fremde rappelte ſich empor, hob ſein Gewehr 
auf, das ihm entfallen war, und ſtieg mißmutig wieder 
in den Sattel. Um aus dem derben Scherz nicht völlig 


— 172 — 


Ernſt werden zu laſſen, richtete nun ich ſelbſt das Wort 
an ihn: 

„Ihr ſeht, es kann ſelbſt dem beſten Cowboy ein⸗ 
mal geſchehen, daß er ein fremdes Pferd unter⸗ und 
das ſeinige überſchätzt. Ganz ebenſo ſcheint Ihr Euch 
auch in den Reitern geirrt zu haben. Daß ein Roter 
unſer Gefangener iſt, gibt für Euch keinen Grund, uns 
für Leute zu halten, denen Ihr nicht trauen dürft. Wir 
ſind ehrliche Weſtmänner, und da wir wiſſen, daß dort 
oben im Norden, woher Ihr kommt, ſich Tramps herum⸗ 
treiben, die wir vermeiden wollen, ſo möchten wir ſo 
ungefähr wiſſen, wer und was Ihr ſeid.“ 

Daß er ein Cowboy war, ſagte mir ſeine Kleidung 
und Ausrüſtung. Er antwortete jetzt bereitwillig: 

„Dieſe Tramps ſind es eben, derentwegen ich euch 
mißtraute und eigentlich noch jetzt mißtrauen muß.“ 

„Hm, mag ſein! Ich hoffe, Euer Vertrauen ſogleich 
zu gewinnen, falls Euch nämlich der Name Winnetou 
nicht unbekannt iſt.“ 

„Winnetou? Wer ſollte dieſen Namen nicht kennen!“ 

„Wißt Ihr, wie er gewöhnlich gekleidet und 
bewaffnet iſt?“ 

„Ja. Er geht in Leder, mit einer Santillodecke um 
die Hüften, das Haar lang herab und die Silberbüchſe 
an — — —' 

Er hielt inne, muſterte den Apatſchen einen Augen⸗ 
blick, ſchlug ſich dann mit der Hand an die Stirn 
und rief: 

„Wo hatte ich doch nur meine Augen! Das iſt er 
ja ſelbſt, der berühmte Häuptling der Apatſchen! Nun 
iſt ja alles gut. Ihr andern mögt meinetwegen ſein, 
wer ihr wollt. Wo Winnetou dabei iſt, da gibts nur 
Ehrlichkeit und keine Schelmerei. Jetzt weiß ich, daß ich 


— 173 — 


Euch alles ſagen darf, was Ihr wiſſen wollt. Ich bin 
nämlich bedienſtet auf Harbours Farm und heiße Bell.“ 

„Wo liegt dieſe Farm?“ 

„Zwei Meilen ſüdwärts von hier am Fluß.“ 

„Die kann erſt ſeit kurzem gegründet ſein. Früher 
hat es keine da gegeben.“ 

„Das iſt richtig. Harbour iſt erſt ſeit zwei Jahren 
hier.“ 

„Er muß ein mutiger Mann ſein, daß er es gewagt 
hat, ſich in dieſer Einſamkeit niederzulaſſen.“ 

„Auch wieder richtig. Wir fürchten uns nicht. Mit 
den Indsmen ſind wir bisher fertig geworden; die 
Tramps aber ſind ernſter zu nehmen. Als wir hörten, 
daß ſich eine ſolche Schar oben am Nordfolk herum⸗ 
treibt, bin ich hingeritten, um zu erfahren, was ſie vor⸗ 
haben. Ich weiß jetzt, daß wir uns nicht zu ſorgen 
brauchen, denn ſie haben es auf Nebraska abgeſehen. 
Wollt ihr heut noch weit, Meſch'ſchurs?“ 

„Wir reiten noch eine Stunde, ehe wir an einer 
paſſenden Stelle Lager machen.“ 

„Wollt Ihr denn nicht lieber auf unfrer Farm ein⸗ 
kehren, als daß Ihr im Freien bleibt?“ 

„Wir kennen den Beſitzer nicht.“ 

„Ich ſage Euch, der iſt ein Gentleman durch und 
durch und dazu ein großer Verehrer von Winnetou, den 
er ſchon einigemal geſehen hat. Er erzählt oft von ihm 
und von Old Shatterhand, die mit ihren beiden herr⸗ 
lichen Rappen — — —“ 

Er hielt wieder inne, warf einen Blick auf mein 
Pferd, das er noch gar nicht beachtet zu haben ſchien, 
und fuhr dann en und in freudigem Ton in ſeiner 
Rede fort: 

„Da ſpreche ich von Old Shatterhand und ſehe einen 


— 174 — 


Rappen, der dem Winnetous wie ein Ei dem andern 
gleicht! Ihr habt zwei Gewehre, Sir. Am Ende den 
Bärentöter und den Henryſtutzen? Ihr ſeid wohl gar 
Old Shatterhand?“ 

„Allerdings.“ 

„Dann, Sir, dann müßt Ihr meine Bitte erfüllen 
und mit mir zu Harbour kommen! Ihr glaubt gar nicht, 
was für eine große Freude Ihr ihm und ſeinen Leuten 
damit machen würdet! Ein Nachtlager in einer Farm 
iſt doch jedenfalls angenehmer als eines auf offener 
Prärie und unter freiem Himmel. Eure Pferde finden 
ein gutes Futter, das ſie vielleicht nötig haben, und Ihr, 
na, Ihr werdet auch ein beſſeres Eſſen haben, als Ihr 
da in der Savanne finden könnt.“ | 

Der Mann bat ſo herzlich; feine Einladung war 
ehrlich gemeint und er hatte recht. Unſeren Pferden war 
ein kräftiges Körnerfutter zu gönnen, und uns bot die 
Farm Gelegenheit, unſern faſt auf die Neige gegangenen 
Mundvorrat zu erneuern. Ich warf Winnetou, um ſeine 
Anſicht kennen zu lernen, einen fragenden Blick zu; er 
antwortete mit einem Senken der Augenlider und indem 
er dann ſeinen Blick auf den Oſagen richtete. Ich ver⸗ 
ſtand dieſe ſtumme und doch ſo beredte Weiſung und ſagte 
zu dem Cowboy: 

„Ihr ſeht, daß wir einen Gefangenen haben. Es iſt 
uns von großer Wichtigkeit, daß er uns nicht entkommt. 
Können wir darauf rechnen, daß man auf der Farm nichts 
unternehmen wird, ihn zu befreien?“ 

„Ich verſichere Euch, Sir,“ antwortete er, „daß er 
Euch bei uns grad ſo ſicher iſt wie im tiefſten Verlies 
einer alten Ritterburg! Und eure Ankunft wird den 
heutigen Tag zum Feſttag für Mr. Harbour machen.“ 

Wir ſtanden alſo im Begriff, die Stelle, an der wir 


— 175 — 


gehalten hatten, wieder zu verlaſſen. Matto Schahko war 
mit den Füßen an ſein Pferd gebunden, konnte es aber 
mit den Händen lenken, weil wir ihm die Arme frei⸗ 
gelaſſen hatten. Er hielt es zurück und zögerte, uns zu 
folgen. Ueber den Grund zu dieſem Verhalten befragt, 
erklärte er uns: 

„Der Häuptling der Waſaji wünſcht, Old Shatter⸗ 
hand und Winnetou etwas zu ſagen, bevor wir weiter⸗ 
reiten. 

„Er mag ſprechen!“ forderte ich ihn auf. 

„Ich weiß, ihr trachtet mir nicht nach dem Leben, 
ſondern werdet mich freilaſſen, ſobald wir ſo weit geritten 
ſind, daß es mir unmöglich wird, ſchnell heimzukehren 
und euch mit meinen Kriegern zu verfolgen. Ich habe 
Numbeh⸗grondeh den Befehl über die Söhne der Waſaji 
erteilt, weil ich nicht wollte, daß ſie euch folgen ſollten. 
Er war gegen den Kampf und gegen den Ueberfall der 
Bleichgeſichter; daß ich grad ihm den Befehl über⸗ 
laſſen habe und ihm dabei ſagen ließ, er werde ſchon 
wiſſen, was er zu tun habe, wird ihn meinen Willen 
erraten laſſen, daß er von allen Feindſeligkeiten abſehen 
ſoll. Werden Old Shatterhand und Winnetou mir dieſe 
meine Worte glauben?“ 

„Wir ſchenken dir weder Vertrauen noch Mißtrauen; 
wir werden dich prüfen. Ein Feind wird nicht ſo ſchnell 
zum Freund!” 

„So hört, was ich euch jetzt noch ſage! Wenn ich 
jetzt die Freiheit von euch zurückerhielte, ich würde doch 
nicht von euch gehen.“ 

„Uff!“ antwortete Winnetou. 

„Der Häuptling der Apatſchen mag ſich wundern; 
es iſt doch ſo, wie ich geſprochen habe: ich würde wirklich 
mit euch weiterreiten. Es wurde geſtern abend geſagt, 


— 176 — 


Tibo taka ſei jetzt Medizinmann der Naiini. Ich habe 
dazu geſchwiegen, um darüber nachzudenken. Heut bin 
ich zum Entſchluß gekommen: ich werde mit euch reiten, 
auch wenn ich frei geworden bin, denn ich will mir 
die Freundſchaft von Apanatſchka, dem Häuptling der 
Komantſchen, erwerben.“ 

„Warum das?“ 

„Wenn er mein Freund geworden iſt, wird er mir 
behilflich ſein, den Medizinmann der Naiini in meine 
Hand zu bekommen.“ 

Da warf Apanatſchka die Hand wie zum Schwur 


empor und rief aus: „Nie werde ich das tun, niemals!“ 


Ich ſtreckte meine Hand gegen ihn aus und rief in 
demſelben Ton: „Du wirſt es tun!“ 

„Niemals!“ behauptete er. „Ich haſſe ihn, aber er 
iſt mein Vater!“ 9 

„Er iſt es nicht.“ 

„So iſt doch ſeine Squaw meine Mutter!“ 

„Wer weiß? Du biſt ein geraubtes Kind. Tibo taka 
und Etters ſind die Räuber; das ſteht bei mir feſt. Ich 
glaube, Tibo wete iſt mitſchuldig an dem Raub. Gern 
bin ich bereit, mit dir und dem Häuptling der Oſagen 
zu den Naiini zu reiten, um den Medizinmann dieſer 
Indianer zu entlarven. Jetzt wollen wir nicht mehr 
darüber ſprechen, ſondern lieber weiterreiten!“ 


Der Cowboy ſetzte ſich als Führer an unſere Spitze, 


und wir folgten ihm. Schon nach einer halben Stunde 
erſahen wir aus dem kräftigeren Pflanzenwuchs, daß 
wir uns dem Fluß näherten. Sträucher und Bäume 
traten auf, erſt vereinzelt, dann in Gruppen, zwiſchen 
denen Rinder, Pferde und Schafe weideten. Wir erblickten 
ſogar mehrere große Maisanpflanzungen und andere 


— 177 — 


Felder, und dann lag das Gebäude vor uns, das uns 
heut beherbergen ſollte. 5 | 

Als ich es ſah, wäre ich, einer unbeſtimmten Regung 
folgend, am liebſten umgekehrt. Es lag da, ganz ähnlich 
wie Fenners Farm, nur ſehr viel weſtlicher und an einem 
andern Fluß. In Fenners Farm hatte mir der Tod 
gedroht, und hier durchfuhr mich ein, ich möchte ſagen, 
warnendes Empfinden, das, wenn ich ihm gehorchen 
wollte, mich am Betreten des Hauſes hindern mußte. 
Ich ſchrieb die Schuld der gleichen Lage der Farmen zu. 
Wenn man an einem Ort etwas Unangenehmes erlebt 
oder gar eine Gefahr beſtanden hat und kommt dann 
an einen andern Ort, der dem erſten ähnlich liegt und 
ſieht, ſo iſt es freilich begreiflich, wenn da infolge der 
böſen Erinnerung ein Gefühl aufſteigt, das zur Umkehr 
mahnt. | 

Ich konnte auf dieſe Empfindung keine Rückſicht 
nehmen, durfte nicht einmal von ihr ſprechen, wenn ich 
mich nicht der Gefahr ausſetzen wollte, ausgelacht oder 
wenigſtens mit Kopfſchütteln bedacht zu werden. Bell, 
der Cowboy, war uns eine Strecke vorausgeritten, um 
unſre Ankunft anzumelden. Darum fanden wir den 
Beſitzer der Farm zu unſerm Empfang bereit. Seine 
Familie beſtand aus ihm, ſeiner Frau, drei Söhnen 
und zwei Töchtern, lauter kräftigen, ſehnigen Hinter⸗ 
waldsgeſtalten, denen man es anſah, daß ſie ſich vor 
einigen Indianern nicht fürchteten und wohl auch nicht 
zu fürchten brauchten. Wir merkten es dieſen ſieben 
Perſonen an, daß wir ihnen wirklich willkommen waren. 
Ihre Freude war aufrichtig und hatte ſich auch den 
Hands“) mitgeteilt, die vor dem Hauſe ſtanden, neu⸗ 


9) Dienerſchaft, Angeſtellte. 
May, Old Surehand. II. 12 


— 178 — 


gierig, den berühmten Häuptling der Apatſchen kennen 
zu lernen. 

Die Farm glich mehr einer ſüdlichen Hazienda, nur 
daß ſie ganz aus Holz gebaut war; Steine ſind am 
Salmon⸗River eine Seltenheit. Die weite, aus ſtarken, 
hohen Planken beſtehende Umzäunung ſchloß einen großen 
Raum ein, an deſſen Nordſeite das Wohnhaus ſtand. 
. Die Südſeite war zum Schutz für das Vieh mit einem 
Dach verſehen. An den beiden andern Seiten lagen die 
einfachen Wirtſchaftsbauten und die Aufenthaltsräume 
für das Geſinde und die gewöhnlichen Gäſte. Außerhalb 
der Umzäunung gab es einige Korrals für die Pferde, 
Rinder und Schafe, dabei einen beſonderen für die Reit⸗ 
pferde Harbours und feiner Familienglieder. In diefer 
letzterwähnten Umfriedigung wurden auch unſere Pferde 
untergebracht und auf Winnetous und meinen Wunſch 
von zwei Peons!) bewacht. Wir wollten ſie der Gefahr, 
geſtohlen zu werden, nicht ausſetzen, der fie auf Fen⸗ 
ners Farm kaum entgangen waren. Das Wohnhaus 
beſtand aus drei Räumen. Die eine, vordere Hälfte, die 
über die ganze Breite des Hauſes, die Tür abgerechnet, 
ging, umſchloß das Wohnzimmer. Es hatte drei Fenſter, 
die mit Glasſcheiben verſehen waren. Die Möbel waren 
mit eigener Hand einfach und dauerhaft hergeſtellt. Jagd⸗ 
trophäen und Waffen hingen rundum an den Wänden. 
Die hintere Breite des Hauſes nahmen dann die Küche 
und die Schlafſtube ein, die an uns abgetreten werden 
ſollte. Wir nahmen das aber nicht an und erklärten, 
uns ſpäter bei offenen Fenſtern im Wohnzimmer nieder⸗ 
legen zu wollen. 

Nachdem der herzliche Empfang vorüber war und 
die Peons die Pferde unter unſern Augen in dem 


5) Pferdeknechte. 


— 179 — 


erwähnten Korral untergebracht hatten, erforderte es 
unſere Sicherheit, zu fragen, ob außer den Bewohnern 
der Farm noch andere Leute anweſend ſeien. Der Beſitzer 
gab uns zur Antwort: 

„Es kam vor einer Stunde ein Arzt mit einer 
Kranken an, die er nach Fort Wallace zu begleiten hat.“ 

„Woher kommen ſie?“ erkundigte ich mich. 

„Aus Kanſas⸗City. Sie leidet an einem unheilbaren 
Uebel und will zu ihren Anverwandten zurück. Ihre 
Krankheit iſt eine krebsartige und hat das Geſicht ſo 
zerſtört, daß ſie einen dichten Schleier tragen muß. Sie 
kamen ohne Begleitung auf zwei Pferden mit einem 
Packpferd.“ 1 

„So iſt der Arzt entweder ein ſehr kühner oder ein 

ſehr unvorſichtiger Mann. Ich bedaure die Dame, eine 
ſo lange Reiſe im Sattel zurücklegen zu müſſen. Es gibt 
doch andere Gelegenheiten.“ 
„Das ſagte ich dem Arzt auch, aber er antwortete 
mir ganz richtig, die häßliche und jeden Mitreiſenden 
abſtoßende Krankheit ſeiner Pflegebefohlenen habe ihn 
leider zu dieſem einſamen Ritt gezwungen.“ 

„Dagegen gibt es freilich nichts zu ſagen. Wann 
wollen ſie fort?“ 

„Morgen früh. Sie waren beide ſehr ermüdet, haben 
ſchnell etwas gegeſſen und ſich dann in das Seitenhaus 
führen laſſen, um zu ſchlafen. Ihre Pferde ſind hinten 
im Hof untergebracht worden.“ 

Da vor dem Hauſe keine Sitze angebracht waren, 
gingen wir in die Stube, wo uns ſchnell ein tüchtiges 
Eſſen aufgetragen wurde. Der Wirt nebſt Frau und 
Kindern mußten ſich zu uns ſetzen, und während wir 
aßen, kam bald eine Unterhaltung von der Art zu ſtande, 
die man mit dem Wort Lagerfeuergeſpräch zu bezeichnen 


— 180 — 


pflegt. Der Häuptling der Oſagen ſaß mit bei uns, 
zwiſchen Winnetou und mir, und zwar als einſtweilen 
freier Mann, denn wir hatten ihm alle Feſſeln abge⸗ 
nommen. Er nahm das mit ſtolzem Dank als einen 
Beweis unſeres Vertrauens hin, und ich war überzeugt, 
daß er uns keine Veranlaſſung geben werde, dieſe Maß⸗ 
regel, mit der freilich Treskow nicht einberſtanden war, 
zu bereuen. | 

Als es draußen dunkel zu werden begann, wurde 
eine große Lampe angezündet, die den ganzen, aus⸗ 
gedehnten Raum erleuchtete. Und wie überall trau⸗ 
licher Lampenſchein die Lippen öffnet und die Zungen 
löſt, fo wurde auch unſer Geſpräch von Viertelſtunde 
zu Viertelſtunde immer angeregter. Es wurden Erleb⸗ 
niſſe und Begebenheiten erzählt, die der geiſtreichſte Schrift⸗ 
ſteller ſich nicht erſinnen könnte, denn das Leben iſt und 
bleibt der phantaſiereichſte Dichter. Beſonders war es 
wieder Dick Hammerdull, der durch feine draſtiſche Dar⸗ 
ſtellungsweiſe uns alle zum Lachen zwang; das konnte 
aber die eine, große Lücke nicht ſchließen, auf deren Aus⸗ 
füllung der Farmer und ſeine Angehörigen vergeblich 
hofften: ſie wünſchten, daß auch Winnetou etwas aus 
ſeinem reichbewegten Leben erzählen möge, doch fiel es 
dem ſchweigſamen Apatſchen nicht ein, zur bloßen Unter⸗ 
haltung anderer die Rolle des Erzählers zu übernehmen. 
Er war ein Mann der Tat. Zwar war ihm auch die 
Gabe der Rede im höchſten Grade verliehen, aber er 
ſchöpfte nur dann aus dieſem reichen Quell, wenn es 
die Notwendigkeit erforderte und es ſich um Wir 
kungen handelte, die außer ihm kein anderer zu erzielen 
vermochte. Dann aber war ſeine bilderreiche, gewaltige 
Rede mit einem mächtig dahinbrauſenden Strom zu 
vergleichen, der jede andere Logik mit ſich fortriß und 


— 11 — 


endlich ſtets in ſegensreicher Weiſe die auf ihn wartenden 
Kanäle füllte, um die Dürre in Wachstum und die Oede 
in Fruchtbarkeit zu verwandeln. 

Auch Harbour erzählte ſehr feſſelnd. Er war in 
früherer Zeit weit in den Staaten herumgekommen, hatte 
viel Seltſames erlebt und endlich nach langem Hoffen 
ſein Glück durch eine gelungene und, wie ich hinzufüge, 
ehrliche Spekulation gemacht. Hierauf war er ſo klug 
geweſen, das abenteuerliche Leben aufzugeben und ſich 
zunächſt verſuchsweiſe anderwärts und vor zwei Jahren 
endgültig hier am Salmon⸗River ein feſtes Heim zu 
gründen. 

Was mir am meiſten an ihm gefiel, das war ſein 
heiteres, feſtes Gottvertrauen, das ihn überallhin begleitet 
hatte und nie von ihm gewichen war. Ebenſo freute es 
mich von ihm, daß er nicht die hier landläufige Anſicht 
über die indianiſche Raſſe hatte. Er brachte zahlreiche 
Beiſpiele von roten Männern, deren Charakter und 
Lebensführung jedem Weißen hätten als Muſter dienen 
können. Und als Treskow dennoch behauptete, daß die 
Indianer unfähig zur Ziviliſation und zum Chriſtentum 
ſeien, wurde er zornig und richtete die allerdings ſchwer⸗ 
wiegende Frage an ihn: 

„Was verſteht Ihr denn eigentlich unter Ziviliſation 
und Chriſtentum? Kennt Ihr beide ſo genau, wie es 
den Anſchein hat, ſo ſagt mir doch einmal, was ſie dem 
roten Mann gebracht haben! ‚An ihren Früchten ſollt 
Ihr ſie erkennen, ſteht in der heiligen Schrift. Nun 
zeigt mir gefälligſt die Früchte, die den Indsmen von 
den ſo ſehr ziviliſierten und chriſtlichen weißen Gebern 
geſchenkt worden ſind! Geht mir mit einer Ziviliſation, 
die ſich nur von Länderraub ernährt und im Blut 
watet! Wir wollen da gar nicht etwa nur von der 


— 182 — 


roten Raſſe reden, o nein! Schaut in alle Erdteile, 
mögen ſie heißen, wie ſie wollen! Wird da nicht überall 
und allerwärts grad von den Ziviliſierteſten der Zivili⸗ 
ſierten ein fortgeſetzter Raub, ein gewalttätiger Länder⸗ 
diebſtahl ausgeführt, durch den Reiche geſtürzt, Natio⸗ 
nen vernichtet und Millionen und Abermillionen von 
Menſchen um ihre angeſtammten Rechte betrogen werden? 
Wenn Ihr ein guter Menſch ſeid, und der wollt Ihr 
doch gewiß wohl ſein, ſo dürft Ihr Euer Urteil nicht 
nach der Anſicht der Eroberer richten, ſondern nach den 
Meinungen und Gefühlen der Beſiegten, der Unterdrückten, 
Unterjochten. Und wenn Ihr mir da entgegnet, es habe 
Eroberer und Gründer von neuen Reichen gegeben, ſo 
lange die Erde Menſchen trägt, ſo antworte ich: das 
waren Mazedonier, Griechen, Römer, Perſer, Mongolen, 
Hunnen, alſo Heiden, die keinen Chriſtus kannten, der 
als zweithöchſtes Gebot von uns verlangt: ‚Du follft 
deinen Nebenmenſchen lieben wie dich ſelbſt!“ Haben 
dieſe Heiden ihre blutigen Schwerter als mordgierige 
Menſchenſchnitter über den Erdkreis getragen, ſo gibt 
es für uns Chriſten eine ganz andere Art der Erobe⸗ 
rung. „Ich bringe Euch den Frieden; ich laſſe Euch 
meinen Frieden!‘ hat der Weltheiland gejagt; nun 
tragt als Chriſten dieſen Frieden hin in alle Lande und 
zu allen Völkern! Steckt, wie Petrus, Eure Schwerter 
in die Scheide; Eure einzige Waffe ſoll die Liebe 
ſein, und auf Eurem Banner darf man nur das Wort 
Verſöhnung leſen. Wie es einen Menſchen gab, der die 
erſte Mordwaffe erfand, ſo wird es dereinſt, ſo wahr 
ein Himmel über uns iſt, auch einen Menſchen geben, 
der die letzte Waffe zwiſchen ſeinen Fäuſten zerbricht. 
Wie lange aber ſoll es währen, bis dies geſchieht? Den 
Befehl dazu hat Chriſtus ſchon vor nun faſt zweitauſend 


— 183 — 


Jahren gegeben; ſollen noch Jahrtauſende verſtreichen, 
ehe er in Erfüllung geht? Ich wiederhole es noch ein⸗ 
mal: Sprecht mir ja nicht von Eurer Ziviliſation und 
von Eurem Chriſtentum, ſo lange noch ein Tropfen 
Menſchenblut durch Stahl und Eiſen, durch Pulver und 
Blei vergoſſen wird!“ 

Der wackere Farmer lehnte ſich in ſeinen Stuhl 
zurück und ſchwieg. Niemand wagte es, auch nur eine 
Silbe der Entgegnung vorzubringen. Der erſte, der 
die eingetretene Stille unterbrach, war mein ſonſt ſo 
zurückhaltender Winnetou. Er griff nach der Hand Har⸗ 
bours, um ſie herzlich zu drücken, und ſagte: 

„Mein weißer Bruder hat genau die Worte geſprochen, 
die in meiner Seele zu leſen ſind. Seine Rede war die 
Rede eines wahren Prieſters der Chriſten. Aus welcher 
Quelle hat er die Gedanken geſchöpft, die leider die 
Gedanken nur weniger Bleichgeſichter ſind? Ich bitte ihn, 
mir dies zu ſagen!“ 

„Dieſer Quell entſprang dem Herzen nicht eines 
weißen, ſondern eines roten Mannes, der allerdings ein 
Prieſter und Verkündiger des wahren Chriſtentums war. 
Von allen weißen Lehrern und Rednern, die ich hörte, 
kann ſich kein einziger mit ihm vergleichen. Ich traf ihn 
zum erſtenmal jenſeits der Mogollon⸗Berge am Rio 
Puerco. Die Navajos hatten mich gefangen genommen 
und für den Marterpfahl beſtimmt; da erſchien er unter 
ihnen und ergoß eine ſo gewaltige Rede über ſie, daß 
ſie mich freigaben, als ſeine letzten Worte noch kaum 
verklungen waren. Er war ein großer Geiſt und auch 
an Körper ein wahrer Goliath, der ſich ſelbſt vor dem 
grauen Bär nicht fürchtete.“ 

„Uff! Das iſt kein anderer Mann als J⸗kwehtſi' pa 
geweſen!“ 


— 184 — 


„Nein. Der Häuptling der Apatſchen wird ſich 
irren. Er wurde von den Navajos Sikis⸗ſas genannt.“ 

„Das iſt ganz derſelbe Name. Er war ein Moqui, 
und die zwei Namen bedeuten in beiden Sprachen 
dasſelbe, nämlich Großer Freund‘. Von den Weißen in 
Neu⸗Mexiko und andern ſpaniſch ſprechenden Leuten wurde 
er Padre Diterico genannt.“ 

„Das ſtimmt; das ſtimmt! Alſo Winnetou hat ihn 
auch gekannt?“ 

„Nein. Aber Intſchu⸗ chung, mein Vater, war ſein 
Freund und hat mir oft von ihm erzählt. Seine Seele 
gehörte dem großen, guten Manitou, ſein Herz der unter⸗ 
drückten Menſchheit und ſein Arm jedem weißen oder roten 
Mann, der ſich in Gefahr befand oder ſonſt der Hilfe 
bedurfte. Seine Augen ſtrahlten nur Liebe; ſeinem Wort 
konnte kein Menſch widerſtehen, und alle ſeine Gedanken 
waren nur darauf gerichtet, Glück und Heil um ſich her 
zu verbreiten. Er war Chriſt geworden und hatte zwei 
Schweſtern, die er auch zu Chriſtinnen machte. Der gütige 
Manitou hatte dieſen Schweſtern große Schönheit ver⸗ 
liehen, und viele, viele Krieger ſetzten ihr Leben daran, 
ſich ihre Liebe zu erringen, doch war das ſtets vergeblich. 
Die ältere wurde Tahua) und die jüngere Zofbela?) 
genannt. Sie waren einſt mit ihrem Bruder ver⸗ 
ſchwunden, ohne daß jemand wußte, wohin, und kein 
Menſch hat ſie jemals wieder geſehen.“ 


„Kein Menſch, wirklich keiner?“ fragte der Farmer. 


„Keiner!“ antwortete Winnetou. „Mit dem ‚Himmel‘ 
und der ‚Sonne‘ gingen die Hoffnungen der roten Krieger 
verloren, und in J⸗kwehtſi'pa iſt dem Chriſtentum ein 
Prediger verſchwunden, wie es von einem Meer bis zum 


1) Sonne. 
2) Himmel, deides Moquiſprache. 


1 


— 185 — 


andern kaum wieder einen gegeben hat. Er war ein 
Freund und Bruder, ein treuer Berater von Intſchu 
tſchuna, meinem Vater. Dieſer hatte ihn tief in ſein 
Herz geſchloſſen und hätte viel darum gegeben und 
gewiß ſein Leben dafür gewagt, zu erfahren, was 
für ein Unfall die drei Geſchwiſter hinweggerafft hat; 
denn nichts anderes als ein Unglück kann ſchuld daran 
ſein, daß ſie verſchwunden und nicht wiedergekehrt ſind.“ 

Der Farmer war den Worten Winnetous mit großer, 
auffälliger Aufmerkſamkeit gefolgt: jetzt fragte er: 

„Wenn der frühere Häuptling der Apatſchen ſo 
große Opfer dafür gebracht hätte, würde auch der jetzige 
dazu bereit ſein?“ | 

„Ja, ich bin bereit, im Namen und im Geiſt meines 
Vaters zu handeln, deſſen Seele den Großen Freund‘ 
liebte.“ 

„So iſt es ein wunderbarer, glücklicher Zufall, der 
Euch heut zu mir führte. Ich bin nämlich imſtand, Euch 
Auskunft zu erteilen.“ 

Um die große Wirkung dieſer Worte zu bezeichnen, 
brauche ich nur zu ſagen, daß Winnetou, dieſes Muſter 
von Ruhe und Beherrſchung aller ſeiner Regungen, von 
feinem Stuhle nicht etwa aufjtand, ſondern aufſchnellte, 
wie von einer Spannfeder emporgetrieben, und wie atem⸗ 
los ausrief: 

„Auskunft geben? Ueber J⸗kwehtſi'pa, über Padre 
Diterico, den wir alle verloren glaubten? Iſt das wahr? 
Iſt das möglich? Das kann nur auf einem Irrtum, 
einer Täuſchung beruhen!“ 

„Es iſt keine Täuſchung. Ich kann ſichere Auskunft 
erteilen; aber leider tft es keine fo erfreuliche, wie ich wohl 
wünſchte. Er lebt nicht mehr.“ 

„Uff! Er iſt tot?“ 


323 


— 186 — 


„Ja. Er wurde ermordet. Sonſt weiß ich nichts von 


allem, was zwiſchen ſeinem Verſchwinden und ſeinem 
Tode geſchehen iſt; ich kann nicht einmal ſagen, wie er 
ermordet wurde, und wer ſein Mörder iſt.“ 

Da gab ſich Winnetou einen Ruck, daß ſein hinten 
lang herabfallendes, prächtiges Haar nach vorn über 
ſeine Achſel flog und ihm wie ein Schleier das Geſicht 
bedeckte. 

„uff, uff! / ertönte es aus dieſem Schleier heraus. 
„Ermordet iſt er worden, ermordet! Ein Mörder hat 
uns um das koſtbare Leben Jekwehtſi pas gebracht! 
Beweiſe es!“ 

Der Apatſche warf ſein Haar jetzt mit beiden Händen 
nach hinten zurück. Seine Augen ſprühten Blitze, und 
ſein Mund war geöffnet, als ob er die Antwort des 
Farmers förmlich trinken wolle. 

„Ich habe ſein Grab geſehen,“ ſagte dieſer. „Hört 
mir zu!” 

Winnetou ſank langſam in den Seſſel zurück und 
holte laut und tief Atem. 

Harbour nahm einen Schluck aus der Teetaſſe, die 
er vor ſich ſtehen hatte, und erkundigte ſich: „Iſt der 
Häuptling der Apatſchen ſchon einmal oben in dem Park 
von San Luis geweſen und iſt ihm die nn der 
. bekannt?“ 

„Ja.“ 

„Kennt er den lebensgefährlichen Bergpfad, der von 
da aus nach dem Devils⸗Head führt?“ 

„Ich kenne weder den Weg noch den Devils⸗ Head, 
werde aber beides gewiß finden. Howgh!“ 


„Dort oben war es, wo ich den Entſchluß faßte, 


dem wilden Weſten und dem wilden Leben zu entſagen. 
Ich war verheiratet und hatte ſchon meine beiden älteſten 


— 19 — 


Boys hier, die damals freilich noch unwichtige kleine 
Kerle waren. Auch hatten wir unſer gutes Auskommen; 
aber wen das Leben des Weſtens einmal gepackt hat, 
den gibt es nicht leicht wieder her, und ſo kam es, daß 
ich Frau und Kinder verließ — Gott ſei Dank, zum 
letztenmal! — und mich einigen Männern anſchloß, die 
hinauf ins Kolorado wollten, um dort nach Gold zu 
proſpekten). Wir kamen auch glücklich hinauf, aber je 
weiter, deſto mehr ſehnte ich mich nach Weib und Kindern 
zurück. Ich ſah jetzt ein, daß es nicht dasſelbe iſt, ob 
man als lediger oder als verheirateter Mann dort im 
Gebirge herumklettert und ſich auf hundert Gefahren 
gefaßt machen muß. Wir waren urſprünglich vier Mann 
geweſen, aber nur zu dritt hinaufgekommen, weil uns 
einer ſchon am Fuße der Mountains aus Kleinmut ver⸗ 
laſſen hatte. Ich will keine lange Geſchichte erzählen, 
ſondern mich kurz faſſen. Wir ſuchten unter unbe⸗ 
ſchreiblichen Anſtrengungen und Entbehrungen über zwei 
Monate lang, ohne eine Spur von Gold zu finden; 
da ſtürzte der von uns, der ſich am beſten aufs Pro⸗ 
ſpekten verſtand, von einem Felſen und brach den Hals. 
Nun waren wir nur noch zwei und dazu überzeugt, 
daß wir nun noch weniger finden würden als vorher, 
das heißt: früher nichts und jetzt wahrſcheinlich gar 
nichts. Das traf auch richtig ein. Wir hatten kein 
Glück in der Jagd und hungerten darum viel. Unſere 
Anzüge zerriſſen, und die Stiefel fielen von den Füßen. 
Es war ein Elend, wie es ſchöner nicht im Buch 
ſtehen kann. Ich wurde ſchwach, mein Kamerad noch 

viel ſchwächer und ſchließlich gar krank. Das war ſehr 
ſchlimm für ihn, denn es koſtete ihn das Leben. Es 
hatte mehrere Tage lang geregnet, und wir mußten über 


1) Trapper⸗ und Digger⸗Ausdruck für „Goldſucher“. 


— 18 — 


ein Wildwaſſer, das bedenklich angeſchwollen war. Ich 
wollte warten, bis es ſich verlaufen hatte: er aber 
glaubte, glücklich hinüberzukommen, und ſo mußte ich 
ihm den Willen tun. Er wurde mit fortgeriſſen. Nach 
langem Suchen fand ich ihn ertrunken und zerſchmettert 
in tiefem Grunde unten. Ich begrub ihn, wie wir den 
andern auch begraben hatten: drei Fuß tief, mit kalter 
Erde und einem warmen, gut gemeinten Gebet bedeckt. 


Dann war ich ganz allein und hatte keine andere Wahl 


mehr, als die halb nackten, wund gelaufenen und auf⸗ 
geriſſenen Füße heimwärts zu lenken. Ich kam mit 
meinen geſchwächten Kräften nur ſehr langſam vorwärts 
und war zum Sterben matt, als ich nach einigen Tagen 
den Devils⸗Head erreichte. Ich war zwar noch nie da⸗ 
geweſen, wußte aber, daß er es war. Der Felſen iſt 
nämlich in ſeiner Form einem Teufelskopf ſo ähnlich, 
als ob an dieſer Stelle der Satan einem Bildhauer 
Modell geſeſſen hätte. Ich warf mich in das feuchte 
Moos nieder und hätte am liebſten weinen mögen. Waſſer 
gab es ja, aber zu eſſen hatte ich nichts, denn mein 
Gewehrſchloß war entzwei; es war mir unmöglich, ein 
Wild zu erlegen, und ſo hatte ich ſchon ſeit zwei Tagen 
keinen Biſſen über die Lippen gebracht. Die Mattigkeit 
überwältigte mich, und ich ſchloß die Augen, um zu 
ſchlafen und vielleicht nicht wieder aufzuwachen. Aber 105 
öffnete ſie noch einmal, ohne daß ich es eigentlich 
wollte. Ich hatte mich inzwiſchen auf die Seite gedreht, 
und ſo fiel mein müder Blick auf eine andere Stelle des 
Felſens. Es gab da Buchſtaben, die mit dem Meſſer oder 
einem ähnlichen Werkzeug eingegraben worden waren. 
Das regte mich an. Es war mir, als ob ich plötzlich 
wieder Kräfte bekommen hätte; ich ſtand auf und ging 
hin, die Schrift zu leſen. Nun ſah ich, daß es nicht 


— 189 — 


nur Buchſtaben, ſondern auch Figuren gab. Von einigen 
wußte ich nicht, was ſie zu bedeuten hatten, doch waren 
es menſchliche Figuren, die über und rechts und links 
von einem in den Fels gemeißelten Kreuze ſtanden. Unter 
dieſem Kreuz war deutlich zu leſen: ‚An dieſer Stelle 
wurde der Padre Diterico von J. B. aus Rache an 
feinem Bruder E. B. ermordet.“ Darunter war eine 
Sonne zu ſehen, von der links ein E und rechts ein B 
ſtand.“ 

Als der Erzähler bis hierher gekommen war, wurde 
er von Winnetou unterbrochen: „Kennt mein Bruder 
Harbour vielleicht einen Menſchen, deſſen Namen mit dem 
Buchſtaben J. B. beginnt?“ 

„Solcher Leute wird es wahrſcheinlich tauſende 
geben; ich kenne keinen.“ 

„Wo war das Grab? Im harten Fels doch nicht?“ 

„Nein, ſondern dicht daran. Der Hügel war mit 


Moos bewachſen und ſchien gepflegt zu ſein.“ 


„In der Einöde da oben? Uff!“ 

„Das iſt noch gar nicht verwunderlich. Unbegreif⸗ 
lich aber iſt, was mir dann geſchah. Ihr könnt Euch 
denken, Meſch'ſchurs, wie mir zu Mute wurde, als ich 
hier ſo unerwartet das Grab des Paters fand. Meine 
Schwäche kehrte verdoppelt zurück; ich ſtieß einen Schrei 
aus und fiel um. Als ich wieder erwachte, war faſt ein 


ganzer Tag vergangen, denn es war der Vormittag des 


nächſten Tages. Ich konnte vor Mattigkeit und Hunger 
kaum aufſtehen. Ich ſchleppte mich zur nahen Quelle 
und trank, dann kroch ich in das Gebüſch, wo ich zum 
Glück ein paar eßbare Mushrooms!) fand, die ich fo 
verzehrte, wie ſie waren; dann ſchlief ich wieder ein. 
Als ich abermals erwachte, war der Abend nahe; neben 


j Pilzart. 


— 190 — 


mir lag ein halbes, gebratenes Bighorn!). Wer hatte 
es hingelegt? Das war gewiß eine nicht unwichtige 
Frage; aber ich legte fie mir nicht mehr als einmal vor, 
dann griff ich zu und aß, aß und aß, bis ich ſatt war 
und abermals einſchlief. Erſt am nächſten Morgen 
erwachte ich geſtärkt wieder. Der Reſt des Fleiſches lag 
noch da. Ich verſteckte es und machte mich auf, nach 
dem Geber zu ſuchen; aber ich fand keine Spur, und auch 
all mein Rufen war umſonſt. Da kehrte ich zum Grab 
zurück, nahm das Fleiſch aus dem Verſteck und machte 
mich cuf den Weg, der hinunter nach der Foam⸗Cascade 
führt. Er iſt ſehr gefährlich; ich legte ihn aber glücklich 
zurück und fand am folgenden Tag, eben als mein Fleiſch 
auf die Neige gegangen war, einen Jäger, der ſich meiner 
annahm. Wie ich dann vom Park herunter und heim 
gekommen bin, das iſt hier Nebenſache. Die Hauptſache 
habe ich erzählt, und der Häuptling der Apatſchen wird 
meiner Behauptung, daß der Padre Diterico ermordet 
worden iſt, Glauben ſchenken.“ 

Winnetou hielt den in die Hand geſtützten Kopf 
tief geſenkt, ſo daß ich ſein Geſicht nicht beobachten konnte; 
als er ihn dann hob, ſah ich noch immer den Ausdruck 
des Zweifels in ſeinen Zügen liegen. Er richtete einen 
fragenden Blick auf mich, und ich antwortete auf dieſe 
ſtille Aufforderung: 

„Meines Dafürhaltens unterliegt es keinem Zweifel, 
daß der Mord wirklich geſchehen iſt.“ 

„So glaubt mein Bruder Shatterhand an das Grab 
und an die Schrift?“ fragte der Apatſche. 

„Ja. In dem Grab liegt der, den du meinſt!“ 

„So hat mein Bruder Shatterhand wohl noch 
beſondere Beweiſe? Winnetou ſieht ihm an, daß er 


1) Dickhornſchaf. 


BE 


— 191 — 


nachdenkt und Berechnungen macht. Beziehen ſie ſich 
auf das Grab im Gebirge?“ 

„Ja. Unſer gaſtfreundlicher Mr. Harbour hat mir 
weit mehr erzählt, als er ahnt. Ich habe endlich den ſo 
lange vergeblich geſuchten Wawa Derrick gefunden. Es 
ift J⸗kwehtſi' pa.“ 

„uff!“ 

„Du wirſt dich noch mehr wundern über das, was 
ich dit weiter ſage. Tokbela, die jüngere Schweſter des 
Padre, iſt Tibo wete, die Squaw des Medizinmannes 
der Naiini.“ 

„Uff!“ 

„Und ferner kann ich dir ſagen, daß Tahua, die 
ältere Schweſter des Padre, vielleicht auch noch lebt.“ 

„Deine Gedanken können Wunder tun; ſie wecken 
Tote auf!” 

„Du haſt gehört, daß unter der Grabinſchrift eine 
Sonne eingemeißelt war. Die ältere Schweſter hieß 
Tahua, d. i. Sonne; ſie hat das Grab errichtet und das 
Mal hergeſtellt, alſo noch gelebt, als er ermordet worden 
war.“ 

„Uff! Dieſer Gedanke iſt ſo einfach und richtig, daß 
ich mich wundere, nicht ſelbſt darauf gekommen zu ſein! 
Und Tahua — ſie lebt noch — das halb gebratene Big⸗ 
horn war von ihr?“ 

„Ja. Jeder Geber des Fleiſches, der nicht zu dem 
Grab, alſo zu dem Mord, in Beziehung ſteht, hätte ſich 
unbedenklich zeigen dürfen; dieſer aber hat ſich nicht ſehen 
laſſen, folglich ſteht er in irgend einem Verhältnis zu der 
verbrecheriſchen Tat.“ 

„Man könnte doch auch annehmen, daß der Mörder 
es geweſen ſei, denn dieſer iſt es, der ſich am allerwenig⸗ 
ſten am Schauplatz des Verbrechens zeigen darf,“ warf 


— 192 — 


Treskow ein. „Man weiß, daß ein Mörder immer 
wieder nach dem Ort ſeiner Tat gezogen wird.“ 

„Das gebe ich zu; aber der Spender oder die 
Spenderin des Fleiſches verrät ein barmherziges Gemüt, 
ein mildtätiges Herz. Wie ſtimmt das mit den Eigen⸗ 
ſchaften überein, die man einem Mörder zuſchreiben muß 
und die ganz entgegengeſetzter Art ſind?“ 

„So meint Old Shatterhand wirklich, daß es Tahua 
geweſen iſt?“ enigegenete jetzt wieder Winnetou. „Welchen 
Grund hätte ſie, ſo im Verborgenen zu leben, da ſie doch 
weiß, wie viele Freunde ſich in der fernen Heimat um ſie 
grämen?“ 

„Das iſt vielleicht ein Geheimnis, das ich jetzt noch 
nicht ergründen kann. Es braucht aber nicht notwendig 
eins zu ſein. Grad weil ein Mörder gewöhnlich zum 
Schauplatz ſeiner Tat zurückgezogen wird, bleibt ſie an 
Ori und Stelle, um ihn da zu erwarten! Vielleicht auch 
iſt ſie nicht in die Heimat zurückgekehrt, weil ſie von 
ihrer Familie zurückgehalten wird.“ 

„Familie? Meint mein Bruder, daß ſie verheiratet 
ſein könne?“ 

„Warum nicht? Wenn die jüngere Schweſter die 
Squaw eines Mannes iſt, kann die ältere doch noch viel 
eher geheiratet haben!“ ö 

„Ja; aber es gibt einen Umſtand, der Eure Berech⸗ 
nungen zu ſchanden macht, ſo ſcharfſinnig ſie auch ſind,“ 
warf Treskow ein. 

„Welcher iſt das?“ 

„Harbour iſt ein Freund des Padre geweſen; er hat 
auch ſeine Schweſter gekannt und fie ihn ebenſo. Nicht?“ 

„Ja.“ 

„Ei it am Grab vor Hunger ngen und hat 
aus einer unbekannten Hand Fleiſch bekommen. Wenn 


— 193 — 


Tahua, die Schweſter des Padre, es geweſen wäre, die 
es ihm gegeben hat, fo hätte fie ſich vor ihm, ihrem 
Freund, nicht verſteckt, ſondern ihn im Gegenteil perſön⸗ 
lich in Schutz genommen und verpflegt.“ 

„Sie fürchtete, von Harbour erkannt zu werden, und 
wünſchte dies zu vermeiden.“ 

„Aber eine ſchwache Squaw wird doch nicht ein ſo 
einſames, beſchwerliches und verlaſſenes Leben da oben 
in den Rocky Mountains führen!“ 

„Iſt ſie allein oben? Iſt nicht grad in dieſer 
Beziehung ein großer Unterſchied zwiſchen einer abgehär⸗ 
teten Indianerin und einer weißen Frau?“ 

„Das ſtimmt. Ihr habt für alle meine Entgegnungen 
eine Antwort, die ich gelten laſſen muß.“ 

„Und dennoch ſpreche ich weniger Behauptungen als 
vielmehr Vermutungen aus. Unſer Ziel iſt ja bis heut 
die Foam⸗Cascade geweſen. Kommen wir hinauf, ſo 
beſuchen wir das Grab, und dann wird es ſich wahr⸗ 
ſcheinlich finden, welche meiner Gedanken richtig und 
welche falſch geweſen ſind.“ 

„Ja, wir ſuchen das Grab auf,“ pflichtete mir Win⸗ 
netou bei. „Wir müſſen und werden Spuren des Mordes 
und des Mörders finden, ſelbſt nach ſo langer Zeit. Wehe 
ihm, wenn wir ihn dann faſſen! Ich habe meinem 
Bruder Shatterhand nie widerſprochen, wenn er ſeinen 
milden Sinn walten ließ; hier aber kenne ich keine 
Gnade!“ 

Dieſe Worte zeigten wieder einmal, was für ein 
wunderbarer, unvergleichlicher Menſch Winnetou war. Er 
war überzeugt, noch nach mehr als zwanzig Jahren eine 
Spur des Mörders zu entdecken. Ich traute ihm das 
zu, obwohl andere darüber lächeln mögen. Selbſt wenn 
ſich alle anderen Nachforſchungen als vergeblich erwieſen, 
Man. Old Surehand. II. 13 


Br. 


— 194 — 


hätte man ſich durch das Oeffnen des Grabes einen 
Fingerzeig verſchaffen können. Glücklicherweiſe war es 
mir möglich, ſeine Abſichten ſchon jetzt durch einige 
weitere Bemerkungen zu unterſtützen, indem ich, ihm 
beiſtimmend, erklärte: 

„Auch ich bin in dieſem Fall bereit, die größte 
Strenge walten zu laſſen. Ich hege übrigens die feſte 
Ueberzeugung, daß wir das Grab nicht vergeblich beſuchen 
werden. Einer der Mörder iſt ſchon auf dem Weg hinauf.“ 

„Uff! Wer iſt das?“ 

„Douglas, der ſogenannte General.“ 

„Uff, uff! Dieſer Menſch ſoll auch am Mord da oben 
beteiligt geweſen ſein? Wie kommt Old Shatterhand auf 
dieſen Gedanken?“ | 

Es wird noch in Erinnerung fein, daß der ‚General‘ 
damals auf Helmers Farm einen Ring verloren hatte, 
der mir übergeben worden war!). Ich hatte ihn an 
meinen Finger geſteckt und trug ihn noch heut. Jetzt zog 
ich ihn herunter und reichte ihn dem Apatſchen mit den 
Worten hin: 

„Mein Bruder wird dieſen Ring noch von Helmers 
Home her kennen. Er mag die Buchſtaben betrachten, die 
auf der Innenſeite zu leſen ſind.“ 

Er nahm den Ring in Augenſchein und ſah E. B. 
5. VIII. 1842. Dann gab er ihn dem Farmer und ſagte: 

„Damit unſer Bruder Harbour erfahre, daß wir 
ſchon jetzt auf der Fährte der Mörder ſind, mag er ein⸗ 
mal dieſe Schrift mit der am Felſen des Grabes ver⸗ 
gleichen!“ 

Der Angeredete folgte dieſer Aufforderung und rief 
aus: 
„All devils! Das iſt ja ganz dasſelbe E. B., das ich 


) Siehe Old Surehand Bd. I, letztes Kapitel. 


— 195 — 


dort an jenem Felſen ſogar zweimal gefunden habe! Und 
der Name des Wade hatte auch ein B., das zwar noch 
einen — — —“ 

Was er weiter ſagte, hörte ich nicht; ich gab nicht 
acht darauf, weil meine Aufmerkſamkeit von etwas 
anderem in Anſpruch genommen wurde. Der Farmer ſaß 
nämlich von mir aus grad gegen das eine Fenſter; da 
meine Augen auf ihn gerichtet waren, kam auch dieſes 
Fenſter mit in meinen Geſichtskreis, und da erblickte ich 
den Kopf eines Mannes, der draußen ſtand und herein⸗ 
ſah. Sein Geſicht war hell, wie das eines Weißen, und 
wollte mir bekannt vorkommen. Dieſen Mann hatte ich 
gewiß ſchon einmal geſehen, nur fiel mir nicht gleich ein, 
wo dies geweſen war. Eben wollte ich die Anweſenden 
auf den unberufenen Lauſcher aufmerkſam machen, als der 
neben mir ſitzende Matto Schahko haſtig den Arm aus⸗ 
ſtreckte und mit ſchallender Stimme ſchrie: 

„Tibo taka! Da draußen am Fenſter ſteht Tibo takal“ 

Alle, die dieſen Namen kannten, ſprangen auf. Ja, 
es war der Medizinmann der Naiini! Sein Geſicht 
ſah heut nicht rotbraun aus, ſondern hell, wie das 
eines Weißen. Das war der Grund, daß ich ihn nicht 
ſofort erkannt hatte. Ein ſolcher Feind am Fenſter 
und wir hier in der Stube, alle hell beleuchtet! Der 
Schuß des alten Wabble auf Fenners Farm fiel mir ein, 
und ich rief: 

„Das Licht ſchnell aus! Er könnte ſchießen!“ 

Noch hatte ich dieſe Warnung nicht ganz ausgeſpro⸗ 
chen, ſo klirrte die zerbrechende Fenſterſcheibe, und die 
Mündung eines Gewehrs erſchien. Mit einem Satz ſprang 
ich nach der nächſten, mich ſchützenden Ecke an der Außen⸗ 
wand; da krachte auch ſchon der Schuß, der offenbar mir 
gegolten hatte. Die Kugel ſchlug über meinen Stuhl hin⸗ 


— 


— 


— 196 — 


weg in die Küchenwand. Das Gewehr war ſchnell wieder 
zurückgezogen worden; ich eilte zur Lampe und löſchte ſie 
aus, ſo daß die Tür ins Finſtere zu liegen kam, ſchnellte 
mich zu ihr hin, öffnete ſie, zog einen Revolver aus dem 
Gürtel und blickte hinaus. Es war zur Zeit noch kein 
Stern aufgegangen, draußen alles ſtockfinſter und alſo 
niemand zu ſehen. Hören konnte ich von draußen auch 
nichts, weil die Anweſenden einen unbeſchreiblichen Lärm 
machten, den Winnetou vergeblich zum Schweigen zu 
bringen ſuchte. Er kam zu mir, warf einen ſchnellen 
Blick in die dunkle Nacht hinaus und forderte mich 
dann auf: 

„Nicht hier bleiben, ſondern viel weiter hinaus!“ 

Wenn der Medizinmann ein geſcheiter Kerl geweſen 
wäre, hätte er ſeinen Platz nicht verlaſſen, ſondern ruhig 
gewartet, bis ich an der Tür erſchien, und dann den 
zweiten Schuß auf mich abgegeben. So aber war er gleich 
nach dem erſten vergeblichen Schuß ausgeriſſen. Als ich 
mich mit Winnetou in ſchnellſtem Lauf ſo weit vom 
Hauſe entfernt hatte, daß uns der Lärm darin nicht 
mehr ſtören konnte, legten wir uns nieder, die Ohren 
auf die Erde, und horchten. Wir vernahmen deutlich 
den ſchnellen Hufſchlag dreier Pferde, die ſich von der 
Farm weſtwärts entfernten. 

Drei Pferde? Der Medizinmann war alſo nicht allein 
hier auf der Farm geweſen? Wie hatte er es überhaupt 
ermöglichen können, von ſo weit ſüdlich her durch das 
Gebiet feindlicher Indianerſtämme hier herauf nach Kan⸗ 
ſas zu kommen? Welchen Grund, welchen Zweck hatte 
dieſer ebenſo weite wie beſchwerliche Ritt? 

Gewohnt, jedes Vorkommnis mit einem ſchnellen, 
aber trotzdem gründlichen Blick ganz zu umfaſſen, um 
danach ohne Zaudern meine Beſtimmungen treffen und 


— 197 — 


etwaigen Gefahren im voraus erfolgreich begegnen zu 
können, ließ ich dieſe und noch andere Fragen raſch 
prüfend an mir vorübergehen, und Winnetou ſchien das 
gleiche zu tun. Er war ebenſo ſchnell fertig wie ich, denn 
die Hufſchläge waren noch nicht verklungen, alſo nur 
wenige Augenblicke zwiſchen Beginn und Ende unſeres 
Nachdenkens vergangen, da ſagte er: 

„Tibo taka iſt ein Bleichgeſicht geworden, ein weißer 
Arzt, der ein krankes Krebsgeſicht hinauf nach Fort 
Wallace bringen will. Was jagt mein Bruder Shatter⸗ 
hand dazu?“ 

„Daß du richtig geraten haſt. Die kranke Lady iſt 
Tibo wete, ſeine wenigſtens körperlich geſunde Frau, die 
er für krank ausgibt, um ihr Geſicht mit einem Schleier 
verhüllen zu können, damit man nicht ſehe, daß ein 
Weißer mit einer Roten reitet. Sie wollen natürlich nicht 
nach Fort Wallace, ſondern mit dem ‚Öeneral‘ hinauf nach 
Kolorado. Wir werden die Mörder am Grab des Ermor« 
deten treffen. Komm herein, den Farmer zu fragen!“ 

Wir gingen nach dem Hauſe zurück; da kamen nun 
erſt alle, die in der Stube geweſen waren, mit ihren 
Waffen in den Händen heraus. 

Es erregte meine Befriedigung, daß Matto Schahko 
mit bei unſerer Gruppe ſtand. Er hätte die Gelegenheit 
benuten und entfliehen können. Daß er das nicht getan 
hatte, war ein ſicherer Beweis, daß er es ernſt mit ſeinem 
Vorhaben meinte, freiwillig mit uns zu reiten. Ich trat 
zu ihm und ſagte: 

„Von dieſem Augenblick an iſt der Häuptling der 
Oſagen frei; unſere Riemen werden ſeine Glieder nicht 
wieder berühren, und er kann nun gehen, wohin er will.“ 

„Ich bleibe bei euch!“ antwortete er. „Apanatſchka 
ſollte mich zu Tibo taka führen; nun dieſer ſelbſt ge⸗ 


— 198 — 


kommen iſt, kann er mir auf keinen Fall entgehen. Werdet 
ihr ihm folgen?“ 

„Unbedingt! Du haſt ihn ſofort erkannt?“ 

„Ja. Ich würde ihn nach tauſend Sonnen wieder 
erkennen. Was will er hier in Kanſas? Warum kommt 
er des Nachts an dieſe Farm geſchlichen?“ 

„Er iſt nicht herangeſchlichen, ſondern er hat ſich 
fortgeſchlichen, allerdings mit einem lauten, glücklicher⸗ 
weiſe erfolgloſen Knall. Ich werde dir das ſofort be⸗ 
weiſen.“ . 

Um dies zu tun, wendete ich mich an den Farmer, 
der in meiner Nähe ſtand: 

„Iſt der Arzt mit dem kranken Weibe noch hier?“ 

„Nein,“ antwortete er. „Bell, der Cowboy, ſagte, 
daß er fort ſei.“ 

„Dieſer Mann war kein Arzt, ſondern ein Medizin⸗ 
mann der Naiini, und die Frau war ſeine Squaw. Hat 
jemand von euch mit dieſem Weib geſprochen?“ 

„Nein; aber ich habe ſie ſprechen hören. Sie ver⸗ 
langte von dem angeblichen Arzt einen Myrtlewreath; da 
führte er ſie ſchnell aus der Stube nach dem Hinterhaus.“ 

„Er hat doch erſt morgen fort gewollt. Wie iſt er 
auf den Gedanken gekommen, dieſen Entſchluß zu ändern?“ 

Da ſchob ſich der Cowboy herbei und ſagte: 

„Darüber kann ich Euch die beſte Auskunft erteilen, 
Mr. Shatterhand. Der Fremde kam in den Hof, um 
nach ſeinen Pferden zu ſehen. Er hörte das laute Lachen 
in der Stube, wo Mr. Hammerdull eben eine ſeiner 
luſtigen Geſchichten erzählte, und fragte mich, was für 
Leute ſich drin befänden. Ich ſagte es ihm und 
merkte trotz der Dunkelheit, daß er erſchrak. Wir 
gingen miteinander nach der Vorderſeite des Hauſes, wo 
er von weitem durch das Fenſter in die Stube ſah. 


— 1992 — 


Dann teilte er mir, indem er mir einige Dollars ſchenkte, 
im Vertrauen mit, daß er hier nun ſehr überflüſſig ſei, 
denn er habe Euch vor kurzem in Kanſas⸗City einen 
ſchweren Geldprozeß abgewonnen, deſſentwegen ihm von 
Euch blutige Rache geſchworen worden ſei. Darum fühle 
er ſich hier ſeines Lebens nicht ſicher und wolle lieber 
heimlich fort. Der arme Teufel hatte ſo große Angſt; 
er tat mir leid, und ſo half ich ihm dazu, heimlich aus 
dem Haus und Hof zu kommen. Ich öffnete ihm die 
hintere Fenz und ließ ihn und die Frau mit dem Pack⸗ 
pferd hinaus. Er muß die drei Pferde dann in paſſender 
Entfernung angepflockt und ſich zurückgeſchlichen haben.“ 

„Anders nicht. Mr. Bell, Ihr habt einen großen 
Fehler begangen, könnt aber nichts dafür, denn Ihr 
wußtet nicht, daß der Mann ein Verbrecher iſt. Hat 
er nur von mir geſprochen?“ 


„Ja.“ 

„Nicht auch von dem jungen, roten Krieger hier, 
den wir Apanatſchka nennen?“ 

„Kein Wort!“ 

„Well! Ich möchte jetzt gern den Raum ſehen, 
worin er ſich mit der Frau aufgehalten hat.“ 

Der Cowboy zündete eine Laterne an und führte 
mich durch den Hof in das ſehr niedrige Gebäude, 
das nur aus den vier Mauern und dem platten 
Dach beſtand, alſo ein einziges Gelaß enthielt. Ich 
glaubte nicht etwa, daß er in einer ſolchen Gefahr, wie 
ihm doch gedroht hatte, ſo unvorſichtig geweſen wäre, 
etwas für uns Wichtiges liegen zu laſſen oder zu ver⸗ 
lieren; ich wollte nur in gewohnter Weiſe nichts von 
alledem verſäumen, was in ſolchen Fällen von der Vor⸗ 
und Umſicht vorgeſchrieben wird, fand auch wirklich 


— 


— 200 — 


nichts. Doch hatte ich meine Schuldigkeit getan und 
begab mich alſo befriedigt nach der Stube, in der die 
andern jetzt wieder alle beiſammen ſaßen und ſich über 
den Zwiſchenfall unterhielten. 

Wenn ich ſage „befriedigt“, ſo hat das ſeinen guten 
Grund. Ich war, grad wie auf Fenners Farm, auch 
heut dem Tod wie durch ein Wunder entgangen. Die 
innere Stimme, die mich bei unſerer Ankunft hier 
gewarnt hatte, war ganz gewiß die Stimme meines 
Schutzengels geweſen. Ich hatte ihr nicht gefolgt und 
war von ihm dennoch gerettet worden, indem er im 
Augenblick der Gefahr mir das Auge nach jenem Fenſter 
lenkte. Die Aehnlichkeit des heutigen Ereigniſſes mit 
dem auf Fenners Farm war ſonderbar. Nun fehlte 
nur noch ein Ueberfall auf unſere Pferde ober gar 
auf uns ſelbſt; dann würden die beiden Abende einander 
ganz gleich ſein! 

Schüttelt vielleicht jemand lächelnd den Kopf dar⸗ 
über, daß ich von meinem Schutzengel rede? Lieber 
Zweifler, ich ſchmeichle mir ganz und gar nicht, dich zu 
meiner Anſicht, zu meinem Glauben zu bekehren, aber du 
magſt ſagen, was du willſt, den Schutzengel beweiſeſt 
du mir doch nicht hinweg. Ich bin ſogar felſenfeſt über⸗ 
zeugt, daß ich nicht nur einen, ſondern mehrere habe, ja 
daß es Menſchen gibt, die ſich im Schutz ſehr vieler 
ſolcher himmliſchen Hüter befinden. Der Zar von Ruß⸗ 
land, deſſen Thron auf Dynamitſäulen ſteht, die Beherr⸗ 
ſcher von Reichen und Völkern, von deren Entſchließun⸗ 
gen das Wohl von Millionen Menſchen abhängt, der 
Seekapitän, bei dem die kleinſte Nachläſſigkeit, die ge⸗ 
ringſte falſche Berechnung den Untergang des Schiffes 
und aller ſeiner Bewohner herbeiführen kann, der Diplo⸗ 
mat, der mit Nationen ſpielt, der Feldherr, der Armeen 


— 201 — 


bewegt, der Arzt, dem das Leben oder der Tod ſeiner 
Patienten aus der Feder fließt, ſie alle bedürfen zu 
ihrem Schutz, ihrer Beratung, ihrer Warnung viel, viel 
mehr der Engel, als zum Beiſpiel eine fetter Rentner, 
der keine andere Arbeit kennt und keinen andern Beruf 
zu haben ſcheint, als Zinsſcheine abzuſchneiden. Mag 
man mich immerhin auslachen; ich habe den Mut, es 
ruhig hinzunehmen; aber während ich hier an einem 
Tiſch ſitze und dieſe Zeilen niederſchreibe, bin ich voll⸗ 
ſtändig überzeugt, daß meine Unſichtbaren mich umſchwe⸗ 
ben und mir, ſchriftſtelleriſch ausgedrückt, die Feder in 
die Tinte tauchen. Und wenn, was ſehr häufig der Fall 
iſt, ein Leſer, der in der Irre ging, durch eines meiner 
Bücher auf den richtigen Weg gewieſen wird, ſo kommt 
ſein Schutzengel zu dem meinigen, und beide freuen ſich 
über die glücklichen Erfolge ihres Einfluſſes, unter dem 
ich ſchrieb und der andere las. Das ſage ich nicht etwa 
in ſelbſtgefälliger Ueberhebung, o nein! Wer da weiß, 
daß er ſein Werk nur zum geringſten Teil ſich ſelbſt 
verdankt, der kann nicht anders als demütig und beſchei⸗ 
den ſein. Ich trete mit dieſer meiner Anſchauung nur 
deshalb vor die Oeffentlichkeit, weil in unſerem mate⸗ 
riellen Zeitalter nur ſelten jemand zu ſagen wagt, daß er 
mit dieſem Leugnen und Verneinen nichts zu ſchaffen habe. 

Wie tröſtlich und beruhigend, wie ermunternd und 
anſpornend iſt es, zu wiſſen, daß Gottes Boten ſtetig 
um uns ſind! Und welch große ſittliche Macht liegt in 
dieſem Glauben! Wer überzeugt iſt, daß unſichtbare 
Weſen ihn umgeben, die jeden ſeiner Gedanken kennen, 
jedes ſeiner Worte hören und alle ſeine Werke ſehen, der 
wird ſich gewiß hüten, ſo viel er kann, das Mißfallen 
dieſer Geſandten des Richters aller Welt auf ſich zu 
ziehen. Ich gebe dieſen in Mißachtung geratenen ſoge⸗ 


— 202 — 


nannten Kinder⸗, Ammen⸗ und Märchenglauben nicht 
für alle Schätze dieſer Erde hin! 

„Schutzengel? Lächerlich!“ ſagte einſt ein ſehr 
gelehrter und weit gereiſter Herr zu mir, deſſen Namen 
man in einigen Erdteilen kannte und auch heut noch 
kennt. „Haben Sie einen? Haben Sie ihn geſehen, ihn 
gehört, mit ihm geſprochen? Zeigen Sie ihn mir, dann 
will ich glauben, daß er wirklich beſteht!“ Ein Jahr 
ſpäter traf ich ihn in Tirol. Nach der kurzen, herzlichen 
Begrüßung war ſein erſtes, wie mir ſchien, ganz 
unbegründetes Wort: „Es gibt welche; ich weiß es jetzt; 
auch ich habe einen!“ — „Was?“ fragte ich erſtaunt. — 
„Schutzengel meine ich. Sie beſinnen ſich wohl noch 
unſres letzten Geſprächs?“ — Er war in den Bergen 


geweſen und hatte ſich, Steine klopfend und Pflanzen 


ſuchend, allzu eifrig bis an den höchſten und äußerſten 
Rand eines tief und ſteil abfallenden Abhangs vorgewagt. 
Die dünne, loſe Erdſchicht unter ihm war ins Gleiten 
gekommen und hatte ihn mit ſich über die Kante geriſſen. 
Mit der ganzen Wucht des hohen und jähen Falls an 
den Vorſtößen, Rändern und Spitzen der Felſen auf⸗ 
ſchlagend, war er in die Tiefe geſtürzt, dann aber plötz⸗ 
lich am Stumpfe einer Latſche hängen geblieben. Der 
Stumpf hatte ſich nur in den Saum des Rockſchoßes 
gebohrt; dieſer dünne, ſchmale Halt konnte jeden Augen⸗ 
blick reißen, ja, es war überhaupt ein Wunder, wenn 
er nicht zerriß. Und das Wunder geſchah: der Saum 
hielt feſt, weit über eine halbe Stunde lang, in ſo 
lebensgefährlicher Lage eine wahre Ewigkeit. Der Ver⸗ 
unglückte ſchrie um Hilfe, doch vergeblich; ihn ſchwindelte 
vor der Tiefe; vor ſeinen Augen wurde es ſchwarz, und 
in den Ohren klang es wie Paukentöne. Seine Pulſe 
ſchlugen; ſeine Glieder zitterten im Fieber; die Todes⸗ 


S 


A 
3 


— 203 — - 


angſt trat ein, und er begann zu beten. Zunächſt 
brachte er es nur zu einem krampfhaften „Herr, in deine 
Hände befehle ich meinen Geiſt!“ Dann zog ſein ganzes 
Leben, ſchnell wie im Traum und doch mit greller Deut⸗ 
lichkeit, an ihm vorüber; er lernte ſich in dieſen kurzen 
Augenblicken zum erſtenmal richtig kennen. Er ſah ſeine 
Fehlgriffe wie ſcharfe, ſchroffe Gletſcher ragen und ſeine 
Unterlaſſungen wie bodenloſe, hohle Abgründe gähnen; 
ſein Unglaube kam ihm wie ein Krater vor, der ihn ver⸗ 
ſchlingen wollte. Da gab ihm die Angſt ſeiner Seele das 
richtige Gebet ein: „Vergib mir, Herr, denn ich glaube 
nun an dich!“ Seine Verneinung der Schutzengel fiel ihm 
ein, und da klammerte er ſich mit der Inbrunſt der 
Todesnot an den Gedanken, daß es ja doch welche gebe. 
Gott allein konnte retten, retten durch ſeine Himmels⸗ 
boten. Der über der Tiefe Hängende betete und betete, 
bis es ruhiger und immer ruhiger in ihm wurde; es 
war ihm, als ob er eine Hand auf ſeiner Stirn fühle; 
die Angſt verſchwand und gab der immer feſter werden⸗ 
den Zuverſicht Raum, daß die Rettung ſchon unterwegs 
ſei. Er wußte, daß es kein Hirngeſpinſt war: durch das 
Kleidungsſtück, an dem er hing, überkam ihn das Gefühl, 
als ob ein unſichtbares Weſen ſich über ihm befinde und 
den Saum des Gewandes an dem Stumpf der Knie⸗ 
holzkiefer feſthalte. Da wich auch der Schwindel von 
ihm; er konnte frei unter ſich blicken. Als er das tat, 
ſah er den Wirt des Gaſthofs, in dem er für einige 
Tage wohnte, mit ſeinem Sohn kommen; beide waren 
vorzügliche Bergſteiger. Als ſie ihn wahrnahmen, riefen 
ſie ihm Mut zu. Der Sohn eilte zurück, um noch mehr 
Leute und Stricke zu holen, und der Vater kam herauf⸗ 
geſtiegen, langſam zwar, aber mit tröſtlicher Stetigkeit. 
Endlich grad über dem Verunglückten angelangt, warf 


— 204 — 


er ihm die Schlinge eines Stricks zu, durch die er die 
Arme zu ſtecken hatte. Das gab nun einen zuverläſſigen 
Halt, der die völlige Ausführung der Rettung gewähr⸗ 
leiſtete, die nach kurzer Zeit auch glücklich zuſtande kam. 


Unbegreiflich war, daß der Körper trotz des öftern Auf 


ſchlagens während des tiefen Sturzes außer einigen 
blauen Hautſtellen keine Verletzung zeigte. Wahrhaft 
wunderbar aber mußte man die Urſache nennen, die 
den Wirt zur Hilfe herbeigetrieben hatte. Sein jüngſtes 
Kind nämlich, ein Mädchen von acht Jahren, war aus 
dem Garten zu ihm hereingekommen und hatte ihm 
geſagt, der Mann, der immer Blumen ſuche, ſei von 
dem Berg gefallen und in der Mitte hängen geblieben. 
Die betreffende Seite des Berges lag aber vom Dorf 
ab, ſo daß ſie von da und von dem Garten aus gar nicht 
geſehen werden konnte, und weiter als in den Garten 
war das Kind nicht gekommen. Auf Befragen des Vaters 
hatte es geſagt, daß es den Mann habe um Hilfe rufen 
hören; die Entfernung war aber ſo groß, daß Hilferufe 
unvernehmbar bleiben mußten. Als der Vater die Bitte 
des Kindes nicht hatte erfüllen wollen, war dieſes in ein 
ſo jämmerliches Schluchzen und Wehklagen ausgebrochen 
und hatte ſo lange fort geweint, bis er, nur um es zu 
beruhigen, mit dem Sohn nach der Unglücksſtelle aufge⸗ 
brochen war. Der Gerettete iſt noch heut feſt überzeugt, 
daß er ſein Leben zwei Schutzengeln zu verdanken habe; 
er behauptet, der eine habe ihn feſtgehalten und der 
andere das Kind zum Wirt geſchickt. 

Die Frage, ob ich meinen Schutzengel geſehen und 
gehört habe, kann mich nicht in Verlegenheit bringen. Ja 
ich habe ihn geſehen, mit dem geiſtigen Auge; ich habe 
ihn gehört, in meinem Innern; ich habe ſeinen Einfluß 
gefühlt, und zwar unzählige Male. Bin ich etwa beſon⸗ 


— 205 — 


ders veranlagt dazu? Gewiß nicht! Es iſt wohl jedem 
Menſchen gegeben, das Walten ſeines Schutzengels zu 
bemerken; das einzige Erfordernis dazu iſt, daß man ſich 
ſelbſt genau kennt und ſich ſelbſt unter ſteter Aufſicht 
hält. Nur wer die richtige Selbſtkenntnis beſitzt und auf 
ſich acht hat, kann unterſcheiden, ob ein Gedanke ihm 
eingegeben wurde oder aus ſeinem eigenen Kopf ſtammt, 
ob eine Empfindung, ein Entſchluß in ihm ſelbſt oder 
außerhalb ſeines geiſtigen Ichs entſtand. Wieviel Men⸗ 
ſchen aber beſitzen dieſe genaue Selbſtkenntnis? 

Wie oft bin ich zu einer beſtimmten Handlung feſt 
und unerſchütterlich entſchloſſen geweſen und habe ſie 
dennoch ohne jeden ſichtbaren oder in mir liegenden 
Grund unterlaſſen! Wie oft habe ich im Gegenteil etwas 
getan, was nicht im entfernteſten in meinem Wollen lag! 
Wie oft iſt mein Verhalten ganz plötzlich und ohne alle 
Abſicht ganz anders geworden, als es in der Logik meines 
Weſens begründet geweſen wäre! Das war das Ergeb⸗ 
nis eines Einfluſſes, der mir von außen her kam und 
ſtets die beſten Folgen hatte, ſobald und ſo oft er ſich 
geltend machte. Wie oft habe ich nach einem von mir 
ſelbſt herbeigeführten Ereignis dennoch voller Verwunde⸗ 
rung dageſtanden, wie oft nach einem von mir angeſtrebten 
Erfolg dennoch ſagen müſſen: „Das habe nicht ich, ſon⸗ 
dern das hat Gott getan!“ Wie oft hat eine mir ganz 
fremdartige Idee meine Gedankenfolge unterbrochen und 
ſie in eine mir bisher ganz unbekannte Richtung gelenkt! 
Wie oft bin ich vor Perſonen, die mir ſympathiſch waren, 
und vor Verhältniſſen und Lagen, die ich geradezu her⸗ 
beigeſehnt hatte, durch einen — ich will mich ausdrücken: 
— geiſtigen Anhauch gewarnt worden, der ſich dann, 
wenn ich mich von ihm leiten ließ, als begründet 
erwies! Wie oft habe ich Lebenslagen, an die nach menſch⸗ 


— 206 — 


lichem Ermeſſen in meinem ganzen Leben nicht zu denken 
war, voraus empfunden, voraus durchlebt und dann, 
wenn ſie ſich genau nach dieſem Seelenbild einſtellten, 
zu meinem dankbaren Erſtaunen einſehen müſſen, daß 
mit dieſem Vorausgefühl mein Vorteil, ja mein Heil 
bezweckt geweſen war. 

Was für eine von meiner Weſensart vollſtändig 
getrennte Kraft, was für eine außer mir liegende Macht 
kann es aber wohl geweſen ſein, die ſo in, mit und 
über mir waltete, mich mahnte, warnte und als ſoge⸗ 
nanntes böſes Gewiſſen ſtrafte, wenn ſie mich unaufmerk⸗ 
ſam oder gar ungehorſam gefunden hatte? Weder In⸗ 
ſtinkt kann es ſein noch Zufall, ſondern Gottes Engel iſt 
es, der mir vom Herrn der Heerſcharen beigegeben wurde, 
mein Führer, Mahner und Berater zu ſein. Als ich in 
meiner Schülerzeit durch den vielgenannten „Zufall“, den 
es für mich nicht gibt, aus einer großen Gefahr gerettet 
worden war, ſchrieb ich einige Zeilen in mein Tagebuch, 
die noch unter dem Eindruck der Todesangſt. entſtanden 
ſind und nicht dichteriſch abgefeilt wurden: 


Es gibt ſo wunderliebliche Geſchichten, 

Die bald von Engeln, bald von Feen berichten. 
In deren Schutz wir Menſchenkinder ſtehn. 
Man will ſo gern den Worten Glauben ſchenken 

Und tief in ihren Zauber ſich verſenken; 
Denn Gottes Odem fühlt man daraus wehn. 


So iſt's in meiner Kindheit mir ergangen, 
In der gar oft ich mit erregten Wangen 
Auf ſolcherlei Erzählungen gelauſcht. 
Dann hat der Traum die magiſchen Geſtalten 
In ſtiller Nacht mir lebend vorgehalten, 
Und ihre Flügel haben mich umrauſcht. 


Fragt auch der Zweifler, ob's im Erdenleben 
Wohl könne körperloſe Weſen geben, 
Die für die Sinne unerreichbar ſind, 


— 207 — 


Ich will die Jugendbilder mir erhalten 
Und glaub' an Gottes unerforſchlich Walten, 
Wie ich's vertrauensvoll geglaubt als Kind. 


Ich weiß, daß ich als Schriftſteller mit dieſen acht⸗ 
zehn Zeilen vielleicht eine Sünde begehe; aber ich meine, 
in der letzten Viertelſtunde nicht geſchriftſtellert, ſondern 
als Menſch, als wohlmeinender Freund zu meinen Leſern 
geſprochen zu haben, und Reime aus der Knabenzeit eines 
Freundes pflegt man doch überall mit kritikloſer Güte und 
mild lächelnder Nachſicht aufzunehmen. 

Alſo mein Schutzgeiſt hatte mich bei Harbour grad 
ſo wie auf Fenners Farm vom Tod errettet, und ich ſaß 
nun wieder auf dem Stuhl, auf dem mich die Kugel 
des Medizinmannes hatte treffen ſollen. Die Gemüter 
hatten ſich noch nicht beruhigt, und der Zwiſchenfall 
wurde mit, ich möchte ſagen, urwüchſiger Lebhaftigkeit 
beſprochen. Den größten Anteil an dem unerwarteten 
Auftreten von Tibo taka und Tibo wete mußte natürlich 
Apanatſchka haben, der beide für ſeine Eltern gehalten 
hatte und trotz meiner Widerlegung wohl auch jetzt noch 
dafür hielt. Außer Winnetou und mir ſprachen alle auf 
ihn ein, doch ohne eine andere Antwort als ein ſtilles 
Kopfſchütteln von ihm zu erhalten. Mir und dem Häupt⸗ 
ling der Apatſchen war das verſtändlich. Was hätte er 
auch antworten und ſagen ſollen? Wir waren alle auf 
das Tibo⸗Paar nicht gut geſinnt; er konnte ſie weder ver⸗ 
teidigen, noch lagen für ihn die nötigen Beweiſe vor, ſich 
von ihnen loszuſagen; alſo konnte er nichts anderes und 
beſſeres tun als ſchweigen. 

Die andern ergingen ſich in hunderterlei Vermutungen 
über den Ritt des Medizinmannes und ſeiner Frau hier⸗ 
her nach Kanſas. Sie tauſchten ihre Meinungen aus 
über den Zweck und das Ziel dieſes Rittes. Es machte 


— 208 — 


Winnetou und mir Spaß, zu ſehen und zu hören, wie ſie 
ihren Scharfſinn anſtrengten und ſich miteinander ſtritten 
und dabei einer den andern auf den Irrweg führen 
wollte, auf dem er ſich ſelbſt befand. Wir hielten es nicht 
für notwendig, ſie ſo weit aufzuklären, wie wir ſelbſt es 
waren, und ſo mußten ſie ſich endlich mit unſerer Ver⸗ 
ſicherung begnügen, daß wir morgen dem Medizinmann 
folgen und alſo bald Aufklärung bekommen würden über 
alles, was uns heut noch unklar ſei. 

Da wir frühzeitig fort wollten, wurden in der Stube 
die Lager für uns bereitet. Ich traute Tibo taka doch 

nicht recht; es war immerhin möglich, daß er auf den 
Gedanken kam, während der Nacht zurückzukehren und 
irgend etwas für uns Schädliches auszuführen. Darum 
wollte ich den Poſtendienſt unter uns heute in derſelben 
Weiſe ausgeführt wiſſen, wie er gebräuchlich war, wenn 
wir des Nachts im Freien lagerten; Harbour aber ſträubte 
ſich dagegen und ſagte: | 

„Nein, Sir, das dulde ich nicht. Ihr feid unterwegs 
und wißt nicht, was Euch begegnen kann. Es kann ſein, 
daß Ihr eine ganze Reihe von Nächten nicht ruhig 
ſchlafen könnt; ſchlaft Euch alſo heut hier bei mir tüchtig 
aus! Ich habe Cowboys und Peons, die den Wachtdienſt 
gern für die große Ehre, Euch geſehen zu haben, über⸗ 
nehmen werden.“ 

„Wir ſind Euch dankbar für dieſes Anerbieten, Mr. 
Harbour,“ antwortete ich. „Wir nehmen es an, doch 
unter der Vorausſetzung, daß dieſe Leute ihrer Aufgabe 
mit größter Umſicht obliegen.“ 

„Das iſt doch ſelbſtverſtändlich. Wir wohnen und 
leben hier in einer Art von Halbwildnis und ſind es 
gewohnt, aufmerkſam zu ſein. Uebrigens handelt es ſich 
ja nur um einen einzigen Menſchen, der noch dazu aus 


— 209 — 


Angſt vor Euch heimlich ausgeriſſen iſt; ſeine Squaw 
iſt gar nicht zu rechnen; dem würden meine Leute, falls 
er ſo frech wäre, zurückzukehren, das Fell ſo aushauen, 
daß kein Gerber daran noch Arbeit finden würde. Ihr 
könnt Euch alſo ruhig ſchlafen legen.“ 

Das taten wir denn auch; vorher aber ging ich noch 
einmal hinaus nach dem Korral, um nach den Pferden 
zu ſehen. Ä 

Der Farmer hatte ja wohl nicht unrecht; es handelte 
ſich nur um den Medizinmann, der übrigens auch ſchon 
durch die Anweſenheit ſeiner Frau verhindert wurde, 
etwas gegen uns auszuführen; aber es lag eine Unruhe 
in mir, die mich am Einſchlafen hinderte. Es drängte 
ſich mir wieder und immer wieder der Vergleich des heu⸗ 
tigen Tages mit dem Tag auf Fenners Farm auf, und 
ich kam dabei wieder und immer wieder auf den Gedanken: 
nun fehlt bloß noch ein Ueberfall! 

So kam es, daß ich ſpät einſchlief und dann von 
einem quälenden Traum, deſſen Inhalt mir heut nicht 
mehr erinnerlich iſt, ſo beängſtigt wurde, daß ich froh 
war, als ich bald wieder aufwachte. Ich ſtand auf und 
ging leiſe, um keinen der Schläfer zu wecken, hinaus. Die 
Sterne ſchienen; man konnte ziemlich weit ſehen. Ich 
ging wieder nach dem Korral, in dem zwei Peons die 
Wache hatten. 

„Iſt alles in Ordnung?“ fragte ich, als ich die 
Gattertür hinter mir wieder zugezogen hatte. 

„Ja,“ wurde mir geantwortet. N 

„Hm! Mein und Winnetous Rappe pflegen des 
Nachts zu liegen; jetzt ſtehen ſie; das gefällt mir nicht.“ 

„Sie ſind eben erſt aufgeſtanden, wohl weil Ihr 
gekommen ſeid.“ 

„Deshalb gewiß nicht. Wollen einmal ſehen!“ 

May, Old Surehand. II. 14 


— 210 — 


Ich ging zu den beiden Pferden. Sie hielten die 
Köpfe nach dem Hauſe gerichtet; ihre Augen leuchteten 
beunruhigend, und nun ſie mich kommen ſahen, ſchnaubten 
beide. Das war eine Folge ihrer ſorgfältigen Erzie⸗ 
hung. Sie waren gewöhnt, ſich in Abweſenheit ihrer 
Herren ſelbſt beim Nahen einer Gefahr lautlos zu ver⸗ 
halten, waren ihre Herren aber da, dieſe Gefahr ihnen 
durch Schnauben anzuzeigen. Sie hatten eine Gefahr 
gewittert und waren aufgeſtanden, aber ſtill geweſen, 
weil ich mich nicht bei ihnen befand; nun ich aber da 
war, warnten ſie mich. Ich ging zu den Wächtern zurück 
und ſagte: 

„Es liegt etwas in der Luft; was, das weiß ich 
nicht. Nehmt euch in acht! Es ſind Menſchen in der 
Nähe des Hauſes, ob Freunde oder Feinde, das wird ſich 
zeigen. Man ſieht ſie nicht; ſie haben ſich verſteckt; 
Freunde aber brauchen ſich nicht zu verbergen. Entweder 
ſtecken ſie dort hinter den Büſchen, oder ſie liegen ſchon 
näher im hohen Gras.“ 

„Teufel! Es werden doch nicht etwa die Tramps 
ſein, derentwegen Bell nach dem Nord⸗River geritten iſt?“ 

„Das wird ſich zeigen. Es iſt beſſer, ſelbſt die erſte 
Note zu ſpielen, als zu warten, bis der Feind beginnt, 
den Bogen zu ſtreichen. Ah, dort, grad der Haustür 
gegenüber, hob ſich jetzt etwas aus dem Gras; ich kann 
alſo nicht in die Stube, werde aber die Gefährten wecken, 
Habt ihr eure Gewehre?“ 

„Ja, dort lehnen ſie.“ 

„Nehmt ſie, um den Eingang zu verteidigen; ſchießt 
aber nicht eher, als bis ich es euch ſage!“ 

Ich legte beide Hände hohl an den Mund und ließ 
dreimal den Schrei des Kriegsadlers erſchallen, fo laut, 
daß er gewiß eine halbe engliſche Meile weit zu hören 


— 211 — 


war. Nur einige Sekunden ſpäter ertönte derſelbe Schrei 
auch dreimal drin in der Stube. Das war die Antwort 
Winnetous, der die warnende Bedeutung meines Schreis 
ſehr gut kannte. Ebenſo kurze Zeit darauf ſah ich viele 
dunkle Geſtalten aus dem Gras aufſpringen, und die 
Luft erzitterte unter einem Geheul, in dem ich das 
Angriffszeichen der Cheyenne⸗Indianer erkannte. 

Was wollten dieſe hier? Warum waren ſie aus dem 
Quellgebiet des Republican⸗River ſo weit herabgekom⸗ 
men? Sie wollten die Farm überfallen, hatten alſo ihre 
Kriegsbeile auch ausgegraben, grad wie die Oſagen. Wir 
hatten ſie nicht zu fürchten, denn wir ſtanden nicht nur 
in Frieden mit ihnen, ſondern waren ſogar ihre Freunde. 
Man braucht ſich nur daran zu erinnern, was Matto 
Schahko dem alten Wabble unter dem „Baum der Lanze“ 
von Winnetou erzählte. Dieſer hatte ſich an die Spitze 
der Cheyennes geſtellt und mit ihnen das Lager der 
Oſagen erobert; ſie waren ihm alſo Dank ſchuldig. Ich 
war zwar nicht dabei geweſen, aber es konnte doch kein 
Indianer Winnetous Freund und dabei der Feind Old 
Shatterhands ſein. Alſo war ich ſofort beruhigt, als 
ich aus dem Kriegsgeheul erkannte, daß die Angreifer 
Cheyennes ſeien. 

Eigentümlich war es, daß ſie nicht vor allen 
Dingen nach Indianerart über die Pferde herfielen. 
Der Angriff ſchien einſtweilen nur gegen das Haus 
gerichtet zu ſein, was auf eine ganz beſondere Urſache 
ſchließen ließ. Wir brauchten den Korral nicht zu ver⸗ 
teidigen, denn kein einziger Roter kam herbei; ich ſah 
ſie alle vor dem Hauſe ſtehen. Sie hatten jedenfalls 
beabſichtigt, ſich heimlich nach der Tür zu ſchleichen, 
dieſe einzuſchlagen und dann in das Gebäude einzudrin⸗ 
gen, waren aber durch meinen Adlerſchrei daran ver⸗ 


— 212 — 


hindert worden, weil durch ihn die Bewohner geweckt 
worden wären. Der Ueberfall war mißlungen. 

Ich war neugierig auf das, was nun geſchehen 
würde. Sie konnten nicht in das Haus und waren ſo 
unvorſichtig, davor ſtehen zu bleiben. Dachte denn keiner 
von ihnen daran, daß die drin befindlichen Männer durch 
das Fenſter ſchießen würden? Sie bildeten, noch immer 
heulend und brüllend, vor der Front des Gebäudes einen 
Halbkreis, der von einer Ecke bis zur andern reichte. Als 
dies geſchehen war, trat tiefe Stille ein. Wie ich meinen 
Winnetou kannte, war ich überzeugt, daß er jetzt ſprechen 
würde. Und wirklich, es geſchah. Er hatte die Tür geöffnet, 
war furchtlos hervorgetreten und rief mit ſeiner ſonoren 
Stimme: 

„Es ertönt das Kriegsgeſchrei der Cheyennes. Hier 
ſteht Winnetou, der Häuptling der Apatſchen, der die 
Pfeife der Freundſchaft und des Friedens mit ihnen 
geraucht hat. Wie heißt der Anführer der Krieger, die 
ich vor mir ſehe?“ 

Von der Mitte des Halbkreiſes her antwortete eine 
Stimme: 5 

„Hier iſt Mahki Moteht), der Anführer der Chey⸗ 
ennes.“ | 

„Winnetou kennt alle hervorragenden Krieger der 
Cheyenes, doch befindet ſich darunter keiner, der Mahki 
Moteh heißt. Seit wann iſt derjenige, der ſich ſo nennt, 
ein Häuptling der Seinen?“ 

„Das braucht er nur dann zu ſagen, wenn es ihm 
beliebt!“ ö 

„Beliebt es ihm nicht? Hat er ſich ſeines Namens, 
oder hat dieſer Name ſich ſeiner zu ſchämen? Warum 


9 Eiſernes Meſſer. 


— 213 — 


kommen die Cheyennes unter Kriegsgeſchrei an dieſes 
Haus? Was wollen ſie hier?“ 

„Wir wollen Matto Schahko, den Häuptling der 
Oſagen, haben.“ 

„Uff! Woher wiſſen ſie, daß dieſer ſich hier befindet?“ 

„Auch das brauchen wir nicht zu ſagen.“ 

„Uff, uff! Die Cheyennes ſcheinen nur brüllen, aber 
nicht reden zu können! Winnetou iſt gewöhnt, Antwort 
zu bekommen, wenn er fragt. Gebt ihr ihm keine, ſo 
tritt er in das Haus zurück und wartet ruhig ab, was 
dann geſchieht.“ 

„Wir werden das Haus erſtürmen, denn wir ver⸗ 
langen Matto Schahko, den Oſagen. Gebt ihn heraus, ſo 
ziehen wir weiter!“ 

„Es wird für die Cheyennes beſſer ſein, wenn ſie 
gleich weiterziehen, ohne abzuwarten, ob ſie ihn bekommen!“ 

„Wir gehen nicht eher fort, als bis wir ihn haben. 
Wir wiſſen, daß Winnetou und Old Shatterhand ſich 
in dieſem Haus befinden; auch iſt ein junger Krieger 
drin, der Apanatſchka heißt; er ſoll uns ebenfalls aus⸗ 
geliefert werden.“ 

„Wollt ihr Matto Schahko töten?“ 

„Ja.“ 

„Und Apanatſchka auch?“ 

„Nein; es wird ihm nichts geſchehen. Es iſt aa 
bier, der mit ihm reden will. Dann kann er dahin gehen, 
wohin es ihm beliebt.“ 

„Er wird nicht kommen und Matto Schahko auch 
nicht.“ 

WW Winnetou iſt mit Blindheit geſchlagen. Sieht er 
nicht, daß hier über achtmal zehn Krieger ſtehen? Was 
können alle, die ſich in dem Hauſe befinden, gegen uns 
machen, wenn wir es erſtürmen? Sie werden alle mit⸗ 


“ir 
a * 


einander des Todes ſein. Wir geben dem Häuptling der 
Apatſchen eine Stunde Zeit, ſich mit Old Shatterhand 
zu beraten; iſt dieſe vergangen, ohne daß Matto Schahko 
und Apanatſchka uns ausgeliefert worden ſind, ſo werdet 
ihr alle ſterben müſſen. Howgh!“ | 
Ehe Winnetou hierauf antworten konnte, geſchah 
etwas, was wohl weder er noch der Anführer der Chey⸗ 
Jennes erwartet hatte, und das kam von mir. Die ganze 
Art und Weiſe der mißglückten Ueberrumplung der Farm 
ließ erraten, daß wir es mit unerfahrenen Leuten 
zu tun hatten. Den Angriff nur gegen die Vorderfront 
des Hauſes zu richten, ohne es ganz einzuſchließen, ſich 
dann in einem Bogen hinzuſtellen und unſeren Kugeln 
auszuſetzen, das waren Fehler, über die man nur lächeln 
konnte. Daß dieſe achtzig Indianer auch auf den Apat⸗ 
ſchen keinen Eindruck machten, erſah ich daraus, daß er 
ſie nur „Cheyennes“, nicht aber „Krieger der Cheyennes“ 
nannte; ich kannte da meinen Winnetou nur zu gut. 
Sollten wir ſolche Leute ſo behandeln, wie man alte, 
erfahrene Krieger behandelt? Das fiel mir gar nicht ein; 
ſie ſollten ſich nicht rühmen dürfen, von uns für voll⸗ 
gültig betrachtet worden zu ſein. Darum ſchlüpfte ich, 
von ihnen unbemerkt, aus der Pforte des Korrals, legte 
mich nieder und kroch im Rücken des Halbkreiſes ſo weit 
durch das Gras, bis ich mich hinter der Stelle befand, 
wo das „eiſerne Meſſer“ ſtand. Das konnte ſchnell 
geſchehen und wurde mir leicht, weil die Roten jetzt alle 
nach dem Hauſe blickten und keine Obacht auf das hatten, 
was hinter ihnen vorging. Als Mahki Moteh ſein 
letztes Wort, das gebieteriſche „Howgh!“ ausſprach, ſtand 
ich auf, ſchnellte mich vorwärts, ſo daß ich den Halb⸗ 
kreis erreichte, brach durch die Reihe der Indianer und 
ſtand dann neben dem Anführer, bevor ſie in ihrer Ueber⸗ 


— 214 — 


— 215 — 


raſchung hatten daran denken können, es zu verhindern. 
Ehe Winnetou dort an der Tür das lächerliche Ultimatum 
verdientermaßen een konnte, rief ich mit lauter 
Stimme: 

„Zu hören, was wir beſchließen, dazu bedarf es keiner 
Stunde Zeit; die Cheyennes ſollen es gleich erfahren.“ 

Mein plötzliches Erſcheinen im Innern des Halb⸗ 
kreiſes mitten unter ihnen rief eine große Aufregung her⸗ 


vor; ohne mich darum zu kümmern, fuhr ich fort: 


„Hier ſteht Old Shatterhand, deſſen Namen die 
Cheyennes alle kennen werden. Iſt einer unter ihnen, 
der es wagen will, die Hand gegen mich zu erheben, ſo 
trete er zu mir heran!“ 

Was ich beabſichtigt hatte, das geſchah: die Auf⸗ 
regung machte einer vollſtändigen, lautloſen Stille Platz. 
Mein ſcheinbar kühnes, ja verwegenes Erſcheinen hatte 
ſie bloß überraſcht; meine Herausforderung aber ver⸗ 
blüffte ſie. Ich nutzte dieſen Eindruck ohne Zögern aus, 
erfaßte den Anführer bei der Hand und ſagte: 

„Mahki Moteh' mag augenblicklich hören, was wir 
zu tun entſchloſſen ſind; er komme mit!“ 

Seine Hand feſthaltend, ging ich dem Hauſe zu. Das 
war ſchon nicht mehr Mut zu nennen, ſondern Frechheit; 
aber ſie hatte ihre Wirkung: ſie verwirrte ihn ſo, daß es 
ihm gar nicht einfiel, mir Widerſtand entgegenzuſetzen. Er 
ging willig wie ein Kind mit mir bis hin zu Winnetou, 
der noch am offenen Eingang ſtand und den Cheyenne bei 
der andern Hand ergriff. Halb zogen und halb ſchoben 
wir ihn hinein und ſchloſſen dann die Tür hinter uns zu. 

„Schnell Licht, ſehr ſchnell, Mr. Harbour!“ rief ich 
in den dunklen Raum hinein. Ein Zündholz leuchtete 
auf; die Lampe wurde angeſteckt, und nun konnten wir 
das Geſicht des „eiſernen Meſſers“ ſehen. Es machte auf 


— 216 — 


uns, wie man mir glauben wird, in dieſem Augenblick 
nicht etwa durch ein geiſtreiches Ausſehen Eindruck. 

Das war alles ſo ſchnell gegangen, daß die Chey⸗ 
ennes draußen erſt jetzt einſahen, was für ein großer 
Fehler es von ihnen war, daß ſie es hatten geſchehen 
laſſen. Wir hörten ſie ſchreien und rufen, kümmerten 
uns aber nicht darum, denn ſo lange ſich ihr Anführer 
bei uns befand, durften ſie nicht daran denken, etwas 
Feindliches gegen uns vorzunehmen. Ich ſchob ihn zu 
einem Stuhl hin und forderte ihn auf: 

„Mahki Moteh mag ſich zu uns ſetzen! Wir ſind 
Freunde der Cheyennes und freuen uns, ihn als Gaſt 
bei uns zu ſehen.“ 


Auch das kam ihm ſo ſonderbar vor, daß er ſich 


ohne Weigern niederſetzte. Er, der mit achtzig Männern 
gekommen war, die Farm zu überfallen, befand ſich zehn 
Minuten nach dem erſten Kriegsgeheul in deren Innern, 
aber nicht als Sieger, ſondern in unſerer Gewalt, und 
mußte es ſich gefallen laſſen, ironiſch als unſer Gaſt 
bezeichnet zu werden. Ich hatte durch meine Unver⸗ 
frorenheit alles Blutvergießen verhütet, den Ernſt der 
Lage faſt ins Lächerliche verwandelt und die Volte der⸗ 


art geſchlagen, daß wir alle Trümpfe und Zähler, die 


Cheyennes aber nur leere Karten hatten. 

Wie freute ich mich im ſtillen über die Anerkennung 
Winnetous! Er ſprach fie nicht in Worten aus, aber 
ſie war in ſeinem Geſicht und in dem Blick zu leſen, 
den er mit inniger Wärme auf mich gerichtet hielt. Dieſer 
Blick machte auch mir das Herz warm. Ich gab ihm 
die Hand und ſagte: 

„Ich leſe in der Seele meines Bruders und will 
ihm nur das eine ſagen, daß er mein Lehrer und ich 
ſein Schüler war!“ 


— 217 — 


Er drückte mir die Hand und ſchwieg. Es bedurfte 
aber auch keines Wortes, denn ich verſtand ihn doch. 
Was war er doch für ein Mann, beſonders wenn man ihn 
mit dem Cheyenne verglich, der ſo verlegen bei uns ſaß, 
daß er faſt nicht wagte, die Augen aufzuſchlagen! Matto 
Schahko hatte ſich ihm gegenübergeſetzt, hielt das Auge 
finſter auf ihn gerichtet und fragte: 

„Kennt mich der Anführer der Cheyennes? Ich bin 
Matto Schahko, der Häuptling der Waſaji, deſſen Aus⸗ 
lieferung er gefordert hat. Was werden wir mit ihm tun?“ 

Auf die verſteckte Drohung, die in dieſen Worten lag, 
antwortete der Gefragte: 

„Old Shatterhand hat mich Gaſt genannt!” 

„Das hat er getan, aber nicht ich! Du hatteſt mich 
für den Tod beſtimmt; ich habe alſo das Recht, nun dein 
Leben zu fordern.“ 

„Old Shatterhand wird mich ſchützen!“ 

Das war eine mittelbar an mich gerichtete Aufforde⸗ 
rung, die ich in ſtrengem Ton beantwortete: 
| „Das wird ganz darauf ankommen, wie du dich jetzt 

verhältſt! Erteilſt du mir die Auskunft, die ich von dir 
verlange, der Wahrheit gemäß, ſo bleibſt du unter meinem 
Schutz, ſonſt aber nicht. Ihr habt heut einen weißen 
Mann mit einer roten Squaw getroffen?“ 

„Ja.“ 

„Dieſer Mann hat euch mitgeteilt, daß wir uns hier 
befinden, und daß Matto Schahko bei uns iſt?“ 

„So iſt es.“ 

„Er hat für dieſen Dienſt die Auslieferung Apa⸗ 
natſchkas, der hier neben dir ſitzt, verlangt. Was wollte 
er mit dem Häuptling der Naiini tun?“ 

„Das weiß ich nicht, denn ich habe ihn nicht gefragt, 
weil uns dieſer fremde Krieger gleichgültig iſt.“ 


— 218 — 


„Wo befindet ſich der weiße Mann?“ 

„Er iſt draußen bei meinen Kriegern.“ 

„Aber ſeine Squaw doch nicht mit?“ 

„Nein; ſie iſt da, wo wir die Pferde gelaſſen haben.“ 

Ehe ich weiterſprechen konnte, ergriff Winnetou das 
Wort: 

„Ich bin wiederholt bei den Cheyennes geweſen, habe 
aber Mahki Moteh nie geſehen. Wie kommt das?“ 

„Wir gehören dem Stamme der Sibi⸗Cheyennes 
an, bei dem der Häuptling der Apatſchen noch nicht 
geweſen iſt.“ 5 

„Ich weiß, was ich wiſſen wollte. Mein Bruder 
Shatterhand mag weiterſprechen!“ 

Dieſer Aufforderung folgend, legte ich dem Cheyenne 
jetzt die Frage vor: 

„Ich ſehe, daß ihr die Tomahawks des Krieges 
ergriffen habt. Gegen wen iſt euer Zug gerichtet?“ 

Er zögerte mit der Antwort; aber als ich da eine 
drohende Bewegung machte, geſtand er: 

„Gegen die Oſagen.“ 

„Ah, ich errate! Ihr hattet gehört, daß die Oſagen 
ihr Lager verlaſſen haben, um gegen die Bleichgeſichter 
zu ziehen, und wolltet dieſe Gelegenheit benutzen, das 
verlaſſene Lager zu überfallen?“ 

„Ja.“ 

„So ſeid froh, daß ihr uns hier getroffen habt! Die 
Oſagen ſind umgekehrt; ſie befinden ſich wieder daheim 
und hätten euch, da ihr nur achtzig Mann zählt, die 
Skalpe genommen. Die Begegnung mit uns iſt ein großes 
Glück für euch; ſie rettet euch oder doch vielen von euch das 
Leben. Was gedenkt ihr denn jetzt. zu tun?“ 

„Wir nehmen Matto Schahko mit uns fort. Apa⸗ 
natſchka könnt ihr meinetwegen behalten.“ 


— 219 — 


„Laß dich nicht auslachen! Du biſt mein Gefangener; 
das weißt du ſehr wohl. Und glaubſt du, daß wir uns 
vor deinen achtzig Leuten fürchten? Die Sibi⸗Cheyennes 
find als Leute bekannt, die nichts vom Kampfe verſtehen.“ 

„Uff!“ fuhr er zornig auf. „Wer hat dir dieſe Lüge 
geſagt? ? 

„Es iſt keine Lüge; das habt ihr heut bewieſen. Euer 
Angriff war ſo ungeſchickt ausgeführt, daß man euch für 
kleine Knaben halten möchte. Und dann habe ich mitten 
unter euch geſtanden, ohne daß es einen einzigen gab, der 
mich anzurühren wagte. Hierauf biſt du an meiner Hand 
wie ein folgſames Kind mit in das Haus gegangen. 
Wenn wir das ruchbar machen, wird ein großes Ge⸗ 
lächter über alle Höhen und alle Savannen gehen, und 
die andern Stämme der Cheyennes werden ſich von euch 
losſagen, weil ſie ſich eurer ſchämen müſſen. Du haſt zu 
wählen. Willſt du Kampf, ſo erſchießen wir dich hier, 
ſobald draußen von deinen Leuten der erſte Schuß fällt. 
Eure Kugeln tun uns nichts, weil uns die Wände ſchützen; 
ſieh aber unſere Waffen an; du kennſt jedenfalls — —“ 

„Pshaw!” unterbrach mich da Winnetou, indem er 
ſich von feinem Sitz erhob und zu dem „eiſernen Meſſer“ 
hintrat. „Warum ſo lange Reden! Wir werden gleich 
mit den Cheyennes fertig ſein!“ 

Er riß den Medizinbeutel, den Mahki Moteh auf 
der Bruſt hängen hatte, mit einem ſchnellen Griff los. 
Der Cheyenne ſprang mit einem Angſtſchrei auf, um ihm 
die Medizin wieder zu entreißen; ich drückte ihn auf den 
Stuhl nieder, hielt ihn dort feſt und ſagte: 
leib ſitzen! Wenn du gehorchſt, bekommſt du deine 
Medizin wieder, ſonſt aber nicht!“ 

„Ja, nur wenn er gehorcht,“ ſtimmte Winnetou bei. 
„Ich will, daß die Cheyennes friedlich heimkehren. Tun 


ve 


— 20 — 


fie das, fo ſoll ihnen nichts geſchehen, und niemand wird 
erfahren, daß ſie ſich hier wie kleine Kinder benommen 
haben. Geht Mahki Moteh aber nicht darauf ein, ſo 
werfe ich ſeine Medizin augenblicklich auf den Herd, um 
ſie zu verbrennen, und dann werden unſere Gewehre zu 
ſprechen beginnen. Howgh!“ 
| Wer da weiß, was die Medizin für jeden Roten, 
zumal für einen Häuptling, zu bedeuten hat, und welche 
Schande es iſt, ſie zu verlieren, der wird ſich kaum dar⸗ 
über wundern, daß der Cheyenne, wenn auch nach länge⸗ 
rem Sträuben, ſich in die Forderung des Apatſchen fügte. 

„Auch ich habe eine Bedingung zu ſtellen,“ erklärte 
Treskow. f 
„Welche?“ fragte ich. 

„Die Cheyennes müſſen Tibo taka und Tibo wete 
ausliefern!“ 

„Das zu fordern würde der größte Fehler ſein, den 
wir begehen könnten. Uebrigens bin ich überzeugt, daß 
der Medizinmann gar nicht mehr draußen iſt. Er hat, 
ſobald ich den Häuptling in Beſchlag nahm, ſofort gewußt, 
was die Glocke ſchlägt, und ſich ſchnell aus dem Staub 
gemacht. Und das iſt mir nur lieb; weshalb, das werdet 
Ihr ſchon erfahren.“ 

Ueber den Friedensſchluß mit den Cheyennes zu 
erzählen, würde zu weit ab führen; es genügt, zu wiſſen, 
daß ſie ſchließlich froh waren über das unblutige Ende 
ihres fehlerhaften Ueberfalls der Farm. Sie ritten um 
die Mitte des Vormittags fort, und als darauf eine 
Stunde vergangen war, brachen auch wir auf, Matto 
Schahko, der ſeine Waffen wiederbekommen hatte, als 
freier Mann. Er war grimmig erzürnt darüber, daß der 
Medizinmann uns wieder entwiſcht war; Dick Hammer⸗ 
dull aber, der ſtets heitere, tröſtete ihn: 


— 221 — 


„Der Häuptling der Oſagen mag ihn immer laufen 
laſſen; wir kriegen ihn ſchon wieder, denn wer gehängt 
werden ſoll, der wird gehängt; das iſt ein wahres 
Sprichwort.“ 

„Er ſoll nicht gehängt werden, ſondern eines zehn⸗ 
fachen Todes ſterben!“ knurrte der Oſage. 

„Ob einfach ſterben, ob doppelt oder ſechsfach, das 
bleibt ſich gleich; er wird aber doch gehängt. Für ſo einen 
Kerl gibt es keinen ſchöneren Tod als den durch den 
Strick. Nicht wahr, Pitt Holbers, altes Coon?“ 

„Ves, lieber Dick,“ antwortete der Lange. „Du haſt 
doch immer recht!“ 


Fünftes Kapitel 
Der Geheimnisvolle 


Einen Tag, nachdem wir Harbours Farm verlaſſen 
hatten, war uns das Unglück beſchieden, daß Treskows 
Pferd ſtürzte und den Reiter abwarf. Es ſprang raſch 
wieder auf, rannte fort und ſchleifte Treskow, der mit 
einem Fuß im Bügel hängen geblieben war, neben ſich 
her. Zwar waren wir ſchnell zur Hand, das Tier zu 
halten, aber doch ſchon zu ſpät, um zu verhüten, daß 
er mit dem Huf einen Schlag erhielt, der ihn glücklicher⸗ 
weiſe nicht am Kopf, ſondern an der Schulter traf. Die 
Wirkung dieſes Schlages äußerte ſich, wie dies zwar 
ſelten, aber doch zuweilen vorzukommen pflegt, nicht nur 
auf der getroffenen Stelle, ſondern auch auf der ganzen 
linken Körperhälfte. Der Verletzte war auf ihr wie 
gelähmt; er konnte ſogar das Bein kaum bewegen, und es 
zeigte ſich als unmöglich, ihn wieder aufs Pferd zu brin⸗ 
gen. Wir konnten nicht weiterreiten. 

Zum Glück gab es in der Nähe ein Waſſer, wohin 
wir ihn brachten. Wir waren nun gezwungen, dort Lager 
zu machen; auf wie lange, das mußte abgewartet werden. 

Winnetou unterſuchte ihn. Weder das Schulterblatt 
noch irgend ein Knochen war verletzt; doch war die 
getroffene Stelle ſtark geſchwollen und hatte eine dunkle 
Färbung angenommen. Wir konnten uns nur mit kalten 
Umſchlägen und mit einer Maſſage behelfen, die ſich außer⸗ 
ordentlich ſchmerzhaft zeigte, zumal Treskow keine wider⸗ 


T - - 7.” 
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— 223 — 


ſtandsfähige Natur beſaß. Er gehörte eben nicht in die 
Klaſſe der Weſtmänner, die in der Schule der Wildnis 
gelernt haben, Schmerzen lautlos zu ertragen. 

Er wimmerte bei jeder Berührung und Bewegung; 
wir kehrten uns aber nicht daran und hatten den Erfolg, 
daß die Lähmung wich und er ſchon am nächſten Tag 
den Arm und das Bein zu bewegen vermochte. Nach 
weiteren zwei Tagen hatte ſich die Geſchwulſt faſt geſetzt, 
und die Schmerzen waren ſoweit gewichen, daß wir 
weiterreiten konnten. 

Wir hatten durch dieſen leidigen Fall drei volle 
Tage eingebüßt, eine Zeit, die wir unmöglich einbringen 
konnten. Unſere Abſicht, Old Surehand vor feiner Ankunft 
oben im Park noch einzuholen, mußten wir nun auf⸗ 

geben. Dieſe Erwägung beunruhigte mich. Wenn ihm 
nur wenigſtens bekannt geweſen wäre, daß der „General“ 
auch binauf wollte und zwar zu derſelben Zeit und nach 
demſelben Park, ſo hätte er ſich vor ihm in acht nehmen 
können; aber er wußte das nicht. Auch dem alten Wabble 
traute ich nicht. Ich wußte freilich nicht, wohin der alte 
König der Cowboys mit ſeinen Begleitern eigentlich gewollt 
hatte, und konnte nur unbeſtimmte Ahnungen darüber 
hegen; aber nach dem, was geſchehen war, mußte ich 
annehmen, daß er uns der Rache wegen folgte. Der 
Umſtand, daß wir ſein Pferd behalten hatten, konnte 
daran nichts ändern, ſondern die Ausführung dieſes Vor⸗ 
habens höchſtens verzögern; und dieſe Verzögerung konnten 
wir nicht mehr in Anſchlag bringen, weil unſre drei» 
tägige Verſäumnis ihm Gelegenheit gegeben hatte, den 
ihm abgewonnenen Vorſprung einzuholen. Ebenſo mußte 
ich an Tibo taka denken. Das Ziel ſeines Rittes war 
uns eigentlich unbekannt; daß er nach Fort Wallace 
wolle, war jedenfalls eine Lüge geweſen. Grad ſo wie 


Deer r 


— 224 — 


Winnetou nahm ich an, der weiße Medizinmann ſei auf 
irgend einem, uns noch unbekannten Weg von dem 
„General“ aufgefordert worden, nach Kolorado zu kom⸗ 


men und dort an einem beſtimmten Punkt mit ihm 


zuſammenzutreffen. Ein einzelner Mann, der noch dazu 
durch die Anweſenheit ſeiner Frau an jeder freien 
Bewegung gehindert wurde, war eigentlich nicht zu 
fürchten; aber dem Böſen iſt das, was man Glück zu 
nennen pflegt, oft wenigſtens ſcheinbar oder vorüber⸗ 
gehend günſtiger als dem Guten, und ſo ſchien es 
geraten, auch dieſen Menſchen mit in die Berechnung 
zu ziehen. 

Wir waren alſo auf unſerm weitern Ritt ſehr vor⸗ 
ſichtig und kamen über die Grenze hinüber und ein gutes 
Stück ins Kolorado hinauf, ohne irgend welche Beläſti⸗ 
gung erfahren oder eine Spur der erwähnten e 
entdeckt zu haben. 

Jetzt befanden wir uns in der Nähe des Ruſh⸗ 
Creek, und Winnetou kannte da ein altes, längſt ver⸗ 
laſſenes Camp), das wir gegen Abend erreichen wollten. 
Dieſer Platz hatte nach der Beſchreibung des Apatſchen 
einen nie verſiegenden Quell und war mit einer Stein⸗ 
umwallung umgeben, die guten Schutz gewährte, obgleich 
ſie nicht eine Mauer bildete, ſondern in der Weiſe auf⸗ 
geſchichtet war, wie die Landleute mancher Gegenden die 
in ihrem Acker gefundenen Steine rund um dieſen auf⸗ 
einanderlegen. Für den Weſtmann bietet ein ſolcher Wall, 
auch wenn er nicht hoch iſt, eine ſtets willkommene Deckung 
gegen etwaige Angriffe. 

Kurz nach Mittag entdeckten wir eine Fährte von 
gegen zwanzig Reitern, die aus Nordoſt herüberkam und 


Jagerplaß . 


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— 225 — 


auch nach dem Ruſh⸗Creek zu gehen ſchien. Die Spuren 
zeigten, daß die Pferde Hufeiſen trugen; dieſer Umſtand 
und die ſchlechte und oft unterbrochene Ordnung, 
die von den Männern eingehalten war, ließen ver⸗ 
muten, daß ſie Weiße waren. Wir wären dieſer Fährte 
gefolgt, auch wenn fie nicht fo genau in unjere- Rich⸗ 


tung geführt hätte; man muß im wilden Weſten 


ſtets wiſſen, was für Menſchen man vor ſich hat. Daß 


ſie hinauf in die Berge wollten, war für uns ſelbſt⸗ 
verſtändlich, zumal man grad damals von bedeutenden 
Gold⸗ und noch größeren Silberfunden ſprach, die in den 
Mountains gemacht worden ſeien. Wahrſcheinlich hatten 
wir da vor uns die Fährte einer Geſellſchaft jener Aben⸗ 
teurer, die ſich infolge ſolcher Gerüchte ſchnell zuſammen⸗ 
finden und dann ebenſo raſch wieder auseinander gehen, 
verwegene und gewiſſenloſe Geſellen, die vom Leben alles 
erwarten und ſich doch ſehr wenig daraus machen, wenn 
ſie nichts bekommen. +. 

Die Fährte war wenigſtens fünf Stunden alt; wir 
hatten alſo Grund, anzunehmen, daß wir heut mit dieſen 
Leuten nicht zuſammentreffen würden. Wir folgten ihr 
daher ohne alle Beſorgnis, bis wir an eine Stelle kamen, 
wo die Leute angehalten hatten. Mehrere leere Konſerven⸗ 
büchſen, die man weggeworfen und dann unvorſichtig 
liegen gelaſſen hatte, verrieten, daß an dieſem Ort Mittag 
gehalten worden war. Auch eine leere Flaſche lag da. 
Wir waren abgeſtiegen, um die Stelle genau zu unter⸗ 
ſuchen, fanden aber nichts, was uns zu ungewöhnlichen 
Befürchtungen Veranlaſſung geben konnte. Dick Hammer⸗ 
dull hob die Flaſche auf, hielt ſie gegen das Licht, ſah, 
daß ſich noch ein Schluck drin befand, ſetzte ſie an den 
Mund und warf ſie ſchnell wieder fort. . und 
Geſichter ſchneidend rief er aus: 

Ma v, Old Surehand. II. 15 


— 226 — 


„Pfui! Waſſer, abgeſtandenes, altes, halbwarmes 
Waſſer! Hatte mir eingebildet, einen Schluck guten 
Brandy zu finden! Das können keine Gentlemen ſein! 
Wer eine Flaſche bei ſich hat und nur Waſſer drin, 
der kann keine Anſprüche auf meine Achtung haben, der 
iſt ein ganz gewöhnlicher Menſch! Meinſt du nicht auch, 
Pitt Holbers, altes Coon?“ 

„Hm!“ brummte der Lange. „Wenn du Schnaps 
erwartet haſt, ſo kannſt du mir in der Seele leid tun, 
lieber Dick. Denkſt du denn, daß dir hier im Weſten 
jemand eine volle Brandyflaſche her vor die Naſe legt?“ 

„Ob voll oder leer, das bleibt ſich gleich, wenn nur 
etwas drin iſt. Aber Waſſer, das iſt geradezu ſchändlich 
an mir gehandelt!“ 

Der klügſte Mann begeht zuweilen eine Dummheit, 
und vielleicht grad dann, wenn er alle Veranlaſſung hat, 
klug zu ſein. So auch wir! Daß wir nämlich dieſe Flaſche 
unbeachtet ließen, war eine unverzeihliche Nachläſſig⸗ 
keit. Die leeren Konſervenbüchſen hatten ja nichts zu 
ſagen; aber die Flaſche hätte unſre Aufmerkſamkeit erregen 
müſſen. Hätte ſich Branntwein drin befunden, nun, ſo 
wäre er eben ausgetrunken und die Flaſche dann fort⸗ 
geworfen worden; aber es war Waſſer drin geweſen, 
Waſſer! Man hatte ſie alſo nicht des Brandys wegen, 
ſondern als Waſſerflaſche mitgenommen, ſie als Feld⸗ 
flaſche benutzt, die man füllt und in die Satteltaſche 
ſchiebt, um da, wo es kein Waſſer gibt, ſeinen Durſt 
löſchen zu können. Im wilden Weſten iſt oder war 
wenigſtens damals eine Flaſche eine Seltenheit; ſie wurde 
nicht weggeworfen, ſondern aufgehoben. Auch dieſe hier 
war nicht weggeworfen, ſondern vergeſſen worden. Wenn 
der Beſitzer den Verluſt bemerkte und umkehrte, ſie zu 
holen. fo mußte er uns entdecken. Das war es, was wir 


222 


— 227 — 


uns hätten denken ſollen, und woran wir doch nicht 
dachten. | 

Die Leute hatten an diefer Stelle über drei Stunden 
gelagert; die Fährte war in ihrem weiteren Verlauf nicht 
zwei Stunden alt; wir folgten ihr dennoch vielleicht eine 
halbe Stunde lang über eine graſige Savanne, bis wir 
am Horizont und zu beiden Seiten Buſchwerk ſahen, hinter 

dem rechter Hand eine bewaldete Höhe lag, ein Vor⸗ 
berg des Sandytals, über deſſen Creek wir heut früh 
gekommen waren. Winnetou deutete nach dieſer Höhe 
und ſagte: | 

„Dort an dem Berg müſſen wir vorüber, wenn wir 
nach dem Camp wollen. Meine Brüder mögen mir folgen!“ 

Er lenkte nach rechts ab. f 

„Und die Fährte hier?“ fragte ich. „Bleiben wir 
nicht auf ihr?“ 

„Heut nicht. Morgen werden wir ſie wiederſehen.“ 

Seine Berechnung war ganz richtig; wir wären früh 
zu ihr zurückgekehrt, wenn wir nicht die Unterlaſſungs⸗ 
fünde mit der Flaſche begangen hätten. Ahnungslos 
folgten wir ihm, der ſelbſt nicht ahnte, wie verhängnis⸗ 
voll das Camp uns werden ſollte. 

Immer durch Buſchland reitend, kamen wir nach 
einer Stunde an dem erwähnten Berg vorüber, hinter 
dem ſich eine Höhe nach der andern aufbaute oder 
kuliſſenartig vorſchob. Wir folgten dem Apatſchen zwiſchen 
ſie hinein und kamen gegen Abend in ein breites, ſanft 
anſteigendes Tal, aus deſſen Mitte uns ein ſtiller Weiher 
entgegenglänzte; in ſeinem Abfluß ſpielten zahlloſe kleine, 
ſilberhelle Fiſchchen. Schattige Bäume ſtanden, bald ein⸗ 
zeln, bald in Gruppen, rings umher, und hinter dem Teich 
ſahen wir Steinanhäufungen, die von weitem wie die 
Ruinen eines früher bewohnten Ortes erſchienen. 


— 228 — 


„Das iſt das Camp, das ich meine,“ erklärte Winne⸗ 
tou. „Hier ſind wir ſicher vor jedem Ueberfall, wenn 
wir einen Poſten an den Eingang zum Tal ſtellen.“ 

Er hatte recht. Es konnte kaum einen Ort geben, 
der ſich beſſer zum ſichern Lager eignete als dieſes Camp. 
Wir ritten, infolge des weichen Bodens beinahe unhörbar, 


einer hinter dem andern an dem Weiher hin; da hielt 


Winnetou, der voran war, plötzlich ſein Pferd an, hob den 
Finger, um Schweigen zu gebieten, und lauſchte. 


Wir folgten ſeinem Beiſpiel. Jenſeits der Steine 


‚ erflangen Töne, die in der Entfernung, in der wir uns 


befanden, allerdings nur von einem ſcharfen Ohr gehört 


werden konnten. Der Apatſche ſtieg ab und gab mir | 


das Zeichen, dasſelbe zu tun. Wir ließen unſere Pferde 
bei den Gefährten zurück und ſchlichen uns leiſe zu den 
Steinen hin. Je näher wir ihnen kamen, deſto deutlicher 
wurden die Klänge. Es war eine hohe männliche Bariton⸗ 
oder eine ſehr tiefe weibliche Altſtimme, die in Indianer⸗ 
ſprache langſam und klagend ein Lied ſang. Das war 
nicht eine Indianerweiſe, aber auch keine Melodie nach 
unſeren Begriffen; das lag vielmehr in der Mitte zwiſchen 
beiden, als hätte ein Roter ſich der Sangesweiſe der Bleich⸗ 
geſichter anbequemt und ſie in die Sprache und den eigen⸗ 
artigen Ausdruck der Indianer übertragen. Ich hätte 
wetten mögen, daß der da vor uns ſang, das Lied und 
auch die Melodie ſelbſt erfunden habe. Es war ein Sang, 
der ſich, dem Sänger faſt unbewußt, aus der Seele löſt, 
um ebenſo ins Geheimnisvolle zu verklingen, wie er aus 
dem Geheimnisvollen erklungen iſt. 


Wir ſchoben uns näher und näher, bis wir eine 
ſchmale Breſche im Steinwall e durch die wir 
ſchauen konnten. 


— 19 — 


„Uff, uff!“ ſagte Winnetou, vor Ueberraſchung bei⸗ 
nah laut. 8 

„Uff, uff!“ ſagte auch ich, mit ihm zu gleicher Zeit, 
ebenſo erſtaunt wie ex. 

Die Steine bildeten eine von Bäumen beſchattete und 
mit einigen Büſchen beſetzte Umwallung von vielleicht 
vierzig Meter Durchmeſſer, deren Boden von hohem 
fettem Graſe bewachſen war. Am Rand dieſer Umwallung, 
ganz nahe bei der Breſche, an der wir lagen, ſaß — 
Winnetou, der Häuptling der Apatſchen! 

Ja, in etwas größerer Entfernung hätte man den 
Indianer da drin für Winnetou halten müſſen. Sein 
Kopf war unbedeckt. Er hatte ſeine langen, dunklen 
Haare in einen Schopf gebunden, von dem ſie ihm jetzt, 
da er ſaß, über den Rücken bis auf die Erde niederfielen. 
Sein Jagdrock und ſeine Leggins waren aus Leder gefertigt; 
dazu trug er Mokaſſins. Um die Hüften hatte er ſich eine 
bunte Decke geſchlungen, in der nur ein Meſſer ſteckte. 
Neben ihm lag ein Doppelgewehr. Am Halſe hingen an 
Schnüren und Riemen verſchiedene notwendige Gegen⸗ 
ſtände, doch darunter keiner, den man für eine Medizin 
hätte halten können. 
| War das nicht alles faſt genau fo wie bei Winne- 

tou? Freilich war der Indianer da drin älter als 
der Apatſche, aber man ſah noch heut, daß er einſt 
ſchön geweſen war. Seine Geſichtszüge waren ernſt und 
ſtreng, hatten aber doch etwas an ſich, was mir frauen⸗ 
haft weich vorkam. Alles in allem war ich im erſten 
Augenblick erſtaunt über die Aehnlichkeit mit Winnetou 
geweſen, und nun dieſes Erſtaunen vorüber war, bemäch⸗ 
tigte ſich meiner ein Gefühl, das ich nicht beſchreiben kann. 
Ich befand mich vor etwas Rätſelhaftem, vor einem ver⸗ 
ſchleierten Bild, deſſen Schleier nicht zu ſehen war. 


Der Rote fang noch immer halblaut fort. Wie 
ſtimmte aber das weiche, tief empfundene Weh des Liedes 
zu dem kühnen, energiſchen Schnitt ſeines Geſichts? 
Wie war der harte, unerbittliche Zug, der ſeine vollen 
Lippen umlagerte, mit dem wunderbaren, milden Glanz 
ſeiner Augen in Einklang zu bringen, der Augen, von 
denen ich behaupten möchte, daß ſie gewiß und wahrhaftig 
ſchwarz geweſen ſeien, während es ſonſt niemals wirklich 
ſchwarze Augen gibt? Dieſer Rote war nicht das, was 
er ſchien, und ſchien nicht das, was er war. Hatte ich 
ihn ſchon geſehen? Entweder nirgends oder hundertmal! 
Er war mir ein Geheimnis, aber inwiefern und warum, 
das vermochte ich nicht zu ſagen. 

Winnetou hob die Hand in die Höhe und flüſterte: 

„Kolma Puſchi!“ 

Auch ſeine Augen hatten ſich erweitert, um den 
fremden Indianer mit einem Blick zu umfaſſen, wie ich 
ſelten einen Blick aus den Augen des Apatſchen geſehen 
hatte. 

Kolma Puſchi! Alſo hatte ich richtig geahnt: Wir 
ſahen eine rätſelhafte, eine wirklich rätſelhafte Perſönlich⸗ 
keit vor uns. Es gab oben in den hohen Parks einen 
Indianer, den kein Menſch näher kannte, der zu keinem 
Volk gehörte, und der ſtolz jeden Umgang von ſich wies. 
Er jagte bald hier und bald dort, und wo man ihn ſah, 
da verſchwand er ebenſo ſchnell, wie er gekommen war. 
Nie hatte er ſich einem roten oder weißen Menſchen 
feindlich gezeigt, aber es konnte ſich auch niemand rühmen, 
ihn auch nur einen Tag lang zum Gefährten gehabt zu 
haben. Einige hatten ihn zu Pferd, einige nur zu Fuß 
geſehen, ſtets aber hatte er den Eindruck eines Mannes 
gemacht, der ſeine Waffen zu führen verſtand, und mit 
dem nicht zu ſpaßen iſt. Seine Perſon galt den India⸗ 


— 231 — 


nern und den Weißen als für alle Fälle neutral, als 
unverletzlich; ihn feindlich zu behandeln, hätte nichts 
anderes geheißen, als den großen Manitou in Zorn zu 
verſetzen und ſeine Rache heraufzubeſchwören. Gab es 
doch Indianer, die behaupteten, dieſer rote Mann ſei kein 
Menſch mehr, ſondern der Geiſt eines berühmten Häupt⸗ 
lings, den Manitou aus den ewigen Jagdͤgefilden zurück⸗ 
geſchickt habe, um nachzuforſchen, wie es ſeinen roten 
Kindern ergehe. Man fand keinen Menſchen, der ſeinen 
Namen hatte erfahren können, und da man doch für jeden 
Gegenſtand und für jede Perſon einen Namen haben muß, 
ſo hatte man ihn ſeiner nachtſchwarzen, tiefdunkeln Augen 
wegen Kolma Puſchi!) oder Tokvi Puy genannt. Wer 
aber ihm dieſen Namen gegeben, ihn zum erſtenmal aus⸗ 
geſprochen und weitergetragen hatte, das wußte freilich 
auch niemand. 

Alſo dieſen geheimnisvollen Indianer hatten wir jetzt 
vor uns. Winnetou kannte ihn nicht, hatte ihn auch 
noch nicht geſehen, behauptete aber doch ſofort, daß es 
Kolma Puſchi ſei. Es fiel mir gar nicht ein, an der 
Wahrheit dieſer Behauptung zu zweifeln, denn jeder, der 
dieſen Roten vor die Augen bekam und vorher auch nur 
einmal von Kolma Puſchi gehört hatte, mußte ſich nach 
dem erſten Blick ſagen, daß er dieſer und kein anderer ſei. 

Wir hatten keine Veranlaſſung, ihn lange zu be⸗ 
lauſchen; und da wir unſre Gefährten nicht warten 
laſſen wollten, erhoben wir uns von der Erde und 
machten dabei abſichtlich ein Geräuſch. Schnell wie ein 
Blitz griff er nach ſeinem Gewehr, richtete die Läufe auf 
uns, ließ die Hähne knacken und rief: 

„Uff! Zwei Männer! Wer?“ 


) Roqui⸗Sprache. 
9) Utah⸗Sprache; beides bedeutet Dunkelauge, Schwarzauge. 


— 232 — 


Das war ebenſo kurz, wie es gebieteriſch klang. 
Winnetou öffnete ſchon den Mund, um zu antworten; 
da ging mit dem Fremden eine plötzliche Veränderung 
vor. Er ließ ſein Gewehr, es mit der einen Hand am 
Oberlauf haltend, mit dem Kolben zu Boden ſinken, brei⸗ 
tete den andern Arm wie bewillkommnend aus und rief: 

„Intſchu tſchuna! Intſchu tſchuna, der Häuptling 
der Apa — — — — doch nein! Das iſt nicht Intſchu 
tſchuna; das kann nur Winnetou ſein, ſein Sohn, ſein 
noch viel größerer, noch berühmterer Sohn!“ 

„Du haſt Intſchu tſchuna, meinen Vater, gekannt?“ 
fragte Winnetou, indem wir durch die Breſche in den 
Kreis traten. 

Es war, als beſinne ſich der Geheimnisvolle, ob er 
es leugnen oder zugeben ſolle. Da jenes aber nun nicht 
mehr möglich war, antwortete er: 

„Ja, ich habe ihn gekannt; ich habe ihn geſehen, 
einmal oder zweimal, und du biſt ſein Ebenbild.“ 

Seine Stimme hatte einen weichen und doch kräf⸗ 
tigen, entſchiedenen Ton; ſie war faſt noch ſonorer, noch 
klangreicher als die des Apatſchen und hatte eine höhere, 
beinahe weibliche Lage. 

„Ja, ich bin Winnetou; du haſt mich erkannt. Und 
du wirſt Kolma Puſchi genannt?“ 

„Kennt mich Winnetou?“ 

„Nein; ich habe dich noch nie geſehen; ich errate es. 
Erlaubt uns Kolma Puſchi, von dem wir ſtets nur Gutes 
hörten, an ſeiner Seite Platz zu nehmen?“ 

Der Genannte richtete ſeine Augen nun auch auf 
mich. Nachdem er einen ſcharf forſchenden Blick über 
mich hatte gleiten laſſen, antwortete er: 

„Auch ich habe nur Gutes von Winnetou gehört. 
Ich weiß, daß oft ein Bleichgeſicht bei ihm iſt, das noch 


— 288 — 


nie eine böſe Tat begangen hat und Old Shatterhand 
genannt wird. Iſt das dieſer Weiße?“ 

„Er iſt's,“ nickte Winnetou. 

„So ſetzt euch nieder, und ſeid Kolma Puſchi will⸗ 
kommen!“ . 

Er gab uns feine Hand, die mir ungewöhnlich klein 
vorkam. Winnetou machte ihm die Mitteilung: 

„Wir haben Gefährten bei uns, die draußen am 
Waſſer warten. Dürfen auch ſie herbeikommen?“ 

„Der große Manitou hat die Erde für alle guten 
Menſchen geſchaffen; es iſt hier Platz genug für alle, die 
euch begleiten.“ 

Ich ging, um die Gefährten zu holen. Die Umwal⸗ 
lung hatte auf der andern Seite einen breiteren Eingang 
als die Breſche, durch die wir geſtiegen waren; als wir 
da hindurch in den Kreis gelangten, ſaßen Winnetou 
und Kolma Puſchi nebeneinander unter einem Baum. 
Dieſer ſah uns erwartungsvoll entgegen. Sein Auge glitt 
über die Nahenden mit dem gewöhnlichen Anteil hinweg, 
den man für Unbekannte zeigt, mit denen man für kurze 
Zeit zu verkehren hat; als es aber auf Apanatſchka fiel, 
der zuletzt hereingeritten kam, blieb ſein Blick wie feſt⸗ 
gebannt an ihm hangen. Es riß ihn — wie eine unſicht⸗ 
bare Gewalt — mit einem Ruck vom Boden auf; er tat, 
den Blick keine Sekunde von ihm wendend, mehrere Schritte 
auf Apanatſchka zu, blieb dann ſtehen, verfolgte jede ſeiner 
Bewegungen mit unbeſchreiblicher Spannung, trat dann 
ſehr ſchnell auf ihn zu und fragte faſt ſtammelnd: ö 

„Wer — wer biſt du? Sag — — ſag es mir!“ 

Der Gefragte antwortete mit gleichgültiger Freund⸗ 
lichkeit: 

„Ich bin Apanatſchka, der Häuptling der Pohonim⸗ 
Komantſchen.“ 


— 284 — 


„Und was — was willſt du hier in Kolorado?“ 

„Ich wollte nach Norden, um die heiligen Stein⸗ 
brüche zu beſuchen, und traf dabei auf Winnetou und 
Old Shatterhand, die in die Berge wollten. Da habe 
ich meinen Pfad geändert und bin mit ihnen geritten.“ 

„Uff, uff! Häuptling der Komantſchen! Es kann 
nicht ſein; es kann nicht ſein!“ 

Er ſtarrte Apanatſchka noch immer ſo forſchend an, 
daß dieſer ſagte: 

„Kennſt du mich? Haſt du mich ſchon einmal geſehen?“ 

„Ich muß, ich muß dich geſehen haben, doch wird 
es wohl im Traum geweſen fein, im Traum meiner 
Jugend, die ſchon längſt vergangen iſt.“ 

Er gab ſich Mühe, ſeine Aufregung zu beherrſchen, 
reichte ihm die Hand und fuhr fort: 

„Sei auch du mir willkommen! Es iſt heut ein Tag, 
wie wenig Tage ſind!“ 

Er kehrte zu Winnetou zurück, bei dem ich inzwiſchen 
Platz genommen hatte, und ließ ſich, Apanatſchka immer 
noch betrachtend, auf ſeinen frühern Sitz nieder, als ob 
er ſich noch heut im „Traum ſeiner Jugend“ befände. 
Ein ſolches Verhalten iſt bei einem Indianer eine Selten. 
heit, die nicht unbeachtet bleiben kann. Sie fiel Winne⸗ 
tou nicht weniger auf als mir, doch ließen wir uns nichts 
davon merken, ſo ſpannend die Szene für uns beide 
geweſen war. 

Die Pferde wurden zur Tränke geführt und dann 
mit grünem Laubwerk zum Freſſen wohl verſorgt. Zwei 
Mann ſammelten Dürrholz zum Feuer, das angeſteckt 
wurde, ſobald es dunkelte, und um dieſelbe Zeit ging Pitt 
Holbers fort, um als erſter am Taleingang Poſten zu 
ſtehen. Er ſollte von Treskow abgelöſt werden, worauf 
wir nach der gewöhnlichen Reihe folgen wollten. 


— 238 — 


Wir ſaßen bald alle in einem weiten Kreis, in dem 
das Feuer brannte. Wir waren mit Mundvorrat verſehen 
und teilten Kolma Puſchi davon mit, da wir glaubten, 
daß er nichts zu eſſen habe. 

„Meine Brüder ſind freundlich zu mir,“ ſagte er; 
„aber ich könnte ihnen auch Fleiſch geben, daß ſie alle 
ſatt würden.“ 

„Wo haſt du es?“ fragte ich. 

„Bei meinem Pferd.“ 

„Warum haft du es nicht mit hierher genommen?“ 

„Weil ich nicht hier bleiben, ſondern weiterreiten 
wollte. Es ſteht an einem Ort, wo es ſicherer iſt als hier.“ 

„Hältſt du dieſes Camp nicht für ſicher?“ 

„Für einen einzelnen nicht; da ihr aber ſo zahlreich 
ſeid, daß ihr Wachen ausſtellen Brut, habt ihr kaum 
etwas zu befürchten.“ 

Ich hätte dieſes Geſpräch gern fortgeſetzt; er verhielt 
ſich aber ſo einſilbig, daß ich davon abließ. Natürlich 


fragte er, wohin wir wollten. Als er erfuhr, der Park 


von San Luis ſei unſer Ziel, wurde er noch ſchweigſamer 
als vorher; das konnte uns weder auffallen noch beleidigen. 
Im wilden Weſten iſt der Menſch ſelbſt gegen gute 
Bekannte vorſichtiger als anderswo. Nur Dick Hammer⸗ 
dull war unzufrieden, daß von dieſem fremden Indianer 
ſo wenig zu erfahren war; er wollte mehr ermitteln und 
fragte ihn in ſeiner vertraulichen Weiſe: 

„Mein roter Bruder hat gehört, daß wir von Kanſas 
heraufgekommen ſind. Dürfen wir nun wiſſen, woher er 
gekommen iſt?“ 

„Kolma Puſchi kommt von daher und von dorther; 
er iſt wie der Wind, der alle Wege hat,“ lautete die un⸗ 
beſtimmte Antwort. 

„Und wohin wird er von hier aus gehen?“ 


— 2836 — 


„Dahin und dorthin, wohin ſein Pferd die Echritt 
lenkt.“ 

„Well! Ob dahin oder ob dorthin, das bleibt ſich 
gleich; aber man muß doch wenigſtens wiſſen, wohin das 
Pferd zu laufen hat! Oder nicht?“ 

„Wenn Kolma Puſchi es weiß, iſt es genug.“ 

„Ohl Ich brauche es alſo nicht zu wiſſen? Das iſt 
nicht nur aufrichtig, ſondern ſogar grob! Meinſt du nicht 
Rauch, Pitt Holbers, altes — — —“ 

Er bemerkte, daß Holbers jetzt nicht da war, und 
verſchluckte alſo das letzte Wort ſeiner Frage. Kolma 
Puſchi wendete ſich vollſtändig zu ihm hin und ſagte in 
ernſtem Ton: 

„Das Bleichgeſicht, das Hammerdull genannt wird, 
nennt mich grob. War es vorher fein und höflich, mir 
den Mund öffnen zu wollen, wenn ich es liebe, daß er 
geſchloſſen bleibt? Der dicke Mann ſcheint den Weſten 
nicht genau zu kennen. Wer ſein Ziel verſchweigt, dem 
kann die Gefahr nicht vorauseilen, um ihn dort zu über⸗ 
fallen. Das mag Hammerdull ſich merken!“ 

„Danke!“ lachte der Zurechtgewieſene. „Schade, Mr. 
Kolma Puſchi, daß Ihr kein Schulmeiſter geworden ſeid! 
Die Begabung hättet Ihr dazu! Uebrigens war es nicht 
bös von mir gemeint. Ihr gefallt mir außerordentlich, 
und ich würde mich freuen, wenn Euer Weg derſelbe wie 
der unſre wäre. Darum habe ich gefragt.“ 

„Daß mein dicker, weißer Bruder es nicht bös 
gemeint hat, weiß ich, ſonſt hätte ich ihm überhaupt nicht 
geantwortet. Ob mein Weg derſelbe iſt, das wird ſich 
finden. Howghl“ 

Damit war die Unterhaltung zu Ende. Weil wir 
am andern Morgen ſehr zeitig aufbrechen wollten, legten 
wir uns bald ſchlafen; das war, als Pitt Holbers, der 


— 237 — 
von Treskow abgelöſt worden war, wieder in das Lager 
kam. 


Wie lange ich geſchlafen hatte, weiß ich nicht; ein 
vielſtimmiges Brüllen weckte mich, und als ich die Augen 
öffnete, geſchah es nur, um einen Augenblick lang einen 
vor mir ſtehenden Menſchen zu ſehen, der mit dem 
Gewehrkolben ausholte. Ehe ich eine Bewegung machen 
konnte, traf mich der Hieb, und es war aus mit mir 
— — — glüdlicheriveife nicht für immer. 

Lieber Leſer, biſt du eine ſo empfindſame Natur, 
daß es dir möglich iſt, mir nachzufühlen, wie es iſt, wenn 
man aus einer tiefen Betäubung erwacht und dabei zu 
der freundlichen Erkenntnis kommt, daß man einen 
Dummkopf beſitzt, der ſo unbedachtſam geweſen iſt, einen 
niederſauſenden Gewehrkolben aufzufangen? Ich ſage 
mit Abſicht „einen Dummkopf“, denn dümmer als nach 
einem ſolchen Hieb kann es keinem menſchlichen Kopf ſein! 
Zunächſt fühlt man ihn gar nicht; man lebt nur bis zum 
Hals herauf und kommt erſt nach und nach durch ein 
gewiſſes Summen und Brummen zu der Einſicht, daß 
man nicht gänzlich geköpft, ſondern nur an den oberſten 
Teil des Körpers geſchlagen worden iſt. Daß dieſer Teil 
der Kopf iſt, wird einem nicht ſogleich, ſondern erſt dann 
— — nicht klar, ſondern einſtweilen noch unklar, wenn 
das Brummen ſich in ein Drücken und Schrauben ver⸗ 
wandelt, als ob der in eine Weinpreſſe geſpannte Schädel 
mit einem halben oder auch ganzen Gros Pfropfenzieher 
bearbeitet werde. Im nächſten Stadium bringt jeder 
Pulsſchlag, der das Gehirn mit Blut verſorgt, das 
Gefühl hervor, als ob man mit dem Kopf unter den 
Stampfen einer Oelmühle oder eines Hammerwerks liege, 
und dazwiſchen wühlen Löwenkrallen im Wohnſitz des 
Verſtands herum. Ich ſehe ein, daß es eines klugen 


— 98 — 
Menſchen unwürdig iſt, den Zuſtand zu beſchreiben, in 
dem man ſich nach einem ſolchen Hieb befindet; ich will 
nur ſagen: dumm, im höchſten Grade dumm! 

So erging es mir. Nachdem ich die oben be⸗ 
ſchriebenen Grade durchgemacht hatte, bekam ich alle mög⸗ 


lichen Farben vor die Augen, und die Brandung von 


hundert Meeresküſten tobte mir in den Ohren. Ich 
konnte weder ſehen noch hören und tat, was in dieſem 


Fall das Beſte und Allergeſcheiteſte war: ich fiel in die 


Betäubung zurück. 
Als ich dann zum zweitenmal zu mir kam, fühlte ich 


mich zu meiner Freude im leidlichen Beſitz meiner körper⸗ 


lichen und geiſtigen Fähigkeiten; nur vermochte ich noch 
nicht ganz genau zu unterſcheiden, ob mir zwiſchen und 
aus den Schultern ein Kopf oder ein Gewehrkolben 
gewachſen war. Ich machte von meinen Fähigkeiten 
ſofort Gebrauch, indem ich zunächſt die Augen öffnete. 
Das, was ich ſah, war nicht ſehr tröſtlich zu nennen. 
Ein großes, helles Feuer brannte, und vor mir ſaß Old 
Wabble, der ſeine haßerfüllten Augen auf mich gerichtet 
hielt. 

| „Ah, endlich, endlich!“ rief er aus. „Habt Ihr aus⸗ 
geſchlafen, Mr. Shatterhand? Von mir geträumt, nicht 
wahr? Ich bin überzeugt, Euch im Traum als Engel 
erſchienen zu ſein, und bin gern bereit, dieſe Rolle jetzt 
weiter zu ſpielen; it's clear! Als was für einen Engel 
werdet Ihr mich da wohl kennen lernen? Als Rache⸗ 
oder Rettungsengel?“ 


„Pshaw!“ antwortete ich. „Ihr habt zu keinem von 
beiden das Geſchick.“ 

Es fuchſte mich gewaltig, dieſem Menſchen antworten 
zu müſſen; aber ein ſtolzes Schweigen wäre falſch 


geweſen. Ich ließ meine Augen rundum ſchweifen. Wir 
waren alle gefangen, ſelbſt Treskow, der Wache geſtanden 
hatte. Wahrſcheinlich war er nicht aufmerkſam genug 
geweſen und hatte ſich überrumpeln laſſen. Wir waren 
alle gefeſſelt. Links von mir lag Winnetou, rechts 
der dicke Hammerdull. Von den zwanzig Kerlen, die 
rund um uns ſaßen, kannte ich außer Old Wabble 
keinen. Das waren die Leute, deren Fährte wir heut 
geſehen hatten. Wie kamen fie hierher nach dieſem Kamp? 
Sie waren uns doch voraus geweſen und hatten ſich links 
gehalten, während wir rechts abgeritten waren! Da fiel 
mir die Waſſerflaſche ein, und es wurde mir mit einem 
Mal klar, was für einen Fehler wir begangen hatten. 

Der alte König der Cowboys hatte ſich grad vor mich 
hingeſetzt. Die Freude, mich gefangen zu haben, lachte 
höhniſch aus jeder Runzel und Falte ſeines verwitterten 
Geſichts. Das ſchlangengleich in einzelnen Strähnen von 
ſeinem Kopf fallende lange, graue Haar verlieh ihm das 
Ausſehen einer greiſenhaften, männlichen Eumenide oder 
Gorgone, aus deren krakenähnlichen Fangarmen kein Ent⸗ 
rinnen iſt. Die oft wechſelnde Beleuchtung des bald hoch 
aufflackernden und bald zuſammenſinkenden Feuers gab 
ihm etwas ſo abenteuerlich Phantaſtiſches und ließ ſeine 
langgliederige, wabbelnde Geſtalt ſo wunderlich erſcheinen, 
daß ich hätte glauben mögen, mich in einer Märchenſzene 
zu befinden, wenn mir nicht ſo ſehr bewußt geweſen wäre, 
daß ich es leider nur mit nackter, unpoetiſcher nn 
zu tun hatte. 

Er nahm meine Antwort als das, was ſie war, näm⸗ 
lich eine Verhöhnung, und fuhr mich zornig an: 

„Seid nicht ſo frech, ſonſt ſchnalle ich Euch die Feſſeln 
ſo feſt, daß Euch das Blut aus der Haut ſpritzt! Ich 
habe keine Luſt, mich von Euch lächerlich machen und 


— 240 — 


beleidigen zu laſſen. Ich bin kein Indianer! e 
Ihr, was ich damit ſagen will?“ 

„Ja, daß Ihr überhaupt nicht zu den Weſen gehört, 
die man Menſchen nennt!” 

„Zu welchen denn?“ 

„Steigt ſo weit wie möglich im Tierreich hinunter 
und ſucht Euch da das häßlichſte, gemiedenſte Geſchöpf 
heraus, fo habt Ihr, was Ihr feid!“ 

Er ließ ein heiſeres Lachen hören und rief: 


„Der Kerl iſt wirklich ſo albern, daß er mich nicht 
verſtanden hat! Ich habe geſagt, Ihr ſollt bedenken, daß 
ich kein Indianer bin. Die Roten ſchleppen ihre Gefan⸗ 
genen lange Zeit mit ſich herum, um ſie nach ihren Weide⸗ 
plätzen zu bringen; ſie füttern ſie gut, um ſie zum Aus⸗ 
halten vieler Qualen kräftig zu machen. Dadurch wird, 
wie ich in Eurer Geſellſchaft ſelbſt erfahren habe, den 
Gefangenen Gelegenheit geboten, einen zur Flucht gün⸗ 
ſtigen Augenblick abzuwarten. Wer keine Hoffnung zum 
Entkommen hat und ſchnell und ſchmerzlos ſterben will, 
der pflegt darum das alte, abgegriffene Mittel anzu⸗ 
wenden, die Indsmen, in deren Hände er geraten iſt, ſo 
zu beleidigen, daß ſie ſich im Zorn darüber vergeſſen und 
ihn augenblicklich töten. Wenn Ihr etwa glaubt, zwiſchen 
dieſem Entweder und dieſem Oder wählen zu können, ſo 
ſeid Ihr im Irrtum. Ihr findet bei mir keine Gelegen⸗ 
heit zur Flucht, weil es mir gar nicht einfallen kann, Euch 
lange mit mir herumzuzerren; aber Ihr bringt mich auch 
nicht ſo weit, Euch raſch die Kugel oder das Meſſer zu 
geben und auf den Genuß zu verzichten, den ich haben 
werde, wenn Ihr ſo recht hübſch langſam aus dieſem 
Leben in Eure berühmte Seligkeit hinüberſchmachtet. 
Könnt Ihr Euch noch beſinnen, was Ihr mir während 


— 241 — 


jenes nächtlichen Ritts durch den Llano eſtakado alles 
vom ewigen Leben vorgefaſelt habt?“ 

Ich antwortete nicht, und er fuhr fort: 

„Nach Eurer Anſicht muß es da drüben ſo wunder⸗ 
voll ſein, daß es mich als Euern beſten Freund, der ich 
doch jedenfalls bin, von Herzen jammert, Euch hier im 
Erdenleben ſchmachten zu ſehen. Ich werde Euch alſo 
die Türe Eures Paradieſes öffnen und durch einige kleine 
Unbehaglichkeiten, die ich Euch dabei bereite, dafür ſorgen, 
daß Euch die jenſeitigen Herrlichkeiten umſo vollkommener 
erſcheinen.“ | 

„Habe nichts dagegen,“ bemerkte ich in möglichſt 
gleichgültigem Ton. 

„Davon bin ich überzeugt! Darum hoffe ich, daß Ihr 
mir für die Liebe, die ich Euch damit erweiſe, einen 
Gefallen tut. Ich möchte nämlich gar zu gern wiſſen, 
wie es da drüben iſt. Wolltet Ihr mir nach Eurer 
ſeligen Abreiſe einmal als Geiſt oder Geſpenſt erſcheinen, 
um mir Auskunft zu erteilen, ſo würde mich das zu 
großer Dankbarkeit verpflichten, und Ihr könntet meiner⸗ 
ſeits des herzlichſten Willkommens ſicher ſein. Wollt Ihr 
das tun, Mr. Shatterhand?“ 

„Gern! Ich werde ſogar noch mehr tun, als Ihr 
verlangt; ich werde noch vor meinem Tod über Euch 
kommen, und zwar in einer Weiſe, daß Ihr tauſend 
Geſpenſter anſtatt nur eines ſehen werdet!“ 

„Well, darüber ſind wir alſo einig,“ lachte er. „Ihr 
ſeid freilich ein Kerl, der nie den Mut verliert; aber wenn 
Ihr auch jetzt noch irgend welche Hoffnung hegt, ſo kennt 
Ihr Fred Cutter ſchlecht, den man Old Wabble nennt. 
Ich habe mir vorgenommen, meine Rechnung mit Euch 
abzuſchließen, und der Strich, den ich darunter mache, 
wird ein Strich durch Euer Leben ſein. Denn, mein 

May, Odd Surehand. II. 16 


— 242 — 


Beſter, Ihr habt geſtern nachmittag einen Pudel 
ſondergleichen geſchoſſen, nicht wahr?“ 

„Pshaw, eine Flaſche, weiter nichts!“ 

„Richtig! Ja, die Flaſche, die iſt verhängnisvoll für 
Euch geworden! Es iſt ſchon mancher an der Flaſche, 
nämlich an deren Inhalt, zugrunde gegangen; aber daß 
jemand in einer leeren Flaſche nach den ewigen Jagd⸗ 
gründen befördert wird, das iſt wohl noch nicht dageweſen! 
Habt Ihr denn nicht daran gerochen?“ 

Da antwortete Dick Hammerdull an meiner Stelle: 

„Iſt uns nicht eingefallen. Denkt Ihr denn wirrklich, 
daß wir etwas, was Ihr in den Händen gehabt habt, an 
unſre Naſe bringen?“ 

„Sehr ſchön geſprochen, Dicker; aber die Luft zum 
Scherzen wird Euch noch vergehen! Ihr habt die Pulle 
für eine weggeworfene Schnapsflaſche gehalten; ſie war 
aber meine Waſſerflaſche, die ich vergeſſen hatte. Wenn 
Ihr wißt, was ein Schluck Waſſer da, wo es keins gibt, zu 
bedeuten hat, ſo werdet Ihr Euch nicht darüber wundern, 
daß ich ſofort halten ließ und zurückritt, als ich den Ver⸗ 
luſt bemerkte. Es gibt Gegenden, wo das Leben an einigen 
Tropfen Waſſer hängt. Als ich den Rand der Prärie 
erreichte, auf der wir zu Mittag gelagert hatten, ſah ich 
euch und erkannte euch nicht gleich. Ihr rittet aber 
weiter und kamt mir dadurch näher; da nahm ich freilich 
zu meiner Freude wahr, daß ich die Gentlemen vor mir 
hatte, die ich ſuchte. Ich jagte alſo ſofort zurück und holte 
meine Leute. Wir folgten euch bis an dieſes Tal, wo 
euer Poſten ſo entgegenkommend war, ſich von uns über⸗ 
fallen zu laſſen. Wir ſchlichen zu Fuß herein und um⸗ 
zingelten euch. Ihr ſchlieft den Schlaf der Gerechten und 
träumtet von ſo vortrefflichen Dingen, daß es mir unend⸗ 
lich leid tut, euch aufgeweckt zu haben. Wir bieten euch 


— 243 — 


auf eurem weiteren Ritt unſere Geſellſchaft an. Mr. 
Shatterhand wird ſich leider nicht daran beteiligen 
können, da er im Begriff ſteht, abzureiſen. Er wird in 
dieſem ſchönen Tal, ſobald es Tag geworden iſt, die 
Himmelsleiter beſteigen und alſo verhindert ſein, an 
unferer Seite zu — — —“ 

„Schwatzt nicht ſo lang und ſo unnützes geug· fiel 
ihm da einer in die Rede, der mit übereinander 
geſchlagenen Armen am Stamm eines Baumes lehnte. 
„Was geſchehen ſoll, das kann geſchehen, ohne daß man 
vorher darüber viele Worte macht. Was Ihr mit Old 
Shatterhand abzuſchließen habt, geht uns nichts an; die 
Hauptſache iſt für uns das Verſprechen, das Ihr uns 
gegeben habt.“ 

„Das werde ich halten!“ antwortete Old Wabble. 

„So macht, daß Ihr darauf zu ſprechen kommt! Wir 
wollen wiſſen, woran wir ſind.“ 

„Das wißt ihr ſchon!“ 

„Nein. Bevor Ihr nicht mit Winnetou geſprochen 
habt, hat alles andere keinen Wert für uns. Ihr habt 
uns da unten in Kanſas aus den beſten Geſchäften ge⸗ 
riſſen; nun da wir die Kerls gefangen haben, wollen wir 
vor allen Dingen erfahren, ob die Hoffnungen, die Ihr 
uns gemacht habt, in Erfüllung gehen können. Wendet 
Euch an Winnetou, ſchwatzt aber nicht ſo lange mit Old 
Shatterhand! Der Apatſche iſt doch wohl der Mann, den 
wir brauchen!“ 

„Nur langſam, Mer. Redy, langſam! Wir haben ſo 
viel Zeit, daß Ihr das wohl erwarten könnt.“ 

Alſo Redy hieß der Mann, der am Baume ſtand! 
Ich vermutete, da er von Kanſas und den dortigen guten 
Geſchäften geſprochen hatte, daß die Leute, die uns über⸗ 
fallen hatten, zu den Tramps gehörten, denen wir da 


— 244 — 


unten ſo gefliſſentlich ausgewichen waren. Redy war 
anſcheinend der Anführer dieſer Truppe und von Old 
Wabble veranlaßt worden, mit ihm zu reiten, um uns 
zu verfolgen — unter welchen Vorausſetzungen und 
Bedingungen, das war noch zu erfahren. 

Unſere Lage war ſchlimm. Die Kerls, in deren 
Händen wir uns befanden, waren mehr zu fürchten als 
die heruntergekommenſte Indianerhorde. Und von uns 
allen war ich derjenige, der die ſchlechteſten Ausſichten 
hatte. Ich ſollte hier ermordet werden und war über⸗ 
zeugt, Old Wabble werde, wenn nicht ein für mich 
günſtiger Umſtand eintrat, ſeine Drohung ausführen. 
Mein Leben hing diesmal an einem Haar. | 

Redy näherte ſich dem Apatſchen und fagte zu ihm: 

„Mr. Winnetou, die Sache iſt nämlich die, daß wir 
ein Geſchäft mit Euch haben. Hoffentlich weigert Ihr 
Euch nicht, darauf einzugehen!“ 

Winnetou ſah ebenſo wie ich ein, daß Schweigen 
nicht am Platz ſei. Wir mußten uns über die Abſichten 
dieſer Menſchen klar werden und alſo mit ihnen reden. 
Darum antwortete der Apatſche: | 

„Was für ein Geſchäft meint das Bleichgeſicht?“ 

„Ich will es kurz machen und aufrichtig ſein. Old 
Wabble hat eine Rache gegen Old Shatterhand, die er 
ſich nicht getraute, allein auszuführen. Er kam zu uns 
und forderte uns auf, ihm zu helfen. Wir waren 
bereit dazu, doch nur unter der Bedingung, daß ein 
guter Lohn für uns abfällt. Er verſprach uns Gold, viel 
Gold dafür. Hoffentlich habt Ihr mich verſtanden?“ 

„uff!“ 

„Ich weiß nicht, was Ihr mit dieſem Uff ſagen 
wollt, hoffe aber, es bedeutet eine Zuſtimmung. Es ſind 
hier in Kolorado ſehr ſchöne Placers entdeckt worden. Wir 


mes. 
D — „2 


— 245 — 


wollten, wenn wir in Kanſas fertig waren, auch herauf, 

um zu proſpekten; das iſt aber eine ſehr trügeriſche Sache. 
Wer nichts findet, bekommt eben nichts und zieht mit 
langer Naſe ab. Da hat uns aber Old Wabble auf einen 
koſtbaren Gedanken gebracht: Ihr, Mr. Winnetou, wißt 
gewiß viele Stellen, wo Gold zu finden iſt?“ 

Winnetou erwiderte langſam: 

„Es gibt rote Männer, die Plätze kennen, an denen 
Gold in Menge liegt.“ | 

„Ihr werdet uns einen ſolchen Platz zeigen!” 

„Die roten Männer pflegen ſolche Stellen nicht zu 
verraten.“ 

„Wenn man ſie aber zwingt?“ 

„So ſterben ſie lieber.“ 

„Pshaw! Es ſtirbt ſich nicht fo leicht!“ 

„Winnetou hat nie den Tod gefürchtet!“ 

„Nach allem, was ich von Euch gehört habe, glaube 
ich das. Aber es handelt ſich dieſes Mal nicht nur um 
Euch, ſondern um alle Eure Begleiter. Old Shatterhand 
muß ſterben; das iſt nicht zu ändern, weil wir es Old 
Wabble verſprochen haben; aber Euch und die andern 
könnt Ihr dadurch retten, daß Ihr uns ein gutes Placer 
entdeckt.“ | 

Winnetou Schloß zum Zeichen, daß er nachdenken 
wolle, die Augen. Es trat eine Pauſe ein. Er kannte 
Goldlager, ja; aber ſelbſt die ärgſte Drohung hätte ihn 
nicht vermocht, eins zu verraten. Er mußte die Tramps 
täuſchen und ſich willig zeigen. Es galt für ihn zweierlei: 
erſtens mich, deſſen Tod eine feſt beſchloſſene Sache war, 
zu retten, und zweitens Zeit zu gewinnen, um einen für 
unſre Befreiung günſtigen Umſtand abzuwarten. 

„Nun, wann bekomme ich Antwort?“ fragte Redy, 
als ihm die Pauſe zu lang wurde. 


— 246 — 
„Die Bleichgeſichter werden kein Gold bekommen,“ 


ſagte Winnetou, indem er die Augen wieder aufſchlug. 


„Warum? Du weigerſt dich alſo, ein Placer zu 
verraten?“ 

„Nein. Winnetou weiß nicht nur ein Placer, ſon⸗ 
dern eine große, reiche Bonanza. Er würde euch die 
Stelle ſagen, wenn es ihm möglich wäre.“ 


„Wie? Du weißt eine Bonanza und kannſt ſie uns N 


nicht zeigen? Das iſt kaum glaublich!” 

„Winnetou trachtet nicht nach dem Beſitz des Goldes. 
In Kolorado kennt er nur einen Fundort; das iſt dieſe 
Bonanza; ſie iſt unermeßlich reich. Aber ich kann euch 
nicht führen, da mir ihre Lage nicht genau bekannt iſt.“ 

„All devils! Eine unermeßlich reiche Bonanza, aber 
ihre Lage iſt dir nicht genau bekannt! Das iſt nur bei 
einem Indianer möglich. Kannſt du denn nicht wenig⸗ 
ſtens ſagen, in welcher Gegend es ungefähr iſt?“ 

„Das weiß ich wohl. Es iſt am Squirrel⸗Creek. Mein 
Bruder Shatterhand und ich hatten uns getrennt, um 
zwei verſchiedene Spuren zu verfolgen. Wir trafen uns 
nach einigen Tagen glücklich an dem verabredeten Orte. 
Da berichtete mir Old Shatterhand, daß wir die von ihm 
verfolgte Spur nicht zu fürchten brauchen. Seine Rück⸗ 
kehr hatte ſich verſpätet, da er unterwegs eine Bonanza 
habe unſichtbar machen müſſen. Nur einige Probeſtücke 
brachte er mit.“ 

„Probeſtücke! Wie groß — wie groß?“ fragte Redy, 
und alle lauſchten andächtig. 

„Bis zur Größe einer großen Kartoffel. Manche 
waren auch noch größer.“ 

„Donnerwetter! Da liegen ja Millionen, viele Mil. 
lionen dort beiſammen! Und die habt ihr liegen Iaffen?1* 

„Warum ſollten wir das Gold mitnehmen?“ 


— 247 — ’ 


„Warum? Warum ihr es hättet mitnehmen follen? 
Hört, ihr Männer, dieſe zwei Menſchen finden eine rieſen⸗ 
hafte Bonanza, und da fragt dieſer Mann, warum fie das 
Gold hätten mitnehmen ſollen!“ 

Ein allgemeines Murmeln des Erſtaunens ante 
wortete. Man kann ſich überhaupt denken, mit welcher 
Aufmerkſamkeit dieſe Leute den Worten des Apatſchen 
folgten. Es fiel ihnen gar nicht ein, an der Wahrheit 
ſeiner Angaben zu zweifeln. Ich meinerſeits war über⸗ 
zeugt, daß er auch jetzt keine Lüge ſagte; es gab jedenfalls 
eine ſolche reichhaltige Bonanza, doch lag ſie wahrſchein⸗ 
lich nicht am Squirrel⸗Creek, ſondern ganz anderswo. 

„Warum wundert ſich der weiße Mann ſo ſehr?“ 
fragte der Apatſche. „Es ſind überall Placers vorhanden, 
wo Winnetou und Old Shatterhand ſich Gold holen 
können. Wenn ſie welches brauchen, ſuchen ſie das 
Placer auf, das ihnen zu der betreffenden Zeit am näch⸗ 
ſten liegt. Jetzt wollten wir hinauf nach dem Squirrel⸗ 
Creek, um dort einige Taſchen voll zu holen.“ 

„Ah! Ihr wolltet welches holen! Das haben wir 
uns doch gedacht, daß ihr nur aus dieſem oder einem 
ähnlichen Grund hinauf in die Berge wolltet! Aber — 
wie ſtimmt das? Du haſt ja geſagt, daß du nicht weißt, 
wo die Bonanza liegt!“ 

N „So iſt es; aber Old Shatterhand, mein Bruder, hat 
ſich die Stelle gemerkt.“ 

Jetzt war es heraus, was er hatte ſagen wollen und 
was mich vom Tod erretten ſollte. Wenn ſie die Bonanza 
haben wollten, deren Lage ich allein genau kannte, mußten 
ſie mein Leben ſchonen. Er war natürlich ſo klug, dieſe 
Worte ſo wenig zu betonen, daß ihre Abſichtlichkeit nicht 
erraten wurde. Daß er den gewollten Zweck erreichte, 

zeigte ſich auf der Stelle, denn Redy rief ſchnell aus: 


— 248 — 


„Das iſt ja ganz dasſelbe! Ob Winnetou oder Old 
Shatterhand dieſe Stelle genau kennt, das macht gar 
keinen Unterſchied, da beide unſre Gefangenen ſind. Kann 
Winnetou uns nicht hinführen, ſo wird Old Shatterhand 
unſer Führer ſein!“ 

„Das ſagt Ihr, ohne mich zu fragen, Mr. Redy?“ 
fragte Old Wabble. „Ich denke, Old Shatterhand ſoll 
noch heut, und zwar hier in dieſem Tal ſterben!“ 

„Soll? Nein, ſondern er ſollte; nun aber wird er 
leben bleiben und uns zu der Bonanza führen.“ 

„Das gebe ich nicht zu!“ 

„Ich glaube, Ihr habt den Verſtand verloren, alter 
Wabble! Wollt Ihr auf die Bonanza verzichten? All 
devils! Ihr ſeid wirklich wahnſinnig geworden!“ 

„Durchaus nicht! Ich habe Euch angeworben, mir 
Old Shatterhand zu fangen; dafür habe ich Euch den 
Rat gegeben, Winnetou zu zwingen, Euch ein Placer 
zu zeigen. Die Bonanza würde alſo Euch allein gehören 
und nicht auch mir mit. Aber einer Sache wegen, woran 
ich keinen Anteil habe, gebe ich Old Shatterhand, nach⸗ 
dem wir ihn ſo glücklich erwiſcht haben, nicht wieder her. 
Wenn ich ihn nicht heut noch töte, wird er fliehen, aus⸗ 
reißen!“ N 

Da ſchlug Redy ein lautes Gelächter auf und rief: 

„Ausreißen, uns ausreißen! Habt ihr es gehört, ihr 
Leute, ein Mann, der unſer Gefangener iſt, ſoll uns ent⸗ 
fliehen, ſoll ausreißen können!“ 

Sie ſtimmten alle in ſein Lachen ein; Old Wabble 
aber ſchrie zornig: 

ö „Wie dumm ihr ſeid, die ihr mich dumm genannt 
habt! Wenn ihr euch einbildet, dieſen Kerl feſthalten zu 
können, ſo könnt ihr mir leid tun! Der zerſprengt mit 


— 249 — 


ſeinen Fäuſten eiſerne Ketten, und wenn er mit Gewalt 
nichts ausrichtet, ſo legt er ſich auf die Liſt, worin er der 
größte Meiſter iſt.“ 

„Eiſerne Ketten haben wir nicht Re brauchen wir 
nicht; lederne Riemen find beſſer, viel beſſer! Und Liſt! 
Ich möchte den Menſchen ſehen, der zwanzig ſolchen 
Männern, wie wir ſind, durch Liſt entkommt! Und wenn 
er es noch ſo pfiffig anfängt, vierzig Augen bewachen ihn; 
was da das eine nicht ſieht, das ſieht das andere. Der 
liſtigſte Anſchlag, den er verſuchen könnte, würde von 
uns entdeckt werden.“ 


„Es iſt wirklich lächerlich, was manche Menſchen 
ſich einbilden! Habt ihr denn nicht gehört, wie oft er 
bei den Indianern gefangen war, wie oft er ihnen wieder 
und immer wieder entkommen iſt?“ 

„Wir ſind keine Indianer!“ 

„Aber Weißen iſt es ebenſo ergangen! Ich ſage euch, 
dieſer Schurke macht alles möglich, was andern Menſchen 
nicht gelingen würde! Den muß man erſchießen, gleich 
nachdem man ihn ergriffen hat. Wenn man das nicht tut, 
läuft er einem wie Waſſer aus den Händen! Ich kenne 
das, denn ich bin lange Zeit mit ihm geritten!“ 

„Ihr macht aus der Mücke einen Elefanten. Noch⸗ 
mals wiederhole ich: ich möchte den Menſchen ſehen, der 
mir entflieht, wenn ich ihn feſthalten will! Es bleibt 
dabei; er führt uns nach der Bonanza!“ 

„Und ich gebe das nicht zu!“ 

Sie ſtanden ſich wie kampfgerüſtet gegenüber, Old 
Wabble, der Spötter, der Leugner, der Läſterer, und 
Redy, der gewalttätige Anführer der Tramps, der ſich 
ohne Skrupel hatte dingen laſſen, mich zu fangen und 
dem Mörder zu übergeben. Es war ein ſpannender 


— 250 — 


Augenblick, ſo ſpannend, daß ich vergaß, daß es mein 
Leben war, um das ſie ſich ſtritten. Es kam aber nicht zu 
Tätlichkeiten. Redy legte dem alten Wabble die Hand auf 
die Achſel und ſagte in drohendem Ton: 

| „Glaubt Ihr denn wirklich, daß ich danach frage, 
ob Ihr es zugeben werdet?“ 

„Ich hoffe es! Oder wollt Ihr mich um Old Shatter⸗ 
hand betrügen, wollt Ihr wortbrüchig werden?“ 

„Nein. Wir halten Wort. Wir haben Euch ver⸗ 
ſprochen, Old Shatterhand zu fangen und ihn Euch aus⸗ 
zuliefern. Gefangen haben wir ihn, und Ihr könnt ver⸗ 
ſichert ſein, wir werden ihn Euch auch übergeben, aber 
nur nicht heut!“ 

„Hole Euch der Teufel mit Eurem Verſprechen! Ihr 
werdet es doch nicht halten können!“ 

„Wir halten es. Und wenn Ihr es etwa verhindern 
wolltet, daß wir ihn mitnehmen, ſo ſchaut Euch hier im 
Kreiſe um! Wir ſind zwanzig Mann!“ 

„Ja, darauf fußt Ihr freilich!“ ſchrie der Cowboy 
ergrimmt. „Es iſt am beſten, ich frage gar nicht viel, 
ſondern ſchieße ihm eine Kugel in den Kopf. Da hat aller 
Streit ein Ende!“ 

„Das wagt ja nicht! Wenn Ihr Old Shatterhand 
erſchießt oder ihn nur im geringſten verletzt, ſo iſt Euch 
im nächſten Augenblick eine Kugel von mir ſicher.“ 8 

„Ihr wagt es, mir zu drohen?“ 

„Wagen? Dabei iſt gar nichts gewagt! Wir ſind mit 
Euch gezogen und wollen gute Kameradſchaft mit Euch 
halten. Aber es handelt ſich um eine Bonanza, die wahr⸗ 
ſcheinlich Millionen wert iſt. Da frage ich den Teufel 
nach Eurem Leben, wenn Ihr uns um dieſe Maſſe von 
Gold bringt! Alſo, daß Ihr es wißt: Old Shatterhand 
reitet mit uns, und wenn Ihr ihn auch nur ſo wenig ver⸗ 


— 


— 251 — 


letzen ſolltet, daß ein Ritz in ſeiner Haut entſteht, lauft 
Ihr die Himmelsleiter hinan, auf die Ihr ihn ſtellen 
wolltet!“ | 

„Ihr droht mir mit dem Tod! Iſt das die Kamerad⸗ 
ſchaft, von der Ihr redet?“ 

„Ja, das iſt ſie! Oder iſt es kameradſchaftlich von 
Euch, wenn Ihr uns um die Bonanza bringen wollt?“ 

„Nun gut, ſo muß ich mich fügen, doch nicht, ohne 
eine Bedingung zu ſtellen. Ich will dann, wenn die 
Bonanza gefunden wird, auch an ihr Teil haben; 
it's clear!“ | 

„Well! Einverſtanden! Ihr ſeht alfo, daß wir es 
gut mit Euch meinen! | 

„Das könnt Ihr auch, denn wenn Ihr ſolche Klum⸗ 
pen Gold bekommt, ſo habt Ihr das niemand als nur 
mir zu verdanken. Uebrigens werde ich mich wegen 
Shatterhand nicht auf Euch, ſondern auf mich ſelbſt ver⸗ 
laſſen.“ ä 
Und ſich zu mir wendend, fuhr er in höhniſchem 
Ton fort: 

„Ich habe nämlich ein vortreffliches Mittel, Euch 
von der Flucht abzuhalten.“ 

Er deutete auf den Henryſtutzen und den Bärentöter 
und fügte hinzu: | 

„Ohne dieſe Gewehre reißt Ihr uns ſicherlich nicht 
aus! Ich kenne Euch und weiß, daß Ihr ſie auf keinen 
Fall aufgebt. Ich habe ſie ja ſchon einmal beſeſſen, 
leider nur für kurze Zeit. Nun ſind ſie für immer mein! 
Rechnet ja nicht, daß der Tod Euch ſo fern iſt! — 
Oder ſteht Ihr etwa mit dem Himmel in ſo gutem Ein⸗ 
vernehmen, daß er Euch, wenn Ihr drüben gebraucht 
werdet, einen Eilboten ſchickt, um Euch gehorſamſt ein⸗ 
zuladen, Euch an der Seligkeit zu beteiligen?“ 


— 252 — 


„Läſtert nicht! Ich bin zum Tod noch nicht reif, 
weil ich noch viel zu wirken habe.“ 

„Oh! Und da denkt Ihr, der liebe Gott wartet, bis 
Ihr fertig ſeid? Ein ſehr gefälliger Gott; das muß ich 
ſagen! Nicht?“ 

Er erhielt keine Antwort. Da ſtieß er mich mit dem 
Fuß an. oo. 

„Wollt Ihr wohl reden, wenn ich frage! Es iſt eine 
große und ganz unverdiente Ehre für Euch, wenn Old 
Wabble mit Euch ſpricht! Als Ihr mich ohne Pferd und 
Gewehr aus dem Kih⸗pe⸗ta⸗kih fortſchicktet, dachtet Ihr 
wohl nicht, daß ich Euch ſo bald faſſen würde? Ich ging 
zu den Oſagen. Da bekam ich ein anderes Pferd und eine 
andere Flinte; aber die Kerls hatten keinen Unter⸗ 
nehmungsgeiſt. Dieſer Numbeh⸗grondeh, dem der Be⸗ 
fehl übergeben worden war, hatte keine Luſt, Euch 
zu folgen; er ſtellte ſogar lächerlicherweiſe alle Feind⸗ 
ſeligkeiten gegen die Bleichgeſichter ein und zog mit 
ſeinen Kriegern heim. Deshalb ritt ich zu den Tramps 
und verpflichtete mir, wie Ihr gehört habt, hier dieſe 
Gentlemen, natürlich auf Eure Koſten! Jetzt habe 
ich mein Pferd und Gewehr wieder und Eure Pferde und 
Gewehre dazu. Ihr ſeid nun nichts mehr in meinen 
Augen und nur noch dieſe Fußtritte wert!“ 

Er ſtieß mir und dann auch Winnetou den Fuß mit 
aller Kraft gegen den Leib. Schon hob er ihn, um auch 
Hammerdull einen Tritt zu verſetzen, ließ ihn aber wieder 
ſinken; der Dicke war ihm ja gleichgültiger als wir. Ham⸗ 
merdull aber ſagte, als Old Wabble ſich abwendete, in 
ſeiner drolligen Weiſe, die er auch in der ſchlimmſten 
Lage nicht aufgab: 

„Das war Euer Glück, verehrteſter Mr. Wabble!“ 

„Was?“ fragte der Alte. 


— 253 — 


„Daß Ihr den Fuß zurückgezogen habt.“ 

„Warum?“ 

„Weil ich grad an dem Leib im höchſten Grad 
empfindlich bin.“ 

„Das wollen wir doch gleich einmal verſuchen!“ 

Er gab ihm einen derben Tritt. Der Dicke war trotz 


ſeines Leibesumfangs ein ſehr behendes und gewandtes 


Kerlchen. Ihm waren, wie auch uns, die Füße zuſammen⸗ 
und die Hände auf den Rücken gebunden worden. Indem 
er die Knie beugte und die Füße an den Leib zog und 
dabei die Hände unter dem Rücken gegen die Erde 


ſtemmte, ſchnellte er ſich wie eine Feder auf und fuhr Old 


Wabble mit dem Kopf an den Leib. Der Stoß war ſo 
kräftig, daß Hammerdull auf ſeinen Platz zurückſtürzte, der 
alte Cowboy aber hintenüber und in das Feuer flog. 
Er ſprang zwar ſchnell wieder auf, aber der kurze 
Augenblick hatte doch genügt, ihm die Hälfte ſeiner langen, 
weißen Haarmähne zu rauben und die Bekleidung ſeines 
Oberkörpers anzuſengen. Ein allgemeines Gelächter 
erſcholl. Darüber ergrimmt, richtete Old Wabble ſeinen 
Zorn nicht gegen Hammerdull, ſondern gegen die Tramps, 
die ſich über ihn luſtig machten. Während er eine gehar⸗ 
niſchte Strafpredigt gegen ſie losdonnerte, wendete ſich der 
Dicke an Pitt Holbers: 

„War das nicht fein gemacht? Haſt du nicht deine 
Freude drüber, alter Pitt?“ 

„Hm, wenn du denkſt, daß es ein guter Streich war, 
ſo haſt du recht!“ antwortete ſein langer Freund in ſeiner 
wohlbekannten, trockenen Weiſe. 

„Glaubt dieſer Menſch, mir einen Fußtritt verſetzen 
zu können, ohne daß ich mich wehre! Was ſagſt du dazu?“ 

„Ich hätte ihn auch ins Feuer geworfen, grad 
wie dul“ 


J 
— 254 — 


„Ob ins Feuer oder nicht, das bleibt ſich gleich, 
denn hineingeflogen iſt er doch!“ 

Nun erſt kam Old Wabble herbei, um ſich an dem 
Dicken zu rächen, Redy aber hielt ihn davon ab, indem 
er ſagte: 

„Laßt die Leute in Ruhe, ſo wird Euch ſo etwas 
nicht wieder geſchehen! Old Shatterhand gehört Euch; 
die andern aber ſind unſer, und ich will nicht, daß ſie 
unnütz mißhandelt werden.“ 

„Ihr ſeid doch plötzlich recht ee 

geworden!“ knurrte der Alte. 
„Nennt es, wie Ihr wollt! Dieſe Männer müſſen 
mit uns reiten, und ich kann mich nicht mit verletzten und 
zerſtoßenen Menſchen ſchleppen. Wir haben übrigens 
mehr zu tun, als uns hier mit ihnen herumzuzanken, 
denn wir wiſſen ja noch gar nicht, wo ſie ihre Pferde 
haben. Sucht nach ihnen!“ 

Die Pferde waren aus der Umwallung ins Freie 
gebracht und dort angepflockt worden; ſie wurden bald 
gefunden. Die Tramps hatten ſchon gegeſſen, während 
ich in der Betäubung lag, und wollten nun noch bis zum 
Morgen ſchlafen. Redy beſtimmte zwei Männer zum 
Wachen, und dann legte man ſich nieder. Old Wabble 
hatte den mir höchſt unangenehmen Gedanken, ſich zwi⸗ 
ſchen mich und Winnetou hineinzuſchieben und meinen 
Arm mit dem ſeinigen durch einen beſonderen Riemen zu 
verbinden. Dieſe große Vorſicht des Alten war geeignet, 
Gedanken an Flucht in mir nicht aufkommen zu laſſen. 

Und doch dachte ich an Flucht, und wie ſehr! 

Es gibt kaum eine Lage, die ſo ſchlimm iſt und den 
Menſchen ſo feſt umfängt, daß er nicht aus ihr befreit 
werden könnte, durch eigene Kraft oder, wo das nicht 
möglich iſt, durch fremde Hilfe. Auch jetzt verzweifelte 


K — or 
* Au. 2 5 
— — 


— 255 — 


ich keineswegs. War doch ſchon der augenblickliche Tod, 
den Old Wabble für mich beſtimmt hatte, an mir vor⸗ 
übergegangen! Bis zum Squirrel⸗Creek hatten wir einen 
weiten Ritt; warum ſollte ſich uns bis dorthin nicht eine 
Gelegenheit zum Entkommen bieten? Uebrigens richtete 
ich meinen Blick gar nicht ſo weit hinaus, ſondern viel⸗ 
mehr ganz in die Nähe. Ich hegte eine Hoffnung, eine 
Hoffnung, deren Name ein indianiſcher war, nämlich: 
Kolma Puſchi. 
Wenn man mich fragt, warum dieſer Name fit der 
Zeit, in der wir uns ſchlafen legten, nicht wieder genannt 
worden iſt, ſo antworte ich: Kolma Puſchi war nicht mehr 
da. Als ich aus der Ohnmacht erwachte, war es mein 
erſtes geweſen, mich umzuſehen, und da hatte ich ſogleich 
bemerkt, daß der geheimnisvolle Indianer nicht mehr 
anweſend war. 
Wo befand er ſich? g 
Zunächſt wollte ein böſer Verdacht in mir aufſteigen: 
Stand er vielleicht mit den Tramps in Verbindung? 
Dieſes Mißtrauen mußte ich aber gleich wieder zurück⸗ 
weiſen. Der Ruf Kolma Puſchis ließ eine Beziehung zu 
derartigen Menſchen als unmöglich erſcheinen. 
— Da gab es eine zweite Frage: Hatte er die Tramps 
kommen hören und ſich bei ihrer Annäherung ſchnell aus 
dem Staub gemacht? Auch das konnte ich ihm nicht 
zutrauen. Nein, ſeine Entfernung mußte eine andre 
Urſache haben. 

Er war von Dick Hammerdull gefragt worden, ob 
er mit uns reiten wolle, und hatte geantwortet, daß er 
ſich dies erſt überlegen werde. Er hatte ſein Pferd nicht 
hier, ſondern irgendwo anders ſtehen und ſich, als wir 
eingeſchlafen waren, heimlich entfernt, um entweder das 
Tier zu holen oder überhaupt nicht wiederzukommen. In 


— 2563 


dieſem Fall war ſeine Entfernung deshalb ohne Abſchied 
geſchehen, um allen zudringlichen Fragen und Erkundi⸗ 
gungen aus dem Weg zu gehen; er hatte ja in der kurzen 
Zeit unſers Beiſammenſeins wiederholt gezeigt, daß ihm 
dergleichen Nachforſchungen unangenehm ſeien. 

Falls er fortgegangen war, um nicht wiederzukommen, 
hatten wir nichts von ihm zu erwarten; hatte er aber 
nur ſein Pferd holen wollen, ſo war dies grad kurz vor 
der Zeit des Ueberfalls geſchehen, und er hatte bei ſeiner 
Rückkehr infolge des Lärms, den die Tramps machten, 
ſich gleich denken müſſen, es ſei etwas vorgekommen, was 
ihn zur Vorſicht mahne. Dann hatte er ſich höchſt wahr⸗ 
ſcheinlich herbeigeſchlichen, die Veränderung entdeckt und 
alles, was geſchah und geſprochen wurde, belauſcht. War 
er nun der Mann, für den ich ihn infolge ſeines Rufes 
hielt, ſo mußte er da unbedingt den Entſchluß gefaßt 
haben, ſich unſer anzunehmen, und zwar um ſo mehr, 
als er nicht nur große Freude über ſeine Begegnung mit 
Winnetou, ſondern auch eine noch viel regere, wenn auch 
geheimnisvolle Teilnahme für Apanatſchka gezeigt hatte. 
Perſonen, für die man ſo lebhaft empfindet, läßt man 
nicht in einer Lage ſtecken, wie die unſrige war 

Wenn dieſe Ueberlegung richtig war, ſteckte Kolma 
Puſchi jetzt hier in der Nähe, und ich konnte, ſobald die 
Tramps eingeſchlafen waren, irgend ein Zeichen von ihm 
erwarten; es läßt ſich alſo denken, daß ich mich in einer 
ziemlich ſtarken Spannung befand. 

Es widerfuhr mir die Freude, daß dieſe Erwar⸗ 
tungen nicht getäuſcht wurden. Die beiden Wächter ſaßen 
diesſeits und jenſeits des Feuers, das ſie unterhielten; 
der jenſeitige legte ſich ſpäter um; er mochte müde fein; 
der diesſeitige kehrte mir den Rücken zu und deckte, da 
unſre drei Plätze in einer geraden Linie lagen, mich vor 


—— — — = . 
1 R ‘ « 


— 257 — 


den Augen des andern. Das war ein günſtiger Umſtand, 
von dem ich hoffte, der Indianer werde ihn ausnutzen. 
Es ſtrich jetzt ein Wind durch das Tal, der die Büſche 
und Bäume bewegte, daß ſie rauſchten. Dieſes Raſcheln 
mußte das Geräuſch, das ein heimlich herankriechender 
Menſch vielleicht verurfachte, unhörbar machen. 

Zuweilen den Kopf hebend, beobachtete ich den Kreis 
der Schläfer und war nach einer halben Stunde über⸗ 
zeugt, daß außer den Wächtern, Winnetou und mir kein 
Menſch mehr munter war. 

Grad, als ich dachte: jetzt käme er zur beſten Zeit, 
wenn er überhaupt kommen kann und will, da bemerkte 
ich rechts hinter mir eine leiſe, langſame Bewegung. 
Es ſchob ſich ein Kopf zu dem meinigen heran; es war 
der Erwartete. | 

„Old Shatterhand mag fi ja nicht bewegen!“ 
flüſterte er mir zu. „Hat mein weißer Bruder an mich 
gedacht?“ 

„Ja,“ antwortete ich ebenſo leiſe. 

„Kolma Puſchi wollte eigentlich hin zu Winnetou, 
hätte aber dort bei ihm keine Deckung gehabt. Darum 
kroch ich zu Old Shatterhand, wo wir uns im Rücken 
der Wache befinden. Mein weißer Bruder mag mir 
ſagen, was er wünſcht; ich bin bereit, es zu hören!“ 

„Willſt du uns befreien?“ 

„Ja, ſobald es Old Shatterhand beſtimmt; er wird 
den Zeitpunkt am beſten wiſſen.“ 

„Hier noch nicht. Wir müſſen die Gefährten auch 
gleich losmachen können. Aber wird mein roter Bruder 
uns folgen wollen?“ N 

„Gern. So lange und ſo weit, bis ihr frei ſeid.“ 

„Haſt du vielleicht gehört, was geſprochen worden iſt?“ 

„Ja. Kolma Puſchi lag hinter den Steinen und 

Ray, Olb Gurehanb. II. 17 


— 258 — 


hörte alles. Die Weißen wollen die Bonanza vom 
Squirrel⸗Creel haben.“ 

„Kennt mein roter Bruder den Squirrel⸗Creek?“ 

„Es ſind mir hier und noch viel weiterhin alle 
Gegenden bekannt.“ 

„Gibt es auf dem Weg nach dieſem Creek vielleicht 
einen paſſenden Ort zu unſerer Befreiung heut abend? Es 
müſſen da viel mehr Bäume und Büſche ſtehen als hier, wo 
wir nur ſchwer an die Wächter kommen können und ein 
einziger Blick von ihnen genügt, uns alle zu überſehen.“ 


„Kolma Puſchi kennt einen ſolchen Ort, den ihr 


grad zur paſſenden Zeit erreichen könnt, ſo daß es nicht 
auffällig iſt, wenn ihr dort anhaltet. Aber werden die 
weißen Männer euch dorthin folgen?“ 

„Gewiß. Sie ſcheinen in dieſer Gegend unbekannt 
zu fein, und wenn wir fie nach dem Squirrel⸗Treek bringen 
ſollen, ſind ſie unbedingt gezwungen, ſich unſrer Führung 
anzuvertrauen.“ 

„So mag Old Shatterhand von hier aus genau nach 
Weſtſüdweſt reiten und da, wo er auf ihn trifft, über 
den Ruſh⸗Creek gehen. Er hat dann dieſem Fluß am 
andern Ufer ſo lange zu folgen, bis er die Stelle er⸗ 
reicht, wo der Nordfork und der Südfork dieſes Creeks 
zuſammenfließen. Von da aus geht es um den letzten 
Bogen des Südforks herum und hierauf genau Weſt⸗ 
nordweſt über eine langſam anſteigende Prärie, auf 
der oft Geſträuch zu finden iſt, nach einer ſchon von 
weitem ſichtbaren Felſenhöhe, an deren Fuß mehrere 
Springs!) aus der Erde fließen. Auf dem Felſen und 
um die Springs ſtehen viele Bäume. Die nördlichite 
dieſer Quellen iſt der Ort, wo ihr lagern ſollt.“ 

„Gut; ich werde dieſen Spring finden.“ 

) Quellen. 


— 259 — 


„Und Kolma Puſchi wird auch hinkommen. Was 
hat Old Shatterhand mir noch zu ſagen?“ 

„Jetzt nichts, weil ich nicht weiß, wie ſich die Einzel⸗ 
heiten unſers Lagers heut abend geſtalten werden. Hoffent⸗ 
lich wirſt du dich zu uns heranwagen können, dann aber 
nur zu Winnetou oder mir, weil keiner von den andern 
das nötige Geſchick beſitzt, die Hilfe, die du uns leiſteſt, 
augenblicklich und tatkräftig auszunützen.“, 

„So kann ich jetzt verſchwinden?“ 

„Ja. Ich danke meinem roten Bruder Kolma Puſchi 
und bin, ſobald wir freigeworden ſind, bereit, für ihn 
in jeder Not mein Leben zu wagen.“ 

„Der große Manitou lenkt die Schritte ſeiner Kinder 
wunderbar; darum iſt es möglich, daß Kolma Puſchi 
auch einmal der Hilfe Old Shatterhands und Winnetous 
bedarf. Ich bin euer Freund, und ihr mögt meine 
Brüder ſein!“ ö 

Er ſchob ſich geräuſchlos zurück, wie er gekommen 
war. Auf der andern Seite Old Wabbles ertönte jetzt 
das halblaute Räuſpern des Apatſchen; das galt mir. 
Er wollte mir damit ſagen, er habe Kolma Puſchis Beſuch 
beobachtet. Ihm, deſſen Sinne von einer unvergleichlichen 
Schärfe waren, hatte das freilich nicht entgehen können. 

Wir waren beide befriedigt und wußten, daß unſre 
jetzige Lage nicht von langer Dauer ſein werde; wir 
konnten ruhig einſchlafen. Vorher aber gingen mir allerlei 
Gedanken über Kolma Puſchi im Kopf herum. Er ſprach 
ein faſt geläufiges Engliſch; er hatte ſich der Ausdrücke 
Weſtſüdweſt und Weſtnordweſt bedient, was mir noch bei 
keinem Indianer vorgekommen war. Woher kam dieſe 
Geläufigkeit bei ihm, der mit niemandem verkehrte und 
ein ſo ſehr einſames, abgeſchloſſenes Leben führte? Ließ 
das auf einen frühern, engern Umgang mit den Weißen 


— 260 — 


ſchließen? Wenn ja, ſo war er jedenfalls durch ſchlimme 
Erfahrungen von ihnen zurück und in die Abgeſchieden⸗ 
heit geſtoßen worden, in der er jetzt lebte. f 

Als ich am Morgen erwachte, waren die Tramps 
dabei, die bei uns gemachte Beute zu verteilen; ſie 
betrachteten alles, was ſie uns abgenommen hatten, 
als ihr gutes Eigentum. Old Wabble hatte meine 
Sachen; Redy nahm Winnetous Silberbüchſe für ſich, ohne 
daran zu denken, daß dieſe ihn ſpäter überall, wo man 
ſie in ſeinen Händen ſah, als Räuber und Mörder, 
wenigſtens aber als Dieb verraten müſſe. Auch den 
Hengſt Iltſchi des Apatſchen beſtimmte er für ſich und 
gab Old Wabble den guten Rat: | 

„Den andern Rapphengſt, den jedenfalls Old Shatter- 
hand geritten hat, ſollt Ihr bekommen, Mr. Cutter. Ihr 
könnt daraus erſehen, daß ich es gar nicht übel mit Euch 
meine.“ 

Old Wabble aber ſchüttelte den Kopf und antwortete: 

„Danke ſehr; ich mag ihn nicht!“ 

Er wußte wohl, warum. Er hatte meinen Hatatitla 
kennen gelernt. | 

„Warum nicht?“ fragte Redy erſtaunt. „Ihr feid doch 
ein noch beſſerer Pferdekenner als ich und müßt wiſſen, 
daß kein andres Tier mit dieſen beiden Rappen zu ver⸗ 
gleichen iſt.“ 

„Daß weiß ich freilich, nehme aber doch lieber dieſen 
hier.“ 

Er deutete dabei auf Matto Schahkos Pferd. Redy 
beſtimmte alſo einen andern, der das meinige bekommen 
ſollte. Ebenſo ging es mit unſern andern Pferden, 
die alle beſſer waren als die der Tramps, die alte Stute 
Dick Hammerdulls ausgenommen, die niemand haben 
wollte. 


* 26 


Ich freute mich ſchon auf die Szene, die aus der 
Verteilung der Pferde folgen mußte; unſere braven Hengſte 
litten ja keinen fremden Menſchen im Sattel. 


Unſer Mundvorrat war uns auch abgenommen wor⸗ 
den. Es wurde gegeſſen; auch wir bekamen ein freilich 
unzureichendes Frühſtück; man tränkte die Pferde, und 
dann ſollte aufgeſtiegen und fortgeritten werden. Wir 
wurden auf die Gäule gebunden, die Hände nach vorn, 
ſo daß wir die Zügel halten konnten. Nun führte man 
die Beutepferde vor. 


Die Oſagenpferde machten denen, die ſie reiten 
wollten, nicht viel zu ſchaffen; ſchlimmer ſchon war es mit 
Apanatſchkas dunklem Rotſchimmel; er ging, kaum daß 
der Reiter aufgeſtiegen war, ſofort durch, und es dauerte 
lange, ehe Mann und Roß zurückkehrten. Jetzt ſtieg Redy 
auf Winnetous Iltſchi. Dieſer ließ das ſo ruhig geſchehen, 
als ob er der allerfrömmſte Rekruten⸗ und Manegegaul 
wäre. Schon wollte der Tramp es ſich recht gemütlich im 
Sattel machen, da flog er in einem weiten Bogen durch 
die Luft, und gar nicht weit davon ertönte ein lauter 
Schrei: mein Hatatitla hatte ſeinen Kerl ebenſo pünkt⸗ 
lich herabbefördert. 

Die beiden Geſtürzten ſtanden fluchend auf und ſahen 
zu ihrer Verwunderung die Rappen ſo unbeweglich da⸗ 
ſtehen, als ob gar nichts geſchehen ſei; ſie ſchwangen ſich 
alſo wieder auf, wurden aber zu gleicher Zeit zum 
zweitenmal abgeworfen. Es wurde noch ein dritter Verſuch 
gemacht, doch mit demſelben Mißerfolg. Old Wabble 
hatte heimlich kichernd zugeſehen; jetzt brach er in ein 
lautes Lachen aus und rief dem Anführer zu: 

„Nun wißt Ihr wohl, Mr. Redy, warum ich den 

ſchwarzen Teufel nicht haben wollte? Dieſe Rappen ſind 


— 262 — 


ſo dreſſiert, daß ſich ſelbſt der beſte Reiter der Welt keine 
Minute auf ihnen halten kann.“ 

„Warum ſagt Ihr mir das jetzt erſt?!“ 

„Weil ich Euch das Vergnügen gönnen wollte, auch 
einmal mit dem Erdboden Bekanntſchaft zu machen. Seid 
Ihr zufriedengeſtellt?“ 

„Der Teufel hole Euch! Laſſen ſie denn N 
niemanden oben? Was iſt da zu tun?“ 

„Wenn Ihr nicht unterwegs verſchiedene Aergerniſſe 
haben wollt, ſo ſetzt einſtweilen ihre früheren Beſitzer 
darauf! Später kann man ja verſuchen, ob die Racker 
gefüge zu machen ſind.“ 

Dieſer Rat wurde befolgt. Wir bekamen unſre Pferde, 
auch Apanatſchka das ſeine, und dann wurde auf⸗ 
gebrochen. Als wir dem Taleingang zuritten, kam Redy 
an meine Seite und ſagte: 

„Ich denke, daß es Euch nicht in den Sinn kommt, 
durch Widerſetzlichkeit Eure Lage zu erſchweren Kennt 
Ihr den richtigen Weg?“ 

„Ja. u 

„Wohin geht es heut?“ | 

„Nach einem Spring jenſeits des Ruſh⸗Creek.“ 

Er hielt es für ſelbſtverſtändlich, daß ich den Führer 
machte; denn nach der Ausſage des Apatſchen hatte ich 
mir ja die Lage der. Bonanza gemerkt. Mir war das 
lieb. Um nun zu wiſſen, wie es mit den Ortskenntniſſen 
der Tramps ſtehe, erkundigte ich mich: 

„Ihr kennt doch wohl die Gegend nach dem 
Squirrel⸗Creek hinauf?“ 

„Nein.“ 

„Oder einer Eurer Leute?“ 

Er war ſo dumm zu antworten: „Auch nicht.“ 

„So mag Winnetou Euch den Weg zeigen.“ 


— 263 — 


„Der weiß doch die Stelle nicht genau, wo das Gold 
liegt.“ | 

„Und Ihr ſeid der Anſicht, ich werde fie Euch wirk⸗ 
lich zeigen? Sonderbarer Menſch, der Ihr ſeid!“ 

„Wieſo?“ | 

„Was habe ich davon, wenn ich Euch zu dem Gold 
verhelfe? Nichts, gar nichts! Der Tod iſt mir zuge⸗ 
ſprochen; es geht mir ans Leben, ob Ihr die Bonanza 
bekommt oder nicht. Denkt Ihr da, es macht mir Ver⸗ 
gnügen, euch alle dafür, daß ihr uns überfallen und aus⸗ 
geraubt habt und daß ich ermordet werde, zu Millionären 
zu machen?“ 

„Fm!“ brummte er, ohne weiter etwas zu ſagen. 

„Ihr ſcheint die Sache noch gar nicht von dieſer 
Seite betrachtet zu haben?“ 

„Freilich nicht; aber Ihr habt Rückſicht auf Eure 
Kameraden zu nehmen. Wenn wir die Bonanza nicht 
bekommen, müſſen ſie alle ſterben!“ 

„Was geht das mich an, da ich ſterben muß? Wer 
nimmt Rückſicht auf mich? Was habe ich, wenn ich tot 
bin, davon, daß die andern leben?“ 

„Chimney corner! Ihr werdet doch nicht ſo grau⸗ 
ſam mit ihnen ſein!“ 

„Ich? Grauſam? Ihr ſeid ein luſtiger Kerl! 
Spricht der Menſch von Grauſamkeit und iſt es doch ſelbſt, 
der fie ermorden will, falls er das Gold nicht bekommtl“ 

Er ſah einige Zeit vor ſich nieder und ſagte dann: 

„Well, wollen aufrichtig miteinander reden! Iſt 
Euch wirklich der Gedanke gekommen, uns die Lage des 
Placers zu verheimlichen? Das würde unbedingt zum 
Tod Eurer Kameraden führen und außerdem auch Euer 
Schaden fein.” 

„Wieſo der meinige?“ 


— 264 — 


„Weil es noch gar nicht ſicher ift, daß ich Euch dem 
alten Wabble ausliefere.“ 

H Ah!“ dehnte ich verwundert. 

„Ja,“ nickte er. „Zufällig reitet er da vorn und 
hört alſo nicht, was ich mit Euch ſpreche. Wenn Ihr 
uns die Bonanza zeigt, und wenn ſie ſo reich iſt, wie 
Winnetou ſie beſchrieben hat, bin ich imſtande, nicht nur 
Eure Gefährten, ſondern auch Euch freizulaſſen.“ 

„Wirklich? Wollt Ihr es mir verſprechen?“ 

„Feſt verſprechen kann ich es leider nicht.“ 

„So nützt mir Eure ganze Rede nichts. Ich will 
wiſſen, woran ich bin!cwʒnñßye 

„Sie nützt Euch doch! Es kommt auf den Reichtum 
der Bonanza an. Sind wir in dieſer Beziehung zufrieden, 
ſo werdet auch Ihr mit mir zufrieden ſein.“ N | 

„Was aber wird Old Wabble dazu jagen?“ 

„Das geht Euch nichts an; den überlaßt nur mir! 
Wenn es ihm einfällt, mir Scherereien zu machen, ſo jage 
ich ihn einfach zum Teufel.“ 

„Das geht aber nicht an; er ſoll ja Teilnehmer der 
Bonanza fein.” 

„Unſinn! Habt Ihr denn nicht gemerkt, daß ich ihm 
das nur weisgemacht habe? Ich bin nicht ſo dumm, ihm 
mein Wort zu halten!“ 

Er war dennoch dumm. Wenn er dem alten Wabble 
ſein Wort brach, wie konnte ich da annehmen, er werde 
das mir gegebene Verſprechen halten! Es fiel ihm gewiß gar 
nicht ein, mich, wenn er die Bonanza hatte, freizulaſſen. 
Ja, noch mehr: da es keine Zeugen ſeiner an uns ver⸗ 
übten Gewalttat geben durfte, konnten auch meine 
Begleiter ihres Lebens nicht mehr ſicher ſein. Er wollte 
ſich nur jetzt meiner Bereitwilligkeit verſichern; hatte er 
dann das Placer, ſo kam es ihm auf einen Wortbruch 


und auf ein weiteres Verbrechen nicht an. Was mich 
dabei am meiſten empörte, war, daß dieſer freche Patron 
es wagte, gegen mich einen ſo e Ton anzu⸗ 
ſchlagen. 

„Nun, habt Ihr es Euch überlegt? erkundigte er 
ſich nach einer Weile. „Was wollt Ihr tun?“ 

„Sehen, ob Ihr mir Wort halten werdet.“ 

„Mir das Placer alſo zeigen?“ 

„Ja.“ 
„Well! Ihr könnt ja auch gar nichts Klügeres tun. 
Uebrigens könnte es, ſelbſt wenn ich mein Wort bräche, 
Euch dann, wenn Ihr tot ſeid, ganz gleich ſein, ob wir 
das Gold haben, oder ob es in der Erde liegen bleibt.“ 

Das war ein wunderbar befriedigender Abſchluß 


dieſes Geſprächs! Ja, da konnte und mußte es mir aller⸗ 


dings gleichgültig ſein! Glücklicherweiſe hatte ich dabei die 
eine große Genugtuung, daß es am Squirrel⸗Creek gar 
kein Placer gab, und daß alſo nicht ich, ſondern er der 
Betrogene ſein würde. 

Er hatte ſich noch nicht lange von mir gern ſo 


bekam ich Gelegenheit, ein beinahe ebenſo ſpannendes 


Geſpräch zu hören. Hinter mir ritten nämlich Dick Ham⸗ 
merdull und Pitt Holbers mit einem Tramp zwiſchen ſich. 
Man nahm es mit der Reihenfolge und der Bewachung 
nicht ſo überaus ſtreng; wir waren ja gefeſſelt und nach 
der Meinung der Tramps alſo nicht imſtande, zu ent⸗ 
fliehen; darum durften wir nach unſerm Geſchmack reiten. 
Die beiden Toaſts unterhielten ſich mit ihrem Be⸗ 
gleiter; das heißt, Dick Hammerdull ſprach mit ihm, und 
Pitt Holbers gab dann, wenn er gefragt wurde, eine 
trockene Antwort dazu. So lange Redy neben mir ritt, 
hatte ich auf das, was hinter mir geſprochen wurde, nicht 
achtgeben können; jetzt hörte ich Dick ſagen: 


— 266 — 


„So glaubt Ihr alſo wirklich, uns ganz feſt zu 
haben?“ 

„Ja,“ antwortete der Tramp. 

„Unſinn! Wir reiten ein bißchen mit Euch ſpazteren. 
Das iſt alles.“ 

„Und ſeid gefeſſelt!“ 

„Zu unſerm Vergnügen!“ 

„Danke für das Vergnügen! Und dazu ausgeraubt!“ 

„Ja ausgeraubt! Es iſt traurig!“ lachte der Dicke. 

Er und Pitt hatten nämlich vor unſerm Aufbruch 
nach dem Weſten ihr Geld eingenäht; darum lachte er jetzt. 

„Wenn Euch das ſo lächerlich vorkommt, iſt's ja gut 
für Eure Laune,“ ſagte der Tramp ärgerlich. „Ich an 
Eurer Stelle würde viel ernſter ſein!“ ” 

„Ernſt? Was für einen Grund hätten wir denn, 
die Köpfe hängen zu laſſen? Wir befinden uns heut ſo 
wohl wie ſtets und immer.“ 

Da ſtieß der Tramp einen Fluch aus und rief: „Das 
iſt nichts als Galgenhumor! Ihr ahnt doch wohl, welchem 
Schickſal Ihr entgegengeht!“ 

„Nicht daß ich wüßte! Welches berühmte Schickſal 
iſt es denn?“ 

„Ihr werdet ausgelöſcht werden.“ 

„Pshaw! Das tut nichts; das tut ſogar gar nichts, 
denn wenn wir ausgelöſcht werden, ſo brennen wir uns 
ganz gemütlich wieder an!“ 

„Verrückt, geradezu verrückt!“ . 

„Verrückt! Hört, wenn einer von uns dreien ver⸗ 
rückt iſt, ſo ſeid Ihr es. Ich bin zwar ein dicker Kerl, 
dennoch aber ſchlüpfe ich Euch durch die kleinſte Maſche 
davon. Pitt Holbers hier, der Lange, iſt gar nicht feſt⸗ 
zuhalten; er ragt mit ſeiner Naſe hoch über Eure Schran⸗ 
ken und Netze hinaus. Von Winnetou und Old Shatter⸗ 


— 267 — 


hand will ich gar nicht erſt reden. Ich erkläre Euch hier⸗ 
mit mit der größten Feierlichkeit, die Ihr von mir ver⸗ 
langen könnt: wir werden euch davonfliegen, ehe ihr 
es denkt. Dann ſteht ihr da und ſperrt die Mäuler auf. 
Oder wir fliegen nicht davon, ſondern machen es noch 
beſſer, viel beſſer: wir drehen den Spieß um und 
nehmen euch gefangen. Dann klappen euch die Mäuler 
wieder zu. Länger als höchſtens einen Tag bei euch zu 
ſein, das wäre eine Schande, die ich bei meinem zarten 
Körperbau nicht überleben könnte. Wir brechen aus! 
Nicht wahr, Pitt Holbers, altes Coon?“ 

„Hm!“ brummte der Lange. „Wenn du denkſt, daß 
wir es tun werden, ſo haſt du recht, lieber Dick. Wir 
werden ausbrechen!“ 

„Uns entfliehen, uns entkommen?“ lachte der Tramp 
höhniſch. „Ich ſage Euch, wir halten euch ſo feſt und 
ſo ſicher, wie auch ich zufällig Holbers heiße!“ ’ 

* „Ah, auch Holbers? Schöner Name! Nicht? Heißt 
Ihr auch Pitt?“ 

„Nein. Mein Vorname iſt Hoſea. Intereſſert Euch 
das vielleicht?“ 

„Hoſea? Uff! Natürlich intereſſiert es ung!“ 

„Ihr ſchreit ‚Uffl' Hat Euch mein Vorname etwa 
wehe getan?“ 

Anſtatt ihm dieſe Frage zu beantworten, wendete 
Dick ſich an Holbers: 

„Haſt du es gehört, Pitt Holbers, altes Coon, daß 
dieſer Mann den ſchönen, frommen und bibliſchen Namen 
Hoſea hat?“ N 

„Wenn du denkſt, daß ich es gehört habe, fo iſt das 
richtig,“ antwortete der Gefragte. 

„Was ſind das für geheimnisvolle Redensarten?“ 


— 268 — 


fragte da der Tramp. „Stehen ſie etwa mit mir, mit 
meinem Namen in Verbindung?“ 

„Wie es fcheint, ja. Sagt einmal, ob es in Eurer 
Familie noch ähnliche Bibelnamen gibt?“ 

„Es gibt noch einen: Joel.“ 

„Uff, wieder einer von den Propheten! Euer Vater 
ſcheint ein ſehr frommer, bibelfeſter Mann geweſen zu 
ſein!“ 

„Nicht daß ich wüßte. Er war ein ſehr geſcheiter 
Kerl, der ſich von den Pfaffen nichts weismachen ließ, 
und ich bin nach ihm geraten.“ 

„So war aber wohl Eure Mutter eine gläubige 
Frau?“ 

„Leider ja.“ 

„Warum leider?“ 

„Weil ſie mit ihrem Beten und Plärren dem Vater 
das Leben ſo verbittert hat, daß er ſich gezwungen ſah, es 

ſich durch den Brandy zu verſüßen. Ein kluger Mann 
kann es eben unmöglich bei einer Betſchweſter aushalten; 
er läßt ſie daheim ſitzen und geht ins Wirtshaus. Das iſt 
das beſte, was er tun kann!“ 

„Ah! Er hat es ſich wohl ſo lange verſüßt, bis es 
ihm zu ſüß wurde?“ N 

„Ja; er bekam es überdrüſſig, und als er eines 
ſchönen Tages ſah, daß er einen Strick zu viel beſaß, der 
zu nichts anderem zu gebrauchen war, hängte er ihn an 
einen Nagel, machte eine Schlinge und ſteckte den Kopf 
hinein, und zwar ſo lange, bis er abgeſchnitten wurde.“ 

Es zuckte mir in den leider gefeſſelten Händen, als 
ich dieſen Kerl hinter mir in dieſer zyniſchen Weiſe vom 
Tod ſeines ſelbſtmörderiſchen Vaters ſprechen hörte. Ham⸗ 
merdull hütete ſich, eine hier freilich ſehr unnütze ſittliche 
Entrüſtung zu zeigen und etwa zu ſagen, daß ſich ſelbſt 


— 269 — 


der verkommenſte Indianer ſchämen würde, derart von 
ſeinem toten Vater zu reden; er verfolgte den heimlichen 
Zweck dieſes Geſprächs weiter, indem er lachend fortfuhr: 

„Well! Um aber wieder auf Eure Mutter zu kom⸗ 
men, ſo möchte ich gern wiſſen, ob ſie außer ihrer Fröm⸗ 
migkeit nicht auch noch andere Eigenſchaften beſeſſen hat, 
die Euch im Gedächtnis geblieben ſind.“ 
| „Andere Eigenfchaften? Ich verſtehe Euch nicht. Wie 

meint Ihr das?“ 

„Nun, ſo in erziehlicher Beziehung. Fromme Leute 
pflegen ſtreng zu ſein.“ 

„Ach ſo!“ lachte der Tramp, der von dem Gedanken⸗ 
gang Hammerdulls keine Ahnung hatte. „Leider iſt das 
richtig, was Ihr ſagt. Wenn ſich alle braunen und blauen 
Flecke, die Euch dies beweiſen könnten, noch auf meinem 
Rücken befänden, könnte ich mich vor Schmerz nicht hier 
auf meinem Pferd erhalten.“ ö 

„Ach, ſo war ihre Erziehungsweiſe alſo eine ſehr 
m 

„Ja, fie drang oftmals durch die Haut.“ 

„Auch bei Joel, Eurem Bruder?“ 

„Ja. = 

„Lebt der noch?“ 

„Freilich; der denkt gar nicht daran, ſchon tot zu 
fein!” 

„Wo befindet er ſich gegenwärtig, mit den ſchönen 
Erinnerungen auf dem Rücken und höchſtwahrſcheinlich 
auch auf anderen Körperteilen?“ 

„Hier bei uns. Seht nur nach vorn! Der neben 
Redy reitet, der iſt's.“ Es 

„Good lack! Es find alſo beide Propheten da? 
Hoſea und Joel, alle zwei? Was ſagſt du dazu, Pitt 
Holbers, altes Coon?“ 


— 270 — 


„Nichts,“ antwortete der Lange noch kürzer, als er 
gewöhnlich zu antworten pflegte. 


„Was habt Ihr denn eigentlich mit mir und meinem 


Bruder?“ erkundigte ſich der Tramp, dem dieſes Geſpräch 
nun endlich doch auffiel. 


„Das werdet Ihr wahrſcheinlich bald erfahren. Sagt 


mir vorher nur erſt, was Euer Vater geweſen tft!” 


„Alles mögliche, was ein Mann ſein kann, der ſich 


über ſein Weib ſo ärgern muß.“ 
„Das heißt wahrſcheinlich: alles und nichts. Ich 


meine aber, was er war, als er eines Tages fand, daß I 


er den betreffenden Strick übrig habe.“ 

„Da hatte er vor kurzem ein Heiratsbureau ge⸗ 
gründet.“ 

„Sonderbar! Jedenfalls um andern auch einen Teil 
Aerger zukommen zu laſſen? Das war für das All⸗ 
gemeinwohl ja ſehr hübſch von ihm!“ 

„Ja, die Abſicht war gut, der Erfolg aber ſchlecht. 
Er wendete ſchließlich dem Leben, das ihm ge zu eſſen 
bot, den Rücken.“ 


„Feiner Kerl! Im höchſten Grad gentlemanlike! 


Wenn ich ihn hier hätte, könnte ſein Rücken bald ganz 
in denſelben Erinnerungen ſchwelgen wie der Eurigel 
Frau und Kinder feig zu verlaſſen! Pfui Teufel!“ 
„Schwatzt nicht ſo dummes Zeug! Als er fort war, 
ging es uns beſſer.“ 
„Richtig! Wenn der Mann das Geld nicht mehr 


vertrinken kann, das die Frau verdient, geht es der 


Witwe und den Waiſen beſſer!“ 

„Hört, wie kommt Ihr zu dieſer Rede? Meine 
Mutter war allerdings die eigentliche Verdienerin.“ 

„Ja; ſie arbeitete wie ein Pferd!“ 

„Woher wißt Ihr das?“ 


— 271 — 


„Sie lebte und wohnte in dem kleinen Smithville, 
Teneſſee, als ihr Mann, Euer lieber Vater, damals von 
ſich ſelbſt aufgehangen wurde?“ 

„Richtig! Aber ſagt, woher Ihr das alles — — —“ 

„Und iſt nachher mit ihren Kindern nach dem Oſten 
gezogen,“ unterbrach ihn Dick Hammerdull unbeirrt. 

„Auch das Stimmt! Nun teilt mir endlich — — —“ 

„Wartet nur! Sie hat ſo gearbeitet und ſo viel ver⸗ 
dient, daß ſie ſogar einen kleinen, blutarmen Neffen zu 
ſich nehmen und aufziehen konnte, der nachher, als ihm 
ihre ſtrenge Erziehungsweiſe zu ſchmerzlich wurde, eines 
ſchönen Sommertags verſchwand. Iſt es ſo oder nicht?“ 

„Es iſt ſo. Mir unbegreiflich, wie Ihr das alles 
wißt!“ 

„Ihr hattet auch eine Schweſter? Wo iſt ſie?“ 

„Sie iſt jetzt tot.“ 

„So ſeid Ihr und Euer ehrenwerter Prophet Joel 
die einzigen Erben Eurer Mutter geweſen?“ 

„Erben? Zum Teufel! Ein paar hundert Dollars 
waren übrig, weiter nichts. Was konnten wir mit denen 
anders machen, als ſie vertrinken!“ 

„Well; Ihr ſcheint wirklich genau nach Eurem Vater 
geraten zu ſein! Ich ſage: hütet Euch vor dem Strick, 
der ihm fo gefährlich wurde! Was meinſt du, Pitt Hol⸗ 
bers, altes Coon? Sollen ſie es bekommen?“ 

„Hm,“ brummte der Gefragte, im höchſten Grade 
verdrießlich, „ich tue, was du willſt, lieber Dick.“ 

„Well, ſo bekommen ſie es nicht! Biſt du damit ein⸗ 
verſtanden?“ 

„Ves; ſie ſind es nicht wert.“ 

„Ob ſie es wert ſind oder nicht, das bleibt ſich 
gleich; aber es wäre gradezu eine Affenſchande, wenn ſie 
es bekämen!“ 


— 272 — 


„Was habt Ihr nur für Heimlichkeiten? Von wem 
ſprecht Ihr eigentlich?“ erkundigte ſich der Tramp. 

„Von Hoſea und Joel,“ antwortete Hammerdull. 

„Alſo von mir und meinem Bruder? Wir beide ſind 
es, die etwas nicht bekommen ſollen?“ 

„Ja.“ 

„Was? Der Teufel mag Euch begreifen!“ 

„Pshaw! Unſer Vermögen! Viele, viele Tauſende 
von Dollars haben wir zuſammengetan, um ſie Euch und 
Euerm vortrefflichen Joel zu ſchenken; jetzt aber ſind wir 
zu dem Entſchluß gekommen, daß Ihr nichts, gar nichts, 
aber auch nicht einen einzigen Cent davon erhalten ſollt.“ 

Ich ſah mich nicht um, aber ich konnte mir das er⸗ 
ſtaunte Geſicht des Tramp vorſtellen. Es verging eine 
ganze Weile, ehe ich ihn fragen hörte: | 

„Euer — — Vermögen follten — — follten wir 
— — — bekommen? Ihr wollt Unſinn mit mir treiben!“ 

„Fällt mir gar nicht ein!“ 

Er ſchien in den Geſichtern der beiden Toaſts zu 
forſchen, denn es verging wieder eine lange Pauſe, ehe 
ich ihn in erſtauntem Ton ſagen hörte: . 

„Ich weiß wahrhaftig nicht, woran ich mit euch 
bin! Ihr macht ſo ernſthafte Geſichter, und doch kann es 
nichts als nur ein dummer Spaß ſein!“ 

„So will ich Euch aufklären. Ihr habt uns doch 
Euern Familiennamen geſagt!“ 

„Ja, Holbers.“ 

„Und mein Freund heißt?“ 

„Auch ſo.“ 

„Und ſein Vorname?“ 

„Pitt, wie ich gehört habe. Pitt Holbers. Das iſt 
ganz — — — ah, ahl“ 


— 278 — 


Er hielt inne. Ich hörte ihn halblaut durch die 
Zähne pfeifen, und dann fuhr er haſtig fort: 

„Pitt, Pitt, Pitt — — — ſo hieß doch auch der 
Junge, der Vetter, den die Mutter zu ſich nahm und 
— — — Thunder-storm! Wär’ es denn möglich? Sit 
dieſer ewig lange Menſch hier vielleicht jener kleine Pitt?“ 

„Er iſt's! Endlich habt Ihr die Hand an der rich⸗ 
tigen Türklinke! Das hat viel Mühe und Arbeit gekoſtet, 
ehe Ihr drauf gekommen ſeid! Ihr dürft Euch auf Eure 
Klugheit nichts einbilden!“ 

Dieſe Beleidigung überhörend, rief der Tramp: 

„Was? Wirklich? Ihr ſeid der dumme Pitt, der ſich 
für uns alle immer ſo gutwillig von der Mutter prügeln 
ließ? Dem dieſe Stellvertretung endlich ſo wehe tat, daß 
er die Flucht ergriff?“ 

Pitt mochte nur mit dem Kopf nicken; ich hörte kein 
Wort. | | 

„Das iſt doch toll!“ fuhr fein Vetter fort. „Und jetzt 
ſehe ich Euch als unſern Gefangenen wieder!“ 

„Den ihr ermorden wollt!“ fügte Hammerdull hinzu. 

„Ermorden? Hm! Davon wollen wir jetzt nicht reden. 
Erzählt mir jetzt lieber, Pitt, wohin Ihr damals gelaufen 
ſeid und was Ihr ſeit jener Zeit bis jetzt getrieben habt! 
Ich bin neugierig darauf!“ 
| Pitt huſtete einige Male und ſagte dann, ganz und 

gar nicht in der trockenen Weiſe, in der er ſonſt zu 
ſprechen pflegte: 

„Alſo ſo ſeid Ihr heruntergekommen! Menſchen ſeid 
Ihr geworden, die ihre Ehre, ihren Ruf ſo weit von ſich 
geworfen haben, daß ſie ſich nicht ſchämen, unter die 
Tramps gegangen zu ſein! Ich muß leider zugeben, der 
Sohn vom Bruder Eures Vaters zu ſein, kann aber zu 
meiner Rechtfertigung ſagen, daß nicht ich dieſe Ver⸗ 

may, Ob Surehand. II. 18 


— 274 — 


wandtſchaft zu verantworten habe. Es macht mir große 
Freude, ſagen zu können, daß ich gegen meinen Willen 
Euer Verwandter bin.“ 

„Oho!“ fiel der Tramp zornig ein. „Ihr wollt Euch 
meiner ſchämen? Aber geſchämt habt Ihr Euch nicht, 
Euch von uns ernähren zu laſſen?“ 

„Von Euch? Doch nur von Eurer Mutter. Und 
das, was ſie mir gab, habe ich mir redlich abverdienen 
müſſen. Während Ihr tolle Streiche verübtet, mußte ich 
arbeiten, daß mir die Schwarte knackte; nebenbei erhielt 
ich die Prügel für Euch, ſo ungefähr als das, was man 
den Nachtiſch nennt. Zu danken habe ich Euch alſo nicht 
das geringſte. Dennoch wollte ich Euch eine große Freude 
machen. Wir ſuchten Euch, um Euch unſre Erſparniſſe zu 
ſchenken, denn wir find Weſtmänner, die kein Geld brau⸗ 
chen. Ihr wärt reich dadurch geworden. Nun wir Euch 
aber als Tramps, als elende, herabgekommene Subjekte 
finden, ſoll mich unſer Herrgott behüten, das viele ſchöne 
Geld, mit dem wir beſſere und würdigere Menſchen glück⸗ 
lich machen können, in Eure Hände zu legen. Wir haben 
uns ſeit unſrer Kindheit hier zum erſtenmal wieder⸗ 
geſehen und ſind auch ſofort wieder geſchiedene Leute. Ich 
wünſche von ganzem Herzen, daß ich niemals wieder den 
Aerger und die Kränkung haben möge, mit Euch zu⸗ 
ſammenzutreffen!“ 


Der ſonſt ſo wortkarge Pitt Holbers hatte deſe lange 
Rede ſo fließend gehalten, daß ich mich ſchier wunderte. 
Das Verhalten des feinſten Gentleman hätte nicht beſſer 
ſein können als das ſeinige. Das erkannte Dick Hammer⸗ 
dull dadurch an, daß er ihm, ohne eine Pauſe eintreten zu 
laſſen, eiligſt zuſtimmte: 

„Recht ſo, lieber Pitt, recht ſo! Du haſt mir ganz 


— 273 — 


aus der Seele geſprochen. Wir können beſſere Menſchen 
damit glücklich machen.“ 

Einem Fremden hätte der Tramp jedenfalls in andrer 
Weiſe geantwortet, nun er aber wußte, daß Pitt ſein 
Verwandter ſei, zog er den Spott dem Zorn vor und 
ſagte, indem er höhniſch lachte: 

„Wir ſind gar nicht neidiſch auf die guten, die beſſeren 
Menſchen, die euer Geld bekommen ſollen. Die paar 
Dollars, die ihr zuſammengewürgt haben werdet, brauchen 
wir nicht. Wir werden ja Millionen beſitzen, ſobald wir 
die Bonanza gefunden haben!“ 

„Wenn ihr ſie findet!“ kicherte Hammerdull. „Ich 
ſehe ſchon, wie Old Shatterhand mit dem Zeigefinger auf 
die Erde deutet und zu euch ſagt: Da liegen ſie, Klumpen 
über Klumpen, einer immer größer als der andere. Seid 
doch ja ſo gut und nehmt ſie heraus! Einen größern 
Gefallen könnt ihr uns armen Gefangenen gar nicht tun! 
Dann ſchießt ihr uns alle über den Haufen, damit wir 
nichts verraten können, packt die Million zuſammen, kehrt 
nach dem Oſten zurück, bringt ſie auf die Bank, lebt von 
den Zinſen herrlich und in Freuden wie der reiche Mann 
im Evangelium, und laßt alle Tage Pflaumenkuchen für 
eure Schnäbel backen. So denke ich mir das, und ſo wird 
es auch geſchehen. Meinſt du nicht auch, Pitt Holbers, 
altes Coon?“ 

„Ja, beſonders das mit 8 Pflaumenkuchen wird 
ſeine Richtigkeit haben,“ antwortete Pitt, jetzt wieder in 
ſeiner trockenen Weiſe. 

„Redet nicht ſo dummes Zeug!“ fuhr Hoſea die beiden 
Freunde an. „Es iſt doch nur der grimmige Aerger, der 
Neid, der aus euch ſpricht! Wie gern möchtet ihr doch 
die Bonanza für euch haben!“ 

„O, die gönnen wir euch von ganzem Herzen! Wir 


— 276 — 


freuen uns ſchon auf die Augen, die ihr machen werdet, 
wenn wir an Ort und Stelle ſind. Ich habe nur ein 
großes Bedenken bei dieſer ganzen Geſchichte.“ 

„Welches?“ 

„Daß ihr vor lauter Wonne das Zugreifen vergeſſen 
werdet.“ 

„O, wenn es nur das iſt, ſo zerbrecht Euch ja nicht 
den Kopf darüber. Jetzt aber muß ich hin zu meinem 
Bruder, um ihm zu ſagen, daß ich den Pitt gefunden habe, 
den Vetter Pitt, der damals durchgebrannt iſt!“ 

Er trieb ſein Pferd vorwärts und ritt an mir vor⸗ 
über nach der Spitze des Zuges, wo ſich Joel, der brüder⸗ 
liche Schuft, befand. 

„Hätteſt du das gedacht?“ hörte ich Hammerdull 
hinter mir fragen. 

„Nein!“ antwortete Pitt kurz. 

„Saubere Verwandtſchaft!“ 

„Bin großartig ſtolz auf fie!” 

„Höchſt ärgerlich!“ 

„O nein! Ich ärgere mich nicht, weil ſie mir gleich⸗ 
gültig ſind.“ 

„Ach, das meine ich nicht! Aber unſer Geld. Wem 
ſchenken wir es nun? Ich mag nicht reich ſein; ich mag 
nicht auf dem Geldſack hocken und vor Angſt darüber, 
daß er mir geſtohlen werden könnte, den ſchönen, geſunden 
Schlaf einbüßen.“ 

„Ja, nun können wir uns wieder die Köpfe zer⸗ 
brechen!“ 

„Wieder von vorn anfangen, darüber nachdenken, 
wer uns das Geld abnehmen wird! Es iſt eine dumme, 
eine ganz dumme Geſchichte!“ 5 

Da wendete ich den Kopf und fagte: 

„Macht Euch doch keine unnötige Sorge!” 


— 277 — 


Sie kamen ſofort rechts und links zu mir heran, 
und der Dicke fragte: | 

„Keine Sorge? Wißt Ihr vielleicht EN den wir 
beſchenken können?“ 

„Hunderte könnte ich Euch vorſchlagen; das meine ich 
aber nicht. Habt Ihr denn das Geld?“ 

„Leider nicht. Der ‚General‘ hat es; das wißt Ihr 
doch, Mr. Shatterhand.“ | 

„Alſo grämt Euch jetzt noch nicht! Wer weiß, ob 
wir ihn fangen!“ 

„Oh, Ihr und Winnetou ſeid ja da! Da iſt es ſo 
gut, als ob wir ihn ſchon hätten! Habt Ihr gehört, was 
wir jetzt geſprochen haben, und daß wir Pitts Vettern 
. 

„Ja. Ihr ſeid ſehr unvorſichtig geweſen.“ 

„Inwiefern? Hätten wir verſchweigen ſollen, wer 
Pitt Holbers ift?“ | 

„Nein. Aber Ihr habt getan, als wüßtet Ihr ganz 
genau, daß wir bald frei ſein werden. Es wird dadurch 
leicht ein Verdacht erweckt, der uns ſehr hinderlich werden, 
vielleicht alles verderben kann.“ 

„Fm! Das iſt wahr. Aber ſoll ich dieſen Kerls 
den Gefallen tun, vor Traurigkeit die Naſe bis auf den 
Sattel herunterhängen zu laſſen? Ihr habt doch auch 
ſehr ſelbſtbewußt zu Redy und Old Wabble geſprochen!“ 

„Aber nicht in ſo auffälliger Weiſe wie Ihr jetzt zu 
dieſem Hoſea Holbers, der glücklicherweiſe nicht pfiffig 
genug iſt, um mißtrauiſch zu werden. Eure Ironie in 
Beziehung auf die großen Goldklumpen war höchſt 
gefährlich für uns. Die Tramps müſſen bis zum letzten 
Augenblick glauben, daß ich die Bonanza kenne.“ 

„Ja, aber wann wird dieſer letzte Augenblick 
kommen?“ | 


— 278 — 


„Vielleicht ſchon heut.“ 

„Huzzal Iſt's wahr? In welcher Weiſe?“ 

„Das kann ich jetzt noch nicht genau wiſſen. Kolma 
Puſchi, der Indianer, wird kommen und mich frei⸗ 
machen.“ i 

„Der? Wer hätte das gedacht!“ 

„Er hat es mir verſprochen. Wie ich mich dann, 
wenn ich frei bin, verhalten werde, das wird ſich nach den 


Umſtänden richten. Ihr dürft nicht einſchlafen, müßt 


das nach und nach den 
echen, weil das 


Euch aber ſchlafend ſtellen. 
Kameraden! Ich will mit ihnen ni 
Verdacht erregen könnte.“ 

Sie wußten nicht, daß Kolma Puſchi heimli 
mir geweſen war, und fragten mich, woher ich wiſſe, da 
er kommen werde; ich forderte ſie aber auf, wieder hinter 
mir zu reiten und die Sache ruhig abzuwarten. Es war 
beſſer, wenn die Tramps mich ſo wenig wie möglich mit 
meinen Gefährten ſprechen ſahen. 

Die Brüder Holbers hielten jetzt ihre Pferde an, 


bis fie ſich bei Dick und Pitt befanden. Da zeigte Hoſeg 


auf dieſen und ſagte: 

„Das iſt er, der Prügelvetter von damals, der jetzt 
ſo ſtolz tut.“ 

Joel warf einen geringſchätzenden Blick auf Pitt und 
antwortete: 

„Er wird noch froh ſein, wenn wir ihm erlauben, 
mit uns zu reden! Alſo Geld hat er uns ſchenken wollen?“ 

„Ja, ein ganzes Vermögen ſogar!“ 

„Sieh ihn doch an! Der, und ein Vermögen! Die 
reine Dummpfiffigkeit! Er hat uns ködern wollen. Wer⸗ 


den uns freilich hüten, auf fo einen kindiſchen Unſinn 


hereinzufallen! Komm!“ 


N 1 


— 279 — 


Sie ritten wieder nach vorn. Dick Hammerdull 
ſcherzte: 

„Alſo dummpfiffig ſind wir, Pitt Holbers, altes 
Coon! Das ſind zwei Eigenſchaften, in die wir uns teilen 
können. Wenn es dir recht iſt, nehme ich die Pfiffigkeit 
für mich; du bekommſt das übrige.“ 

„Bin einverſtanden! So muß es unter Freunden 
ſein! Dann hat einer dem andern ſein Kapital geborgt!“ 

„Donner! Das war nicht übel geantwortet! 
Danke dir!“ 


„Bitte! Gern geſchehen l“ 


Sechſtes Kapitel 
Vertauſchte Rollen 


Ich wurde jetzt nach vorn gerufen, um mich als 
Führer an die Spitze des Zuges zu ſetzen; denn ich hatte 
bisher nur hier und da durch ein lautes Wort angegeben, 
welche Richtung zu nehmen ſei. Wir waren ziemlich 
ſcharf geritten und nun in die Nähe des Zuſammenfluſſes 
der beiden Ruſh⸗Forks gekommen. Die Gegend war 
waſſerreich, und darum wurde die Prärie oft durch 
größere und kleinere Gruppen von Büſchen und Bäumen 
unterbrochen. Es war alſo notwendig, daß ich voranritt. 
Damit mir das aber ja nicht Gelegenheit zur Flucht 
geben möge, nahmen Redy und Old Wabble mich eng in 
ihre Mitte. Wir hatten wieder einmal eine ſolche Baum⸗ 
inſel vor uns, als Old Wabble die Hand ausſtreckte 
und rief: 

„All devils! Wer kommt da? Männer, nehmt euch 
in acht! Haltet die Gefangenen eng zuſammen, denn da 
kommt einer, der alles daran ſetzen wird, ſie zu befreien!“ 

„Wer iſt's?“ fragte Redy. 

„Ein guter Freund von Winnetou und Shatterhand. 
Old Surehand heißt er. Wenigſtens möchte ich glauben, 
daß er es iſt.“ N 

Es kam ein Reiter hinter dem Wäldchen hervor und 
in vollem Galopp auf uns zugejagt. Er war noch weit 
von uns entfernt; wir konnten ſein Geſicht nicht erkennen; 
aber wir ſahen ſein langes Haar wie einen hinter ihm 


— 281 — 


wehenden Schleier fliegen. Das gab ihm freilich eine 
große Aehnlichkeit mit Old Surehand; aber ich ſah ſofort, 
daß er nicht deſſen volle, kräftige Geſtalt hatte. Es war 
nicht Old Surehand, ſondern Kolma Puſchi, der uns ent⸗ 
gegenkam. Er wollte uns zeigen, daß er auf dem Platz ſei. 

Er tat zunächſt, als ſähe er uns nicht; dann ſtutzte 
er, hielt ſein Pferd an und betrachtete uns. Hierauf 
ſtellte er ſich, als ob er zur Seite ausweichen wolle, 
lenkte aber wieder zurück und wartete auf unſere Annähe⸗ 
rung. Als wir ſo weit gekommen waren, daß wir ſein 
Geſicht erkennen konnten, ſagte Old Wabble, hörbar im 
Ton der Erleichterung: 

„Es iſt nicht Old Surehand, ſondern ein Indianer. 
Das iſt gut! Zu welcher Horde er wohl gehören mag?“ 

„Dumme Begegnung!“ meinte Redy. 

„Warum? Viel beſſer, als wenn es ein Weißer 
wäre. Braucht ſich aber eigentlich auch nicht grad auf 
unſerm Weg herumzutreiben; it's clear! Wir müſſen 
ihn etwas ſcharf drannehmen, daß es ihm nicht etwa 
einfällt, uns nachzuſpionieren.“ 

Jetzt hatten wir ihn erreicht und hielten an. Er 
grüßte mit ſtolzer Senkung ſeiner Hand und fragte: 
„Haben meine Brüder vielleicht einen roten Krieger 
geſehen, der einen Sattel trägt und ſein Pferd ſucht, 
das ihm in dieſer Nacht entflohen iſt?“ 

Redy und Old Wabble ſchlugen ein helles Gelächter 
auf, und der erſtere antwortete: 

„Einen roten Krieger, der einen Sattel trägt! 
Schöner Krieger!“ 

„Warum lacht mein weißer Bruder?“ fragte der den 
Tramps unbekannte Indianer ernſt und erſtaunt. „Wenn 
ein Pferd entwichen iſt, hat man es doch zu ſuchen!“ 

„Sehr wahr! Aber wer ſein Pferd ausreißen läßt 


— 


und dann mit dem Sattel hinterher läuft, kann kein 
berühmter Krieger ſein! Iſts etwa ein Kamerad von dir?“ 

„Ja.“ 

„Habt ihr noch mehr Kameraden?“ 

„Nein. Während wir in der Nacht ſchliefen, riß das 
Tier ſich los und war früh nicht mehr zu ſehen. Wir 
brachen auf, nach ihm zu forſchen; nun finde ich nicht ſein 
Pferd und auch nicht ihn.“ 

„Nicht ſein Pferd und auch nicht ihn! Luſtige Ge⸗ 
ſchichte! Ihr ſcheint ja zwei tüchtige Kerls zu ſein. Da 
muß man wirklich Achtung bekommen. Zu Ben 
Stamm gehört ihr denn?“ 

„Zu keinem.“ 

„Alſo Ausgeſtoßene! Lumpengeſindel! Na, ich will 
menſchlich und barmherzig ſein und euch helfen. Ja, wir 
haben ihn geſehen.“ 

„Wo?“ 

„So ungefähr zwei Meilen hinter uns. Du brauchſt 
nur auf unſerer Fährte zurückzureiten. Er hat uns nach 
dir gefragt.“ 

„Welche Worte hat der Krieger da geſagt?“ 

„Sehr ſchöne, ehrenvolle Worte, auf die du ſtolz 
ſein kannſt. Er fragte, ob wir nicht den ſtinkigen roten 
Hund gefunden hätten, den das Ungeziefer durch die 
Prärie treibt.“ 

„Mein weißer Bruder hat den Krieger falſch ver» 
ſtanden.“ 5 

„Ah? Wirklich? Wie ſollte er anders geſagt haben?“ 

„Ob die Bleichgeſichter nicht den Hund geſehen haben, 
der das ſtinkige Ungeziefer durch die Prärie treibt. So 
werden die Worte geweſen ſein, und der Hund wird das 
Ungeziefer finden.“ 

Er nahm das Pferd vorn hoch — eine leiſe Bewegung 


— 288 — 


der Schenkel — — es flog in einem weiten Bogen durch 
die Luft und trug ihn dann in ſchlankem Galopp weiter, 
auf unſerer Fährte hin, wie ihm geſagt worden war. 
Alle ſahen ihm nach, während er ſich nicht ein einziges 
Mal umblickte. Redy murrte: 

„Verfluchter, roter Balg! Was mag er wohl gemeint 
haben? Habt ihr dieſe Umdrehung meiner Worte ver⸗ 
ſtanden, Mr. Cutter?“ 

„Nein,“ antwortete der alte Wabble. „Indianer⸗ 
wort! Er hat nur etwas ſagen wollen und ſich ſelbſt 
dabei nichts gedacht.“ 

„Well! So mag er die zwei Meilen reiten und dann 
weiterſuchen. Ein roter ‚Krieger‘ mit einem Sattel auf 
dem Rücken! Armſelige Bande, die immer mehr herunter⸗ 
kommt!“ 

Wir ritten nach dieſem kurzen Zwiſchenſpiel weiter. 
Dieſe Tramps waren keine Weſtmänner; aber daß auch 
Old Wabble die Worte des Roten für bedeutungslos ge⸗ 
halten hatte! Mir an ſeiner Stelle hätten ſie ein ſolches 
Mißtrauen eingeflößt, daß ich dem Indsman gewiß 
nachgeritten wäre, um ihn zu beobachten. Wer ſolche 
Antworten nicht als Warnungen oder Winke nimmt, der 
iſt den Gefahren des wilden Weſtens nicht gewachſen. 

Wir waren noch nicht weit geritten, als es wieder 
eine Begegnung gab, und zwar eine für uns ſehr wichtige, 
auf die, wenigſtens heut, keiner von uns gefaßt war. 

Wir ritten an einem ſchmalen Buſchſtreifen hin, der 
ſich wie ein geſchlängeltes Band über die Savanne zog, 
und hatten deſſen Ende erreicht, als wir zwei Reiter ſahen, 
die mit einem Packpferd, von rechts herüberkommend, auf 
uns ſtoßen mußten. Da ſie uns auch ſchon geſehen hatten, 
gab es kein Verbergen, weder von ihrer noch von unſrer 
Seite. Wir ritten alſo weiter und ſahen, daß der eine 


— 284 — 


Reiter ſein Gewehr zur Hand nahm, wie es immer 
geſchieht, wenn es ſich um ein Zuſammentreffen mit 
Fremden handelt. | 

Als wir von ihnen ungefähr noch dreihundert 
Schritte entfernt waren, hielten ſie an, offenbar in der 
Abſicht, uns vorüber zu laſſen, ohne von uns angeredet zu 
werden. Old Wabble aber ſagte: 

„Die wollen von uns nichts wiſſen, alſo reiten wir 
grad hin zu ihnen!“ 

Dies geſchah. Wir waren nur eine kurze Strecke 
weiter geritten, da hörte ich hinter mir mehrere laute 
Ausrufe. 

„Uff, uff!“ ertönte Matto Schahkos Stimme. 
„uff!“ rief nur einmal Apanatſchka, aber um fo 

ausdrucksvoller. Seine Ueberraſchung mußte groß ſein. 
| Jetzt ſah ich ſchärfer hin, als ich es bisher getan 
hatte und — war ebenſo-erſtaunt wie dieſe beiden. Der 
Reiter mit dem Gewehr in der Hand war nämlich der 
weiße Medizinmann der Naiini⸗Komantſchen, unſer viel⸗ 
beſprochener Tibo taka, und der andere konnte niemand 
als nur ſeine rote Squaw, die geheimnisvolle Tibo wete 
fein. Ein Packpferd hatten fie ja auf Harbours Farm 
auch bei ſich gehabt. 

Als der Medizinmann ſah, daß wir nicht grad weiter⸗ 
ritten, ſondern auf ihn zukamen, wurde er unruhig, doch 
nur für einige Augenblicke; dann trieb er uns ſein Pferd 
entgegen und rief, indem er die Hand durch die Luft 
ſchwenkte: 

„Old Wabble, Old Wabble! Welcome! Wenn Ihr 
es ſeid, ſo habe ich nichts zu fürchten, Mr. Cutter!“ 

„Wer iſt der Kerl?“ fragte der alte Cowbog. „Ich 
kenne ihn nicht.“ 

„Ich auch nicht,“ antwortete Redy. 


— 285 — 

„Werden ja ſehen, wenn wir bei ihm ſind!“ 

Old Wabble war an ſeiner ungewöhnlich hagern und 
langen Geſtalt und noch mehr an ſeinem weit herab⸗ 
hängenden weißen Haar, von dem er freilich geſtern die 
Hälfte durch das Feuer verloren hatte, ſchon von weitem 
zu erkennen. Als wir näher kamen, erkannte der Medizin⸗ 
mann auch uns. Er wußte zunächſt nicht, ob er fliehen 
oder bleiben ſolle; als er aber ſah, daß wir gefeſſelt waren, 
ſchrie er vor Freude förmlich auf: | 

„Old Shatterhand, Winnetou, Matto Schahko und 
— und — — und — —“ er wollte den Namen ſeines 
angeblichen Sohnes doch nicht nennen — — „und ihre 
Kerls, alle gebunden! Das iſt ja ein wunderbares Ereig⸗ 
nis, Mr. Cutter! Wie hat ſich das zutragen können? — 
Wie habt Ihr das zuſtande gebracht?“ 

Jetzt hatten wir ihn erreicht, und da fragte Old 
Wabble: 5 

„Wer ſeid Ihr denn eigentlich, Sir? Ihr kennt 
mich? Es iſt mir zwar, als ob ich Euch auch kennen 
ſollte, aber ich kann mich nicht beſinnen.“ 

„Denkt doch an den Llano eſtakado!“ 

„Wo und wie und wann denn da?“ 

„Als wir Gefangene der Apatſchen waren.“ 

„Wir! Wer iſt damit gemeint?“ 

„Wir Komantſchen.“ 

„Was? Wie? Ihr zählt Euch zu den Komantſchen?!“ 

„Damals, ja, aber jetzt nicht mehr.“ 

„Und ſagtet ſoeben, daß Ihr jetzt nichts zu fürchten 
hättet?“ 

„Ganz recht! Ihr könnt ja unmöglich Freund meiner 
Feinde fein, denn Ihr habt damals Old Shatterhands 
Gewehre geſtohlen und ſeid der Kamerad des Generals 
geweſen. Und auf Harbours Farm erfuhr ich von Bell, 


— 286 — 


dem Cowboy, daß Ihr wieder einen böſen Zuſammen⸗ 
ſtoß mit Winnetou und Old Shatterhand gehabt hättet. 
Darum bin ich ſo erfreut, Euch ſo unerwartet zu be⸗ 
gegnen.“ 

„Well! Das iſt ja alles gut, aber — — —“ 

„Beſinnt Euch nur!“ fiel ihm der geweſene Koman- 
tſche in die Rede. „Ich war damals als Indianer freilich 
rot gefärbt und fo iſt — — —“ 

„All devils! Rot gefärbt? Jetzt befinne ich mich! 
Ihr ſeid wohl der damalige Medizinmann der Ko⸗ 
mantſchen?“ 

„Der bin ich allerdings.“ 

„Iſt das die Möglichkeit?! Ein Medizinmann, der, 
wie ich jetzt ſehe, urſprünglich ein Bleichgeſicht iſt! Merk⸗ 
würdig, höchſt merkwürdig! Das müßt Ihr mir erzählen! 
Wir werden alſo hier einen Halt machen, denn das iſt 
ein Abenteuer, wie man ſelten eins erlebt!“ 

„Danke, Mr. Cutter, danke ſehr! Ich darf mich 
nicht aufhalten; ich muß weiter, doch hoffe ich, wir ſehen 
uns wieder. Ich muß Euch ſagen, daß der heutige Tag 
der glücklichſte meines Lebens iſt, denn ich bemerke, daß 
Leute in Eure Hände geraten ſind, die, wenn es auf mich 
ankäme, auf der Stelle ausgelöſcht würden. Haltet ſie 
feſt — haltet fie feſt!“ 

Während des bisherigen Redewechſels hatte ich den 
zweiten Reiter betrachtet. Es war die Squaw, und zwar 
ohne den Schleier, hinter den auf Harbours Farm ihr 
Geſicht verſteckt worden war. Sie trug zwar Männer⸗ 
kleidung, aber ſie war es doch. Das war dieſelbe hohe, 
breitſchultrige Geſtalt wie damals im Kaam⸗kulano. Das 
war das tiefbraune, durchfurchte und ſchrecklich ein⸗ 
gefallene, faſt kaukaſiſch geſchnittene Geſicht, und das 
waren dieſelben troſtloſen, ſtarren und doch wild flackern⸗ 


17. 
Mi 
5 X 


— 287 — 


den Augen, bei deren Blick ich ſofort an das Irrenhaus 
gedacht hatte. Sie ſaß nach Männerart auf dem Pferd, 
feſt und ſicher, wie eine geübte Reiterin. Sie lenkte es 
heran zu uns. Wir hatten unwillkürlich einen Halbkreis 
um den Medizinmann gebildet, an deſſen einem Ende ſie 
bei dem letzten Wort ihres Mannes angekommen war. 
Dort hielt ſie an ohne zu reden, und richtete den ſtieren 
Blick ins Leere. Ich ſah zu Apanatſchka hin. Er ſaß, 
vollſtändig unbeweglich, wie ein Standbild auf dem Pferde. 
Für ihn ſchien niemand vorhanden zu ſein als nur ſie, 
die er bisher für ſeine Mutter hielt. Dennoch machte er 
nicht den leiſeſten Verſuch, ſich ihr zu nähern. 

Der Medizinmann hatte mit merkbarem Unbehagen 
ſeine Squaw herankommen ſehen; doch beruhigte ihn ihre 
vollſtändige Teilnahmloſigkeit; er wendete ſich wieder an 
Old Wabble: 

„Ich muß, wie ich ſchon ſagte, fort; aber ſobald wir 
uns wiederſehen, werdet Ihr erfahren, warum ich mich 
ſo rieſig darüber freue, daß Ihr dieſe Kerls gefangen 


habt. Was wird mit ihnen geſchehen?“ 


„Das wird ſich finden,“ antwortete der Alte. „Ich 
kenne Euch zu wenig, um Euch dieſe Frage beantworten 
zu können.“ 

„Well! Ich bin auch ſo ſchon befriedigt, denn ich 
denke, daß Ihr nicht viele und große Umſtände mit ihnen 
machen werdet. Sie verdienen den Tod, nur den Tod; 
das ſage ich Euch, Ihr könnt keine größere Sünde begehen, 
als wenn Ihr ihnen das Leben laßt. Daß ich ſie hier 
in Banden ſehe, iſt zehn Jahre meines Lebens wert. 
Welch eine Augenweide für mich! Darf ich ſie einmal 
genau betrachten, Mr. Cutter?“ 

„Warum nicht? Seht ſie Euch ſo lange an, wie es 
Euch gefällt!“ 


— 288 — 


Der Medizinmann ritt nahe an den Oſagen heran, 
lachte ihm ins Geſicht und ſagte: 

„Das iſt Matto Schahko, der ſo viele Jahre lang 
vergeblich getrachtet hat, uns zu entdecken! Armer Wurm! 
Du, und ſolche Leute fangen, wie wir beide waren und 
noch heute ſind! Dazu reicht ja doch dein armſeliges 
bißchen Hirn nicht aus! Das war doch ein prächtiger 
Streich damals, nicht? So viele und dabei ſo billige Felle 
zu kaufen, das iſt wohl nie wieder einem Menſchen ge⸗ 
lungen!“ 

Der Häuptling erwiderte nichts; aber ſeine Arm⸗ 
muskeln ſpannten ſich, ſein Geſicht färbte ſich dunkler 
und fein Auge heftete ſich düſter, drohend auf den Gegner. 

„Möchteſt mich wohl erwürgen?“ lachte dieſer. 
„Würge nur zu, und erſticke ſelbſt daran!“ 

Nun wendete er ſich an Treskow: 


„Das iſt wohl der famoſe Poliziſt, von dem mir der 


Cowboy ſagte, er ſitze in der Stube? Alberner Kerl! 
Wonach ſchnüffelſt du denn eigentlich? Lächerliche und 
vergebliche Arbeit! Nur noch einige Wochen, und es iſt 
alles verjährt. Darum kommen wir wieder. Merkſt du 
das nicht?“ 

„Laßt dieſe Wochen vorübergehen!“ antwortete Tres⸗ 
kow. „Ihr taucht zu zeitig auf, Monſieur Thibaut.“ 

„Mille tonnerre! Ihr kennt meinen Namen? Sit 
die Polizei denn plötzlich allwiſſend geworden? Ich gra⸗ 
tuliere, Sir!“ 

Er ritt zu Apanatſchka hin, warf ihm ein kurzes 
„tſari“) ins Geſicht und hielt dann bei Winnetou an. 

„Das iſt der Häuptling der Apatſchen, überhaupt 


der berühmteſte aller Häuptlinge!“ ſagte er höhniſch. 


„Man möchte es gar nicht glauben, was aus ſolch einem 
5 Hund l 


— 289 — 


Hundebengel werden kann! Wir kennen uns; nicht wahr? 
Ich hoffe, du biſt dieſes Mal auf dem Weg zu den ewigen 
Jagdgründen. Wenn nicht, ſo hüte dich, mir zu begegnen! 
Sonſt ſchieße ich dir eine Kugel durch den Kopf, daß die 
Sonne Gelegenheit bekommt, dir von zwei Seiten ins 
Gehirn zu ſcheinen!“ 

Winnetou blickte nicht auf, und ſeine Züge blieben 
unbeweglich. Der Medizinmann aber nutzte die ihm 
gebotene Gelegenheit bis auf die Neige aus, indem er 
ſein Pferd nun auch zu mir lenkte. Als Weißer war ich 
nicht verpflichtet, die ſtoiſche Unempfindlichkeit Winnetous 
zu zeigen. Mein Stolz hätte mich wohl veranlaſſen kön⸗ 
nen, hoch über den einſtigen Zauberkünſtler hinwegzuſehen; 
aber die Klugheit drängte mir ein anderes Verhalten auf: 
ich mußte verſuchen, ihn zu unvorſichtigen Aeußerungen 
zu bringen; darum wendete ich ihm, als er kam, mein 
Geſicht zu und ſagte in beluſtigtem Ton: 

„Nun wird die Reihe des berühmten Tibo taka wohl 
an mich kommen? Hier ſitze ich, gefeſſelt wie ich bin. 
Ihr habt Gelegenheit, Euer Herz einmal vollſtändig aus⸗ 
zuſchütten. Fangt alſo an!“ 

„Diable!“ ziſchte er mich wütend an. „Dieſer Kerl 
wartet gar nicht einmal, bis ich ihn anrede! So eine 
Frechheit findet doch nicht ihresgleichen! Ja, ich habe 
mit Euch zu reden, Halunke, und das werde ich freilich 
gründlich tun. Ihr ſitzt mir ganz recht!“ 

„Well! Ich bin bereit, möchte Euch aber, ehe Ihr 
beginnt, um Euer ſelbſt willen einen wohlgemeinten Rat 
erteilen.“ 

„Auch das? Welchen denn? Heraus damit!“ 

„Seid nicht ganz und gar unvorſichtig, wenn Ihr 
mit mir redet! Ihr werdet wahrſcheinlich noch von N | 
wiſſen, daß ich meine Mucken habe!“ 

May, Om Surehand. II. 19 


— 290 — 


„Ja, die habt Ihr; aber die werden Euch bald aus⸗ 
getrieben werden. Unterhaltet Euch Don nicht gern fo 
traulich?“ 

„Oh, ich unterhalte mich gern, aber nicht mit blöd⸗ 
ſinnigen Burſchen, die nur Stumpfſinn lallen können.“ 

„Mir das, elender Wicht? Denkt Ihr, weil meine 
Kugel Euch einmal gefehlt hat, kann ſie Euch niemals 

treffen?“ 

Er richtete ſein. Gewehr auf mich und ſpannte den 
Hahn; da war Redy im Nu bei ihm, ſtieß ihm die Waffe 
weg und warnte: 

„Tut die Flinte weg, Sir, ſonſt muß ich mich ins 
Mittel legen! Wer Old Shatterhand verletzt, bekommt 
von mir eine Kugel!“ 

„Von Euch? Ah! Wer ſeid Ihr denn? 

„Ich heiße Redy und bin der Anführer dieſer Truppe. 

„Ihr? Ich denke, Old Wabble iſt's?“ 

„Ich bins; das iſt genug!“ 

„Dann entſchuldigt, Sir! Ich habe es nicht EN 
Aber ſoll man es fich gefallen laſſen, wenn man in dieſer 
Weiſe beleidigt wird?“ 

„Ich denke, ja! Mr. Cutter hat Euch ohne meine 
Erlaubnis geſtattet, mit dieſen Leuten nach Eurem Gut⸗ 
dünken zu reden, und ich habe das bisher geduldet. Wenn 
ſie ſich aber Eure Höflichkeiten nicht unerwidert gefallen 
laſſen, ſo ſeid Ihr ſelber ſchuld. Berühren oder gar ver⸗ 
letzen laſſe ich ſie nicht!“ 

„Aber reden kann ich mit dieſem Mann weiter?“ 

„Ich habe nichts dagegen.“ 

„Und ich auch nicht,“ fügte ich hinzu. „Eine Unter⸗ 
haltung mit einem indianiſchen Poſſenreißer iſt ſtets be⸗ 
luſtigend. Der alte Hanswurſt macht mir a 
Spaß!“ 


— 291 — 


Er hob die Hand und ballte ſie zur Fauſt, ließ ſie 
aber wieder ſinken und ſagte in ſtolzem Ton: 

„Pshaw! Ihr ſollt mich nicht wieder ärgern! Wäret 
Ihr doch nicht ſchon Gefangener und begegnetet mir 
auf der Prärie! Ich wollte Euch für den damaligen Beſuch 
im Kaam⸗kulano einen Lohn auszahlen, der alle Eure 
Begriffe überſteigen würde!“ 

„Ja; die Eurigen und alle Eure geiſtigen Mittel 
ſcheint dieſer Beſuch ſchon überſtiegen zu haben! Würdet 
denn Ihr wohl ſo etwas fertig bringen? Ich will Euch 
nicht etwa kränken, Verehrteſter, denn wem nichts gegeben 
iſt, dem iſt eben nichts gegeben, aber ich denke, daß es bei 
Euch da oben unter dem Hut nicht dazu ausreichen würde!“ 

„Donnerrrrrr!“ knirſchte er. „Mir das ſo gefallen 
laſſen zu müſſen! Wenn ich doch nur könnte und dürfte, 
wie ich wollte — — —!“ 

„Ja, ja; es fehlt Euch überall! Nicht einmal den 
Wawa Derrick habt Ihr allein um die Ecke bringen können; 
Ihr habt Euch helfen laſſen müſſen!“ 

Seine Augen wurden größer; er richtete ſie ſtarr auf 
mich. Er ſchien mir durch und durch blicken zu wollen, 
und als ich trotzdem mein unbefangen lächelndes Geſicht 
beibehielt, rief er aus: 

„Was hat Euch denn der verfluchte Kerl, der junge 
Bender, damals weisgemacht?“ 

8 Ah! Bender! Dieſer Name fängt mit B an. Ich 

dachte ſofort an die Buchſtaben J. B. und E. B. droben 
am Grabe des ermordeten Padre Diterico. Wer war aber 
unter dem Namen Bender gemeint? So freilich durfte 
ich nicht fragen; ich gab meiner Erkundigung alſo eine 
andre Faſſung, indem ich ſie ſo ſchnell ausſprach, daß 
er keine Zeit zum vorſichtigen Ueberlegen fand: 

„Damals? Wann denn?“ 


— 292 — 


„Damals im Llano eſtakado, wo er bei Euch war 
und mit feinem eigenen Bru — — — —7 

Er hielt erſchrocken inne. Mir ging im kürzeſten 
Teile einer Sekunde, den das menſchliche Gehirn noch 
zu empfinden oder zu meſſen vermag, ein blitzheller Ge⸗ 
danke auf, und ich ſetzte ſeinen unterbrochenen Satz ebenſo 
ſchnell fort: 

— — — mit feinem eigenen Bruder kämpfte? 
Pshaw! Was er mir damals fagte, wußte ich ſchon 
längſt, wußte es noch viel beſſer als er felbft! Ich hatte 
ſchon viel früher Gelegenheit gehabt, nach dem Padre 
Diterico zu forſchen!“ 

„Di — te — — ri — — — — — 7!“ dehnte er 
erſchrocken. 

„Ja. Solltet Ihr dieſen Namen nicht gern aus⸗ 
ſprechen, fo können wir auch J⸗kwehtſipa ſagen, wie er 
in ſeiner Heimat bei den Moqui genannt wurde.“ 

Zunächſt war er wortlos; aber es arbeitete in ſeinem 
Geſicht; er ſchluckte und druckte und druckte und ſchluckte 
wie einer, dem ein übergroßer Biſſen im Schlunde ſtecken⸗ 
geblieben iſt; dann ſtieß er einen lauten, heiſern Schrei 
aus und brüllte: 

„Hund, Ihr habt mich jetzt wieder überliſtet, wie Ihr 
uns damals alle überliſtet habt! Ihr müßt und müßt und 
müßt unſchädlich gemacht werden! Nehmt das dafür!“ 

Er riß das Gewehr wieder empor; der Hahn knackte, 


Redy ſpornte ſein Pferd wieder heran; er wäre aber 
doch zu ſpät gekommen, mich vor der Kugel des Wütenden 
zu retten, wenn ich mir nicht ſelbſt geholfen hätte. Ich 
bog mich vor, um die Zügel mit gefeſſelten Händen ganz 
vorn und kurz faſſen zu können, preßte die Füße in die 
Weichen des Pferdes und rief: 


— 293 — 


„Tſchah, Hatatitla, tſchah“)!“ 

Dieſer Zuruf, den der Rappe ſehr wohl verſtand, 
mußte die Nachteile, die meine Feſſeln mir als Reiter 
brachten, ausgleichen. Der Hengſt zog den Körper wie 
eine Katze zuſammen und brachte mich mit einem gewal⸗ 
tigen Satz ſo eng, daß ſich die Pferde ſtreiften, an Thi⸗ 
baut vorüber. Mein Bein traf mit aller Kraft dieſes 
Satzes das ſeinige und, mitten im Sprung die Zügel 
fallen laſſend, ſtieß ich ihm die zuſammengebundenen 
Fäuſte ſo in die Seite, daß er, grad als ſein Schuß 
losging, halb abgeſtreift und halb abgeſchleudert auf der 
andern Seite aus dem Sattel und in einem weiten Bogen 
auf die Erde flog. N 

Es gab in dieſem Augenblick unter den Anweſenden 
außer Winnetou und der Wahnſinnigen kaum einen, der 
nicht einen Schrei des Schrecks, der Ueberraſchung, der 
Anerkennung ausgeſtoßen hätte. Mein prächtiger Hengſt 
aber hatte nur dieſen Satz getan, keinen einzigen weiteren 
Schritt, und ſtand dann ſo ruhig, wie aus Erz gegoſſen, 
da. Ich drehte mich nach dem Medizinmann um. Er 
raffte ſich auf und holte ſein Gewehr, das ihm entfallen 
war. Seine Augen funkelten vor Wut. Redy nahm ihm 
die Schußwaffe aus der Hand und zürnte: 

„Ich werde Euer Gewehr halten, bis Ihr fortreitet, 
Sir, ſonſt richtet Ihr noch Unheil an! Ich habe Euch 
geſagt, daß ich keine Feindſeligkeit, wenigſtens keine tät⸗ 
liche, gegen Old Shatterhand dulde!“ 

„Laßt ihn nur; laßt ihn immer!“ ſagte ich. „Wenn 
er ſich wieder an mich wagt, kommt es noch beſſer! Ich 
habe ihn übrigens gewarnt, ſich in acht zu nehmen. Der 
Menſch iſt wirklich ganz unheilbar blöde!“ 


9, boch, Ulis, boch! 


— 294 — 


Da keuchte der vor Wut förmlich Zitternde: „Tötet 
Ihr ihn, Mr. Redy? Werdet Ihr ihn töten?“ 

„Ja,“ nickte der Gefragte. „Sein Leben iſt Old 
Wabble zugeſprochen.“ 

„Gott ſei Dank! Sonſt hätte ich ihn doch noch 
erſchoſſen, ſobald Ihr mir das Gewehr wiedergabt, auch 
auf die Gefahr hin, dann von Euch erſchoſſen zu werden. 
Ihr glaubt gar nicht, was für ein oberſter aller Teufel 
dieſer Schurke iſt! Da iſt ſelbſt Winnetou noch ein Engel 
dagegen! Alſo erſchießt ihn; erſchießt ihn ja!“ 

„Was das betrifft, ſo könnt Ihr ſicher ſein, daß 
Euer Wunſch in Erfüllung geht!“ verſicherte Old Wabble. 
„Er oder ich! Von uns zweien hat nur einer Platz auf 
der Erde, und da ich dieſer eine bin, ſo iſt er der andere, 
der weichen muß. Ich ſchwöre alle möglichen Eide darauf!“ 

„So machts nur bald und kurz mit ihm, ſonſt geht 
er Euch noch durch!“ 

i Die Squaw war indeffen, ſich durch nichts, auch 

durch den Schuß nicht ſtören laſſend, nach dem Buſch 
geritten, hatte einige Zweige abgebrochen, ſie kranzförmig 
zuſammengewunden und ſich um den Kopf gelegt. Jetzt 
kam ſie zurück, lenkte ihr Pferd zum erſten, beſten Tramp, 
der ihr der nächſte war, und ſagte, nach dem Kopf deutend: 

„Siehſt du, das iſt mein Myrtle⸗wreath! Dieſe 
Myrtle⸗wreath hat mir mein Wawa Derrick aufgeſetzt!“ 

Da vergaß der frühere Komantſche mich und eilte 
auf ſie zu, aus Angſt, daß ſie durch ihre Reden eines 
feiner Geheimniſſe verraten könne. Ihr mit der Fauſt 
drohend, rief er ihr zu: 

„Schweig, Verrückte, mit deinem Unſinn!“ Und ſich 
an die Tramps wendend, erklärte er: „Das Weib iſt 
nämlich wahnſinnig und redet Dinge, die einem auch den 
Kopf verdrehen können.“ | 


BL 
— 


— 295 — 


Er erreichte bei ihnen den Zweck, hatte ſeine Auf⸗ 
merkſamkeit aber dann gleich auf einen andern, nämlich 
auf Apanatſchka zu wenden. Dieſer hatte bis jetzt die 
ſchon beſchriebene Ruhe und Unbeweglichkeit einer Bild⸗ 
ſäule bewahrt; nun aber ritt er, als er die Squaw 
ſprechen hörte, zu ihr hin und fragte ſie: 

„Kennt mich Pia) heut? Sind ihre Augen offen 
für ihren Sohn?“ 

Sie ſah ihn traurig lächelnd an und ſchüttelte den 
Kopf. Dennoch fuhr Tibo taka ſofort auf Apanatſchka 
los und herrſchte ihm zu: 

„Was haſt du mit ihr zu reden? Schweig!“ 

„Sie iſt meine Mutter,“ antwortete Apanatſchka ruhig. 

„Jetzt nicht mehr! Sie iſt eine Naiini, und du haſt 
den Stamm verlaſſen müſſen. Ihr geht einander nichts 
mehr an!“ 

„Ich bin Häuptling der Komantſchen und laß mir 
von einem Weißen, der ſie und mich betrogen hat, nichts 
befehlen. Ich werde mit ihr ſprechen!“ 

„Und ich bin ihr Mann und verbiete es!“ 

„Verhindere es, wenn du kannſt!“ 

Tibo taka wagte es nicht, ſich an Apanatſchka zu ver⸗ 
greifen, obgleich dieſer gefeſſelt war; er wendete ſich an 
Old Wabble: 

„Helft mir, Mr. Cutter! Ihr ſeid der Mann, dem 
ich Vertrauen ſchenke. Er, mein früherer Pflegeſohn, iſt 
es, deſſentwegen meine Frau wahnſinnig wurde. So 
oft ſie ihn ſieht, wird es mit ihr ſchlimmer. Er mag 
ſie in Ruhe laſſen. Alſo, helft mir, Sir!“ 

Old Wabble war wohl eiferſüchtig darauf, daß Redy 
ſich als Anführer bezeichnet hatte; jetzt bot ſich ihm eine 
willkommene Gelegenheit, zu zeigen, daß er auch etwas 


1) Komantſche; „Meine Mutter“, vom Sohn angeredet. 


— — 
Eee — 


— 296 — 


zu ſagen habe; er ergriff dieſe a wies Apanatſchka in 
befehlendem Ton zurück: 

„Mach, daß du wegkommſt 155 ihr, Roter! Du haſt 
gehört, daß fie dich nichts angeht. Weg alſo; pack dich!“ 

In dieſem Ton mit ſich ſprechen zu laſſen, das lag 
Apanatſchka freilich fern. Er maß den alten Cowboy mit 
einem verächtlichen Blick und fragte dann: 

„Wer ſpricht da zu mir, dem oberſten Häuptling der 
Komantſchen vom Stamme der Pohonim? Iſt's ein Froſch, 
der quakt, oder eine Krähe, die ſchreit? Ich ſehe niemand, 
der mich hindern könnte, mit der Squaw zu ſprechen, die 
meine Mutter war!“ 

„Oho! Froſch! Krähe! Drück dich höflicher aus, 
Burſche, ſonſt wirſt du erfahren, wie man einen König 
der Cowboys zu achten hat!“ 

Er drängte ſich mit feinem Pferd zwiſchen Apa⸗ 
natſchka und die Frau. Der Komantſche wich einige 
Schritte zurück und lenkte ſein Pferd auf die andere 
Seite; der Alte folgte ihm auch dorthin. Apanatſchka 
ritt weiter, Old Wabble auch. So bewegten ſie ſich in 
zwei Kreiſen um die Frau, und zwar derart, daß ſie den 
Mittelpunkt bildete, den Cutter ſtets gegen den Koman⸗ 
tſchen deckte. Dabei hielten ſich die Ben feſt in den 
Augen. 

„Laßt das ſein, Cutter!“ rief Redy dieſem zu. „Laßt 
das Vater und Sohn miteinander abmachen! Euch geht 
es doch gar nichts an!“ 

„Ich bin zur Hilfe aufgefordert worden!“ antwortete 
der Alte. „Einen Roten, der noch dazu gefeſſelt iſt, werde 
ich ſchon im Zaum halten können!“ 

„Gefeſſelt? Pshaw! Denkt an Old Shatterhand und 
den Fremden! Der Rote iſt ein ganz anderer Kerl, als 


Ihr ſeid.“ 


— 297 — 


„Er mag's verſuchen!“ N 

„Well! Ganz, wie Ihr wollt! Mich ſoll es nichts 
mehr angehen!“ 

Nun waren alle Augen auf die beiden Gegner ge⸗ 
richtet, die ſich noch immer auf ihren Kreislinien 
bewegten, Old Wabble auf der innern und Apanatſchka 
auf der äußern. Die Frau hielt ganz geiſtesabweſend in 
der Mitte. Tibo taka ſtand in der Nähe und war wohl am 
meiſten auf den Ausgang dieſer eigenartigen Szene 
geſpannt. Nach einiger Zeit fragte Apanatſchka: 

„Wird Old Wabble nn. endlich zu der Squaw 
laſſen?“ 

„Nein!“ erklärte der Alte. 

„So werde ich ihn zwingen!“ 

„Verſuche es doch!“ 

„Und dabei den alten Indianermörder gar nicht 
ſchonen!“ 

„Ich dich auch nicht!“ 

„Uff! So behalte die Squaw für dich!“ 

Er wendete ſein Pferd und tat, als ob er ſeinen Kreis 
verlaſſen wolle. Dies war eine Finte; er wollte die Auf⸗ 
merkſamkeit des Alten, wenn auch nur für einen Augen⸗ 
blick, von ſich ablenken. Die Entſcheidung nahte, Old 
Wabble ließ ſich auch wirklich täuſchen. Er wendete auch 
nach dorthin, wo Redy hielt, und rief in ſelbſtgefälligem 
Ton: 

„Nun, wer hatte recht? Fred Cutter, und ſich von 
einem Roten werfen laſſen! Das iſt ein Ding der Unmög⸗ 
lichkeit; it's clear!“ 

„Paßt auf; paßt auf! er kommt!“ ertönten da die 
warnenden Stimmen mehrerer Tramps. 

Der Alte wendete ſich ſelbſt zurück, nicht aber das 
Pferd. Er ſah Apanatſchka in gewaltigen Sprüngen auf 


— 298 — 


ſich zureiten und ſchrie vor Schreck laut auf; denn aus⸗ 
zuweichen, das war für ihn ſchon zu ſpät. Es waren nur 
wenige Augenblicke, in denen ſich dies und das Folgende 
abſpielte, und die Seelen aller Zuſchauer traten in die 
Augen. Mein und meines Hatatitla Sprung, vorhin 
gegen den Medizinmann gerichtet, war nur ein im Weſten 
ſogenannter Force- and adroitness-Sprung geweſen; 
Apanatſchka hatte es viel anders, viel verwegener vor: den 
gellenden Angriffsſchrei der Komantſchen ausſtoßend, flog 
er auf den Alten zu und genau in querer Richtung ſo über 


deſſen Pferd hinweg, als ob ſich gar kein Reiter im Sattel 
befände. Er wagte ſein Leben dabei, weil ihm die Hände 


zuſammengebunden und die Füße an das Pferd gefeſſelt 
waren, und weil er an Old Wabble prallen mußte. Doch 
kam er glücklich hinüber. Als ſein Pferd den Boden 
berührte, hätte es ſich beinahe überſchlagen, — er warf 
ſich ſchnell nach hinten und riß es dabei vorn empor; es 
ſchoß noch eine kleine Strecke fort und wurde dann 
gehalten. Ich holte tief, tief Atem, denn es war mir um 
ihn ſehr angſt geweſen. 

Und Old Wabble? Der war mit furchtbarer Wucht 
aus dem Sattel geprellt; ſein Pferd war dabei mit um⸗ 
geriſſen worden; es wälzte ſich einige Male hin und her 
und ſtand dann unbeſchädigt wieder auf; er aber blieb 
beſinnungslos am Boden liegen. Es gab eine Aufregung, 
ein Durcheinander ſondergleichen; wir hätten jetzt un⸗ 
ſchwer die Flucht ergreifen können und wären gewiß auch 
glücklich entkommen, doch ohne unſer Eigentum; darum 
blieben wir. 

Redy kniete bei dem Alten und bemühte ſich um ihn. 
Er war nicht etwa tot und erwachte auch bald aus 
ſeiner Betäubung; aber als er dann aufſtehen und ſich 
dabei auf die Arme ſtützen wollte, konnte er es nicht. Er 


— 299 — 


mußte aufgerichtet werden, und als er nun bebend, 
ſchlotternd und wabbelnd daſtand, fand es ſich, daß er 
nur einen Arm bewegen konnte; der andere hing ihm am 
Leib herab; er war gebrochen. 


„Habe ich Euch nicht gewarnt?“ wurde er von Redy 
angefahren, was freilich das Geſchehene nicht ändern oder 
verbeſſern konnte. „Nun habt Ihr die Folgen! Was 
zählt Euer Cowboy⸗Königstitel, wenn Ihr gegen Euren 
alten, über neunzigjährigen Körper einen Gegner habt, 
wie dieſer Apanatſchka iſt!“ 

„Schießt ihn über den Haufen, den 1 1 Kerl, 
der mich mit ſeiner Finte übertölpelt hat!“ ſtieß der Alte 
grimmig hervor. 

„Warum denn gleich erſchießen?“ 

„Ich befehle es! Hört Ihr, ich befehle es! Nun, wird 
es bald?!“ 

Es gab aber keinen, der ihm gehorchte. Da ſchrie 
und tobte er eine Weile aus vollem Halſe, bis er ſeiner⸗ 
ſeits von Redy angebrüllt wurde: 


„Nun gebt einmal Ruhe, ſonſt laſſen wir Euch ſtehen 
und reiten fort! Bekümmert Euch lieber um Euren Arm! 
Man muß ſehen, wie da zu helfen iſt!“ 

Old Wabble ſah ein, daß dies das Richtige war, und 
ließ ſich die alte Jacke vom Leibe ziehen, was aber nicht 
ohne große Schmerzen ging. Nun taſteten Redy und nach 
ihm andere Tramps an dem Arm herum, wobei der Alte 
vor Schmerzen bald brüllte und bald ſtöhnte. Keiner ver⸗ 
ſtand etwas von der Heilkunde. Da wendete ſich Redy 
an uns: | 

„Hört, Meſch'ſchurs, ift einer unter euch, der ſich auf 
Wunden und dergleichen verſteht?“ 

„Unſer Haus- und Hofarzt iſt ſtets Winnetou,“ ant⸗ 


— 300 — 


wortete Dick Hammerdull. „Wenn Ihr an feiner Nacht⸗ 
klingel zieht, wird er ſogleich erſcheinen.“ 


Da irrte ſich der Dicke, denn als der Apatſche auf⸗ 


gefordert wurde, den Arm zu unterſuchen, erklärte er ab⸗ 
weiſend: 

„Winnetou hat nicht gelernt, Mörder zu heilen. 
Warum werden wir jetzt, da man unſerer Hilfe bedarf, 
auf einmal Meſch'ſchurs genannt? Warum ſind wir das 
nicht ſchon vorher geweſen? Hat der alte Cowboy vorhin 
ſeinen Willen durchgeſetzt, ſo mag er auch jetzt tun, was 
ihm beliebt. Winnetou hat geſprochen!“ 

„Er iſt aber doch auch ein Menſch!“ 

Sonderbarer Einwurf, das! Vom Anführer dieſer 
Menſchen! Winnetou antwortete nicht. Wenn er einmal 
ſagte, daß er geſprochen habe, fo war er feſt entſchloſſen 
und es gab für ihn kein weiteres Wort. Dick Hammerdull 
bemächtigte ſich der Rede: 


„Ihr findet auf einmal, daß ein Menſch unter euch 


iſt? Ich denke, daß wir auch keine wilden Tiere ſind, die 
man nach Belieben fangen oder wegſchießen kann, ſondern 
Menſchen! Werden wir als ſolche behandelt?“ 

„Hm! Das iſt eine ganz andre Sache!“ 

„Ob es eine andre oder keine andre iſt, das bleibt 
ſich gleich, wenn ſie nur eben anders iſt! Laßt uns frei, 
und gebt unſre Sachen alle heraus, ſo wollen wir den 
alten Kerl ſo zuſammenleimen, daß Ihr Eure Freude 


an ihm habt. Uebrigens iſt kein Geſchöpf auf Erden ſo 
leicht zu verbinden wie grad Cutter; er beſteht ja nur aus 


Haut und Knochen. Zieht ihm das Fell herunter und 
wickelt es ihm um den Knochenbruch, ſo bleibt noch eine 
ganze Menge Haut für andere, ihm auch ſehr anzu⸗ 
wünſchende Brüche übrig! Meinſt du nicht auch, Pitt 
Holbers, altes Coon?“ 


1 


— 801 — 


„Om, ja,“ nickte der Lange. „Und wenn es einige 
hundert wären, ich würde ihm keinen einzigen mißgönnen 
lieber Dick.“ 

Cutter ſtöhnte und wimmerte zum Erbarmen. Die 
Knochenſpitzen ſtachen ihm, ſobald der Arm berührt 
wurde, ins Fleiſch; Redy ging zu ihm hin, kam aber ſehr 
bald wieder und ſagte zu mir: 

„Ich höre von Old Wabble, daß Ihr auch ſo etwas 
wie Chirurgus ſeid. Nehmt Euch doch feiner an!“ 

„Iſt das ſein Wunſch?“ 

„Ja.“ 

„Und Ihr traut es mir auch wirklich zu, daß ich mich 
ſeiner erbarme? Obgleich ich ein von ihm dem Tod 
geweihter Mann bin?“ | 

„Ja. Vielleicht beſinnt er ſich noch anders und läßt 
Euch laufen.“ 

„Schön! Ich höre, daß er der allervortrefflichſte 
Menſch iſt, den es nur geben kann. Mich vielleicht, näm⸗ 
lich ‚vielleicht‘ laufen laſſen! Wißt Ihr denn nicht, was 
Ihr mit dieſen Worten ausgeſprochen habt! Eine Dumm⸗ 
heit ſondergleichen, eine beiſpielloſe Unverfrorenheit! Habt 
Ihr denn gar nicht bemerkt, daß wir vorhin alle 
hätten davonreiten können, wenn es nur unſer Wille 
geweſen wäre? Glaubt Ihr denn wirklich, in uns nur 
Schafe mit euch herumzuſchleppen, die man führt, wohin 
man will, und ſchlachtet, wann es einem beliebt? Wenn 
ich nun ſage, daß ich dem Alten nur dann helfen werde, 
wenn ihr uns freigebt?“ 

„Darauf gehen wir natürlich nicht ein!“ 

„Und wenn ich nur die Forderung ſtelle, daß ich nicht 
ermordet, ſondern gleich meinen Gefährten hier behandelt 
werden ſoll?“ 

Vielleicht läßt ſich darüber mit ihm reden!“ 


— 802 — 


„Vielleicht! Kann mir mit einem Vielleicht gedient 
ſein?“ 

„Well! Soll ich hingehen und ihn fragen?“ 

„Ja.“ | 

Er verhandelte längere Zeit mit Old Wabble, kam 
dann zurück und benachrichtigte mich: 

„Er hat einen ſtarren Kopf; er bleibt dabei, daß Ihr 
ſterben müßt; lieber will er Schmerzen ertragen. Er hat 
einen zu großen Haß auf Euch geworfen.“ 

Das war meinen Gefährten doch zu ſtark; das hatten 
ſie nicht für möglich gehalten; ſie ergingen ſich darüber 
in allen möglichen, nur aber keinen freundlichen Aus⸗ 
drücken. 

„Ich kann es nicht ändern!“ meinte Redy. „Nun 
werdet Ihr Euch natürlich ſeiner nicht annehmen, Mr. 
Shatterhand?“ 

„Warum nicht? Ihr habt vorhin geſagt, er ſei doch 
auch ein Menſch. Das war falſch. Das richtige iſt, daß 
ich von mir ſage: Ich bin auch ein Menſch und werde 
menſchlich handeln. Ich will alſo über alles andere hin⸗ 
weg und in ihm nur den Leidenden ſehen. Kommt!“ 

Meine Kameraden wollten mich zurückhalten; Tres⸗ 
kow zankte ſich geradezu mit mir. Ich ließ ſie ſchließlich 
aber denken und ſagen, was ſie wollten, wurde vom 
Pferd gebunden und ging zu Cutter hin. Er machte die 
Augen zu, um mich nicht ſehen zu müſſen. Man hatte mir 
natürlich die Hände freigegeben. Der Armbruch war ein 
doppelter und bei ſeinem Alter faſt unheilbar und ſehr 
gefährlich. 

„Wir müſſen fort von hier,“ entſchied ich, „denn wir 
brauchen Waſſer. Wir haben aber nicht weit, denn der 
Fluß iſt in der Nähe. Reiten wird er können; es iſt ja 
bloß der Arm verletzt.“ 


— 3803 — 


Cutter ließ eine ganze Reihe von Flüchen hören, 
und ſchwor Apanatſchka die grauenhafteſte Rache zu. 

„Ihr ſeid wirklich kaum noch unter die Menſchen zu 
rechnen!“ unterbrach ich ihn. „Reicht denn Euer Ver⸗ 
ſtand wirklich nicht hin, um einzuſehen, daß Ihr Euch 
alles ſelbſt zuzuſchreiben habt?“ | 

„Nein; dazu reicht er wirklich nicht!“ höhnte er. 

„Hättet Ihr den Komantſchen nicht herausgefordert, 
ſo wärt Ihr nicht durch ihn vom Pferd geritten worden. 
Und Euer Arm wäre heil geblieben, wenn Ihr mir nicht 
meine Gewehre genommen hättet.“ 

„Wie kommen die Gewehre mit dem Armbruch in 
Verbindung?“ Ä 

„Ich ſah ganz deutlich, wie Ihr vom Pferde geriſſen 
wurdet; Ihr hattet ſie umhängen; beim Aufſchlag auf die 
Erde kam Euer Arm zwiſchen ſie, und da hatten ſie die 
Wirkung zweier Brechſtangen; daher auch der Doppel⸗ 
bruch. Hättet Ihr Euch nicht mit meinem Eigentum 
befaßt, jo wärt Ihr heil vom Boden aufgeſtanden.“ 

„Das ſagt Ihr nur, um mich zu ärgern. Pshaw! 
Jetzt werdet Ihr wieder gebunden, und dann geht es nach 
dem Fluß. Verdammt ſei dieſer Fremde mit ſeinem Weib! 
Wären ſie nicht gekommen, ſo hätte das alles nicht 
geſchehen können! Und da ſoll es eine Vorſehung, einen 
Gott geben, der doch nicht beſſer auf ſeine Menſchen 
Achtung gibt!“ x 
Ao ſelbſt jetzt konnte ſich dieſer ſchreckliche Menſch 
nicht enthalten, Gott zu leugnen oder vielmehr zu läſtern! 
Ich ließ mich bereitwillig wieder anbinden, obgleich ich 
ſo ſchöne Gelegenheit gehabt hätte, zu entfliehen. Als ich 
beim alten Wabble ſtand, var ich vollſtändig frei. In 
der Nähe lagen meine Gewehre noch an der Erde, und 
mein Rappe wartete auf mich. Es wäre das Werk einer 


— 54 — 


halben Minute geweſen, mit den Waffen auf das Pferd 
und dann fortzukommen. Aber was dann? Ich wäre 
dann dem Zug gefolgt, um die Gefährten des Nachts 
zu befreien; allein die Tramps hätten das voraus⸗ 
geſehen und ſie mit zehnfacher Aufmerkſamkeit bewacht. 
Jetzt aber waren ſie ahnungslos, und ſo mußte uns heut 
abend unſre Befreiung durch Kolma Puſchi viel leichter 
werden. Darum hatte ich dieſe Gelegenheit zur Flucht ſo 
unbenützt vorübergehen laſſen. 

Apanatſchka befand ſich neben der Squaw und ſprach 
mit ihr, ohne allen Erfolg. In der Nähe hielt Thibaut 
und beobachtete ſie mit verhaltenem Zorn; er getraute 
ſich nicht, dem Komantſchen hinderlich zu ſein. Die ihm 
von mir erteilte Lehre hatte gewirkt. Selbſt als ich jetzt 
zu ihnen hinritt, ſagte er nichts, machte ſich aber noch 
näher herbei. Ich hörte zu; es waren die gewöhnlichen 
Worte, die Apanatſchka aus ihr herausbrachte, ſonſt nichts. 

„Ihr Geiſt iſt fort und will nicht wiederkommen!“ 
klagte er. „Der Sohn kann mit ſeiner Mutter nicht 
ſprechen; ſie verſteht ihn nicht!“ 

„Laß es mich einmal verſuchen, ob ihre Seele zurück⸗ 
zurufen iſt!“ forderte ich ihn auf, indem ich an ihre andere 
Seite ritt. 

„Nein, nein!“ rief Thibaut. „Old Shatterhand darf 
mit ihr nicht reden; ich dulde das nicht.“ 

„Ihr werdet es dulden!“ fuhr ich ihn drohend an. 
„Apanatſchka, bewache ihn, und wenn er die geringſte 
drohende Bewegung macht, ſo reiteſt du ihn nieder, aber 
gleich ſo, daß er Arme und Beine bricht! Ich helfe mit!“ 

„Mein Bruder Shatterhand kann ſich auf mich ver⸗ 
laſſen,“ antwortete Apanatſchka; „er mag mit der Squaw 
ſprechen, und wenn der weiße Medizinmann nur eine 


— 305 — 


Hand bewegt, wird er im nächſten Augenblick eine unter 
den Pferdehufen zertretene Leiche ſein!“ 

Er ritt ganz nahe zu Thibaut hin und nahm eine 
wachſame, drohende Haltung ein. 

„Biſt du heut im Kaam⸗kulano geweſen?“ fragte ich 
die Frau. 

Sie ſchüttelte den Kopf und ſah mich mit fo geiſtes⸗ 
leeren Augen an, daß dieſer Blick mir förmlich weh tat. 
Selbſt die Leere kann angreifend wirken. 

„galt du einen Vo⸗uſchingva“)?“ fragte ich weiter. 

Sie ſchüttelte abermals den Kopf. 

„Wo iſt dein Tchaio?)?” 

Abermaliges Schütteln. 

„Halt du deine Kofha?) geſehen?“ 

Ganz dasſelbe gedankenloſe Schütteln wieder über⸗ 
zeugte mich, daß ſie für Fragen, die das Komantſchen⸗ 
leben betrafen, jetzt unempfänglich ſei. Ich machte einen 
andern Verſuch: 

„Daft du Wawa Ja«kwehtſi'pa gekannt?“ 

„J — — kweh — — tſi'pa — — —“ hauchte fie. 

„Ja. J — — kweh — — ti — — pa — —7 
wiederholte ich jede Silbe mit Betonung. 

Da antwortete ſie, zwar wie im Traume: „Viweh⸗ 
tſi'pa iſt mein Wawa.“ 

Alſo hatte ich richtig vermutet: Sie war die Schweſter 
des Padre. 

„Kennſt du Tahua? Ta — — hu — — al“ 

„Tahua war J⸗xokha“).“ 

„Wer iſt Tokbela? Tot — — be — — la!" 


) Gatte. 

5 .. 

©) Aeltere Schwe 

9 Meine ältere e 


Map, Did Surehand. II. 20 


— 306 — 


„Tokbela nuuh !).“ 

Sie war aufmerkſam geworden. Die auf ihre Kind⸗ 
heit und Jugend bezüglichen Worte machten Eindruck auf 
ſie. Ihr Geiſt kehrte in die vor ihrem Irrſinn liegende 
Zeit zurück und ſuchte vergeblich Licht in dieſem Dunkel. 
Darin beſtand ihr Wahnſinn. Wenn ein Klang aus jener 
Zeit an ihr Ohr tönte, ſtieg ihr Geiſt aus der Tiefe des 
Vergeſſens. Das war leicht begreiflich. Ihr Blick war 
nicht mehr leer; er begann, ſich zu füllen. Da wir auf⸗ 
brechen wollten, die Zeit alſo höchſt koſtbar war, brachte 
ich nun gleich die Frage, die heut für mich die wichtigſte 
war: 

„Kennſt du Mr. Bender?“ 

„Bender — Bender — — — Bender — — —“ 
ſagte ſie mir nach, indem ein freundliches Lächeln auf 
ihrem Geſicht erſchien. 

„Oder Mrs. Bender?“ 

„Bender — — Bender — —!“ wiederholte fie, wobei 
ihr Auge immer heller, ihr Lächeln immer freundlicher 
und ihre Stimme immer klarer und beſtimmter wurde. 

„Vielleicht Tokbela Bender?“ 

„Tokbela — — Bender — — bin ich nicht!“ 

Jetzt ſah ſie mich voll und mit Bewußtſein an. 

„Oder Tahua Bender?“ 

Da ſchlug ſie die Hände froh zuſammen, als ob ſie 
etwas Längſtgeſuchtes jetzt gefunden hätte, und antwortete 
mit faſt wonnigem Lächeln: 

„Tahua iſt Mrs. Bender, jawohl, Mrs. Bender!“ 

„Hat Mrs. Bender ein Baby?“ 

„Zwei Babies!“ 

„Mädchen?“ 


i bin ich. 


— 807 — 


„Zwei Babies find Knaben. Tokbela trägt fie auf 
den Armen.“ | 

„Wie nennſt du dieſe Babies? Die Babies haben 
Namen!“ 

„Babies ſind Leo und ſind Fred.“ 

„Wie groß?“ 

„Fred fo und Leo fo!” 

Sie deutete mir mit den Händen an, wie hoch die 
Knaben, vom Sattel an gerechnet, geweſen waren. Der 
Erfolg meiner Fragen war über alles Erwarten günſtig. 
Ich ſah die Augen Thibauts mit mühſam verhaltener 
Wut auf mich gerichtet, wie die eines blutdürſtigen Raub⸗ 
tiers, das im Begriff ſteht, ſich auf ſeine Beute zu ſtürzen; 
aber Apanatſchka wachte! 

Leider war es dieſer ſelbſt, der meinem Forſchen 
vorzeitig ein Ende bereitete. Die Sorge um die Frau, 
die er für ſeine Mutter hielt, drängte ihn, mich zu unter⸗ 
brechen, und kurz darauf mußte ich wahrnehmen, daß 
das Geſicht des armen Weibes ſchon wieder den troſtloſen, 
geiſtesleeren Ausdruck angenommen hatte wie vor meiner 
Unterredung mit ihr. 

Tibo taka ſcharf im Auge behaltend, näherte ſich 
mir Apanatſchka und fragte: 

„Der weiße Medizinmann wird ſich nun von den 
Tramps trennen wollen. Er nimmt die Squaw mit. Kann 
ſie nicht mit uns reiten?“ 

„Nein.“ 

„Uff! Warum ſollte ſie das nicht können?“ 

„Apanatſchka mag mir erſt vorher ſagen, warum er 
den Wunſch hat, daß ſie bei uns bleiben ſoll.“ 

„Weil ſie meine Mutter iſt.“ 

„Die iſt ſie nicht.“ 

„Wenn ſie es wirklich nicht ſein ſollte, ſo hat ſie 


— 505 — 


mich doch lieb gehabt und mich ſo gehalten, als ob ich 
ihr Kind ſei.“ 

„Gut! Aber pflegen die Krieger der Komantſchen, 
auch wenn ſie Häuptlinge ſind, ihre Squaws oder Mütter 
mitzunehmen, wenn ſie ſo viele, viele Tagesreiſen weit 
reiten und ſchon vorher wiſſen, daß ſie mancherlei Gefahren 
zu beſtehen haben werden?“ 

„Nein.“ 

„Warum will Apanatſchka dieſe Squaw bei ſich 
haben? Ich vermute, daß es für ihn einen ganz beſon⸗ 
deren Grund dazu gibt.“ 

Es gibt einen Grund: Sie ſoll nicht bei dem Bleich⸗ 
geſicht bleiben, das ſich für einen roten Mann ausgegeben 
und die Krieger der Naiini viele Jahre lang damit 
betrogen hat. Und wo will der weiße Medizinmann mit 
der Squaw hin? Wenn wir ihn mit ihr fortlaſſen, werde 
ich die niemals wiederſehen, die ich für meine Mutter 
gehalten habe!“ 

„Apanatſchka irrt; er wird ſie wiederſehen.“ 

„Wann?“ 

„Vielleicht ſchon in kurzer Zeit. Mein Bruder 
Apanatſchka mag an alles denken! Der weiße Medizin⸗ 
mann gibt ſie nicht her; die Tramps nehmen ſie nicht 
mit, und wir find gefangen. Wenn Tibo taka fie aber mit 
ſich nimmt, fällt dies alles fort, und du wirſt ſie in kurzer 
Zeit wiederſehen.“ 

„Aber der Ritt iſt ſchwer für ſie und Tibo taka wird 
nicht gut und freundlich mit ihr ſein!“ 

„Das war er auch im Kaam⸗kulano nicht; fie iſt es 
alſo gewöhnt. Uebrigens iſt ihr Geiſt nur ſelten bei ihr, 
und es wird ihr alſo nicht bewußt, wenn er nicht freundlich 
mit ihr iſt. Und ſodann ſcheint er die weite Reiſe zu 
einem Zweck unternommen zu haben, der ihre Gegenwart 


erheiſcht; er wird folglich fo aufmerkſam und forgli für 
ſie ſein, daß ſie keinen Schaden nimmt. Mein Bruder 
Apanatſchka mag ſie alſo mit ihm reiten laſſen! Das iſt 
der beſte Rat, den ich ihm geben kann.“ 

„Mein Bruder Old Shatterhand hat es geſagt, und 
ſo mag es geſchehen; er weiß ſtets, was für ſeine Freunde 
nützlich iſt.“ | 

Inzwiſchen hatte man Old Wabble auf fein Pferd 
gehoben, und nun ſtieg auch Tibo taka wieder in den 
Sattel. Er ritt zum Alten hin, um Abſchied zu nehmen. 

„Nehmt meinen Dank, Mr. Cutter, daß Ihr Euch 
ſo kräftig meiner angenommen habt!“ ſagte er. „Wir 
werden uns wiederſehen, und dann ſollt Ihr ſo vieles 
und verſchiedenes — — — —“ 

„Seid ſo gut, und ſchweigt!“ unterbrach ihn der Alte, 
„Euch hat mir der Teufel in den Weg geführt, wenn es 
überhaupt einen Teufel gibt, was ich gar nicht glaube. 
Euretwegen iſt mir der Arm wie Glas zerſchlagen wor⸗ 
den, und wenn Euch dieſer Teufel, deſſen Daſein ich für 
Euch wünſchen möchte, ſo einige Jahrmillionen lang in 
der Hölle braten wollte, ſo würde ich ihn für den einſichts⸗ 
vollſten Gentleman halten, den es unter allen guten 
böſen Geiſtern gibt.“ 

„Euer Arm tut mir leid, Mr. Cutter. Hoffentlich 
heilt er ſchnell und gut. Die ſchönſten Pflaſter habt Ihr 
ja in den Händen.“ 

„Welche wären das?“ 

„Die Kerls, die Eure Gefangenen ſind. Legt täglich 
ein ſolches Pflaſter auf, ſo werdet Ihr ſehr bald wieder 
geſund ſein.“ 8 

„Das ſoll wohl heißen, daß ich täglich einen erſchießen 
fol? Well! Der Rat iſt gut, und vielleicht befolge ich ihn; 
am meiſten würde es mir Vergnügen gewähren, wenn Ihr 


K 


— 810 — 


die Gewogenheit hättet, das erſte Pflafter fein zu wollen; 
it's clear. Macht Euch jetzt aus dem Staub, und laßt 
Euch nicht mehr vor meinen Augen ſehen!“ 

Da ließ der Medizinmann ein höhniſches . 
hören und erwiderte: 

„Das müſſen wir abwarten, alter Wabble. Mir 
liegt auch nichts daran, mit ſo einem alten Schurken, wie 
Ihr ſeid, jemals wieder zuſammenzutreffen; aber wenn 
es doch einmal, natürlich ganz gegen meinen Willen, ge⸗ 
ſchehen ſollte, ſo wird mein Willkommen nicht weniger 
freundlich ſein, als es jetzt Euer Abſchied iſt. Reitet in 
die Hölle!“ 

„Verfluchter Kerl! Schickt ihm doch eine Kugel 
nach!“ brüllte der Alte. 

Das fiel niemanden ein. Thibaut ritt, von der Squaw 
gefolgt, unbeläſtigt von dannen, nach links hinüber, alſo 
in derſelben Richtung, die er eingehalten hatte, als er uns 
vorhin begegnet war. 

„Ob wir ihn aber auch wiederſehen werden?“ ſagte 
Apanatſchka halblaut vor ſich hin. 

„Sicher,“ antwortete ich. 

„Hat mein weißer Bruder wirklich ſo beſtimmte 
Gründe, dies zu denken?“ 

„Ja.“ 

Winnetou, der ſich jetzt neben uns befand und die 
Frage des Komantſchen und meine Antwort gehört hatte, 
fügte hinzu: 

„Was Old Shatterhand geſagt hat, wird geschehen 
Es gibt Dinge, die man nicht genau vorher wiſſen kann, 
aber um fo beſtimmter vorher fühlt. Dieſes Vorgefühl 
hat er jetzt, und ich habe es auch!“ 

Meine Gewehre, die Old Wabbles Unfall mitveranlaßt 
hatten, waren zwei anderen der Tramps übergeben worden. 


— 31 — 


Ich mußte mich wieder an die Spitze des Zuges ſetzen, 
und bald war der Fluß erreicht, wo wir abſtiegen. Wäh⸗ 
rend einige Tramps nach einer bequemen Furt ſuchten, 
wurde ich wieder vom Pferd genommen, um den alten 
Wabble zu verbinden. Das nahm geraume Zeit in An⸗ 
ſpruch, und ich kann mich nicht rühmen, mein Werk mit 
allzu großer Zartheit ausgeführt zu haben. Der alte 
Cowboy heulte oft laut auf vor Schmerzen und bedachte 
mich mit Schimpfworten und Redensarten, die ich unmög⸗ 
lich wiedergeben kann. 

Als ich mit ihm fertig war und wieder auf dem 
Pferd ſaß, war eine Furt gefunden worden. Wir ſetzten 
hinüber und folgten auf der andern Seite dem Waſſer, 
bis wir den Zuſammenfluß der beiden Arme erreichten. 
Wir umritten den Bogen des Südforks und hielten dann 
weſtnordweſtlich über die Prärie, von der Kolma Puſchi 
geſprochen hatte. Ä 

Sie war nicht eben, ſondern bildete eine langſam 
anſteigende, zuweilen mit Senkungen verſehene Fläche, 
die parkähnlich mit Geſträucheilanden beſtanden war. 
Hier gab es eine Menge wilder Truthühner, von denen 
die Tramps nach und nach ein halbes Dutzend erlegten; 
aber wie! Es war die wahre Sauſchießerei! 

Am Spätnachmittag ſahen wir grad vor uns eine 
Höhe aufſteigen, gewiß die, an deren Fuß die Quellen 
lagen, deren nördlichſte ich zu ſuchen hatte. Ich hielt 
mich jetzt alſo mehr rechts und erſt dann wieder 
links, als der Berg genau im Süden vor uns lag. Auf 
»dieſe Weiſe mußten wir den erwähnten Spring zuerſt zu 
ſehen bekommen. Ich war neugierig darauf, ob der 
Scharfſinn Kolma Puſchis ſich bewahrheiten und die Lage 
und Umgebung der Quelle ſich für unſern heutigen Zweck 
eignen werde. 


— 512 — 


Je näher wir kamen, deſto deutlicher ſahen wir, daß 
der Berg bewaldet war und uns einige Ausläufer dieſes 
Waldes entgegenſchickte. Es begann ſchon zu dunkeln, als 
wir ein kleines Waſſer erreichten, dem wir im Galopp 
entgegenritten, um noch vor Einbruch der Finſternis bei 
ſeinem Urſprung anzukommen. Wir langten bei dieſem 
Ziel an, als eben die letzten Schimmer der Dämmerung 
zu erlöſchen begannen. Das war mir lieb, denn nun 
konnten die Tramps, falls ihnen der Ort nicht gefiel, nicht 
daran denken, bei finſtrer Nacht einen andern aufzusuchen. 


Ob wir uns an dem Spring befanden, den Kolma 
Puſchi gemeint hatte, das wußte ich nicht genau, dachte 
aber, daß er es ſein werde. Er kam unter einem kleinen, 
mit Moos bedeckten Steingewirr hervor, und zwar an 
einem engen Grasplatz, der von den Bäumen und 
Sträuchern in drei Abteilungen geteilt wurde. Dieſe Ab⸗ 
teilungen boten zuſammen für uns und die Pferde grad 
Raum genug, mehr nicht, was unſere Bewachung unge⸗ 
mein erſchwerte. Uns konnte dies ſehr lieb ſein; Old 
Wabble aber, dem dieſer Uebelſtand keineswegs entging, 
ſagte, indem er abſtieg, in mißmutigem Ton: 
| „Dieſer Lagerplatz gefällt mir nicht. Wenn es nicht 

ſchon ſo finſter wäre, würden wir weiterreiten, bis wir 
einen beſſern fänden.“ i 

„Warum ſollte er uns nicht gefallen?“ fragte Redy. 

„Der Gefangenen wegen. Wer ſoll ſie bewachen? 
Hier brauchen wir drei Wächter auf einmal!“ 

„Pshaw! Wozu wären die Feſſeln da? Macht, daß 
wir ſie von den Pferden bringen! Sobald ſie liegen, ſind 
ſie uns ſicher und gewiß!“ | 

„Aber wir müſſen doch drei Abteilungen machen. 
Der Platz zerfällt ja in drei Zeile!“ 


— 


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— 8183 — 


„Die Gefangenen kommen alle hier in die mittlere 
Abteilung; die beiden andern ſind für uns.“ 

„Und die Pferde?“ 

„Die ſchaffen wir hinaus ins Freie, wo ſie ange⸗ 
hobbelt werden. Da genügt ein Wächter für ſie und 
einer für die Gefangenen.“ 

„Ja, wenn wir zwei Feuer anbrennen!“ 

„Iſt auch nicht nötig! Ihr werdet gleich ſehen, daß 
ich recht habe.“ 

Wir wurden von den Pferden genommen, ieder 

N gefeſſelt und nach der mittleren Abteilung gebracht; dann 
ließ Redy da, wo die Abteilungen zuſammenſtießen, ein 
großes Feuer anbrennen, das allerdings alle drei Teile 
erleuchtete. Hierüber ſehr befriedigt, fragte er den alten 
Wabble: 

„Na, habe ich recht gehabt oder nicht? Es genügt, 
wie Ihr ſeht, ein einziger Mann, die Kerls zu urn 
Das iſt alles, was Ihr verlangen könnt.“ 

Der Alte brummte etwas Unverſtändliches in den 
Bart und gab ſich zufrieden. Und ich? Nun, ich war 
auch zufrieden, zufriedener wohl als er, denn das Lager 
hätte für unſere Zwecke gar nicht beſſer paſſen können, 
zumal bei der Einrichtung, die ihm Redy gegeben hatte. 

Ich war in die Mitte der kleinen Lichtung gelegt 
worden, hatte mich aber ſogleich nach deren Rand gewälzt, 
ein Manöver, das auch von Winnetou ausgeführt und 
zu unſerer Freude von den Tramps gar nicht beachtet 
wurde. Wir lagen mit den Köpfen am Rand des Gebüſchs, 
und zwar hatten wir uns eine Stelle gewählt, wo die 
Sträucher nicht eng nebeneinander ſtanden und es Kolma 
Puſchi m ıhricheinlich möglich war, zwiſchen und unter 
ihnen bis zu uns hindurch zu kriechen. Der Platz war 
recht klein; wir alle, die wir zuſammengehörten, lagen ſo 


2 — 814 — 


eng beieinander, daß wir uns nicht nur berühren, ſon⸗ 
dern auch durch leiſe Worte verſtändigen konnten. 

Bald erfüllte der Duft des Truthahnbratens die Luft. 
Die Tramps aßen, ſoviel ſie N wir aber erhielten 
— — — nichts. 

„Die Kerls liegen ſo dicht, daß man gar nicht zwiſchen 
ihnen hindurchkommen kann, um ſie zu füttern,“ ſagte 
Old Wabble. „Sie mögen warten bis morgen früh, wenn 
es Tag geworden iſt. Sie werden bis dahin nicht vor N 
und Hunger ſterben; it's clear!“ 


Was das Verhungern und Verdurſten betrifft, ſo hatte 
ich keine Sorge, denn ich war überzeugt, daß wir noch 
während der Nacht uns ſatt eſſen und trinken würden. 
Dick Hammerdull, der wieder in meiner Nähe lag, nahm 
das aber nicht ſo leicht und ſagte zornig: 

„Iſt das ein Benehmen! Nichts zu eſſen und keinen 
Schluck Waſſer! Wem da die Luſt, Gefangener zu ſein, 
nicht vergehen ſoll, den möchte ich kennen lernen! Meinſt 
du nicht auch, Pitt Holbers, altes Coon?“ 

„Wenn ich nichts bekomme, ſo meine ich auch nichts,“ 
antwortete der Lange. „Hoffentlich hört dieſe unangenehme 
Geſchichte nun bald auf!“ 

„Ob ſie aufhört oder nicht, das bleibt ſich gleich, 
wenn ſie nur ein Ende nimmt. Darf man wiſſen, was 
Ihr dazu ſagt, Mr. Shatterhand?“ 

„Wir werden ſehr wahrſcheinlich noch in dieſer Nacht 
ein gutes Truthahneſſen haben,“ antwortete ich. „Schlaft 
nur nicht ein, und vermeidet alles, was geeignet ſein 
könnte, den Verdacht der Tramps zu erregen!“ 

„Well! So will ich mich ruhig fügen. Wo noch 
Hoffnung vorhanden iſt, da iſt weiter nichts nötig, als 
daß man dieſe Hoffnung gemacht bekommt.“ 


— 815 — 


Da er ſich mit dieſer geiſtreichen Erwägung beruhigte, 
ſagten auch die andern nichts, und wir hörten neidlos zu, 
wie gut es den Tramps ſchmeckte; ſehen konnten wir es 
nicht, deſto beſſer aber mit dem Gehör vernehmen. 

Als der erſte Wächter, der am Feuer ſaß, das Turkey⸗ 
fleiſch in nicht ſehr appetitlicher Weiſe mit den Zähnen 
von den Knochen geriſſen und verzehrt hatte, waren auch 
ſeine Kameraden mit dem Eſſen fertig und rüſteten ſich 
zum Schlaf. Der alte Cowboy⸗König kam zu uns herüber⸗ 
gewabbelt und brachte Redy mit; fie wollten nach unſren 
Feſſeln ſehen. Als ſie ſich überzeugt hatten, daß ſich dieſe 
im gewünſchten Zuſtand befanden, ſagte Cutter zu mir: 

„Es iſt alles in Ordnung, und ich denke, daß Ihr 
auch ohne Abendeſſen einen guten Schlaf tun werdet. 
Träumt recht angenehm von mir!“ 

„Danke!“ antwortete ich. „Ich wünſche Euch eben⸗ 
falls einen recht tiefen, wonneſamen Schlaf!“ 

„O, Ihr Halunke! Ihr würdet Euch wohl ſehr dar⸗ 
über freuen, wenn Fred Cutter rechte Schmerzen aus⸗ 
zuſtehen hätte und nicht ſchlafen könnte?! Aber Eure 
Vorfreude wird ins Waſſer fallen. Mein alter Körper 
iſt beſſer und kräftiger, als Ihr denkt. Ich habe eine 
Bärennatur und möchte das Fieber ſehen, das ſich an 
mich wagen könnte. Jedenfalls werde ich viel beſſer 
ſchlafen als Ihr!“ 

Er lachte hämiſch auf und ſagte zu dem zweiten 
Poſten, der ſoeben den erſten e hatte, in ſtreng 
warnendem Ton: 

„Dieſen Kerl da, der ſoeben geſprochen hat, ſcheint 
der Hafer zu ſtechen. Gib auf ihn beſonders acht, und 
falls er ſich nur einmal falſch bewegen ſollte, kommſt du 
ſofort zu mir, um mich zu wecken!“ 

Er entfernte ſich mit Redy, und der Wächter ſetzte 


4. 
8 


LIE 


— 816 — 


ſich fo, daß er mich grad in den Augen hatte, was mir 
freilich nicht willkommen ſein konnte. 8 

Man hatte einen großen Haufen Dürrholz geſammelt 
und neben dem Feuer aufgeſtapelt. Um davon zu nehmen 
und die Flammen zu nähren, mußte der Wächter ſich um⸗ 
drehen. Die kurzen Augenblicke, in denen er dies von 
Zeit zu Zeit tat, waren die einzigen Pauſen, in denen 
er uns nicht beobachtete, und mußten von uns benutzt 
werden, falls Kolma Puſchi hatte Wort halten und nach 
dem Spring kommen können. Wenn ich über dieſen 
Punkt beſondere Sorge gehabt hätte, ſo wurde ſie bald 
zerſtreut; denn ſchon als der Poſten zum zweitenmal 
Holz nachlegte, hörte ich hinter mir ein leiſes Geräuſch, 
ein Mund legte ſich nahe an mein Ohr und ſagte: 

„Kolma Puſchi iſt hier. Was ſoll ich tun?“ 

„Warten, bis ich mich auf die andre Seite lege, A 
antwortete ich ebenſo leiſe. „Dann ſchneideſt du mir die 
Hände frei und gibſt mir dein Meſſer!“ 

Der Poſten drehte ſich uns wieder zu, und dasselbe 
faſt unhörbare Raſcheln ſagte mir, Kolma Puſchi ſei 
ſchnell zurückgekrochen. 

ö Die Zeit des Handelns war noch nicht gekommen. 
Wir mußten warten, bis wir annehmen konnten, daß die 
Tramps alle ſchliefen. Ich ließ über eine Stunde ver⸗ 
gehen, bis mehrfaches Schnarchen, Blaſen und wohl⸗ 
bekannte Gaumentöne vermuten ließen, daß niemand 
außer Old Wabble munter ſei. Wir wurden durch einen 
dünnen Buſchſtreifen von den Schläfern getrennt; ich 
konnte ſie alſo nicht ſehen. Es miſchte ſich in die be⸗ 
ſchriebenen Töne zuweilen ein kurzes Aechzen oder Stöhnen; 
es kam jedenfalls von dem Cowboy. Sein Arm ſchmerzte 
ihn. Sollte ich warten, bis auch er, wenigſtens einmal 
für kurze Zeit, eingeſchlafen war? Vielleicht fand er bis 


— 817 — 


zum Morgen keinen Schlaf! Nein; wir durften Diele 
Nacht nicht verſtreichen laſſen. Glücklicherweiſe verriet 
mir ſein Stöhnen, daß er jenſeits der Sträucher an einer 
Stelle lag, von der aus er den Poſten hüben bei uns 
nicht ſehen konnte. 

Ich legte mich alſo auf die andere Seite und hielt 
die Hände ſo, daß ſie unſerm Retter ſo bequem wie mög⸗ 
lich lagen. Bald darauf wendete ſich der Poſten dem 
Feuer zu. Sofort fühlte ich, wie eine Meſſerklinge 
ſchneidend durch die Riemen ging, und gleich darauf 
wurde mir das Heft in die Hand gedrückt. Mich raſch 
aufſetzend, zog ich die Füße an und ſchnitt dort auch die 
Riemen durch. Kaum hatte ich mich ebenſo ſchnell wie⸗ 
der niedergelegt und ausgeſtreckt, ſo war der Poſten mit 
dem Nachlegen fertig und drehte ſich uns wieder zu. Es 
galt, zu warten; ich aber fühlte mich ſchon frei. 

„Jetzt mich losſchneiden!“ flüſterte mir Winnetou zu, 
der meine Bewegungen natürlich beobachtet und deren 
Erfolg geſehen hatte. 

„Er legte ſich fo, daß er mir die Hände zukehrte. 
Als der Poſten das nächſte Mal nach dem Dürrholz 
griff, bedurfte es nur zweier Sekunden, ſo war auch der 
Apatſche an den Händen und Füßen frei. Unſere Hal⸗ 
tung blieb ſo, als ob wir noch gefeſſelt wären, und nun 
raunte ich dem Apatſchen zu: 

„Jetzt zunächſt den Poſten! Wer nimmt ihn?“ 

„Ich,“ antwortete er. 

Es galt, den Mann lautlos, ohne alles Geräuſch, 
unſchädlich zu machen. Unſere Kameraden lagen zwiſchen 
ihm und uns; man mußte über ſie wegſpringen. Wenn 
dabei das geringſte Geräuſch entſtand und er ſich um⸗ 
drehte und um Hilfe ſchrie, wurde die Befreiung unſerer 
Leute, wie ich ſie ausführen wollte, unmöglich. Winnetou 


— 318 — 


war der richtige und unter uns wohl auch der einzige 
Mann, dieſe Schwierigkeit zu überwinden. Ich war 
geſpannt auf den entſcheidenden Augenblick. 

Der Wächter ließ dieſes Mal das Feuer weiter nie⸗ 
dergehen als vorher. Endlich, endlich wendete er ſich von 
uns ab und dem Holzhaufen wieder zu! Wie ein Blitz 
fuhr Winnetou in die Höhe und mit einem wahren 
Pantherſprung über unſere Gefährten hinüber. Ihm das 
Knie in den Rücken legend, faßte er ihn mit beiden 
Händen um den Hals. Der Mann war vor Schreck 
ſteif; er machte keine Bewegung der Abwehr; es war kein 
Laut, nicht der geringſte Seufzer zu hören. Jetzt ſprang 
ich, weil Winnetou keine Hand frei hatte, hinüber und 
ſchlug dem Tramp die Fauſt zweimal an den Kopf. Der 
Apatſche öffnete langſam und verſuchsweiſe ſeine Hände; 
der Kerl glitt mit dem Oberkörper nieder und blieb lang 
ausgeſtreckt liegen; räſch wurde er gefeſſelt und geknebelt. 
Der erſte Teil des Werks war gelungen! | 

Unſere Kameraden waren wach geblieben; fie hatten 
die Ueberwältigung des Poſtens geſehen. Da ich nicht 
reden wollte, winkte ich ihnen mit den Händen Schweigen 
zu und machte mich dann mit Winnetou an das Löſen 
ihrer Feſſeln, die ich nicht zerſchneiden wollte, weil wir 
ſie jpäter mit brauchten, um die Tramps zu binden. Was 
mich während dieſer kurzen Beſchäftigung wunderte, war, 
daß ſich Kolma Puſchi nicht ſehen ließ. War er, der 
Geheimnisvolle, etwa ſchon wieder fort? Das mußte ſich 
ja zeigen! 

Als alle Befreiten ſtill bei einander ſtanden, kroch ich 
mit dem Apatſchen langſam um das Feuer, um nach den 
Tramps zu ſehen. Sie ſchliefen alle. Auch Old Wabble 
lag lang ausgeſtreckt im Graſe; er war gefeſſelt, hatte 
einen Knebel im Mund, und neben ihm fa — — 


_a- — um „ 
„„ 


— 519 — 


Kolma Puſchi, unſer Erretter! Wir mußten über das 
Meiſterſtück, das dieſer Rote ſo geräuſchlos vollbracht 
hatte, ſtaunen. 

Er hielt ſeine dunkeln Augen nach der Stelle, von 
der wir, wie er wußte, lauſchen würden. Als er uns ſah, 
nickte er uns lächelnd zu. Welch eine Ruhe, Kaltblütigkeit 
und Sicherheit! 

Es galt nun zunächſt, uns zu bewaffnen. Da die 
Tramps auch eng bei einander lagen, hatten ſie zur 
Vermeidung der Unbequemlichkeiten ihre Gewehre zu⸗ 
ſammengeſtellt; wir nahmen ſie in der Zeit von einer 
Minute in unſern Beſitz. Ich holte meinen Stutzen und 
machte ihn ſchußfertig. Nur Winnetous Silberbüchſe lag 
bei Redy, der ſich nicht von ihr hatte trennen wollen. 
Der Apatſche kroch wie eine Schlange hin und brachte fie 
an ſich; das war auch ein Meiſterſtück von ihm! 

Nun wir alle bewaffnet waren, wurden die Schläfer 
ſo umſtellt, daß uns keiner entwiſchen konnte. Dick 
Hammerdull warf neues Holz in das Feuer; hoch leuch⸗ 
tete es auf. 

„Nun erſt den Poſten draußen bei den Pferden,“ ſagte 
ich leiſe zu Winnetou, indem ich durch die Büſche deutete. 

Kolma Puſchi ſah meine Handbewegung, kam leiſe 

zu uns her und meldete: 
D Das Bleichgeſicht, das Old Shatterhand meint, liegt 
gebunden bei den Pferden. Kolma Puſchi hat es mit dem 
Gewehr niedergeſchlagen. Meine Brüder mögen einen 
Augenblick warten, bis ich wiederkomme!“ 

Er huſchte fort. Als er nach wenigen Sekunden zu⸗ 
rückkehrte, hatte er eine Menge Riemen in den Händen; 
er warf ſie hin und ſagte: | 

„Kolma Puſchi hat ienieriwens einen Bock erlegt und 


— 520 — 


ſein Fell zu Riemen zerſchnitten, weil er glaubte, ſie wür⸗ 
den hier gebraucht.“ 

Ein außerordentlicher Mann! Winnetou reichte ihm 
ſchweigend die Hand, und ich tat dasſelbe. Dann 
konnten wir die nichtsahnenden Schläfer wecken. Dick 
Hammerdull bat uns, dies tun zu dürfen. Wir nickten 
ihm zu. Er ſtieß ein Geheul aus, das der Größe ſeines 
weit aufgeriſſenen Mundes entſprechend war. Die Kerls 
ſprangen alle auf; ſie ſahen uns mit angeſchlagenen 
Gewehren ſtehen und waren vor Schreck bewegungslos. 
Nur Old Wabble blieb liegen, weil er gefeſſelt und 
gelnebelt war. Dieſes erſte Entſetzen benutzend, rief ich 
ihnen zu: N 

„Hands up, oder wir ſchießen! All hands up!“ 

„Hands up, die Hände in die Höhe!“ Wer dieſe 
Worte hört und nicht augenblicklich beide Hände hoch hält, 
bekommt die Kugel. Es kommt vor, daß nur zwei oder drei 
verwegene Menſchen einen Bahnzug überfallen. Wehe dem 
Fahrgaſt, der auf den Ruf „Hands up!“ nicht unverweilt 
die Arme hebt! Er wird ſofort erſchoſſen. Während einer 
der Räuber auf dieſe Weiſe mit ſeinem Revolver alle 
Reiſenden in Schach hält, werden dieſe von dem oder den 
andern ausgeplündert und müſſen mit hochgehobenen Hän⸗ 
den ſtehen bleiben, bis die Taſchen auch des letzten unter⸗ 
ſucht und geleert worden find. Dieſes „Hands up!” trägt 
allein die Schuld daran, daß viele, wenn ſie überraſcht 
worden ſind, gegen wenige gar nichts machen können. 
Selbſt der ſonſt mutige Mann wird lieber die Arme heben, 
als nach ſeiner Waffe greifen; denn ehe er ſie erlangen 
kann, hat er die tödliche Kugel im Kopf. 

So auch hier! Ich hatte den Befehl kaum zum 
zweitenmal ausgeſprochen, ſo fuhren alle Hände hoch empor. 

„Schön, Meſch'ſchurs!“ fuhr ich fort. „Nun laßt 


— 821 — 


euch ſagen: Bleibt genau ſo ſtehen wie jetzt! Denn wer 
nur eine ſeiner Hände ſinken läßt, bevor wir mit euch allen 
fertig ſind, der fällt tot ins Gras! Ihr wißt, wieviel Schüſſe 
hier mein Stutzen hat. Es kommt mehr als eine Kugel 
auf jeden von euch! Dick Hammerdull und Pitt Holbers 
werden euch binden. Es gibt da keine Gegenwehr. Dick, 
Pitt, fangt an!“ 

Es war eine ernſte Lage, aber doch machte es mir, 
überhaupt uns allen, innerlich Spaß, dieſe Leute wie beim 
Freiturnen oder bei einem Geſellſchaftsſpiel mit hoch 
erhobenen Armen ſtehen zu ſehen, um ohne alle Gegen⸗ 
wehr zu warten, bis einer nach dem andern von ihnen 
an Händen und Füßen gebunden und ins Gras gelegt 
wurde. Da waren uns freilich die Riemen ſehr will⸗ 
kommen, die Kolma Puſchi mitgebracht hatte. 

Erſt als der letzte niedergelegt war, ließen wir 
die Gewehre ſinken. Unſer Retter ging mit Matto 
Schahko fort, um auch den Poſten bei den Pferden zu 
holen. Nachdem dieſer gebracht worden war, nahmen 
wir Old Wabble und auch dem Wächter am Feuer den 
Knebel aus dem Mund. 

Jetzt waren nicht mehr ſie, ſondern wir die 
Herren der Lage. Sie fühlten ſich ſo niedergeſchlagen, 
daß keiner von ihnen ein Wort hören ließ; bloß Old 
Wabble ſtieß zuweilen einen Fluch aus. Um Platz zu 
bekommen, ſchoben wir ſie ſo eng wie möglich aneinander; 
dadurch gewannen wir für uns genügenden Raum am 
Feuer. Es waren noch zwei ganze Turkeys da, die wir 
für uns zurichteten. Während dies geſchah, konnte Dick 
Hammerdull es nicht über ſich gewinnen, ruhig zu bleiben. 
Er hatte in berechnender Weiſe die Gebrüder Holbers 
nebeneinander gelegt und ſuchte ſie jetzt auf. 

„Good evening, ihr Onkels und Vettern!“ grüßte 

may, Old Surehand. II. 21 


— 322 — 


er ſie in ſeiner würdevoll drolligen Weiſe. „Ich gebe 
mir die Ehre, euch zu fragen, ob ihr nicht wißt, was 
ich euch unterwegs ſagte?“ 

Er bekam keine Antwort. N 

„Richtig! Es ſtimmt!“ nickte er. „Ich ſagte, ent⸗ 
weder flögen wir euch davon, und dann ſtändet ihr mit 
aufgeſperrten Mäulern da; oder wir drehten den Spieß 
um und nähmen. euch gefangen, und dann klappten 
euch die Mäuler wieder zu. Iſt es nicht ſo, Pitt Hol⸗ 
bers, altes Coon? Habe ich das geſagt oder nicht?“ 

Holbers ſaß, einen Puter rupfend, am Feuer und 
antwortete trocken: 

„Ja, das haſt du geſagt, lieber Dick.“ 

„Alſo richtig! Wir haben ſie gefangen, und nun 
liegen ſie mit zugeklappten Mäulern da und haben nicht 
den Mut, ſie wieder aufzumachen. Die armen Teufel 
haben die Sprache verloren!“ 

„Das haben wir nicht!“ fuhr ihn da Hoſea an. 
„Euretwegen verlieren wir die Sprache noch lange nicht; 
aber laßt uns in Ruhe!“ 

„Ruhe? Pshaw! Ihr habt ja bis jetzt geſchlafen! 
Das plötzliche Erwachen war freilich etwas ſonderbar, 
nicht? Was wolltet ihr doch nur mit euern Händen ſo 
hoch droben in der Luft? Es ſah aus, als ob ihr Stern⸗ 
ſchnuppen fangen wolltet. Ganz eigenartige Stellung!“ 

„Die Eurige war nicht beſſer, als wir Euch geſtern 
feſtgenommen hatten! Ihr konntet da nicht einmal die 
Hände heben!“ 

„Das tue ich auch ſonſt niemals, weil ich kein 
Schnuppenfänger bin. Uebrigens, verehrteſter Hoſea, 
nicht ſo hitzig! Ihr ſeht ja, wie gefaßt und ſtill euer lieber 
Joel iſt! Wenn ich ihn richtig beurteile, ſo denkt er über 
die Erbſchaft meines alten Pitt Holbers nach.“ 


ls 2 


— 323 — 


Da brach Joel ſein Schweigen auch: 

„Er mag behalten, was er hat! Wir brauchen nichts 
von ihm, dem Prügeljungen, denn wir werden reich ſein; 
wir werden noch — — —' 

Da er inne hielt, fuhr Dick Hammerdull, fröhlich 
lachend fort: ö 

„— — — noch nach dem Squirrel Creek reiten und 
die Bonanza holen? Nicht wahr, das wolltet Ihr ſagen, 
Sir Joel, der Prophet?“ | | 

„Ja, das werden wir!“ ſchrie der Geärgerte. „Es 
wird uns nichts auf Erden abhalten können, dies zu 
tun! Verſtanden?“ 

„Ich denke, wir werden euch davon abhalten, indem 
wir euch ein wenig erſchießen.“ 

„Dann wäret ihr Mörder!“ 

„Tut nichts! Ihr ſagtet mir ja auch, daß ihr uns 
auslöſchen wolltet. Ich war da freilich der Anſicht, daß 
wir uns wieder anzünden würden. Meinſt du nicht auch, 
Pitt Holbers, altes Coon?“ 

„Ich meine nur, daß du den Schnabel halten ſollſt!“ 
belehrte ihn der Gefragte vom Feuer her. „Dieſe Kerls 
ſind es ja gar nicht wert, daß du mit ihnen ſprichſt. Komm 
lieber her, und rupfe mit!“ 

„Ob ich mit rupfe oder nicht, das iſt ja ganz gleich; 
aber ungerupft ſchmeckt mir der Puter nicht, und darum 
komme ich!” 

Er ſetzte ſich zu ſeinem Pitt ans Feuer und half ihm 
bei der Arbeit. | 

Kolma Puſchi hatte ſich inzwiſchen entfernt. Er war 
zu ſeinem irgendwo verſteckten Pferd gegangen und brachte 
das Fleiſch, das er heut geſchoſſen hatte, um es uns zu 
ſchenken. Dann trat er vor Redy hin und ſagte zu ihm: 

„Das Bleichgeſicht hat heut von einem ſtinkigen Hund 


ig 


— 824 — 


und von Ungeziefer geſprochen. Kolma Puſchi antwortete, 
der Hund werde das ſtinkige Ungeziefer jagen, bis es 
gefangen wird!“ 

Redy knurrte etwas vor ſich hin, was man nicht 
verſtehen konnte. Der Indianer fuhr fort: 

„Das Bleichgeſicht nannte die roten Männer eine 
armſelige Bande, die immer mehr herunterkomme. Wer 
iſt tiefer herabgekommen, und wer iſt verachtenswerter, 
der Weiße, der wie ein räudiger, hungriger Hund als 
Tramp das Land durchſtänkert, oder der Indianer, der 
als unausgeſetzt Beſtohlener und immerfort Vertriebener 
durch die Wildnis irrt und den Untergang ſeiner unſchul⸗ 
digen Raſſe beklagt? Du biſt der Schuft, und ich, ich bin 
der Gentleman. Das wollte ich dir ſagen, obgleich ein 
roter Krieger ſonſt nicht mit Schuften ſpricht. Howgh!“ 

Er wendete ſich, ohne eine Antwort zu bekommen, 
von ihm ab und ſetzte ſich zu uns, die wir ihm von Herzen 
gern und vollſtändig recht geben mußten. Er hatte wenig⸗ 
ſtens Winnetou und mir ganz aus der Seele geſprochen. 
Die andern ſtimmten ihm für dieſen einen vorliegenden 
Fall bei, im allgemeinen aber wohl kaum. Zu den Ver⸗ 
hältniſſen, die man aus der Ferne richtiger beurteilt als 
in der Nähe, gehört das zwiſchen der roten und 
weißen Raſſe. Der echte Yankee, der Native, wird nun 
und nimmermehr ſeine Schuld am Untergang der Inds⸗ 
men, am gewaltſamen Tod ſeines roten Bruders zugeben. 

Während wir aßen, lagen die Gefangenen ruhig. 
Nur zuweilen klang eine leiſe Bemerkung, die einer dem 
andern zuflüſterte, zu uns herüber, ohne daß wir ſie ver⸗ 
ſtanden. Es war uns gleichgültig, was ſie miteinander 
ſprachen. Old Wabble warf ſich wiederholt von einer 
Seite auf die andere. Seine Seufzer verwandelten ſich 
nach und nach in ein immer häufiger wiederkehrendes 


— 325 — 


und immer lauter werdendes Stöhnen. Er fühlte 
Schmerzen, wohl durch die Riemen vermehrt, mit denen 
Hammerdull und Holbers ihn feſter, als eigentlich nötig 
war, gebunden hatten, nachdem er vorher von Kolma 
Puſchi auf leichtere Weiſe gefeſſelt worden war. 0 
rief er uns in ergrimmtem Ton zu: 

„Hört ihr denn nicht, was ich für Schmerzen leidel 
Seid ihr Menſchen, oder ſeid ihr Schinder, die kein Gefühl 
beſitzen?“ 

Ich machte eine Bewegung, aufzuſtehen und nachzu⸗ 
ſehen, ob ich ihm ſeine Lage ohne Gefahr für uns erleich⸗ 
tern könne; da aber hielt mich Treskow zurück, indem er 
kopfſchüttelnd ſagte: 

„Ich begreife Euch nicht, Mr. Shatterhand! Ver⸗ 
mutlich wollt Ihr hin, um ihm die Hölle in ein Paradies 
zu verwandeln? Ich laſſe jede Art erlaubter oder ver⸗ 
ſtändiger Menſchlichkeit gelten; aber Euer Erbarmen für 
dieſen Menſchen iſt geradezu eine Sünde!“ 

„Er iſt ſchlecht, doch immerhin ein Menſch!“ warf 
ich ein. 

„Er? Pshaw! Denkt an das, was Ihr heut ſagtet, 
als Ihr ihn verbinden wolltet: Ihr hieltet für maß⸗ 
gebend, nicht daß er ein Menſch ſei, ſondern, daß Ihr einer 
ſeiet. Ja, Ihr ſeid ein Menſch, und zwar ein in Beziehung 
auf ihn ſehr ſchwacher Menſch. Nehmt mir das nicht übel! 
Nun geht hin, und bindet ihn in der ganzen Menſchheit 
Namen los, wenn ich unrecht habe!“ 

„Mein Arm, mein Arm!“ wimmerte der Alte in 
kläglichem Ton. 

Da rief Hammerdull ihm zu: 

„Nun kannſt du wohl klagen, alte Schleiereule! Wie 
ſteht es da mit deiner Körperſtärke, mit deiner großartigen 


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* 
. 


— 326 — 


Bärennatur, mit der du vorhin prahlteſt? Jetzt ſingſt du 
ſchon nach Gnade!“ 

„Nicht nach Gnade!“ antwortete Old Wabble. „Nur 
die Feſſeln lockern ſollt ihr mir!“ 

„Ob ſie locker ſind oder nicht, das bleibt ſich gleich, 
wenn ſie dir nur den Spaß ſo gründlich verderben, wie 
du es verdienſt. Jede Sache hat einen Zweck, den ſie 
erreichen muß; die Riemen haben ihn auch!“ — 

Kolma Puſchi aß mit uns, ohne dabei ein Wort zu 
ſagen. Er verhielt ſich faſt noch ſchweigſamer als Winne⸗ 
tou, und nur einmal, als die Rede auf unſer Zuſammen⸗ 
treffen mit dem weißen Medizinmann und ſeiner Squaw 
kam, ſagte er: 

„Kolma Puſchi iſt, nachdem er von dem Bleichgeſicht 
Redy beleidigt worden war, der Fährte ſeiner Brüder 
gefolgt, um ſich zu überzeugen, ob ſie den richtigen Weg 
geritten ſeien. Da kam er auf den Platz, wo ſie gehalten 
haben. Er ſah die Spur von drei Pferden, die von rechts 
her auf ihre Fährte ſtieß und dann nach links weiter⸗ 
führte. War das der weiße Mann mit ſeiner roten Squaw, 
von dem ihr jetzt geſprochen habt?“ 

„Ja,“ antwortete ich. | 

„Dieſer Weiße ift ein roter Komantſche geweſen. 
Was hat er als Komantſche hier im Norden zu tun?“ 

„Das wiſſen wir nicht.“ 

„Warum hat er die Farbe aus ſeinem Geſicht ent⸗ 
fernt? Warum kommt er nicht als roter, ſondern als 
weißer Mann?“ 

„Wohl ſeiner Sicherheit wegen. Als Komantſche 
würde er hier der Feind aller Bleichgeſichter und noch 
mehr aller Indianer ſein.“ 

„Dieſe Worte ſcheinen die Wahrheit zu treffen, doch 
hat Kolma Puſchi auch noch andere Gedanken.“ 


a a — ge 5 
3 


— 327 — 


„Dürfen wir ſie erfahren?“ 

„Ein roter Krieger darf nur ſolche Gedanken aus- 
ſprechen, von denen er weiß, daß ſie richtig ſind. Ich 
denke jetzt nach!“ 

Er zog ſein Gewehr lang an ſich und legte ſich wie 
zum Schlafen nieder. Ich nahm das als Zeichen, daß er 
nicht weiterſprechen wolle. Später ſah ich freilich ein, wie 
viel beſſer es geweſen wäre, wenn ich dieſes Geſpräch mit 
ihm fortgeſetzt hätte. Dabei wäre mir jedenfalls der 
Name Thibaut über die Lippen gekommen, ein Name, der 
eine von mir ungeahnte Wirkung auf ihn hervorgebracht 
hätte. Der ſogenannte „Herr der Schöpfung“ mag ſich 
trotz des vielgerühmten Reichtums ſeiner geiſtigen Eigen⸗ 
ſchaften ja nicht vermeſſen, daß er von keiner andern 
Führung abhängig ſei als nur von ſeinem Willen! Mag 
er es noch ſo ſehr bezweifeln: es gibt einen Willen, der 
hoch über allem irdiſchen Wollen erhaben iſt. 

Nach dem Eſſen wurden die Taſchen der Gefangenen 
geleert. Nachdem wir das uns geraubte Eigentum wieder 
genommen hatten, bekam jeder von ihnen zurück, was uns 
nicht gehörte. Daß die Tramps dabei nicht überzart behan⸗ 
delt wurden, war nicht zu verhindern. Old Wabble hatte 
ſich in den Beſitz aller meiner Sachen geſetzt und war 
wütend darüber, daß er ſie nun wieder hergeben mußte. 
Größer noch als dieſer Zorn aber ſchienen die Schmerzen 
zu ſein, die er fühlte. Er bat mich wiederholt um Lin⸗ 
derung. Ich war ſchwach genug, die Vorwürfe Treskows 

zu ſcheuern, mochte aber das Jammern endlich doch nicht 
mehr hören und ſagte zu ihm: 

„Ich will mich erweichen laſſen, wenn Ihr mir 
meine Fragen beantwortet.“ 

„Fragt, fragt; ich werde reden!“ bat er. 

„Ihr wolltet mich wirklich töten?“ 


— 828 — 


u 

„Ja. 8 

„Was ſeid Ihr doch für ein Menſch! Ich bin mir 
keines einzigen Unrechts bewußt, das ich Euch getan hätte, 
und doch trachtet Ihr mir nach dem Leben! Noch heut 
wolltet Ihr lieber alle möglichen Schmerzen tragen, nur 
mich nicht freigeben. Wie ſtolz fühltet Ihr Euch im Beſitz 
meiner Gewehre! Ihr meintet, fie nun für immer“ zu 
beſitzen, und ich ſagte Euch voraus, daß ich ſie bald 
wieder haben würde. Jetzt ſind ſie wieder mein!“ 

„Ich wollte, ſie lägen mit Euch in der Hölle! Ich 
habe die paar Stunden, in denen ſie mir gehörten, mit 
einem geſunden Arm bezahlt!“ 

„Und mit vielen Schmerzen, die Ihr noch erleiden 
werdet. Denn Ihr dürft nicht etwa denken, daß Ihr 
ſchon an deren Ende angekommen ſeid! Ihr fühltet Euch 
Eurer Sache ſo ſicher, daß Ihr mich auffordertet, Euch 
nach meinem Tod als Geſpenſt zu erſcheinen. Wißt Ihr 
noch, was ich Euch darauf geantwortet habe?“ 

„Mag es nicht hören!“ 

„Ihr müßt es hören! Ich ſagte: „Ich werde noch 
vor meinem Tod über Euch kommen. Das iſt jetzt ein⸗ 
getroffen. So wird der einfachſte Menſch zum Propheten, 
wenn er nur weiß, daß das Gute dem Böſen ſtets über- 
legen iſt! Gebt Ihr zu, ſchlecht an mir gehandelt zu 
haben?“ | 
Ja doch, ja!“ 

„Wollt Ihr den jetzigen Weg verlaſſen und einen 
beſſern betreten?“ 

„Ja und ja und ja! Macht mir nur die Riemen 
locker, und laßt das verdammte Schulmeiſtern ſein! Ich 
bin kein Kind!“ 

„Leider nein! Was Ihr für Schulmeiſterei haltet, 
iſt etwas ganz andres. Auch müßt Ihr Euch hüten, 


— 829 — 


meine Milde für Schwäche zu halten. Ich fühle Mitleid, 
nichts als Mitleid mit Euch. Ich gebe mich nicht der 
geringſten Hoffnung hin, durch Worte beſſernd auf Euch 
einwirken zu können. Worte, und ſeien es die ſchönſten, 
ergreifendſten, prallen von Euch ab. Es wird ein ganz 
anderer, als ich bin, mit Euch reden, nicht durch Worte, 


ſondern durch die Tat. Wenn Ihr dann unter deren 


Wucht zuſammenbrecht, will ich mir ſagen können, nichts, 
aber auch gar nichts zu Eurer Rettung verſäumt zu haben. 
Das iſt es, warum ich wieder und immer wieder mit 
Euch rede. Und nun kommt her! Es handelt ſich nicht 
bloß um die Feſſeln, ſondern mehr noch um die Hitze, die 
Ihr im Arm habt.“ 

Ich übernahm, während die Gefährten ſich ſchlafen 
legten, die Wache und benützte dieſe ganze Zeit, den Arm 
des Alten mit Waſſer zu kühlen. Kolma Puſchi hatte frei⸗ 
willig die Wache nach mir übernommen. Als ich, um ihn 
zu wecken, von Old Wabble fortging, hörte ich den Alten 
hinter mir her brummen: 

„Heulmaier, alberner! Schäfleinshirte!“ 

Dieſe Art, mir zu danken, konnte mich nicht belei⸗ 
digen. Ich hatte auf keinen Erfolg gehofft, und doch tat 
es mir unendlich leid um den alten Mann, daß ich ihn 
für unrettbar verloren halten mußte. 

Als ich geweckt wurde, war es ſchon eine Stunde 
Tag. Ein kurzer Umblick genügte, mich zu überzeugen, 
daß alles in Ordnung ſei; nur Kolma Puſchi vermißte ich. 
Matto Schahko hatte nach ihm die Wache gehabt. Als 
ich dieſen fragte, antwortete er: 

„Kolma Puſchi ſagte mir, er könne nicht länger 
bleiben; der große Geiſt rufe ihn fort von hier. Ich ſoll 
Old Shatterhand, Winnetou und auch Apanatſchka von 
ihm grüßen und ihnen ſagen, daß er ſie wiederſehen werde.“ 


— 330 — 


„Haſt du ihn fortreiten ſehen?“ 

„Nein. Er ging fort. Ich wußte nicht, wo er ſein 
Pferd hatte, und durfte dieſen Platz nicht verlaſſen, weil 
ich Wächter war. Ich bin aber ſeiner Spur gefolgt, ſobald 
es hell wurde. Sie führte mich in den Wald, nach der 
Stelle, an der ſein Pferd verſteckt geweſen iſt. Wenn wir 
wiſſen wollen, wohin er geritten iſt, werden wir leicht 
ſeine Fährte finden. Soll ich gehen, um ſie aufzuſuchen 
und Euch zu zeigen?“ | 

„Nein. Wäre er unſer Feind, müßten wir ihm 
folgen. Aber er iſt unſer Freund. Sollten wir das Ziel 
ſeines Ritts erfahren, würde er es uns freiwillig geſagt 
haben. Den Willen eines Freundes muß man achten.“ 

Bevor ich von dem Fleiſch frühſtückte, das Kolma 
Puſchi zurückgelaſſen hatte, ging ich hinaus, wo die Pferde 
angehobbelt waren. Sie ſtanden auf einer Grasbucht 
zwiſchen den geſtern erwähnten Ausläufern des Waldes; 
dorthin waren ſie bei Tagesanbruch geſchafft worden. 
Von da aus konnte man weit nach Norden ſehen, 
woher wir. gekommen waren. Indem ich nach dieſer Rich» 
tung blickte, ſah ich drei Punkte, die ſich unſerm Lager 
näherten. Sie wurden ſchnell größer, bis ich zwei Reiter 
und ein Packpferd erkannte. Sollte es Thibaut mit der 
Squaw ſein, die geſtern doch nach Südweſt geritten 
waren? Und wenn dieſe Vermutung richtig war, welche 
Gründe konnten ihn wohl bewogen haben, umzukehren 
und unſerer Spur zu folgen? 

Ich ging ſogleich nach dem Lager, um Winnetou 
zu benachrichtigen. 

„Dieſer Mann braucht keine andern Gründe als nur 
ſeinen Haß zu haben,“ ſagte er. „Tibo taka will wiſſen, 
ob Old Shatterhand ſchon tot iſt oder noch lebt. Wir 
werden uns verſtecken.“ 


— 331 — 


Wir krochen hinter die Büſche und warteten. Es 
dauerte nicht lange, ſo hörten wir die Schritte eines 
Pferdes. Thibaut hatte die Frau mit dem Packpferd eine 
kleine Strecke zurückgelaſſen und kam allein nach der 
Quelle, um zu erkunden. Er ſah Old Wabble und die 
Tramps gefeſſelt am Boden liegen und rief erſtaunt aus: 

„Behold! Sehe ich recht! Ihr ſeid gebunden? Wo 
ſind denn die Kerls, die geſtern Eure Gefangenen waren?“ 

Old Wabble wußte nicht, daß wir auf das Kommen 
dieſes Mannes vorbereitet waren und uns nur ſeinet⸗ 
wegen ſcheinbar entfernt hatten. Er rief ihm haſtig und 
mit unterdrückter Stimme zu: 

Ihr ſeid hier? Ah, Ihr! Schnell herunter vom 
Pferd, und ſchneidet uns los!“ 

„Losſchneiden? Ich denke, Ihr betrachtet mich als 
Euren Feind!“ 

„Unſinn! Das war geſtern nur ſo eine Redensart. 
Macht raſch!“ 

„Wo ſind denn Eure Gefangenen?“ 

„Sie haben ſich in der Nacht befreit und uns über⸗ 
rumpelt. Zaudert doch nicht ſo ewig, ſondern macht uns 
los, nur los!“ 

„Wo ſtecken ſie denn? Wenn ſie nun 1 und 
mich überraſchen!“ 

„So ſind wir, wenn Ihr ſchnell macht, fret und 
ſchlagen ſie nieder!“ 

„Well! Dieſer Old Shatterhand beſonders iſt mir 
im Wege. Er muß unbedingt ausgelöſcht werden, ſobald 
man ihn erwiſcht, keinen Augenblick ſpäter, ſonſt ver⸗ 
ſchwindet er gewiß. Alſo raſch! Ihr ſollt frei ſein!“ 

Er war während dieſer Worte vom Pferd geſtiegen 
und zu Old Wabble getreten. Jetzt zog er fein Meſſer. 


— 332 — 


Da ſteckte grad vor ſeinen Augen Dick Hammerdull den 
Gewehrlauf aus dem Buſch heraus und rief: 

„Mr. Tibo taka, wartet noch ein bißchen! Es wohnen 
gewiſſe Leute hier im Gebüſch!“ 

„Verdammt! Zu ſpät!“ fluchte Old Wabble wütend. 

Thibaut wich einige Schritte zurück und ſagte: „Wer 
ſteckt da im Geſträuch? Tut Eure Flinte weg!“ 

„Wer drin ſteckt, bleibt ſich gleich. Und ob ich die 
Flinte wegtue oder nicht, iſt ganz gleich; ſie geht aber los, 
wenn Ihr nicht augenblicklich Euer Meſſer fallen laßt! 
Ich zähle nur bis drei. Alſo, eins — — zwei — — —“ 

Thibaut warf das Meſſer weg, zog ſich ſo weit zurück, 
bis er ſein Pferd zwiſchen ſich und dem gefährlichen Buſch 
hatte, und rief: 

„So tut das Gewehr doch weg! Ich mag mit Euch 
nichts zu ſchaffen haben. Ich reite augenblicklich fort!“ 

„Augenblicklich? Nein, lieber Freund; bleibt noch ein 
Weilchen da! Es gibt Leute, die Euch gern guten nn 
ſagen wollen.“ 

„Wer denn? Und wo?“ 

„Gleich hinter Euch.“ 

Thibaut drehte ſich ſchnell um und ſah uns alle 
ſtehen, die wir, während er mit Hammerdull ſprach, leiſe 
aus den Büſchen getreten waren. Ich ging bis hart zu 
ihm heran und ſagte: 

„Alſo ausgelöſcht ſoll ich werden! Ihr ſcheint mich 
halb und halb zu kennen, aber ganz noch nicht. Wie wäre 
es wohl, Monſieur Thibaut, wenn wir die Rollen wechſel⸗ 
ten und ich Euch auslöſchte?“ 

„All devils! Das werdet Ihr nicht! Ich habe Euch 
nichts getan!“ 

„Ihr wollt mir an das Leben; das genügt. Jyr 
kennt doch die Geſetze der Prärie!“ 


— 333 — 


„Es war nur Scherz von mir, Mr. Shatterhand!“ 

„So mache auch ich Scherz mit Euch. Hier liegen 
noch einige Riemen. Gebt die Hände her! Ihr werdet 
gefeſſelt, genau ſo, wie dieſe Tramps.“ 

„Unmöglich!“ | 

„Das iſt nicht nur möglich, ſondern es wird gleich 
wirklich geſchehen. Pitt Holbers und Dick Hammerdull, 
bindet ihn! Wenn er ſich weigert, bekommt er meine 
Kugel. Muß ich erſchoſſen werden, ſobald man mich er⸗ 
wiſcht, ſo gibt es bei mir auch kein Federleſen. Alſo raſch!“ 

Hammerdull war auch herbeigekommen; er und Hol⸗ 
bers banden den Mann, der ſich nicht getraute, Widerſtand 
zu leiſten; wenigſtens nicht durch die Tat, in Worten aber 
ſträubte er ſich außerordentlich: 

„Das iſt eine Gewalttat, die Ihr nicht verantworten 
könnt, Meſch'ſchurs! Das habe ich wahrlich nicht verdient!“ 

„Auch nicht damit, daß Ihr Old Wabble geſtern den 
Rat gabt, jeden Tag einen von uns zu erſchießen?“ 

„Das war ja auch nur Scherz!“ 

„Ihr ſcheint ein außerordentlicher Spaßvogel zu ſein, 
was auf eine gute Unterhaltung mit Euch ſchließen läßt. 
Wir wollen Euch darum bei uns feſthalten, und Ihr 
müßt einſehen, daß dies am beſten mit Hilfe dieſer Riemen 
geſchieht. Scherz um Scherz; das iſt ganz richtig!“ 

„Aber ich bin nicht allein!“ 

„Das wiſſen wir. Draußen wartet Eure Squaw.“ 

„Soll die etwa auch gebunden werden?“ 

„Nein. Mit Ladies treiben wir keine ſolchen Scherze. 
Wir werden ſie vielmehr als willkommenen Gaſt 
empfangen. Es kommt ganz auf Euer Verhalten an, was 
wir über Euch beſtimmen. Seid Ihr fügſam, habt Ihr 
vielleicht gar nichts zu befürchten. — Legt ihn allein, nicht 
hin zu den Tramps!“ 


ei: 2551 

„Well! Gewalt geht vor Recht. Ich muß mich alſo 
fügen!“ 

Er wurde abſeits von den anderen Gefangenen hin⸗ 
gelegt, daß er ſich mit ihnen nicht unterhalten konnte. 
Dann verließ ich mit Winnetou das Lager, um die Squaw 
aufzuſuchen. Sie hielt, noch im Sattel ſitzend und den 
Zaum des Saumtiers in der Hand, draußen bei unſern 
Pferden. Unſer Kommen machte nicht den geringſten 
Eindruck auf ſie. Es war, als ob wir gar nicht vorhanden 
ſeien. Wir brachten ſie nach der Quelle, wo ſie unauf⸗ 
gefordert abſtieg und ſich neben Thibaut ſetzte. Daß er 
gefeſſelt war, ſchien ſie gar nicht zu bemerken. 

Das Packpferd hatten wir draußen gelaſſen; ich 
führte auch ihn und ſein Reitpferd wieder hinaus. Er 
ſollte nicht ſehen, daß wir ſein Gepäck unterſuchten. Es 
war doch möglich, daß wir etwas fanden, was uns von 
Nutzen war. Als ich zur Quelle zurückkehrte, befand ſich 
Redy mit Treskow in Verhandlung. Dieſer hatte wieder 
einmal ſeine juriſtiſche Anſchauung vertreten und ſich 
dabei aufgeregt, während die anderen ruhig wartend 
ſaßen. Er rief mir entgegen: 

„Denkt Euch nur, Mr. Shatterhand, Redy verlangt, 
freigelaſſen zu werden! Was ſagt Ihr dazu?“ 

„In dieſem Augenblick nichts. Später werde ich mir 
denken, was Winnetou ſich denkt.“ 

„Damit drehen wir uns im Kreiſe. Was denkt 
Winnetou?“ 

„Was recht iſt.“ 

„Schön! ‚euer landen! Das Geſetzesrecht aber fagt, 
daß — — —' 

„Pshaw!“ unterbrach ich ihn. „Wir ſind hier nicht 
Juriſten, ſondern zunächſt und vor allen Dingen hungrige 
Leute. Laßt uns eſſen!“ 


— 8835 — 


„Ach, eſſen! Damit wollt Ihr mir nur ausweichen!“ 

„Gar nicht! Ich will Euch dabei nur zeigen, was 
nach meiner Anſicht juriſtiſch iſt.“ 

„Nun, was?“ . N 

„Geſtern abend aßen die Tramps, und wir bekamen 
nichts; jetzt eſſen wir, und ſie bekommen nichts. Iſt das 
nicht die juriſtiſchſte Rechtshandhabung, die ſich denken 
läßt?“ 

„Hole Euch — — — — der Teufel, möchte ich auch 
bald ſagen! Ich wette meinen Kopf, daß Ihr imſtande 
ſeid, die Kerle laufen zu laſſen!“ 

„Und ich wette nicht, 9 aber, daß geſchehen wird, 
was richtig iſt.“ | 

Wir ließen es uns ſchmecken und teilten der Squaw 
das Beſte mit, was wir hatten; fie nahm des aus den 
Händen Apanatſchkas, ohne ihn zu erkennen. Weiter erhielt 
niemand etwas. Als Winnetou und ich fertig waren, 
gingen wir beide hinaus, um das Gepäck Thibauts zu 
unterſuchen. Das Packpferd hatte Eßwaren, einige 
Frauengewänder, wenig Wäſche und dergleichen getragen; 
etwas Beſonderes fanden wir da nicht. Beim Pferd der 
Frau war auch nichts zu entdecken. Wir wendeten uns 
nun dem Pferd des Mannes zu. 

Am Sattelknopf hing ſein Gewehr. In der rechten 
Satteltaſche ſteckte eine geladene Doppelpiſtole und ein 
blechernes Käſtchen mit verſchiedenen Farben, zum 
Bemalen des Geſichts jedenfalls, weiter nichts. In der 
linken fanden wir Patronen, ein Raſierzeug mit Seife und 
wieder ein Blechkäſtchen, viel dünner als das vorige. Es 
enthielt ein langes, ſchmales, viereckiges, ſehr gut gegerbtes, 
weißes Lederſtück mit roten Strichen und Charakteren. 

„Ah, ein ſprechendes Leder, wie die Roten ſagen!“ 


— 336 — 


meinte ich zu Winnetou. „Das bringt uns vielleicht eine 
Entdeckung.“ 

„Mein Bruder zeige es her!“ ſagte er. 

Ich gab es ihm. Er betrachtete es lange und auf⸗ 
merkſam, ſchüttelte den Kopf, betrachtete es abermals, 


ſchüttelte wieder und ſprach endlich: 


„Dies iſt ein Brief, den ich nur halb verſtehe. Er 
iſt ganz nach der Weiſe der roten Männer mit der Meſſer⸗ 
ſpitze geſchrieben und mit Zinnober gefärbt. Dieſe viel⸗ 
gewundenen Linien ſollen Flüſſe vorſtellen; das Leder iſt 
eine Landkarte. Hier iſt der Republican⸗River, hier der 
doppelte Salmon; dann kommt der Arkanſas mit dem Big 
Sandy⸗Creek und dem Ruſh⸗Creek, hierauf der Adobe⸗ und 
der Horſe⸗Creek, ſüdlich der Apishapa⸗River und der Huer⸗ 
fano⸗Fluß. So kommt ein Creek und ein Fluß nach dem 
andern bis hinauf zum Park von San Luis. Dieſe 
Waſſer kenne ich alle; aber es gibt Zeichen dabei, die ich 
nicht verſtehe, Punkte, Kreuze verſchiedener Geſtalt, 
Ringel, Dreiecke, Vierecke und andere Figuren. Sie ſtehen 
auf der Karte da, wo ſich in der Wirklichkeit keine Stadt, 
kein Ort, kein Haus befindet. Ich kann nicht entdecken, 
was alle dieſe vielen Zeichen zu bedeuten haben.“ 

Er gab mir das Leder zurück, das mit wirklich großer 
Sorgfalt und Feinheit graviert und gefärbt worden war. 
Man konnte den kleinſten, feinſten Strich ganz deutlich 
ſehen. Auch ich konnte mir die Zeichen nicht erklären, bis 
ich das Leder umwendete. Da waren ſie wiederholt, unter⸗ 
einander aufgezählt, und daneben ſtanden Namen, die 
keine Orts⸗ ſondern Perſonennamen waren. Höchſt ſon⸗ 
derbar! Ich ſann und ſann, lange vergeblich, bis mir 
endlich auffiel, daß einige von ihnen Namen von Heiligen 
waren. Nun hatte ich es! Ich zog mein Taſchenbuch 
heraus, das ein Kalendarium enthielt, verglich die Namen 


3— ů ͤ9-ÿ-m˖ = — 


— 837 — 


mit den Entfernungen der Zeichen auf der Karte und 
konnte nun dem Apatſchen erklären: 

„Dieſer Brief iſt an den Medizinmann geſchrieben 
worden und ſoll ihm ſagen, wo und an welchem Tag er 
deſſen Abſender treffen ſoll. Eine gewöhnliche Anführung 
der Monatstage würde alles verraten. Die Chriſten 
benennen, wie ich dir ſchon früher erklärt habe, alle Tage 
des Jahrs mit den Namen frommer oder heiliger Männer 
und Frauen, die längſt geſtorben ſind. Dieſe Bezeichnung 
hat der Schreiber gewählt. Eine Enträtſelung iſt darum 
doppelt ſchwer, weil die Namen nicht auf der Karte, ſon⸗ 
dern auf der andern Seite ſtehen. Hier leſe ich: Aegidius, 
Roſa, Regina, Protus, Eulogius, Joſef und Thekla; das 
bedeutet den 1., 4., 7., 11., 13., 18. und 23. September. 
An dieſen Tagen wird der Abſender des Briefes da ſein, 
wo die Zeichen, die neben den Namen ſtehen, ſich auf der 
Karte befinden. Wir haben hier alſo den ganzen Reiſeplan 
des Abſenders und des Empfängers mit Orts⸗ und Zeit⸗ 
angabe in den Händen.“ 

„Ich verſtehe meinen Bruder genau, nur daß ich 
nicht weiß, auf welchen Tag des Jahres dieſe Männer⸗ 
und Frauennamen fallen.“ 

„Das ſchadet nichts, wenn ich es nur weiß. Dieſes 
Leder kann großen Wert für uns bekommen; behalten aber 
dürfen wir es nicht.“ 

„Warum?“ 

„Tibo taka ſoll nicht ahnen, daß wir ſeinen Weg 
kennen.“ 

„So muß mein weißer Bruder die Schrift des Leders 
abſchreiben!“ 

„Ja, das werde ich ſogleich tun.“ 

Winnetou mußte den Brief halten, und ich übertrug 
ihn genau in mein Merkbuch, indem ich den Pferdeſattel 
nua y, Old Surehand. II. 22 


— 338 — 


als Unterlage nahm. Dann legten wir das Leder in den 
Blechkaſten zurück, den wir in die Satteltaſche ſteckten. 
Darauf gingen wir wieder nach dem Lagerplatz. 

Eben als wir um die letzte Buſchecke biegen wollten, kam 
uns die Squaw entgegen. Sie war drinnen aufgeſtanden 
und fortgegangen, ohne daß Thibaut ſie hatte halten 
können, weil er gefeſſelt war; ſeine Zurufe hatte ſie nicht 
beachtet. Wie ſie ſo an uns vorüberſchritt, hocherhobenen 
Kopfes, doch geſenkten Auges, ohne uns zu beachten, 
langſam und gemeſſen Fuß um Fuß weiterſetzend, hatte 
ſie das Ausſehen einer Schlafwandlerin. Ich drehte mich 
wieder um und ging ihr nach. Sie blieb ſtehen, brach 
einen ſchwanken Zweig ab und wand ihn ſich um den 
Kopf. Ich richtete einige Fragen an ſie, ohne daß ich 
eine Antwort bekam; ſie ſchien mich gar nicht zu hören. 
Ich mußte ein bekanntes Wort bringen und fragte: 

„Iſt das dein Myrtle⸗wreath?“ j 

Da ſchlug ſie die Augen zu mir auf und antwortete 
tonlos: „Das iſt mein Myrtle⸗wreath.“ 

„Wer hat dir dieſes Myrtle⸗wreath gefchentt?“ 

„Mein Wawa Derrick.“ 

„Hatte Tahua Bender auch ein Myrtle⸗wreath?“ 

„Auch eins!“ nickte ſie lächelnd. 

„An demſelben Tag, als du eins hatteſt?“ 

„Nein. Viel, viel eher!“ 

„Sahſt du ſie mit ihrem Myrtle⸗wreath?“ 

„Ja. Sehr ſchön war Tahua, ſehr ſchön!“ 

Meinen Gedankengang verfolgend, fragte ich, ſo ſelt⸗ 
ſam dies klingen mag, weiter: „Haſt du einen Frack 
geſehen?“ 

„Frack — — — ja!” antwortete fie nach einigem 
Sinnen. 

„Einen Hochzeitsfrack?“ 


— 339 — 


Da ſchlug fie die Hände zuſammen, lachte glücklich 
und rief: „Hochzeitsfrack! Schön! Mit einer Blume!“ 

„Wer trug ihn? Wer hatte ihn ee 

„Tibo taka.“ 

„Da ſtandeſt du an ſeiner Seitep 

„Bei Tibo taka,“ nickte ſie. „Meine Hand in ſeiner 
Hand. Dann — — —“ 

Sie zuckte wie unter einem plötzlichen Schauder zu⸗ 
ſammen und ſprach nicht weiter. Meine nächſten Fragen 
blieben ohne Antwort, bis mir einfiel, daß Matto Schahko 
erzählt hatte, Tibo taka habe, als er zu den Oſagen kam, 
einen verbundenen Arm gehabt. Ich folgte dieſer 
Gedankenverbindung und erkundigte mich: 

„Der Frack wurde rot?“ 

„Rot,“ nickte ſie, wieder ſchaudernd. 

„Vom Wein?“ 

„Nicht Wein, Blut!“ 

„Dein Blut?“ 

„Blut von Tibo taka.“ 

„Wurde er geſtochen?“ 

„Kein Meſſerl!“ 

„Alſo geſchoſſen?“ 

„Mit Kugel.“ 

„Von wem?“ 

„Wawa Derrik. Oh, oh, oh! Blut, viel Blut, ſehr 
viel Blut!“ 

Sie geriet in eine große Aufregung und rannte fort 
von mir. Ich ging ihr nach; ſie wich mir aber, ſchreiend 
vor Angſt, aus, und ich war gezwungen, es aufzugeben, 
weitere Antworten von ihr zu bekommen. 

Ich war jetzt überzeugt, daß an ihrem Hochzeitstag 
ein Ereignis eingetreten ſei, das ſie um ihren Verſtand 
gebracht hatte. Ihr Bräutigam war Thibaut geweſen, 


> BA. 


ein Verbrecher. War er an dieſem Tag entlarvt und von 
ihrem eigenen Bruder geſchoſſen worden? Hatte Thibaut 
deshalb dieſen Bruder ſpäter ermordet? Ich fühlte 
tiefes Mitleid mit der Unglücklichen, deren Wahnſinn 
jedenfalls unheilbar war, zumal jener Tag um viel⸗ 
leicht dreißig Jahre zurückzuliegen ſchien. Der Frack 
ließ darauf ſchließen, daß die Hochzeit, obgleich die Braut 
zur roten Raſſe gehörte, in ſehr anſtändiger Geſellſchaft 
entweder gefeiert worden war oder hatte gefeiert werden 
ſollen. Sie war ja Chriſtin geweſen, die Schweſter eines 
berühmten roten Predigers; das gab wohl eine hin⸗ 
reichende Erklärung. 

Auch ihre Schweſter Tahua ſchien gut verheiratet 
geweſen zu ſein. Vielleicht hatte die Wahnſinnige ihren 
Bräutigam bei dieſer Schweſter kennen gelernt. Schade, 
daß ich heut weiter nichts erfahren konnte! 

Ich ließ ſie bei ihrem Pferd ſtehen, mit dem ſie wie 
ein Kind zu ſpielen begann, und ging nach dem Lager, wo 
Winnetou ſchon vor mir eingetroffen war. Als ich kam, 
waren alle Augen auf mich gerichtet; ich erſah daraus, 

daß man auf mich gewartet hatte. 
| „Endlich, endlich!“ rief Redy mir zu. „Wo ſteckt 
Ihr nur? Es ſoll ja über unſere Freilaſſung geſprochen 
werden! Und da lauft Ihr fort!“ 

Da machte Treskow ihm ſofort den Standpunkt klar: 
„Ehe davon die Rede ſein kann, wollen wir erſt von eurer 
Beſtrafung ſprechen!“ | 

„Beſtrafung? Oho! Was haben wir Euch getan?“ 

„Ueberfallen, gefangen genommen, ausgeraubt, ge⸗ 
feſſelt und hierhergeſchleppt! Iſt das etwa nichts? Darauf 
ſteht Zuchthaus.“ 

„Ah!? Wollt Ihr uns nach Sing⸗Sing ſchleppen? 
Verſucht das doch einmal!“ 


— 341 — 


„Hier werden keine Verſuche gemacht, ſondern 
Urteile geſprochen und auch gleich ausgeführt. Die Jury 
wird ſogleich beiſammen ſein!“ ö 

„Die erkennen wir nicht an!“ g 

„Darüber lachen wir! Kommt, Mr. Shatterhand! 
Wir dürfen die Sache nicht aufſchieben, und ich hoffe, daß 
Ihr uns dieſes Mal nicht wieder mit einem menſchen⸗ 
freundlichen Streich in die Quere kommt. Die Kerls 
ſind es nicht wert!“ 

Da hatte er freilich recht. Strafe mußte hier ſein; 
aber was für eine? Gefängnis? Gab es nicht. Geld⸗ 
ſtrafe? Dieſe Menſchen hatten ja nichts. Ihnen die 
Pferde und Waffen nehmen? Da waren ſie verloren, und 
wir ſtanden in ihren Augen als Diebe da. Prügel? Hm, 
ja, eine ſehr heilſame Arznei! Wie denke ich überhaupt 
über die Prügelſtrafe? Sie iſt für jeden Menſchen, der 
noch einen moraliſchen Halt beſitzt, fürchterlich; ſie kann 
dieſen ſogar vollends zerſtören. Aber der Vater ſtraft ſein 
Kind, der Lehrer ſeinen Schüler mit der Rute, grad um 
ihm den moraliſchen Halt beizubringen! Iſt ein ſolches 
Kind etwa ſchlimmer, gefährlicher, ehrloſer als der Ver⸗ 
brecher, der nicht geſchlagen werden darf, obgleich er 
zwanzigmal rückfällig im Gefängnis ſitzt und ſofort wieder 
„mauſen“ wird, ſobald er entlaſſen iſt? Wenn ein Raben⸗ 
vater, wie es vorgekommen iſt, ſein vor Hunger geſchwäch⸗ 
tes Kind wochenlang an das Tiſchbein bindet und ohne 
allen Grund täglich wiederholt mit Stöcken, Ofengabeln, 
Stiefelknechten und leeren Bierflaſchen prügelt und dafür 
einige Monate Gefängnis bekommt, iſt dieſe Strafe ſeiner 
Roheit oder vielmehr ſeiner Beſtialität angemeſſen? Denn 
eine Beſtie iſt ſo ein Kerl! Er bekommt im Gefängnis 
umſonſt Wohnung, reichliche Nahrung, warme Kleidung, 
Ruhe, Ordnung, Reinlichkeit, Bücher zum Leſen und noch 


— 842 — 

anderes mehr. Er ſitzt die paar Monate ab und lacht her⸗ 
nach darüber! Nein, ſo eine Beſtie müßte als Beſtie 
behandelt werden! Prügel, Prügel, aber auch tüchtige 
Prügel und womöglich täglich Prügel, das würde für ihn 
das einzig Richtige fein! Hier macht Menſchenfreundlich⸗ 
keit das Uebel nur ärger. Oder wenn ein entmenſchtes, 
ſchnapsſüchtiges Weib ſeine Kinder mit Abſicht und teuf⸗ 
liſcher Ausdauer zu Krüppeln macht, um mit ihnen zu 
betteln oder ſie gegen Geld an Bettler zu verborgen, was 
iſt da wohl richtiger, eine zeitweilige Einſperrung nach 
allen Regeln und allen Errungenſchaften des Strafvoll⸗ 
zugs oder eine Gefängnisſtrafe mit kräftigen Hieben? Wer 
als Menſch ſündigt, mag menſchlich beſtraft werden; für 
die Unmenſchen aber müßte neben dem Kerker auch der 
Stock vorhanden ſein! Das iſt die Meinung eines 
Mannes, der jeden nützlichen Käfer von der Straße auf⸗ 
hebt und dahin ſetzt, wo er nicht zertreten wird, eines 
Weltläufers, der überall, wohin er ſeinen Fuß ſetzt, 
bedacht iſt für den Nachruf: „er war ein guter Menſch“, 
und endlich eines Schriftſtellers, der ſeine Werke nur in 
der Abſicht ſchreibt, ein Prediger der ewigen Liebe zu ſein 
und das Ebenbild Gottes im Menſchen nachzuweiſen! 

Alſo Prügel für die Tramps! Ich geſtehe, daß es 
mir widerſtrebte, zumal ich Partei war; aber es gab 
nichts anderes, und ſie hatten ſie verdient. 

Winnetou mochte meine Gedanken und Bedenken er⸗ 
raten, denn er fragte mich, indem ein ſehr energiſches, 
faſt hartes Lächeln um ſeine Lippen ſpielte: 

„Will mein Bruder ihnen etwa verzeihen?“ 

„Nein,“ antwortete ich. „Wir würden ſie dadurch 
nur in ihrer Schlechtigkeit beſtärken. Aber welche N 
ſollen ſie bekommen?“ 

„Den Stock! Howgh!“ 


— 343 — 


Wenn er Hoogh ſagte, war es abgemacht; da gab 
es keine Widerrede von Erfolg. Treskow fiel augenblick⸗ 
lich zuſtimmend ein: 

„Ja, den Stock! Der iſt es, den ſie brauchen; alles 
andere würde unnütz oder gar ſchädlich ſein. Nicht wahr, 
Mr. Hammerdull?“ | 

„Juamohl, hauen wir fie!” antwortete der Dicke. 
„Und Hoſea und Joel, die Brüder mit den frommen 
Namen, die müſſen zuerſt drankommen. Sie ſollen Hiebe 
anſtatt des Geldes erhalten, über das ſie gelacht haben. 
Oder nimmſt du dich deiner Vettern an, Pitt Holbers, 
altes Coon?“ 

„Fällt mir nicht ein!“ antwortete der Lange. 


„Ja, wir werden ihnen die Verwandtſchaft mit dir 
in das Regiſter ſchreiben, in dem es keine Blätter umzu⸗ 
wenden gibt, und zwar ſo dick und blau, daß ſie es nicht 
etwa wegradieren können! Howgh!“ 

Wir mußten über ſeine Begeiſterung ebenſo wie über 
ſeine Ausdrucksweiſe lachen. Die andern waren auch ein⸗ 
verſtanden, und nur der Oſage ſagte: 

„Matto Schahko bittet, ſchweigen zu dürfen.“ 

„Warum?“ fragte ich. 

„Weil er auch euer Feind geweſen iſt und euch nach 
dem Leben getrachtet hat.“ 

„Aber jetzt biſt du unſer Freund und von den 
Tramps auch überfallen und beraubt worden. Deine 
Abſicht, die du überhaupt nicht ausgeführt haſt, faßteſt du 
als Häuptling deines Stammes, als Krieger; ſie aber ſind 
ehrloſe und verworfene, von der Geſellſchaft ausgeſtoßene 
Subjekte, die nur noch ein einziges Gefühl beſitzen, das 
für die Prügel nämlich.“ 

„Wenn Old Shatterhand in dieſer Weiſe ſpricht, fol 


— 344 — . 


er auch meine Meinung hören: Man bereite ihnen 
dieſes Gefühl vom Erſten bis zum Letzten!“ 

„Schön! Alle einverſtanden!“ rief Hammerdull. 
„Komm, lieber Pitt, wir wollen Flöten ſchneiden, N 
die Muſik beginnen kann!“ 


Die beiden ſtanden auf und entfernten ſich, um 
geeignete Schößlinge auszuſuchen. Wir hatten nicht ſo 
laut geſprochen, daß die Tramps uns verſtehen konnten; 
als ſie jetzt merkten, daß unſere Beratung zu Ende ſei, 
erkundigte ſich Redy in einer ſeiner Lage keineswegs an⸗ 
gemeſſenen Weiſe: 

„Nun, wie ſteht's? Wann bindet ihr uns [089% 

„Wenn es uns beliebt,“ antwortete Treskow. „Einſt⸗ 
weilen aber beliebt es uns noch nicht.“ 

„, Wie lange ſollen wir da noch liegen N Wir 
wollen fort!“ 

„Was ihr wollt, geht uns nichts an. Heut geht es 
wohl nach unſerm Willen!“ 

„Wir ſind freie Weſtmänner; merkt euch das! Wenn 
ihr das etwa nicht berückſichtigen wollt, 8 ihr es 
noch einmal mit uns zu tun!“ 


„Schurke! Willſt du dich heut noch lächerlicher als 
geſtern machen, wo du dich aufſpielteſt, als ob wir Hunde 
wären, die du an der Leine nur ſo nach Belieben herum⸗ 
ſchleppen dürfteſt! Hat es dir denn nicht in deinem 
Schädel gedämmert, daß wir ſchon eine Stunde nach 
eurem Ueberfall die Zeit und den Ort unſerer Be⸗ 
freiung kannten? Der „ſtinkige Hund, wie du Kolma 
Puſchi nannteſt, begegnete uns nur aus kluger Be⸗ 
rechnung. Er wollte ſich überzeugen, daß wir euch 
wirklich nach der Falle führten, in der wir euch Gimpel 
fangen wollten. Daß du das alles nicht bemerkt oder 


— 345 — 

erraten haſt, läßt dich als Ausbund der erbarmungs⸗ 
würdigſten Blödigkeit erſcheinen. Und nun fällt es dir 
gar noch ein, uns zu drohen! Ihr armſeligen Geſchöpfe! 
Die Pfeifen werden ſchon geſchnitten, nach denen ihr bald 
tanzen oder ſingen ſollt! Und da ihr jedenfalls in eurer 
Dummheit auch nicht wißt, was ich mit dieſen Worten 
meine, ſo will ich es euch deutlicher und ohne Gleichnis 
ſagen: Es werden Stöcke abgeſchnitten; denn ihr ſollt 
Prügel bekommen, köſtliche Prügel, ſo lange Prügel, bis 
ihr aus eurer Blödſinnigkeit herausgehauen ſeid. So; 
nun wißt ihr, was geſchehen ſoll!“ 

Dieſe lange Rede des zornbegeiſterten Juriſten 
brachte eine Wirkung hervor, die jeder Beſchreibung 
ſpottet; ich halte es überhaupt für gemütlicher, über die 
nächſte, für die Tramps äußerſt ungemütliche Stunde 
ſo ſchnell wie möglich hinwegzugehen. Dick Hammerdull 
nahm ſich der Sache mit ſolcher Anſtrengung und Hin⸗ 
gebung an, daß er am Ende der geräuſchvollen Handlung 
buchſtäblich im Schweiß ſtand, und auch Pitt Holbers ent- 
wickelte in der Handhabung der ſchmerzerweckenden 
„Pfeifen“ eine Fertigkeit, die er ſich bisher wohl ſelbſt 
nicht zugetraut hatte. 

Der äußere Zuſtand der Tramps war infolge dieſer 
großartigen Tätigkeit der beiden „verkehrten Toaſts“ ein 
etwas zerzauſter, ihr innerer aber nur mit dem land⸗ 
läufigen Ausdruck „Rache kochend“ zu bezeichnen. Wir 
kehrten uns nicht daran. Old Wabble war von den 
Stöcken verſchont geblieben, was er freilich nur mir allein 
zu verdanken hatte. Ich wollte den alten, ſchon ſo ver⸗ 
letzten Mann nicht auch noch ſchlagen laſſen. Er wußte 
es mir aber keinen Dank, ſondern ſchimpfte mit den 
Tramps um die Wette. Thibaut hatte den ſcheinbar 
unbeteiligten Zuſchauer gemacht, doch hätte ihm ein Teil 


— 846 — 


Prügel auch nichts ſchaden können. Ich hob mir dieſen 
Mann für ſpäter auf. Er mußte mir ganz ſicher kommen. 

Als wir nun an den Aufbruch dachten, bat mich 
Apanatſchka, die Squaw doch heute mitzunehmen, da wir 
nicht mehr gefangen ſeien und nur von Tibo taka eine 
Einrede zu erwarten hätten. Es gelang mir nur ſchwer, 
ihn von dieſem Wunſch abzubringen; die Frau konnte 
uns nur hinderlich ſein, und da wir den Reiſeweg ihres 
Mannes kannten, hatten wir die Sicherheit, ihr bald 
wieder zu begegnen. Dieſe Erwägung beſtimmte auch 
Matto Schahko, den Medizinmann vorerſt noch Ei, 
zu laſſen. 

Wir befanden uns wieder vollſtändig im Beſitz 
unſers Eigentums. Keinem fehlte der geringſte Gegen⸗ 
ſtand. Der Gerechtigkeit war, ſoweit die Umſtände es 
geſtatteten, Genüge geſchehen, und ſo ſchieden wir befrie⸗ 
digt von dem Spring, der uns in ganz anderer Weiſe 
hatte kommen ſehen. Weniger befriedigt waren die Leute, 
die wir da zurückließen. Wir ließen ſie in ihren Feſſeln 
liegen; ſie mochten ſich ihrer nach unſerer Entfernung 
entledigen, wie ſie konnten. Herzlich waren die Wünſche 
keineswegs, die ſie uns hören ließen. Old Wabble drohte 
mir trotz ſeines gebrochenen Arms noch zu allerletzt mit 
Rache und Tod. Wenn es mir nicht ſchon vorher 
bewußt geweſen wäre, hätte ich jetzt einſehen müſſen, daß 
jede menſchliche Regung für ihn Verſchwendung ſei. Er 
war ſo hart geſotten, daß er unmöglich, wenn auch nur 
für einen einzigen Augenblick, wieder weich werden 
konnte. Ich hätte nie geglaubt, daß es einen ſolchen 
Menſchen geben könne! 

Ehe wir aufſtiegen, verſuchte Apanatſchka, von der 
Frau, die draußen bei den Pferden ſtand, ein Wort des 
Abſchieds zu erlangen, doch vergeblich. Sie kannte ihn 


— 847 — 


nicht und wich vor ihm zurück, als ob er ein ihr feind⸗ 
liches Weſen ſei. Erſt dann, als wir uns in Bewegung 
“festen, ſchien fie aufmerkſam zu werden. Sie kam uns 
eine ganze Strecke nachgelaufen, nahm den grünen Zweig 
vom Kopf und rief, ibn fortwährend ſchwenkend: 
„Das iſt mein Myrtle⸗wreath; das iſt mein Myrtle 
wreath!“ — — 


| Siebentes Kapitel 
Ein Zyklopenkampf 


Wir waren durch den geſtrigen Ritt von dem Camp 
nach dem Spring weit von unſrer Richtung abgekommen 
und mußten, um dieſen Umweg möglichſt gut zu machen, 
jetzt dahin reiten, wohin wir ſonſt nicht gekommen wären 
und wohin wir die nur in unſrer Phantaſie beſtehende 
Bonanza verlegt hatten, nämlich nach dem Squirrel⸗ 
Creek. Als Dick Hammerdull das hörte, zog er erſt ein 
ernſthaftes Geſicht, lachte dann aber und ſagte: 

„Hoffentlich werden ſie nicht ſo albern ſein!“ 

„Wer?“ fragte Treskow, der neben ihm ritt. 

„Die Tramps.“ 

„Wieſo albern?“ 

„Daß ſie uns nach dieſem Ereek nachkommen!“ 

„Da verdienten ſie noch mehr Prügel, als ſie ſchon 
bekommen haben! Sie müſſen doch einſehen, daß es dieſe 
Bonanza gar nicht gibt.“ 

„Einſehen? Ich ſage Euch, Mr. Treskow, wer ſolche 
Pudel ſchießt, wie die geſchoſſen haben, bei dem kann von 
Einſicht keine Rede ſein. Ich wette, ſie nehmen dieſes 
unſer falſches Geld noch jetzt für echte Münze!“ 


„Wenn Ihr da recht habt, werden ſie uns freilich 


nachkommen, und da können wir uns nur in acht nehmen, 
daß ie uns nicht ausfindig machen.“ 

„Bin genau derſelben Anſicht. Ihr jedenfalls auch, 
Mr. Shatterhand?“ 


1 
4 


— 349 — 


„Ja,“ antwortete ich. „Sie haben ſogar zwei Gründe, 
uns zu folgen.“ 

„Zwei? Ich weiß nur einen, nämlich die Bonanza. 
Ihr nehmt wohl auch an, daß ſie noch heut an das Daſein 
dieſes Placer glauben?“ 

„Ja. Dieſe Menſchen halten ſich trotz aller ihrer 
Dummheit für ſehr klug, und da wir ſie nicht noch beſon⸗ 
ders darüber ausgelacht haben, daß ſie dieſer Täuſchung 
Glauben ſchenkten, ſind ſie noch vollſtändig überzeugt, daß 
die Bonanza wirklich beſteht.“ 

„Aus dieſem Grunde werden ſie uns alſo folgen. 
Und der zweite Grund?“ 

„Die Rache natürlich.“ 

„Ja, richtig. Es wird in ihnen wie in Siedetöpfen 
kochen; daran hatte ich nicht gedacht. Sie werden ſich 
darum mit aller Macht auf unſre Fährte legen und ſich 
alle Mühe geben, uns einzuholen.“ 

Wù Was ihnen aber nicht gelingen wird! Denn erstens 
haben wir beſſere Pferde als ſie. Und zweitens wird eine 
geraume Zeit vergehen, ehe ſie vom Spring aufbrechen 
können.“ 

„Ja, es wiyd lange dauern, ehe es einem von ihnen 
gelingt, ſich von den Riemen zu befreien und auch die 
andern loszumachen.“ 

„Auf die Squaw, die allerdings nicht gefeſſelt iſt, 
können ſie ſich da nicht verlaſſen. Wenn ſie die auffordern, 
ſie loszubinden, ſchüttelt ſie den Kopf und geht weiter. 
Und dann, wenn ſie frei ſind und ſich auf die Pferde 
ſetzen! Hm!“ 

Hammerdull verſtand dieſes Hm! Er ergänzte mich 
in ausführlicherer Weiſe: 

„Dann geht es auch nicht fo ſchnell, wie fie es loohl 
wünſchen werden. Sie werden grad da, wo der Reiter 


— 350 — 


es am wenigſten ſein darf, durch die Prügel höchſt 
empfindlich geworden ſein. Wenigſtens wünſche ich von 
Herzen, daß es ſo iſt. Du nicht auch, Pitt En altes 
Coon?“ 

Der Gefragte antwortete: 

„Wenn du denkſt, lieber Dick, daß ſie in der = 
treffenden Gegend gemütvoller geworden find, jo habe ich 
nichts dagegen. Ich denke, dir würde es auch nicht viel 
anders ergehen.“ 

„Pfui! Ich würde mich niemals prügeln laſſen!“ 

„Wenn ſie dich erwiſchten, ſo bin ich überzeugt, daß 
ſie dich ebenſo durchhauen würden, wie ſie von dir 
geprügelt worden ſind.“ 

„Ob ich durchgehauen würde oder nicht, das bleibt 
ſich gleich, denn es verſteht ſich doch von ſelbſt, daß 
ſie es im Leben nicht fertig bringen, mich zu erwiſchen.“ 

„Pshaw! Sie hatten dich doch ſchon!“ 


„Halte den Schnabel, und ärgere mich nicht ſo un⸗ 


nötigerweiſe! Du weißt, ich habe in dieſer Beziehung 
ſchwache Nerven!“ 

„Ja; ſo dick wie Kabeltaue!“ 

„Haben ſie etwa mich allein erwiſcht? Doch uns 
alle! Mußt du da mir die Vorwürfe machen, alter Gries⸗ 
gram, du? Das ſollte ihnen noch einmal gelingen! Die 
reine, blaue Unmöglichkeit!“ 

„Nimm dich in acht! Der Froſch, der am lauteſten 
quakt, wird zu allererſt vom Storch gefreſſen. Das ijt 
eine alte, wahre Geſchichte.“ 

„Ich, ein Froſch? Hat es ſchon einmal ſo eine 
Majeſtätsbeleidigung gegeben?! Dick Hammerdull, der 
Inbegriff alles Erhabenen, alles Schönen und Schlanken, 
wird mit einem Froſch verglichen! Was gibt es nur 
gleich für ein Amphibium oder Inſekt, mit dem du zu 


x . v — . er . 
ET 1 * ‘, 


— 351 — 


vergleichen biſt, altes Heupferd? Ja, Heupferd; das iſt 
das Richtige! Biſt du nun zufrieden, lieber Pitt?“ 

„Yes! Ein Heupferd iſt, gegen den Froſch gehalten, 
ein edles Tier!“ 

„Möchte wiſſen, wo da der Adel ſtecken fol! Uebri⸗ 
gens iſt weder von Fröſchen noch von Heupferden, ſon⸗ 
dern von den Tramps die Rede geweſen, die auf der 
zoologiſchen Leiter allerdings auch keine höhere Sproſſe 
inne haben. Sie werden, wie wir alle denken, hinter uns 
her nach dem Squirrel⸗Creek reiten wollen; aber ob hie 
ihn finden, Mr. Shatterhand?“ 

„Sicher!“ 

„Sie wiſſen aber doch nicht, wo er liegt!“ 

„Sie haben unſere Fährte.“ 

„Ich traue ihnen nicht zu, gute Fährtenleſer zu kein.“ . 

„Ich auch nicht; aber wir kommen heut den ganzen 
Tag nur über Prärieland und werden eine Fährte machen, 
die man noch morgen deutlich ſehen kann. Außerdem ver⸗ 
mute ich, daß einer bei ihnen iſt, der den Weg nach dem 
Squirrel⸗Creek kennt.“ 

„Wer iſt das?“ 

„Der weiße Medizinmann.“ 

„Tibo taka? Woher ſollte dieſer unechte Komantſche 
ihn kennen?“ | 

„Er iſt früher, ehe er zu den Komantſchen kam, hier 
in dieſer Gegend geweſen. Ob er ſich gerade auf dieſen 
Creek beſinnen wird, das kann ich nicht wiſſen, aber es iſt 
doch anzunehmen, daß er wenigſtens deſſen ungefähre Lage 
kennt.“ 

„Well! Aber ob er ſich den Tramps anſchließen 


wird? Er hat ſich doch mit Old Wabble entzweit, geſtern 


auf der Prärie!“ 
„Aber heut wieder mit ihm vereinigt! Und wenn 


— 552 — 


dies nicht ſo wäre, ſo betrachtet er. uns genau ebenſo als 
ſeine Feinde, wie die Tramps uns als die ihrigen an⸗ 
ſehen; es liegt alſo nichts näher, als daß er ſich mit ihnen 
vereinigt, uns zu folgen.“ 

„Aber ob ſie ihn mitnehmen werden?“ 

„Ohne Zweifel! Uebrigens macht er keinen Umweg, 
wenn er mit ihnen reitet, weil er auch nach dem Park 
von San Luis will.“ 

„So bekommen wir ihn wohl da oben zu ſehen?“ 

„Mehr, als ihm lieb ſein wird!“ 

„Well, ſo bin ich befriedigt! Der Kerl hat ein ſolches 
Ohrfeigengeſicht, daß ich mich auf das Wiederſehen herz⸗ 
lich freue. Ich werde ihm mit den Fäuſten ſo in dieſem 
Geſicht herumlaufen, daß meine Fährte noch jahrelang zu 
leſen ſein wird!“ 

Unſer Weg führte, wie ſchon geſagt, fortgeſetzt über 
ein langſam aber ſtetig anſteigendes Savannenland. 
Während wir am Vormittag das Gebirge wie eine un⸗ 
unterbrochene, verſchleierte Mauer in der Ferne liegen 
ſahen, rückten wir den Bergen während unſers ſchnellen 
Rittes immer näher; die Schleier fielen, und am Nach⸗ 
mittag waren uns die den eigentlichen Rocky⸗Mountains 
vorgeſchobenen Sandrieſen ſo nahe gerückt, daß wir die 
zwiſchen dichten Wäldern lachsgelb hervorſchimmernden 
nackten Felſenmaſſen klar und deutlich erkennen konnten. 

Es dunkelte bereits, als wir den Squirrel⸗Creek er⸗ 
reichten, und zwar an einer Stelle, die uns von früher her 
bekannt war, ſo daß wir nicht lange nach einem geeig⸗ 
neten Lagerplatz zu ſuchen brauchten. 

Ich hatte mit Winnetou ſchon zweimal eine Nacht 
hier zugebracht, die Umgebung des Ortes war uns alſo 
wohlbekannt. Wir hätten ſie zu unſrer Sicherheit auch 
heut gern abgeſucht, doch war es ſchon zu dunkel dazu. 


Wir ergaben uns dem Zwang zu diefer Unterlaſſungs⸗ 
ſünde ohne großes Widerſtreben; denn wir hatten ſchon 
damals kein Zeichen davon entdeckt, daß jemals ein 
menſchlicher Fuß hierhergekommen ſei, und auch jetzt 
war der Lauf des Squirrel⸗Creek im allgemeinen noch fo 
unbekannt, daß es keinen Grund gab, anzunehmen, grad 
heut und grad hier könne ſich eine uns feindliche Perſon 
aufhalten. 

Der Creek machte einen kurzen engen Bogen und 
ſchloß eine rings von Felſen umgebene Lichtung ein, auf 
der wir ein mehr glimmendes als loderndes Feuer nach 
Indianerart anzündeten. Das gegenüberliegende Ufer war 
mit dichtem Gebüſch bedeckt, das ſich jenſeits wieder in 
eine Prärie verlor. Zu eſſen hatten wir genug, weil wir 
nicht nur unſern Mundvorrat, ſondern auch den der 
Tramps mitgenommen und ihnen gar nichts davon 
gelaſſen hatten. Sie ſollten durch die Jagd aufgehalten 
werden. 

Während des Eſſens lachte Hammerdull einmal laut 
auf und ſagte dann: 

„Meſch'ſchurs, ſoeben kommt mir ein außerordentlich 
guter Gedanke!“ 

„Dir?“ fragte Holbers. „Welche Seltenheit!” 

„Haſt du nicht gleich wieder deine Hand im Reis⸗ 
pudding?! Wenn die guten Gedanken bei mir ſo ſelten 
wären, wie du glauben machen willſt, würdeſt du doch 
ſelbſt der Blamierte ſein!“ 

„Wieſo?“ 

„Wäre es etwa keine Blamage, daß du, der Aus 
bund aller Klugheit und Pfiffigkeit, mit einem ſo dummen 
Menſchen reiteſt?“ 

„Ich tue das nur aus Mitleid; da blamiere ic 
mich nicht.“ 


Ray, Did Surebenb. II. 28 


— 354 — 


„Höre, das Mitleid iſt ganz nur auf meiner Seite! 
Wenn du das nicht anerkennſt, ſo laſſe ich dich einfach 
ſitzen l“ 

„Ja; du läſſeſt mich ſitzen und ſetzeſt dich mit her zu 
mir! Aber ſag', alter Dick, welchen Gedanken haſt du 
denn gemeint?“ 

„Ich will die Tramps ärgern.“ 

„Das iſt unnötig. Die ärgern ſich ſchon jetzt mehr 
als genug.“ | 

„Noch lange nicht genug! Meint Ihr nicht, Meſch⸗ 
ſchurs, daß ſie annehmen werden, wir ſeien gleich nach 
der Bonanza geritten?“ 

„Das iſt möglich,“ antwortete Treskow. 

„Nicht nur möglich, ſondern ganz ſicher iſt's! Sie 
werden denken, wir ſuchen die Stelle ſofort auf, um den 
Fundort ſo zu verſtecken und unkenntlich zu machen, daß 
er nicht zu entdecken iſt. Da müſſen wir uns einen großen 
Spaß mit ihnen machen.“ 

„Welchen? | 

„Wir ſcharren hier irgend eine Stelle auf und decken 
fie dann in der Weiſe wieder zu, daß ſie leicht zu er⸗ 
kennen iſt und jedermann gleich ſehen muß, daß wir hier 
gegraben haben. Sie werden die Stelle für die Bonanza 
halten und ſich mit größtem Eifer daran machen, nach⸗ 
zuwühlen.“ 

„Well! Dann finden ſie nichts!“ nickte Treskow. 

„So meine ich es nicht. Wenn ſie bloß nichts finden, 
ſo iſt das auch nichts andres, als wenn ſie ſonſt irgendwo 
am Creek vergeblich ſuchen. Sie würden nur enttäuſcht 
ſein; ich will ſie aber ärgern, tüchtig ärgern. — Sie ſollen 
etwas finden!“ 

„Etwa Gold?“ 


— 355 — 


„Pshaw! Und wenn ich im Gold bis über die Ohren 
ſteckte, dieſe Kerls ließe ich kein Körnchen finden, felbft 
zum Spaß nicht. Sie ſollen etwas andres finden, nämlich 
einen Zettel, einen ſchönen Zettel.“ 

„Einen beſchriebenen?“ 

„Natürlich! Eben das, was darauf ſteht, ſoll ſie 
rieſig ärgern.“ 

„Dieſer Gedanke iſt freilich nicht übel!“ 

„Ob er übel iſt oder nicht, das bleibt ſich gleich, 
wenn es ihnen nur übel dabei wird. Was meinſt du 
dazu, Pitt Holbers, altes Coon?“ 

„Sm, ich meine, daß die Sache ein ganz guter Spaß 
iſt, den wir uns wohl machen können.“ 

„Nicht wahr, alter, lieber Freund!“ ſagte der Dicke 
in ſeinem ſüßeſten Ton, weil dieſe Zuſtimmung ihn er⸗ 
freute. „Du biſt wirklich zuweilen nicht ganz ſo dumm, 
wie du ausſiehſt!“ 

„Ja, das iſt eben der große Unterſchied zwiſchen mir 
und dir.“ | 

„Unterſchied? Wieſo?“ 

„Ich bin nicht ſo dumm, wie ich ausſehe, und du 
ſiehſt geſcheiter aus, als du biſt.“ 

„Alle Wetter! Bring mich nicht ſchon wieder in 
Wut! Reize mich nicht, ſonſt ſage ich, was ich von dir 
denke und das könnte dich beleidigen!“ 

„Well! Ich will dich ebenfalls ſchonen. Was aber 
den Zettel betrifft, den die Tramps finden ſollen, wo 
willſt du ihn hernehmen? In der Prärie wächſt kein 
Papier.“ N 

„Ich weiß, daß Mr. Shatterhand eine Brieftaſche 
hat. Er wird mir ein Blatt daraus geben, damit ich 
meinen köſtlichen Gedanken ausführen kann. Nicht wahr, 
Mr. Shatterhand?“ 


„Es fragt ſich, ob ich dieſen Gedanken auch für köſt⸗ 
lich halte,“ antwortete ich. 

„Iſt er es etwa nicht?” 

„Rein. Erſtens iſt es noch gar nicht fo zweifel⸗ 
los ſicher, daß die Tramps grad hierher kommen. Sie 
können durch irgend einen e Umſtand 
abgelenkt werden.“ 

„Und zweitens?“ 

„Zweitens wären ſie überdumm, wenn ſie an⸗ 
nähmen, daß wir geradewegs nach der Bonanza geritten 
ſeien. Wenn es hier wirklich eine gäbe, müßten wir ſie 
eher meiden als auffuchen.” 

„Oh, ſich das zu denken, dazu ſind dieſe Kerls nicht 
klug genug.“ 

„Und wenn es ſo iſt und ſo wird, wie Ihr denkt, 
was haben wir davon? Wir ſind doch nicht dabei, wenn 
ſie den Zettel finden.“ 

„Das iſt auch nicht nötig. Ich male a, in 
Gedanken ihre Geſichter aus, daß ich fie genau fo Iche, 
als ob ich dabei wäre.“ 

„Was ſoll denn auf dem Zettel ſtehen?“ 

„Das beraten wir. Es muß ſo ſein, daß ſie vor 
Aerger platzen!“ 

Er war für ſeinen Gedanken ganz Feuer und 
Flamme und bat mich ſo lange, bis ich ein Blatt aus 
meinem Merkbuch riß und es ihm mit dem Bleiſtift gab. 
Nun ſollte vor allen Dingen beraten werden, was. darauf 
zu ſchreiben ſei. Ich wurde darum angegangen, die 
Inſchrift zu verfaſſen, gab mich aber weder dazu noch zur 
Mitarbeiterſchaft her; Treskow und die drei Häuptlinge 
folgten meinem Beiſpiel, und ſo blieben für die große 
literariſche Arbeit nur Hammerdull und Holbers übrig. 
Dieſer meinte: | 5 


— 357 — 


„Du, ſchreiben kann ich nicht gut; das mußt du 
machen.“ 

„Fm!“ brummte der Dicke. „Ich habe es gelernt, 
aber es hat einen großen Haken.“ 

„Welchen denn?“ 

„Ich kann nicht leſen, was ich geſchrieben babe. 

„Aber andre können es?“ 

„Andre erſt recht nicht!“ 

„Da ſitzen wir freilich im Pfeffer! Na, wenn die 
Gentlemen hier die Schrift nicht mit ausſinnen wollen, 
ſo wird wohl einer von ihnen wenigſtens ſo gut ſein, ſie 
auf das Papier zu bringen?“ 

Nach einigen Fragen und Bitten gab ſich Treskow 
dazu her. 

„Well; ſo kann es losgehen!“ ſagte Hammerdull. 
„Fang an, Pitt!“ 

„Ja,“ antwortete dieſer; „die leichten Sachen über⸗ 
nimmſt du ſtets; aber wenn es einmal etwas recht 
Schwieriges gibt, da bin allemal ich es, der anfangen ſoll! 

Fang lieber ſelber an!“ 
| „Du wirſt doch dichten können!“ 

„Na, was das betrifft, das kann ich ſchon! Du aber 
auch?“ 

„Mit Vergnügen! Im Dichten bin ich ein aus⸗ 
gezeichneter Kerl.“ 

Unter „dichten“ verſtanden ſie nach Art vieler 
Analphabeten nur die Anfertigung eines Schreibens über⸗ 
haupt. Treskow, der das wohl wußte und ſich einen 
Spaß machen wollte, bemerkte: 

„Dichten? Wißt ihr denn auch, daß ſich die Zeilen 
da reimen müſſen?“ 

„Reimen?“ fragte Hammerdull, indem er vor Er⸗ 
ſtaunen den Mund weit öffnete. „Tauſend Donner! 


— 558 — 


Daran habe ich ja gar nicht gedacht. Alſo reimen, reimen 
muß ſich die Geſchichte?“ 

„Natürlich!“ 5 

„Wie denn zum Beiſpiel?“ 

„Schmerz und Herz, Meer und leer, Geld und Welt, 
ſo ungefähr.“ 

Es wurde engliſch geſprochen; alſo entnahm er ſeine 
Reime nicht der deutſchen, ſondern der engliſchen Sprache. 
Ich muß, da ich deutſch ſchreibe, andere Worte angeben, 
bringe aber ſolche, die ganz derſelben Art ſind, wie die⸗ 
jenigen, die Hammerdull nun wählte. Er nickte nämlich 
ſehr eifrig mit dem Kopf und ſagte: 

„Wenn es weiter nichts iſt! Das kann ich auch! Da 
will ich zum Beiſpiel ſagen: Hund und Schund, Klaps 
und Schnaps, Speck und Dreck, Pantoffel und Kartoffel. 
Das geht doch wunderbar! Wie ſteht es denn da mit 
dir, lieber Pitt? Kannſt du das auch?“ 5 

„Warum nicht? So ein Kerl, wie ich bin!“ ant⸗ 
wortete der Lange. 

„So ſag auch mal was!“ 

„Sofort! Alſo, jetzt geht es los: Brei und Ei, Rumpf 
und Strumpf, Menſch und — — und — — Menſch und 
— — — und — — — und — — —” 

„Du, zum Menſchen ſcheint es nichts zu geben; ich 
finde auch nichts. Sag da lieber etwas andres!“ 

„Schön! Alſo: Paul und Maul, Knabe und 
Schwabe, Tinte und Flinte, Guſtel und Puſtel, Kuh und 
du — — 

Da fiel der Dicke raſch ein: 

„Hör auf; hör auf! Wenn du mich mit einer Kuh 
zuſammendichteſt, was ſoll da für ein Reim daraus wer⸗ 
den! Aber ich höre ſchon, daß es gehen wird. Fangen 
wir alſo gleich miteinander an!“ 


— 859 — 


„Gleich miteinander? Nein! Wer ſich den Gedanken 
mit dem Zettel ausgeſonnen hat, der muß anfangen, und 
das biſt doch du!“ 

„Well! Da mag es losgehen!“ 

Er rückte höchſt unternehmend hin und her und be⸗ 
mühte ſich, ſeinem Geſicht einen möglichſt geiſtreichen 
Ausdruck zu geben, erreichte aber gerade das Gegenteil 
davon. Die Arbeit begann, und was für eine! 

Ich habe Holzhacker, Eiſengießer, Laſtträger, Schiffe 
feuerleute, Keſſelſchmiede und dergleichen im Schweiße 
ihres Angeſichts arbeiten ſehen; aber ihre Anſtrengung 
war ein Kinderſpiel gegen das Aufgebot aller Geiſtes⸗ 
kräfte, unter dem Hammerdull und Holbers ſich würg⸗ 
ten, einige ſich reimende Zeilen zuſammenzuſetzen. Wir 
ſahen und hörten ſtill, aber innerlich lachend, zu. 
Treskow warf zuweilen einen hilfreichen Brocken in die 
ſprachliche, dicke Suppe, und ſo kamen nach Verlauf von 
vielleicht einer Stunde unter Huſten, Räuſpern, großem 
Schweiß und Angſtgeſtöhn ſechs Zeilen zuſammen, die 
er auf das Blatt ſchrieb. Sie wörtlich wiederzugeben, iſt 
rein unmöglich; ich will ihnen hier in deutſcher Sprache 
eine möglichſt lesbare Gewandung verleihen: 


„Wie ſind die Kerle doch ſo dumm! 
Vergebens wühlen ſie herum, 
Und können weder vorn noch hinten 
Die goldene Bonanza finden, 
Die wir uns doch nur ausgedacht, 
Worüber alle Welt jetzt lacht!“ 
Dick Hammer dull. Pitt Holbers. 


Alſo auch mit der Unterſchrift der beiden Angſt⸗ und 
Qualpoeten mußte Treskow das Meiſterwerk verſehen, 
und dann machten ſie ſich an das Aufwühlen des Bodens, 
das ihnen, obgleich dieſer ſehr ſteinig war, viel leichter als 


das „Dichten“ wurde. Sie arbeiteten wohl zwei Stunden 
lang, bis ſie meinten, das ſo entſtandene Loch ſei für ihre 
Zwecke tief genug. Das Schreiben wurde hineingelegt, 
nachdem es ſo umwickelt worden war, daß es die Feuch⸗ 
tigkeit der Erde nicht anzog, und dann füllten ſie die 
Grube wieder zu. Sie ſtampften dabei die Steine und die 
Erde mit den Füßen ſo feſt wie möglich, damit die 
Tramps ſich ſehr anzuſtrengen hätten, und dachten nicht 
daran, daß ihre eigene Anſtrengung noch viel größer war 
als diejenige, die ſie dieſen Leuten bereiteten. 

Daß dieſes Graben, Treten, Werfen und Stampfen 
nicht ohne Geräuſch abging, läßt ſich denken. Wäre die 
Gegend, in der wir uns befanden, nicht ſo abgelegen und 
überaus ſelten beſucht geweſen, ſo hätten wir den kindiſchen 
Scherz gar nicht geduldet. Die Genugtuung, die Hammer⸗ 
dull ſchon im voraus empfand, ſollte ihm gegönnt werden; 
aber es gab einen, der ſie bezahlen mußte, und dieſer eine 
war, leider und nicht zu meinem Vergnügen, ich! 

Das Loch war gefüllt; wir ſaßen rund um das Feuer 
und unterhielten uns nach alter Gewohnheit nur in halb⸗ 
lautem Ton miteinander. Da ſah ich, daß Winnetou ſeine 
Silberbüchſe beim Schloß ergriff und langſam und mög⸗ 
lichſt unauffällig an ſich nahm. Zugleich zog er den rechten 
Fuß an, ſo daß ſich das Knie hob. Es war kein Zweifel, 
er wollte ſchießen, und zwar galt es einen Knieſchuß, den 
ſchwerſten, den es gibt; ich habe ihn ſchon oft beſchrieben. 
Das Geſicht des Apatſchen war nach dem Waſſer gerichtet. 
Er mußte jenſeits im Gebüſch einen Menſchen entdeckt 
haben, den er mit ſeiner Kugel treffen wollte. 

Der Knieſchuß wird nur in ganz beſtimmten Fällen 
angewendet. Man entdeckt einen Feind, von dem man 
aus einem Verſteck heraus beobachtet wird; man muß, 
um ſich ſelbſt zu retten, ihn töten. Nimmt man das 


— 381 — 


Gewehr hoch, um zu zielen, ſo ſieht er das, iſt gewarnt 
und verſchwindet. Um dies zu vermeiden, wird der Knie⸗ 
ſchuß gewählt, ſo genannt, weil dabei das Knie den Ziel⸗ 
punkt angibt. Man zieht nämlich den Unterſchenkel ſo 
weit an ſich, bis der Oberſchenkel genau ſo liegt, daß 
ſeine Verlängerungslinie über das Knie hinaus die Stelle 
berühren würde, die man treffen will. Dann greift man 
zum Gewehr, was nicht auffallen kann, weil es jeder 
gute und erfahrene Weſtmann ſtets neben ſich liegen hat. 
Jeden Anſchein vermeidend, als ob man ſchießen wolle, 
ſpannt man mit dem rechten Daumen den Hahn, legt 
den Zeigefinger an den Drücker, hebt, natürlich immer 
nur mit der einen, rechten Hand, den Lauf empor 
und legt ihn feſt an den Oberſchenkel, genau in die 
beſchriebene Richtungslinie. Der Lauſcher darf, ob⸗ 
gleich die Mündung nun auf ihn gerichtet iſt, auch 
jetzt noch nicht ahnen, daß man auf ihn ſchießen will; 
er muß durch Finten getäuſcht werden: Man ſenkt die 
Augenlider, ſo daß er nicht merkt, wohin man ſieht; das 
Zielen iſt dabei freilich ſchwer, weil es nicht mit offnem 
Blick, ſondern durch die Wimperhaare hindurch geſchieht, 
und weil man das andre Auge nicht ſchließen darf, um 
keinen Verdacht zu erwecken; man bewegt den rechten 
Arm; man dreht den Kopf hin und her; man unterhält 
ſich lebhaft mit den Kameraden; kurz man tut alles, um 
bei dem Lauſcher die Erkenntnis zu vermeiden, daß man 
ihn entdeckt habe und auf ihn ſchießen wolle. Hat nun 
der Lauf die richtige Lage, ſo drückt man los. 

Das iſt der Knieſchuß! Er wird die Kameraden 
auf alle Fälle erſchrecken, weil man ihnen nicht hat ſagen 
dürfen, was man vorhat; ſie würden durch ihr Verhalten, 
ihre Geſichter, ihre Blicke, durch das plötzlich eintretende 
Schweigen den Feind mißtrauiſch machen und ihm ver⸗ 


— 8868 — 


raten, daß er geſehen worden iſt. Es iſt, wie geſagt, der 
ſchwerſte Schuß, den es gibt. Wenn tauſend Meiſter⸗ 
ſchützen ſich im Knieſchuſſe üben, ſo kann es vorkommen, 
daß nicht ein einziger von ihnen es ſoweit bringt, ſeines 
Ziels, beſonders des Abends, ſicher zu ſein. Man muß 


jahrelang unausgeſetzt üben, und doch tut es dieſe Uebung, 


dieſe Ausdauer nicht allein, man muß auch dazu geboren 
ſein. Ich habe den Knieſchuß von Winnetou gelernt und 
außer uns beiden nur wenige gekannt, denen von ihm 
eine gute Zenſur gegeben wurde. Auch ſie ſchoſſen zuweilen 
fehl; er aber, der unübertreffliche Meiſter in allen Waffen 
des wilden Weſtens, hat niemals, ſelbſt in der ſtockdunkelſten 
Nacht, einen Fehlknieſchuß getan. Ich habe es überhaupt 
nicht ein einziges Mal erlebt, daß eine ſeiner Kugeln am 
Ziel vorübergegangen iſt. | 
| Ich halte noch heut meine Waffen hoch. Mein 
Henryſtutzen und mein Bärentöter ſind meine wert⸗ 
vollſten Beſitztümer. Noch koſtbarer als ſie iſt mir 
Winnetous Silberbüchſe, die ich ſchon, als er noch 
lebte, ſtets mit einer gewiſſen heiligen Scheu betrachtet 
oder in die Hand genommen habe. Als er erſchoſſen 
worden war, haben wir ihn hoch zu Roß und mit allen 
ſeinen Waffen, alſo auch mit ihr, begraben. Einige Jahre 
ſpäter kam ich mit meinen damaligen Gefährten bei der 
. Verfolgung eines Trupps Ogellallah⸗Indianer grad dazu, 
daß die Sioux ſein Grab öffnen und berauben wollten. 
Wir vertrieben ſie nach hartem Kampf. Sie hatten es 
auf die Silberbüchſe abgeſehen. Ich konnte nicht als 
Hüter ſeines Grabes ſtets im Tal des Metſurfluſſes 
bleiben, und da zu erwarten war, daß ſich die Ent⸗ 
weihung des Grabes wiederholen werde, nahm ich die 
Silberbüchſe heraus und ſorgte dafür, daß dies überall 
bekannt wurde. Die Sioux erfuhren, daß die begraben 


2 2 — 8 


— 3883 — 


Waffe wieder auferſtanden ſei, und ließen das Grab 
nun unverſehrt. Jetzt hängt dieſes herrliche Gewehr 
neben meinem Schreibtiſch zwiſchen Sam Hawkens' alter 
„Gun“ und meinem Bärentöter, und während ich von 
ihm erzähle, habe ich es vor meinen Augen und gedenke 
in tiefer Wehmut deſſen, den es nicht ein einziges Mal 
im Stich gelaſſen hat, und der mein beſter, vielleicht 
mein einziger Freund geweſen iſt, das Wort Freund in 
ſeiner wahren, edelſten und höchſten Bedeutung genommen! 

Alſo Winnetous Geſicht war nach dem Waſſer gerichtet 
und der Lauf des Gewehrs nach dem jenſeitigen Gebüſch. 
Dort ſteckte jemand, der die Kugel bekommen ſollte. Ich 
legte mich ſofort lang nieder, griff nach dem Stutzen und 
hob mein rechtes Knie auch in die Höhe. Sofort mit Ham⸗ 
merdull ein Geſpräch anknüpfend und mich ſtellend, als ob 
meine Aufmerkſamkeit nur auf ihn gerichtet ſei, ſenkte ich 
die Augenlider halb und richtete den Blick durch die 
Wimpern hinüber nach dem Geſträuch. Eben als ich dies 
tat, kam unter einem Alderbuſch') ein Gewehrlauf zum 
Vorſchein, der auf mich zielte, und ehe ich die kurze 
Zeit fand, den Stutzen nach dieſem Punkte zu richten, 
krachte der Schuß, in demſelben Augenblick aber auch 
Winnetous Silberbüchſe. Drüben erſcholl ein Schrei; 
Winnetou hatte getroffen, und ich bekam einen Schlag, 
der mir das Bein ſtreckte, auf oder an den Oberſchenkel. 

Einen Augenblick ſpäter gab es drüben im Gebüſch 
einen praſſelnden Krach, dem ſofort die tiefſte Stille folgte. 
Der Creek war hier an dieſer Stelle gewiß dreieinhalb 
Meter breit, trotzdem war Winnetou mit einem feiner 
unvergleichlichen Sätze hinüber⸗ und mitten ins Geſträuch 
hineingeſprungen. 


Nj Aber = Grle. 


— 364 — 


Die ahnungsloſen Kameraden ſprangen auf; auch 
ich ſchnellte empor und ſtieß, während ſie eine Menge 
Fragen hervorhaſteten, mit den Füßen das brennende 
Holz auseinander, ſo daß das Feuer verlöſchte. Das tat 
ich, damit wir für weitere Schüſſe keine Ziele böten. 

Dann lauſchten wir. | 

Es verging eine lange, lange Zeit, wohl eine halbe 
Stunde. Mein Bein ſchmerzte mich, und als ich nach 
der ſchmerzenden Stelle griff, fühlte ich ſie ſtark bluten. 
Ich war verwundet. Da ertönte von drüben herüber 
Winnetous laute Stimme: 

„Laßt das Feuer wieder brennen!“ 

Ich ſchob die noch glimmenden Reſte wieder zu⸗ 
ſammen, brachte ſie durch Anblaſen zum Brennen und 
legte Dürrholz zu. Nun ſahen wir ihn drüben am Rand 
des Waſſers ſtehen. Er hatte das eine Ende ſeines Laſſo 
in der Hand; das andere war an einem neben ihm lie⸗ 
genden Menſchenkörper befeſtigt. Ohne daß er vorher 
einen Anlauf nehmen konnte, ſprang er, den Laſſo feſt⸗ 
haltend, wieder zu uns herüber und zog dann den 
bewegungsloſen Körper, der in das Waſſer fiel, nach. Ich 
half ihm dabei. Während dies geſchah, erklärte er uns: 

„Ich ſah da drüben ein Geſicht und ſchoß darauf; 
es war noch ein zweiter Mann dort, den ich nicht ſah; 
der hat auch geſchoſſen. Ich ſprang hinüber, um zu 
erfahren, ob noch mehr Menſchen da ſeien. Ich hörte 
einen fliehen und huſchte ihm nach. Jenſeits der Büſche 
waren fünf Reiter, aber ſieben Pferde; der Fliehende eilte 
hin zu ihnen und ſagte, daß er Old Shatterhand erſchoſſen 
habe, daß aber ſein Gefährte von Winnetou getötet worden 
ſei. Es waren Bleichgeſichter, ohne einen roten Mann 
dabei, denn derjenige, der nun auf das eine ledige Pferd 
ſtieg, ſprach ein reines Engliſch. Sie warteten noch eine 


S 
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SEELE. - 


— 365 — 


Zeitlang, und als der nicht kam, den Winnetou erſchoſſen 
hat, ſagte der Entflohene: Er iſt tot, ſonſt würde er 
kommen oder um Hilfe rufen. Wir müſſen fort, denn 
man wird nach uns ſuchen; aber mein Wunſch iſt erfüllt 
und meine Rache geſtillt, denn Old Shatterhand iſt tot!“ 
Winnetou erſchrak über den Tod ſeines Freundes, kroch 
zurück, dahin, wohin er gezielt hatte und fand die Leiche 
des Getroffenen. Er band ihn an den Laſſo und gebot, 
wieder Feuer zu machen. Wie freute er ſich, als er ſah, 
daß ſein Bruder Shatterhand noch lebt!“ 

„Wer mögen die Weißen geweſen fein?” fragte Tres⸗ 
kow. „Die Tramps keinesfalls, denn die können noch nicht 
hier ſein.“ 

Ich bog mich zu dem Toten nieder. Die unfehlbare 
Kugel des Apatſchen war ihm in die Stirn gegangen. 
Ich erkannte ihn ſofort: es war einer von Toby Spencers 
Rowdies. Man hatte jetzt nur auf die Leiche und auf 
Winnetou geachtet; jetzt ſah dieſer dunkelnaſſe Stellen im 
Graſe, folgte ihnen mit den Augen bis zu mir und rief 
dann erſchrocken aus: 
uff! Mein Bruder tft verwundet, alſo doch getroffen 

worden! Das Blut läuft ſtark. Iſt es gefährlich?“ 

„Ich glaube nicht,“ antwortete ich. 

„Iſt der Knochen verletzt?“ 

„Nein, denn ich kann ſtehen.“ 

„Aber es iſt eine ſeltſame Wunde. In der Lage, 
die mein Bruder hier am Boden hatte, konnte er gar 
nicht an dieſer Stelle getroffen werden!“ 

„Das habe ich mir auch ſchon geſagt. Es war ein 
Fehlſchuß. Die Kugel hat hier den Felſen getroffen und 
iſt, von ihm abprallend, mir in den Schenkel gedrungen.“ 

„Das iſt nicht gut. Prellſchüſſe verurſachen Schmer⸗ 
zen. Ich werde ſofort nach der Wunde ſehen!“ 


— 366 — 


„Lieber nicht gleich jetzt. Wir müſſen fort!“ 

„Wegen der ſechs Bleichgeſichter da drüben?“ 

„Ja. Unſer Feuer brennt wieder. Wenn ſie um⸗ 
kehren, können ſie uns mit der größten Bequemlichkeit 
auslöſchen.“ 

„Sie kommen nicht, denn die Stimme deſſen, der 
ſprach, klang ſehr ängſtlich. Die Vorſicht treibt uns den⸗ 
noch fort, vorher aber muß ich die Wunde unterſuchen; 
fie ſteht ſchon lange offen; mein Bruder muß ſchon 
viel Blut verloren haben; darum können wir es nicht 
länger hinausſchieben, ihn zu verbinden.“ 

„So mag Hammerdull recht viel Holz in das Feuer 
werfen, daß es eine hell hinüberleuchtende Flamme gibt, 
und die andern mögen mit ſchußfertigen Gewehren das 
Ufer drüben bewachen und ſofort ſchießen, wenn ein Zweig 
ſich regt!“ | 

Die Unterſuchung der Wunde hatte ein günſtig⸗ 
ungünſtiges Ergebnis: günſtig, weil das Oberſchenkelbein 
unverletzt war, und ungünſtig, weil die Wunde eine Eiter⸗ 
wunde zu werden verſprach. Die Kugel war durch die 
Weichteile bis auf den Knochen gedrungen und wurde 
von Winnetou mit dem Meſſer herausgeholt. Sie war 
einſeitig plattgedrückt und hatte mit der dadurch ent⸗ 
ſtandenen Kante, zumal ſie matt geworden war, keine 
glatte Wunde geſchlagen, ſondern das Fleiſch zerfetzt. Das 
verhieß Wundfieber, heftige Schmerzen und eine lang⸗ 
ſame Heilung. Recht unangenehm! Grad jetzt, wo jede 
Verzögerung unſers Rittes ſo bedenklich war! 

Glücklicherweiſe führte ich einige reine Tücher in 
der Satteltaſche mit. Indem mir Winnetou einen Not⸗ 
verband anlegte, ſagte er: 

„Es iſt gut, daß mein Bruder gelernt hat, Schmer⸗ 
zen nach Art der roten Krieger zu ertragen. Wenn 


— 867 — 


wir nicht in kurzer Zeit genug Tſchitutliſchi') finden, 
wird eine böſe Entzündung eintreten; finden wir aber 
genug davon und vorher auch Disbitar⸗ ntſchor, fo 
hoffe ich, du wirſt dieſe Verwundung nicht ſchwer über⸗ 
winden, weil du eine ſo kräftige Natur und ſehr geſundes 
Blut haſt. Hoffentlich kannſt du jetzt reiten?“ f 

„Natürlich! Ich habe nicht Luſt, den ſchwachen 
Patienten zu ſpielen.“ 

„So wollen wir unſrer Sicherheit wegen dieſen Ort 
verlaſſen und einen andern ſuchen. Doch nimm dich in 
acht, daß keine neue Blutung entſteht!“ 

Wir verließen die für mich ſo unangenehm gewordene 
Stelle und folgten dem Creek faſt eine Stunde lang ab⸗ 
wärts, wo wir abſtiegen und wieder ein Feuer anzündeten. 
Es wurden einige harzreiche Aeſte geſammelt, die als 
Leuchten beim Pflanzenſuchen dienen ſollten; die drei 
Indianerhäuptlinge zündeten ſie an und entfernten ſich, 
um für ihren angeſchoſſenen Freund und Bruder Shatter⸗ 
hand botaniſieren zu gehen. 

Dick Hammerdull hatte ſich neben mich geſetzt. Er 
hielt ſeine alten, guten Augen zärtlich auf mich gerichtet, 
ſtrich mir plötzlich einmal mit überquellender, beſorgter 
Zärtlichkeit über die Wange und knurrte dabei: 

2 „Verteufelte Erfindung, dieſe Schießgewehre! Be⸗ 
ſonders nn wenn die Kugeln treffen. Habt Ihr große 
Schmerzen, Mr. Shatterhand?“ 
„Gar teine jetzt,“ antwortete ich. | 
„So wollen wir hoffen, es bleibt bei dieſer Hand⸗ 
ſchuhnummer!“ 

„Das ſteht leider nicht zu erwarten. Jede Verletzung 
will ſich ausſchmerzen; eher heilt ſie nicht.“ 

„Schmerz! Ein ganz elendigliches Wort! und den⸗ 


9 Apatſchenſprache: ein Dunbkraut. ) Gin Beizkraut. 


— 3888 — 


noch möchte ich, ich könnte den Eurigen auf mich nehmen! 
Bin da wohl nicht der einzige, der ſo denkt. Nicht wahr, 
Pitt Holbers, altes Coon?“ 

„Hm,“ antwortete der Lange, „wollte lieber, ich wäre 
getroffen worden!“ 

„So! Warum haſt du dich da denn nicht dorthin 
geſetzt, wohin der Kerl geſchoſſen hat? Hinterher kannſt 
du gut aufopfernd ſein!“ 

„Bin ich allwiſſend, dicker Grobian?“ 

„Das nicht; aber wenn ich ſchon ſage, daß lieber 
ich die Schmerzen haben möchte, brauchſt du doch nicht 
auch welche zu verlangen!“ 5 

„Du haſt mich doch gefragt! Und ich habe Mr. 
Shatterhand wenigſtens ebenſo lieb wie du!“ 

„Ob ich ihn lieb habe, oder ob du ihn lieb haſt, das 
bleibt ſich gleich, wenn wir ihn nur beide lieb haben; ver⸗ 
ſtanden?! Wenn ich den Kerl erwiſche, der da ſo unvor⸗ 
ſichtig geſchoſſen hat, daß die dumme Kugel zurückfliegen 
mußte, fo mag er feine zwölf Knochen nur zuſammen⸗ 
nehmen!“ 

„Zweihundertfünfundvierzig, lieber Dick!“ verbeſſert 
ich ihn. | 

„Warum ſo viel?“ 

„Weil jeder Menſch ſo viele Knochen hat.“ 

„Deſto beſſer, denn deſto länger wird er zu ſuchen 
haben, ehe er ſie zuſammenfindet! Aber zweihundertfünf⸗ 
undvierzig Knochen? Ich habe die meinigen zwar noch 
nicht gezählt, jedoch daß unter meiner Haut ſo viele 
Knochen ſtecken, das habe ich bisher nicht geahnt!“ 

„Knochen und Knochen iſt ein Unterſchied; es ſind da 
auch die kleinen Gehör⸗ und Seſamknöchelchen mitgezählt.“ 

„Seſamknöchelchen? Seſam? Ich will auf der Stelle 
gelyncht, geteert und gefedert werden, wenn ich ſolche 


— 289 — 


Seſambeine ſchon einmal geſehen habe! Pitt Holbers, du 
biſt doch an Knochen viel ſtärker und reicher als ich, 
ſind dir deine Seſamknöchelchen bekannt?“ 

„Never mind! Glaubſt du, ich habe mich ſchon ein⸗ 
mal umgeſtülpt, wie man einen Handſchuh umwendet, 
um die Seſams zu zählen, die in mir ſtecken? Daß ich 
ſie habe, iſt vollſtändig genügend; zu ſehen und zu zählen 
brauche ich ſie nicht.“ 

„Aber der Menſch, der geſchoſſen hat, ſoll die ſeinigen 
zählen, wenn ich ihn erwiſche! Möchte wiſſen, wer er iſt!“ 

„Wahrſcheinlich Toby Spencer ſelbſt.“ 

„Schöner Schütze!“ N 

„Er hat früher jedenfalls beſſer geſchoſſen, von mir 
aber bei Mutter Thick eine Revolverkugel in die Hand 
bekommen und zwar zu meinem Glück, denn wenn das 
nicht wäre, lebte ich jetzt nicht mehr; gezielt war's gut, aber 
zitterig abgedrückt. Da war doch Winnetous Schuß ein 


andrer! Ein Knieſchuß in die Dunkelheit hinein, und doch 
grad in die Stirn! Uebrigens werden die Tramps morgen 


große Augen machen, wenn ſie den Toten an unſerm 
Lagerplatz finden!“ 

„Well! Sie werden da erſt recht denken, daß ſich die 
Bonanza dort befindet, denn ſie müſſen doch annehmen, 
wir haben den Mann erſchoſſen, weil er das Placer ent⸗ 
deckt hat.“ 

„Möglich, daß ſie das denken! Aber Eure Bonanza⸗ 
geſchichte iſt ſchuld, daß ich verwundet worden bin.“ 

„Ah, wirklich? — Wieſo denn?“ 

„Der Lärm, den Ihr mit Eurem Loch gemacht habt, 
hat die Leute herbeigezogen; ſie haben ihn gehört.“ 

„Fm! Ich kann nicht widerſprechen. Ihr macht mir 
alſo Vorwürfe?“ 

Ray, Om Surehend. II. 24 


. 
— 870 — 


„Nein. Was geſchehen iſt, iſt vorüber; niemand kann 
es ändern. Doch hört, da kommen die Häuptlinge!“ 

Ja, ſie kamen. Winnetou teilte mir in erfreutem 
Ton mit: 
| „Mein Bruder Shatterhand mag froh fein, denn wir 

haben viel Tſchitutliſchi und auch mehrere Disbitar⸗ ntſcho 
gefunden; er wird alſo die Verwundung leichter, wenn 
auch nicht ohne Schmerzen, überſtehen.“ 

Obgleich ich nicht an ein „leichtes Ueberſtehen“ 
dachte, ſo war es mir doch lieb, dieſe Worte von ihm 
zu hören. Bei einem Verband, wie ich ihn jetzt trug, 
waren die Folgen gar nicht abzuſehen. Ich hätte viel⸗ 
leicht auf den Weiterritt verzichten müſſen, wenn nicht 
noch Schlimmeres eingetreten wäre. Ich kannte die 
außerordentliche Heilkraft ſeiner Wundpflanzen und war 
nun überzeugt, die Verletzung ohne ſchweren Nachteil zu 
überwinden. N 
Der Verband wurde wieder abgenommen und die 
Wunde ausgewaſchen; dann fertigte Winnetou aus einem 
weichen Blatt einen paſſenden Pfropf, den er mit dem 
beizenden Saft des Disbitar⸗ ntſcho tränkte. Dieſe Pflanze 
gehört wie unſer Chelidonium in die Familie der Papa⸗ 
veraceen, unterſcheidet ſich aber von dieſem dadurch, daß 
ſie keinen rotgelben Milchſaft, ſondern einen weißen, dünn⸗ 
flüſſigeren Saft hat. Als mir der Pfropfen in die Wunde 
gedreht wurde, war es, als ob ich ein glühendes Eiſen 
hineinbekäme. Ich bin gewohnt, Schmerzen zu verbeißen, 
mußte mich jetzt aber doch zuſammennehmen, um ein un⸗ 
verändertes, ja lächelndes Geſicht zu zeigen. Winnetou ſah 
mich an und ſagte, mit dem Kopf nickend: 

„Ich weiß, daß Old Shatterhand jetzt am Marter⸗ 
pfahl hängt; da er dieſen Schmerz mit Lächeln überfteht, 
würde er auch an einem wirklichen Pfahl lachen. Howghl“ 


— 871 — 


Das höchſt ſchmerzhafte Verfahren wurde noch gwei⸗ 
mal wiederholt, wobei jedesmal die Empfindung weniger 
peinigend war. Dann träufelte mir der Apatſche den 
waſſerhellen Saft der Tſchitutliſchi ein, legte das Kraut 
auf die Wunde und verband ſie feſt. Dieſes Kraut gehört 
in die Familie der Plantagineen, iſt aber keineswegs 
unſer Wegebreit. Ich habe beide Pflanzen, die wahrhaft 
Wunder wirken, nicht in Deutſchland, auch nicht im Oſten 
der Vereinigten Staaten gefunden. Die Apatſchen nennen, 
außer den zwei ſchon angeführten Namen, das eine wie 
das andere Kraut Schis⸗inteh⸗tſt, zu deutſch „Indianer⸗ 
pflanze“, und behaupten, es ſei ein Geſchenk des großen 
Geiſtes für ſeine roten Söhne, und wachſe nur da, wo ſie 
wohnen; es habe ſich mit ihnen aus dem Oſten nach dem 
fernen Weſten zurückgezogen und werde mit ihnen einſt 
ausſterben. Selbſt Winnetou, der ſtets vorurteilsloſe, 
behauptete einſt in vollſtem Ernſt zu mir: 


„Wenn der letzte Indianer ſtirbt, wird auch das letzte 
Blatt Schis⸗inteh⸗tſi verwelken und nie wieder grünen. Es 
blüht mit der roten Nation in jenem Leben wieder auf!“ — 


Es war doch möglich, daß die ſechs Weißen, die 
Winnetou geſehen hatte, wieder zurückgekehrt waren und 
uns beobachtet hatten. Wir trafen die gebotenen Vor⸗ 
ſichtsmaßregeln und loſten die Wachen aus, wovon in⸗ 
deſſen ich als Verwundeter entbunden wurde. Ich ſchlief 
trotz der Verletzung bis zum frühen Morgen feſt. Dann 
aber wurde ich von einem Gefühl des Zerrens und der 
Trockenheit aufgeweckt. Winnetou lag ſeinen chirurgiſchen 
Pflichten wieder ob, wobei heut nur der zweite Saft in 
Anwendung kam; dann aßen wir und brachen nachher auf. 

Es galt zunächſt, zu erfahren, wohin ſich die ſechs 
Weißen gewendet batten. Wir ſetzten über den Creek und 


— 378 — 


ritten, um mich zu ſchonen, langſam weiter, während der 
Apatſche fortgaloppierte, um die geſuchte Fährte zu ent⸗ 
decken. Es dauerte gar nicht lange, bis er kam und uns zu 
ihr führte. Sie lief in unſrer Richtung über die Prärie, 
was wir uns gleich gedacht hatten. Wie wir wußten, 
wollte Toby Spencer auch hinauf nach dem Park von San 
Luis. Wir folgten ihr. 

Dieſe Prärie war nicht groß; es hörten jetzt über⸗ 
haupt die Ebenen auf, die oft ſo langweilig ſind und doch 
den erhabenen Eindruck des Ozeans machen. Wir kamen, 
um mich ſo auszudrücken, an die Vorhöhen der Vorberge 
und mußten von jetzt an auf einen geradlinigen Ritt ver⸗ 
zichten. Gut war es, daß wir die Wege und Päſſe, die 
wir aufzuſuchen hatten, kannten. Zunächſt galt es, den 
alten, ſogenannten Kontinentalpfad zu erreichen, einen 
früher vielbeliebten Weſtmannsweg, der in unzähligen 
Windungen über die Mountains führt, zur jetzigen Zeit 
aber anſcheinend faſt vergeſſen iſt. 

Da wir den graſigen Boden verlaſſen hatten, war 
die Fährte, der wir folgten, nicht leicht zu leſen. Oft 
verſchwand ſie für längere Zeit ganz; wir trafen aber 
immer wieder auf ſie, ohne uns große Mühe gegeben zu 
haben, ſie zu finden, und ſo nahmen wir an, daß die uns 
Vorausreitenden auch nach dem Kontinentalpfad wollten. 


Erwähnen muß ich, daß ich bei jedem Waſſer, an 
das wir kamen, abſtieg, um meine Wunde zu kühlen, was 
ſo, wie ich es machte, freilich nicht viel Zeit in Anſpruch 
nahm. Ich hatte mir nämlich über dem Knie einen 
Riemen ſo feſt um den hohen Stiefel gebunden, daß das 
untere Bein luftdicht abgeſchloſſen war; dann ſchöpfte ich 
mir den oberen Teil des Schaftes mit den Händen voll 
Waſſer, und dieſes reichte faſt ſtets ſo weit, bis es wieder 


— 378 — 


friſches gab. Zuweilen ſtieg ich gar nicht ab und ließ 
mir von einem der Gefährten „den Stiefel füllen“. 
Man glaubt nicht, welchen Eindruck die Rocky⸗ 
Mountains machen, wenn man ſo lange Zeit Tag um 
Tag vergeblich nach dem Horizont der weiten, unendlich 
ſcheinenden Ebene gejagt iſt. Auf der Savanne flieht er 
fort und fort ins Weite, in die Endloſigkeit; das Auge 
bittet förmlich um einen feſten Halt, ohne ihn jedoch zu 
finden; es ermüdet und blickt doch immer wieder ſehnend 
auf — — vergeblich, vergeblich! Der Menſch, der ſich 
wie ein Halm im grenzenloſen Grasmeer fühlt, wird zum 
Ahasver, der nach Ruhe ſchreit und doch keine findet. Da 
endlich tauchen nach langem Sehnen und Wünſchen in der 
Ferne die grauen Schleier auf, hinter denen das Kanaan 
des Auges ſeine Berge gen Himmel ſtreckt. Sie bilden 
nicht einen Horizont, der, unerbittlich zurückweichend, immer 
treulos flieht; nein, dieſer Vorhang iſt treu, hält Wort! 
Ja, er ſcheint nicht nur auf unſer Nahen zu warten, ſon⸗ 
dern uns entgegenzukommen. Und je mehr wir uns ihm 
nähern, deſto mehr gewinnt er an Durchſichtigkeit; oder er 
hebt ſich allmählich höher und höher und läßt uns nach 
und nach die Herrlichkeiten ſehen, viel ſchöner noch, als er 
ſie uns von weitem ſchon verſprochen hat. Nun gewinnt 
das Auge Halt und das Leben Farbe und Geſtalt. Glich 
die Savanne einer Tafel ohne Anfang und Ende, auf 
der die große, erhabene Rune „Ich, der Herr, bin das 
Alpha und das Omega!“ zu leſen war, ſo ſteigen jetzt 
die in Stein erklingenden Hymnen von der Erde auf und 
jubilieren: „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und 
die Berge verkündigen ſeiner Hände Werk; ein Tag ſagt 
es dem andern, und eine Nacht tut es der andern kund!“ 
Und dieſer ſteinerne Jubel ruft den Widerklang der Seele 
wach; es falten ſich die Hände, und die Lippen öffnen ſich 


— 374 — 


zum Gebet: „Derr, wie find deine Werte jo groß und viel! 
Deine Weisheit hat ſie geordnet, und die Erde iſt voll von 
deiner Liebe und Güte!“ | 

So, grad fo habe ich ſtets empfunden, wenn ich aus 
dieſen Ebenen nach dieſen Bergen, aus der Tiefe zur Höhe 
kam. Tauſende ſtiegen hinauf, mit tödlichen Waffen in den 
Händen, um ſchonungslos die Geſchöpfe Gottes nieder⸗ 
zumetzeln; Tauſende ſtiegen und ſteigen noch heut hinauf, 
vom trügeriſchen Glanz des Goldes und des Silbers ge⸗ 
blendet, um das ihnen von Gott geliehene Leben an den 
verderblichen Mammon zu wagen; wie viele waren unter 
ihnen, die, wenn ſie das Bibelwort kannten: „Ich hebe 
meine Augen auf zu den Bergen, auf denen mein Heil 
und meine Hilfe wohnt,“ dabei an ihr wahres Heil und 
an den allein rechten Helfer dachten? | 

Ich ritt auch heut hinter den Gefährten her, um 
nicht geſtört zu ſein, und ließ mir die Farben und Lichter, 
die von oben glänzten, in die Seele leuchten; denn 
die Felſenberge ſind reicher an Farben und zeigen erhabe⸗ 
nere Lichter als jedes andere Gebirge der Erde. Es iſt 
nicht die maſſig⸗ſtolze Erhabenheit der Alpen, nicht die 
epiſche der Pyrenäen und nicht die unnahbare, nieder- 
drückende des Himalaja, ſondern es iſt eine Hoheit, die 
zwar mit ernſter Würde, doch mild lächelnd niederſchaut. 
Wenn die alten Griechen ihren Göttern den Olymp zur 
Wohnung gaben, ſo hatte und hat der Indianer weit 
größere Berechtigung zu dem Glauben, daß auf dieſen 
Bergen ſein großer, guter Manitou wohne. 

Wir ritten heut noch lange nicht im Gehirge, ſondern 
erſt unten, zwiſchen den weit ausgreifenden Zehen der 
Bergesfüße dahin, und doch ſchon welche Herrlichkeit rings 
um uns her! Bei jeder Wendung ging ein neuer Vorhang 
auf, bot ſich ein andres, ſchönes Bild. Es war ein 


— 875 — 


unvergleichliches Wandelpanorama, nur wandelten wir, 
und Gottes Berge ſtanden. Schon ſandte uns der hohe 
Wald ſeine Ausläufer grüßend entgegen: „Willkommen! 
Mein Dom iſt ein Tempel, von keines Menſchen Hand 
gemacht!“ Das waren nicht die trüben, trägen Waſſer 
der Savanne, die uns klar und hell mit fleißigen Sprüngen 
ereilten und uns mahnend zuplätſcherten: „Wie du da 
oben meine Quelle ſuchſt, ſo ſtrebe immer nach dem 
Urgrund aller Dinge!“ Und die Winde, die uns bei 
jeder Biegung des Weges entgegenwehten und die Wangen 
kühlten, ſie ſäuſelten uns zu: „Du weißt nicht, von 
woher wir kommen und wohin wir gehen; uns leitet 
der Herrſcher aller Dinge. So iſt auch das Leben des 
Menſchen; du kennſt weder ſeinen Beginn noch ſeinen 
Verlauf; der Herr allein weiß es und leitet es!“ 

Nicht wahr, lieber Leſer, ich bin doch ein über⸗ 
mäßig frommer Menſch? So wirſt du vielleicht den⸗ 
ken; aber du wirſt dich da wohl irren. Uebermäßig? 
Nein! Die wahre Frömmigkeit kennt kein Uebermaß; ſie 
kann überhaupt nicht gemeſſen werden. Ich bin gern 
ein ſtets ſeelenvergnügter, heiterer Geſell und weiß gar 
wohl, wem ich dieſe Heiterkeit verdanke. Du darfſt es 
mir nicht übelnehmen, daß ich das, was ich drüben 
im wilden Weſten dachte und fühlte, hier in der von der 
„Ziviliſation“ gebändigten Heimat niederſchreibe. Was 
ich da drüben getan und erlebt habe, das waren doch 
Ergebniſſe meiner Gedanken und Gefühle, und wenn ich 
dir die Folgen erzähle, darf ich doch auch die Urſachen nicht 
verſchweigen! Ueberdies hat jeder Leſer das Recht, ſeinem 
Dichter ins Herz zu blicken, und dieſer iſt verpflichtet, 
es ihm ſtets offen zu halten. So gebe ich dir das meine. 
Iſt es dir recht, ſo ſoll mich's freuen; magſt du es nicht, 
ſo wird es dir dennoch ſtets geöffnet bleiben. Soll ein 


— 876 — 


Buch ſeinen Zweck erreichen, ſo muß es eine Seele haben, 
nämlich die Seele des Verfaſſers. Iſt es bei zugeknöpftem 
Rock geſchrieben, ſo mag ich es nicht leſen. — 

| Es war ſchon Nachmittag, als wir kurz vor einem 
Wald den Kontinentalpfad erreichten. Wir kannten die 
charakteriſtiſche Stelle, waren ſicher, daß wir uns nicht 
irrten, und lenkten auf ihn ein. Bald fanden wir 
uns im hohen Wald, herrliche Tannen hüben und drüben, 
vor und hinter uns. Wir mochten uns wohl eine Viertel» 
ſtunde in ſeinem Schatten befunden haben, als uns ein 
Reiter entgegenkam, ganz in leichtes Leinen gekleidet und 
mit einem breitrandigen Sombrero auf dem Kopf. Der 
Sombrero iſt überhaupt in Kolorado ſehr beliebt. 

Der Mann war jung, wohl nicht viel über zwanzig 
Jahre alt. Als er uns erblickte, hielt er ſein Pferd an; 
ſein ſcharfer Blick ſchien uns abſchätzen zu wollen. Be⸗ 
waffnet war er nur mit einem Meſſer im Gürtel. Kurz 
ehe wir ihn erreichten, grüßte er uns: 

„Good day, Gents! Möchte fragen, wohin ihr 
wollt?“ 

„Bergauf,“ antwortete ich. 

„Wie weit?“ 

„Wiſſen es nicht genau. Wohl bis es dunkel wird 
und wir einen guten Platz zum Lagern finden.“ 

„Ihr ſeid Weiße und Rote. Darf ich eure Namen 
wiſſen?“ 

„Warum?“ — 

„Weil ich Hilfe ſuche und ſie nur bei Gentlemen 
finden kann.“ 

„So ſeid Ihr bei den richtigen Leuten. Ich heiße 
Old Shatterhand, und — — — 

„Old Shatterhand?“ unterbrach er mich ſchnell. Ich 
denke, Ihr ſeid tot!“ 


— 877 — 


„Tot? Wer fagt das?“ 

„Derjenige, der Euch geſtern abend erſchoſſen hat.“ 

„Ah! Wo iſt der Kerl?“ 

„Sollt es gleich erfahren, Sir. Wenn Ihr der ſeid, 
auf den dieſe Leute geſchoſſen haben, ſo kann ich mich 
auf Euch verlaſſen. Vater iſt Black⸗ſmith'). Wir haben 
uns vor einiger Zeit hierher gemacht, weil jetzt an dieſem 
alten Weg ein gutes Geld zu verdienen iſt. Da oben 
in den Bergen ſind neue Gold⸗ und Silberfunde gemacht 
worden, und es kommen täglich Leute vorüber, die hinauf 
wollen und einen Schmied brauchen. Es iſt uns 
gut gegangen bisher; wir ſind zufrieden, nur daß manch⸗ 
mal Menſchen bei uns anhalten, die alles ſind, nur keine 
Gentlemen. So ſchlimm aber wie heut dieſe ſechs Kerls, 
hat es noch niemand getrieben. Sie kamen vor vier 
Stunden an, haben für ſich arbeiten laſſen und wollen 
nicht bezahlen. Die Schweſter hat ſich verſtecken müſſen, 
warum, das brauche ich nicht zu ſagen. Den Vater haben 
ſie eingeſperrt, und ich mußte alles herſchaffen, was 
zu eſſen und zu trinken im Hauſe war. Fleiſch, Mehl, 
Brot werfen ſie einfach auf dem Fußboden herum, und 
die Flaſchen fliegen, noch ehe ſie ausgetrunken ſind, nur 
ſo durch die Luft. Es gelang mir endlich, zu fliehen, 
und nun wollte ich in das Deep?) hinab, um meinen 
Bruder zu holen, der dorthin nach Fiſchen gegangen iſt.“ 

„Wißt Ihr vielleicht, wie die Kerls heißen?“ 

„Einer heißt Spencer; ein anderer wird General 
genannt.“ 

„Well! Ihr ſeid hier an die richtigen Leute ge⸗ 
kommen und braucht nicht ins Deep zu reiten. Wir 
werden Euch helfen. Kommt!“ 


Y Hufſchmied. N) Schlucht, Tal. 


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2. — 
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— 878 — 


Er kehrte um, und wir ritten weiter. Nach einiger 
Zeit ging zu unſerer rechten Hand der Wald zu Ende; 
linker Hand lief er noch weiter, indem er eine Krümmung 
machte und dann auch aufhörte. Wir hielten unter den 
letzten Bäumen an, weil einen guten, halben Büchſenſchuf 
von uns ein Haus am Weg lag, dem man es gleich an⸗ 
ſah, daß es eine Schmiede war. Es ſtieß eine Fenz 
daran, in der Pferde ſtanden, wieviel, das konnten wir 
nicht ſehen. 

Winnetou ſah mich fragend an. Es war kein Menſch 
außerhalb des Hauſes; die Rowdies mußten alſo noch in 
der Stube ſein; darum ſagte ich: 

„Das beſte iſt, wir überraſchen ſie. Alſo im Galopp 
hin, von den Pferden herunter, ins Haus hinein, und ihre 
Flinten weg, dann hands up! Vorwärts! Mr. Tres⸗ 
kow bleibt vor der Tür bei den Pferden!“ 

Dieſe letzte Beſtimmung traf ich, weil er kein Weft 
mann war und bei dem hands up leicht einen Fehler 
machen konnte; auch mußte jemand die Pferde bewachen. 
Wir jagten vorwärts. Bei dem Haus angekommen, waren 
die andern im Nu aus dem Sattel; mit mir ging es 
etwas langſamer. Ich folgte ihnen. Das Innere beſtand 
aus zwei Räumen, nämlich aus der Schmiedewerkſtatt 
und der Stube; um in die Stube zu kommen, mußte 
man durch die Schmiede gehen. Als ich in die offene 
Stubentür trat, ſtanden die Kerls ſchon mit hochgehobenen 
Händen da; ich ſah nur die Hände, nicht ſie ſelbſt, denn 
der Raum war klein; ich mußte unter der Tür ſtehen 
bleiben und hatte die Gefährten vor mir. Winnetou 
befahl eben: 

„Wer den Arm ſinken läßt, wird erſchoſſen! Matto 
Schahko mag ihnen die Gewehre wegnehmen!“ 

Als dies geſchehen war, gebot er weiter: 


Ir Se 


— 879 — 


„Hammerdull nimmt ihnen die andern Waffen aus 
den Gürteln!“ 

Auch das wurde ausgeführt; dann befühl der Apatſche: 

„Setzt euch längs der Wand nebeneinander nieder! 
Jetzt könnt ihr die Hände fenen aber wer aufſteht, 
bekommt die Kugell“ 

Jetzt ſchob ich Apanatſchka und Holbers, die mir im 
Wege ſtanden, auf die Seite und trat vor. Da ertönte 
der Schreckensruf: | 

„Alle Teufel! Old Shatterhand!“ 


Es war Spencer. Er hatte mich bei Mutter Thick 
nicht gekannt, geſtern aber, als er auf mich geſchoſſen 
hatte, ſeinen Gefährten meinen Namen genannt; jetzt 
nannte er ihn wieder. Woher wußte er ihn? Dieſe 
Frage war jetzt nebenſächlich; die Hauptſache war der 
Mann ſelbſt. Ich ſagte in ſtrengem Ton zu ihm: 

„Ja, die Toten ſtehen auf. Ihr hattet ſchlecht gezielt.“ 

„Gezielt — — —? Ich — — — —7“ fragte er. 

„Verſucht nicht, zu leugnen; es hilft Euch nichts! 
Könnt Ihr Euch beſinnen, mit welchen Worten Ihr bei 
Mutter Thick in Jefferſon⸗City Abſchied von mir nahmt?“ 

Ich — — weiß — — — nicht — — — — mehr,“ 
ſtammelte er. | 

„So will ich Eurem Gedächtnis zu Hilfe kommen. 
Ihr ſagtet: ‚Auf Wiederſehen! Dann aber hebſt du die 
Arme in die Höhe, Hund!‘ Heut iſt das Wiederſehen; 
wer aber hat ſie hochgehalten, Ihr oder ich?“ 

Er antwortete nicht und ſah vor ſich nieder. Sein 
Geſicht ſah aus wie das einer Bulldogge, die Prügel 
bekommen hat. 

„Heut rechnen wir > freilich ganz anders ab als da- 
mals, wo Ihr nur die Zeche und ein zerbrochenes Glas 


— 380 — 


m berichtigen hattet,“ fuhr ich fort. „Ihr past mich ver⸗ 
wundet; das koſtet Blut.“ 

„Ich hab' nicht auf Euch geſchoſſen,“ behauptete er. 

Da zog ich den Revolver, richtete die Waffe auf ihn 
und ſagte: | 

„Heraus mit dem Geſtändnis! Wenn Ihr noch ein. 
mal lügt, ſo ſchieße ich. Seid Ihr es geweſen?“ 

„Nein — — ja — — nein — — — ja, ja, ja, ja, 
ja!“ ſchrie er um ſo ängſtlicher, je näher ich ihm den 
Lauf an den Kopf hielt. 

„Euer hinterliſtiges Verhalten hat Euer Kamerad 
geſtern mit dem Leben bezahlt. Womit werdet Ihr mir 
die Wunde wohl bezahlen, die ich Euch zu verdanken habe?” 

„Wir ſind quitt!“ antwortete er trotzig. 

„Wieſo quitt?“ 

„Ihr habt mir die Hand zerſchoſſen!“ Er hielt die 
noch verbundene rechte Hand empor. 

„Wer war ſchuld daran?“ 

„Ihr! Wer ſonſt?“ 

„Ihr wolltet auf mich ſchießen, und ich kam Euch 
zuvor; das iſt die Sache. Es war Notwehr von mir; 
ich hätte Euch erſchießen anſtatt bloß verwunden können. 
— Wo iſt der General?“ 

Douglas war nämlich nicht in der Stube; darum 
fragte ich nach ihm. | 

„Das weiß ich nicht,“ antwortete er. „Er iſt, ohne 
etwas zu ſagen, fortgegangen. 2 

„Wann?“ 

„Gerade, bevor Ihr kamt.“ 

„Kerl, Ihr wißt, wohin er iſt! Da Ihr leugnet, 
mache ich kurzen Prozeß und gebe Euch die Kugel!“ 

Er ſah den Revolver wieder auf ſich gerichtet. Solche 
rohe, gewalttätige Menſchen beſitzen gewöhnlich nicht den 


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=. er * 


— 881 — 


wahren Mut. Er hätte ſich denken können, daß ich nicht 
ſchießen würde, ſelbſt wenn er leugnete; aber die Feigheit 
preßte ihm das Geſtändnis aus: 

„Er wollte dem Sohn des Schmiedes nach, weil er 
glaubte, dieſer werde Leute holen.“ | 

„So iſt er auch nicht fort, kurz ehe wir kamen?“ 

„Nein, ſondern gleich, als der Boy weg war.“ 

„Zu Fuß?“ 

„Nein; er holte ſein Pferd, weil der Boy auch nicht 
zu Fuß fort war.“ | 

„Nach welcher Richtung iſt er fort?“ 

„Wir haben nicht aufgepaßt.“ 

„Well; die Sache wird ſich bald aufklären, denke ich.“ 

Ich ging hinaus, um Treskow, für den Fall, daß der 
„General“ zurückkommen ſollte, Anweiſungen zu geben. 
Bei ihm ſtand der Schmiedsſohn, der aus Vorſicht nicht 
mit hineingegangen war. Von links her kam ein Mädchen 
gegangen. Auf ſie zeigend, fragte ich den Boy: 

„Wer iſt das?“ 

„Meine Schweſter, die ſich vor den Rowdies ver⸗ 
ſteckt hatte.“ | 

„Ich muß fie etwas fragen.“ 

Als ſie herangekommen war, ſagte ihr der Bruder, 
daß ſie ſich nun, weil wir da ſeien, nicht mehr zu fürchten 
brauche, und ich erkundigte mich: 

„Wo habt Ihr geſteckt, Miß?“ 

„Drüben im Wald,“ antwortete ſie. 

„Während der ganzen Zeit?“ 

„Nein. Ich ſah meinen Bruder fortreiten und wollte 
ihm nach. Da kam der Mann, der General genannt wurde, 
aus dem Haus und holte ſein Pferd aus der Fenz. Als 
er aufgeſtiegen war, ſah er mich und ritt auf mich zu. 


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— 382 — 


Ich floh zurück; er holte mich aber ein, als ich den Wald 
grad erreicht hatte. 

„Und dann?“ erkundigte ich mich, da ſie eine Pauſe 
machte. | 

„Dann kamen Reiter nach dem Haufe.” 

„Das waren wir. Hat er uns geſehen?“ 

„Ja. Er ſchien heftig zu erſchrecken und ſtieß einen 
greulichen Fluch aus.“ 

„Erkannte er uns?“ 

„Es ſchien ſo. Er ſprach von Old Shatterhand 
und einem gewiſſen Winnetou.“ 

„Das iſt mir unangenehm! Was tat er dann?“ 

„Er ritt fort.“ 

„Ohne ein weiteres Wort zu ſagen?“ 

„Er gab mir noch einen Auftrag an Old Shatterhand.“ 

„Der bin ich. Was ſollt Ihr mir fagen?” _ 

„Das iſt — — das iſt — — — es würde Euch 
wahrſcheinlich beleidigen, Sir.“ 

„Nein, gar nicht. Ich bitte Euch, mir jedes Wort 
genau zu ſagen!“ 

„Er nannte Euch den größten Schuft auf Gottes 
Erdboden; er habe gar nichts dawider, falls es Euch be⸗ 
liebte, feine Begleiter aufzuhängen oder ſonſtwie zu töten, 
aber er werde mit Euch Abrechnung halten.“ N 

„Das iſt alles?“ 

„Weiter ſagte er nichts. Aber daß er Euch ſo einen 
Schuft nannte, machte mir Angſt auch vor Euch, und 
wenn ich nicht geſehen hätte, daß mein Bruder ſo lange 
und ſo ruhig vor der Tür ſtand, ohne daß ihm ein Leid 
geſchah, wäre ich jetzt noch nicht gekommen.“ 

„Ihr könnt ruhig ſein; man wird Euch nichts mehr 
tun.“ 

Ich ging wieder hinein, und der Sohn folgte min. 


— 83885 — 


„Nun, wißt Ihr, wo der General iſt?“ rief mir 
Toby Spencer entgegen. 

„Ja,“ antwortete ich. „Entflohen.“ 

„Ah! Wirklich entflohen?“ fragte er in frohem Ton. 

„Ja. Ich mache es nicht wie Ihr; ich ſage die 
Wahrheit gleich beim erſtenmal.“ 

„Haha! So bekommt Ihr ihn alſo nicht!“ 

„Heut nicht, ſpäter aber um fo ſicherer. Euch aber 
habe ich feſt.“ 

„Pshawl Ihr werdet uns gern loslaſſen!“ 

„Warum?“ 

„Aus Angſt vor ihm.“ 

„Vor dieſem Feigling, der ausgeriſſen iſt, ſobald er 
uns geſehen hat?“ 

„Ja. Er würde uns an Euch rächen!“ 

„Pshaw! Er hat mir durch die Tochter des Schmieds 
ſagen laſſen, daß er ſich gar nichts daraus mache, wenn 
ich Euch aufhänge oder Euch ſonſtwie an das Leben gehe.“ 

„Das glaube ich nicht!“ 

„Ob Ihr es glaubt oder bezweifelt, iſt mir gleich⸗ 
gültig. Jetzt zu einer andern Angelegenheit! Wo iſt der 
Wirt dieſes Hauſes?“ 

„Da unten im Keller,“ antwortete ſein Sohn, indem 
er auf eine hölzerne Falltür zeigte, die im Fußboden 
angebracht war. 

„Iſt er da eingeſperrt worden?“ 

„Ja. Sie haben ihn überwältigt und da hinab⸗ 
geworfen.“ 

„Laßt ihn heraus!“ 

Es fehlte der Schlüſſel. Spencer leugnete, ihn ein⸗ 
geſteckt zu haben, gab ihn aber aus Angſt vor meinem 
Revolver ſchließlich doch heraus. 

In der Stube lagen Scherben von Flaſchen, Gläſern, 


Töpfen und anderem Geſchirr herum. Es war wüſt 
zugegangen. Als die Falltür geöffnet worden war, kam 
der Schmied heraus, eine lange, ſtarke, knochige Geſtalt. 
Es hatte jedenfalls Anſtrengungen gekoſtet, dieſen Mann 
in das Verlies zu bringen, und er hatte ſich gewehrt. 
Sein Geſicht war zerſchlagen und zerkratzt; es blutete noch 
jetzt; er ſah ſchrecklich aus. Nachdem er einen Blick um 
ſich geworfen hatte und mir anſehen mochte, daß ich hier 
der Wortführer ſei, wendete er ſich an mich: 

„Wer hat mich aus dem Keller gelaſſen?“ 

„Wir,“ antwortete ich. 

„Wie heißt Ihr?“ 

„Old Shatterhand.“ 

„Iſt das nicht der Name eines bekannten Weſt⸗ 
manns?“ 

„Ja.“ 

„Aber die Roten hier! Iſt denen zu trauen?“ 

„Sie ſind berühmte Häuptlinge ihrer Nation und 
gewohnt, jeden Bedrängten zu beſchützen.“ 

„Well, ſo ſeid ihr zur rechten Zeit und an den 
rechten Ort gekommen, Meſch'ſchurs! Iſt das nicht ent⸗ 
ſetzlich, daß Rote kommen müſſen, um einen ehrlichen 
Menſchen gegen weiße Schurken zu beſchützen? Ihr glaubt 
nicht, was das für armſelige, niederträchtige Halunken 
find!” 

„Ich glaube es, denn wir tennen ſie. Wir haben 
auch eine Rechnung mit ihnen.“ 

„Ah?! Iſt ſie groß?“ 

„Ziemlich. Der Kerl dort mit dem verbiſſenen Bull⸗ 
doggengeſicht hat geſtern abend auf mich geſchoſſen, um 
mich zu töten.“ 

Gott ſei Dank!“ 


— 885 — 


„Wie? Ihr dankt Gott, daß auf mich ein Mord» 
anſchlag verübt wurde?“ 

„Ja. Ich danke Gott zweimal, nämlich das erſte 
Mal dafür, daß Ihr nicht getötet worden ſeid, denn da 
habt Ihr kommen und mich hier herauslaſſen können; 
und das zweite Mal allerdings dafür, daß auf Euch ge⸗ 
ſchoſſen worden iſt, denn da habt Ihr das Recht, kurzen 
Prozeß mit dem Meuchelmörder zu machen, obgleich er 
Euch nicht getroffen hat.“ 

„Er hat mich getroffen!“ 

„Ah! Wirklich? Man ſieht Euch aber nichts an!“ 

„Die Kugel traf mich hier in den Oberſchenkel. Ich 
habe eine ſchwere Beinwunde davongetragen. Hier ſeht 
Ihr doch das Blut!“ 

„So geht es ihm ans Leben, und das freut mich un⸗ 
gemein!“ N 

„Was habe ich davon?“ 

„Das Bewußtſein, daß ein Schurke weniger auf dem 
Erdboden iſt.“ 

„Lindert das meinen Schmerz? Heilt das meine 
Wunde?“ 

„Hört, wollt Ihr ihn etwa laufen laſſen?“ 

„Fällt mir nicht ein!“ 

„So ſagt, was mit ihm geſchehen ſoll!“ 

„Wir werden eine Savannenjury einſetzen, die darüber 
zu entſcheiden hat.“ : 

„Das iſt recht. Darf ich mit dazu gehören?“ 

„Dürfen? Ihr müßt ſogar mit dabei ſein. An Euch 
haben ſie ſich doch auch vergangen.“ 

„Und wie! Wenn es auf mich ankommt, wird ihnen 
ihr letzter Nagel eingeſchlagen. Wann tritt wohl dieſe 
Jury zuſammen?“ 

„Am beſten gleich jetzt!“ 


May, Old Surehand. II. 25 


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„5 


„Wo?“ 

„Draußen vor dem Hauſe. Ein Savannengericht 
muß bekanntlich möglichſt unter freiem Himmel ſtatt⸗ 
finden.“ 

„Da reißen uns die Kerle aus!“ 

„Das ſollten ſie verſuchen! Uebrigens können wir 
ſie ja binden.“ 

„Welll Das kann mir gefallen. Riemen und Stricke 
habe ich genug.“ 

„Soll ich ſie holenꝰ⸗ fragte ſein Sohn mit großer 
Bereitwilligkeit. 

„Ja, hole ſie! Sie hängen draußen.“ 

Da ergriff Toby Spencer das Wort: 

„Tut nur nicht, als ob Ihr unſre Richter ſein und 
über uns aburteilen wollt! Ihr ſeid die Kerle nicht dazu. 
Binden laſſen wir uns nicht!“ 

Der Schmied trat zu ihm hin, hielt ihm die knochige 
Fauſt vor das Geſicht und ſagte: 

„Schweig, Elender! Wenn du etwa noch groß auf⸗ 
begehren willſt, mache ich außer der Jury noch einen 
beſonderen Tanz mit dir! Verſtanden?“ 

Der Sohn brachte die Stricke und Riemen. Ich gab 
den Befehl: 

„Bindet ſie der Reihe nach, wie ſie daſitzen! Wer 
ſich wehrt, bekommt Hiebe!“ 

„Ja, hauen wir ſie!“ jubelte der Schmied. „Ich 
habe ſo mehrere ſchwanke Stöcke draußen; die mag der 
Boy auch hereinholen!“ 

Sein Sohn ging und brachte fie 

Das half. Sie ſchimpften zwar gewaltig, leiſteten 
aber keinen tätlichen Widerſtand; bald lagen ſie, lang 
ausgeſtreckt, nach Weſtmannsart gebunden, da. Der 
Schmiedeboy bekam den Auftrag, ſie ſtreng zu bewachen; 


— 887 — 


dann gingen wir hinaus. Ich hatte die Abſicht gehabt, 
die Rowdies mit hinauszunehmen; da dies aber zu um⸗ 
ſtändlich geweſen wäre, unterließen wir es. 

Nun traten wieder die alten Fragen und die ſchon 
wiederholten Gegenſätze der Anſichten an uns heran. Ich 
hatte, zumal ich ſelbſt verwundet worden war, keineswegs 
die Abſicht, glimpflich zu verfahren, aber ſie verlangten 
alle, mit Ausnahme Winnetous, den Tod wenigſtens Toby 
Spencers, und dazu konnte und wollte ich nicht ja 
ſagen. Es gab eine lange und ſehr erregte Ausſprache, bis 
endlich der Schmied, der ſich wie ein „grimmer dagen“ 
gebärdete, aufſprang und rief: 

„Ich ſehe, daß wir noch morgen daſitzen werden, 
ohne einig geworden zu ſein. Dieſe Menſchen gehören 
zunächſt mir, denn ſie ſind bei mir eingefallen wie die 
Wilden und haben alles kurz und klein geſchlagen und 
mich verwundet. Ihr ſeht, mein Geſicht iſt noch jetzt 
blutig. Ihr, Mr. Shatterhand, ſeid mir ein viel zu milder 
Herr; ich will Eurer Meinung aber Rechnung tragen und 
den Tod dieſes Spencer nicht verlangen. Dafür aber 
erwarte ich, daß die Vorſchläge, die ich jetzt mache, 
angenommen werden.“ 

„Welche Vorſchläge ſind das?“ fragte ich. 

„Zunächſt, daß ich mich an ihrem Eigentum für alles 
ſchadlos halten darf, was ſie mir vernichtet haben. Seid 
Ihr einverſtanden, Sir?“ 

„Ja. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß ſie Euch 
entſchädigen müſſen.“ 

„Well! Nun kommt Speneer, der ſchuld an allem 
iſt. Ihr wollt ihn nicht töten laſſen, weil er Euch nicht 
ermordet, ſondern nur verwundet hat. Ich halte das 
für eine Schwachheit von Euch, denn der wilde Weſten 
kennt für Mörder keine Schonung, gleichviel, ob der 


— 888 — 


Mord gelungen iſt oder nicht. Wir wollen trotzdem eine 
Art von Gnade walten laſſen. Er hat den Tod verdient, 
ſoll aber nicht ohne weiteres hingerichtet werden, ſondern 
ſich verteidigen dürfen.“ 

„Wie meint Ihr das?“ 

„Laßt ihn mit mir um ſein Leben kämpfen!“ 

„Darauf werden wir wohl kaum eingehen können.“ 

„Warum nicht?“ 

„Er iſt ein rieſenſtarker Mann.“ 

„Pshaw! Ich bin auch kein Kind! Oder meint Ihr, 
weil ich mich habe in den Keller ſtecken laſſen? Sie über⸗ 
rumpelten mich und waren ſechs Perſonen!“ 

„Mag ſein! Ich ſehe, daß Ihr gute Knochen habt. 
Der Kampf iſt trotzdem ungleich.“ 

„Wieſo?“ 

„Er iſt ein Schurke, um den es nicht ſchade ſein 
würde, und Ihr ſeid ein Ehrenmann, der Kinder hat. 
Ihr dürft Euer Leben nicht gegen das ſeinige einſetzen.“ 

„Das tue ich auch nicht. Die Ungleichheit, von der 
Ihr redet, wird durch die Waffen ausgeglichen, mit denen 
wir kämpfen werden.“ 

„Welche Waffen?“ 

„Schmiedehämmer.“ 

Schmiedehämmer! Welch ein Gedanke! Alſo um einen 
Zyklopenkampf ſollte es ſich handeln! 

Ich geſtehe aufrichtig, daß dieſer Kampf mich als Weſt⸗ 
mann ſehr anzog, während ich als Menſch glaubte, ihn 
verwerfen zu müſſen; aber dieſer Zwieſpalt in mir fand 
gar keine Zeit, zur Geltung zu kommen; denn meine 
Gefährten gingen mit großer Bereitwilligkeit auf den Vor⸗ 
ſchlag ein. Ein Zweikampf, und noch dazu ein ſolcher, 
durfte nach dem Savannenbrauch nicht zurückgewieſen 
werden. Welch ein Schauſpiel, dieſen feſt gefügten Grob⸗ 


217: Au 
- = 92 — 
275 = 


— 38 — 


ſchmied und Toby Spencer, der die Kräfte von mehreren 
Männern beſaß, mit eiſernen Hämmern gegeneinander 
losgehen zu ſehen! Das hatte man noch nicht erlebt; das 
war noch nicht dageweſen! Man war ſofort Feuer und 
Flamme. Hammerdull rief: 

„Wunderbar großartiger Gedanke! Was für Schädel 
gehören dazu, ſolche Hiebe auszuhalten! Ich ſtimme beil 
Du nicht auch, Pitt Holbers, altes Coon?“ 

„Hm! Wenn du denkſt, daß ſo ein Hammerwerk 
ſchönere Wirkungen hat, als wenn man mit wattierten 
Paradieshandſchuhen abgeſäuſelt wird, ſo muß ich dir 
vollſtändig recht geben, lieber Dick,“ antwortete der Lange. 

Auch die andern waren einverſtanden. Selbſt der 
Häuptling der Apatſchen ſagte: ö 

„Ja, ſie mögen miteinander kämpfen. Winnetou 
wird nichts dagegen haben.“ 

So gab es für mich alſo kein Widerſtreben; ich 
erteilte meine Einwilligung. 

Da der eigenartige Zweikampf nur im Freien ſtatt⸗ 
finden konnte, wurden die Rowdies herausgeholt. Als fie 
erfuhren, was beſchloſſen worden war, wollten ſie zunächſt 
nicht daran glauben; es wurde ihnen aber ihr Zweifel 
derart benommen, daß ſie den Ernſt unſres Vorhabens 
ſchnell erkennen mußten. Natürlich war es Spencer, der 
den lauteſten Einſpruch dagegen erhob. Er erklärte, daß 
er auf keinen Fall mitklͤmpfen werde; da aber ſagte ihm 
der Schmied: 

„Ob du mittun willſt oder nicht, das geht mich 
gar nichts an. Sobald das Zeichen gegeben wird, ſchlage 
ich zu, und wenn du dich nicht verteidigſt, biſt du im 
nächſten Augenblick eine Leiche. Mit ſo einem Halunken, 
wie du biſt, wird kurzer Prozeß gemacht. Du wirft dich 
ſchon wehren.“ 


— 590 — 


„Das iſt aber der reine Mord!“ 

„Was war es anderes, als du geſtern auf Old 
Shatterhand ſchoſſeſt?“ 

„Das geht doch Euch nichts an!“ 

„Sehr viel ſogar, denn ich kämpfe an Stelle dieſes 
Gentleman mit dir. Wenn er ſich herablaſſen wollte, mit 
dir zu kämpfen, wäre dein Tod gewiß. Bei mir aber gibt 
es für dich doch die Möglichkeit, mich zu überwinden.“ 

Der Rowdy maß die Geſtalt des Schmiedes mit 
forſchendem Auge und fragte dann: „Was aber wird mit 
mir geſchehen, wenn ich Euch totſchlage?“ 

„Nichts. Der Sieger bleibt unbeläſtigt.“ 

„Ich kann dann gehen, wohin ich will?“ 

„Gehen, ja, aber nicht reiten.“ 

„Wieſo?“ 

„Weil alles, was ihr bei euch habt, von jetzt an 
mir gehört.“ — 

„Alle Teufel! Warum das?“ 

„Als Entſchädigung für mein Eigentum, das ihr zu 
Grunde gerichtet habt.“ | 

„Alles? Die Pferde und auch alles andere?“ 

„Ja. | 

„Das iſt Diebftahl! Das iſt Betrug! Das iſt ja 
der reine Raub!“ e 

„Pshaw! Der Schaden, den ihr angerichtet habt, 
muß bezahlt werden. Geld habt ihr nicht; das weiß 
ich, denn Ihr habt vorhin wiederholt damit geprahlt, daß 
ihr bei mir alles Vorhandene verzehrtet, ohne bezahlen 
zu können; da muß ich mich alſo an die Sachen halten, 
die ihr mithabt.“ 

„Das iſt aber viel mehr, als der Betrag, der Euch 
gebührt!“ 


— 3991 — 


„Oh, das nehme ich nicht ſo genau! Ihr habt euch 
in Beziehung auf Recht und Billigkeit ja auch nicht ſehr 
hervorgetan. Jetzt kommen die Folgen!“ 

Da wendete ſich Spencer an mich, den er für den 
menſchenfreundlichſten von uns hielt: „Und auch Ihr ſeid 
imſtande, eine ſolche Ungerechtigkeit zuzugeben?“ 

„Wollt Ihr etwa bei mir Berufung einlegen?“ ant⸗ 
wortete ich in erſtauntem Ton. „Bei mir, auf den Ihr 
geſchoſſen habt?“ 

„Ja, trotzdem! Der Raub an uns hat gar nichts 
mit dieſem Schuß zu tun!“ 

„Und ich habe nichts mehr mit Euch zu tun. Das 
könnt Ihr Euch wohl denken!“ 

„So hole euch alle der Teufel, alle, vom erſten bis 
zum letzten! Wenn ihr es in dieſer Weiſe bis zum 
Aeußerſten treibt, ſo glaubt nur ja nicht, daß ich ſanft 
mit dieſem Schmiedeſkelett verfahren werde! Es iſt ſchon 
ſo gut, als ob ſein Schädel in Stücken ſei. Laßt uns 
anfangen! Laßt den Tanz beginnen!“ 

Sein Bulldoggengeſicht war vor Wut tiefrot geworden, 
und er knirſchte hörbar laut mit den Zähnen. Der Schmied 
ſtimmte bei: f 

„Ja, ich will die Hämmer holen, dann werde ich 
ihn ſchmieden, ohne daß er glüht!“ 

Er ging in die Schmiede, und ich folgte ihm, um 
ihm einen guten Rat zu erteilen: 

„Nehmt Euch in acht, Sir! Dieſer Spencer iſt ein 
ſtarker und gefährlicher Kerl!“ 

„Pshaw! Ich fürchte mich nicht; ich weiß, daß er 
mir nichts anhaben kann!“ 

„Seid nicht ſo zuverſichtlich! Ich denke, daß Ihr 
nur zuſchlagen wollt?“ 

„Ja. Was ſonſt?“ 


— 892 — 


„Ihr müßt gewärtig ſein, daß er nicht nur zuſchlägt, 
ſondern den Hammer ſchleudert!“ 

„Das darf er nicht; das wird ausgemacht!“ 

„Wenn es auch unterſagt wird, er tut es doch! 
Und wenn es geſchehen iſt, kann man es nicht mehr 
ändern. Würde es Euch hindern, wenn der Hammer 
angebunden wäre?“ 

„Woran gebunden?“ 

„An die Hand, an den Arm, am beſten an das Hand⸗ 
gelenk, mit einem Riemen.“ 

„Das würde mich gar nicht hindern, ganz und gar 
nicht. Aber warum das?“ 

„Damit der Unehrliche nicht dem Ehrlichen einen 
Vorteil dadurch abgewinnt, daß er den Hammer wirft, 
anſtatt nur zuzuſchlagen. Iſt es Euch recht?“ | 

„Natürlich, ja! Wenn man nur Flucht behält, den 
Stiel bewegen zu können.“ 

„Dafür werde ich ſchon ſorgen, denn ich werde bin⸗ 
den. Alſo kommt!“ 

Als wir auf den Platz kamen, hatte man Toby 
Spencer ſchon losgebunden. Winnetou ſtand, einen 
Revolver in jeder Hand, vor ihm und drohte: 

„Wenn das Bleichgeficht etwa eine Bewegung zur 
Flucht macht, ſchieße ich ſofort!“ 

Ich band den beiden Kämpfern die Hämmer ſo an 
die Handgelenke, daß ſie mit ihnen zwar zuſchlagen, ſie 
aber nicht ſchleudern konnten. Dann zog ich auch einen 
Revolver und wiederholte die Drohung des Häuptlings 
der Apatſchen. 

Es war eine erwartungsvolle, hochgeſpannte Lage. 
Wir bildeten einen Kreis, in dem die Zwei ſich nahe 
gegenüberſtanden, die großen, gleichſchweren Hämmer in 
den Händen. Sie maßen ſich gegenſeitig mit den Augen; 


— 393 — 


der Schmied war ruhig und kalt, Spencer dagegen in 
hohem Grad aufgeregt. 

„Man ſoll nicht eher beginnen, als bis ich es ſagel“ 
befahl Winnetou. „Es ſollen alle Vorteile gelten, und die 
Kämpfenden können auch die freien Hände gebrauchen!“ 

„Das iſt gut; das iſt ſehr gut!“ jubelte Spencer. 
„Nun iſt mir der Kerl ſicher!“ 

„Ja,“ rief einer ſeiner Leute. „Wenn du auch mit 
der andern Hand zugreifen darfſt, iſt er geliefert. Nimm 
ihn nur bei der Gurgel; da geht ihm der Atem aus!“ 

„Halte den Schnabel!“ fuhr ihn Dick Hammerdull 
an. „Wer hat dich denn nach deinem Senf gefragt? Du 
haſt ruhig zuzuſehen und gar nichts drein zu reden!“ 

„Oho! Man wird doch noch reden dürfen! Wozu hat 
man denn den Mund?!“ 

„Ob du einen haſt oder nicht, das iſt ganz gleich, aber 
halten ſollſt du ihn, ſonſt ſtecke ich dir einen Knebel 
zwiſchen die Zähne; das merke dir!“ 

Ich war nicht weniger geſpannt als die andern. 
Wer würde Sieger ſein? Toby Spencer hatte wohl 
die größere Körperſtärke für ſich, während der Schmied 
im Gebrauch der ungewöhnlichen Waffe geübter war; zu⸗ 
dem zeigte dieſer eine Kaltblütigkeit, die Vertrauen 
erweckte, während der Rowdy ſich je länger um fo auf⸗ 
geregter zeigte. 

Der Schmiedeboy ſtand mit ſeiner Schweſter auch 
in unſerm Kreis. Auf ihren Geſichtern war nicht die 
geringſte Beſorgnis um ihren Vater zu entdecken; das 
war auch ein Umſtand, der mich für ihn beruhigte. 

„Jetzt kann es beginnen!“ ſagte Winnetou. 

Toby Spencer holte ſofort zum Schlag aus und 
wollte zugleich mit der linken Hand nach der Kehle des 
Schmieds greifen. Er hatte nicht in Betracht gezogen, 


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— 894 — 


daß ſich dadurch die Kraft des Hiebes vermindern mußte. 
Der Schmied begegnete ihm durch einen Gegenſchlag, ſo 
daß die Waffen zuſammenprallten; ſein Hammer fuhr 
nieder und traf Spencers linken Arm, der mit einem 
Ruf des Schmerzes zurückgezogen wurde. 

„Hund!“ brüllte der Getroffene, „war's nicht ſofort, 
aber jetzt gleich!” 

Er holte mit aller Gewalt aus, ſprang vor und 
ſchlug zu; der Schmied wich zur Seite, ſo daß der Hieb 
fehlging; ſeine Wucht zog den Rowdy halb nieder, ſo daß 
er ſeinen Rücken bog. 

„Jetzt ſchnell, Vater!“ rief der Boy. 

Es bedurfte dieſer Aufforderung nicht, denn der 
Schmied machte mit hoch erhobenem Hammer eine Viertel⸗ 
wendung nach ſeinem Gegner hin und ſchmetterte ihn mit 
einem einzigen Schlag zu Boden. Den Arm ſofort zum 
zweiten Hieb erhebend, ſtand er da, das Auge auf den 
an der Erde liegenden Feind gerichtet, der krampfhaft 
mit den Armen und Beinen zuckte und ein ängſtliches, 
röchelndes Stöhnen hören ließ. Da ſenkte er den Arm 
wieder, lachte kurz und verächtlich und ſagte: 

„Da liegt der Kerl! Ich könnte ihm den Schädel 
zerſchlagen, tue es aber nicht, weil er ſich nicht mehr 
wehren kann. Er hat ſchon fo genug!“ 

Ja, Spencer hatte genug! Er war weder betäubt 
noch gar tot; aber er ſchien die Macht über ſeine Glieder 
verloren zu haben. Er bekam die Fühigkeit zu willkür⸗ 
lichen Bewegungen erſt nach einiger Zeit zurück und 
richtete ſich langſam auf, indem er ſich dabei mit dem 
einen Arm ſtützte; der andere war unfähig, gebraucht 
zu werden. | 

„Verdamm — — — —“ gurgelte er, indem er 
nur dieſe beiden Silben zwiſchen den Zähnen hervor⸗ 


— 895 — 


brachte. Seine Augen waren mit Blut unterlaufen, und 
ſein Geſicht zeigte den Ausdruck eines ſo tieriſchen Grimms, 
wie ihn ſelbſt ein zähnefletſchender Coyote kaum hat. 

„Ich habe ihm das Schulterblatt zerpocht,“ meinte 
der Sieger. „Wenn er nicht daran zugrunde gehen ſollte, 
wird er wenigſtens niemals wieder friedliche Menſchen 
vergewaltigen können. Macht mir den Hammer los!“ 

Er hielt mir die Hand hin, und ich band ihm das 
ſchwere Werkzeug ab. 

Jetzt ſtand der Rowdy aufrecht da, doch wankte er 
hin und her. Es ſchien alle Kraft aus ſeinem Körper 
gewichen zu ſein; dafür kam ihm die Sprache zurück, und 
er machte von ihr in Flüchen und Verwünſchungen einen 
ſolchen Gebrauch, daß Hammerdull ihm den Revolver an 
den Kopf hielt und drohte: | 

„Schweigt augenblicklich, ſonſt lage ich Euch eine 
Kugel in den Schädel!“ 

Der ſah ihm grinſend ins Geſicht, ſpie vor ihm aus, 
wendete ſich ab und wankte zu ſeinen Genoſſen hin, wo 
er haltlos zuſammenknickte. Man band ihn, ohne daß er 
Widerſtand leiſtete. 

„Fiat justitia!“ ſagte Treskow. „Er hat, was er 
verdient, wenn auch nicht den Tod. Was tun wir nun 
mit ihm? Soll er verbunden werden?“ 

Er ſah dabei Winnetou an. Dieſer antwortete: 

„Der Häuptling der Apatſchen berührt dieſen Men⸗ 
ſchen nicht!“ 

„Von mir hat er 1 keine Hilfe zu erwarten,“ 
erklärte ich. 

„Well! Mag er ſehen, wo er einen Arzt für ſeine 
Schulter findet!“ 

Da ſahen wir vier Männer vom Wald her geritten 


kommen, einen jungen und drei ältere; fie hielten auf 
uns zu. Der Schmied ſagte: 

„Da kommt mein zweiter Sohn, der fiſchen gegangen 
iſt, und die andern ſind drei gute Bekannte, die nächſten 
Nachbarn von mir, was hier freilich etwas weitläufig 
gemeint iſt. Die kommen mir eben recht; denn ſie werden, 
wenn ſie morgen von hier fortreiten, mich von dieſen 
Gäſten befreien, die ſich, ohne mich zu fragen, ſo ohne 
alle Förmlichkeiten bei mir einluden.“ 

Der Sohn ſchien einen guten Fang ed zu 
haben, denn er hatte ein mit Fiſchen gefülltes Netz quer 
vor ſich liegen. Er und ſeine Begleiter waren erſtaunt 
darüber, gefeſſelte Menſchen hier liegen zu ſehen. Der 
Schmied erzählte ihnen in kurzen Worten, was geſchehen 
war, und teilte ihnen dann auch den Wunſch mit, den 
er an ſie hatte. Es traf ſich gut, daß die drei Männer 
nicht in der Schmiede bleiben, ſondern weiter wollten. 
Sie hatten irgend einen Rechtshandel vor und wollten 
nach der Stadt, das heißt, was man dort und damals 
Stadt zu nennen beliebte. Sie mußten die ganze Nacht 
durch reiten, um am Morgen hinzukommen, und erboten 
ſich, die Rowdies mitzunehmen, aber nicht etwa nach der 
Stadt, ſondern ſich ihrer unterwegs in der Weiſe zu 
entledigen, daß in verſchiedenen Zwiſchenräumen einer 
nach dem andern freigelaſſen wurde. Auf dieſe Weiſe 
wurde verhütet, daß ſich die Kerls leicht und bald wieder 
zuſammenfinden und etwas gegen die Familie des 
Schmieds unternehmen konnten. Deſſen Söhne ſollten, 
weil die Gefangenen zu Pferde fortgeſchafft werden 
mußten, mitreiten, um dann die ledigen Tiere heim⸗ 
zubringen. 

Es gab noch einen ſehr bewegten und geräuſchvollen 
Auftritt, als die Taſchen der Rowdies geleert und ſie ſelbſt 


— 887 — 


auf die Pferde gebunden wurden. Daß ſie in dieſer 
Weiſe und ſchon heut beſeitigt werden konnten, war auch 
deshalb ein günſtiger Umſtand, weil zu erwarten war, 
daß die Tramps, die jedenfalls unſrer Fährte folgten, 
nach der Schmiede kommen würden. Sie ſollten die 
Rowdies nicht finden und etwa gemeinſchaftliche Sache 
mit ihnen machen. 

Es waren keine Segenswünſche, die wir von den 
Gefangenen hörten, als ſie unter Begleitung der fünf 
Männer den Ort verließen, an dem es ihnen erſt ſo ſehr 
und dann ſo wenig gefallen hatte. Noch beſſer freilich 
wäre es geweſen, wenn ihr eigentlicher Anführer, der 
„General“, nicht das Glück gehabt hätte, uns zu ent⸗ 
kommen. | 

Dieſer Mann war für uns ſo wichtig, daß ſich Winne⸗ 
tou aufmachte, nach ſeiner Spur zu ſehen. Es war ſchon 
dunkel, als er zurückkehrte. Er hatte die Ueberzeugung 
gewonnen, daß Douglas nicht die Abſicht habe, ſich in 
der Nähe der Schmiede herumzutreiben, denn ſeine Fährte 
hatte ununterbrochen geradeaus geführt. Er fürchtete uns 
viel zu ſehr, als daß es ihm hätte beikommen können, 
uns heimlich zu umſchleichen, um zu ſehen, was wir mit 
ſeinen Gefährten wohl beginnen würden. Er gab ſie 
lieber preis, um nur ſo weit wie möglich von uns fort⸗ 
zukommen. | | 

Winnetou brachte Wundkraut mit, das er auf feinem 
Ritt gefunden hatte, und das war mir ſehr lieb. Ich 
hatte, ſo lange die Rowdies bei uns waren, mehr auf 
ſie als auf mich ſelbſt geachtet; dann, als Ruhe eintrat, 
fühlte ich die Schmerzen meiner Wunde und jene mir 
nur zu bekannte Leere im Kopf und im ganzen Körper, 
die, wenigſtens bei mir, dem Fieber voranzugehen pflegt. 

Ich wurde wieder verbunden; das Wundfieber ſtellte 


— 3986 — 


ſich aber doch in der Nacht ein; ich ſchlief viertelſtunden⸗ 
lang, um dann immer wieder zu erwachen, und als ich 
am Morgen vom Weiterreiten ſprach, ſchüttelte Winnetou, 
der bei mir gewacht hatte, den Kopf und ſagte: 

„Mein Bruder darf ſich nicht zu viel zutrauen. Wir 
werden bleiben.“ 

„Aber wir haben keine Zeit.“ 

„Wenn es ſich um die Geſundheit Old Shatterhands 
handelt, haben wir immer Zeit! Es iſt beſſer, wir bleiben 
einen Tag hier und laſſen die Kräuter wirken, als daß 
du ſpäter in den Bergen liegen bleibſt.“ 

Er hatte recht, und ſo blieben wir bei dem Schmied, 
der uns herzlich gern bei ſich behielt. 

Seine Söhne kamen mit den Pferden zurück und er⸗ 
zählten, wie die Rowdies ſich geſträubt hatten, mitten in 
der finſtern Nacht ſo einer nach dem andern abgeſetzt zu 
werden. Am weiteſten hatten ſie Toby Spencer fortge⸗ 
ſchafft. Ich an ihrer Stelle hätte ihm wohl einen Ge⸗ 
fährten zur Pflege gelaſſen; ſie aber hatten nicht die 
Rückſicht, ſo menſchlich gegen ihn zu ſein, zumal ſein 
Verhalten unterwegs nicht ſo geweſen war, daß es ſie 
zur Milde hätte ſtimmen können. 

Als die Kameraden drin in der Stube beim Mit⸗ 
tageſſen ſaßen, das aus Fiſch und Wildbret beſtand, lag 
ich vor dem Haus im Graſe, denn ich hatte keinen Appetit, 
und im Freien war es mir wohler als zwiſchen den 
engen Wänden. Unſre Pferde ſtanden innerhalb der 
ſchon erwähnten Fenz, wo ſie reichliches Grünfutter 
bekommen hatten; ſie konnten alſo von weitem nicht 
geſehen, wenigſtens nicht als die unſrigen erkannt werden, 
und ſo kam es, daß der Reitertrupp, der jetzt unter den 
letzten Bäumen des Waldes erſchien, keine Veranlaſſung 
fand, die Schmiede, vor der ich lag, zu meiden. Es waren 


— 39 — 


die Tramps. Redy und Old Wabble ritten voran, und der 
einſtige Medizinmann folgte mit ſeiner Squaw hinterher. 

Um nicht geſehen zu werden, ſtand ich nicht auf, ſon⸗ 
dern kroch in die Schmiede und ging von da in die Stube, 
um die Ankunft dieſer lieben Freunde dort zu melden. 
Wir hatten dem Schmied von unſerm Zuſammentreffen 
mit ihnen erzählt; darum ſagte er jetzt: 

„Bleibt hier, Gentlemen! Ich gehe allein hinaus. 
Was werden ſie für Geſichter machen, wenn ſie erfahren, 
wer ſich bei mir befindet!“ N 

Die Tramps hatten inzwiſchen das Haus erreicht. 
Sie riefen nach dem Beſitzer und ſtiegen von den Pferden. 
Ihre Haltung war dabei keine anmutige. Dick Ham⸗ 
merdull kicherte in ſich hinein und ſagte: 

„Sie fühlen noch die ſüße Erinnerung an unſre 
Stöcke. Es wäre ihnen jedenfalls lieber, hier eine Apo⸗ 
theke als eine Schmiede zu finden!“ 

Old Wabble ſah, auch abgeſehen von ſeinem halb⸗ 
verſengten Kopf, ſehr leidend aus. Er war, außer der 
Squaw, allein noch nicht abgeſtiegen und ſaß matt vorn⸗ 
übergebeugt im Sattel; er hatte das Fieber in noch 
höherem Grad als ich in der vergangenen Nacht. Als 
der Schmied zu ihnen hinaus kam, wurde er von Redy 
gefragt: i \ 

„Hört, Mann, iſt geſtern vielleicht ein Trupp von 
ſieben Reitern hier bei Euch vorübergekommen?“ 

„Ja,“ antwortete der Gefragte. 

„Es waren drei Redmen dabei?“ 

„Stimmt!“ 

„Zwei tiefſchwarze Rappen unter den Pferden?“ 

„Auch das iſt richtig.“ 

„Ihr habt ſie jedenfalls beobachtet und wißt, ob ſie 
es ſehr eilig hatten?“ 


— 400 — 


„Nicht eiliger als Ihr.“ 

„Gut! Habt Ihr vielleicht ein Mittel gegen das 
Fieber im Hauſe?“ 

„Nein. Wir pflegen uns hier mit dem Fieber gar 
nicht abzugeben.“ 

„Aber Mundvorrat iſt bei Euch zu haben?“ 

„Leider nicht. Ich bin von einer Horde Rowdies 
vollſtändig ausgeplündert worden.“ 

„Das macht Ihr uns nicht weis. Wir werden ſelbſt 
nachſehen, was zu finden iſt.“ 

„Das muß ich mir verbitten. Dieſes Haus gehört 
nicht jedem Fremden, ſondern mir!“ 

„Laßt Euch nicht auslachen! Ihr werdet doch nicht 
denken, daß ſich zwanzig Männer vor Euch fürchten! 
Wir wollen eſſen, und Ihr habt zu ſchaffen, was wir 
brauchen!“ 

„Ihr ſeid ja ungeheuer kurz! Wie ſteht's mit der 
Bezahlung? Habt Ihr Geld?“ 

„Geld?“ lachte Redy. „Wenn Ihr Hiebe haben wollt, 
die ſind da, Geld aber nicht!“ 

„Hm, daß Hiebe da ſind, merke ich; ich ſehe ſie noch 
deutlich ſitzen!“ 

„Mann, wie meint Ihr das?“ 

„Genau ſo, wie ich es ſage.“ 

„Ich will wiſſen, wie Ihr dazu kommt, von Hieben 
zu reden!“ 

„Wer hat angefangen, von ihnen zu ſprechen? Ich 
doch wohl nicht, ſondern Ihr!“ 

„Ach fo! Ich dachte — — — I. Jetzt macht einmal 
Platz da an der Tür!“ 

„Der Platz an meiner Tür gehört mir und keinem 
andern!“ 

„Redet nicht dummes Zeug! Wir brauchen Fleiſch 


— 401 — 


und Mehl und andere Sachen, und Ihr werdet uns nicht 
verbieten, nach ihnen zu ſuchen!“ 

„Well, ganz wie Ihr wollt! Verbieten werde ich es 
Euch freilich nicht; ich denke nur, daß Ihr Euch über 
das Fleiſch, das Ihr findet, wundern werdet!“ 

„Keine Redensarten, ſondern Platz gemacht!“ 
| Der Schmied ließ ſich vorwärts ſchieben; die Tramps 

drängten ſich hinter Redy her. Als der Schmied zur Tür 
hereingedrängt wurde, ſagte er: 

„Hier ſeht Ihr mein Fleiſch. Es iſt Menſchenfleiſch, 
lebendiges Menſchenfleiſch.“ 

Unſre Gewehre waren alle nach der Tür gerichtet. 
Redy ſah uns und erſchrak: 

„Zurück, zurück!“ rief er. „Geht doch zurück, ihr 
Kerls! Hier in der Stube ſind Old Shatterhand und 
Winnetou und alle andern!“ ö 

Die hinter ihm kamen, ſahen uns auch; ſie wendeten 
ſich ſchleunigſt um. Es gab ein Stoßen, Schieben und 
Drängen, zurück, wieder zum Hauſe hinaus; unſer Lachen 
ſchallte hinter ihnen her. Draußen ſprangen ſie auf die 
Pferde und ritten ſchleunigſt davon, ſchneller, als ſie ge⸗ 
kommen waren. Der letzte war wieder der Medizinmann, 
der das Pferd ſeiner Squaw am Zügel zog. Der dicke 
Hammerdull konnte es nicht unterlaſſen, ihnen durch das 
Fenſter einen Schuß nachzuſenden, indem er rief: 

„Da machen ſie ſich fort, ohne Fleiſch und ohne Mehl! 
Die Suppe iſt ihnen verſalzen! Habe ich da nicht recht, 
Pitt Holbers, altes Coon?“ 

„Hm, bloß auf eine Suppe hatten die es gar nicht 
abgeſehen! Die hätten es heut grad ſo wie geſtern die 
Rowdies hier gemacht. Es iſt ein wahres Glück für den 
Schmied, daß wir nicht fortgeritten, ſondern hierge⸗ 
blieben find!“ 


May, Old Surehand. II. 26 


— 402 — 


„Ob für ihn ein Glück oder ein Unglück, das iſt gleich, 
wenn nur ſie kein Glück dabei gehabt haben!“ 

Winnetou war ſchnell hinaus und zu den Pferden; 
eine Minute ſpäter ſahen wir ihn fortreiten, um den 
Tramps zu folgen. Ich wußte, warum er das ſo raſch 
tat: ſie ſollten ihn ſehen; ſie ſollten wiſſen, daß er hinter 
ihnen war und ſie beobachtete. Dadurch nahm er ihnen 
die Luſt, etwa heimlich umzukehren und uns zu belauern. 
Als er nach vielleicht zwei Stunden wiederkam, konnte 
er uns verſichern, daß ſie ſich aus dem Staube gemacht 
und wir wenigſtens in der nächſten Zeit nichts Feind⸗ 
liches von ihnen zu erwarten hätten. 

Da wir uns nun ſicher fühlen konnten und nicht zur 
gegenſeitigen Hilfe bei einander zu bleiben brauchten, gingen 
Matto Schahko und Apanatſchka fort, um „Fleiſch zu 
machen“; ſie hatten guten Erfolg. Winnetou blieb da⸗ 
heim, um ſich nur mit meiner Wunde zu beſchäftigen. 

Erwähnen muß ich, daß ſchon ſeit dem Morgen das 
Feuer brannte, denn der Schmied hatte für unſre Pferde 
zu arbeiten, wobei ihm dann auch ſeine Söhne halfen. 
Wir befanden uns nicht mehr auf dem weichen Boden 
der Prärie und wollten hinauf in die Felſenberge, wo 
wenigſtens für die Pferde der Bleichgeſichter ein guter 
Hufbeſchlag ſehr nötig war. Unſre beiden Rappen be⸗ 
kamen ſtets, ſobald es nötig wurde, die Eiſenſchuhe an⸗ 
geſchraubt, die eine Erfindung des Apatſchen waren; ſie 
und das nötige Werkzeug befanden ſich in unſern Sattel⸗ 
taſchen. Wir hatten uns für den Fall, daß Späher 
irre zu führen waren, ſogar Hufeiſen mit Vexierſtollen 
machen laſſen, die uns ſchon oft von Nutzen geweſen 
waren. | 

So verging die Zeit bis zum Abend, wo ich wieder 
das Fieber bekam, doch gelinder als früher und nur für 


— 403 — 


kurze Zeit. Die Nacht durchſchlief ich ganz, und auch 
Winnetou ſchlief bis früh. Als er dann die Wunde 
unterſucht hatte, ſagte er befriedigt: 

„Die kräftige Natur meines Bruders und die Wund⸗ 
kräuter haben meine Erwartungen übertroffen. Dein 
Hatatitla hat einen ſanften Gang, und ſo wie du zu 
reiten verſtehſt, können wir es wagen, aufzubrechen, ohne 
daß es dir Schaden macht, wenn wir nicht gezwungen 
ſein ſollten, auf ein Gelände zu gehen, wo der Ritt zu 
anſtrengend wird. Wir werden öfter ausruhen als ſonſt.“ 

Er nahm einige Nuggets aus feiner verborgenen 
Gürteltaſche, um den Schmied zu bezahlen. Dieſer meinte, 
es ſei zu viel, er wollte ſich nur ſeine Arbeit, nicht aber 
ſeine Gaſtfreundlichkeit vergüten laſſen; der Apatſche aber 
nahm nichts zurück. Mit den herzlichen Wünſchen der 
vier braven Menſchen verſehen, ſetzten wir uns auf und 
ritten fort, dem Gebirge zu. 


Achtes Kapitel 
Im Bärental 


Unſer Weg führte von jetzt an ſtets aufwärts. 
Am Abend kamen wir jenſeits der vorlagernden Sand⸗ 
ſteinberge an und befanden uns nun vor den eigent⸗ 
lichen Felſenbergen. 

Wir hatten uns nicht ſehr darum gekümmert, wohin 
die Tramps geritten ſeien. Es galt für uns, ſo bald wie 
möglich den Park von San Luis zu erreichen, und wir 
wußten oder ahnten vielmehr, daß wir Thibaut und die 
Squaw dort wiederſehen würden; die andern Perſonen 
konnten uns, Old Wabble ausgenommen, gleichgültig ſein. 

Nun mußten wir den alten Kontinentalpfad ver⸗ 
laſſen und uns ſeitwärts wenden; die Szenerie des Ge⸗ 
birges entfaltete ſich um uns in ihrer ganzen eindrucks⸗ 
vollen Herrlichkeit. Wir befanden uns in der Gegend der 
Taxodienwälder und ſtaunten oft über die außerordent⸗ 
liche Höhe der Bäume, obgleich dieſe noch lange nicht mit 
den rieſigen Sequoias der Sierra Nevada zu vergleichen 
waren, unter denen es Giganten gibt, die mehr als dreißig 
Meter im Umfang haben. Im Viſalia⸗Diſtrikt ſteht eine 
Sequoia, die einen Durchmeſſer von zwölf Metern hat. 

Wir ritten jetzt auf einer ſchräg hinaufziehenden, 
mehrere engliſche Meilen breiten Ebene, die wie ein Dach 
zur Höhe ſtieg und vollſtändig von Wald bedeckt war. 
Das war nicht der in den Wipfeln dicht verſchlungene, 
grün überdachte Urwald des Nordens, ſondern die rieſigen 


— 405 — 


Koniferen ſtanden einzeln, weit auseinander, ſich kaum mit 
den Wipfelrändern berührend; ihr Streben ging nur in 
die Höhe, nicht nach Vereinigung. Die Sonnenſtrahlen 
fanden den Weg zwiſchen ſie herein und ließen nicht jenes 
Dunkel aufkommen, das den nördlichen Wäldern eigen iſt. 
Wir ritten langſam und ſtetig dieſe ſchiefe Ebene hinan, 
die ich noch nicht kannte. Winnetou aber war ſchon da⸗ 
geweſen und verkündigte uns: 

„Jenſeits dieſer Höhe liegt das Kui⸗erant⸗yuawi!), 
in dem man zu jeder Zeit den Grizzly trifft. Kein roter 
Mann ſchlägt da gern über Nacht ſein Lager auf, denn 
der graue Bär der Felſenberge mag kein Feuer dulden 
und greift den Menſchen an, ohne erſt von ihm beläſtigt 
worden zu ſein.“ N 
| „Werden wir da übernachten?“ fragte Hammerdull. 
„Ich hätte gar zu gern einen Grizzly geſchoſſen.“ 

„Nein. Wir ſind ſieben Perſonen und müßten der 
Grizzlys wegen vier Wächter haben; da könnten nur drei 
von uns ſchlafen; wenn aber von ſieben Männern, die 
der Ruhe bedürfen, vier wachen müſſen und nur drei 
ſchlafen dürfen, ſo iſt das kein gutes Lager zu nennen.“ 

„Ob ich den Grizzly im Schlaf oder im Wachen 
ſchieße, das bleibt ſich gleich, wenn ich ihn nur ſo treffe, 
daß er liegen bleibt.“ 

„Hat mein kleiner, dicker Bruder ſchon einmal ein 
Wild im Schlaf erlegt?“ 

„Hunderttauſende! Wie oft habe ich geträumt, daß 
ich Büffel und andres Viehzeug gleich herdenweiſe ge⸗ 
ſchoſſen habe! Nicht wahr, Pitt Holbers, altes Coon.“ 

„Ja,“ nickte der Lange. „Du haſt die Heldentaten 
alle im Traume zu verrichten, und wenn du dann auf⸗ 
wachſt, iſt es mit dem Heldentum vorbei.“ 


5 Bärental. 


— 406 — 


„Blamiere mich nicht! Ich verſuche wenigſtens im 
Schlaf ein tüchtiger Kerl zu ſein; du aber bleibſt im 
Wachen und Schlafen das alte, ungeſchickte Coon.“ 

Vungeſchickt? Bring mir den größten Grizzly her, 
den es auf Erden geben kann, ſo ſollſt du erfahren, wer 
geſchickter iſt, du oder ich!“ 

Die Art und Weiſe, in der Winnetou von den grauen 
Bären dieſes Kui⸗erant⸗yuaw geſprochen hatte, feſſelte 
mich. Der Grizzly pflegt ja nicht in Geſellſchaften bei⸗ 
ſammen zu leben; aus den Worten des Apatſchen aber 
war zu entnehmen, daß man da ſchon mehrere zugleich 
getroffen hatte. Darum erkundigte ich mich bei ihm: 

„Leben die Bären dieſes Tales nicht ſo einſam wie 
die anderer Gegenden?“ | 

„Kein Grizzly iſt geſellig,“ antwortete er. „Es zieht 
ſich ſogar ſeine Frau von ihm zurück, ſobald ſie Junge 
hat, weil er ein liebloſer Vater iſt und ſeine Kinder 
gern verzehrt. Aber wenn mein Bruder dieſes Tal zu 
ſehen bekommt, wird er ſich nicht darüber wundern, daß 
die grauen Bären dort häufiger als ſonſt irgendwo an⸗ 
zutreffen ſind. So oft die Büffel der Felſenparks ſich auf 
der Wanderung befinden, müſſen ſie durch das Kui⸗erant⸗ 
yuaw ziehen; das lockt die Bären herbei und hält fie 
feſt. Die Gegend iſt ſo abgelegen und zugleich auch ſo 
verrufen, daß ſelten ein Jäger ſie aufſucht; es gibt 
Beeren, die der Grizzly liebt, in großer Menge, und in 
den wilden Seitenſchluchten des Tals kann er wohnen, 
ohne von ſeinesgleichen beläſtigt zu werden. Dennoch 
kommen, beſonders zur Paarungszeit, furchtbare Kämpfe 
zwiſchen ihnen vor; denn man bat die Weberrefte der 
Beſiegten gefunden, denen es anzuſehen war, daß ſie von 
keinem Jäger erlegt worden waren. Wenn wir Zeit 
hätten, würden wir da bleiben, um zu jagen.“ 


— 407 — 


Ja, wir hatten leider keine Zeit, und dennoch war 
es uns vorbehalten, länger, als wir jetzt ahnten, in dem 
verrufenen Tal auszuhalten. 

Wie hoch die ſchräg anſteigende Felſenwand war, die 
unſre Pferde zu erklimmen hatten, läßt ſich daraus er⸗ 
ſehen, daß wir über eine Stunde brauchten, ehe wir die 
Höhe erreichten. Droben gab es eine langgeſtreckte, auch 
bewaldete Hochebene, die von zahlreichen Klüften zerriſſen 
war und ſich jenſeits ſteil abwärts ſenkte. 

Unten lag das „Bärental“, auf das wir aber des 
Waldes wegen jetzt noch keine Ausſicht hatten. Winne⸗ 
tou leitete uns nach einer der Klüfte, die durch ein 
rauſchendes Gebirgswaſſer geriſſen worden war; ſie fiel 
ſo ſchnell in die Tiefe, daß wir abſtiegen und die Pferde 
führten. Erwähnen muß ich, daß der Ritt von der 
Schmiede bis hierher mich nicht ſehr angeſtrengt hatte; 
das Fieber wiederholte ſich nicht. Schmerzen, und zwar 
nicht unbedeutende, verurſachte mir die Wunde freilich; 
aber das war kein Grund, etwa anzuhalten oder gar auf 
dem Faulpelz liegen zu bleiben. 

Unten angekommen, konnten wir einen Teil des 
„Bärentals“ überblicken. Es war da, wo wir uns be⸗ 
fanden, wenigſtens eine engliſche Meile breit. Auf ſeiner 
Sohle floß ein Creek, der von den rechts und links 
herbeirauſchenden Bergwaſſern geſpeiſt wurde. Zahlreiche 
von oben herabgeſtürzte Felsblöcke lagen zerſtreut umher 
und boten mit dem ſie umgebenden Strauchwerk den 
Tieren dieſer Wildnis willkommene Verſtecke. Zu beiden 
Seiten gab es Schluchten wie die, in der wir herab⸗ 
gekommen waren. Einzelne breitwipfelige Rieſenbäume 
ragten gen Himmel, und an den Talwänden ſtieg der 
mit dornigem Geſtrüpp unterholzte Wald zu den Höhen 
auf. Es konnte gar keinen beſſern Aufenthalt für 


— 408 — 


graue Bären geben, und daß dieſen Tieren, falls ſich jetzt 
ſolche hier befanden, reichlich Nahrung geboten war, das 
erſahen wir aus den zahlreichen Büffelfährten. 
| Die eigentliche Zeit der großen Büffelwanderung 
war noch nicht gekommen, aber die Biſons, die ſich wäh⸗ 
rend des Sommers auf den hochgelegenen und alſo käl⸗ 
teren Gebirgswieſen aufgehalten hatten, waren doch ſchon 
herniedergeſtiegen und durch das Tal gekommen. Der 
Buffalo, beſonders in ſeinen älteren, ſtarken Exemplaren, 
iſt das einzige Tier, das es mit dem Grizzly aufzunehmen 
wagt. Der graue Bär erreicht eine Schwere bis zu zehn 
und der Biſon eine ſolche bis über zwanzig Zentner; was 
für gewaltige Kämpfe mußte dieſes ſtille, weit abgelegene 
Kui⸗erant⸗yuaw wohl ſchon geſehen haben! 

Wir durchquerten es, ohne uns um die Büffelſpuren 
zu kümmern, und hielten auf eine Seitenſchlucht zu, die, 
wie Winnetou wußte, jenſeits mit verhältnismäßiger 
Bequemlichkeit zur Höhe führte. 

Auch ſie hatte einen, allerdings kleinen, ſchmalen 
Spring, der ſich in zahlreichen dünnen Kaskaden abwärts 
ſtürzte und uns den nötigen Raum zum Aufſtieg ließ. 
Wir mochten die halbe Höhe erreicht haben, als der 
voranreitende Apatſche anhielt und vom Pferde ſprang. 
Er unterſuchte den vielfach zerriſſenen, oft mit Gras 
und Moos bedeckten Boden mit ungewöhnlicher Sorg⸗ 
falt und ſagte dann: 

„Wenn wir Zeit hätten, könnten wir uns jetzt das 
Fell eines grauen Bären holen. Er iſt hier von rechts 
her quer über die Schlucht gewechſelt und wird ſein Lager 
wahrſcheinlich da links drin in den Felſen haben.“ 

Wir waren alle auch ſchnell von den Pferden 
herunter, um die Spur anzuſprechen. Winnetou wies 
die Gefährten mit den Worten zurück: 


— 49 — 


„Meine Brüder mögen ſtehen bleiben, um die Fährte 
nicht zu verderben! Nur Old Shatterhand mag her zu 
mir kommen!“ 

Ich ging hin. Es hatten die ſcharfen Augen des 
Apatſchen dazu gehört, ſie zu entdecken. Wir beide folgten 
ihr über den Spring hinüber, wo ſie deutlicher wurde. 
Es mußte ein alter, ſehr ſtarker „Vater Ephraim“ ſein, 
von dem ſie ſtammte. — Der Weſtmann nennt den Grizzly 
nämlich „Vater Ephraim“. — Die Spuren der gewaltigen 
Tatzen waren hier deutlich zu ſehen, und als wir 
ein Stück weitergeklettert waren, zeigten die von den 
Seiten herankommenden Gänge, daß wir wirklich das 
Lager des Bären vor uns hatten. 

Ich fühlte große Luſt, dieſem Ephraim einen Beſuch 
abzuſtatten, und ſah Winnetou fragend an. Er ſchüttelte 
den Kopf und kletterte zurück. Wir mußten freilich an⸗ 
nehmen, keine Zeit zu haben, und uns mit dem ſchweren 
Pelz des Bären zu ſchleppen, war auch nicht grad be⸗ 
quem. Als wir drüben wieder ankamen, ſah ich die 
Augen Matto Schahkos und Apanatſchkas leuchten; ſie 
ſagten aber nichts. Hammerdull indes fragte: 

„Liegt einer drüben?“ 

„Ja,“ nickte ich. 

„Well; den holen wir uns!“ 

„Nein; wir laſſen ihn in Ruhe.“ 

„Aber warum? Ein Bärenlager zu finden, ohne 
das Neſt auszunehmen, iſt doch grad ſo, wie eine Bonanza 
zu entdecken und das Gold liegen zu laſſen! Ich kann 
das wirklich nicht begreifen!“ 

„Wir müſſen fort.“ 

„Ja, aber erſt dann, wenn wir dem Kerl eins auf 
den Pelz gebrannt haben!“ 

D Das iſt nicht fo leicht und geht nicht fo ſchnell, 


— 410 — 


wie Ihr denkt, lieber Hammerdull. Ihr müßt in Be⸗ 
tracht ziehen, daß wir dabei das Leben wagen.“ 

„Ob wir es wagen oder nicht, das bleibt ſich gleich, 
wenn er es uns nur nicht nimmt. Ich ſchlage alſo vor, 
daß wir uns jetzt mit — — —“ 

„Mein Bruder Hammerdull mag uns folgen, ohne 
etwas vorzuſchlagen,“ unterbrach ihn Winnetou, indem 
er aufſtieg und weiterritt. 

„Welch ein großer Fehler!“ brummte der Kleine 
mißmutig, indem er ſich auf ſeine alte Stute ſchwang. 
„Haben das Neſt ſo ſchön vor uns liegen und laſſen die 
Eier drin! Was ſagſt du dazu, Pitt Holbers, altes Coon?“ 

„Daß das gefährliche Eier ſind, lieber Dick. Laſſen 
wir ſie drin!“ antwortete der Lange. 

„Gefährlich? Möchte wiſſen! Ein Grizzly iſt ein 
Grizzly, weiter nichts!“ 

Mir tat es auch leid, dieſes „Neſt“ liegen laſſen 
zu müſſen, ohne die Eier, wie er ſich ausdrückte, aus⸗ 
nehmen zu dürfen; aber Winnetou hatte recht. Wenn 
wir auch nicht grad das Leben gewagt hätten, ſo muß 
man bei einer Begegnung mit dem grauen Bären auf 
einen Unfall doch immer gefaßt ſein, und ich hatte an 
meiner Wunde ſchon genug! 

Kurz, nachdem wir die jenſeitige Höhe erreicht hatten, 
gelangten wir an den Rand einer jener Lichtungen, die 
in den Rocky⸗Mountains „Parks“ genannt werden. Dieſer 
Park lief wohl zwei engliſche Meilen lang auf der Höhe 
hin und war durchſchnittlich eine halbe Meile breit. 
Einzelne ſchattige Bäume oder Baumgruppen und boskett⸗ 
artig verteiltes Strauchwerk gaben ihm das Ausſehen 
eines künſtlich angelegten Geheges. Vom jenſeitigen 
Rand an ſenkte ſich der Wald allmählich wieder in ein 
breites Tal hinab. 


— 411 — 


Der Park war faft genau von Süd nach Nord ge 
richtet, und wir befanden uns in ſeiner nach Südoſt 
gelegenen Ecke, von wo aus wir am ſüdlichen Rand 
weiterritten, um noch vor Abend in das nächſte Tal 
hinabzukommen und dort Halt zu machen. Da ſah ich 
im Nordweſten eine Krähenſchar, die von Zeit zu Zeit 
über dem Wald in die Luft ſteigend, ſich immer wieder 
niederſenkte, und zwar nicht an einer und derſelben 
Stelle, ſondern in fortlaufender Weiſe. Das mußte 
mir auffallen. Auch Winnetou hielt den Blick nach 
jener Gegend gerichtet, um die Krähen zu beobachten. 
Die andern wurden gleichfalls aufmerkſam, und Matto 
Schahko ſagte: a 

„Uff! Dort kommen Leute aus dem Tal herauf. 
Die Krähen fliegen von Zeit zu Zeit auf, weil ſie von 
dieſen Leuten geſtört werden.“ 

„Die Vermutung des Häuptlings der Oſagen wird 
wohl richtig ſein,“ antwortete ich. „Auch ich nehme 
an, daß dort Menſchen kommen, und zwar nicht wenige, 
weil die Vögel ſich vor zwei oder drei Perſonen nicht ſo 
ſehr ſcheuen würden.“ 

„Müſſen wir nicht zu erfahren ſuchen, wer es iſt?“ 

„Eigentlich haben wir keine Zeit dazu. Wenn wir 
hier verweilen, kommen wir nicht vor Abend in das 
Tal hinab. Winnetou mag beſtimmen, ob das Erſcheinen 
ſo vieler Leute wichtig genug für uns iſt, hier zu bleiben 
und ſie zu beobachten.“ 

„Es müſſen Indianer ſein,“ erklärte der Apatſche. 

„Das iſt für uns bedenklich! Was wollen ſie auf 
dieſer Seite des Gebirges? Wenn es wirklich Indianer 
ſind, ſo können ſie nur dem Volk der Utahs angehören, 
deren Paßpfade weiter nördlich liegen.“ 

„Mein Bruder Shatterhand hat recht. Was wollen 


2 


ſie hier? Wir müſſen das zu erfahren ſuchen. Da wir 
aber nicht wiſſen, welche Richtung ſie nehmen werden, 
wenn ſie dieſen Park erreicht haben, ſo müſſen wir in den 
Wald zurück und da warten, bis ſie kommen.“ 

Ich war, ein höchſt ſeltener Fall, diesmal nicht mit 
Winnetou einverſtanden; darum ſagte ich in dem höflichen 
Ton, der unter Freunden erſt recht geboten iſt: 

„Mein Bruder möge es verzeihen, daß ich lieber nicht 
hier warten möchte!“ 

„Warum nicht?“ fragte er. 

„Wenn wir hier warten und fie dann ſehen wollen, 
müſſen wir ihnen nachreiten, ſobald ſie den nördlichen 
Rand des Parks erreicht haben. Das gibt bis dorthin 
einen Weg von zwei Meilen. Da ſie nicht halten, ſondern 
weiterreiten werden, müſſen wir ihrer Spur folgen, was 
ſehr ſchwer ſein wird, weil es inzwiſchen dunkel gewor⸗ 
den iſt.“ 

„Mein Bruder hat recht,“ ſtimmte er bei. 

„Ich möchte ſie im Vorbeireiten beobachten!“ 

„Dazu iſt die Zeit zu kurz. Ja, wir beide kämen 
noch hin, weil wir die beſten Pferde haben, aber unſre 
Gefährten nicht.“ 

„So reiten wir allein, und die Kameraden mögen 
uns langſamer nachkommen. Da wir auf dem offnen 
Park keine Spuren machen dürfen, haben ſie ſich längs 
dieſes Waldrandes unter den Bäumen zu halten und ſich 
drüben bei der andern Ecke, auch immer am Rand hin, 
nordwärts zu wenden. Sie ſehen die hohe Baumgruppe, 
die da oben hoch über den Wipfeln emporragt; dort mögen 
ſie uns erwarten.“ 

„Winnetou ſtimmt ſeinem Bruder bei; ſie mögen dort 
auf uns warten, aber ja kein Feuer anzünden, durch das 
ſie ſich verraten würden!“ 


— 412 — 


— 418 — 


Wir trennten uns alſo von ihnen und jagten unter 
den Bäumen des Waldrandes erſt weſtwärts und dann, 
als wir die ſüdweſtliche Ecke erreicht hatten, nordwärts. 
Das wurde uns nur dadurch möglich, daß die Bäume 
nicht dicht beiſammenſtanden; dennoch mußten wir gut 
aufpaſſen, denn es gab hervorragende Wurzeln und mas⸗ 
kierte Löcher genug, die uns zu Fall bringen konnten. 

Unſer jetziger Weg war, da er eine Ecke bildete, faſt 
drei Meilen lang, während es von da aus, wo wir die 
Krähen über dem Wald geſehen hatten, bis zum Park 
nur wenig über eine halbe Meile war; aber die Ankömm⸗ 
linge ritten bergauf, alſo wahrſcheinlich langſam, und wir 
flogen in ſchlankem, wenn auch vorſichtigem Galopp dahin, 
fo daß wir hoffen durften, noch vor ihnen an der nord- 
weſtlichen Ecke des Parks anzukommen. 

Bevor wir dieſe erreicht hatten, hielten wir an, um 
unſre Pferde zurückzulaſſen. Wir banden ſie an einer 
geeigneten Stelle an und gingen dann zu Fuß weiter, 
bis wir an den obern Rand einer Vertiefung gelangten, 
die hinunter ins Tal zu führen ſchien. Dies war jeden⸗ 
falls der Weg, auf dem die Erwarteten heraufgeritten 
kamen. Sie waren noch nicht vorüber, denn als wir 
uns zwiſchen den Sträuchern ſo weit vorſchoben, wie es 
möglich war, und hinunter in die Vertiefung blickten, 
war keine Spur, weder eines Menſchen noch eines Pferdes, 
zu ſehen. | | 

Erfreut darüber, daß wir noch zur rechten Zeit ge⸗ 
kommen waren, lauſchten wir geſpannt nach unten. Es 
dauerte nicht lange, ſo hörten wir die nahenden Schritte 
eines Pferdes. Sollten wir uns geirrt haben? Sollte 
es ein einzelner Reiter anſtatt einer ganzen Schar ſein? 
Höchſt unwahrſcheinlich! Jedenfalls ritt einer als Späher 
voran. 


— 414 — 


Jetzt erſchien er. Wir ſahen erſt ſeinen Kopf über 
das Geſträuch ragen, und dann erblickten wir ihn und 
ſein Pferd in voller Geſtalt. Es war ein Utah⸗Indianer, 
und zwar ein Häuptling; er hatte zwei Adlerfedern im 
Haarſchopf ſtecken. Sein Pferd — — — 

Mein Himmel! Sein Pferd — — —! Ja, ſah ich 
denn recht? Das war ja ganz genau, Haar für Haar, 
das Pferd, das ich damals dem Häuptling der Komant⸗ 
ſchen aus dem Kaam⸗kulano entführt und ſpäter Old 
Surehand geſchenkt hatte! Winnetou ſtieß mich an und 
ſagte leiſe: 

„Uff! Dein Komantſchenpferd! Das Pferd unſeres 
Bruders Surehand!“ | 

„Ja, es iſt's; es iſt's ganz gewiß!“ antwortete ich 
ebenſo leiſe. 

„Wenn ſie ihn gefangen und getötet hätten!“ 

„Dann wehe ihnen! Kennſt du dieſen Roten?“ 

„Ich kenne ihn. Es iſt Tuſahga Saritſch'), der 
Häuptling der Utahs vom Capote⸗Stamm. Ich habe 
ihn ſchon mehrmals geſehen.“ 

„Was für ein Krieger?“ 

„Nicht tapfer, ſondern falſch und voller Hinterliſt.“ 

„Wollen warten und ſeine Krieger ſehen!“ 

Der Häuptling war vorüber. Nun kamen ſeine Leute, 
nach Indianerart, einer hinter dem andern. Wir zählten 
zweiundfünfzig Mann. In ihrer Mitte ritt auf einem 
alten Klepper — — — Old Surehand, an den Händen 
gefeſſelt und mit den Füßen an das Pferd gebunden. 


Wie war er in die Hände der Utahs gefallen? Er 
ſah leidend, aber keineswegs niedergeſchlagen aus. Es 
war anzunehmen, daß er ſich ſchon einige Tage bei dieſen 


) UAtahſprache: Schwarzer Hund. 


— 415 — 


Roten befand, die ihn wahrſcheinlich ſchlecht behandelt 
und ihm keine Nahrung gegeben hatten. 

Es war jetzt nichts, gar nichts für ihn zu tun. Wir 
mußten ſie vorüberreiten laſſen, doch ſtand feſt, daß wir 
alles zu ſeiner Befreiung aufzuwenden und zu wagen 
hatten. Als wir die Schritte ihrer Pferde nicht mehr 
hörten, krochen wir aus dem Gebüſch, um ihnen vorſichtig 
zu folgen. Wir mußten erfahren, wo ſie ihr Lager auf⸗ 
ſchlagen würden. 

Als ſie den Park erreicht hatten, ritten ſie an ſeinem 
nördlichen Rand hin, doch gar nicht weit; dann ſtiegen 
ſie von den Pferden. Wir ſahen bald, daß ſie an dieſer 
Stelle bleiben wollten; darum kehrten wir zu unſern 
Pferden zurück und ritten nach der hohen Baumgruppe, 
wohin wir unſre Gefährten beſtellt hatten. 

Sie waren ſchon dort angekommen und warteten auf 
uns. Es läßt ſich denken, welchen Eindruck das, was wir 
ihnen erzählten, auf ſie machte. Es kam jetzt alles darauf 
an, in welcher Abſicht die Utahs hierhergekommen waren, 
was ſie mit Old Surehand vorhatten, und welche Gelegen⸗ 
heit ſich uns bot, ihn zu befreien. 

Zunächſt mußten wir das nächtliche Dunkel abwarten, 
um die Utahs ungeſehen beſchleichen zu können. Die Däm⸗ 
merung war zwar ſchon nahe, doch mußte es für unſer 
Vorhaben vollſtändig finſter ſein. Inzwiſchen ſah Winne⸗ 
tou nach meiner Wunde, die er in zufriedenſtellendem 
Zuſtand fand. 

Als dann das erſte, tiefe Dunkel des Abends herein⸗ 
gebrochen war, machten wir uns nach dem Lagerplatz der 
Utahs auf. | 

Wir gingen nicht über den offenen Park hinüber, 
ſondern wieder an deſſen Rand hin und bogen an der 


* 
[7 
* 
— . 


Ecke rechts ab. Nicht lange, ſo ſahen wir mehrere Feuer 
brennen, deren Rauch wir ſchon vorher gerochen hatten. 
Daß ſie nicht unter freiem Himmel, ſondern unter den 
Bäumen angezündet waren, konnte uns nur lieb ſein, 
weil uns eben dieſe Bäume Deckung gaben. Nur 
die Pferde waren draußen angehobbelt und wurden von 
zwei Roten bewacht, die gelangweilt auf und ab ſpazierten. 


— 416 — 


Wir drangen links in den Wald ein, um von hinten 
an die Indianer zu kommen; es gelang uns vor⸗ 
trefflich; denn es gab da hohe, kräftige Farnpflanzen, durch 
die wir uns faſt ganz an ſie heranſchieben konnten. 
Freilich gehörte große Geſchicklichkeit und viel Zeit dazu; 
die geringſte Berührung an den untern Teilen der Wedel 
hatte oben eine ſehr auffällige Bewegung zur Folge. Wir 
vereinfachten das, indem der Apatſche vorankroch und ich 
ihm folgte; wir trennten uns erſt dann, als wir mög⸗ 
lichſt weit gekommen waren. Auf dieſe Weiſe hatten wir 
uns nicht zwei Wege, ſondern nur einen zu bahnen und 
erſparten die Hälfte der Arbeit, die auf unſerm Rückzug 
vorzunehmen war. 


Mit dieſer Arbeit meine ich die Vertilgung der Spuren. 
Die Indsmen durften morgen früh, wenn es hell geworden 
war, nicht ſehen, daß ſich jemand in den Farnen 
befunden hatte. Wie ſchwer und zeitraubend eine ſolche 
Arbeit iſt, brauche ich wohl nicht zu ſagen. Es muß, 
indem man ſich rückwärts bewegt, jede einzelne Pflanze, 
ja jeder einzelne Wedel gerichtet und auch der Boden von 
jedem Eindruck der Hände und der Füße geſäubert werden. 


Tuſahga Saritſch ſaß, mit dem Rücken an einem 
Stamm lehnend und uns ſeine linke Seite zukehrend, 
an einem Feuer, das ſeine Füße faſt berührte. Jenſeits 
dieſes Feuers ſaß Old Surehand dem Häuptling gegen⸗ 


— 417 — 


über, an einen Baum gebunden; außerdem hatte man ihm 
die Hände und die Füße gefeſſelt. Seine lange, braune 
Haarmähne hing ihm wirr und ungeordnet bis auf den 
Waldboden herab. Das gab ihm Aehnlichkeit mit 
Winnetou, noch größere aber — — — mit Kolma Puſchi, 
dem geheimnisvollen Indianer, eine Aehnlichkeit, die mir 
jetzt geradezu auffallend vorkam. 

Wir ſahen an den herumliegenden Reſten, daß die 
Utahs gegeſſen hatten. Wahrſcheinlich hatte Old Sure⸗ 
hand nichts bekommen. Es war für ihn unmöglich, 
unſre Gegenwart zu ahnen; er wußte ja nicht, daß ich 
in Jefferſon⸗City geweſen, dort von feinem Vorhaben 
gehört hatte und ihm nachgeritten war. Ich hätte ihm 
jetzt wohl ein Zeichen geben können, das er von früher 
her kannte, war aber ſo vorſichtig, dies nicht zu tun, da 
ich die Größe ſeiner Ueberraſchung in Berechnung ziehen 
mußte. Es war damit zu rechnen, daß er uns durch ſie 
verraten würde. 

Wir lagen über eine halbe Stunde lang, ohne etwas 
Wichtiges zu hören. Die Indianer ſprachen miteinander, 
doch nichts, was uns von Nutzen ſein konnte. Vom Zweck 
ihres jetzigen Rittes war kein Wort dabei. Der Häupt⸗ 
ling verhielt ſich vollſtändig ſchweigend; er bewegte ſich 
kaum einmal leiſe. Sein Geſicht und ſeine Geſtalt ſchienen 
aus Holz geſchnitzt zu ſein. Nur in ſeinen Augen war 
Leben; ſie blickten wieder und immer wieder mit dem 
Ausdruck befriedigten Haſſes zu dem Gefangenen hinüber. 
Dieſer ſaß auch faſt unbeweglich, die Augenlider ſtets 
niedergeſchlagen. Er hatte das Ausſehen, als ob er ſich 
in einer ſo verächtlichen, ihm ſo gleichgültigen Umgebung 
befinde, daß es ſich gar nicht verlohne, auch nur mit der 
Wimper zu zucken. Gab es ein bezeichnendes Wort für 
ſeine Haltung, ſo war es nur das eine: Stolz! 

May, Old Surehand. II. 27 


— 48 — 


Nach der angegebenen Zeit war in der Ferne die 
Stimme eines Bergwolfs zu hören, worauf eine zweite, 
dann eine dritte und vierte Stimme antwortete. Das gab 
dem Häuptling Veranlaſſung, ſein Schweigen zu brechen: 

„Hört das Bleichgeſicht die Wölfe? Sie ſtreiten ſich 
um die Knochen, die ihnen der Kui-erant!) von feiner 
Mahlzeit übrig gelaſſen hat.“ 

Old Surehand antwortete nicht. a Häuptling der 
Utahs fuhr fort: 

„So werden ſie ſich morgen abend auch um deine 
Gebeine ſtreiten!“ 

Da der Gefangene auch jetzt ſchwieg, fuhr ihn 
Tuſahga Saritſch zornig an: 

„Warum redeſt du nicht? Weißt du nicht, daß man 
zu antworten hat, wenn ein berühmter Häuptling den 
Mund öffnet, eine Frage auszuſprechen?“ 

„Berühmt? Pshaw!“ ließ ſich Old Surehand jetzt 
verächtlich hören. 

„Zweifelſt du daran?“ 

„Ja. Ich habe dich nicht gekannt, bis ich dich ſah; 
ich hatte noch nicht ein einziges Mal deinen Namen gehört. 
Kannſt du da berühmt ſein?“ 

„Iſt nur der berühmt, deſſen Namen grad deine 
Ohren gehört haben?“ 

„Wer den Weſten ſo kennt wie ich, kennt auch den 
Namen jedes berühmten Mannes!“ 

„Uff! Du willſt mich beleidigen, nur damit ich dich 
ſchnell töte! Das wird aber nicht geſchehen. Du ſollſt 
dem grauen Bären gegenüberſtehen!“ 

„Damit du dich dann mit ſeinem Fell, ſeinen Ohren, 
ſeinen Krallen und ſeinen Zähnen ſchmücken und vor⸗ 
täuſchen kannſt, du habeſt ihn erlegt!“ 


) Grauer Bär. 


* 

5 

„ 4 

5 — ——— m — — 


— 419 — 


„Schweig! Es ſind über fünfzig Krieger hier, die 
wiſſen werden, daß ich ihn nicht getötet habe. Wie kann 
ich da ſo ſagen, wie du ſprichſt?!“ 

„Wer feig iſt, iſt zu jeder Lüge fähig. Warum 
ſchickt ihr mich in das Tal der Bären“? Warum wollt 
ihr nicht ſelbſt hinunterreiten?“ 

„Hund! Haſt du nicht bei der Beratung geſeſſen 
und jedes Wort vernommen, als wir über dich beſchloſſen 
haben? Du haſt unſre beiden Krieger ermordet, die Vater 
und Sohn waren, Bärenzahn und Bärentatze' genannt. 
Beide trugen ihren Namen davon, daß ſie den mächtigen 
grauen Bären des Felſengebirgs erlegt hatten; ſie waren 
ſehr berühmte Krieger — — —“ 

„Feiglinge waren ſie!“ fiel Old Surehand ihm in 
die Rede. „Feiglinge, die mich von rückwärts überfielen! 
Ich tötete ſie, indem ich mich gegen ſie wehrte, im offnen, 


ehrlichen Kampf. Wäret ihr nicht fo viele über mich 


gekommen, fünfzig gegen einen, und wäre ich auf dieſen 
Kampf vorbereitet geweſen und nicht hinterrücks ange⸗ 
griffen worden, ſo hättet ihr mich anders kennen gelernt, 
als es geſchehen iſt!“ | 

„Jeder rote Mann kennt die Bleichgeſichter; ſie ſind 
blutdürſtig und räuberiſch wie die wilden Tiere und 
müſſen als ſolche behandelt werden. Wer da glaubt, 
fie ſeien eines ehrlichen Kampfes wert, der wird von ihnen 
ausgelöſcht. Du biſt ein Bleichgeſicht, doch vermute ich, 
daß du rotes Blut in den Adern haſt; das aber ſind die 
Schlimmſten, die es gibt.“ 

Dieſe Worte des Häuptlings machten mich ſtutzig. Old 
Surehand rotes Blut in den Adern! Er hatte nicht das 
Aeußere und noch viel weniger den Charakter eines Me⸗ 
ſtizen; aber es hatte mir doch ſchon oft, wenn ich ſtill 
und ihn beobachtend bei ihm ſaß, geſchienen, als ob etwas 


— 420 — 


Indianiſches an ihm fet; ich hatte nur nicht finden können, 
worin das eigentlich lag. Nun ſprach der Utah dieſen 


Gedanken offen aus, und als ihm hierauf die Augen Old 


Surehands in tiefer, aber verhaltener Glut entgegenleuch⸗ 
teten, wurde mir ſoviel wenigſtens klar: das waren In⸗ 
dianeraugen! Der Utah fuhr fort: 

„Der Tod Bärenzahns' und der Bärentatze muß 
gerächt werden. Wir können dich nicht mit nach dem 
Lager unſers Volkes nehmen, um dich dort am Marter⸗ 
pfahl ſterben zu laſſen, denn das liegt zu fern von hier; 
darum haben wir einen andern Tod für dich beſchloſſen: 
Du haſt die beiden ‚Bären‘ getötet und ſollſt nun dafür 


auch von den Bären getötet werden. Liegt darin etwa 


eine Feigheit von unſrer Seite?“ 

„Darin nicht, aber in der Weiſe, in der ihr es aus⸗ 
führen wollt.“ 

„Das iſt keine Feigheit, ſondern eine Milde gegen 
dich!“ 

„Pshaw! Ihr getraut euch nicht in das Tal der 
Bären“ hinunter!“ 

„Wahre deine Zunge, Hund! Iſt es nicht ein großes 
Vertrauen, das wir dir erweiſen, indem wir dich zwei 


Tage lang früh allein fortgehen laſſen und deinem Wort 


glauben, daß du abends wiederkommſt?“ 

„Wie verhält ſich dieſes Vertrauen zu den Worten, 
die du vorhin über die Bleichgeſichter geſprochen haft? 
Warum ſchenkt ihr mir dieſen Glauben?“ 

„Weil wir wiſſen, daß Old Surehand hält, was er 
verſprochen hat. Er iſt in dieſer Beziehung ganz wie 
Old Firehand und Old Shatterhand.“ 

„Kennſt du dieſe beiden weißen Jäger?“ 

„Ich habe keinen von ihnen geſehen; aber ich weiß, 
daß fie nie ihr Wort brechen würden. Ganz dasſelbe 


— 21 — 


weiß ich auch von dir. Ihr gehört zu den wenigen Bleich⸗ 


geftchtern,. denen man Glauben und Vertrauen ſchenken 
kann, obgleich ihr wie alle Bleichgeſichter doch Feinde der 
roten Männer ſeid. Glaubſt du etwa, durch deine Reden 
unſer Urteil über dich abändern zu können?“ 


„Das zu glauben, fällt mir gar Aue ein. Ich kenne 
euch nur zu genau!“ 

„Du willſt damit ſagen, daß auch wir Wort zu 
halten verſtehen. Es bleibt bei dem, was über dich be⸗ 
ſchloſſen worden iſt. Wir geben dich morgen früh, ſobald 
es Tag geworden iſt, frei, damit du in das Tal der 
Bären“ hinabſteigen kannſt. Du bekommſt dein Meſſer 
und dein Gewehr. Am Abend kommſt du zurück und 
darfſt am nächſten Morgen wieder gehen, um am Abend 
abermals hier einzutreffen. Haſt du in dieſen zwei Tagen 
vier Bären erlegt und bringſt deren Felle, ſo iſt dir das 
Leben geſchenkt.“ | 

„Das Leben, aber nicht die Freiheit?“ 

„Nein. Die Freiheit bekommſt du erſt dann, wenn 
du mit uns reiteſt und eine unſerer Töchter zur Squaw 
nimmſt. Wir haben durch dich zwei tapfere Krieger 
verloren, und dafür ſollſt du ein Krieger unſeres 
Stammes werden, wenn du nicht von den Bären auf⸗ 
gefreſſen wirſt.“ 

„Darauf gehe ich nicht ein; das habe ich euch ſchon 
wiederholt geſagt.“ 

„Das wird ſich finden. Wir werden dich zu zwingen 
wiſſen!“ 

„Pshawl Old Surehand läßt ſich nicht zwingen!“ 

„Diesmal doch! Du wärſt nur dann nicht zu zwingen, 
wenn du dein Verſprechen brächeſt und nicht wiederkämeſt. 


Wir wiſſen aber, daß das nicht geſchehen wird. Du wirft 


— 422 — 


nur dann nicht zu uns zurückkehren, wenn die Tatzen und 
die Zähne der Bären dich zerriſſen haben.“ 

„Well! Ich werde nicht zerriſſen und komme auf 
alle Fälle wieder. Hier grad am Waldesrand hin führt 
ein Pfad über die langgeſtreckte Höhe ins ‚Bärental‘ 
hinunter; dort werde ich meinen Weg hinab nehmen und 
von da auch zurückkehren. Sollte ich aber doch nicht 
wiederkommen, werdet ihr da nach mir ſuchen?“ 

„Nein. Kommſt du nicht, ſo biſt du tot und aufge⸗ 
freſſen worden.“ | 

„Ich könnte aber doch auch nur verwundet fein!” 

„Nein. Ein Menſch, der ſo verwundet iſt, daß er 
nicht gehen kann, muß unbedingt ein Fraß der wilden 
Tiere werden. Wir ſuchen alſo nicht!“ 

„Sag doch die Wahrheit ehrlich heraus: ihr fürchtet 
euch vor den grauen Bären!“ 

„Schweig! Sind wir nicht über fünfzig Krieger?! 
Es gibt keinen unter uns, der ſich ſcheuen würde, den 
Grizzly allein anzugreifen. Woher ſoll die Furcht kommen, 
wenn wir ſo viele ſind? Wir warten hier, ob du vier 
Felle bringſt, für Bärenzahn zwei und Bärentatze zwei. 
Kommſt du lebend, ohne ſie zu bringen, ſo wirſt du er⸗ 
ſchoſſen; kommſt du nicht, ſo biſt du tot, und unſere beiden 
Krieger ſind gerächt. So wurde beſchloſſen, und dabei 
wird es bleiben. Ich habe geſprochen. Howghl“ 

Er machte mit den Händen ein Zeichen, daß er nichts 
mehr hören wolle, und lehnte ſich wieder an den Baum. 
Wir warteten noch über eine Viertelſtunde, und als bis 
dahin keiner von ihnen den Mund wieder geöffnet hatte, 
wußten wir, daß nun nichts mehr zu erfahren ſei und 
verließen in der vorhin angegebenen Weiſe unſern Lauſcher⸗ 
poſten. 

Das Auslöſchen unſerer Spuren war nur dadurch 


N wie 


— 423 — 


möglich, daß die Utahs Feuer brennen hatten. Indem 
wir, tief am Boden liegend, gegen dieſe Feuer blickten, 
erhielten wir das nötige Licht, und doch dauerte es wohl 
eine Stunde lang, ehe wir uns ſagen konnten, daß am 
nächſten Morgen nichts mehr von unſrer Anweſenheit zu 
ſehen ſein werde. 

Wir hatten eben das Farngeſtrüpp verlaſſen und 
wollten noch eine Strecke weiter zurückkriechen bis zu 
einer Stelle, wo wir uns aufrichten konnten, als der 
Häuptling am Feuer aufſtand und ſeine Befehle für die 
Nacht erteilte. Wir hörten, daß alle Feuer bis auf eines 
ausgelöſcht werden und die Roten ſich um dieſes und 
den Gefangenen in einem Doppelkreiſe lagern ſollten. 
Außerdem ſollten zwei Wachen unausgeſetzt um das Lager 
gehen, weil bei der Nähe des „Bärentals“ möglicherweiſe 
ein Grizzly ſich hierher verirren könnte. 

Dieſe Vorſicht war allerdings geboten, zumal ein 
großer Teil der Utahs nur Lanzen, Bogen und Pfeile 
beſaß; uns aber kam ſie äußerſt ungelegen. Nahmen wir 
uns vor, Old Surehand heut während der Nacht zu be⸗ 
freien, ſo wurde dies durch den Doppelkreis außerordent⸗ 
lich erſchwert und durch die Poſten, wenn wir nicht Blut 
vergießen wollten, faſt vereitelt. Dieſe waren gewiß aus 
Angſt vor den Bären doppelt aufmerkſam, und wenn 
Winnetou und ich uns auch vorgenommen hätten, ſie in 
unſrer gewöhnlichen Weiſe zu überraſchen, ſo mußten wir 
uns außerdem ſagen, daß die andern alle nur mit Sorgen, 
alſo leiſe ſchlafen würden. Die Art, wie ich Apanatſchka 
aus der Hand der Oſagen und Kolma Puſchi uns aus der 
Gefangenſchaft der Tramps befreit hatte, war hier un⸗ 
möglich anzuwenden. 

Während die Utahs die Befehle ihres Häuptlings 
ausführten, verurſachten fie jo viel Geräuſch, daß wir 


— 424 — 


uns leicht und unbemerkt entfernen konnten. Winnetou 
ging dann neben mir her, ohne ein Wort zu ſagen. Er 
überlegte; wie ich ihn kannte, würde er nicht zu den 
Gefährten treten, ohne einen Entſchluß gefaßt zu haben. 

Ich hatte mich nicht geirrt. Wir waren noch ziem⸗ 
lich weit von ihnen entfernt, da blieb er ſtehen und ſagte 
in ſeiner beſtimmten Weiſe: 

„Mein Bruder Shatterhand iſt überzeugt, daß wir 
heut nichts tun können?“ 

„Leider, ja,“ antwortete ich. 

„Die Ueberwältigung der Poſten würde uns wohl 
gelingen; aber es ſind auch noch zwei bei den Pferden, 
und die Utahs ſchlafen leiſe.“ 

„Es würde dennoch gehen, wenn wir es auf einen 
Kampf ankommen ließen und dabei unſer Leben wagten. 
Ich bin aber nicht dafür.“ 8 

„Winnetou auch nicht. Was man ohne Wagnis be⸗ 
kommen kann, das ſoll man ohne Wagnis nehmen. Wir 
werden alſo warten bis morgen früh.“ 

„Da reiten wir in das Bärental“ zurück?“ 

„Ja, um mit Old Surehand zu ſprechen.“ 

„Welche Ueberraſchung und welche Freude für ihn, 
wenn er uns ſieht!“ 

„Sein Herz wird voller Wonne ſein! Mit uns reiten 
aber wird er nicht.“ 

„Nein; er hält unbedingt ſein Wort.“ 

„Uff! Von einem Grizzly wiſſen wir, wo er ſein 
Lager hat. Man fagt, es ſeien im ‚Bärental‘ ſtets u 
zu finden. Wenn das wahr wäre!“ 

„Das iſt ein außerordentlicher, meines roten Bruders 
würdiger Gedanke!“ 

„Dann könnte Old Surehand die Felle bringen!“ 

„Seine Lage würde aber dadurch auch nicht ſehr ge⸗ 


S 
** — 


— 425 — 


ändert ſein. Er ſoll in dieſem Fall ja nur das Leben, 
nicht aber die Freiheit geſchenkt erhalten.“ 

„Mein Bruder hat recht; wir ſind auf alle Fälle 
gezwungen, ihn zu befreien. Aber wenn er die Felle er⸗ 
beutet hat, kann er mit uns. gehen, ſonſt nicht. Er hat 
nicht verſprochen, mit zu den Utahs zu gehen und ſich 
dort eine Squaw zu nehmen.“ 

„Gut, ſuchen wir morgen nach Bärenfährten! Aber 
da denke ich an unſre eigenen Spuren. Die Utahs wer⸗ 
den morgen den ganzen Tag durch den Park ſchwärmen 
und den Ort entdecken, wo wir heut lagern.“ 

„Uff! Wir dürfen nicht da liegen bleiben. Wo aber 
gehen wir hin?“ 

„Wir müſſen den Park und ſeine Umgebung ver⸗ 
meiden, weil unſre Spuren da unbedingt gefunden wer⸗ 
den. Es gibt nur zweierlei: Entweder reiten wir weiter, 
in das Tal hier hinab, aus dem die Utahs gekommen 
ſind. Das geht nicht, wegen der Dunkelheit, und weil wir 
morgen früh doch zurück müßten. Oder wir begeben uns 
wieder in das ‚Bärental‘ hinab, wo wir morgen gleich 
an Ort und Stelle wären. Es iſt das bei der jetzigen 
Finſternis freilich eine böſe Sache, aber wir kennen die 
Schlucht noch von heut, und wenn wir die Pferde führen 
und recht langſam gehen, wird es ſich vielleicht ermög⸗ 
lichen laſſen. Freilich müſſen wir dabei bedenken, daß der 
Grizzly fein Lager jo nahe an unſerm Weg hat.“ 

— „Wenn wir beide vorangehen, ſind die andern ſicher. 
Unſre Pferde würden die Nähe des Bären verkünden. 
Und gegen die Finſternis gibt es ein Mittel. Winnetou 


hat im obern Teil der Schlucht einen ganz dürren Tajo⸗ 


tſi') ſtehen ſehen, der uns Fackeln geben wird.“ 
„Schön! Alſo wieder in das „Bärental“ hinab?“ 


) Harzbaum. 


— 1426 — 


„Ja. Was den Bären betrifft, ſo würden wir ſein 
Nahen vor dem Geräuſch des Springs nicht hören können, 
doch werden unſre Augen deſto offner ſein.“ 

„Und die Fährte, die wir jetzt über den Park machen? 
Denn wir können uns nicht wieder an ſeinem Rand halten, 
ſondern müſſen ihn durchqueren.“ 

„Winnetou wird fie mit feiner Decke auslöſchen. 
Howghl“ 1 

Dieſes Howgh beſagte, daß wir mit unfrer Beratung 
zu Ende ſeien, und wir gingen nun zu den Gefährten, 
um ihnen mitzuteilen, wen wir geſehen und was wir er⸗ 
fahren und hernach beſchloſſen hatten. Alle, beſonders 
diejenigen, die mit Old Surehand befreundet waren, 
nämlich Apanatſchka, Dick Hammerdull und Pitt Holbers, 
wollten mitwirken, ihn zu befreien. Unſer Bericht war 
ganz kurz geweſen; ſie wollten ihn ausführlich haben; 
Winnetou aber wies ſie mit den Worten zurück: 

„Meine Brüder mögen warten, bis wir mehr Zeit 
haben als jetzt. Es gilt vor allen Dingen, unſre Spuren 
hier an dieſem Ort zu vernichten, und das erfordert eine 
lange Zeit.“ 

Er unterzog ſich mit Matto Schahko und Apanatſchka 
dieſer ſchwierigen Arbeit, weil mir das Bücken Schmerzen 
bereitete; dann ſtiegen wir auf und ritten quer über den 
Park hinüber und auf die Mündung der Schlucht zu, 
aus der wir heut gekommen waren. Wir ritten in 
Indianerreihe, und Winnetou machte den letzten, um mit 
ſeiner am Laſſo hinter dem Pferd herſchleifenden Decke 
die niedergetretenen Gräſer wieder aufzurichten. An der 
Schlucht angelangt, ſtiegen wir ab, weil die Pferde nun 
geführt werden mußten. 

Winnetou ging jetzt voran, und ich machte den 
Zweiten; die anderen folgten hinter uns. Des Bären 


& — 427 — 


wegen hielten wir die Gewehre ſchußfertig in den Händen. 
Oben auf der Höhe des Parks war es der aufgegangenen 
Sterne wegen etwas heller als vorher; in der tief ein⸗ 
ſchneidenden Schlucht aber herrſchte eine Finſternis, daß 
ich Winnetous Pferd kaum ſah, obgleich ich ſo nahe hinter 
dem Tiere ging, daß ich ſeinen Schweif faſſen konnte. 
Hier bewährte ſich der unvergleichliche Orts⸗ und Spürſinn 
des Apatſchen wieder einmal glänzend. 

Es war trotz unſrer an die Dunkelheit gewöhnten 
Augen ein ſehr beſchwerlicher Weg, der uns nur dadurch 
erleichtert wurde, daß wir den Pfad neben dem Spring 
heute ſchon einmal begangen hatten; ſein Plätſchern konnte 
uns ſtellenweiſe ſogar als Führer dienen. Endlich, nach 
ziemlich langer Zeit, blieb Winnetou vorn halten und 
ſagte: 

„Hier ſteht zu meiner linken Hand der dürre Tajo⸗ 
tſt. Meine Brüder mögen die Aeſte befühlen und die viel 
Harz haben zu Fackeln abſchneiden! Ich werde indeſſen 
wegen des Grizzlybären wachſam ſein.“ 

Da ich dem Baum am nächſten ſtand, fand ich zuerſt 
einen kienreichen Aſt und ſchnitt ihn los. Als ich ihn 
angezündet hatte, ging das weitere leicht von ſtatten. 
Bald war jeder mit einigen Fackeln verſehen, und nun 
gingen wir weiter, die Zügel über den Arm gehängt, 
die Leuchte in der einen Hand und das Gewehr in der 
andern. 

Natürlich brauchten wir abwärts viel mehr Zeit, 
als aufwärts. Es war eine außerordentlich phantaſtiſche 
Szene. Wir kamen an die Stelle, wo Winnetou die Bären⸗ 
ſpur entdeckt hatte. Er leuchtete nieder; es waren keine 
neuen Eindrücke zu ſehen. Wahrſcheinlich behagte es dem 
alten Ephraim noch gut in ſeinem Lager, oder war dieſes 
doch ſo weit entfernt, daß er uns weder ſehen noch hören 


— 428 — 


konnte; wir gelangten in das Tal hinab, ohne von ihm 
der geringſten Beachtung gewürdigt zu werden. Damit 
waren aber die Schwierigkeiten noch nicht überwunden, 
denn es mußte ein geeigneter Lagerplatz für uns gefunden 
werden. 

Die Aeſte waren verbrannt, und wir befanden uns 
wieder ohne Leuchten; aber das Tal war ja breit, und 
ſo genügte uns der Schein der Sterne, uns zurecht zu 
finden. Wir konnten annehmen, daß wir die einzigen 
Menſchen hier im Kui⸗erant⸗yuaw ſeien, und durften folg⸗ 
lich auf Vorſichtsmaßregeln verzichten, die in der Nähe 
von Feinden geboten ſind. Wir ſuchten alſo einen Lager⸗ 
platz nicht unter den Bäumen auf der Seite des Tals, 
ſondern unter freiem Himmel in deſſen Mitte und fanden 
endlich eine Stelle, die wir für paſſend hielten. 

Es lagen da mehrere große Felsſtücke ſo beiſammen, 
daß ſie zwiſchen ſich einen von drei Seiten eingeſchloſſenen 
Platz bildeten, der Raum genug für uns und unſre Pferde 
bot. Es war alfo nur die freie, vierte Seite zu bewachen. 
Die Lücken zwiſchen den Felſen waren mit Brombeer⸗ 
ſtauden ausgefüllt, zwiſchen denen es eine Menge ver⸗ 
trockneten Graſes gab. Da dergleichen Orte von Schlangen 
aufgeſucht zu werden pflegen, ſteckten wir das Gras in 
Brand, der ſich ſchnell über das Gedorn verbreitete und 
uns erlaubte, unſern heutigen Aufenthalt auf das genaueſte 
zu unterſuchen. Es waren wirklich mehrere Schlangen 
dageweſen; wir ſahen ſie vor dem Feuer fliehen und 
erſchlugen ſie. Jetzt hatten wir reines Lager und konnten 
uns ſorglos niederlaſſen. Zwei mußten wachen. Ich 
ſollte meiner Wunde wegen wieder davon ausgenommen 
werden, gab dies aber nicht zu und übernahm mit Ham⸗ 
merdull die erſte Wache, die zwei Stunden zu dauern hatte. 

Wir ſetzten uns miteinander an die offene Seite der 


Felſen und legten die Gewehre griffbereit neben uns. 
Während die Gefährten ſich nur kurze Zeit unterhielten 
und dann einſchliefen, erzählte ich dem Dicken, was wir 
bei den Utahs erlauſcht hatten. Dann ging ich nach einem 
nahen Gebüſch, um deſſen junge Zweige den Pferden 
als Futter zu holen. Darüber verging die Zeit, und als 
unſre zwei Stunden um waren, weckten wir Apanatſchka 
und Holbers, die nach uns kamen. Die nächſte Wache 
ſollte Matto Schahko mit Treskow übernehmen, während 
die vierte den Apatſchen allein traf. Winnetou war mehr 
als genug, für unſre Sicherheit zu ſorgen. 

Ich wäre gern eingeſchlafen, brachte es aber 
nicht fertig. Nicht daß ich das Wundfieber wieder 
gehabt hätte, nein, aber mein Puls ging doch ſchneller als 
gewöhnlich, warum, das konnte ich nicht ſagen. Es mußte 
doch an der Wunde liegen. Die beiden Wächter ſaßen 
grad da, wo ich mit Hammerdull geſeſſen hatte, und 
ſprachen leiſe miteinander. Das Knuſpern der Pferde an 
den Zweigen und zuweilen ein Stampfen der Hufe waren 
die einzigen Geräuſche, von denen die nächtliche Stille 
unterbrochen wurde. Ueber uns glänzten die Sterne noch 
heller als vorher; die Felſen und die zwiſchen ihnen befind⸗ 
lichen Perſonen und Pferde waren deutlich zu erkennen. 

Da ſah ich, daß Winnetous Rappen ſeinen auf das 
Futter niedergeſenkten Kopf mit einer raſchen, auffälligen 
Bewegung in die Höhe hob. Gleich darauf bemerkte ich 
bei dem meinigen genau dieſelbe Bewegung. Beide Pferde 
ließen ein ängſtliches Schnauben hören und ſtellten ſich 
ſo, daß ihre Hinterbeine mir zugerichtet waren. Sie 
witterten eine Gefahr, und zwar nahte ſich dieſe von 
daher, wo ich lag. Ein Menſch konnte es nicht ſein, 
denn da wäre das Schnauben der Pferde leiſer und war⸗ 
nend und nicht ſo ängſtlich geweſen. Ich horchte. | 


— 180 — 


Ich lag an einer Lücke zwiſchen den Felſen, die erſt 
mit Dornen ausgefüllt geweſen, ſeit dem Brand aber 
offen war; ſie hatte glücklicherweiſe nur eine ſo geringe 
Breite, daß man gerade mit dem Arme hindurchlangen 
konnte. An dieſer Lücke begann es jetzt draußen zu kratzen 
und zu ſcharren, ſo laut und kräftig, wie kein Menſch es 
vermocht hätte, und zugleich war jenes fauchende 
Schnüffeln zu hören, das ich ſo gut kannte, daß ich augen⸗ 
blicklich aufſprang, nach dem Bärentöter griff und dem 
Häuptling der Komantſchen leiſe zuraunte: 

„Apanatſchka, ein Bär! Aber ſeid ſtill, ganz til. 
und kommt näher heran!“ 

Der feinhörige Winnetou hatte im Schlaf mein 
Aufſpringen bemerkt. Schon ſtand er neben mir, die 
Silberbüchſe in der Hand. 

„Ein Bär am Felſen hinter uns!“ unterrichtete 
ich ihn. 

Die andern ſchliefen weiter; ſie hatten nichts gehört, 
und wir hielten es für beſſer, ſie nicht zu wecken, da ſie 
vielleicht Lärm gemacht hätten; wenigſtens von Treskow 
war dies zu erwarten. 

Apanatſchka war mit Holbers zu uns N 
ſie hatten die Hähne geſpannt. Winnetou gab ihnen die 
Weiſung: 

„Ihr dürft nur im Notfall ſchießen. Für den Grizzly 
iſt das Gewehr Old Shatterhands das beſte; er hat alſo 
die zwei erſten Schüſſe; dann komme erſt ich daran. Ihr 
ſchießt nur, wenn ich es euch fage!” 

Holbers war ein wenig in Aufregung; er fragte: 
„Wird er etwa über den Felſen geklettert kommen?“ 

„Nein,“ antwortete ich. „Er wird gewiß — — 

ah, da iſt er ſchon! Seid ſtill! Laßt mich machen!“ 


— 131 — 


An der offnen Seite unſers Lagerplatzes kam eine 
dunkle, ſchwere Maſſe langſam um die Ecke getrollt; es 
war der Bär; er hielt den Kopf ſchnüffelnd zu Boden 
gerichtet. Unſre Pferde ſchnaubten laut vor Angſt. Die 
beiden Rappen drehten ſich um, die Hinterhufe zur Ver⸗ 
teidigung ihm zugerichtet. Ich durfte noch nicht ſchießen; 
die Kugel mußte ihn zwiſchen die Rippen hindurch ins 
Herz treffen; dazu war notwendig, daß er ſich aufrichtete. 
Ich tat alſo einen Sprung auf ihn zu, um ihn auf mich 
aufmerkſam zu machen, wich aber auch raſch wieder zurück, 
denn der Grizzly iſt trotz ſeiner ſcheinbaren Plumpheit ein 

außerordentlich ſchnelles Tier. a 

Meine Abſicht wurde erreicht: kaum hatte er mich 
geſehen, ſo ſtand er aufrecht da, nicht weiter als ſechs 
Schritte von mir entfernt. Da krachte auch ſchon mein 
Schuß. Es war, als ob der Bär einen Schlag von vorn 
bekäme und hintenüberſtürzen wolle; er ſtürzte aber nicht, 
ſondern wankte hin und her und tat dabei zwei Schritte 
vorwärts. Da gab ich ihm die zweite Kugel, die ihn 
niederwarf. Er zog, am Boden liegend, die Pranken an 
ſich, als ob er jemanden umarmen und erdrücken wolle, 
wälzte ſich auf die andre Seite, hierauf wieder herum, 
öffnete die Pranken und blieb dann liegen. Hierbei hatte 
er keinen Laut, nicht einmal einen Atemzug hören laſſen. 
Der graue Bär hat keine eigentliche Stimme; der Kampf 
mit ihm iſt meiſt ein ſtiller, ſtummer, doch grad das iſt 
es, was dieſen Kampf ſo „Rückenmark angreifend“ macht, 
wie mein alter Sam Hawkens ſich auszudrücken pflegte. 

Beim Donnergebrüll des Löwen ſchießt ſich's beſſer! 
„Er iſt ausgelöſcht!“ ſagte Winnetou. „Die Kugeln 
gingen ihm beide ins Herz. Doch nähert euch ihm noch 
nicht! Der Grizzly hat ein zähes Leben; es kehrt zuweilen 
auf Augenblicke wieder.“ 


— 432 — 


Die Schläfer waren natürlich bei meinem erſten 
Schuß aufgeſprungen. Matto Schahko war ſtill, ganz nach 
ſtolzer Indianerart. Treskow, obgleich kein Feigling, hatte 
ſich nach ganz hinten zurückgezogen. Hammerdull drängte 
ſich zwiſchen die Pferde hindurch bis her zu mir und rief: 

„Ein Bär! Alle Teufel, wirklich ein Bär! Und 
dieſen Kerl hab ich verſchlafen. Ich kann doch nur eine 
Minute weggeweſen ſein, als er kam. Ich war ſo müdel 
Ich bin zornig auf mich; ich bin wütend! Ich könnte 
mir mit beiden Händen Ohrfeigen geben!“ 

„Tue das, lieber Dick, tue das gleich!“ ermahnte 
ihn Holbers. | 

„Schweig, altes Heupferd! Sich ſelbſt zu ohrfeigen, 
dazu gehört weit mehr Geſchick, als du zum Beiſpiel 
haſt! Nein, daß grad mir ſo was begegnen muß! Ich 
bin außer mir, ganz und gar außer mir!“ 

„So geh in dich, daß du wieder zu dir kommſt!“ 

„Ob ich in mich oder zu mir gehe, das bleibt ſich 
gleich, wenn nur dieſe Beſtie nicht ſo dumm geweſen 
wäre, erſt dann zu kommen, als ich' grad wieder ein⸗ 
geſchlafen war! Wenn ſo ein Bär nicht mehr Verſtand 
hat, wer ſoll ihn dann haben, frage ich dich?!“ 

So drollig er ſeinen Aerger ausdrückte, er meinte 
es doch ernſt. Der kleine, dicke Kerl hätte ſich gewiß nicht 
gefürchtet; er wäre ſicher auf den Bären losgegangen! 
Damit iſt freilich nicht geſagt, daß er ihn auch glücklich 
erlegt hätte. Unbedachtſamer Mut kann leicht gefährlich 
werden. Da Hammerdull dem lebendigen Grizzly nicht 
hatte entgegentreten können, ſo ging er jetzt trotz der 
Warnung des Apatſchen zu dem Toten hin, um uns zu 
zeigen, daß er ſich nicht fürchte. Er drehte ihn, aller⸗ 
dings mit großer Kraftaufbietung, auf die andre Seite, 
zog ihm die Pranke hin und her und ſagte: 


— 433 — 


„Er iſt tot, Meſch'ſchurs, vollſtändig tot, ſonſt würde 
er ſich das nicht gefallen laſſen. Ich ſchlage vor, wir 
ziehen ihm die Handſchuhe und die Stiefel ſamt ſeinem 
ganzen Fell vom Leibe herunter. Vom Schlafen iſt doch 
jedenfalls nun keine Rede mehr!“ 


Da hatte er recht. Neben einem friſch erlegten 
Grizzly würde kein Jäger ſchlafen können. Wir mußten 
ein Feuer haben und gingen darum faſt alle fort, um 
dürres Holz zu ſuchen. Als dieſes dann brannte, ſahen 
wir, daß es eine Bärin im Gewicht von gegen ſieben 
Zentnern war, ein ausgezeichnet ſchönes Tier. 

„Sie wird es ſein, deren Fährte wir geſehen haben,“ 
meinte Treskow. 

„Nein,“ antwortete Winnetou. „Die Spur war 
von einem viel ſchwereren Tier. Das iſt nicht die Squaw 
des Bären, ſondern er ſelhſt. Wir werden ihn uns holen, 
wenn Surehand gekommen iſt.“ 


Nun wurden die Meſſer gezogen, um der Bären⸗ 
ſquaw die Handſchuhe und die Stiefel ſamt dem Jagd⸗ 
rock auszuziehen. Alle machten ſich daran, nur Winnetou 
und ich nicht; wir ſahen zu. 

„Uff!“ rief der Apatſche nach einer Weile, indem er 
aufſprang und hinaus ins Freie deutete. „Das Baby 
ſteht dort!“ 

Das Feuer leuchtete weit zwiſchen den Felſen hinaus, 
und ſein Schein zeigte uns einen jungen Bären, der bei 
den Büſchen ſtand, von denen ich das Futter für die 
Pferde geholt hatte. Er hatte die Größe eines mittleren 
Kalbes, nur daß er dicker war. 

„Hurra, das Baby von dieſer Lady!“ ſchrie Did 
Hammerdull, indem er aufſprang und hinausrannte, auf 
den Bären zu. 

May, Old Surehand. II. 28 


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111 > 


„Dick, Dick!“ rief ich ihm nach. „Faßt ihn nicht; faßt 
ihn nicht an! Das Tier iſt viel gefährlicher, als ihr denkt!“ 

„Unſinn, Unſinn! Ich hab ihn ſchon; ich hab ihn 
ſchon!“ ſchrie er zurück. 

Ja, er hatte ihn ſchon, der Bär aber auch ihn! Erſt 
wollte er ihn nicht loslaſſen, und dann konnte er es nicht. 
Wie ſie einander gepackt hatten, das ſah man nicht; ſie 
wälzten ſich im Graſe, und dabei brüllte der Dicke: 

„Woe to mel Help, Help! Das Vieh läßt mich 
nicht los!“ 

Apanatſchka flog, das Meſſer in der Hand, hinaus 
und auf die beiden wohlbeleibten Helden zu. Mit der 
linken Hand zwiſchen Menſch und Tier hineingreifend, 
holte er mit der rechten zum tödlichen Stich aus. Er 
mußte gut getroffen haben, denn wir ſahen, daß der Bär 
liegen blieb, Hammerdull aber ſich aufraffte, um ergrimmt 
zu rufen: 

„So eine Beſtie! So ein ungebildetes Viehzeug! 
Wollte es lebendig fangen, und nun richtet es mich auf 
dieſe Weiſe zu! Habe meine ganze Kraft anwenden müſſen, 
um nur ſeine Zähne von mir fernzuhalten! Dafür aber 
wird's gebraten und gegeſſen, ob's auch noch leibt und 
lebt!“ 

Er brachte das „Baby“ an einem Bein herbei⸗ 
geſchleppt. Apanatſchkas Meſſer hatte gut getroffen, grad 
ins Herz. Hammerdull ſah nicht zum beſten aus. Sein 
Anzug war vielfach zerfetzt und ſein Geſicht zerkratzt; er 
blutete an den Händen, und auch von den Beinen liefen 
die roten Tropfen. Dieſer Anblick brachte ſeinen Buſen⸗ 
freund, den langen Holbers, ganz aus der Faſſung. 
Anſtatt in mitleidigen Ausdrücken, machte ſich ſeine Liebe 
in zornigen Vorwürfen Luft: 

„Was haſt du nur gemacht! Wie ſiehſt du jetzt nur 


— 65 — 


aus! Rennt der Kerl von hier fort, um einen Grizzly 
lebendig zu fangen! Solche Dummheit hat noch nie ein 
Menſch erlebt! Was mach' ich nur mit dir? Iſt das 
deine Liebe zu mir, die du mir ſo oft geſtanden haſt? 
Machſt du nicht durch ſolche Albernheiten dich und mich 
unglücklich durch und durch? Iſt dir deine Haut dazu 
gewachſen, daß ſie dir durch Bärenkrallen verſchimpfiert 
werden ſoll? Was ſtehſt du da und guckſt mich an? 
Sprich! Rede! Gib Antwort, Menſchenkind!“ 

Hammerdull ſtand allerdings mit offenem Mund da 
und ſtarrte ſeinem Buſenfreund verwundert ins Geſicht. 
So eine lange Rede! Die Worte waren förmlich aus dem 
Mund heraus⸗ und übereinander weggeflogen! Das konnte 
doch unmöglich der ſtille, ruhige, trockene Pitt Holbers 
ſein! Hammerdull ſchüttelte den Kopf und antwortete: 

„Pitt, alter Pitt, biſt du's denn wirklich noch? Ich 
kenne dich doch gar nicht wieder! Du biſt doch auf ein⸗ 
mal ein Redner geworden, wie er im beſten Buch nicht 
zu finden iſt! Du biſt ganz aus⸗ und umgewechſelt! 
Man hält es nicht für möglich! Haſt du mich denn gar 
ſo lieb?“ 

„Natürlich hab ich dich ſo lieb, Dummkopf! Was 
denn?! Mußt du mir denn das antun, daß du dich ſo 
zerkratzen läſſeſt! Wie ſiehſt du aus! Guck dich nur im 
Spiegel an! Ach ſo, es iſt keiner da! Mit dir hat man 
nichts als Kummer, Sorge und Herzeleid! Und Freude? 
Pshaw! Freude kann man an dir gar nicht mehr erleben!“ 

„Schimpf nicht ſo! Ob du Freude oder Herzeleid 
an mir erlebſt, das bleibt ſich gleich, wenn du nur über⸗ 
haupt etwas an mir erlebſt! Wer denkt denn, daß ein 
ſolches Hündchen ſolche Kräfte hat!“ 

„Hündchen! Ein Grizzly ſoll ein Hündchen ſein! 
So, wie du hier ſtehſt, kann ich dich nicht länger ſehen. 


-- SEE ——„- „ 


— 436 — 


Die Augen tun mir weh vor lauter Gram und Kummer 
über dich! So ein altes, liebes, zerſchundenes Geſicht! 
Komm, Dick, geh mit zum Waſſer! Ich waſch dich ab!“ 

Er faßte ihn am Arme und zog ihn fort, zum Creek, 
der gar nicht weit von uns vorüberfloß. Als ſie wieder⸗ 
kamen, war der liebe Dick abgeſpült; die Krallenriſſe aber 
hatten nicht fortgewaſchen werden können; auch war fein 
Anzug dadurch nicht ganz geworden. 

„Sieht dieſer Menſch nicht wie ein Landſtreicher aus?“ 
zürnte Pitt. „Ich bitte Euch, Mr. Shatterhand, mir 
einen großen Gefallen zu tun!“ 

„Welchen?“ 

„Ihr habt Nähzeug dort im Sattelkiſſen. Bitte, es 
mir zu borgen, denn ich muß ihm natürlich ſeine zer⸗ 
riſſenen Siebenſachen zufammenfliden!“ 

„Gern; holt es Euch, Pitt Holbers!“ 

Er folgte dieſer Aufforderung. Dann konnte man 
ſehen, wie einer einfädeln wollte und doch eine Viertel⸗ 
ſtunde lang das Oehr nicht fand. Hernach machte der 
liebe Menſch Stiche! Stiche, ſo weit auseinander wie 
die Straßenbäume! Nach dem zweiten Einfädeln hatte 
er keinen Knoten gemacht und nähte und nähte, ohne vor⸗ 
wärts zu kommen, bis ich ihn darauf aufmerkſam machte, 
daß er den Faden immer wieder herauszog. Später 
belehrte ich ihn noch darüber, daß dieſe Stelle zu 
wibbeln, eine andere mit Hinterſtichen und eine dritte 
überwendig zu nähen ſei. Da warf er den Zwirnknäuel 
zornig fort, ſchob mir das Bein des Dicken hin und rief, 
mir die Nadel, die er mir nur reichen wollte, in den 
Finger ſtechend: 

„Da habt Ihr Eure ganze Flickerei, Sir! Macht's 
ſelber, wenn Ihr's beſſer könnt! Wibbeln! Hinterſtiche! 


— 1487 — 


Sat man ſchon fo was gehört! Was gibt es denn wohl 
noch für Stiche, Mr. Shatterhand?“ 

„Kettenſtiche, einfache und doppelte Steppſtiche, Meſſer⸗ 
und auch Säbelſtiche.“ 

„Die Meſſerſtiche laſſe ich mir gefallen; mit den 
andern aber könnt Ihr mir vom Leibe bleiben! Flickt 
den Kerl zuſammen! Ich habe das Nähen ſatt!“ 

Was war die Folge? Ich ſaß faſt bis zum frühen 
Morgen da und beſſerte die Jacke, Hoſe und Weſte des 
dicken Bärenbabyjägers aus! Dazwiſchen wurde Bären⸗ 
braten gegeſſen. Die Tatzen, bekanntlich das beſte von dem 
Bären, wurden eingewickelt, um aufgehoben zu werden, 
denn ſie haben erſt dann den höchſten Grad von Leckerheit 
erreicht, wenn die Würmer darin zu „wibbeln“ beginnen. 
Ob jedermanns Geſchmack? 


Als der Tag graute, ſtiegen Winnetou und ich zu 
Pferde, um, Matto Schahkos dunkelbraunen Hengſt am 
Zügel führend, talaufwärts zu reiten und die Ankunft Old 
Surehands zu erwarten. Wir hatten wohl zwei engliſche 
Meilen zurückgelegt, als wir links den Talſchnitt ſahen, 
aus dem er wohl, wie wir geſtern erlauſcht hatten, 
kommen mußte. Wir blieben in einiger Entfernung davon 
bei einem Geſträuch halten, hinter dem wir uns und die 
Pferde verſteckten, doch ſo, daß er unſern Augen nicht 
entgehen konnte. 

Es lag ja die Möglichkeit vor, daß ſich oben bei den 
Utahs irgend etwas Unvorhergeſehenes ereignet oder der 
Häuptling ſeinen Plan geändert hatte; darum waren wir 
überaus geſpannt darauf, ob der Erwartete kommen werde 
oder nicht. Es verging eine Stunde und darüber; da 
ſahen wir endlich einen Menſchen drüben unter den Bäu⸗ 
men gehen. Er kam nicht heraus ins Freie, und ſo konnten 


— 438 — 


wir nicht deutlich erkennen, wer es war. Ich wagte den⸗ 
noch laut zu rufen: 

„Mr. Surehand! Mr. Surehandl 

Der Mann blieb ſtehen, aber nur einen Augenblick. 
Wenn er es war, ſo kam er ſicher ſchnell herbei. Als 
Gefangener der Indianer mußte er ja froh ſein, andre 
Menſchen hier zu finden, zumal ſolche, die ihn kannten. 


Dieſe Annahme täuſchte mich nicht. Als ich ſeinen Namen 


noch einmal, zum drittenmal, rief, kam er eiligſt unter den 
Bäumen hervorgeſprungen und auf uns zugeſchritten. Da 


wir uns nicht ſehen ließen, blieb er auf halbem Weg 


ſtehen und rief uns zu: 

„Wer iſt da im Gebüſch? Wer hat meinen Namen 
genannt?“ 

„Ein Freund,“ antwortete ich. 

„Kommt heraus! Im wilden Weſten muß man vor⸗ 
ſichtig ſein.“ 

„Hier bin ich!“ 

Bei dieſen Worten ließ ich mich von ihm ſehen; 
Winnetou aber blieb noch verſteckt. Old Surehand er⸗ 
kannte mich ſofort. 

„Old Shatterhand! Old Shatterhand!“ 

Meinen Namen nennend, ließ er vor freudigem 
Schreck ſein Gewehr fallen, kam mit ausgebreiteten 
Armen auf mich zugerannt und zog, nein, riß mich 
förmlich an ſein Herz. 

„Welch eine Freude, welch ein Glück! Mein Freund, 
Old Shatterhand, mein Retter früher und mein Retter 
wohl auch jetzt!“ 

Bei jedem Wort ſchob er mich von ſich ab und drückte 
mich wieder an ſich. Seine Augen leuchteten; ſeine 
Wangen glühten. Er befand ſich in dem Zuſtand aller⸗ 
glücklichſter Aufregung und fuhr ſort: 


— 4 — 


„Wer ſollte es für möglich halten, daß Ihr jetzt, 
grad jetzt in den Rocky⸗Mountains ſeid, grad hier im 
‚Bärental! Wie freue ich mich, wie glücklich bin ich 
darüber! Habt Ihr einen beſondern Grund zu dieſem 
Ritt?“ 

„Ja. Ich komme von Jefferſon⸗City.“ 

„Ah! Seid Ihr bei dem Bankier geweſen? Er ſagte 
Euch, daß ich hier herauf bin?“ 

„Ja.“ 

„Und Ihr ſeid mir nach?“ 

„Natürlich! Jefferſon⸗City, Lebruns Weinſtube in 
Topeka, Fenners Farm und fo weiter! Ihr ſeht, daß ich 
genau unterrichtet bin.“ 

„Gott ſei Dank! Gott ſei Dank! Nun bin ich ge⸗ 
rettet! Ihr ahnt nicht, was ich meine. Ihr müßt wiſſen, 
daß ich Gefangener bin!“ 

„Des Häuptlings Tuſahga Saritſch!“ 

„Wie? Ihr wißt — — —“ fragte er erſtaunt. 

„Heut und morgen entlaſſen auf Ehrenwort!“ fuhr 
ich lachend fort. 

„Er weiß es wirklich!“ rief er aus. 

„Um vier Bärenfelle zu holen!“ 

„Aber — — aber, Sir — — — ſagt mir doch, wie 

Ihr das ſo wiſſen könnt!“ 

„Als Ihr geſtern oben im Park bei dem Häuptling 
am Feuer ſaßt, haben wir drei Schritte von Euch in den 
Farnen geſteckt und Euch belauſcht!“ 

„Mein Himmel!. Hätte ich das gewußt!“ 

„Wir haben jedes Wort gehört. Es war unmöglich, 
Euch ſchon dieſe Nacht loszumachen; darum ſind wir noch 
geſtern abend trotz der Finſternis wieder in dieſes Tal 
herab, um Euch hier zu erwarten. Wie freuen wir uns 
darüber, daß Ihr gekommen ſeid!“ 


— 440 — 


„Ihr ſagt ‚wir! Ihr ſprecht nicht von Euch allein! 
Iſt noch jemand da?“ | 

„Ja. Kommt, ihn zu ſehen!“ 

Ich führte ihn hinter die Sträucher. Als er Win⸗ 
netou erblickte, ſtieß er einen Jauchzer aus und ſtreckte 
ihm beide Hände entgegen. Der Apatſche drückte ſie ihm 
in herzlichſter Weiſe und bewillkommte ihn: 

„Winnetou iſt froh in ſeiner Seele, ſeinen Bruder 
Old Surehand wiederzuſehen. Wir glaubten, ihn erſt 
droben im Park von San Luis erreichen zu können, 
freuen uns nun aber um ſo mehr, dem Häuptling der 
Capote⸗Utahs zeigen zu dürfen, daß fünfzig von feinen 
Kriegern nicht genügen, Old Surehand feſtzuhalten!“ 

ö „Ich habe mein Wort gegeben, wiederzukommen!“ 
warf Old Surehand vorſichtig ein. „Sie hätten mich ohne 
dieſes nicht fortgelaſſen.“ 

„Wir wiſſen es. Old Surehand ſoll ſein Wort nicht 
brechen, ſondern zu ihnen zurückkehren. Dann aber werden 
Old Shatterhand und Winnetou auch zu den Utahs kom⸗ 
men und ihnen ein Wort ſagen!“ 

„Ich muß bis morgen abend vier Grizzlyfelle bringen, 
ſonſt iſt mein Leben verwirkt. Weiß das der Häuptling 
der Apatſchen auch?“ 

„Wir wiſſen es. Old Surehand wird die Felle 
bringen. Damit dies möglich werde, mag er mir erlauben, 
mich jetzt einſtweilen zu entfernen!“ 

Er beſtieg ſein Pferd und ritt davon. 

„Wohin reitet er?“ fragte Old Surehand. 

„Er ſucht nach Grizzlyſpuren.“ N 

„Well. Müſſen wir hier auf ihn warten?“ 

„Nein. Wir reiten auch fort. Er wird uns ſpäter 
wiederfinden.“ 

„Ich gehe natürlich von Herzen gern mit Euch, darf 


— 441 — 


aber dabei nicht vergeſſen, daß meine Zeit ſehr koſt⸗ 
bar iſt.“ N 

„Wegen der Bärenfelle?“ 

„Ja.“ 

„Das hat noch Zeit. Bitte, Euch auf dieſen Hengſt 
zu ſetzen!“ 

„Ihr habt drei Pferde. Ihr ſeid nicht allein? Iſt 
noch jemand bei Euch.“ 

„Ja. Ihr werdet Bekannte finden.“ 

Während Winnetou talaufwärts geritten war, wen⸗ 
deten wir uns wieder talab. Old Surehand hatte 
ſein Gewehr vorher von da geholt, wo es ihm vor 
Ueberraſchung vorhin entfallen war. Er merkte, daß ihn 
noch eine ſolche erwartete, und unterließ es darum, Fragen 
auszuſprechen, die ich ihm doch nicht beantwortet hätte. 
Als wir uns dem Lagerplatz näherten, ſah ich Hammer⸗ 
dull in deſſen Nähe ſtehen. Old Surehand bemerkte ihn 
auch, erkannte ihn und fragte mich: 

„Iſt das nicht der alte Dick Hammerdull, Mr. 
Shatterhand?“ 

„Ja,“ antwortete ich. 

„Da iſt höchſt wahrſcheinlich auch ſein zweites Ich, 
Pitt Holbers bei Euch?“ 

„Natürlich! Dieſe beiden Toaſts ſind ja unzertrenn⸗ 
lich.“ 

„Ah, To iſt das die Ueberraſchung, die ich haben ſollte! 
Ich danke Euch!“ 

Ich ließ ihn bei dieſer Meinung. Hammerdull kam 
uns entgegengelaufen, hielt das Pferd Old Surehands an, 
reichte ihm die Hand hinauf und rief: 

„Welcome, Mr. Surehand, welcome in dieſen alten 
Bergen! Hoffentlich habt Ihr Euern Dick nicht vergeſſen, 
ſeit wir uns nicht ſahen!“ | 


— 442 — 


„O nein, lieber Hammerdull. Ich habe ſtets mit Ver⸗ 
gnügen an Euch gedacht.“ i 

„Ob mit Vergnügen oder ohne Vergnügen, das bleibt 
ſich gleich, wenn nur dabei Pitt Holbers auch in Euerm 
Herzen lebt!“ 

„Natürlich lebt er drin!“ 

„Alſo wir beide?“ 

„Gewiß! Er, ſo lang wie er iſt, und Ihr, ſo dick 
wie Ihr ſeid. Iſt es ſo richtig?“ 

„Vollſtändig richtig! Kommt, und ſeht Euch den 
alten, guten Kerl mal an!“ 

Wir ritten vollends bis zum Lager und ſtiegen da von 
den Pferden. Hammerdull führte Old Surehand zwiſchen 
die Felſen hinein und rief triumphierend: 

„Pitt Holbers, hier haſt du ihn, altes Coon! Ich 
bringe ihn dir gebracht. Gib ihm die Hand; aber falle 
ihm ja nicht um den Hals; denn von dir kommt man 
nicht wieder los; deine Arme reichen zweimal um jeden 
Menſchen herum!“ 

Old Surehand hatte zunächſt nur Holbers im Auge; 
als aber dann ſein Blick auch auf Apanatſchka fiel, gab 
ihm das Erſtaunen einen Ruck. 

„Apanatſchka! Mein roter Bruder Apanatſchka!“ 
rief er aus. „Das — das — das hätte ich mir freilich 
nicht gedacht! Nun weiß ich freilich beſſer als vorhin, 
Mr. Shatterhand, was für eine Ueberraſchung Ihr 
meintet! Mein roter Bruder mag mir erlauben, ihn zu 
umarmen!“ 

Die Augen des Komantſchen ſtrahlten vor Freude. 
Er öffnete die Arme, ohne ein Wort zu ſagen. Sie 
hatten ſich auf ihrem gemeinſchaftlichen Ritt nach Fort 
Terrell liebgewonnen und drückten einander an die Herzen. 
Jetzt wurde auch Treskow begrüßt; dann ſtellte ich den 


— 448 — 


Häuptling der Oſagen vor. Dieſer reichte ihm mit ge⸗ 
wohnter Würde die Hand, nickte ihm freundlich zu und 
ſagte, indem er auf die beiden Bärenfelle zeigte: 

„Mein Bruder Old Surehand ſoll den Utahs vier 
Häute bringen?“ 

„Ja,“ antwortete der Gefragte. 

„Hier liegen ſchon zwei davon. Old Shatterhand hat 
den großen und Apanatſchka den kleinen erlegt.“ 

„Die gelten nichts; ich ſelbſt muß ſie töten.“ 

Da fragte ich ihn: „Hat das der Häuptling der 
Utahs ausdrücklich von Euch verlangt?“ 

„Nein, ausdrücklich nicht. Aber er konnte nicht wiſſen, 
daß ich ſolche Helfer hier treffen würde. Er hat jedenfalls 
angenommen und auch gemeint, daß ich nur Felle von 
Bären bringen kann, die ich ſelbſt getötet habe.“ 

„Was er im ſtillen gemeint oder angenommen hat, 
geht uns nichts an. Ihr habt Euch nach dem zu richten, 
was geſprochen worden iſt.“ 

„Geſagt wurde allerdings bloß, daß ich vier Felle 
zu bringen habe.“ 

„So bringt ſie ihm! Zwei werden ſich wohl noch 
finden, denke ich.“ 

„Dieſes kleine wird Tuſahga Saritſch vielleicht nicht 
gelten laſſen!“ 

„Warum?“ 

„Weil es von einem jungen Bären iſt.“ 

„Es iſt ein Fell, ein ganzes, ungeteiltes Fell, an dem 
nichts fehlt, was dazu gehört. Er wird es gelten laſſen 
müſſen.“ 

„Und wenn er es doch nicht tut?“ 

„So werden wir ihn zwingen. Ihr habt ihm vier 
Bärenfelle zu bringen und dieſes iſt eines.“ 


— 444 — 


„Ich gebe Euch recht, daß ich mich nur nach dem 
Wortlaut zu richten habe.“ 

„Und nicht einmal das! Es gibt noch eine andere 
Anſchauung der Sache. Ihr braucht gar keine Pelze zu 
bringen.“ 

A „Fm!“ 

„Ja; das iſt doch leicht einzuſehen. Was ſoll ge⸗ 
ſchehen, wenn Ihr kein Fell bringt?“ 

„Ich ſoll erſchoſſen werden.“ 

„So bringt doch keins! Wir werden dafür ſorgen, 
daß man Euch nicht erſchießt. Gebt Euch dieſen Roten 
gegenüber nur nicht mit überflüſſigen Bedenklichkeiten ab! 
Was haben ſie denn Euch verſprochen? Wenn Ihr Euer 
Leben viermal, wagt und vier Grizzlys tötet, erhaltet Ihr 
nur das Leben, die Freiheit aber nicht. Iſt das gerecht?“ 

„Allerdings nicht!“ 

„Ihr habt weiter nichts verſprochen, als zurückzu⸗ 
kehren. Dieſes Wort müßt Ihr halten, wie auch ich es 
halten würde. Mehr verlangen kann man von Euch 
nicht. Es iſt überhaupt jetzt nicht Zeit, uns mit dieſen 
überflüſſigen Dingen abzugeben. Ich bin überzeugt, daß 
es etwas gibt, was viel nötiger für Euch iſt.“ 

„Was?“ 

„Das Eſſen.“ 

„Da habt Ihr freilich recht,“ antwortete er lächelnd. 
„Die Roten haben mich ſehr kurz gehalten und mir in 
drei Tagen keinen Biſſen gegeben.“ | Ä 

„So eßt Euch zunächſt tüchtig ſatt! Das Weitere 
wird ſich finden.“ 

Er bekam vorgelegt und aß mit einem Appetit, der 
allerdings auf ein dreitägiges Faſten ſchließen ließ. Ich 
hatte ihn dabei abſichtlich ſo geſetzt, daß ich den Gefährten, 
ohne daß er es hörte, eine Bemerkung zuflüſtern konnte, 


en 445 — 


die ich ihnen eigentlich ſchon hätte machen müſſen, ehe 
ich fortritt, ihn zu holen. Ich ſagte ihnen nämlich, daß 
ſie die Worte Tibo taka, tibo wete, Wawa Derrick und 
Myrtle⸗wreath ja nicht gegen ihn ausſprechen ſollten. Ich 
hatte meine Gründe dazu. Als ich dieſe Aufforderung 
auch an Apanatſchka richtete, ſah er mir mit einem ganz 
eigentümlichen, träumeriſch forſchenden Blick ins Geſicht, 
ſagte aber nichts. Ging ihm jetzt vielleicht eine Ahnung 
deſſen auf, was ich ganz allein zu wiſſen glaubte? 

Wir hatten die Pferde jetzt freigelaſſen. Sie graſten 
am Waſſer, und wir lagerten uns draußen vor den 
Felſen, um ſie im Auge zu haben und vorkommenden 
Falles mit unſern Gewehren beſchützen zu können. Nun 
wurde erzählt, perſönliche Erlebniſſe von den Anweſenden 
und Ereigniſſe, die uns alle angingen, aber nichts, was 
für die Entwicklung der gegenwärtigen Verhältniſſe von 
Bedeutung war, ausgenommen den Bericht Old Sure⸗ 
hands, wie er in die Hände der Utahs gefallen war. 

Er hatte den ganzen, weiten Ritt allein gemacht und 
heut vor vier Tagen an einer Quelle gelagert, in deren 
Umgebung keine Menſchenſpur zu finden geweſen war. 
Er hatte ſich ſicher gefühlt, war eingeſchlummert, aber 
plötzlich von zwei Roten, einem alten und einem jungen, 
die mit gezückten Meſſern neben ihm knieten, aufgeweckt 
worden. Er hatte, ſie auf die Seite werfend, ſich empor⸗ 
geſchnellt und den Revolver gezogen; ſie waren trotzdem 
wieder mit den Meſſern auf ihn eingedrungen, und ſo 
hatte er, um ſich zu retten, ſie niederſchießen müſſen. Im 
nächſten Augenblick aber war er von fünfzig weiteren 
Roten umgeben geweſen, die ihn ſo umdrängten, daß er 
ſich trotz ſeiner bedeutenden Körperkraft nicht wehren 
konnte. Der Revolver war ihm entriſſen und er ſelbſt 
dann niedergerungen und gebunden worden. Das Weitere 


— 446 — 


zu erzählen, war nicht notwendig; wir hatten es geſtern 
droben im Lager der Utahs erlauſcht. | 

Während diefer Unterhaltung verging die Zeit. Es 
wurde Mittag, und kurze Zeit darauf kam der Apatſche 
geritten. Er ſprang vom Pferd und fragte mich: 

„Hat unſer Bruder Surehand alles erfahren, was er 
für jetzt wiſſen muß?“ 

„Ja, alles,“ antwortete ich. 

„Will er dieſe zwei Bärenfelle nehmen?“ 

„Ja.“ N 

„Wir werden noch zwei andre holen. Jetzt mögen 
mich meine Brüder Old Shatterhand und Apanatſchka 
begleiten.“ 

„Wohin?“ 

„Das Lager des Bären zu finden, deſſen Spur wir 
geſtern geſehen haben.“ 

Da fragte Dick Hammerdull ſchnell: „Und ich ſoll 
nicht mit?“ 

„Nein. Die Schlucht iſt eng, und Aberjeühilge Männer 
würden nur im Wege fein.” 

„Dick Hammerdull ift niemals im Wege! Haltet Ihr 
mich für einen unnützen Kerl oder für einen Feigling, der 
die Flucht ergreift, ſobald er die Naſe eines Bären zu 
ſehen bekommt?“ 

„Nein; aber Dick Hammerdull hat zu viel Mut; 
er kann uns durch ſeine übergroße Tapferkeit leicht viel 
Schaden machen. Das Baby der alten Bärin hat ihm 
eine ſehr gute Lehre gegeben.“ 

„Ob Lehre oder ob nicht Lehre, das bleibt ſich gleich; 
ich verſpreche aber, daß ich ſie ſehr beherzigen werde!“ 

Der kleine Kerl bat ſo eindringlich, daß Winnetou 
ſich zu der Entſcheidung erweichen ließ: 

„So mag mein dicker Bruder mitgehen; aber wenn 


— 447 — 


er einen Fehler macht oder mir nicht gehorcht, nehme ich 
ihn nie wieder mit!“ 

Holbers und Treskow fühlten ſich dadurch, daß ſie 
bleiben ſollten, nicht beleidigt. Matto Schahko aber 
fragte mißmutig: 

„Glaubt Winnetou, daß der Häuptling der Waſaji 
ganz plötzlich ein unbrauchbarer Krieger geworden iſt?“ 
. „Nein. Weiß Matto Schahko nicht, warum ich ihn 

hier laſſe? Wer ſchützt unſere Pferde, wenn während 
unſerer Abweſenheit ein Bär erſcheint oder vielleicht 
menſchliche Feinde kommen?“ 

Auf Holbers oder gar Treskow war da allerdings 
nicht genügend Verlaß. Der Oſage fühlte ſich gehoben und 
antwortete in ſtolzem Ton: 

„Den Pferden wird nichts geſchehen. Meine Brüder 
können ohne Sorge ſein!“ 

Wir fünf nahmen alſo unſte Gewehre und gingen. 
Nach vielleicht zehn Minuten erreichten wir die Schlucht 
und drangen in ſie ein. Aufwärts ſteigend, ſuchten wir 
jedes Geräuſch zu vermeiden, und waren um fo vor⸗ 
ſichtiger, je höher wir kamen. Der kleine Dick ging als 
der zweite gleich hinter Winnetou; er zeigte ein höchſt 
zuverſichtliches Geſicht. Wenn es auf dieſes Geſicht an⸗ 
kam, ſo riſſen alle grauen, ſchwarzen, braunen und ſonſtigen 
Bären aus! 

Bei der geſtrigen Stelle angelangt, wurde unſer Weg 
eine Strecke auf⸗ und abwärts ſehr genau unterſucht. Es 
war nichts zu ſehen; der Bär war nicht herübergewechſelt. 
Nun ging es über den Spring und die felſige Steilung 
hinauf, Winnetou voran und Hammerdull noch immer als 
der zweite hinter ihm her. Wir trafen auf die Gänge, 
die wir ſchon geſtern geſehen hatten. Dieſe Gänge ver⸗ 
einigten ſich zu einem ausgetretenen Bärenpfad, der um 


— 


— 448 — 


eine ſcharfe Felſenecke führte. Winnetou umſchritt ſie nicht 
ſofort. Er ſchob den Kopf nur ſo weit vor, daß er mit 
einem Auge nach jenſeits ſchauen konnte. Er blieb unbe⸗ 
weglich ſtehen und winkte uns mit zurückgeſtreckter Hand 
tiefſte Geräuſchloſigkeit zu. Ich war überzeugt, er ſah 
den Bären. Als er ſich dann wieder zu uns ö 
ſtrahlte ſein ganzes Geſicht. 

Er nahm Hammerdull bei den Schultern und ſchob 
ihn, ohne ein Wort zu ſagen, ganz leiſe, leiſe, langſam 
an die Ecke und ließ ihn vorſichtig um dieſe ſchauen. Der 
Kleine zog ſchon im nächſten Augenblick den Kopf zurück 
und ſchob ſich raſch an mir und den andern vorüber, bis 
er an die letzte Stelle kam. Er war leichenblaß geworden! 
Nun lugte auch ich um die Kante. Da ſah ich freilich, 
daß es keine Schande für Hammerdull war, blaß geworden 
zu ſein! Zwiſchen dem Felſen und dichtem Gedorn führte 
ein hartgetretener Sohlengang nach einer Stelle, wo das 
Geſtein eine maſſive Hinterwand und ein weit über⸗ 
hängendes Dach bildete. Dort lag, vor Wind und Regen 
geſchützt, auf zuſammengeſcharrter Erde, Gras und Zweig⸗ 
gehäuf der König der grauen Bären. Ja, dieſen Namen 
verdiente er, denn von dieſer Größe hatte ich noch keinen 
je geſehen. Dieſer Vater Ephraim war ſicherlich ſeine 
vierzig Jahre alt; das bezeugte der Pelz, der ein noch 
älteres Ausſehen hatte. Dieſer Leib, dieſer Kopf und dieſe 
Glieder! Wenn ich der ſtärkſte Büffel geweſen wäre, ich 
hätte vor ihm die Flucht ergriffen. Er ſchlief. Wie mußte 
dieſer Koloß erſt ausſehen, wenn er ſich aufrichtete! Es 
war gewiß zum Zittern! 

Ich trat wieder zurück und ließ auch die andern 
ſich an der männlichen Schönheit und dem herrlichen 
Profil dieſes ſohlengängeriſchen Adonis ergötzen. Dann 
traten wir zuſammen, um zu beraten. Old Surehand 


3 8 * 


— 449 — 


und Apanatſchka machten ihre Vorſchläge; Hammerdull 
hüllte ſich in Schweigen. Winnetou ſenkte feinen Blick 
mit jenem unbeſchreiblichen Ausdruck, der mir unvergeß⸗ 
lich iſt, in meine Augen und fragte mich: 

„Hat mein Bruder Shatterhand noch das alte Ver⸗ 
trauen zu mir?“ 

Ich wußte, was er vorhatte und nickte. 

„Zu mir, zu meiner Hand und meinem Meſſer?“ 
fragte er wieder. 

„Ja.“ 

„Will er mir ſein Leben anvertrauen?“ 

„Ja. . 

„So mögen meine Brüder kommen!“ 

Er führte uns zurück nach einem Waden Buſch. 
Dort blieb er ſtehen und ſagte: 


„Hinter dieſem Strauch verſtecke ich mich. Old 
Shatterhand wird mir den Bären bringen und ihn hier 
vorüberführen. Meine andern Brüder mögen ſich da 
drüben hinter jenen Stein niederkauern und aufpaſſen, 
was dann geſchieht! Old Shatterhand und Winnetou 
ſind eins. Beide haben einen Leib, eine Seele und auch 
nur ein Leben. Das ſeinige gehört mir und das meinige 
ihm. Howgh!“ 

„Was wollt Ihr tun?“ fragte Old Surehand beſorgt. 

„Nichts, was Euch erſchrecken könnte,“ antwortete 
ich ihm. 

„Ich ahne, daß Ihr Euch in eine große Gefahr 
begeben wollt!“ 

„Es iſt keine, denn ich kenne meinen Winnetou. 
Tut alſo getroſt, was er Euch geboten hat, und nehmt 
meine Gewehre mit!“ 

„Was? Wie? Ihr wollt Euch wehrlos 5 


May, Old Surehand. II. 


— 450 — 


„Nein. Wehrlos werde ich ganz und gar nicht ſein. 
Geht nur — geht!“ 

Sie begaben ſich nach den Steinen und duckten ſich 
dort nieder. Winnetou nahm ſein Meſſer in die linke 
Hand und kroch hinter den Buſch, ſo daß er nicht zu 
ſehen war. Er flüſterte mir, falls ich ja noch bedenklich 
ſein ſollte, beruhigend zu: | 

„Der Wind iſt unſer Verbündeter, und wenn der 
Bär mich ja entdecken ſollte, haſt du den erſten Stich!“ 

Mir war gar nicht bange. Eine unbekannte Gefahr 
kann einen beunruhigen; ſobald man ſie aber kennt und 
nahe vor ſich ſieht, iſt dieſe Unruhe vorüber. Ich zog 
mein Meſſer auch mit der linken Hand und huſchte an 
die Felſenkante zurück. Als ich um dieſe blickte, lag der 
Bär noch genau ſo wie vorher. Wahrſcheinlich hatte er 
in der Nacht reichlich gefreſſen und ſchlief nun um ſo 
beſſer. Ich wußte, daß dies vor ſeinem Tod der letzte 
Schlaf ſein werde, nahm einen Stein, trat um die Ecke 
und warf nach ihm. Er wurde getroffen und hob den 
Kopf. Die kleinen, giftigen Augen erfaßten mich, und er 
ſtand, ohne ſich einmal zu dehnen und zu ſtrecken, mit 
einer Schnelligkeit auf, in der ihn gewiß kein Tiger oder 
Panther übertroffen hätte. Ich huſchte um die Ecke zurück 
und ſchritt, den Blick auf ſie gerichtet, rückwärts dem Buſch 
zu, hinter dem der Apatſche ſteckte. Jetzt erſchien der Bär, 
und nun galt es freilich das Leben. Wenn ich ſtrauchelte 
und ſtürzte, war ich ſicher verloren. 

Das Kunſtſtück beſtand darin, den Bären an Win⸗ 
netou vorüber zu locken und ihn dann zum Stehen zu 
bringen, um dem Apatſchen einen ſichern Stoß zu bieten. 
Mit jener ſchwerfällig erſcheinenden Leichtigkeit, die außer 
dem Bären noch dem Elefanten eigen iſt, folgte er mir, 
langſam und überlegend, wie es ſchien, in Wahrheit aber 


— 451 — 


ſehr ſchnell und entſchloſſen. Er ſah niemand als mich 
und kam mir immer näher. Das wollte ich. Als ich den 
Buſch erreichte, war er nur noch acht Schritte entfernt. 
Ich ſprang ſchneller zurück; jetzt war er am Buſch. Noch 
einen Schritt weiter, und wenn ich ihn nun nicht zum 
Stehen brachte, war es mit mir aus! Den rieſigen Tatzen 
dieſes Ungeheuers konnte kein Geſchöpf der Erde wider⸗ 
ſtehen. An Stärke übertraf es ſicher weit den Löwen. 

Alſo entweder — oder! Ich ſprang zwei Schritte vor 
und hob den Arm. Schon war Winnetou hinter dem 
Buſch hervorgetreten und ſtand mit gezücktem Meſſer 
hinter dem Bären. Dieſer hielt bei meiner ſcheinbaren 
Angriffsbewegung inne und richtete ſich auf, kopfshöher 


noch als ich. In dieſem Augenblick ſtieß der Apatſche 


zu, nicht haſtig, ſchnell, ſondern mit der raſchen Bedäch⸗ 
tigkeit, die geboten war, wenn er richtig treffen wollte, 
nämlich zwiſchen die zwei bekannten Rippen in das Herz. 
Die Klinge war bis an das Heft hineingefahren; er ließ 
ſie nicht ſtecken, ſondern zog ſie ſchnell wieder heraus, um 


nicht ohne Waffe zu ſein. 


Das Ungetüm wankte, als ob es ſtürzen wolle, drehte 
ſich aber ganz unerwartet im Nu um und ſteckte die 
Pranken uach Winnetou aus, der kaum Zeit fand, zurück⸗ 
zuſpringen. Jetzt war ſein Leben in Gefahr, nicht mehr 
das meinige. Ich ſtand ſofort hinter dem Bären, holte 
aus und ſtach zu, ſprang aber augenblicklich, das Meſſer 
ſtecken laſſend, wieder zurück. Jetzt gab es kein Biegen 
und kein Wanken; der alte „Ephraim“ ſtand unbeweglich 
ſtill; nicht einmal der Kopf veränderte ſeine Stellung. 
Das dauerte zehn, zwanzig, dreißig, vierzig Sekunden; 
dann brach er, wie von einem unſichtbaren Eiſenhammer 
getroffen, genau auf derſelben Stelle an und rührte 


ſich nicht mehr. 


! TEE 
— —— 7 To 
8 A; 55 


— 452 — 


„Uff! Das war gut getroffen!“ ſagte der Apatſche, 
indem er mir die Hand entgegenſtreckte. „Der ſteht nicht 
wieder auf!“ 

„Ich habe nur nachgeholfen,“ antwortete ich. „Das 
Herz dieſes Rieſen muß in einem zehnfachen Beutel 
ſtecken. Es gehörte Kraft dazu, die Klinge ee 
Faſt hätte er dich gehabt!“ 

Da lag nun die Maſſe Fleiſch, gewiß äh Zentner 
ſchwer! Der Kerl verbreitete einen Geruch, der jeden 
Appetit auf ſeine Tatzen vergehen ließ. Gewöhnlich riechen 
die katzenartigen Raubtiere viel durchdringender als der 
Bär; dieſer machte eine Ausnahme. 

Jetzt kamen die Gefährten herbei. Wir ſtreckten den 
Körper des Grizzly aus und konnten nun erſt ſeine er⸗ 
ſchrecklichen Formen anſtaunen und daran denken, was 
aus uns geworden wäre, wenn wir uns auf unſre Klingen 
nicht hätten verlaſſen können. 

„So hatte ich mir das nicht gedacht,“ ſagte Old 
Surehand. „Bloß mit dem Meſſer auf ſo ein Untier 
loszugehen, heißt wirklich, Gott verſuchen. Ich bin kein 
Schwächling und kein feiger Menſch; das aber würde ich 
nicht wagen!“ 

„Mein Bruder irrt,“ antwortete Winnetou. „Ein 
gutes Meſſer und eine ſichere Hand ſind oft beſſer als 
eine nicht ganz genau gezielte Kugel. Nicht jeder Bär 
iſt ſo ſtark wie dieſer hier!“ 

Apanatſchka ſagte nichts; ſinnend betrachtete er das 
tote Ungetüm und mit einem Blick der Bewunderung zog 
er mein Meſſer heraus. Um ſo lauter war Dick Hammer⸗ 

dull. Er ſah die Wunden an und ſagte: 
| „Ganz eng nebeneinander! Wie weiß man denn 
eigentlich die Stelle, in die man ſtechen muß, Meſch⸗ 
iſchurs?“ 


\ 


SIR: 


— Se ee, 


— 453 — 


„Das ſagt keine beſtimmte Regel, ſondern nur das 
Augenmaß,“ anwortete ich. „Es iſt nicht ein Bär ſo 
gebaut wie der andere, und auch die Beſchaffenheit des 
Pelzes kann leicht verhängnisvoll werden.“ | 

„Im! Wenn man nun die Rippe trifft?“ 

„So rutſcht man ab und wird dafür wahrſcheinlich 
raſch ſtalpiert.“ 

„Danke! Da lobe ich mir doch mein Gewehr! Ja, 
wenn man mit der einen Hand gemächlich nach der Stelle 
ſuchen könnte, um dann mit der andern zuzuſtoßen! Dann 
möchte ich es auch verſuchen.“ 

„Der Kampf mit einem Grizzly iſt kein Schweine⸗ 
ſchlachten!“ 

„Das habe ich geſehen! Jetzt aber ſagt, was mit 
dieſem lieben Vater Ephraim geſchehen ſoll?“ 

„Wir nehmen ihm den Pelz und laſſen ihn dann 
liegen.“ 

„Kein Fleiſch?“ 

„Danke! Das würde ſich grade wie Sohlenleder kauen. 
Wir wollen uns beeilen, denn Winnetou ſcheint noch weitere 
Arbeit für uns zu haben!“ 

„Mein Bruder Shatterhand hat es erraten,“ nickte 
der Apatſche. 

„Gibt es noch eine Grizzlyſpur?“ 

„Ja; aber ſehr weit von hier, ganz am oberen Ende 
des Tals.“ 

„Das läßt ſich denken. Die Grizzlys können doch nicht 
ſo eng beiſammen wohnen wie die Biber oder die Prärie⸗ 
hunde. Meint mein Bruder Winnetou, daß wir heut vor 
Nacht noch fertig werden?“ 

„Ich denke es; die Pferde werden uns ja raſch hin⸗ 
bringen. 

„Darf ich da auch wieder mit?“ fragte Hammerdull 


Zr 


„Nein,“ antwortete ich. „Das geht nicht. Matto 
Schahko muß berückſichtigt werden. Er würde es als eine 
Beleidigung auffaſſen, wenn wir ihn wieder ausſchließen 
wollten. Bedenkt, daß er ſelbſt ſchon ſieben graue Bären 
erlegte.“ 

„Ob Ihr ihn ausſchließt oder nicht, das bleibt ſich 
gleich, wenn er nur mit dabei ſein darf. Ich trete alſo 
gern zurück.“ | 

„Gern oder nicht, das bleibt ſich gleich, wenn Ihr 
nur müſſen müßt!“ ahmte ich ihn nach. „Jetzt lauft ein⸗ 
mal zum Lager, um ein Pferd zu holen, damit wir nicht 
das ſchwere Fell zu tragen haben!“ | 

Er folgte dieſer Weiſung. Als er wiederkam, brachte 
er ſeine alte Stute und auch noch Pitt Holbers mit. 
Die Stute ließ er unten am Weg neben dem Spring 
ſtehen, während er und Pitt Holbers herauf zu uns auf 
den Felſen kletterten. Dann ſagte Hammerdull: 

„Hier iſt das Pferd, das Ihr haben wollt, Mr. 
Shatterhand!“ 


Wir waren unterdeſſen fertig mit der Arbeit ge. 


worden, auch dieſem Bären die Handſchuhe, Stiefel und 
den Rock zu nehmen; darum gebot ich: 

„Da, ſchafft das Fell hinüber zu dem Pferd!“ 

„Wie? Zu meiner Stute?“ fragte Hammerdull 
ſchmunzelnd. „Die habe ich nur für mich geholt, nicht 
aber für das Fell.“ 

„Und wer ſoll dieſes tragen?“ 

„Das Pferd, das Ihr verlangt habt, Mr. Shatter⸗ 
hand, nämlich dieſes Heupferd hier, Pitt Holbers, das 
alte Coon.“ 

Jetzt ging dem guten Pitt erſt ein Licht auf, wes⸗ 
halb ſein dicker Freund ihn mitgenommen hatte. Er fuhr 
ihn zornig an: 


— 455 — 


„Was fällt dir ein! Ich denke, ich ſoll die Ehre 
haben, der erſte von uns ſein zu dürfen, der dieſen Bären 
zu ſehen bekommt! Statt deſſen ſpielſt du ſchon wieder 
mit mir Schabernack!“ 

„Ereifere dich doch nicht ſo, lieber Pitt! Biſt du 
denn von euch nicht der erſte, der den Bären zu ſehen 
bekommt?“ 

„Aber den Pelz ſchleppe ich nicht!“ 

„Gut, ſo will ich ein Einſehen haben, denn du haſt 
an deiner Haut genug zu tragen. Alſo nur hinüber bis 
zum Pferd. Faß an!“ | 

Während fie ſich mit der ſchweren Haut ſchleppten, 
gingen wir andern raſcher fort. 

Im Lager angekommen, erklärten wir Matto Schahko, 
daß er nun mit uns reiten ſolle; er fand das ſelbſt⸗ 
verſtändlich. Treskow, Hammerdull, Holbers und Apa⸗ 
natſchka ſollten bei den Fellen bleiben. 

Wir ritten jetzt talauf, an der Stelle vorüber, wo 
wir die Begegnung mit Old Surehand gehabt hatten. 
Winnetou hatte uns außer der Entfernung, die wir zurück⸗ 
legen ſollten, keine Andeutung über das Abenteuer gegeben, 
dem wir entgegengingen. 

Das Tal war außerordentlich lang und wurde, je 
höher wir darin aufwärts kamen, um ſo ſchmäler. Es 
begegneten uns zuweilen Büffel, teils einzeln, teils in 
Familien, aber nicht in größern Trupps, weil die Zeit 
der eigentlichen Herbſtwanderung noch nicht da war. Dieſe 
Tiere waren ſo wenig menſchenſcheu, daß ſie nicht etwa 
vor uns flohen, ſondern nur zur Seite wichen. Wir 
ſchloſſen daraus, daß ſie während des Sommers von 
keinem Jäger geſtört worden waren. Es gab ſogar alte 
Stiere, die nicht einmal zur Seite gingen, ſondern uns 
verwundert anglotzten und höchſtens herausfordernd den 


— 456 — 


großen Kopf mit den ſtarken Hörnern ſenkten, bis wir 
vorüber waren. Natürlich regte ſich die Jagdluſt in uns 
allen; wir durften ihr aber nicht folgen, weil wir keine 
Zeit dazu hatten und von den Bären mehr als genug 
Fleiſch beſaßen. ! 

Der Weſtmann tötet eben nie ein Tier, wenn er 
deſſen Fleiſch nicht braucht. Auch iſt es nicht wahr, daß 
die Indianer zur Zeit der beiden Büffelwanderungen 
große, ganz unnötige Metzeleien unter den Biſons an⸗ 
geſtellt hätten. Der Rote wußte nur zu gut, daß er ohne 
dieſe Herden nicht leben könne, ſondern zugrunde gehen 
müſſe, und hütete ſich infolgedeſſen ſtets, mehr Fleiſch 
zu machen, als er brauchte. Wenn der Buffalo jetzt 
ausgeſtorben iſt, ſo trägt nur der Weiße die Schuld 
daran. Es haben ſich da zum Beiſpiel ganze Geſell⸗ 
ſchaften von „Sauſchützen“ zuſammengetan und Bahn⸗ 
züge gemietet, die halten mußten, wo man in der Prärie 
eine Büffelherde traf. Von dem Zug aus wurde dann 
aus reiner Mordluſt unter die Tiere hineingeſchoſſen, bis 
man die Kracherei ſatt bekam. Dann fuhr man weiter, 
um bei der nächſten Herde wieder anzuhalten. Ob die 
getroffenen Büffel tot oder nur verwundet waren, dar⸗ 
nach wurde nicht gefragt. Die angeſchoſſenen Tiere 
ſchleppten ſich fort, ſo weit ſie konnten, und brachen dann 
zuſammen, um von den Geiern und Wölfen zerriſſen zu 
werden. So ſind Tauſende und Abertauſende von Biſons 
nur aus Blutgier niedergepafft oder todkrank geſchoſſen 
worden, und Millionen von Zentnern Fleiſch verfaulten, 
ohne daß ein Menſch den geringſten Nutzen davon hatte. 
Ich ſelbſt bin nicht ſelten an Stellen gekommen, wo ſolche 
Maſſakres ſtattgefunden hatten, und habe die bleichenden 
Knochen in großen Haufen beiſammenliegen ſehen. Nicht 
einmal die Felle und Hörner waren mitgenommen worden. 


A 


Beim Anblick folcher Büffelleichenfelder mußte ſich das 
Herz jedes echten Weſtmannes umdrehen, und was nun 
erſt die Indianer dabei dachten und dazu ſagten, das läßt 
ſich unſchwer denken! Sie waren der Anſicht, daß die 
Regierung dieſe niederträchtigen Metzeleien nicht nur 
dulde, ſondern ſogar begünſtige, um die Ausrottung der 
nun dem Hunger preisgegebenen roten Raſſe zu be⸗ 
ſchleunigen. Und wenn der Redman ſich gegen dieſe 
Sauſchießereien zu wehren verſuchte, wurde er ebenſo 
ſchonungslos wie die Büffel niedergeknallt. 


Wo find nun die Biſons und wo die ſtolzen, ritter⸗ 
lichen roten und weißen Jäger hin? Ich behaupte, es 
gibt nicht einen, aber auch nicht einen einzigen jener Weſt⸗ 
männer mehr, von deren Taten und Erlebniſſen an jedem 
Lagerfeuer erzählt wurde. Ihre Gebeine ſind zerſtreut, 
und wenn die Hacke oder der Pflug jetzt einen halb 
vermoderten Schädel aus der Erde hebt, iſt dieſer Ort 
wahrſcheinlich der Schauplatz eines heimtückiſchen Ueber⸗ 
falls oder eines verzweifelten Kampfes geweſen, bei dem, 
wie überall hier im blutgetränkten Weſten, die erbarmungs⸗ 
loſe Gewalt das Recht vernichtete. — 


Wir waren über eine Stunde, und zwar nicht lang⸗ 
ſam, geritten und hatten doch das Ende des Kui⸗erant⸗ 
yuaw noch nicht erreicht; da hielt Winnetou fein Pferd 
endlich an und ſagte: 


„Nun nur noch zwei Minuten, ſo kommen wir an 
eine Stelle, wo Winnetou einen niedergeſchlagenen Büffel 
fand. Er war von einem Grizzly geworfen worden; der 
Sieger hatte nur wenig Fleiſch gefreſſen und die Mark⸗ 
knochen zerbrochen und ausgeſaugt; das tut nur der graue 
Bär. Seine Spur führte nach dem Rand des Tals und 
ein Stück den Berg hinauf.“ 


— 458 — 


„Hat Winnetou ſein Lager dort entdeckt?“ erkundigte 
ſich Old Surehand. 

„Nein. Ich wollte nur ſeine Fährte erkunden, ihn 
aber nicht aufſtören, damit meine Brüder auch ſagen 
können, ſie haben einen Grizzly erlegt. Ich denke, daß 
ich da richtig gehandelt habe!“ ö 

„Ja, das iſt recht! Wenn ich die Felle vorzeige, will 
ich mir ſagen dürfen, daß ich wenigſtens eins davon er⸗ 
beutet habe.“ 


„Wünſcht Old Surehand vielleicht, daß wir ihm 
dieſen Grizzly überlaſſen?“ 

„Ja; ich bitte darum!“ N 

„So ſoll er ihn haben! Will er ſich dazu den Bären⸗ 
töter Old Shatterhands leihen?“ 

„Nein; ich kann mich auf mein Gewehr verlaſſen.“ 

„Und was tue ich dabei?“ fragte der Häuptling der 
Oſagen. „Soll man von Matto Schahko erzählen, in 
ſeiner Gegenwart ſeien vier Bären erlegt worden, ohne 
daß er eine Hand dazu gerührt habe?“ 

„Mein roter Bruder wird wohl auch zu tun be⸗ 
kommen,“ erwiderte Winnetou. „In welcher Weiſe, das 
wird ſich zeigen, wenn wir den Grizzly finden. Wir 
halten in der Nähe an und — — — uff, uff!“ 

Wir waren während des letzten Teiles dieſes Ge⸗ 
ſprächs weiter geritten; jetzt hielt Winnetou ſein Pferd 
wieder an und ſtreckte den Arm aus, um vorwärts zu 
deuten. Da ſahen wir vielleicht tauſend Schritte von uns 
einen Grizzly an der linken Seite des Tals unter den 
Bäumen hervorkommen und in gerader Richtung quer über 
den offenen Plan trollen. Er hielt den Kopf tief an den 
Boden geſenkt und ſah weder rechts noch links. Wenn er 
ihn nur ein wenig nach unſrer Seite gerichtet hätte, 


— 459 — 


wären wir unbedingt von ihm bemerkt worden. Winden 
konnte er uns freilich nicht, weil die Luft talabwärts wehte. 

„Jetzt, am hellen Tag!“ ſagte Old Surehand. „Der 
Kerl muß Hunger haben!“ 

„Ja,“ nickte Winnetou. „Daß er jetzt ſein Lager 
verläßt, iſt ein Zeichen davon, daß er Appetit bekommen 
hat, aber auch davon, daß dieſe Gegend ſeit langer Zeit 
von keinem Jäger beſucht worden iſt.“ 

„Wo liegt der Büffel?“ erkundigte ich mich. 

„Mein Bruder kann ihn von hier aus nicht ſehen, 
weil das kleine Gebüſch da vorn dazwiſchen liegt,“ ant⸗ 
wortete der Apatſche. 

„Daß der Bär ganz gegen ſeine ſonſtige Gewohnheit 
jetzt kommt, erſpart uns Zeit. Wir brauchen ihn nicht 
zu ſuchen. Steigen wir hier ab, und hobbeln wir die 
Pferde an! Das Gebüſch, von dem Winnetou ſprach, 
erlaubt uns die Annäherung, ohne daß er es bemerkt.“ 

„Meine Brüder mögen noch einen Augenblick warten; 
ich habe ihnen einen Vorſchlag zu machen,“ ſagte der 
Oſage, indem wir abftiegen.- 

„Welchen?“ fragte Old Surehand. 

„Ich habe nichts dagegen, daß mein Bruder Sure⸗ 
hand dieſen Grizzly erlegt; aber es mag mir erlaubt ſein, 
mich dabei zu beteiligen!“ 

„In welcher Weiſe?“ 

„Dick Hammerdull erzählte mir, wie Old Shatter⸗ 
hand und Winnetou den ihrigen getötet haben. So will 
ich dieſen Bären gemeinſam mit Old Surehand erlegen.“ 

„Das iſt zu gewagt!“ 

„Nein.“ 

„Oh doch! Ich bin nicht ſicher, ihn mit dem Meſſer 
gleich ſo zu treffen, daß er fallen muß. Iſt Matto 
Schahko vielleicht ſicher?“ 


— 460 — 


„Auch ich habe noch keinen grauen Bären nur mit 
dem Meſſer erlegt. Ich meine auch nicht, daß wir die 
Meſſer nehmen. Aber kann Old Surehand ſich auf ſein 
Gewehr verlaſſen?“ 

„Ja.“ 

„So wird es leicht ſein, den Bären zu töten. Mein 
Bruder verſteckt ſich mit ſeinem Gewehr, und ich bringe 
ihm das Tier grad ſo, wie Old Shatterhand es vorhin 
getan hat.“ 

„Wenn Matto Schahko das wagen will, gebe ich 
nichts dagegen.“ 

„Es iſt kein Wagnis, wenn nur die Kugel dahin 
trifft, wo ſie zu ſitzen hat.“ 

„Pshaw! Ich werde doch keinen Fehlſchuß tun!“ 

„Sind Winnetou und Old Shatterhand einver⸗ 
ſtanden?“ 

Natürlich waren wir es. Wir hobbelten die Pferde 
eng und gingen im Gänſemarſch auf das bezeichnete Ge⸗ 
büſch zu. Dort angekommen, ſahen wir, vielleicht hundert 
Schritte von uns entfernt, den Grizzly bei dem Büffel. 
Er wendete uns den Rücken zu und grub mit den Tatzen 
in das Fleiſch hinein, um die Röhren bloßzulegen. Nächſt 
dem Gehirn iſt das Knochenmark für den grauen Bären 
der größte Leckerbiſſen. Ungefähr dreißig Schritte von 
uns lag ein Felsſtück von der Größe, daß ein Mann ſich 
hinter ihm verbergen konnte. Der Oſage deutete darauf 
hin und ſagte: 

„Mein Bruder Surehand lege ſich an dieſen Stein; 
ich gehe zum Bären und hole ihn; das wird ſo leicht wie 
ein Spiel der Knaben ſein.“ 

Ich war ebenſowenig wie Winnetou dieſer Meinung 
Matto Schahkos. Die Entfernung von dem Bären bis 


15 


— 461 — 


zum Felſen war zu groß; aber um den Stolz des Oſagen 
nicht zu verletzen, ſchwiegen wir. 

Er ließ ſein Gewehr bei uns zurück, legte ſich auf 
die Erde und kroch auf den Felſen zu, dieſen als Deckung 
gegen den Bären nehmend. Old Surehand folgte ihm, 
ſelbſtverſtändlich mit dem Gewehr, in derſelben Weiſe. 
Bei dem Stein angekommen, blieb Old Surehand dort 
liegen, während der Oſage weiter kroch. 

Der Bär merkte noch immer nichts von dem, was 
gegen ihn im Werk war. Wir hörten trotz der weiten 
Entfernung die Knochen zwiſchen ſeinen Zähnen krachen. 
Matto Schahko ſchob ſich vorwärts, weiter, immer weiter; 
das war mehr unvorſichtig als mutig. 

„Uff!“ ſagte der Apatſche. „Wir wollen unſre Ge⸗ 
wehre bereit halten. Der Häuptling der Oſagen weiß den 
Weg nicht einzuteilen!“ 

Ich konnte Matto Schahko auch nicht begreifen; er 
zog die Schnelligkeit eines Grizzly gar nicht mit in Be⸗ 
rechnung. Er durfte ſich nur ſo weit von Old Surehand 
entfernen, daß er auf dem Rückweg nicht von dem Bären 
eingeholt werden konnte. Anſtatt aber den Grizzly ſo 
aufmerkſam zu machen, daß er, von ihm verfolgt, noch 
vor ihm bei Old Surehand ankam, kroch er weiter, immer 
weiter! Da legte Winnetou beide Hände an den Mund 
und rief: 

VV Anhalten, Matto Schahko! Anhalten und auf⸗ 
ſtehen!“ 

Der Oſage hörte es und erhob ſich. Der Bär hatte 
es auch gehört und drehte ſich nach der Gegend um, aus 
der die Stimme kam. Er ſah den Indianer und trabte 
augenblicklich auf ihn zu. Was das zu bedeuten hatte, 
wird daraus klar, daß der Trab eines Grizzly gleich 
dem Galopp eines Pferdes iſt. Matto Schahko war ihm 


— 462 — 


auf zwanzig Schritte nahe gekommen, hatte alſo bis zu 
Old Surehand fünfzig zurückzulegen; er mußte vor der 
Zeit von dem Bären eingeholt werden! Dazu kam, daß 
Old Surehand, wenn er den Petz wirklich nicht nur ver⸗ 
wunden, ſondern erlegen wollte, nicht eher ſchießen durfte, 
als bis dieſer ſich aufrichtete und dabei die Bruſt zum 
Ziel bot. Ich rief ihm alſo haſtig zu: 

„Jetzt ja nicht ſchießen, Mr. Surehand! Ich werde 
den Oſagen beſchützen!“ 

Ich legte meinen Bärentöter an und wartete. Matto 
Schahko hatte wohl noch nie in ſeinem Leben ſolche 
Sprünge gemacht wie jetzt; es war aber vergeblich; der 
Grizzly kam ihm raſch näher. 

„Matto Schahko, eine Wendung zur Seite machen!“ 
ſchrie ich ihm zu. 

Er und der Bär kamen nämlich in einer geraden 
Linie auf uns zu; es konnte alſo niemand auf das Tier 
ſchießen, ohne den Menſchen zu treffen. Er achtete aber 
nicht auf meinen Ruf und rannte geradeaus weiter. Da 
ſprang ich hinter dem Buſch weit hervor und ſchrie ihm 
die Warnung wieder zu; der Bär war nur drei Schritte 
hinter ihm. Jetzt verſtand er mich und bog raſch ſeit⸗ 
wärts ab; nun hatte ich freies Ziel und der Bär bekam 
meine Kugel, noch ehe er ihm folgen konnte. Es war 
natürlich kein Schuß auf den Tod; ich wollte dem Grizzly 
nur einen Halt gebieten, und das gelang; er ließ den 
Oſagen laufen und blieb ſtehen. Den Kopf hin und her 
bewegend, ſah er ſein Blut laufen und hob die Tatze nach 
der Wunde, die meine Kugel ihm unterhalb des Halſes 
geſchlagen hatte. Dieſen Augenblick ergriff Old Sure⸗ 
hand, indem er ſich hinter dem Felſen aufrichtete und 
kühn auf den Bären zuſchritt; die Entfernung betrug 
ungefähr zehn Meter. Der Grizzly ſah ihn kommen und 


— 463 — 


richtete ſich auf. Old Surehand ging unentwegt weiter 
und gab ihm die erſte und nach einigen Schritten die 
zweite Kugel in die Bruſt. Dann warf er das Gewehr 
weg und zog das Meſſer. Dieſe Vorſicht war aber 
glücklicherweiſe überflüſſig; auch dieſer „Vater Ephraim“ 
hatte genug; er fiel um, wälzte ſich einigemal hin und 
her, zuckte krampfhaft mit den Pranken und ließ dann 
ſeine Seele nach den ewigen Jagdgründen wandern, 
ſeinen Leib aber mit dem Fell hier bei uns zurück. 

Von dem Warnungsruf Winnetous an bis jetzt war 
nicht eine Minute vergangen, ſo ſchnell hatte ſich alles 
abgeſpielt. Matto Schahko ſtand mit tief arbeitender Bruſt 
und ohne Atem bei uns. 

„Das — das — — ging mir an das Leben!“ 
keuchte er. 

„Warum war mein Bruder ſo unvorſichtig!“ ant- 
wortete der Apatſche. 

„Unvorſichtig? Ich?“ 

„Ja! Wer ſonſt?“ 

„Du! Winnetou!” 

„Uff! Ich ſoll unvorſichtig geweſen ſein?“ 

„Ja. Hätteſt du mir nicht vor der Zeit zugerufen, 
ſo wäre der Bär auf mich nicht aufmerkſam geworden! 
Das iſt doch richtig!“ 

Winnetou ſah ihm einen Augenblick lang lächelnd 
ins Geſicht, ſagte kein Wort und wendete ſich dann ſtolz 
von ihm ab. 

„Er dreht ſich um! Habe ich nicht recht?“ fragte der 
Oſage nun mich. 

„Der Häuptling der Oſagen hat unrecht,“ ant⸗ 
wortete ich. 

„Old Shatterhand irrt ſich! Mußte Winnetou den 
Bären auf mich aufmerkſam machen?“ 


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„Ja. Du krochſt doch zu dem Tier hin, damit es 
aufmerkſam werden ſolle.“ 

„Aber doch nicht ſo zeitig!“ 

„Nicht ſo zeitig? Früher, viel aher hätte es 
geſchehen ſollen! Du hätteſt viel eher aufſtehen und den 
Bären anrufen ſollen; dann wäre er dir nicht vor der 
Zeit nachgekommen, und du hätteſt Old Surehand auch 
nicht die Freude verdorben.“ 

„Die Freude habe ich ihm verdorben? Womit?“ 

„Durch den Schuß, den ich abgeben mußte, um dir 
das Leben zu retten. Das Tier hat, ehe Old Surehand 
es erlegte, ſchon eine Kugel von mir bekommen. Muß 
ihn das nicht ärgern?“ 

„Uff, uff! Ja, daran habe ich nicht gedacht.“ 

„So denke nun auch daran, daß du dich bei Winnetou 
hätteſt bedanken ſollen, anſtatt ihm Vorwürfe zu machen! 
Hätte er dir nicht zugerufen, und wäreſt du dem Bären 
noch näher gekommen, ſo lebteſt du wahrſcheinlich jetzt 
nicht mehr.“ 

Jetzt ließ auch ich ihn ſtehen und ging zu dem 
Grizzly hin, wo Winnetou und Old Surehand ſchon 
damit beſchäftigt waren, ihm „den Pelzrock auszuziehen“. 
Dieſer Vater Ephraim ſtand, um mich dieſes Ausdrucks 
zu bedienen, im beſten Mannesalter. Wir nahmen ſeine 
Tatzen mit und ſchälten uns auch einen der beiden Hinter⸗ 
ichinten heraus. Denn es erſchien geraten, uns jo viel 
wie möglich mit Fleiſch zu verſehen; es war zu erwarten, 
daß dieſes ſich oben im kühlen Gebirge gut halten werde. 

Jetzt hatten wir auch den vierten Pelz und konnten 
nach dem Lager zurückkehren. Vier Bären im Laufe eines 
Tages! Das war, obgleich ſich ein junger darunter be⸗ 
fand, ein höchſt ſeltenes Jagdergebnis, zumal niemand 
dabei eine Verletzung davongetragen hatte, ein Ergebnis, 


— 465 — 


das kaum irgendwo anders als in dieſem abgelegenen, 
ſelten von einem Weißen beſuchten Kui⸗erant⸗yuaw hatte 
ſtattfinden können! 


Als wir das Lager erreichten, war es ſchon ſpät am 
Nachmittag, und es galt nun, für den Abend unſre 
Beſchlüſſe zu faſſen. Old Surehand hatte zwar eine zwei⸗ 
tägige Friſt bekommen; es fiel uns aber nicht ein, 
einen Tag unnötig zu verſchwenden. Was zu ſeiner Be⸗ 
freiung geſchehen konnte, das mußte ſchon heut geſchehen, 
aber was und wie, das waren die wichtigen Fragen. 

Old Surehand konnte die Felle unmöglich allein 
hinauf nach dem Park ſchleppen; wir mußten ſie unſern 
Pferden zu tragen geben. Aber da, wo er herunter⸗ 
gekommen war, durften wir nicht hinauf, denn da wären 
die Utahs uns gewahr worden. Wir wählten alſo zum 
Aufſtieg unſre Schlucht, wo wir den großen, alten Vater 
Ephraim erlegt hatten. Dadurch kamen wir zunächſt, wie 
geſtern, nach der nordweſtlichen Seite des Parks. Winne⸗ 
tou ſchlich voraus, um uns zu warnen, falls einige der 
AUtahs ſich in dieſer Richtung verirrt haben ſollten. 

Daß Dick Hammerdull den beſchwerlichen Aufitieg 
nicht lautlos unternahm, war ſelbſtverſtändlich und ſo 
hörte ich folgendes Geſpräch: 
| „Nun werden wir den Roten eins aufſpielen. Wel⸗ 
ches Inſtrument kannſt du denn blaſen, alter Pitt?“ 

VWVvL Die längſte Poſaune von Jericho,“ antwortete 
dieſer. 

„Ja, das ſtimmt. Alles, was lang iſt, kannſt du 
blaſen, nur dich ſelber nicht! Möchte auch die Töne 
hören, die aus dieſer alten Oboe kämen!“ 

„Zupf dich an deinen eigenen Saiten, alte Guitarre! 
Du biſt verſtimmt!“ 


May, Old Surehand. II. 80 


— 466 — 


„Ob ich verſtimmt bin oder nicht, das bleibt ſich 
gleich; heut aber möchte ich mich hören laſſen. Drei 
Rieſenbären und ein Baby dazu! Das iſt noch nicht da⸗ 
geweſen; ſo etwas hat es noch nie gegeben!“ 

„Ja, und alle vier haſt du allein erlegt!“ 

„Spotte nicht! Haſt etwa du ihren Tod auf deinem 
Gewiſſen?!“ 

„Nein. Ich tu aber auch nicht ſo dick wie du damit.“ 

„Das glaube ich gern. Wie kann ein ſolch langes 
Skelett, wie du, dick tun? Ich habe übrigens nur die 
Ereigniſſe und Ergebniſſe der heutigen Weltgeſchichte auf⸗ 
gezählt, die ja noch gar nicht abgeſchloſſen iſt. Es kommt 
nun erſt noch der gewaltige Schreck, den wir da oben den 
Utahs einjagen werden.“ 

„Uff! Die werden ſich wohl ganz beſonders vor dir 
entſetzen?“ 

„Jedenfalls mehr als vor dir! = ſchweige fetzt, 
wir find gleich am Ziel!“ 

Als wir oben ankamen, war es ſo dunkel geworden, 
daß wir keine Spur entdecken konnten, ob die Utahs ihre 
Streifereien bis hierher ausgedehnt hatten. Wir kannten 
den Weg von geſtern, und da wir nicht ritten, ſondern 
die Pferde führten, kamen wir ganz leidlich bis zu der 
hohen Baumgruppe, bei der die Kameraden geſtern auf 
Winnetou und mich, während wir die Utahs belauſchten, 
gewartet hatten. 

Hier mußten wir die Pferde laſſen, durch die wir 
leicht hätten verraten werden können, wenn wir ſie näher 
zu den Utahs mitgenommen hätten. 

Die Felle tragend, gingen wir dann ſo nahe bis 
zum Lagerfeuer der Roten heran, als dies ohne allzugroße 
Gefahr, entdeckt zu werden, möglich w war und legten dort 
die van: nieder. 


Jetzt galt es zuletzt, uns ebenſo unbemerkt näher 
zu ſchleichen. Um uns das zu erleichtern, mußte ihre 
Aufmerkſamkeit von uns abgelenkt werden, und dies 
konnte am ſicherſten durch Old Surehand geſchehen. Wenn 
er am Lager ankam, waren jedenfalls aller Augen und 
Ohren auf ihn gerichtet, und ſo bekam er die Weiſung, 
ſich ungefähr zehn Minuten nach unſrer Entfernung bei 
den Feuern ſehen zu laſſen. 

Wir drangen alſo, einer hinter dem andern und uns 
an den Händen führend, in den Wald ein. Die Feuer 
zu unſrer Linken erleichterten uns das Vorwärtsdringen. 
Dennoch war die angegebene Zeit ſchon faſt vorüber, als 
wir hinter den Roten unter den Bäumen kauerten. Wir 
hatten uns ihnen noch mehr zu nähern, und um das zu 
können, mußten wir auf die Ankunft Old Surehands 
warten. 

Da ertönten laute, verwunderte Rufe. Er war ge⸗ 
kommen, und nun ſchoben wir uns, am Boden kriechend, 
in das ſchon früher erwähnte Farngeſtrüpp hinein. 
Heut war dabei die geſtrige große Vorſicht nicht nötig, 
weil kein Menſch nach dieſer Seite blickte. 

Das Aufſehen, das die Rückkehr Old Surehands 
erregt hatte, war noch nicht vorüber, als wir es uns in 
den Farnen ſchon ſo bequem wie möglich gemacht hatten. 
Bemerken muß ich, daß der Häuptling Tuſahga Saritſch 
genau an demſelben Platz wie geſtern ſaß, doch heut 
allein. Er war der einzige, der nicht aufgeſtanden war; 
die andern alle umdrängten Old Surehand und riefen ihm 
ihre Fragen zu, von denen er, ſtill um ſich ſehend, keine 
beantwortete. 

Erſt als er glaubte annehmen zu dürfen, daß wir 
die von uns beabſichtigten Plätze eingenommen hatten, 
ſagte er mit lauter Stimme: 


— 468 — 


„Die Krieger der Utahs umdrängen mich mit Fragen, 
ohne zu bedenken, daß nur ihr Häuptling es iſt, dem ich 
Rede ſtehen werde!“ 

„Uff! Das Bleichgeſicht hat recht,“ ſtimmte Tuſahga 
Saritſch bei. „Old Surehand mag kommen und ſich zu 
mir ſetzen!“ | 

Der Genannte folgte dieſer Aufforderung, ohne vorher 
entwaffnet und gebunden zu werden; die Utahs glaubten, 
ſeiner auf alle Fälle ſicher zu ſein. 

„Old Surehand mag ſagen, ob er unten im Tal 
der Bären“ geweſen iſt!“ 

Der Jäger antwortete auf dieſe Frage des Häupt⸗ 
lings: „Ich war unten.“ 

„Haſt du die Spuren des Grizzly geſehen?“ 

„Sogar mehrerer Grizzlys!“ 

„Auch die Bären ſelber?“ 

„Ja.“ 

„Doch ohne mit ihnen zu kämpfen?“ 

„Ich kenne keinen Grizzly, der nicht ſein Leben laſſen 
mußte, nachdem er ſich unvorſichtig von mir hat ſehen 
laſſen!“ 

„Du biſt aber nicht verwundet!“ 

„Ich habe noch nie einem Bären erlaubt, mich zu 
berühren. Wozu habe ich mein Gewehr?“ 

„So biſt du Sieger geweſen?“ 

„Ja.“ 

„Aber ich ſehe kein Fell!“ 

„Fell? Du ſprichſt nur von einem! Haſt du ver⸗ 
geſſen, was mir aufgetragen worden iſt? Habe ich nicht 
vier Felle bringen ſollen?“ 

„Uff! Du redeſt ſehr ſtolz! daft du denn die bier 
Felle?“ 

„Ich habe fie.“ 


— 469 — 


„Das iſt nicht wahr; das iſt nicht möglich; das kann 
man nicht glauben!“ 

„Was Old Surehand ſagt, iſt immer wahr!“ 

„Wie hätteſt du die Felle tragen können! Vier Felle 
von grauen Bären ſind ſo ſchwer, daß kein einzelner 
Mann ſie ſchleppen kann!“ 

„Die Söhne der Utahs ſcheinen ſehr ſchwache Leute 
zu ſein. Schicke vier Krieger vierzig Schritte weit hier 
an dem Rand des Waldes hin; ſie mögen bringen, was 
ſie dort finden werden!“ 

„Uff, uff! Ich habe dir zwei Tage Zeit gegeben, 
heut und morgen. Wenn du glaubſt, ſcherzen zu können, 
ſtrafe ich dich dadurch, daß ich aus den zwei Tagen nur 

einen mache; du mußt alſo heute noch ſterben!“ 
| „Mach nicht jo viel Worte, fondern ſende hin!“ 
Huff! Das Bleichgeſicht muß während dieſes Tages 
wahnſinnig geworden ſein!“ 

Auf ſeinen Wink eilten vier Männer fort. Er und 
die andern warteten mit größter Spannung; keiner ſprach 
ein Wort. Da erklangen laute Ausrufe der Verwunde⸗ 
rung, ein ſicheres Zeichen, daß die Roten ihren Weg 
nicht umſonſt gemacht hatten. Die Utahs die ſich 
vorhin alle niedergeſetzt hatten, ſprangen jetzt abermals 
auf und blickten erwartungsvoll nach der Gegend hin, 
aus der ihre vier Kameraden kommen mußten. Sie 
kamen, und jeder von ihnen brachte ein Grizzlyfell 
geſchleppt, das er am Feuer niederlegte. 

Die Felle wurden hin und her gezerrt und ſehr 
eingehend betrachtet. Die größte Bewunderung erregte 
der Pelz des alten Vater Ephraim, den wir in der Schlucht 
erlegt hatten. Man ſuchte vergeblich nach dem Kugel⸗ 
loch, und als man ſchließlich die zwei hart aneinander 
liegenden Stiche ſah und zur Erkenntnis kam, daß er 


— 40 — 


nicht erſchoſſen, ſondern erſtochen worden war, legte ſich 
der vielſtimmige Lärm, und es trat eine um ſo auffälligere 
Stille ein, während der aller Augen groß und ſtaunend 
auf den weißen Jäger gerichtet waren. 

Bei den Indianern gilt die Erlegung eines grauen 
Bären für die größte Heldentat. Wer einen Grizzly 
ohne Hilfe anderer getötet hat, wird bis an ſeinen Tod 
und noch darüber hinaus gefeiert und hat nach dem 
Häuptling die erſte Stimme in der Verſammlung der 
alten Krieger, mag er auch noch ſo jung ſein. Da die 
Capote⸗Utahs ſich nicht durch hervorragend kriegeriſche 
Eigenſchaften auszeichnen, mußte der Sieg über einen 
Grizzly bei ihnen noch viel höher geſchätzt werden als 
bei andern, durch größere Tapferkeit berühmten Stämmen. 
Und nun lagen gar vier Felle hier anſtatt eines ein⸗ 
zelnen! Und unter dieſen gab es die Haut eines wahr⸗ 
haft rieſigen Tieres, das mit dem Meſſer erlegt worden 
war! Kein einziger der Capote⸗Utahs hätte gewagt, mit 
dem bloßen Meſſer auf einen viel, viel kleineren grauen 
Bären loszugehen! Daher die plötzlich eingetretene Stille, 
während der alle dreiundfünfzig Augenpaare auf Old Sure⸗ 
hand gerichtet waren. 

Dieſer tat, als ſehe er das gar nicht, zog ein Stück 
gebratenes Fleiſch aus der Taſche und begann, es zu ver⸗ 
zehren. Da fragte der Häuptling: 

„Iſt dieſes Fleiſch von einem dieſer Bären?“ 

„Ja,“ antwortete der Gefragte. 

„Zum Braten muß man Feuer haben! Wir haben 
alle Taſchen Old Surehands leer gemacht; er hat weder 
Punks!) noch etwas anderes, womit man ein Feuer 
anzünden kann!“ 

„Das iſt richtig!“ 


) Bräriefeuerzeug 


— 41 — 


„Und doch hat er ein Feuer gehabt? Wie hat er 
es anbrennen können?“ 

Tuſahga Saritſch war mißtrauiſch geworden. Old 
Surehand antwortete: 

„Die roten Männer kennen nicht die Wiſſenſchaften 
der Bleichgeſichter. Der Weiße braucht weder Punks 
noch Hölzer mit Schwefel. Hat Tuſahga Saritſch noch 
nicht gehört, daß man mit Stahl und Stein Feuer 
machen kann?“ 

„Das weiß ich.“ 

„Nun, Stahl iſt meine Meſſerklinge, und Feuerſtein 
habe ich unten bei den Felſen gefunden. Zunder ſteckt 
in jedem hohlen Baum genug.“ 

„Uff! Das iſt wahr! Schon dachte ich, Old Sure⸗ 
hand habe andere Leute gefunden, Bleichgeſichter, die ihm 
Feuer gegeben haben. Wie haſt du es angefangen, vier 
Bären zu finden?“ 

„Ich habe Augen!“ 

„Und ſie zu erlegen?“ 

„Ich habe ein Gewehr und ein Meſſer!“ 

„Und die ſchweren Felle hier heraufzutragen?“ 

„Ich habe Schultern und Arme!” 

„Aber kein Menſch kann dieſe vier ſchweren Felle 
tragen.“ 

„Auf einmal nicht. Wer hat denn behauptet, daß 
ich das getan habe?“ 

„Konnteſt du es anders machen?“ 

„Natürlich! Kann ich ſie nicht einzeln heraufſchaffen?“ 

„Uff! Das iſt wahr. Wir werden ſehen, ob du 
morgen noch einen Bär erlegſt!“ 

„Noch einen? Wer verlangt das?“ 

„Ich. Es iſt ein ſehr kleiner dabei; der gilt nichts!“ 

„Deſto größer iſt der alte Grizzly geweſen.“ 


= 474: 


„Das gilt nichts, daß er größer iſt. Bär iſt Bär!“ 

„Da bin ich einverſtanden. Bär iſt Bär; auch der 
kleine war ein Bär und hat alſo als Bär zu gelten. 
Ich habe vier Felle gebracht!“ 

„Darüber habe ich allein zu beſtimmen, nicht aber 
du! Schweig alſo!“ 

Mit dieſen Worten leitete er, ohne es zu ahnen, eine 
Entſcheidung ein, die ihn noch mehr in Aufregung bringen 
mußte, als der Anblick der Bärenfelle. Old Surehand 
antwortete ihm im ruhigſten Ton: 

„Meinſt du wirklich, Old Surehand ſei der Mann, 
dem du Schweigen gebieten darfſt, wenn er ſprechen will? 
Ich rede, wenn ich will, und ich tue, was ich will. Du 
haſt mir nichts zu befehlen!“ 

„Nicht? Biſt du nicht mein Gefangener?“ 

„Nein!“ 

„Uff! Du denkſt, weil du dein Gewehr und dein 
Meſſer noch haſt!“ 

„Pshaw!” f 

„Daß ich dir beides noch nicht habe nehmen laſſen, 
muß dir ſagen, wie feſt wir dich in den Händen haben. 
Ich werde dich wieder binden laſſen.“ 

„Das wirſt du nicht tun! Ich habe getan, was du 
von mir gefordert haſt, und bin nun frei!“ 

„Noch lange nicht! Dieſer kleine Bär gilt nichts. 
Und wenn ich ihn gelten laſſen wollte, hätteſt du doch 

nur dein Leben gerettet! Willſt du mit uns ziehen und 
dir eine Squaw bei uns nehmen?“ 
a 
So bleibſt du gefangen!“ 

„Es wundert mich, daß du in dieſer Weiſe mit mir 
zu ſprechen wagſt. Wer furchtlos in das Kui⸗erant⸗yuaw 
hinabgeſtiegen iſt und vier graue Bärenfelle mitgebracht 


— 413 — 


hat, fürchtet ſich vor keinem roten Mann! Ich habe mir 
auch die Freiheit mit aus dem Tal heraufgeholt.“ 

„Sprich deutlicher, wenn mein Ohr deine Worte ver⸗ 
ſtehen ſoll.“ 

„Gut, ich will deutlich ſprechen! Ich gebe euch die 
Wahl, Old Surehand entweder als Freund oder als 
Feind zu haben. Gib mir die Freiheit!“ 

„Ich verweigere ſie! Poche nicht auf dein Meſſer 
und auf dein Gewehr! Es iſt nicht die Zauberflinte Old 
Shatterhands, der immerfort ſchießen kann, ohne laden zu 
müſſen, und gegen den darum fünfzig und hundert Krieger 
nicht aufkommen können.“ 

„So glaubſt du alſo doch, daß dieſes Gewehr euern 
Waffen überlegen iſt?“ 

„Ich glaube es, und jeder Krieger muß es glauben.“ 

„Haſt du dieſes Gewehr einmal geſehen?“ 

„Nein.“ 

„So wende den Kopf nach deiner linken Seite!” 

Wir hatten Old Surehand keine beſonderen Verhal⸗ 
kungsmaßregeln erteilt und mit ihm nicht verabredet, was 
er tun und ſprechen ſolle. Sein und unſer Verhalten 
mußte ſich aus dem Lauf der Ereigniſſe ergeben. Winne⸗ 
tou und ich ließen uns ſeine an den Häuptling geſtellte 
Aufforderung als Stichwort dienen und richteten uns 
empor. Indem ich den Stutzen auf Tuſahga Saritſch 
anlegte, trat Winnetou furchtlos, als ob er ſich bei den 
beſten Freunden befinde, zu ihm hin, hielt ihm ſein ſilber⸗ 
beſchlagenes Gewehr vor das Geſicht und fragte: 

„Du wirſt mir ſagen können, was das für eine 
Büchſe iſt. Wie nennt man ſie?“ 

Jetzt zeigte es ſich wieder einmal, welchen Eindruck 
die herrliche Erſcheinung und das ſtolze, ſelbſtbewußte 
Auftreten des Apatſchen hervorzubringen pflegte. Aller 


— 474 — 


Augen waren auf ihn gerichtet. Niemand wagte es, nach 
den Waffen zu greifen. So überraſcht, ja erſchrocken die 
Utahs über unſer plötzliches Erſcheinen waren, ſie ver⸗ 
ſäumten es ganz, dem Ausdruck zu verleihen. Auch ihr 


Häuptling vergaß, vom Boden aufzuſpringen. Die Augen 


auf das Gewehr gerichtet, antwortete er beinahe ſtotternd: 

„Das — — das — —. uff — — das iſt die Silber⸗ 
büchſe Winnetous!“ 

„Ja, ich bin Winnetou, der Häuptling der Apatſchen. 
Und da ſteht mein weißer Bruder Old Shatterhand mit 
ſeiner Zauberflinte, und hinter ihm erblickſt du noch 
mehrere Häuptlinge roter Stämme und tapfere Krieger 
der Bleichgeſichter, die ihre Gewehre alle auf euch richten. 
Sag deinen Kriegern, daß ſie ja keine Hand und keinen 
Fuß bewegen ſollen, denn wer es wagt, dies zu tun, der 
bekommt augenblicklich eine Kugel in den Kopf!“ 

Es war für uns eine wahre Wonne, die Wirkung 
dieſer Worte zu beobachten. Kein Indianer machte die 
geringſte Bewegung; ſie ſtanden wie die Bildſäulen. Ihr 
Häuptling betrachtete mich mit angſtvollen Augen und 
antwortete dem Apatſchen in bittendem Ton: 

„Ich ſehe, daß du Winnetou biſt, und glaube auch, 
daß das Bleichgeſicht dort Old Shatterhand iſt. Ich mag 
ſein Zaubergewehr nicht auf mich gerichtet haben. Sag 
ihm, er möge es ſenken!“ 

Da entgegnete Winnetou: „Der Häuptling der 
Capote⸗Utahs ſcheint nicht einzuſehen, wie es mit ihm 
ſteht. Was ſind das für Riemen, die ich hier zu den 
Füßen meines Bruders Surehand liegen ſehe?“ 

„Es ſind die, mit denen ich bis heut früh gefeſſelt 
war,“ antwortete der Genannte. 

„Heb ſie auf und binde damit Tuſahga Saritſch die 
Arme und die Füßel“ 


— 475 — 


Der Häuptling wollte aufſpringen; da ließ ich den 
noch unaufgezogenen Hahn knacken. 

„Halt! Still!“ warnte ihn Winnetou. „Noch eine 
ſolche Bewegung, ſo trifft dich die Kugel! Hört, alle ihr 
Männer vom Stamm der Utah: von den Worten, die 
ich euch jetzt ſage, geht kein Laut und keine Silbe ab. Ihr 
ſeid unſre Gefangenen, legt eure Waffen ab und laßt euch 
von uns binden. Morgen früh erhaltet ihr die Waffen 
und die Freiheit wieder und könnt gehen, wohin ihr 
wollt. Wer ſich das nicht gefallen laſſen will, der hebe 
ſeine Hand empor; aber wer ſie emporhebt, der bekommt 
ſofort die Kugel in den Kopf!“ 

Es gab natürlich keine Hand, die in die Höhe gehalten 
wurde. 

„Ihr habt unſern Freund und Bruder Surehand 
gebunden mit euch herumgeſchleppt; ihr habt ihm die 
Wahl zwiſchen dem Tod und dem Kampf mit den Bären 
gelaſſen; das muß geſühnt werden. Wir legen euch eine 
milde, eine geringe Sühne auf; ihr ſollt dafür eine Nacht 
gefangen ſein. Morgen früh ſeid ihr alle wieder frei. 
Wer darauf eingeht, der handelt klug; wer unſre Güte von 
ſich weiſt, den koſtet es das Leben. Winnetou hat 
geſprochen. Howgh!“ 

Es ließ ſich nicht ein einziges Wort des Wider⸗ 
ſpruchs hören, und ſo ſagte ich: 

„Auch ich, Old Shatterhand, gebe den Kriegern der 
Capote⸗Utahs mein Wort: morgen früh werden ſie wieder 
frei ſein, wenn ſie ſich jetzt binden laſſen. Der Häuptling 
ſoll der erſte ſein, der die Riemen bekommt. Dick Ham⸗ 
merdull und Pitt Holbers, ihr beide verſteht euch auf 
dieſes Geſchäft! Auch ich habe jetzt geſprochen. Howghl!“ 

Es iſt etwas ganz eigenes um die faſt unausbleib⸗ 
liche Wirkung, die ſo ein ruhiges, feſtes und ſelbſtbewußtes 


Auftreten auf Leute, wie die Utahs waren, hervorbringt. 
Der Ruf, in dem wir ſtanden und die Furcht vor meinem 
vermeintlichen Zaubergewehr hatten wohl auch ihren 
Anteil daran, aber das Aeußere beſonders des Apatſchen 
und die Art, wie er ſich gab und wie er ſprach, 
brachten auch hier das hervor, was er beabſichtigte: der 
Häuptling wehrte ſich nicht, als ihm die Riemen angelegt 
wurden, und ſeine Krieger konnten nicht anders, als 
dieſem Beiſpiel folgen. Erſt als der letzte gefeſſelt war, 
ließ ich den Stutzen ſinken. Die Arme taten mir weh. 

Das nächſte war, daß ſich Old Surehand wieder in 
den Beſitz ſeines Eigentums ſetzte; es war nichts davon 
abhanden gekommen, ein Umſtand, der ihn verſöhnlich 
ſtimmte. Er erklärte uns alſo: 

„Eigentlich haben dieſe Indianer einen Denkzettel 
verdient; denn es iſt nicht angenehm, mehrere Tage lang 
als Gefangener umhergeſchleppt zu werden. Daß ich 
ihnen zwei Leute erſchoſſen habe, dürfen ſie mir nicht an⸗ 
rechnen, weil ich mich meines Lebens wehren mußte. So⸗ 
nach wäre ich jetzt eigentlich noch nicht quitt mit ihnen, 
ſondern hätte einen Betrag heraus zu bekommen; aber da 
ſie die Urſache ſind, daß ich euch hier getroffen habe, will 
ich meine Rechnung durchſtreichen und dareinſtimmen, 
daß ſie morgen ihre Wege ziehen können. Die l 
aber bekommen ſie natürlich nicht!“ 

„Das fehlte noch!“ ſtimmte Dick Hammerdull bei. 
„Wer einen Bärenpelz haben will, mag mit dem Kerl, 
der naturgemäß hineingewachſen iſt, ſelber reden. Nicht 
wahr, Pitt Holbers, altes Coon?“ 

„Fm!“ brummte der Lange. „In was für ein Fell 
biſt denn du eigentlich hineingewachſen, lieber Dick?“ 

„In das deinige natürlich nicht! Fang nicht etwa 
ſchon wieder an, mich zu beläſtigen! Seit Mr. Shatter⸗ 


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hand heut nacht mein Leibſchneider geworden iſt, halte ich 
auf Ruf und Ehre und laß mich von dir nicht ſchikanieren. 
Aber, Meſch ſchurs, wer ſoll die ſchweren Felle bis ſo weit 
hinauf in das Gebirge ſchleppen? Das iſt doch eine un⸗ 
bequeme Pladerei!” 

„Meine Brüder werden auf die Felle verzichten und 
nur die Trophäen behalten,“ antwortete Winnetou. „Das 

'iſt genug.“ 

Er meinte die Zähne, Krallen und Ohren der Bären, 
die der Jäger als Siegeszeichen um den Hals oder am 
Hut zu tragen pflegt. Ich muß erwähnen, daß wir den 
Tieren die Zähne mit Hilfe der Tomahawks und Meſſer 
ausgebrochen hatten. Nun fragte es ſich, wer dieſe Tro⸗ 
phäen bekommen ſollte. Old Surehand hatte den vierten 
Bären erlegt; er gehörte ihm. Dann handelte es ſich um 
die Bärin, deren Fell und Zähne mir zugeſprochen wur⸗ 

den. In Beziehung auf den alten ſtarken Vater Ephraim 
wollte Winnetou geltend machen, daß er durch den zweiten, 
alſo durch meinen Meſſerſtich erlegt worden ſei; es ent⸗ 
ſpann ſich alſo ein Wettſtreit zwiſchen ihm und mir, aus 
dem ich als Sieger hervorging; der Grizzly wurde als 
von ihm getötet betrachtet; er fügte ſich mit den Worten: 

„Old Shatterhand und Winnetou ſind nicht zwei 
Perſonen, ſondern eine; es iſt alſo gleich, wer die a 
phäen erhält.“ 

„Und nun das Baby!“ ſagte Dick Sammerdull, 
„Wer hat die Ehrenzeichen von dieſem zu erhalten?“ 

„Apanatſchka,“ antwortete ich. 

„Wie? Warum der?“ 

„Weil er den jungen Bären erſtochen hat.“ N 

„Ach ſo! Und warum hat er ihn erſtechen können, 
Mr. Shatterhand?“ . 

„Weil er ein Meſſer in den Händen hatte, natürlich.“ 


— 48 — 


„Fehlgeſchoſſen! Weil ich das Baby feſtgehalten habe. 
Wäre es nicht von mir ſo feſt umklammert worden, hätte 
es nicht erſtochen werden können.“ 

„Es iſt wohl etwas umgekehrt geweſen!“ 

„Wie denn?“ 

„Nicht Ihr hattet es, ſondern es hatte Euch um⸗ 
klammert!“ 

„Ob es mich hatte oder ob ich es hatte, das bleibt 
ſich gleich; wir hatten einander feſt, und darum habe ich 
nicht eher losgelaſſen, als bis es von Apanatſchka er⸗ 
ſtochen worden war. Wenn der berühmte Häuptling der 
Komantſchen nur eine Spur von menſchlicher Gerech⸗ 
tigkeit im Herzen hat, muß er zugeben, daß ich allein und 
unbedingt derjenige bin, welcher!“ 

Da ſagte Apanatſchka lächelnd: 

„Mein Bruder Hammerdull trägt die Spuren des 
Baby am Leibe, darum mag er auch das Fell behalten!“ 

„Wirklich, beſter Freund und Bruder Apanatſchka?“ 

„Ja. Weil das Baby meinen Bruder Hammerdull 
ſo feſtgehalten hat, verzichtet Apanatſchka auf den Rock, 
der ihm von ſeiner Mutter angezogen worden war.“ 

„Er iſt ihm von uns wieder ausgezogen worden und 
gehört nun mir! Haſt du das vernommen und gehört, 
Pitt Holbers, altes Coon?“ 

„Les!“ nickte der Lange. 

„Was haſt denn aber du?“ 

„Nichts! Ich laß mir nichts ſchenken!“ 

„Iſt das Fell etwa ein Geſchenk für mich?“ 

„Les, weiter nichts!“ 

„Oho! Ich habe es mir redlich verdient. Der Kauf⸗ 
vertrag ſteht mit deutlichen * auf meiner Haut 
geſchriebenl“ 


— 479 — 
„Und zwar ſo feſt, daß ich ihn nicht herunterwaſchen 


konnte!“ 

„Du willſt mich wieder ärgern! Aber das tut nichts; 
ich bin und bleibe dein beſter, treuſter Freund. Wir wer⸗ 
den teilen!“ 

„Was? Das Baby?“ 


„Nein, ſondern nur die Andenken an das liebe Kind. 
Sag, alter Pitt, willſt du die Hälfte davon haben?“ 

Da zog Holbers ſeine ſüßeſten Lächelfalten zuſammen 
und rief aus: 

„Du wirſt doch nicht, liebſter Dickl“ 

„Warum nicht? Weißt du noch, was Winnetou 
vorhin ſagte: | = 

„Nun, was?“ 

„Old Shatterhand und Winnetou ſind nicht zwei 
Perſonen, ſondern eine; es iſt alſo ganz gleich, wer die 
Trophäen bekommt. So iſt es auch mit uns beiden: Dick 
Hammerdull und Pitt Holbers ſind ein Leib und eine 
Seele; nämlich der Leib biſt du und die Seele bin ich. 
Geben wir alſo dem Leib die eine Hälfte und der Seele 
die andre Hälfte von den hübſchen Babyſachen! Einver⸗ 
ſtanden?“ 

Er ſtreckte ihm die Hand hin. Holbers ſchlug ein und 
antwortete: 

„Les, einverſtanden! Du biſt doch ein guter Kerl, 
alter Dick!“ | 

„Du biſt auch nicht ohne! Leib und Seele müſſen 
zuſammenhalten; alſo ärgere mich nicht mehr; dann bleib 
ich dir bis in den Tod getreu!“ 

Man wußte wirklich nicht, ob man ſich gerührt fühlen 
oder über die beiden ſonderbaren Kerle lachen ſollte. Die 
dicke Seele in dem langen, dünnen Leibe war ein köſtliches 


— 480 — 


Bild der unzertrennlichen, aber fo oft uneinigen Zwei⸗ 
einigkeit. 

Dieſe Beſprechung über die Preisverteilung war ſo 
unter uns vorgenommen worden, daß die Utahs nichts 
davon hörten. Sie mochten auch ferner überzeugt ſein 
und es weiter erzählen, daß Old Surehand an einem Tag 
vier graue Bären erlegt habe. Sie verhielten ſich, ſeit wir 
ſie gebunden hatten, ſchweigſam; ſie ſprachen weder mit⸗ 
einander, noch kam es ihrem Häuptling bei, ein Wort an 
uns zu richten. Das war uns übrigens ganz lieb, denn 
wir hatten während der vergangenen Nacht nur wenig 
geſchlafen und bedurften der Ruhe. Es wurde, um die 
Beleuchtung des Lagers zu vereinfachen, ein einziges 
großes Feuer angezündet, an dem wir uns unſer Abend⸗ 
eſſen, beſtehend aus gebratenem Bärenfleiſch, bereiteten, 
und während wir aßen, teilten wir die Wachen aus. Die 
erſte erbat ich für mich, weil ich mich doch etwas über⸗ 
anſtrengt hatte. Die Wunde ſchmerzte mich heute mehr 
als geſtern, was ich aber nicht ſagte. Ich wollte daher 
ſpäter verſuchen, in einem fort zu ſchlafen. 

Was die Wachen betrifft, ſo trafen wir eine An⸗ 
ordnung, die im wilden Weſten wohl noch niemals 
vorgekommen war: die Gefangenen mußten ſich daran 
beteiligen. Wir hatten zuſammen rund ſechzig Pferde, 
die während der Nacht zuſammenzuhalten waren; das 
konnten die Utahs übernehmen, von denen von Stunde 
zu Stunde zwei losgebunden und dann wieder gefeſſelt 
wurden. Eine Gefahr für uns gab es dabei nicht; ſie 
hatten ja keine Waffen, und da ſie wußten, daß ſie früh 
ſchon wieder frei ſein würden, hatten wir von ihnen keine 
Unannehmlichkeiten zu erwarten. 

Als ſich die andern Gefährten zur Ruhe gelegt hatten, 
feste ſich Old Surehand zu mir und ſagte: 


— 41 — 


„Erlaubt, daß ich mich an Eurer Wache beteilige! 
Ich habe die ganze Nacht geſchlafen und bin noch munter 
wie ein Fiſch im Creek. Die Freude über unſer Zu⸗ 
ſammentreffen hält mich wach. Wir haben uns zwar 
ſchon heut vormittag gar manches erzählt, aber mit Euch 
allein iſt's doch eine andre Sache. Ihr ſeid bei Wallace 
in Jefferſon⸗City geweſen. Hattet Ihr noch jemand mit 
bei ihm?“ 

„Nein; ich war allein,“ antwortete ich. 

„Ihr ſeid ſein Gaſt geweſen?“ 

„Ich ſollte, habe es . aber abgeſchlagen.“ 

„Warum?“ 

„Weil wir da doch von Euch mehr geſprochen hätten, 
als grad notwendig war. Ich wollte von ihm nichts 
weiter wiſſen, als Euer gegenwärtiges Ziel und Euren 
Reiſeweg.“ 

„Und es iſt auch bloß davon geſprochen worden?“ 

i „Ja. u 

„Ich danke Euch, Sir! 

„Bitte! Hättet Ihr mir zutrauen können, daß ich 
Fragen ausgeſprochen habe, die mir nur im Fall Eures 
Todes erlaubt geweſen wären?“ 

„Nein, auf keinen Fall! Aber Wallace könnte Euch 
gegenüber mitteilſam geworden ſein. Wer mit Euch 
ſpricht, dem geht das Herz leicht auf; das habe ich ja an 
mir ſelbſt erfahren.“ 

„Ich verſichere Euch, daß nicht ein Wort gefallen 
iſt, das auch nur im RN auf ein Geheimnis an⸗ 
geſpielt hätte!“ ö 

„Ich glaube Euch, Mr. Shatterhand. Glaubt mir, 
wenn ich reden dürfte, ſo würdet grad Ihr der erſte ſein, 

May, Old Surehand. II. 81 


— 1482 — 
dem ich mich mitteilte: es gibt aber Berhältniſſe, die mich 
zum Schweigen zwingen.“ 

„Ich weiß, daß Ihr Vertrauen zu mir habt; darum 
möchte ich mir dennoch und trotzdem eine . erlauben.“ 

„Sprecht ſie aus!“ 

„Müßt Ihr wirklich und unter allen Umſtänden 
ſchweigen?“ 

„Jetzt iſt mir das Reden noch verboten, doch können 
allerdings Umſtände eintreten, die es mir erlauben.“ 

„Hm! Ich fühle mich zu einer Bemerkung faſt ver⸗ 
pflichtet: ich habe Fälle erlebt, in denen ein erzwungenes 
Schweigen, ja ein Schweigen auf Ehrenwort, eine Sünde, 
ein Verbrechen war. Hoffentlich gehört Eure Verſchwiegen⸗ 
heit nicht unter dieſe Fälle?“ 

„Nein; ich bin rein und frei von aller Schuld. u 

„Steht Euer jetziger Ritt mit dem Geheimnis in 
Beziehung?“ 

„Alle meine Wanderungen beziehen ſich darauf.“ 

„Ich vermute: Ihr ſucht etwas; Ihr ſucht jemand; 
Ihr wollt Helligkeit in irgend ein Dunkel bringen. Denkt, 
wie weit ich in den Staaten und im wilden Weſten 
herumgekommen bin! Wäre es denn gar nicht möglich, 
daß grad ich etwas für Euch Wichtiges erfahren hätte, 
daß ich Euch einen Fingerzeig geben könnte, wenn ich 
nur eine Andeutung von Euch bekäme?“ 

„Nein; das iſt nicht denkbar, Mr. Shatterhand. Das, 
was mir am Herzen liegt, ſteht Euch ſo fern, kann Euch 
nie berühren.“ 

„Kann mich nie berühren? Well! Aber wenn es 
nun umgekehrt wäre, wenn ich es berührt hätte?!“ N 

„Das iſt nicht der Fall. Glaubt mir, das iſt nicht der 
Fall!“ 


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„Und doch möchte ich Euch ſo gern helfen, die Laſt, 
die auf Euch liegt, von Euch zu werfen!“ 

Da rückte er ſchnell von mir ab und d ſagte in beinahe 
ſchroffem Ton: 

„Laſt? Mr. Shatterhand, ich trage keine Laſt! Ich 
bitte Euch, dringt nicht in mich; es gelingt Euch doch 
nicht, mich zum Reden zu bringen!“ 

„Ah, welche Worte, lieber Freund! Es fällt mir 
nicht im geringſten ein, etwas aus Euch herauszulocken, 
hört Ihr, zu locken, was Ihr für Euch behalten wollt 
und müßt! Ich habe aus reiner, herzlicher Teilnahme, 
nicht aber aus Neugierde geſprochen. Dieſe Verſicherung 
gebe ich Euch, und ich denke, Ihr könnt mir das glauben.“ 

„Ich glaube es. Nun bin ich aber doch müde ge⸗ 
worden und will mich niederlegen. Ich wünſche Euch 
gute Nacht, Mr. Shatterhand!“ 

„Gute Nacht!“ 

Er ſuchte ſich einen bequemen Platz und legte ſich dort 
nieder. So plötzlich fühlte er ſich ermüdet? Er war ver⸗ 
ſtimmt. Wie konnte er, der mich doch kennen mußte, mein 
aufrichtiges Mitgefühl für Zudringlichkeit halten, wie ſich 
durch meine gut gemeinte Hilfsbereitſchaft von mir ab⸗ 
ſtoßen laſſen! Der Mann, der Charakter in mir, wollte 
beleidigt tun, der Menſch in mir, aber, das alte, gute, 
deutſche Gemüt, überwand die aufſteigende Bitterkeit. 
Wer an Geheimniſſen zu tragen, vielleicht ſchwer zu tragen 
hat, iſt nicht glücklich zu nennen, und jeder Unglückliche 
hat Anſpruch auf Schonung und Entſchuldigung. Die 
ſchroffe Zurückweiſung des Freundes war verziehen. 

Als meine Wache zu Ende ging, ſorgte ich für die 
Ablöſung der beiden Utahwachen und weckte dann Apa⸗ 
natſchka als den mir nachfolgenden auf. Ich war müde, 


— 44 — 


aber ich grübelte trotzdem noch lange an der Enthüllung 
des Geheimniſſes, die mir verboten war, und noch im 
Einſchlafen dachte ich an ein Felſengrab im Hochgebirge 
und hörte dort eine klagende Frauenſtimme nach ihrem 
Wawa Derrick rufen. Ich träumte auch von dieſem Grab, 
um das ſich kämpfende Geſtalten bewegten, doch als ich 
früh erwachte, konnte ich mich keiner von ihnen ent⸗ 
ſinnen.— — — 


Neuntes Kapitel 
Old Wabbles Tod 


Nun befanden wir uns hoch oben in den eigentlichen 
Rocky⸗Mountains und ritten an der öſtlichen Seite des 
Pah⸗ſavahre⸗payavhr) hinan. Das Rieſenpanorama, in 
dem wir Zwerggeſchöpfe uns bewegten, war überwäl⸗ 
tigend großartig. Hier wirkte die ungeheure Maſſigkeit 
der Gebirgsſtöcke im Verein mit dem Farbenreichtum der 
unbekleideten Felſen. Das waren himmelhohe und meilen⸗ 
lange Granitmauern mit wunderbar geſtalteten Baſtionen, 
über die es kein Hinüberkommen zu geben ſchien. Wenn 
wir, uns umwendend, rückwärts blickten, lag im Oſten 
die weite Prärie wie ein endloſer, flimmernder See tief, 
tief zu unſern Füßen. Die Bäche rauſchten um uns wie 
zu Schaum gewordenes, flüſſiges Silber dahin; Frau 
Flora ſtieg, gekleidet in ihr künſtleriſch abgetöntes, grünes 
Sammetgewand und ihr Haupt mit Gold gekrönt, ſtolzen 
Schrittes zu den erhabenen Scheiden und Kuppen des 
Gebirges empor. Hier bauen ſich gigantiſche Felſenſtufen, 
eine über die andere, auf, mächtige Balſamtannen tragend 
und den Geiſtern des Gebirges als Treppe dienend, wenn 
ſie nächtlicherweiſe niederſteigen, „eine Wildſchur um die 
Lenden, eine Kiefer in der Fauſt“. Dort wieder haben 
ſich zu Füßen eines einzeln thronenden Bergtitanen ganze 
Reihen rieſiger Säulen herausgebildet, hinter deren Wald⸗ 


J Berg des grünen Waſſers. 


— 486 — 


kuliſſen die wunderbaren Geheimniſſe der Hochwelt 
träumen. Hinter den ſcharfgezeichneten, dunklen Kanten 
der ſcheinbar höchſten Höhen flimmern ſilberne und gol⸗ 
dene Punkte und ſtrahlen diamantene Linien und Streifen 
aus blaugrauen Schleiern hervor. Sind das die Grüße 
einer für den Sterblichen unerreichbaren Märchenwelt, 
eines jenſeits der Erde befindlichen Zauberlandes, oder 
ſcheint dort die Sonne wider von fernen Gebirgshäuptern, 
mit deren Höhe die der uns umgebenden Felſenrieſen 
nicht zu wetteifern vermag? 

Wir ritten durch all dieſe Pracht und Herrlichkeit 
empor. Unſer heutiges Ziel war der Pahſavahre, jener 
einſam liegende, hellgrüne See, von dem die Sagen der 
Indianer Wunderbares zu erzählen wiſſen. Dort wollten 
wir übernachten, um am andern Morgen in den Park von 
San Luis hinabzuſteigen, in dem ich die Aufklärung ſo 
vieler Rätſel erwartete. 

Wir hatten am Morgen nach den Erlebniſſen im 
„Bärental“ die dreiundfünfzig Capote⸗Utahs dem gegebenen 
Wort gemäß freigelaſſen. Nun wir Old Surehand. 
bei uns hatten, gab es für uns keinen Grund mehr, 
uns beſonders zu beeilen, und ſo zogen wir nicht vor den 
Utahs aus dem dortigen Park fort, ſondern ließen ſie vor 
uns abziehen, weil es ſtets vorteilhafter iſt, feindlich ge⸗ 
ſinnte Menſchen vor, als hinter ſich zu haben. 

Und feindlich geſinnt waren ſie uns, obgleich ſie über 
die Behandlung, die ſie bei uns gefunden hatten, nicht 
klagen konnten. Wir hatten keinem von ihnen ein Haar 
gekrümmt und keinen von ihnen mit Worten beleidigt; 
dennoch äußerte der Häuptling, als er früh losgebunden 
wurde: 

„Old Surehand ſagte geſtern abend, daß er eigentlich 
noch nicht quitt mit uns ſei; er hat ſich verkehrt au 


. . — 


— 47 — 


gedrückt, denn wir ſind noch nicht quitt mit ihm. Er hat 
zwei Krieger getötet.“ 

„Dafür hat er euch vier Felle gebracht,“ entgegnete 
Winnetou. 

„Die haben wir nicht bekommen!“ 

„Ihr könnt ſie nehmen!“ 

„Nachdem ihr die Ohren und Krallen abgeſchnitten 
habt? Nein! Und wenn wir ſie bekommen hätten, wäre 
ihm doch nur das Leben, aber nicht die Freiheit geſchenkt. 
Wir müſſen ihn haben!“ 

„Und wenn ihr ihn bekämt, fo würdet ihr ihn töten?“ 

„Ja, denn wir haben das Löſegeld für ſein Leben, 
die Felle, nicht erhalten. Zwiſchen uns iſt wieder Blut; 
wir werden das feinige fordern.“ 

„Uff! Old Shatterhand und Winnetou find ftets die 
Freunde aller roten Männer geweſen; wir haben auch 
euch nichts getan, obgleich ihr unſre Gefangenen wart, 
und wollten die Pfeife des Friedens mit euch rauchen, 
ehe wir an dieſem Tag von euch ſcheiden.“ 

„Wir mögen euer Kalumet nicht ſehen!“ 

„So werdet ihr nicht nur Old Surehands, ſondern 
auch unſere Feinde ſein?“ 

„Ja. Zwiſchen uns und euch bleibt Feindſchaft fort 
und fort!“ 

„Tuſahga Saritſch, der Häuptling der Capote⸗Utahs, 
ſoll ſeinen Willen haben. Winnetou, der Häuptling der 
Apatſchen, zwingt keinem Menſchen ſeine Freundſchaft 
auf, weil es nicht ſeine Gewohnheit iſt, ſich vor einem 
Feind zu fürchten. Die Utahs mögen fortreiten!“ 

„Ja, fie mögen fortreiten, die Dummköpfe!“ rief 
Hammerdull. „Für ihre Freundſchaft danke ich über⸗ 
haupt, denn bei ihnen kommt die Brüderſchaft ſogleich da⸗ 
hinter, und ich habe ſtets die Erfahrung gemacht, daß der⸗ 


— 488 — 


jenige, der einem die Freundſchaft und dann die Brüder⸗ 

ſchaft anträgt, gewöhnlich die Abſicht hat, einen anzu⸗ 
pumpen. Das iſt ſtets und unumſtößlich . Nicht 
wahr, Pitt Holbers, altes Coon?“ 

„Nein,“ antwortete der Lange. 

„Was? Du gibſt mir nicht recht? Kennſt du denn 
einen, der nicht ſofort angepumpt hat?“ 

„Ja. Ich bin es!“ 


„Ja, richtig; das iſt wahr! Du biſt aber auch der 


einzige von ihnen, wirklich der allereinzige, denn die 
andern haben es alle, alle getan!“ 

Der alte, dicke Spaßvogel hatte wirklich nicht unrecht. 
Ich habe dieſelbe Erfahrung ja auch gemacht, natürlich 
nur unter den „HBleichgeſichtern“. Wie viele Male 
hat ſich mir jemand mit dem Worte Freund genähert, 
und dann folgte gleich das ſehr einſeitig beliebte Geſchehnis, 
das Hammerdull ſo unäſthetiſch mit dem plumpen Wort 
„anpumpen“ bezeichnete. Der Indianer bringt das nicht 
fertig; dem Durchſchnitts⸗„Bleichgeſicht“ aber ſcheint es 
ſehr leicht zu fallen; ich weiß als Verfaſſer meiner Werke 
leider nicht nur ein Wort, ſondern tauſend Worte davon 
zu ſprechen. Howgh! — 

Die Utahs zogen alſo ab. Es war eigentlich jammer⸗ 
ſchade um die ſchönen Bärenfelle, die wir liegen und ver⸗ 
derben laſſen mußten: aber wir konnten ſie nicht mit⸗ 
ſchleppen, und da wir nicht wußten, welchen Rückweg wir 
einſchlagen würden, wäre es überflüſſige Arbeit geweſen, 
ſie zuzurichten und dann einzugraben, um ſie ſpäter mit⸗ 
zunehmen. Wer wohl ſagen könnte, welche Maſſen von 
Fellen und Pelzen auf dieſe Weiſe im wilden Weſten 
jugrunde gegangen find! 

Wir folgten den Utahs nicht auf dem Fuß. denn 
das wäre ein Fehler geweſen, ſondern warteten bis zum 


— 489 — 


Mittag, bis ſie einen Vorſprung vor uns hatten. Da 
ſahen wir denn, daß ſie ſich außerordentlich beeilt und 
ganz die Richtung genommen hatten, die auch wir ein⸗ 
ſchlagen mußten. Das war kein gutes Zeichen für uns. 
| „Meint Old Shatterhand, daß fie die Abſicht haben, 
ſich an uns zu rächen?“ fragte mich Apanatſchka. 

„Ich denke es,“ antwortete ich. 

„Dann dürften ſie aber nicht vor uns bleiben, ſon⸗ 
dern müßten uns folgen!“ 

„Das werden ſie auch bald tun. Ich wette daß ſie 
die nächſte Gelegenheit ergreifen werden, ihre Fährte un⸗ 
ſichtbar zu machen.“ 

Ich hatte recht. In der nächſten Nacht gab es ein 
Gewitter, das bis zum Morgen dauerte, und als wir 
dann nach den Spuren der Utahs ſuchten, waren ſie vom 
Regen fortgewaſchen worden. 

Old Surehand war während der beiden nächsten 
Tage außerordentlich ſchweigſam und zog ſich beſonders 
von mir zurück, allerdings nicht etwa in unfreundlicher 
Weiſe. Es war nicht ein gegen mich gerichtetes Gefühl, 
dem er dabei folgte, ſondern ich ahnte, daß er mit ſich 
kämpfte, ob er aufrichtig mit mir ſein oder ſeine Ver⸗ 
ſchwiegenheit beibehalten ſollte. Ich tat gar nichts dazu, 
dieſen inneren Kampf nach der einen oder andern Seite 
zu beendigen; er war ein Mann und mußte ſelbſt mit - 
ſich fertig werden können. Schließlich merkte ich, daß die 
Stimme der Verſchwiegenheit geſiegt hatte. Er glaubte 
aber doch, mir wegen unſrer letzten Unterhaltung eine 
Bemerkung machen zu müſſen, ritt kurze Zeit neben mir 
her und ſagte: 

„Habe ich Euch bei unſerm Geſpräch im Park be: 
leidigt, Mr. Shatterhand?“ 

„Nein, Mr. Surehand,“ antwortete ich. 


— 190 — 


„Ich denke, daß ich etwas zu kurz geweſen bin?“ 

„Nein. Wenn man ermüdet iſt, pflegt man nicht 
viele Worte zu machen.“ 

„So iſt es. Ich war ganz plötzlich ſehr müde ge⸗ 
worden. Aber, bitte, könnt Ihr Euch an unſer Geſpräch 
damals im Llano eſtakado erinnern?“ 

l 

„Ihr hattet mit Old Wabble vorher über Gott und 
Religion geſprochen?“ 

„Ich weiß es.“ 

„Seid Ihr heut noch derſelben Meinung wie in jener 
Nacht?“ 

Vollſtändig!“ | 

„Ihr glaubt alfo wirklich, daß es einen Gott gibt?“ 

„Ich glaube es nicht nur, ſondern ich weiß es.“ 

„So haltet Ihr wohl jeden Menſchen für dumm, 
der dieſen Glauben nicht beſitzt?“ 

„Dumm? Wie könnte mir das einfallen! Das 
würde eine Ueberhebung von mir ſein, die erſt recht 
dumm wäre. Es gibt tauſend und abertauſend Menſchen, 
die nicht an Gott glauben, und denen ich in Beziehung 
auf ihre materiellen und formalen Kenntniſſe nicht wert 
bin, das Waſſer zu reichen. Und wieder gibt es 
Menſchen, die feſt an Gott halten, aber in Beziehung 
auf die irdiſche Klugheit nicht auf einer hohen Stufe 
ſtehen. Es gibt zwar auch eine — wie ſoll ich mich aus⸗ 
drücken? — eine bibliſche, eine religiöſe Klugheit, doch 
die habt Ihr ja nicht gemeint.“ 

„Nun, ſo ſagt ein andres Wort, mit dem Ihr die 
Leute bezeichnet, die nicht glauben, daß es einen Gott gibt!“ 

„Ich kann Euch keines ſagen.“ 

„Warum nicht?“ 

„Genügt Euch das Wort ungläubig?“ 


— 491 — 

„Nein“. 

„Weiter habe ich keins. Ich verſtehe gar wohl, was 
Ihr meint; aber es gibt ſo viele Arten der Ungläubigen, 
daß man wohl zu unterſcheiden hat. Der eine iſt zu 
gleichgültig, der andre zu faul, der dritte zu ſtolz, nach 
Gott zu ſuchen; der vierte will ſein eigener Herr ſein 
und keinen Gebieter über ſich haben; der fünfte glaubt 
nur an ſich, der ſechſte nur an die Macht des Geldes, 
der ſiebente an das große Nichts, der achte an den Ur⸗ 
ſtoff und der neunte, zehnte, elfte und die folgenden alle 
jeder an ſein beſonderes Steckenpferd. Ich habe weder 
die Luft noch das Recht, fie zu klaſſifizieren und ein Ur 
teil über ſie zu fällen. Ich habe meinen und der 
iſt kein Steckenpferd.“ 

„Könnt Ihr Euch auf alles dehnen, was wir da⸗ 
mals ſprachen?“ 


„Ja.“ 

„Ich bat Euch, mir meinen verlorenen Glauben 
wiederzubringen.“ 

„Und ich ſagte Euch: Ich bin zu ſchwach dazu; die 
wahre Hilfe liegt bei Gott.“ 

„Und Ihr ſagtet noch anderes; ich weiß nur heut die 
Worte nicht mehr.“ 

„Meine Worte waren ungefähr: Ich weiſe Euch an 
den, der die Gefühle des Herzens wie Waſſerbäche lenkt 
und alſo ſpricht: „Ich bin die Wahrheit und das Leben!“ 
Ihr ſtrebt und ringt nach der Wahrheit; kein Nachdenken 
und kein Studieren kann ſie Euch bringen; aber ſeid getroſt; 
ſie wird Euch ganz plötzlich und unerwartet aufgehen 
wie einſt den Weiſen aus dem Morgenland jener Stern, 
der ſie nach Bethlehem führte.“ 

„Ja, ſo ſagtet Ihr, Mr. Shatterhand. Ihr habt 
mir ſogar dieſen Stern für bald verheißen!“ 


— 492 — 


„Ich erinnere mich, allerdings gejagt zu haben: Euer 
Bethlehem liegt gar nicht weit von heut und hier — ich 
ahne es!“ 

„Ich habe es aber leider noch nicht gefunden!“ 

„Ihr werdet es finden. Ich ſage genau wie da⸗ 
mals: ich ahne es! Es liegt Euch heut vielleicht näher, 
als Ihr denkt.“ 

Er ſah mir forſchend ins Geſicht und fragte: „Habt 
Ihr einen Grund zu dieſer Ahnung?“ 

„Ich gebe eine Gegenfrage: Gibt es grundloſe 
Ahnungen?“ 

„Ich weiß es nicht.“ 

„Oder begründete? — Kann es die geben?“ 

„Ich bin ein ungelehrter Menſch. Dieſe Fragen 
liegen mir zu hoch.“ 

„So mag es dabei bleiben, daß ich es ahne. Betet 
Ihr täglich?“ 

„Beten? — Seit langer Zeit nicht mehr.“ 

„So beginnt es wieder! Das Gebet vermag viel, wenn 
es ernſtlich iſt. Und Chriſtus jagt: ‚Bittet, ſo wird euch 
gegeben; ſuchet, ſo werdet ihr finden; klopfet an, ſo wird 
euch aufgetan.“ Glaubt mir, ein inbrünſtiges, gläubiges 
Gebet gleicht einer Hand, die Hilfe und Erhörung aus dem 
Himmel holt! Ich habe das oft an mir ſelbſt erfahren.“ 

„So betet Ihr täglich?” 

„Täglich? Glaubt Ihr etwa, es ſei ein Verdienſt 
für den Menſchen, täglich oder gar ſtündlich zu beten? 
Dann wäre es ja auch ein Verdienſt für das Kind, wenn 
es ſich herbeilaſſen wollte, mit ſeinem Vater zu ſprechen! 
Ich ſage Euch: das ganze Leben des Menſchen ſoll ein 
Gebet zum Himmel fein! Jeder Gedanke, jedes Wort, 
jede Tat, all Euer Schaffen und Wirken ſoll ein Gebet, 
ein Opfer fein, auf der köſtlichen Schale des Glaubens zu 


— 4983 — 


Gott emporgetragen! Glaubt ja nicht, daß Ihr mit einem 
einmaligen Gebet große Wirkungen erzielt! Denkt nicht, 
daß, da Ihr jahrelang nicht gebetet habt und nun plötz⸗ 
lich einmal beten wollt, Euch der Herrgott auch ſofort 
zur Verfügung ſtehen und Euern Wunſch erfüllen muß! 
Der Lenker aller Welten iſt keineswegs Euer Lakai, dem 
Ihr nur zu klopfen oder zu klingeln braucht! Auch iſt 
der Himmel kein Krämerladen, in dem der Herrgott vor⸗ 
ſchlägt und mit ſich handeln läßt. Was gibt es doch in 
dieſer Beziehung für ſonderbare Menſchen! Da fährt ſich 
der Herr Müller oder Maier Sonntags mit dem Waſch⸗ 
lappen über das von den ſechs Werktagen her ſchmutzige 
Geſicht; bindet ein friſchgewaſchenes Vorhemdchen um, 
nimmt das Geſangbuch in die Hand und geht in die 
Kirche, natürlich auf ſeinen Stammplatz“ Nummer fünf 
zehn oder achtundſechzig. Dort ſingt er einige Lieder, hört 
die Predigt an, wirft einen Pfennig, zwölf Stück auf den 
Groſchen, die jetzt nicht mehr gelten, in den Klingelbeutel 
und geht dann hoch erhobenen Haupts und ſehr befriedigten 
Herzens nach Hauſe. In ſeinem Geſicht iſt deutlich die 
Ueberzeugung zu leſen, die er im Herzen trägt: „Ich habe 
für eine ganze, volle Woche meine Pflicht getan; nun, du 
Gott, der alles geben kann, tue du auch die deine; dann 
gehe ich nächſten Sonntag wieder in die Kirche! Wenn 
nicht, jo werde ich mir die Sache überlegen!‘ — Glaubt 
Ihr, Mr. Surehand, daß es ſo ſonderbare Menſchen gibt?“ 

„Da Ihr es ſagt, muß es wohl ſo ſein.“ 

„O, es gibt ſolche Maiers und Müllers zu hundert⸗ 
tauſenden. Dieſe Chriſten ſind die größten Feinde des 
wahren Chriſtentums. Sie ſtellen ſich zu Gott auf den⸗ 
ſelben Fuß, auf dem ein Fuhrherr zu ſeinem Kutſcher 
ſteht, der Woche für Woche ſeinen Lohn ausgezahlt be⸗ 
kommt. Aber geht nun einmal zur armen Witwe, die 


— 494 — 


don früh bis abends und auch Nächte lang am heißen 
Waſchkeſſel oder am kalten Waſſer des Fluſſes ſchafft und 
arbeitet, um ſich und ihre Kinder ehrlich durchs Leben zu 
bringen! Sie hat ſich die Gicht angewaſchen; ſie ſpart 
ſich den Biſſen vom Munde ab, um ihn den Kindern zu 
geben; ſie hat kein Sonntags⸗ und kein Kirchenkleid; ſie 
ſinkt nach vollbrachtem Tagewerk todmüde auf ihr Lager 
und ſchläft ein, ohne eine beſtimmte Anzahl von Gebets⸗ 
worten gedankenlos heruntergeleiert zu haben; aber ich 
ſage Euch! ihr ununterbrochenes Sorgen und Schaffen iſt 
ein immerwährendes Gebet, das die Engel zum Himmel 
tragen, und wenn die Not, der Hunger ihr ein Du mein 
Herr und Gott!‘ aus dem gepeinigten Herzen über die 
Lippen treibt, ſo iſt dieſer Seufzer ein vor Gott ſchwerer 
wiegendes Gebet als alle die Geſangbuchlieder, die Herr 
Maier oder Müller während ſeines ganzen Lebens geſungen 
hat! Alſo betet, Mr. Surehand, betet! Aber denkt ja nicht, 
daß es ſofort helfen muß! Betet in Gedanken, in allen 
Euren Worten und in allen Euren Taten! Hättet Ihr 
mehr gebetet, jo wäre Euch der Helfer längſt erſchienen!“ 

„Das iſt viel behauptet, Mr. Shatterhand!” 

„Jawohl; aber ich weiß, was ich ſage. Ein altes 
Kirchenlied heißt: 

Mit Sorgen und mit Grämen 
Und ſelbſtgemachter Pein 
Läßt Gott ſich gar nichts nehmen; 
Es muß erbeten ſein! 

Jedes Kind ſagt dem Vater ſeine Wünſche; hat nicht auch 
das Erdenkind dem himmliſchen Vater ſeine Liebe und ſein 
Vertrauen dadurch zu beweiſen, daß es von Herzen zu 
ihm ſpricht? Wird ein Vater ſeinem Sohn eine gerechte 
Bitte abſchlagen, die er erfüllen kann? Und ſteht die Liebe 
und Allmacht Gottes nicht unendlich höher als die Liebe 


— 1498 — 


und Macht eines Menſchen? Glaubt es mir: wenn der 
große Wunſch, den ihr im Herzen tragt, überhaupt zu 
erfüllen iſt, ſo wäre er ſchon längſt erfüllt, wenn ihr an 
Gott geglaubt und zu ihm gebetet hättet!“ 
„Was wißt Ihr von der Größe meines Wunſches?“ 
„Ich ahne ihn.“ f 
„Wieder Ahnung!“ | 
„Pshaw! Ahnungen find innere Stimmen, auf die 
ich immer achte. Ihr habt mir damals im Llano eſtakado 
geſagt, daß Euch der Glaube an Gott durch unglückliche 
Ereigniſſe verloren gegangen ſei. Soll ich da nicht ahnen, 
daß Ihr Euch nach dem Ende dieſes Unglücks ſehnt?“ 
„Richtig! Ich dachte, Ihr quältet Euch als Freund 
in Gedanken damit ab, mir die Ruhe wiederzugeben, die 
ich verloren habe!“ | 
„Was würden Euch meine Gedanken helfen? Die 
wahre Freundſchaft bewährt ſich durch die Tat, und 
wenn Ihr mich in dieſer Beziehung einmal braucht, ſo 
habt Ihr gar nicht nötig, mich erſt darum zu fragen.“ 
Unſer Geſpräch wurde dadurch unterbrochen, daß wir— 
über ein quer fließendes Waſſer mußten, das nicht tief 
und ſo hell war, daß wir den Grund deutlich ſahen. Wir 
bemerkten Eindrücke von Pferdehufen, konnten aber nicht 
herausbekommen, wieviel Pferde es geweſen waren; jeden⸗ 
falls aber mehr als vier oder fünf. Ebenſo war es unmöglich, 
die Zeit zu beſtimmen, in der dieſe Eindrücke entſtanden 
waren, denn das Waſſer hatte ein unbedeutendes Gefäll 
und alſo nicht die Kraft, ſie binnen kurzer Zeit zu zerſtören. 
Es konnten Stunden oder Tage, aber auch Wochen ver⸗ 
gangen ſein, ſeit dieſe Spuren entſtanden waren. Aber 
eine Wirkung hatte ſie doch: wir ſchenkten in Beziehung 
auf Fährten dem Weg mehr Aufmerkſamkeit, als wir es 
in letzter Zeit getan Yan 


— 496 — 


Wir konnten aber nichts entdecken, denn wir hatten 
den Paß und die ihm folgenden Engen hinter uns, und 
ritten in den Hochwald ein, der ſolche Gelegenheit, ſich 
auszubreiten, bot, daß wir, um eine Spur zu finden, ihn 
hätten tagelang abſuchen müſſen. | 

Es war die Kuppe des Pah⸗ſavahre⸗payavh, die wir 
jetzt erreicht hatten. Sie war mit Hochwald bedeckt, unter 
dem wir wie in einem Dom ritten und durch deſſen dichtes 
Laubdach nur zuweilen ein Sonnenſtrahl zu dringen ver⸗ 
mochte. Das war der Urwald des Nordens, der in dieſer 
Höhenlage gedeihen konnte. 

Wir ritten ſtunden⸗ und ſtundenlang unter dieſem 
Dach immer bergauf. Es wurde unter ihm dunkel, weil 
die Sonne jenſeits niederſank,- und wir mußten die Pferde 
antreiben, um noch vor Nacht den See des „grünen 
Waſſers“ zu erreichen. 

Endlich waren wir oben! Die Sonne hatte ſich von 
dieſer Seite des Gebirges ſchon verabſchiedet, aber es war 
noch licht genug, den See, ſo weit das Auge reichte, über⸗ 
blicken zu können. Ich ſage, ſo weit das Auge reichte, denn 
das gegenſeitige Ufer konnten wir nicht ſehen; dazu war 
er zu groß. Von der hellgrünen Färbung, die ſein Name 
andeutete, denn Pah heißt in der Utahſprache „Waſſer“ 
und ſavahre „hellgrün“, bemerkten wir jetzt nichts, da es 
ſchon zu dunkeln begann. Er war, ſo weit wir ihn 
überblicken konnten, von Wald umgeben. Wir befanden 
uns an ſeinem öſtlichen Ende. Sein ſüdliches Ufer bildete 
eine von keiner Bucht unterbrochene Bogenlinie, während 
an ſeinem nördlichen Ufer eine breite, auch dicht bewaldete 
Halbinſel hervortrat. Um dieſe Halbinſel zu erreichen, 
hätten wir noch eine Viertelſtunde weiterreiten müſſen; 
es gab aber für uns keinen Grund, dort Lager zu machen, 
und ſo blieben wir da, wo wir uns befanden. 


— 497 — 


Hammerdull und Holbers liefen umher, um, ſo lange 
man noch ſehen konnte, dürres Holz zuſammenzuſuchen. 
Als ſie ſo viel geſammelt hatten, wie wir für die Nacht 
brauchten, wollten ſie Feuer anzünden. Der Apatſche 
aber unterſagte es ihnen: 

„Jetzt noch nicht! Ein Feuer glänzt weit in den See 
hinaus, und wir haben heute Pferdeſpuren geſehen. Es 
können Menſchen am Waſſer ſein, die von uns nichts 
wiſſen dürfen. Wir wollen warten, bis es dunkel ge⸗ 
worden iſt; dann wird es ſich finden, ob wir uns er⸗ 
lauben können, hier zu bleiben und ein Feuer anzu⸗ 
brennen.“ | 

Wir gaben die Pferde frei und legten uns nieder. 
Es wurde ſchnell dunkel, und da zeigte es ſich auch ſo⸗ 
fort, daß die Vorſicht Winnetous wohlbegründet geweſen 
war; denn an dem nach uns gerichteten Ufer der Halb⸗ 
inſel leuchtete ein Feuer auf. Es waren alſo Menſchen 
dort! Und wenige Minuten ſpäter ſahen wir an derſelben 
Seite des Sees, aber weit, weit unten, ein zweites Feuer 
erſcheinen, das allerdings nur einem guten Auge ſichtbar 
war, denn es bildete für uns nur einen kleinen Punkt. Die 
Leute auf der Halbinſel konnten weder dieſes zweite Feuer 
ſehen, noch von dort aus geſehen werden; nur von uns 
aus waren beide zu erkennen. 

Damit waren wir für heut auf kaltes Fleiſch ange⸗ 
wieſen. Wir hätten uns zwar wieder in den Wald zurück⸗ 
ziehen und ein Feuer anzünden können, aber dort gab es 
kein Futter für die Pferde. Wir entſchädigten uns für 
die Unbenutzbarkeit des einen Elements dadurch, daß wir 
uns dem andern in die Arme, nämlich in das Waſſer 
warfen. Nach dieſem Bad galt es, zu erfahren, wer die 
Leute waren, die ſich an den beiden Feuern befanden. 
Daß Winnetou dazu auserſehen wurde, verſtand ſich von 


May, Old Surehand. II. 32 


— 498 — 


ſelbſt, und daß er meine Begleitung annahm, erreichte 
ich nur durch die Verſicherung, daß mir meine Wunde 
keine Beläſtigung verurſachte; ſonſt hätte er Old Sure⸗ 
hand mitgenommen. 

Wir übergaben den Gefährten unſre Gewehre und 
machten uns auf den bei Nacht nicht ſehr bequemen 
Weg. Wir mußten zunächſt ſoweit in den Wald hinein, 
wie der Saum des Unterholzes reichte; dann gingen wir, 
beide Hände zum Taſten ausſtreckend, rund um die Ufer⸗ 
biegung nach der nördlichen Seite des Sees. Ich möchte 
faſt behaupten, daß ein Bummelzug ſchneller fährt, als 
wir hier gehen konnten, denn es war gewiß eine volle 
Stunde vergangen, als wir die Halbinſel erreichten. Wir 
bogen alſo links ab und auf ſie zu. Bald ſpürten wir 
den Geruch des Rauches, und dann dauerte es nicht 
mehr lange, bis wir das Feuer ſahen. 

Nun legten wir uns nieder und krochen am Boden 
weiter. Die Halbinſel hatte einen Einſchnitt, eine kleine 
Bucht, an deren Innenſeite das Feuer brannte. Wenn 
wir den Rand dieſer Bucht weiter außen erreichten, kamen 
wir von vorn anſtatt von rückwärts an das Feuer und 
die daran Lagernden. Wir verſuchten das, und es gelang 
vortrefflich. Es gab dort eine Menge Binſen, in denen 
wir nicht bloß Deckung, ſondern auch ein Be freilich 
mooriges Lager fanden. 

Nun hatten wir die Geſuchten ganz 1005 vor unſern 
Augen. Und wen ſahen wir? Old Wabble mit den 
Tramps! 

Ihre Anweſenheit an dieſem Ort war nicht etwa ein 
Wunder, aber wir fühlten uns doch überraſcht. War denn 
jemand bei ihnen, der den Weg hierher kannte? Unſer 
Aufenthalt in der Schmiede und im Bärental hatte dieſen 
Leuten zu einem mehrtägigen Vorſprung verholfen. Sie 


— 4 — 


ſchienen ſich ganz wohl zu befinden, wenigſtens ging es 
ſehr lebhaft bei ihnen her. Sie ſaßen alle, wie wir ſie 
kannten, am Feuer und nicht einer fehlte; einer aber ſtand, 
hochaufgerichtet an einen Baum gelehnt — der alte Wabble. 

Er trug den Arm in einer aus einem Fellſtück ges 
machten Binde und bot einen Anblick, der zum Erſchrecken 
war. Sein langer, hagerer Körper war noch viel dürrer 
geworden und ſein Geſicht, ſchon vorher faſt fleiſchlos, 
war ſo eingefallen, daß es der vordern Seite eines Toten⸗ 
kapfs glich. Die ſonſt jo rein gehaltene weiße Haarmähne, 
jetzt freilich nur noch halb vorhanden, „kleckte“, um mich 
eines volkstümlichen Ausdrucks zu bedienen, vor Schmutz. 

Er bildete nur noch ein Gerippe, und ſein faſt ganz 
-  abgeriffener Anzug hing an ihm wie zuſammengeraffte 
Fetzen an einem Rechenſtiel. An Nahrung hatte es ihm 
jedenfalls nicht gefehlt; der Armbruch war der Grund der 
Veränderung. Er ſchien ſehr geſchwächt zu ſein und ſich 
kaum aufrecht halten zu können. Auch ſeine Stimme war 
nicht mehr die frühere. Sie klang hohl, wie durch ein 
Ofenrohr geſprochen, in zitterig, als ob ihn das Fieber 
ſchüttelte. 

Er ſprach nämlich gerad jetzt, als wir in unſerm 
Verſteck Platz genommen hatten. Wir lagen nahe genug, 
um alles hören zu können, mußten aber ſehr aufmerken, 
um ihn zu verſtehen. 

„Weißt du noch, du Wicht, was du mir damals 
auf Helmers Home zugeſchworen haſt?“ hörten wir ihn 
fragen. 

Der Blick iner tief in den Höhlen liegenden glanz⸗ 
loſen Augen war auf eine Stelle gerichtet, wo wir etwas, 
wie ein langes, zuſammengeſchnürtes Paket, liegen ſahen. 
War das ein Menſch? Und wenn, wer konnte es ſein? 
Auf Helmers Home? Betraf das etwa unſer damaliges 


— 500 — 


Erlebnis an dieſem Ort? Er erhielt keine Antwort und 
fuhr fort: 

„Ich habe mir deine Drohung Wort für Wort ge⸗ 
merkt. Sie lautete: Nimm dich vor mir in acht, du 
Hund! Sobald ich dich treffe, bezahlſt du mir dieſe 
Schläge mit dem Leben. Ich ſchwöre es dir mit allen 
Eiden zu, die man nur ſchwören kann!‘ Hoffentlich haft 
auch du dieſe Worte nicht vergeſſen!“ 

Ah, das konnte nur zu dem „General“ geſprochen 
ſein! Er war alſo gefangen, hier gefangen, von Old 
Wabble gefangen! Er hatte den Weg hierher allein 
machen müſſen, weil ihm ſeine Rowdies nicht hatten 
folgen können, und war in die Hände des alten „Königs 
der Cowboys“ gefallen. Das war höchſt wichtig für uns; 


Winnetou gab mir dieſes durch ein dreimaliges leiſes 


„Uff, uff, uff!“ zu erkennen. N 

„Ich habe ſie nicht vergeſſen!“ antwortete jetzt der 
„General“ in zornigem Ton: „Du hatteſt mich geſchlagen!“ 

„Ja, fünfzig gute, prächtige Hiebe! Ich gönne ſie 
dir noch heut, denn du hatteſt mich gegen Old Shatter⸗ 
hand und Winnetou verraten und ihnen geſagt, daß auch 
ich der Dieb ihrer Gewehre ſei. Alſo dich rächen willſt du, 
Burſche, mir an das Leben gehen?“ 

„Ja, ja, das werde ich!“ 

„Aber nicht ſo ſchnell, wie du denkſt! Erſt komme 
ich daran! Da du mir ſo aufrichtig ſagſt, was ich von 
dir zu erwarten hätte, will ich dir mit derſelben Offen⸗ 
heit dienen, denn eine Liebe iſt der andern wert; it's 
clear! Ich werde dich auch ein wenig ums Leben bringen. 
Hörſt du, ums Leben!“ 

„Wage es!“ 

„Pshaw! Was iſt da zu wagen?“ 

Ich bin nicht allein!“ 


— 501 — 


„Das machſt du mir nicht weis!“ 

„Ich habe Helfer, viele n mit, die mich an dir 
rächen würden.“ 

„Wen denn?“ 

„Das iſt meine Sache!“ 

„Ah, alſo die deinige, nicht auch die meinige? Nun, 
ſo brauche ich mich auch nicht daran zu kehren! Uebrigens 
ſagſt du das nur, um mir Angſt zu machen und dich da⸗ 
durch zu retten. Aber Old Wabble, the king of the cow- 
boys, iſt nicht der Mann, der ſich von dir ins Bockshorn 
jagen läßt! Wir wiſſen genau, wie es mit deinen Helfern 
ſteht und wieviel ihrer ſind.“ Ar 

„Nichts weißt du, nichts!“ 

„Oho! Ja, wenn Shelley nicht hier bei uns wäre! 
Dem habt ihr ja in Topeka alles geſagt und ihn mitnehmen 
wollen, ihn aber ſitzen laſſen, nachdem ihr ihm im Spiel 
alles abgenommen habt! Sechs Kerls haſt du bei dir. 
Vor denen ſollen wir uns fürchten? Sie ſtecken jeden⸗ 
falls droben bei der Foam⸗Cascade, und du gehſt hier 
allein proſpekten, um ſie zu betrügen. Nein, uns machſt 
du keine blauen Mücken vor. Du biſt allein und kein 
Menſch wird dir helfen!“ 

D Du irrſt dich, alter Schuft! Nimm dich in acht! 
Du wirſt alles, was du mir tuſt, zehnfach bezahlen 
müſſen!“ 

„Schuft nennſt du mich, du, der du der größte 
Schurke dieſes Erdteils biſt?“ ſtieß der Alte grimmig her⸗ 
vor. „Gut, du ſollſt gleich jetzt, ehe wir morgen früb 
mit dir ans Werk gehen, eine kleine Einleitung erleben. 
Ich will dir für dieſen ‚Schuft‘ eine Erinnerung an 
Helmers Home beibringen. Du ſollſt gehauen werden 
Fünfzig Hiebe ſollſt du grad wie damals haben, nur 
etwas kräftiger noch, denn ich tat leider nur ſo, als ob 


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ich weit ausholte. Seid ihr alle einverſtanden, Boys, 
daß er ſie bekommt, und zwar gleich jetzt?“ 

„Ja, Hiebe, fünfzig Hiebe, aber tüchtig gepfefferte!“ 
rief zunächſt der Shelley Genannte. „Warum hat er 
mich in Topeka ſo gerupft!“ 

Die andern fielen, jubelnd beiſtimmend, ein, und 
einer ſchrie überlaut: 

„Dabei üben wir uns auf Winnetou und Old Shatter⸗ 
hand und ihre Leute ein, die zehnmal ſoviel Hiebe be⸗ 
kommen ſollen, wie fie uns — — — ah jo! Das braucht 
dieſer Kerl ja nicht zu wiſſen! — — — die uns in der 
Bonanza den verdammten Zettel anſtatt des Goldes finden 


ließen. Schneiden wir auch Pfeifen ab, ſchöne Pfeifen, 


wie dort am Spring der dicke Hammerdull!“ 

Ich will über die nun folgende Szene weggehen. Der 
General drohte und fluchte; die Tramps lachten, und 
Old Wabble warf ſeine gottloſen Bemerkungen in den 
Lärm. Als die erſten Hiebe fielen, ſtieß Winnetou mich 
an, und wir krochen zurück, von der Halbinſel fort und 
wieder in den Wald hinein. Es galt ja, uns noch hin⸗ 
unter nach dem zweiten Feuer zu e Vorher aber 
fragte mich der Apatſche: 

„Was ſchlägt mein Bruder wegen des Bleichgeſichts 
vor, das ſich General nennen läßt?!“ 

„Den müſſen wir haben.“ 


„So werden ihn die Tramps hergeben müſſen. Er 


ſoll erſt am Morgen ermordet werden; wir holen ihn in 
dieſer Nacht.“ 

Nun gingen wir fort, von Baum zu Baum. Der 
Weg, den wir jetzt zurückzulegen hatten, war doppelt ſo 
lang wie der vorige. Wir waren noch keine Viertel⸗ 
ſtunde gegangen, ſo hörten wir vor uns ein Geräuſch, 
wie wenn jemand an einen dürren Aſt ſtößt und ihn 


— 503 — 


abbricht. Das klingt nicht wie das Zerbrechen eines. 
ledigen Aſts. Das Abbrechen eines noch am Baum befind⸗ 


lichen gibt einen Schall, der einen am Baum hin⸗ 


auflaufenden Widerhall findet. Wir zwei faßten uns 


ſchnell bei den Händen und huſchten weit auf die Seite. 


Dort legten wir uns nieder und hielten das Ohr an die 
Erde. Es kamen Leute, mehrere, ja viele, langſam mit 
leiſen Schritten, aber ſo nahe an uns vorüber, daß wir 
das Geräuſch hörten. Sie kamen von da her, wo wir 
hin wollten. 

„Uff!“ meinte Winnetou, als ſie vorüber waren. O 
dieſe Männer bei dem unteren Feuer geſeſſen haben?“ 

„Den Schritten nach müſſen es Indianer ſein!“ 

„Ja, es ſind rote Männer. Woher kommen ſie, und 
wohin wollen ſie? Kommen ſie von dem einen Feuer, 
und wollen ſie zum andern? Oder kommen ſie von einem 
andern Ort? Wollen ſie etwa gar nach der Seite des 
Sees, wo wir lagern?“ 

„Wir müſſen das wiſſen, Winnetou!“ 

„Wir müſſen es ſogar ſchnell erfahren, denn unſre 


Gefährten befinden ſich vielleicht in Gefahr. Dieſe Ge⸗ 


fahr wird augenblicklich beendet ſein, ſobald Old Shatter⸗ 
hand zu ihnen kommt.“ 

„Ich ſoll alſo nach unſerm Lager zurück?“ 

„Ja, ſo ſchnell wie möglich, und dich nicht bei den 
Tramps aufhalten.“ 

„Und du?“ 

„Ich gehe weiter, hinunter nach dem zweiten Feuer.“ 

„Da bekommſt du die Indianer zwiſchen dich und 
uns, begehſt alſo ein Wagnis, das ſchlecht ablaufen kann.“ 

„Pshaw! In einer bekannten Gefahr kommt Winne⸗ 
tou nicht um! Meine Brüder mögen nicht ſchlafen, bis 
ich wiederkomme.“ 


— 504 — 


Er huſchte fort, und ich kehrte um. 

Mein Weg war jetzt gefährlicher als bisher, weil 
ich die Indianer vor mir hatte. Ich nahm an, daß ihr 
Ziel die Halbinſel ſei, ging aber dennoch tiefer in den 
Wald hinein, um auf keinen Fall mit ihnen zuſammen⸗ 
zutreffen. Die landſchaftlichen Schönheiten, die ich unter⸗ 
wegs zu bewundern hatte, will ich nicht beſchreiben. Nie 
in meinem Leben habe ich mich ſo „anſtößig“ benommen 
wie in dieſer Stunde. Die Bäume dort am See wiſſen 
ein Wort davon zu reden! An der Vorderſeite voller 
Harz und an Geſicht und Händen zerſtoßen und zer⸗ 
ſchunden, kam ich nach der angegebenen Zeit in unſerm 
Lager an, wo man mich nach Winnetou fragte. Ich 
erzählte, was wir geſehen und gehört hatten und ließ die 
Gefährten vom Seeufer bis ein Stück in den Wald hinein 
eine geradlinige Poſtenkette bilden. Das war das beſte und 
einzige, was wir unter dieſen Umſtänden tun konnten. 

Wir ſaßen alle an der Erde, die Gewehre in den 
Händen. Es verging eine Viertelſtunde; da drang von der 
Halbinſel ein plötzliches, markerſchütterndes Geheul zu uns 
herauf. Die Indianer, die an uns vorübergekommen waren, 
hatten die Tramps überfallen. Dabei war kein Schuß zu 
hören. Die Weißen hatten ſich alſo von den Roten ohne 
Gegenwehr überwältigen laſſen. 

Nun herrſchte wieder tiefe Stille. 

Ein einziger Augenblick im nächtlichen Leben der 
Urwaldwildnis, ein einziger! Und doch, was mochte er 
verändert und gekoſtet haben und vielleicht noch koſten! 
Das iſt der blutige Weſten! 

Es mochte wieder eine Stunde vergangen ſein, da 
erloſch auf der Halbinſel das Feuer. Das zweite weiter 
unten brannte fort. Nach abermals zwei Stunden hörte 
ich laute Schritte. Das konnte nur Winnetou ſein, denn 


— 505 — 


ein anderer Menſch hätte ſich herangeſchlichen. Ja, er 
war es, ebenſo zerſchunden und zerkratzt wie ich, wie wir 
am nächſten Morgen ſahen. Er, der ſtets Umſichtige, 
beruhigte uns zunächſt: 

„Meine Brüder mögen ruhig beiſammen bleiben; ſie 
haben nichts zu befürchten. Es wird bis früh kein Feind 
kommen!“ 

Ich zog alſo die Poſtenkette ein und richtete, als 
wir uns wieder zuſammengeſetzt hatten, an den Apatſchen 
die Frage: 

„Mein roter Bruder iſt unten beim letzten Feuer 
geweſen?“ 

„Ja,“ antwortete er. 

„Hatten die Indianer dort a die uns be⸗ 
gegneten?“ 

„Ja.“ 

„Konnteſt du erfahren, welchem Stamm fie ange⸗ 
hören?“ 

„Ich erfuhr es. Zwei von ihnen waren zurüc⸗ 
gelaſſen worden, um die Pferde zu bewachen. Old Shatter⸗ 
hand wird ſich wundern!“ 

„Es ſind doch nicht etwa die Capote⸗Utahs?“ 

„Site find es, mit ihrem Häuptling Tuſahga Saritſch!“ 

„Das iſt freilich überraſchend! Sie müſſen mit dem 
General zuſammengetroffen fein, der es verſtanden hat, 
ſie zu gewinnen. Ich vermute, daß er dieſe Gegend von 


früher her genau kennt, und ſo war es möglich, daß ſie 


uns vorausgekommen ſind.“ 

„So iſt es. Mein Bruder hat es erraten. Die beiden 
Wachen, die ich belauſchte, ſprachen davon, und ich hörte 
es. Der ‚General‘ iſt nach der Halbinſel gegangen und 
nicht wiedergekommen; da haben ſie ſich aufgemacht, ihn 
zu ſuchen.“ 


— 506 — 


Was hat er dort gewollt?“ 

„Das hat er nicht geſagt. Er hat niemand mit⸗ 
nehmen wollen. Es muß ein Geheimnis geweſen ſein. 
Darum ſind ſie mißtrauiſch geworden und ihm, nachdem 
es dunkel geworden war, nachgefolgt. Da ſie dort ſahen, 
daß er von den Tramps gefangen genommen worden war, 
ſind ſie über dieſe hergefallen und haben ihn befreit.“ 

„War mein Bruder Winnetou noch einmal dort?“ 

„Ja; aber die Utahs hatten das Feuer verlöſcht.“ 

„Weshalb?“ 

„Das weiß Winnetou nicht.“ 

„So haſt du nichts ſehen können?“ 

„Weder etwas geſehen noch gehört.“ 

„Hm! Was iſt da zu tun? Den General müſſen wir 
unbedingt haben!“ 

„Wenn kein Feuer brennt, iſt es unmöglich, ihn zu 
bekommen.“ 

„Leider haſt du da recht. Wir müſſen warten, ent⸗ 
weder bis ſie wieder eins anzünden oder bis zum Anbruch 
des Tages. Weiter bleibt uns nichts übrig. Oder haſt du 
einen andern, beſſern Gedanken?“ 

„Die Gedanken Old Shatterhands ſind ſtets gut.“ 

„So wollen wir ſchlafen, aber Doppelwachen aus⸗ 
loſen!“ 

„Winnetou iſt einverſtanden. Wir befinden uns an 
einem gefährlichen Ort, wo wir nicht vorſichtig genug 
ſein können. Wir werden auch nicht hier am See, ſondern 
ein Stück drin im Walde ſchlafen, wohin die letzten Poſten, 
ehe es Tag wird, auch die Pferde ſchaffen müſſen, damit 
die Capote⸗Utahs uns ja nicht etwa beim erſten Tages⸗ 
licht zu zeitig zu ſehen bekommen.“ 

Wir zogen uns alſo vom Waſſer in den Wald 
zurück, ließen die Pferde aber jetzt noch weitergraſen. Von 


— 507 — 


den beiden Wächtern mußte einer bei ihnen und der 
andere bei uns ſein. Mich traf wieder die erſte Wache. 
Dieſe dauerte anderthalb Stunden; ſie verging ohne 
Störung, und dann legte ich mich nieder, nachdem unſre 
Nachfolger geweckt worden waren. 

Als ich früh aufſtand, war der Tag ſchon ſeit zwei 
Stunden da. Ich wollte zürnen, daß man mich ſo lange 
hatte ſchlafen laſſen, doch Winnetou beruhigte mich mit 
der Verſicherung: 

„Mein Bruder hat nichts verſäumt. Ich hatte die 
letzte Wache und bin, ſobald es hell wurde, ſpähen ge⸗ 
gangen. Es iſt für uns unmöglich, die Utahs auf der 
Halbinſel zu überfallen und ihnen ihre Gefangenen ab⸗ 
zunehmen. Wir müſſen wiſſen, wohin ſie reiten, und 
ihnen dann vorauseilen, um uns eine geeignete Stelle 
zum Angriff auswählen zu können. Mein Bruder 
Shatterhand weiß, daß der ſchon halb geſiegt hat, 
der den Vorteil zu erlangen weiß, den Ort des Kampfes 
vorher beſtimmen zu können. Dieſen Vorteil müſſen wir 
haben.“ | N 

Was er da ſagte, war vollſtändig richtig, und ſo 
blieben wir da, wo wir geſchlafen hatten, liegen, um den 
Abzug der Indianer zu erwarten. Winnetou entfernte 
ſich in der Abſicht, ſie zu beobachten, was jetzt am hellen 
Tag eine ebenſo ſchwierige wie gefährliche Aufgabe war. 
Die Pferde befanden ſich natürlich nicht mehr am See⸗ 
ufer, ſondern bei uns im Wald. 

Wir warteten Stunde um Stunde. Die Halbinſel 
lag zu fern, als daß wir hätten ſehen können, was dort 
vorging. Nur dem Schein des Feuers war es geſtern 
möglich geweſen, bis zu uns heraufzudringen. Winnetou 
kam einigemal, um uns wenigſtens über ſich zu beruhigen; 
melden konnte er uns weiter nichts, als daß die Indianer 


* 
= 


— 508 — 


noch nicht fort ſeien. Dann benachrichtigte er uns da⸗ 
von, daß er laute Beilſchläge gehört habe; die Utahs 
ſchienen mit ihren Tomahawks einen Baum zu fällen, wes⸗ 
halb, das konnten wir nicht erraten. Endlich, endlich, 
als es ſchon über Mittag geworden war, kam er, um 
uns zu ſagen, daß die Roten nun fort ſeien. Er hatte, 
vielleicht hundert Schritte entfernt und hinter einem Baume 
ſtehend, ſie fortreiten ſehen. 

| „So müſſen ihre Pferde von da, wo das zweite 
Feuer brannte, heraufgeholt worden ſein?“ fragte ich. 

„So iſt es,“ nickte er. „Ich ſah, daß ſie gebracht 
wurden.“ 

„Konnteſt du ſie alle ſehen, als ſie fortritten?“ 

„Nein. Es waren zu viele Bäume zwiſchen ihnen 
und mir.“ 

„Natürlich waren die Gefangenen bei ihnen?“ 

„Ich war ſo fern von ihnen, daß ich die roten 
Männer nicht von den weißen unterſcheiden konnte, und 
weiter durfte ich mich nicht an die Halbinſel wagen.“ 

„Nach welcher Richtung ſind ſie geritten?“ 

„Nach Nordweſt. Dies iſt der Weg, den auch wir 
einſchlagen werden.“ 

„Hm! Wir müſſen nach der Halbinſel. Reiten wir 
gleich hin, oder müſſen wir erſt ſpähen, ob wir dort 
ſicher ſind?“ 

„Wir ſind ſicher. Winnetou iſt erſt hingegangen, 
um nachzuſehen, ob die Utahs ſich auch wirklich entfernt 
haben.“ 

Da wir uns auf den Apatſchen verlaſſen konnten, 
ſtiegen wir auf, um nach der Halbinſel zu, reiten. In 
deren Nähe angekommen, ſuchten wir zunächſt die Fährte 
der Utahs auf. Ja, ſie waren fort; wir brauchten nicht 
zu befürchten, überraſcht zu werden. Wir ritten alſo ohne 


— 509 — 


Sorge nach dem Ort zu, wo Old Wabble und die Tramp 
und dann die Indianer gelagert hatten. Dort ſtiegen wir 
von den Pferden. 

Das Gras und Moos war weit umher niedergetreten, 
wie es bei einem verlaſſenen Lagerplatz zu ſein pflegt. 
Wir hatten keinen Grund, anzunehmen, daß wir einen 
Fund hier machen würden, dennoch ließen wir aus alter 
Gewohnheit unſre Blicke umherſchweifen. Die Roten 
hatten ſich nicht auf den eigentlichen Lagerplatz beſchränkt; 
ihre Spuren führten nach mehreren Seiten fort. Wir 
trennten uns, um den verſchiedenen Fährten nachzugehen, 
und hörten ſchon nach ganz kurzer Zeit Old Surehand 
rufen: 

„Kommt ber; kommt her; kommt alle her! hier liegen 
ſie! Schnell, ſchnell!“ 

Ich eilte nach der Richtung, aus der ſeine Stimme 
erklungen war. Welch ein Anblick erwartete mich da! 
Hier lagen ſie unter den Bäumen, die Tramps, alle mit⸗ 
einander, ohne Ausnahme! Ihren blutigroten Köpfen 
fehlten die Häute. Sie waren ſkalpiert worden. Man 
hatte ſie, ſogar nach ihrer Körperlänge geordnet, in einer 
Reihe nebeneinander gelegt, und ein weiterer Blick zeigte, 
daß ſie vorher erſtochen worden waren. 

Uns grauſte! Sie hatten einer moraliſch ſehr tief 
ſtehenden Menſchenſorte angehört und waren vor keinem 
Verbrechen zurückgebebt, aber ſie in dieſer Weiſe und ſo 
zugerichtet hier vor uns liegen zu ſehen, das war ent⸗ 
ſetzlich! 

Um zwanzig Menſchen ſo ſchnell und ſicher über⸗ 
wältigen zu können, hatte jeder Rote vorher genau wiſſen 
müſſen, auf welchen Weißen er ſich werfen müſſe. Fünf⸗ 
zig Indianer auf zwanzig Weiße. Die Toten waren ſteif. 
Man hatte ſie alſo nicht erſt heut früh, ſondern ſchon 


— 510 — 


geſtern abend erſtochen. Warum aber waren die Indianer 
dann hiergeblieben? Warum hatten ſie ſogar ihre Pferde 
holen laſſen? Es mußte irgend etwas gegeben haben, 
was auf heut früh verſchoben worden war und bis 
Mittag gedauert hatte. Was konnte das ſein? Mir fiel 
Old Wabble ein. Deſſen Leiche fehlte. Jedenfalls hatte 
der „General“ ihn mitgenommen, um eine ganz beſondere 
Rache an ihm auszuüben. ö 

Hatten wir in den erſten Augenblicken wortlos vor 
den Leichen geſtanden, fo waren dann der Ausrufe deſto 
mehr zu hören. Hätten wir jetzt die Roten hier vor 
unſern Gewehren gehabt, ich glaube, ſie wären alle 
erſchoſſen worden! Aber wie das größte Unheil doch nicht 
ohne ein kleines Lächeln iſt, das zeigte ſich auch hier. 
Hammerdull deutete auf eine der Leichen und ſagte zu 
Holbers: 

„Pitt, das iſt Hoſea, der uns an das Leben wollte!“ 

„Ves! Und das Joel, der nicht auf unſer Geld her⸗ 
einfallen wollte!“ antwortete der Lange, indem er auf 
einen andern Toten zeigte. 

„Sie ſind dennoch deine Vettern. Meinſt du nicht 
auch, altes Coon?“ 

„Ja, ſie ſind es.“ 

„Willſt du ſie ſo hier liegen laſſen?“ 

„Das möchte ich ihrer Mutter denn doch nicht an⸗ 
tun, obgleich ſie mir ſo manchen gefühlvollen Augenblick 
bereitet hat.“ 

„Das iſt brav von dir, alter Pitt! Was ſchlägſt du 
alſo vor?“ 

„Daß wir fie begraben. Meinſt du nicht auch, lieber 
Dick?“ 

„Ob wir ſie begraben oder nicht, das bleibt ſich gleich; 
aber wir werden ihnen, wenn wir Zeit dazu bekommen, 


— 811 — 


einen kleinen Gottesacker herrichten und es ihnen darin 
ſo bequem machen, wie die Umſtände es erlauben. Das 
iſt Chriſtenpflicht, zumal es deine Vettern ſind. Iſt's ſo 
richtig, altes Coon?“ 

„Fm! Wenn du denkſt, daß du das an mir und 
meinen Verwandten tun willſt, ſo biſt du ein braver 
Kerl, lieber Dick!“ 

Sie reichten ſich die Hände, und ich muß geſtehen, 
daß nichts den Anblick dieſer grauſigen Szene ſo hätte 
mildern können wie grad die eigenartige Weiſe dieſer 
beiden guten Menſchen. Wir hatten keine Zeit übrig, 
wir mußten den Utahs nach und den „General“ faſſen, 
der gewiß die Schuld an dem Tod der zwanzig Tramps 
trug; aber wenn die Brüder begraben werden ſollten, 
ſo durften wir auch die andern nicht ſo liegen laſſen, 
und darum entfernte ich mich, um nach einer geeigneten 
Stelle zu ſuchen. Ich traf dabei auf eine breite Fährte, 
der ich folgte; ſie führte nach einer Fichte, die etwas freier 
ſtand als die Bäume ihrer Umgebung, und als ich ſie — 

Hier ſträubt ſich die Feder, fortzufahren! Was ich 
ſah, war fo gräßlich, daß ich einen lauten Schrei ausſtieß. 
Die Kameraden kamen deshalb alle ſpornſtreichs her⸗ 
beigerannt und waren bei dem Anblick, der ſich ihnen bot, 
nicht weniger entſetzt als ich. 

Man hatte die Fichte, die von der Stärke eines acht⸗ 
jährigen Kindes war, in Schulterhöhe geſpalten. Das waren 
die Tomahawkhiebe geweſen, die Winnetou gehört hatte. 
Durch einige in den Riß getriebene Holzkeile war nach⸗ 
geholfen worden, weil die Tomahawks zu ſchwach geweſen 
waren, einen durchgehenden Spalt fertig zu bringen. Durch. 
das Nachtreiben immer größerer und ſtärkerer Keile, auch 
mehrerer nebeneinander, hatte man den Riß ſo erweitert, 
daß er mehr als den Durchmeſſer eines Männerleibes 


— 512 — 


bekam, und dann den gefeflelfen alten Wabble hinein⸗ 
geſchoben. Hierauf waren die ſtärkern Keile wieder heraus⸗ 
geſchlagen worden; ſie lagen unten am Boden; und nun 
ſteckte der unglückliche Alte in wagerechter Lage und mit 
entſetzlich zuſammengepreßtem Unterleib, hüben mit den 
Beinen und drüben mit dem Oberleib hervorragend, in 
dem Spalt. Hätte man ihn mit der Bruſt hineingelegt, 
ſo wäre ſie ihm eingedrückt worden und er folglich 
geſtorben; ſo aber hatte man ihn in teufliſcher Berechnung 
nur mit dem Unterleib hineingeſchoben. Er lebte noch; 
ſein geſunder Arm und die Beine bewegten ſich, doch 
konnte er trotz der unbeſchreiblichen Schmerzen, die er 
auszuſtehen hatte, nicht ſchreien, weil man ihm einen 
Knebel in den Mund geſteckt und dieſen noch be⸗ 
ſonders zugebunden hatte. Seine Augen waren geſchloſſen; 
aus der Naſe rann das Blut in ſchweren, dunklen Tropfen; 
der Atem ging ſcharf pfeifend und ließ die Blutstropfen 
ziſchen. Da konnte es kein Wort weder der Empörung 
noch des Mitleids geben; da mußte nur ſchnell, ſchnell 
geholfen werden, ohne einen einzigen Augenblick zu zaudern. 
„Die ſtarken Keile hinein!“ gebot ich. „Und zwar 
oben und auch unten! Macht raſch; macht raſch! Wir 
brauchen noch mehr Keile als hier liegen. Heraus mit 
den Meſſern und Tomahawks!“ i . 
Während ich das rief, hatte ich auch ſchon einen 
Keil in den Spalt geſteckt und trieb ihn durch Hiebe mit 
dem eiſenbeſchlagenen Kolben meines Bärentöters ein. 
Jetzt konnte man die Kameraden ſchaffen ſehen! Toma⸗ 
hawks hatten bloß Winnetou und Matto Schahko; das 
war aber genug. Abgeſtorbene Bäume ſtanden einige in 
der Nähe. Die Spähne flogen; es wurden wie im Hand⸗ 
umdrehen neue, ſtärkere Keile fertig. Mein Bärentöter 
und Hammerdulls alte Gun, deren Kolben ſtark mit Band⸗ 


— 513 — 


eiſen umwunden war, wurden als Schlägel gebraucht. 
Kurz und gut, es waren kaum zwei Minuten vergangen, 
ſo hatten wir den Spalt ſo erweitert, daß wir Old 
Wabble herausziehen konnten. Wir legten ihn auf die 
Erde und befreiten ihn von dem Knebel, was wir eigent⸗ 
lich ſchon früher hätten tun ſollen, in der Aufregung aber 
vergeſſen hatten. 

Er blieb zunächſt ohne Bewegung liegen und ſtieß 
einen Schwall geronnenen Blutes aus dem Mund; dann 
folgte ein heller, dünner Blutſtrahl nach. Die Bruſt er⸗ 
weiterte ſich; wir hörten einen tiefen, tiefen Atemzug. 
Hierauf öffneten ſich die Augen; ſie waren dunkelrot ge⸗ 
färbt. Und nun, nun kam etwas, was ich in meinem 
ganzen Leben nicht vergeſſen werde, nämlich ein Schrei, 
aber was für ein Schrei! Ich habe Löwen und Tiger 
brüllen hören; ich kenne die Trompetentöne des Elefanten, 
ich habe den entſetzlichen, gar nicht zu beſchreibenden 
Todesſchrei von Pferden gehört; aber nichts von dem 
allem iſt mit dem fürchterlichen, langgezogenen, kein Ende 
nehmenden Schrei zu vergleichen, der jetzt, die Schmerzen 
einer ganzen Welt herausbrüllend, aus Old Wabbles 
Mund kam und drüben vom jenſeitigen Seeufer und hüben 
aus der Waldestiefe vom mitleidloſen Echo zurückgeſchickt 
wurde. Es ſchüttelte uns! 

Hierauf war es wieder eine Weile ſtill. Mit den 
widerſtreitendſten Gefühlen im Herzen ſtanden wir um 
ihn herum; das Mitleid hatte aber doch die Oberhand. 
Jetzt begann er zu ſtöhnen, lauter, immer lauter; dann 
folgte wieder ein plötzliches Gebrüll, wie von einer Schar 
wilder Tiere. Ich hielt mir die Hände an die Ohren; wie⸗ 
der das leiſere Stöhnen und Jammern, und dann aber⸗ 
mals ein jähes Geheul, von dem wir förmlich zurückgeworfen 
wurden. So ging es fort und fort, dieſes Wimmern 

map, Old Surehand. II. 88 


— 514 — 


und Stöhnen, von heulenden Stößen unterbrochen; es 
wollte kein Ende nehmen. Er ſchien weder ſehen noch 
hören, auch nicht ſprechen zu können. Was konnten wir 
tun? Holbers blieb bei ihm, um ihm Waſſer einzuflößen; 
wir aber entfernten uns, um ein Grab für die Tramps 
herzuſtellen. Geſprochen wurde kein Wort über den 
Unglücklichen. Ein heiliges Grauen hatte uns gepackt. 
Wir fühlten uns im Bereich der Allgerechtigkeit, die nach 
ſo erfolgloſer Langmut jetzt endlich mit dem alten Gottes⸗ 
läſterer abzurechnen begann. N 

Wir fanden an dem Weſtufer der Halbinſel, was 
wir ſuchten, nämlich eine ganze Menge angeſpülter 
Steine, die zur Herſtellung ſelbſt einer ſo großen Begräb⸗ 
nisſtelle ausreichten. Zum Graben einer Vertiefung, wie 
ſie für ſo viele Leichen nötig geweſen wäre, fehlten uns 
die Werkzeuge. Wir begannen, die Steine nach der Mitte 
der Halbinſel zu ſchleppen, wo es eine natürliche, faſt 
metertiefe Senkung gab. Dorthin ſollte das Grab kommen. 


Das war eine Arbeit, die viel Zeit in Anſpruch nahm 


und während der wir immer das Gebrüll des Königs 
der Cowboys hörten, bis er nach vielleicht einer Stunde 
ſtiller wurde. Später kam Holbers zu mir und ſagte, 
daß der Alte jetzt ſehen könne und zu ſprechen beginne. 
Ich ging zu ihm hin. 

Er lag lang ausgeſtreckt da, holte leiſe und unregel⸗ 
mäßig Atem und ſtarrte mich an. Seine Augen hatten 
ſich ziemlich entrötet. 

„Old — Shat — — ter — — — hand,“ flüſterte 
er. Dann hob er den Oberkörper ein wenig und ſchrie 
mich an: „Hund, verfluchter, fort, fort, fort mit dir!“ 
„Mr. Cutter, Ihr ſteht vor der Ewigleit!“ ant⸗ 


1 


wortete ich. „Niemand kann Euch helfen! In kurzer 


Zeit, vielleicht ſchon in einer Stunde, gibt es für Euch den 


— 515 — 


letzten Atemzug. Macht Eure Rechnung hier mit Gott; 
im Jenſeits iſt's zum Bitten vielleicht nicht mehr Zeit!“ 

„Schäfchenhirt! Packe dich von hier! Ich will ſterben 
ohne dich und ohne ihn! Geh mir aus den Augen!“ 

Ich folgte ſeiner Weiſung nicht, ſondern fuhr fort: 
„Erinnert Euch, was ich auf Fenners Farm geſagt 
habe! Ihr ſollt um eine einzige Minute der Verlänge⸗ 
rung Eures Lebens zu Gott wimmern; Eure Seele ſoll 
zetern aus Angſt vor der göttlichen Gerechtigkeit, und 
wenn die Fauſt des Todes Euren Körper krümmt, ſollt 
Ihr nach Vergebung Eurer Sünden heulen!“ 

„Fort, fort, ſage ich!“ ſchrie er wütend. „Gebt mir 
ein Meſſer, ein Meſſer, ſage ich, daß ich dieſen Kerl, 
noch ehe ich ſterbe, erſtechen kann!“ N 

Old Surehand war herbeigekommen; er hörte das 
und ſagte: „Den macht Ihr nun im letzten Augenblick auch 
nicht erſt noch anders. Oder wollt Ihr es einmal mit 
dem Gebet verſuchen?“ 

Ich ſah ihn an. Es war ihm wirklich ernſt mit 
dieſen Worten; dennoch fragte ich: „Warum gebt Ihr 
mir dieſen guten Rat?“ 

„Weil wir geſtern vom Gebet geſprochen haben. 
Ihr glaubt ja doch ſo feſt und unerſchütterlich an ſeine 
Macht!“ 

„Well! Wenn es Gott gefällt, ſo werdet Ihr einen 
Beweis von dieſer Macht erhalten, doch jetzt, in dieſem 
Augenblick noch nicht!“ 

Old Wabble war nämlich jetzt nicht mehr bei ſich. 
Er fiel in feinen frühern Zuſtand zurück und wechſelte, 
wie vorhin, mit Wimmern und tieriſchem Brüllen ab. 
Ich entfernte mich. Als er nach einer halben Stunde 
ruhig geworden war, ging ich wieder hin zu ihm. Er 
kannte mich und ziſchte mich an: 


— 516 — 


„Kennſt du noch den Fact, und wieder den Fact, 
und zum drittenmal den Fact, damals im Llano eſtakado? 
Bring mir nun von deinem Gotte einen Fact, du Himmels⸗ 
ſchaf!“ 

Sollte ich ihm, der jetzt noch ſpottete, in meiner 
vorigen Weiſe antworten? Nein. Ich konnte nichts mehr 
für dieſe verlorene Seele tun. Es gab nur eine Macht, 
die helfen konnte, und das war nicht die meinige. Old 
Surehand hatte gemerkt, wohin ich gegangen war, 
und war mir wieder nachgekommen; wir befanden uns 
allein bei dem Alten. Ich kniete nieder und betete, nicht 
—leiſe, ſondern laut, daß Old Surehand und Old Wabble 
es hörten. Was ich betete? Ich weiß es nicht mehr, 
und wenn ich es noch wüßte, würde ich es hier nicht 
wiederholen. Als ich fertig war und aufſtand, waren 
Old Surehands Augen feucht. Er drückte mir die Hand 
und ſagte leiſe: N 

„Jetzt weiß ich, was richtig beten heißt! Wenn das 
nicht hilft, ſo will ihm Gott nicht helfen!“ 

Old Wabble hatte mich, ganz gegen meine Erwar⸗ 
tung, nicht ein einziges Mal unterbrochen. Sein Auge 
ſah mich ſpöttiſch an; aber aus ſeinem vor Schmerz ver⸗ 
zerrten Mund war keine Silbe zu hören. Sollte er ſich 
jetzt doch ſcheuen, mich zu verhöhnen? Das würde ein 
gutes Zeichen ſein. Ich durfte dieſe Wirkung nicht ſtören 
und ging, indem ich Old Surehand mit mir fortzog. 

Nach einiger Zeit waren wir ſo weit, daß wir die 
Leichen in die Bodenſenkung legen konnten, um ſie dann 
erſt mit Gezweig und dann mit Steinen zu bedecken. Da 
kam mir ein Gedanke, nein, kein Gedanke, ſondern eine 
Eingebung; es war eine, das fühlte ich: Ich ließ den 
alten Wabble holen und nach dem Grabe bringen. Das 
verurſachte ihm große Schmerzen; er ſchrie in einem fort 


— 517 — 


und fragte dann, warum er nicht habe liegen bleiben 
dürfen. N 
„Ihr ſollt ſehen, wohin wir Eure ſkalpierten Ka⸗ 
meraden legen,“ antwortete ich. „Wir laſſen einen Platz 
für Euch, denn ehe die heutige Sonne untergeht, liegt 
Ihr bei ihnen hier unter dieſen Steinen. Ihr habt nur 
noch Zeit zur Reue und zum Sterben, weiter keine!“ 
Ich hatte erwartet, er werde mich wütend anfchreien; 
er war aber ſtill, ganz ſtill. Er ſah zu, wie wir einen 
Tramp nach dem andern in die Vertiefung legten und 


dann mit Aeſten und Zweigen bedeckten; er ſah auch, wie 


wir Steine darüber aufhäuften und eine Lücke für ſeinen 
eigenen Körper ließen. Sein Auge folgte jeder unſrer 
Bewegungen; er ſagte immer noch nichts. Aber in ſeinem 
Blick lag eine immer größer werdende Angſt; das bemerkte 
ich wohl. Nun waren wir endlich mit dem Grabe fertig, 
bis auf ihn — — die letzte Leiche, und gingen fort, 
ſcheinbar ohne uns um ihn zu kümmern. Ich fühlte 
aber eine Spannung, die gar nicht größer ſein konnte. 
Da plötzlich erzitterte die Luft von einem Schrei, 
nicht anders, als wie ſein erſter Schrei geweſen war. 
Ich ſuchte ihn wieder auf. Die Schmerzen hatten ihn 
wieder gepackt, doch ohne ihm die Beſinnung zu rauben. 
Er wand ſich wie ein Wurm; er ſchlug und ſtampfte um 
ſich, doch kam kein Fluch und keine Verwünſchung mehr 
aus ſeinem Mund. Dann lag er wieder ſtill, wimmernd 
und ſtöhnend zwar, doch ſonſt bewegungslos. Seine Zähne 
knirſchten, und der Schweiß trat in ſchweren, dicken 
Tropfen auf ſeine Stirn und ſein Geſicht. Ich wiſchte 
ſie wiederholt ab; ſie kamen immer wieder. So verging 
eine lange Zeit. Da hörte ich ihn halblaut ſagen: 
„Mr. Shatterhandl“ 


- — 518 — 


Ich bog mich über ihn, und nun fragte er langſam 
und mit öfteren Unterbrechungen: 


„Ihr wißt alles — — alles — —. Kennt Ihr das 
alte, alte — — — Lied — — Lied — — von der — 
— Ewigkeit — — — —7“ 

„Welches Lied? Wie iſt der Anfang?“ 

„E — — ter — — nity — — oh — — thunder 
— — word — — —.“ 

„Ich kann es auswendig.“ 

- „Betet — — be — — tet es!“ 


Ich blickte Old Surehand, der mit mir zu ihm ge⸗ 
kommen war, bedeutungsvoll an, ſetzte mich neben den 
Alten hin und begann, natürlich in der engliſchen e f 
ſetzung: 

„O Ewigkeit, du Donnerwort, 
Du Schwert, das durch die Seele bohrt, 
O Anfang ſonder Ende! 

O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit, 
Vielleicht ſchon morgen oder heut 
Fall ich in deine Hände. 

Mein ganz erſchrocknes Herze bebt, 
Daß mir die Zung' am Gaumen klebt!“ 


Hier hielt ich inne. Er war ſtill. Seine Bruſt be⸗ 
wegte ſich ſchwer. Es arbeitete in ihm. Dann bat er: 

„Weiter — — weiter — — Mr. Shatter — — 
hand — —!“ 

Und ich fuhr fort: 


O Gott, wie biſt du ſo gerecht! 
Wie ſtrafſt du mich, den böſen Knecht, 
Mit wohlverdienten Schmerzen! 

Schon hier erfaßt mich deine Fauſt, 
Daß es mich würgt, duß es mich grauſt 
In meinem tiefſten Herzen. 


— 519 — 


Die Zähne klappern mir vor Pein; 
Wie muß es erſt da drüben ſein!“ 


Die Strophen dieſes alten, kraftvollen Kirchenliedes 
ſind, wenn ſie richtig geleſen oder geſprochen werden, 
allerdings geeignet, wie Schwerterſpitzen durch Mark und 
Bein zu gehen. Ich ſah, daß es ihn ſchüttelte, doch for⸗ 
derte er mich auf: 

„Weiter — — immer — — — weiter! Ich — — 
— höre es — — —!” 

Ich tat ihm den Willen: 


„Wach auf, o Menſch, vom Sündenſchlaf; 
Ermuntre dich, verlornes Schaf, 
Denn es enteilt dein Leben! 
Wach auf, denn es iſt hohe Zeit, 
Und es naht ſchon die Ewigkeit, 
Dir deinen Lohn zu geben! 
Zeig reuig deine Sünden an, 
Daß dir die Gnade helfen kann!“ 


Was war das?! Seine Zähne ſchlugen zuſammen. 
Ja, wahrhaftig, ich hörte ſie klappern! Der Schweiß 
ſtand nicht mehr tropfenweis auf ſeiner Stirn, ſondern 
er lag als eine zuſammenhängende, naßkalte Schicht auf 
ihr. Dabei murmelte er, wie ein Betrunkener lallend: 


„Zeig reuig — — — deine Sünden — — — an, 
daß dir — — — die Gnade — — — hel — — — 
helfen kann — — —!“ Und plötzlich ſtieß er laut, raſch 


und voll unſäglicher Angſt hervor: „Wie lange braucht 
man zur Gnade, wie lange? Sagt es ſchnell, ſchnell!“ 
„Einen Augenblick nur, wenn Ihr's ehrlich meint,“ 
antwortete ich. | 
„Das ift zu wenig, viel zu wenig! Zeig reuig deine 
Sünden an!“ Ich habe mehr Sünden auf meinem Ge⸗ 


— 520 — 


wiſſen als Sterne am Himmel ſtehen. Wie kann ich die 
in dieſer Zeit beichten, wie kann, wie kann ich das!“ 

„Gott zählt ſie nicht einzeln, wenn Ihr ſie wirklich 
bereut!“ 

„Nein, alle, alle muß ich ihm aufzählen, alle! Und 
habe ich Zeit dazu, Zeit? Wann muß ich ſterben, ſagt 
es mir!“ 

„Eure Todesſtunde ſchlägt heut. Hier ſteht Euer 
Grab ſchon offen!“ 

„Schon offen, ſchon offen; oh mein Himmel, oh mein 
Gott! Gebt mir mehr Zeit, mehr! Gebt mir einen 
Tag, zwei Tage, eine Woche!“ 

Da, da war es, was ich ihm auf Fenners Farm 
vorausgeſagt hatte: er flehte um eine Gnadenfriſt! 

„Aber ich fühle es,“ fuhr er kreiſchend fort; „ich 
bekomme keine Zeit, keine Friſt, keine Gnade, kein Er⸗ 
barmen! Der Tod greift mir nach dem Herzen, und die 
1 5 mit allen ihren Teufeln wühlt mir ſchon im Leibe, 

Mr. Shatterhand, Mr. Shatterhand, Ihr ſeid ein gläu⸗ 
biger, ein frommer Mann. Ihr müßt, Ihr müßt es 
wiſſen: Gibt es einen Gott?“ 

Ich legte ihm die Hand auf die Stirn und antwortete: 

„Ich ſchwöre nie; heut und hier ſchwöre ich bei 
meiner Seligkeit, daß es einen Gott gibt!“ 

„Und ein Jenſeits, ein ewiges Leben?“ 

„So wahr es einen Gott gibt, ſo wahr auch ein Jen⸗ 
ſeits und ein ewiges Leben!“ 

„Und jede Sünde wird dort beſtraft?“ 

„Jede Sünde, die nicht vergeben worden iſt.“ 

„O Gott, o Allerbarmer! Wer wird mir meine 
vielen, vielen, ſchweren Sünden vergeben? Könnt Ihr es 
tun, Mr. Shatterhand; könnt Ihr?“ 


— 521 — 


„Ich kann es nicht. Bittet Gott darum! Er allein 
kann es.“ 

„Er hört mich nicht; er mag von mir nichts wiſſen! 
Es iſt zu ſpät, zu ſpät!“ 

„Für Gottes Liebe und Barmherzigkeit kommt keine 
Reue zu ſpät!“ 

„Hätte ich früher auf Euch gehört, früher! Ihr 
habt Euch Mühe mit mir gegeben. Ihr habt recht ge⸗ 
habt: das Sterben währt länger, viel länger als 
das Leben! Faſt hundert Jahre habe ich gelebt; nun 
ſind ſie hin, hin wie ein Wind; aber dieſe Stunde, dieſe 
Stunde, ſie iſt länger als mein ganzes Leben; ſie iſt 
ſchon eine Ewigkeit! Ich habe Gott geleugnet und über 
ihn gelacht; ich habe geſagt, daß ich keinen Gott brauche, 
im Leben nicht und im Sterben nicht. Ich Unglücklicher! 
Ich Wahnſinniger! Es gibt einen Gott; es gibt einen; 
ich fühle es jetzt! Und der Menſch braucht einen Gott; 
ja er braucht ihn! Wie kann man leben und wie ſterben 


ohne Gott! Wie kalt, wie kalt iſt's in mir, huh — — —! 
Wie finſter, wie finſter, huuuh — — —! Das iſt ein 
tiefer — — — tiefer. — — — bodenloſer Abgrund — — 
Hilfe, Hilfe! Das ſchlägt über mir zufammen — — über 
mir — — Hilfe — — — Hilfe! Das krallt ſich um 
meine — — — Hilfe — — — Gnade — — Gnade 
— — Gna — — —!” 


Er hatte die Augen geſchloſſen und die Hilferufe 
erſt mit ſchriller und dann mit erſterbender Stimme aus⸗ 
geſtoßen. Jetzt ſchloß er den Mund und bewegte kein 
Glied ſeines Körpers, kein Härchen ſeiner Augenwim⸗ 
pern mehr. N 

„O mein Gott!“ ſeufzte Old Surehand. „Ich ſah 
ſchon manchen Menſchen im Kampf fallen; aber ein 
wirkliches Sterben, ſo wie dieſes, ſah ich doch noch nie! 


— 52 — 
Wer da nicht an Gott glauben lern, dem wäre beſſer, 
er wäre nie geboren!“ 


Die Hilferufe Old Wabbles tles die Gefährten 
alle herbeigerufen; ſie ſtanden rund umher. Ich ſchob 
dem Alten die Hand unter das Gewand und legte ſie ihm 
auf das Herz; ich fühlte kaum noch deſſen leiſen, lang⸗ 
ausſetzenden Schlag. 

„Die Hüte ab, Meſch'ſchurs!“ bat ich. „Wir ſtehen 
vor einem hehren, heiligen Augenblick: ein verlorener 
Sohn kehrt jetzt zurück ins Vaterhaus. Betet, betet, daß 
der Inbegriff aller Liebe ſich ſeiner erbarme, jetzt in 
dieſer ſchweren, letzten Minute und jenſeits in der 
Ewigkeit!“ 

Sie beteten; ſelbſt die drei Häuptlinge beteten und 
— — — Old Surehand betete auch! Die Sekunden 
dehnten ſich zu Minuten und die Minuten zu Viertel⸗ 
ſtunden. Ein dünnes Zweiglein knickte unter den Zehen 
eines kleinen Vogels. Das klang durch dieſe tiefe, heilige 
Stille wie ſonſt das Brechen eines ſtarken Baumes, ſo 
ſchien es uns, und der leichte Flügelſchlag des Vogels 
dünkte uns das Rauſchen von Adlerſchwingen zu ſein! 


Da ſchlug Old Wabble die Augen auf und richtete 
ſie auf mich. Sein Blick war klar und mild, und ſeine 
Stimme klang zwar leiſe, doch deutlich, als er ſagte: 

„Ich ſchlief jetzt einen langen, langen, tiefen Schlaf 
und ſah im Traum mein Vaterhaus und meine Mutter 
drin, die ich beide hier nie geſehen habe. Ich war bös, 
ſehr bös geweſen und hatte ſie betrübt, ſo träumte mir; 
ich bat ſie um Verzeihung. Da zog ſie mich an ſich und 
küßte mich. Old Wabble iſt nie im Leben geküßt worden, 
nur jetzt in ſeiner Todesſtunde. War das vielleicht der 
Geiſt meiner Mutter, Mr. Shatterhand?“ | 


— 523 — 


„Ich möchte es Euch gönnen. Ihr werdet's bald 
erfahren,“ antwortete ich. 

Da ging ein Lächeln über ſeine viel durchfurchten 
Züge, und er ſprach in rührend frohem Ton: 

„Ja, ich werde es erfahren, in wenigen Augenblicken. 
Sie hat mir verziehen, als ich ſie darum bat! Kann Gott 
weniger gnädig ſein als ſie?“ 

„Seine Gnade reicht ſo weit, ſo weit die Himmel 
reichen; fie iſt ohne Anfang und auch ohne Ende. Bittet 
ihn, Mr. Cutter, bittet ihn!“ 

Da legte er die unverletzte Hand in die des gebrochenen 
Armes, faltete beide und ſagte: 

„So will ich denn gern beten, zum erſten und zum 
letzten Mal in dieſem meinem Leben! Herrgott, ich bin der 
böſeſte von allen Menſchen geweſen, die es gegeben hat. 
Es gibt keine Zahl für die Menge meiner Sünden, doch 
iſt mir bitter leid um fie, und meine Reue wächſt höher 
auf als dieſe Berge hier. Sei gnädig und barmherzig 
mit mir, wie meine Mutter es im Traum mit mir war, 
und nimm mich, wie ſie es tat, in Deine Arme aufl 
Amen!“ | 

- Welch ein Gebet! Er, der keine Schule genoſſen und 
nie mit ſeinem Gott geſprochen hatte, betete jetzt ſo geläufig, 
wie ein Pfarrer betet! Er hatte leiſe und mit Unter⸗ 
brechungen geſprochen, war aber von uns allen verſtanden 
worden. Dieſer Sterbende war ein böſer Menſch und 
zuletzt mein Todfeind geweſen, und doch liefen die Tränen, 
die ich nicht zurückzuhalten vermochte, mir über die 
Wangen herab. 

„War es ſo richtig, Mr. Shatterhand?“ fragte er. 

„Ja, ſo war es gut.“ 

„Und wird Gott mir meine Bitte erfüllen?“ 


Ja.“ 


— 524 — 


„Ah, wenn ich das 8 deutlich aus Eurem Mund 
hören könnte!“ 

„Ihr ſollt es hören. Ich bin zwar kein geweihter 
Prieſter, und keine Macht der Kirche iſt mir anvertraut; 
wenn ich damit eine Sünde begehe, ſo wird Gott auch 
mir gnädig ſein; ich bin ja der einzige hier, der zu Euch 
reden kann! Spricht die Stimme wahr, die ich jetzt in 
mir höre, fo’ ſeid Ihr von Gottes Gerechtigkeit gerichtet, 
aber von ſeiner Barmherzigkeit begnadigt worden. Geht 
alſo heim in Frieden! Ihr habt im Traum das irdiſche 
Vaterhaus geſehen; es ſteht Euch nun die Tür des himm⸗ 
liſchen offen. Eure Sünden bleiben bier. zurück. Lebt 
wohl!“ 

Ich nahm ſeine Hand in die meinige. Er 29 die 
Augen wieder geſchloſſen. Ich legte mein Ohr an ſeinen 
Mund und hörte ihn noch hauchen: 

„Lebt — — wohl! — — Ich — — — bin — — 
ſo froh, %o fich. 

Das Lächeln war in ſeinem Angeſicht geblieben; es 
war ſo mild, als ob er wieder von ſeiner Mutter träume. 
Doch war's kein Traum mehr, der ihm die Erbarmung 
zeigte; er ſah ſie jetzt in Wirklichkeit, in jener Wirklichkeit, 
die über allem Irdiſchen erhaben iſt; — — er war tot! — 

Was für ein ſonderbares Geſchöpf iſt doch der Menſchl 
Welche Gefühle hatten wir noch vor wenigen Stunden 
für dieſen nun Verſtorbenen gehabt! Und jetzt ſtand ich 
ſo tief gerührt vor ſeiner Leiche, als ob mir ein 
lieber Kamerad geſtorben ſei! Seine Bekehrung hatte alles 
Vergangene gut gemacht. Und ich war nicht der einzige, 
dem es ſo erging. Dick Hammerdull kam herbei, ergriff 

die Hand des Toten, ſchüttelte ſie leiſe und ſagte: 
N „Leb wohl, alter Wabble! Hätteſt du eher gewußt, 
was du jetzt weißt, ſo wärſt du nicht eines ſo elenden 


— 525 — 


Todes geſtorben. Das war gewaltig dumm von dir; ich 
trage es dir aber nicht nach! Pitt Holbers, gib ihm auch 
die Hand!“ 

Holbers brauchte gar nicht däzu aufgefordert zu wer⸗ 
den, denn er ſtand ſchon bereit dazu. Er ſagte dabei, 
und zwar gar nicht in ſeiner trockenen Weiſe, ſondern 
tief bewegt: | 

„Farewell, alter King! Dein Königreich hat nun ein 
Ende. Wärſt du geſcheit geweſen, ſo hätteſt du mit uns 
anſtatt mit den Tramps reiten können. Schade, jammer⸗ 
ſchade um ſo einen tüchtigen Boy, der du früher geweſen 
biſt! Komm, lieber Dick! Wollen ihn in ſein letztes Bett 
legen!“ 

„Nein, jetzt noch nicht!“ entgegnete ich. 

„Ja, müſſen wir nicht weiter?“ fragte Hammerdull. 

„Wir haben nur noch zwei Stunden Tag; da ver⸗ 
lohnt es ſich nicht, nun erſt ein andres Lager aufzuſuchen. 
Wir bleiben hier.“ 

„Aber die Utahs, und der General?!“ 

„Laßt ſie ziehen! Sie entkommen uns nicht, nun erſt 
recht nicht, da wir die Schmerzen zu vergelten haben, die 
dieſer Tote hat ausſtehen müſſen. Früh ſchien es mir, 
als ob wir keine Zeit hätten; jetzt habe ich mehr als 
genug!“ 

„Ich ſtimme meinem Bruder Shatterhand bei,“ er⸗ 
klärte Winnetou. „Old Wabble ſoll nicht warm be⸗ 
graben werden!“ ö 

Es war alſo ausgemacht, daß wir heut auf der Halb⸗ 
inſel blieben. Einer aber von uns ließ ſich nicht bereit 
dazu finden, Old Surehand nämlich. Er winkte mich auf 
die Seite und ſagte: 

Ich kann nicht hier bleiben, Mr. Shatterhand. Ich 
werde fortreiten, und zwar heimlich, damit niemand auf 


— 526 — 


den Gedanken kommt, mich aufzuhalten. Jemandem aber 
muß ich es ſagen, und das ſollt Ihr ſein. Verratet mich 
nicht, bis ich fort bin!“ 

„Iſt es denn unbedingt notwendig, daß Ihr Euch 
entfernen müßt?“ erkundigte ich mich. „Könnt Ihr wirk⸗ 
lich nicht hier bleiben?“ 

„Ich muß fort!“ 

„Und allein?“ 

„Ganz allein!“ 

„Hm! Ihr ſedd ein tüchtiger Weſtmann, und ich will 
alſo nicht von den Gefahren ſprechen, die Euch begegnen 
können; aber wollt Ihr mir nicht wenigſtens ſagen, 
welcher Art das Unternehmen iſt, das Euch hindert, hier 
bei uns zu bleiben, Mr. Surehand?“ 

„Das kann ich nicht.“ 

„Darf ich auch nicht erfahren, wohin Ihr wollt?“ 

„Nein.“ 

„Hm! Ich habe nicht die Abſicht, Euch Vorwürfe 
zu machen, aber Euer Verhalten grenzt doch etwas an 
Vertrauensloſigkeit.“ 

Da antwortete er, ſchnell mißmutig geworden: 

„Daß ich Vertrauen zu Euch habe, müßt Ihr ebenſo 
gut wiſſen wie ich, Sir. Ich habe Euch ſchon geſagt, daß 
es ſich um ein Geheimnis handelt, von dem ich nicht 
ſprechen darf und ſprechen will.“ 

„Auch zu mir nicht?“ " 

„Nein!“ erklang es ſehr kurz und abweiſend. 

„Well! Jeder hat das Recht, ſeine Angelegenheiten 
für ſich zu behalten; aber ich bin Euch von Jefferſon⸗ 
City aus bis hierher nachgeritten, in der Meinung, mit 
Euch gute Kameradſchaft zu pflegen. Ich ſage nicht, daß 
daraus Rechte für mich und Pflichten für Euch entſtehen, 
doch ſollte es mir leid tun, wenn Ihr Abſichten hegt, die 


— 527 — 


Euch in Schaden bringen, wenn Ihr ſie allein betreibt, 
während ſie gelingen würden, wenn es Euch beliebte, 
nicht ſo verſchloſſen, ſondern offen gegen mich zu ſein. 
Seid Ihr denn Eurer Sache ſo gewiß, daß Ihr behaupten 
könnt, uns nicht zu brauchen?“ 

„Wäre ich allein hierher geritten, wenn ich geglaubt 
hätte, Hilfe nötig zu haben?“ 

„Sehr richtig! Aber, habt Ihr denn wirklich keine 
nötig gehabt?“ 

„Ihr meint natürlich meine Gefangenſchaft bei den 
Utahs? Ich hätte mich wohl auch von ihnen fort⸗ 
gefunden!“ 


Jetzt war ich es, der einen zurückhaltenden Ton 


annahm: „Ich bin überzeugt davon. Betrachten wir alſo 
die Sache für abgemacht! Reitet in Gottes Namen; ich 
hindere Euch nicht!“ 

Ich wollte mich abwenden; da nahm er mich bei 
der Hand und bat: 

„Seid nicht bös auf mich, Sir! Meine Worte klangen 
nach Undankbarkeit. Ihr wißt aber jedenfalls, daß ii 
nicht undankbar bin.” 

„Das weiß ich!“ 

„Und — — und — — — ich will Euch wenigſtens 
eins ſagen: Ich bin ſo verſchwiegen geweſen, weil ich 
glaubte, Ihr würdet Euch von mir wenden, wenn Ihr 
hörtet, wer ich bin.“ 

„Unſinn! Seid, wer Ihr wollt! Old Surehand iſt 
ein braver Kerl!“ 

„Aber — — aber — — aber der Sohn eines 
— — — Zuchthäuslers!“ 

„Pshaw!“” 

„Wie? Ihr erſchreckt da nicht?“ 

Nein!“ 


“ 


— 528 — 


„Bedenkt doch, Sir — — — Zuchthäusler!“ 

„Ich weiß, daß es in den Zuchthäuſern und Gefäng⸗ 
niſſen auch ſchon brave Leute gegeben hat!“ 

„Aber, mein Vater iſt ſogar im Zuchthaus geſtorben!“ 

„Traurig genug! Aber das geht doch meine Freund⸗ 
ſchaft für Euch nichts an!“ 

„Wirklich nicht?“ 

„Wirklich nicht!“ 

„Meine Mutter war auch Zuchthäuslerin!“ 

„Das iſt ja ganz entſetzlich!“ 

„Und mein Oheim auch!“ 

„Armer, armer Teufel, der Ihr ſeidl“ 

„Beide ſind ausgebrochen und entflohen!“ 

„Das gönne ich ihnen!“ 

„Aber, Sir, Ihr fragt doch gar nicht, weshalb ſie 
beſtraft wurden!“ 

„Was bringt es für Nutzen, wenn ich es erfahre?“ 

„Wegen Falſchmünzerei nämlich!“ 

„Das iſt ſchlimm! Falſchmünzerei wird ſehr ſchwer 
beſtraft.“ 

„Nun — — —7 Ihr redet immer noch mit mir?“ 

„Warum nicht?“ 

„Mit dem Sohn und Neffen von Falſchmünzern, 
von Zuchthäuslern?“ 

„Hört mal, was gehen mich die Münzen und die 
Gefängniſſe der Vereinigten Staaten an? Selbſt ange⸗ 
nommen, daß Eure Verwandten dieſes Verbrechen be⸗ 
gangen und die Strafe wirklich verdient hatten, was habt 
Ihr dafür gekonnt?“ 

„Ihr wendet Euch alſo nicht von mir ab?“ 

„Beleidigt mich nicht, Mr. Surehand! Ich bin ein 
Menſch, ein Chriſt, aber kein Barbar! Wer Strafe ver⸗ 
dient, der mag ſie tragen; iſt ſie vorüber, ſo ſteht er wieder 


— 529 — 


da wie zuvor, wenigſtens in meinen Augen. Ich bin übers 
haupt der Anſicht, daß wenigſtens fünfzig Prozent der 
Beſtraften nicht Verbrecher, ſondern entweder kranke 
Menſchen oder Opfer unglücklicher Verhältniſſe ſind.“ 

„Ja, Ihr denkt in jeder Beziehung menſchlich; das 
weiß ich ja. Und ich kann Euch verſichern, daß meine 
Eltern und mein Oheim unſchuldig geweſen ſind; ſie 
hatten nichts Böſes getan.“ 

„Deſto größer iſt das Unglück, das ſie betroffen hat. 
Wie Ihr habt denken können, daß ich, ſelbſt wenn ſie 
ſchuldig geweſen wären, Euch das hätte entgelten laſſen, 
das kann ich nicht begreifen! Werdet Ihr auch jetzt noch 
ſo verſchloſſen ſein?“ 

„Ich muß!“ 

„Well! So ſagt mir wenigſtens, wann wir uns 
wieder treffen werden!“ | 

„Von heut in vier Tagen.“ 

„Wo?“ 

„Im Pui⸗mauvh)), der faſt in der Mitte des Parks 
von San Luis liegt. Winnetou wird ihn kennen. Er hat 
die Form eines Herzens; daher der Name dieſes Waldes. 
Ich bin ſicher dort.“ | 

„Wenn Euch nichts dreinkommt!“ 

„Was ſollte dazwiſchen kommen?“ 

„Hört, Mr. Surehand, Ihr rechnet noch mit den⸗ 
ſelben Ziffern, mit denen Ihr gerechnet habt, als Ihr 
Euch von Jefferſon⸗City aus auf den Weg machtet. In⸗ 
zwiſchen aber iſt manches geſchehen, und die Verhältniſſe 
haben ſich geändert. Der General' ift da, und es iſt — —“ 

„Pshaw!“ fiel er mir in die Rede. „Den fürchte ich 
nicht! Was geht der mich überhaupt an?“ 

„Vielleicht mehr, als Ihr denkt!“ 
h Wald des Herzens. 
May, Did Surehand. I. 84 


— 530 — 


„Gar nichts, ganz und gar nichts, Sir!“ 

„Nun, ich will mich da nicht mit Euch ſtreiten! Fer⸗ 
ner ſind die Utahs da.“ 

„Mir gleich!“ 

„Und der Medizinmann der Komantſchen iſt auch da!“ 

„Der iſt mir erſt recht gleichgültig! Es iſt über⸗ 
haupt ſehr zweifelhaft, ob er ſich hier befindet. Habt Ihr 
ihn geſehen?“ 

„Nein.“ 

„Nach dem, was Eure Kameraden erzählten, hatte 
er ſich doch den Tramps angeſchloſſen; er müßte alſo doch 
eigentlich mit hier auf der Halbinſel geweſen ſein. Er 
hat ſich wohl von ihnen getrennt.“ 

„Jedenfalls; und das war klug von ihm!! 

„Wenn er wirklich klug war, ſo iſt er zurückgeblieben.“ 

„Ich denke da anders. Wenn ein Mann mit ſeinem 
Weibe hier herauf nach der Wildnis reitet, müſſen ſehr 
triftige Gründe dazu vorliegen.“ 

„Allerdings.“ 

„Dieſe Gründe ſind jedenfalls noch vorhanden; er 
iſt alſo wohl nicht umgekehrt. Die Tramps haben nicht 
wiſſen ſollen, was er hier oben will; darum hat er ſich 
von ihnen getrennt. So wird es ſein.“ 

„Warum aber iſt er erſt mit ihnen geritten?“ 

„Aus Rache und Feindſchaft gegen uns, und um 
unter ihrem Schutz ins Gebirge zu kommen. Sobald er 
es aber erreicht hatte, hat er ſich aus dem Staub ge⸗ 
macht. Er iſt ganz gewißlich hier.“ 8 

„Mag er; mich kümmert er nicht! Alſo Ihr wißt 
nun, woran Ihr ſeid: Von heut an in vier Tagen warte 
ich im Pui⸗mauvh auf Euch. Ihr könnt Euch bis dahin 
ja mit der Jagd auf die Utahs beſchäftigen und ſie für 


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den hier begangenen Maſſenmord beſtrafen! 0 
folgt niemand von Euch meiner Fährte!“ 

ö „Da könnt Ihr ruhig ſein.“ 

„Wollt Ihr mir das verſprechen?“ 

„Ja; mein Wort darauf!“ 

„So ſind wir fertig. Lebt wohl!“ 

„Noch nicht! Wollt Ihr Euch nicht Fleiſch von uns 
mitnehmen?“ 

„Nein; ihr braucht es ſelbſt, und es würde auffallen, 
wenn ich mich jetzt mit Mundvorrat verſorgte.“ 

„Wir tun es heimlich!“ 

„Danke! Ich finde unterwegs Wild genug. Alſo 
nochmals: Lebt wohl!“ 

„Lebt wohl, Mr. Surehand! Ich wünſche, daß wir 
uns glücklich wiederſehen!“ | 

Wir trennten uns, und ich richtete es fo ein, daß 
er unauffällig zu feinem Pferd kommen und ſich ent⸗ 
fernen konnte. Später erregte es dann allgemeine Ver⸗ 
wunderung, als man ihn vermißte und von mir erfuhr, 
er habe ſich, ohne Abſchied zu nehmen, entfernt. Sie 
wollten alle wiſſen, aus welchem Grunde er heimlich 
fortgegangen ſei, ich ſagte aber nichts. Nur Winnetou 
ſprach keine Frage aus; doch als ich ſpäter, als es dunkel 
geworden war, an ſeiner Seite ſaß, hielt er es ne an⸗ 
gemeſſen, die Bemerkung zu machen: 

„Wir werden Old Surehand wieder befreien müſſen!“ 

„Das denke ich auch,“ nickte ich. 

„Oder ſeine Leiche ſehen!“ 

„Auch das iſt möglich.“ 

„Hat mein Bruder N verſucht, ihn zurück⸗ 
nihalten?“ 

„Es war ohne Erfolg.“ 


„Du hätteſt ihm ſagen können, daß du mehr weißt, 
als er denkt.“ 

„Ich hätte es getan, aber er wollte fein Geheimnis 
für ſich behalten.“ 

„So iſt es recht, daß du geſchwiegen haſt. Vertrauen 
ſoll man nicht erzwingen.“ 

„Er wird bald einſehen, wieviel beſſer es geweſen 
wäre, offen zu ſein!“ 

„Ja. Wie wird er ſtaunen, wenn er erfährt, daß 
der Scharfſinn meines Bruders Shatterhand in ſo kurzer 
Zeit weitergekommen iſt, als er in vielen Jahren! Iſt 
es durch ſeine Entfernung nötig geworden, uns anders 
zu verhalten, als wenn er bei uns geblieben wäre?“ 

„Nein.“ 

„Wir werden alſo den utahs folgen?“ 

„Ja.“ 

„Ihre Fährten werden morgen früh nicht mehr zu 
ſehen und zu leſen ſein.“ 

„Das ſtört uns nicht. Der ‚General‘, der fie anführt, 
will hinauf nach der Kaskade; wir wiſſen alſo, wohin ſie 
reiten.“ 

„Und ſie wiſſen, daß wir ihnen folgen; ſie werden 
uns alſo Fallen ſtellen, um ſich dafür zu rächen, daß Old 
Surehand ihnen entkommen ift.”“ 

„Darum nehme ich an, daß er ihnen wieder in die 
Hände fallen wird.“ 

„Wir werden uns beeilen. Er kann während der 
Nacht nicht ſchnell reiten; wir aber können raſch voran 
kommen. Das hätte er bedenken ſollen. Er wird, ſelbſt 
wenn ihm nichts zuſtößt, die Kaskade gar nicht viel eher 
erreichen als wir. Er hätte bleiben ſollen!“ 

Als Old Wabbles Leiche erkaltet war, legten wir ſie 
in das Grab und bedeckten auch ihn mit Reiſern und mit 


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Steinen. Es wurde ein Gebet und ein Vaterunſer ge⸗ 
ſprochen und dann fertigten wir ein Holzkreuz, das auf 
dem Grabe befeſtigt wurde. So liegt der alte König der 
Cowboys, der fein ganzes Leben in den Ebenen des 
Weſtens zugebracht hatte, auf der Höhe des Gebirgs 
begraben, und zwar von denen begraben, denen er in die 
Berge folgte, um ihnen die Rache und den Tod zu bringen, 
der ihn ſelbſt ereilte. 
Wir lagerten uns um ſein vom Feuer beſchienenes 
Grab und ſchliefen einen nicht ſo langen Schlaf wie er. 


Zehntes Kapitel 
Am „Teufelskopf“ 


Am nächſten Morgen brachen wir auf, ſobald der Tag 
zu grauen begann. Die Spuren der Utahs waren im 
weichen Waldboden noch zu ſehen; als wir aber feſteren 
Weg bekamen, verſchwanden ſie. Das konnte uns nicht 
ſtören. Wir ſuchten gar nicht nach ihnen, ſondern ver⸗ 
folgten, ohne uns um etwas anderes zu kümmern, unſre 
Richtung, ſo ſchnell es uns das Gelände erlaubte. 

Es ging vom See des grünen Waſſers abwärts nach 
dem unten liegenden Park von San Luis. Gegen Mit⸗ 
tag hatten wir ihn erreicht. Er lag in feiner ganzen 
Ausdehnung und Schönheit vor unſern Augen, viele, viele 
Meilen breit und von dementſprechender Länge. Für 
den Jäger konnte es keinen ſchöneren Anblick geben, als 
dieſen rund von himmelhohen Bergkoloſſen ein⸗ 
geſchloſſenen Park, in dem Wälder und Prärien, Felſen 
und Gewäſſer in einer Weiſe miteinander abwechſelten, 
als ob Jagdliebhaber ihn unter einem Aufwand von 
allerdings vielen Millionen hätten künſtlich anlegen 
laſſen, und zwar zum Aufenthalt und gelegentlichen Ab⸗ 
ſchuß aller jagdbaren Tiere des wilden Weſtens. 

Hier hatten früher die Biſons zu Abertauſenden ge⸗ 
lebt; jetzt waren ſie vertrieben. Die Kugeln der Gold⸗ 
ſucher hatten ſie verjagt. Noch vor kurzer Zeit war grad 
der Park von San Luis das Hauptziel dieſer abenteuern⸗ 
den Menſchen geweſen; jetzt hatten ſie ihn verlaſſen, um 


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ſich nach den Bergen der Cores Range zu wenden, von 
der man erzählte, dort ſeien unerſchöpfliche Goldlager ent⸗ 
deckt worden. Das erfuhren wir aber erſt ſpäter; jetzt 
waren wir noch der Anſicht, der auch Toby Spencer 
geweſen war, daß man hier, und zwar an der Foam⸗ 
Kaskade, bedeutende Funde gemacht habe. Ganz von 
Proſpekters verlaſſen war der Park aber trotzdem nicht. 
Die beſten von ihnen waren fort; die zur Hefe Gehörigen 
. aber hatten bleiben müſſen, weil ihnen die Mittel zu einer 
ſo weiten Wanderung fehlten. Dieſe Menſchen trieben 
ſich nun im Park umher, um, wie die Lumpenſamm⸗ 
ler der Städte, in den verlaſſenen Minen und Placers 
nachzuſtochern und dabei keine Gelegenheit zu verſäumen, 
da zu ernten, wo von ihnen nicht geſät worden war. 

Old Surehand hatte uns nach dem Pui⸗mauvh, dem 
„Wald des Herzens“, beſtellt. Winnetou wußte, wo 
dieſer lag; es fiel uns aber gar nicht ein, ihn aufzufuchen. 
Unſer Ziel war zunächſt die Foam⸗Kaskade, wohin er 
jedenfalls auch geritten war. 

Wir kamen während des ganzen Vormittags durch 
eine Gegend, die das Ausſehen hatte, als ob ſie aus 
dem ſchönen, deutſchen Schwabenlande hierher verſetzt 
worden ſei. Zu Mittag ritten wir einem Wäldchen zu, in 
dem wir den Pferden für eine Stunde Ruhe gönnen woll⸗ 
ten. Es floß ein klarer Bach hindurch, der den zum 
Mittagsmahl nötigen Trunk zu liefern hatte. 

Noch hatten wir das Wäldchen nicht ganz erreicht, 
ſo trafen wir auf eine Fährte, die von ſeitwärts her nach 
demſelben Ziel führte. Sie war höchſtens eine Stunde 
alt und deutete auf vielleicht zwölf bis fünfzehn Pferde 
hin. Wir hielten natürlich an. Winnetou ſtieg ab und 
ging zunächſt allein vorwärts, um zu erfahren, mit 
welcher Art Menſchen wir da zuſammentreffen würden. 


Er kam ſehr bald zurück. Hervorragende Weſtmänner 
konnten nicht in dem Wäldchen ſein, denn das Beſchleichen 
ſolcher Leute hätte längere Zeit in Anſpruch genommen. 
Sein Geſicht hatte jenen vornehm ſchalkhaften Ausdruck, 
den man bei ihm ſelten ſah, und der immer ein ſpaß⸗ 
haftes Vorkommnis verhieß. 

„Gefährlich ſind dieſe Leute wohl nicht?“ fragte 
Treskow, als er dieſes Lächeln des Apatſchen ſah. 

„Sogar ſehr gefährlich!“ antwortete dieſer, ſchnell 
ernſt werdend. | 

„Indianer?“ 

„Nein.“ 

„Alſo Weiße. Wieviel?“ 

„Dreizehn.“ 

„Gut bewaffnet?“ 

„Ja, nur der Rote nicht.“ 

„Ah! Es iſt ein Roter dabei?“ 

„Ein gefangener Roter. Darum hat Winnetou ſie 
gefährlich genannt.“ 

„Ah! Wo lagern fie? Iſt es weit von hier?“ 

„Am fenſeitigen Rande des Wäldchens.“ 

„Was mögen ſie wohl ſein? Jäger?“ 

„Dieſe Bleichgeſichter ſind keine Jäger, keine Weſt⸗ 
männer, ſondern Goldſucher. Aber warum fragt Tres 
kow nicht nach dem Wichtigſten?“ 

„Nach dem Wichtigſten? Was wäre das?“ 

„Der Indianer.“ 

„Ah, der! Richtig! Kann man ſehen, welchem 
Stamm er angehört?“ 

„Er gehört keinem Stamm an.“ 

„So! Kennt ihn Winnetou vielleicht?“ 

„Ich kenne ihn. Und meine Brüder kennen ihn 
auch, denn er iſt ein guter Freund von uns.“ | 


— 587 — 


„Ein Indianer? Ein guter Freund von uns? Das 
errate ich nicht!“ 

„Treskow mag Dick Hammerdull fragen, dem ich es 
anſehe, daß er es erraten hat!“ 

Ohne die Frage abzuwarten, antwortete der Dicke 
eifrig: „Ein Indianer, der keinem Stamm angehört, der 
hier im Park von San Luis iſt, und deſſen Freunde wir 
ſind, das, Mr. Treskow, iſt doch leicht zu erraten. 
Das kann nur Kolma Puſchi ſein.“ 

„Alle Wetter! Unſer geheimnisvoller Retter! Und 
den haben die Weißen gefangen genommen? Wir 
machen ihn natürlich los!“ 

„Aber nicht gleich,“ fiel Winnetou ein. „Wir tun, 
als ob wir ihn gar NE kennen; der Schreck ift dann um 
ſo größer.“ 

Ich hatte allerdings erwartet, Kolma Puſchi hier im 
Park zu treffen, doch jetzt noch nicht und nicht als Ge⸗ 
ſangenen. Ich nahm mir vor, mir das als Fingerzeig 
dienen zu laſſen und das, was ich bisher erraten und 
berechnet hatte, nicht mehr allein für mich zu behalten. 
Wir ritten um das Wäldchen herum bis wieder an den 
Bach, wo die Weißen mit ihrem Gefangenen lagerten. 

Als ſie uns kommen ſahen, ſprangen ſie alle auf und 
griffen zu ihren Gewehren. Es waren lauter herunter⸗ 
gelumpte Kerls, denen man alles mögliche, nur nichts 
Gutes zuzutrauen hatte. 

„Good day, Meſch'ſchurs!“ grüßte ich, indem wir 
anhielten. „Wie es ſcheint, lagert ſich's vortrefflich hier. 
Wir hatten auch die Abſicht, uns da für ein Stündchen 
niederzulaſſen.“ 

„Wer ſeid ihr?“ fragte einer. 

„Weſtmänner ſind wir.“ 

„Aber auch Indianer! Das iſt verdächtig. Wir 


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haben ſo einen Kerl hier, der uns beſtohlen hat. Er wird 
wahrſcheinlich ein Utah ſein. Gehören eure Roten zu 
dieſem Stamm?“ 

„Nein; ſie ſind ein Apatſche, ein Komantſche und ein 
Oſage.“ 

„Well; da hat es keine Gefahr. Dieſe Stämme = 
nen ſehr weit von bier, und fo bin ich überzeugt, daß ihr 
euch um den roten Spitzbuben nicht kümmern werdet.“ 

Wir hatten uns einen Spaß machen wollen; als ich 


jetzt aber den Gefangenen genau betrachtete, ließ ich diefen- 


Gedanken ſogleich fallen. Ja, es war Kolma Puſchi, und 
es wäre die größte Rückſichtsloſigkeit von uns geweſen, 
wenn wir ihn nicht ſofort befreit hätten, denn er war in 
einer Weiſe gefeſſelt, die ihm große Schmerzen bereiten 
mußte. Ein Blick von mir hin zu Winnetou genügte, 
dieſen von meiner Abſicht zu verſtändigen. Wir ſtiegen 
alle von den Pferden und hobbelten ſie an. Während 
wir dies taten, hatten die Weißen ihre Gewehre weggelegt 
und ſich wieder niedergeſetzt. Ich trat nahe an fie heran, 
den Stutzen in der Hand, und ſprach die Frage aus: 

„Wißt Ihr genau, Gentlemen, daß Euch dieſer 
Mann beſtohlen hat?“ 

„Natürlich! Wir haben ihn dabei erwiſcht,“ ant⸗ 
wortete der vorige Sprecher. 

„Well, ſo wollen wir uns Euch vorſtellen. Ich heiße 
Old Shatterhand. Hier ſteht Winnetou, der Häuptling 
der Apatſchen, und — — —“ 

„Winnetou?!“ rief der Mann aus. „Alle Wetter! 
Da bekommen wir ja einen hochberühmten Beſuch! Ihr 
ſeid uns willkommen, ſehr willkommen! Setzt Euch 
nieder, Meſch'ſchurs! Setzt Euch nieder, und ſagt, iſt 
das der Henryſtutzen, den Ihr da in den Händen habt, 
Mr. Shatterhand? Und auf dem Rücken der Bärentöter?“ 


— 539 — 


„Ihr ſcheint von meinen Gewehren gehört zu haben. 
Ich will Euch ſagen, Sir, daß Ihr mir ganz gut gefallt; 
nur eins gefällt mir nicht!“ 

„Was?“ 

„Daß Ihr dieſen Indianer gebunden habt.“ 

„Warum ſollte Euch das nicht gefallen? Er geht 
Euch doch gar nichts an!“ 

„Er geht uns ſogar ſehr viel an, denn er iſt ein 
guter Freund von uns. Macht keine Geſchichten, Sir! 
Ich will in aller Freundlichkeit mit Euch ſprechen. Nehmt 
dem Gefangenen die Feſſeln ab! Wer ſein Gewehr hebt, 
wird augenblicklich erſchoſſen!“ 

Als ich das ſagte, richteten ſich alle unſre Läufe auf 
die Goldſucher. Das hatten ſie nicht erwartet! Gut war 
es, daß ſie uns kannten, wenigſtens den Namen nach, 
denn das hatte zur Folge, daß ſie gar nicht daran dachten, 
uns Widerſtand zu leiſten. Der Anführer fragte mich nur: 

„Iſt das Euer Ernſt, Mr. Shatterhand?“ 

„Ja; ich ſcherze nicht.“ 

„Na, ſo haben wir geſcherzt und wollen jetzt damit 
aufhören!“ | 

Er ging zu Kolma Puſchi und band ihn los. Diefer 
ſtand auf, reckte ſeine Glieder, nahm ein auf der Erde 
liegendes Gewehr zu ſich, zog einem der Weißen ein 
Meſſer aus dem Gürtel, kam zu uns her und ſagte: 

„Ich danke meinem Bruder Shatterhand! Das iſt 
meine Flinte und das mein Meſſer; weiter haben ſie mir 
bisher nichts abgenommen. Beſtohlen worden ſind ſie 
von mir natürlich nicht!“ 

„Ich bin überzeugt davon! Was meint mein Bruder 
Kolma Puſchi, was mit ihnen geſchehen fol? Wir wer⸗ 
den ſeinen Wunſch erfüllen.“ 

Laßt fie laufen!“ 


„Wirklich?“ | 

„Ja. Ich befinde mich nur feit einer Stunde in 
ihren Händen; ſie ſind es gar nicht wert, daß man ihnen 
wegen einer Strafe Beachtung ſchenkt. Ich will nicht, 
daß meine Brüder ſich mit ihnen beſchäftigen!“ 

„Ganz kann ich dieſen Wunſch nicht erfüllen; einige 
Worte muß ich ihnen ſagen, ehe wir weiter reiten, denn 
bei ihnen bleiben werden wir ja nicht. Ich will von 
ihnen erfahren, aus welchem Grund ſie einen Indianer, 
der ihnen auf keinen Fall etwas zu leide getan haben 
kann, gefangen genommen und gefeſſelt haben.“ 

„Das kann ich meinem Bruder Shatterhand auch 
ſagen!“ | 

„Nein! Ich will es von ihnen ſelber wiſſen!“ 

Da fuhr ſich derjenige, der geſprochen hatte, mit der 
Hand in die Haare, kratzte ſich vor Verlegenheit und ſagte 
dann: ö 

„Hoffentlich haltet Ihr uns nicht für feige Memmen, 
weil wir uns nicht wehren, Sir! Es iſt nicht Feigheit, 
ſondern Achtung vor ſolchen Männern, wie Ihr ſeid. 
Ich will Euch alles ehrlich ſagen: Wir ſind als Gold⸗ 
fucher hier und haben ganz armſelige Geſchäfte gemacht. 
Dieſer Indianer hält ſich ſtändig hier im Park auf, und 
man weiß von ihm, daß er gute Placers kennt, die er 
aber niemandem verrät. Wir haben ihn feſtgenommen, 
um ihn zu zwingen, uns eine gute Stelle zu ſagen; dann 
wollten wir ihn wieder freilaſſen. So iſt die Sache, und 
ich denke, daß Ihr ſie uns nicht anrechnen werdet. Wir 
konnten unmöglich wiſſen, daß er ein Freund von 
Tuch iſt!“ 

„Schon gut!“ antwortete ich ihm, mich dann mit der 
Frage an Kolma Puſchi wendend: „Iſt es ſo, wie er 
geſagt hat?“ 


— 5411 — 


8 iſt ſo,“ erwiderte dieſer. „Ich bitte, ihnen nichts 
zu tun!“ 

„Well! Wir wollen alſo nachſichtig ſein; aber ich 
hoffe, daß wir auch ferner keinen Grund bekommen, uns 
anders zu verhalten als heut. Wer ein Placer finden 
will, der mag ſich eins ſuchen. Das iſt der beſte Rat, den 
ich Euch geben kann, Gentlemen! Ich bitte Euch, nicht 
eher als nach zwei Stunden von hier aufzubrechen, ſonſt 
gehen unſre Gewehre doch noch los!“ 

Während dieſer meiner Worte hatte Kolma Puſchi 
ſein Pferd beſtiegen, das ſich inzwiſchen bei denen der 
Goldſucher befand, und wir ritten fort, ohne dieſen Leuten 
noch einen Blick zuzuwerfen. Sie waren Menſchen nieder⸗ 
ſten Ranges. 

Um ſo weit wie möglich von ihnen fortzukommen, 
ritten wir, ſo lange es ging, Galopp und hielten dann 
an einem Ort an, der ſich ebenſo wie jenes Wäldchen zum 
Ausruhen eignete. 

Ich war auf Kolma Puſchis Pferd neugierig ge⸗ 
weſen; denn wir hatten es unten am Ruſh⸗Creek nur für 
kurze Zeit zu ſehen bekommen. Es war ein Muſtang von 
vorzüglichem Bau, ſchnell und auch ausdauernd, wie wir 
in dieſer kurzen Zeit ſchon merken konnten. 

Während wir aßen, ſchwieg die Unterhaltung. Die 
Anweſenheit des geheimnisvollen Roten bewirkte das. 
Als ich mein Stück Fleiſch verzehrt hatte und das Meſſer 
wieder in den Gürtel ſteckte, war auch er fertig. Er 
ſtand auf, ging zu ſeinem Pferd, ſchwang ſich in den 
Sattel und ſagte: 

„Meine Brüder haben mir einen großen Dienſt er⸗ 
wieſen; ich danke ihnen! Ich werde mich freuen, ſie ein⸗ 
mal wiederzuſehen.“ 


— 542 — 


„Will mein Bruder ſchon fort?“ fragte ich. „So 
ſchnell?“ 

„Ja,“ antwortete er. „Kolma Puſchi iſt 5 der 
Wind: er muß dahin gehen, wohin er ſoll!“ 

„Warum ſcheut ſich Kolma Puſchi vor uns?“ 

„Kolma Puſchi ſcheut ſich vor keinem Menſchen; 
aber das, was ſeine e iſt, gebietet ihm, allein zu 
ſein.“ 

Es war eine Luſt für mich, Winnetou ins Geſicht 
zu ſehen. Er ahnte, was ich vorhatte, und freute ſich 
innerlich auf die Wirkung, die mein Verhalten hervor- 
bringen mußte. 

„Mein roter Bruder braucht ſich nicht lange mehr 
mit dieſer Aufgabe abzugeben,“ erwiderte ich; „ſie iſt 
bald gelöſt.“ 

„Old Shatterhand ſpricht Worte, die ich nicht ver⸗ 
ſtehe. Ich werde mich entfernen und ſage meinen Brüdern 
Lebewohl!“ 

Schon hob er die Hand, um ſein Pferd anzutreiben; 
da trat ich näher: 

„Well, ſo ſage ich nur noch das Wort: Wenn mein 
Bruder Kolma Puſchi fort muß, ſo bitte ich meine 
Schweſter Kolma Puſchi, daß ſie noch hier bei uns 
bleiben möge!“ 

Ich hatte die beiden Worte Bruder und Schweſter 
ſcharf betont. Meine Gefährten ſahen mich verwundert 
an; Kolma Puſchi aber war mit einem ſchnellen Sprung 
von ihrem Pferde herab, kam zu mir geeilt und rief, faſt 
außer ſich: 

„Was ſagt Old Shatterhand? Welche Worte habe 
ich von ihm gehört?“ 

„Ich habe geſagt, daß Kolma Puſchi nicht mein 
Bruder, ſondern meine Schweſter iſt,“ antwortete ich. 


— 543 — 

„Hältſt du mich etwa für ein Weib?“ 

„Ja.“ 

„Du irrſt, du irrſt.“ 

„Ich irre nicht. Old Shatterhand weiß ſtets, was 
er ſagt!“ 

Da rief ſie, mir beide Hände abwehrend entgegen⸗ 
ſtreckend: „Nein, nein! Diesmal weiß Old Shatterhand 
doch nicht, was er ſagt! Wie könnte ein Weib ein ſolcher 
Krieger ſein, wie Kolma Puſchi iſt!“ 

„Tahua, die ſchöne Schweſter Jä⸗kwehtſi'pas, konnte 
ſchon in ihrer Jugend gut reiten und gut ſchießen!“ 

Da fuhr ſie einige Schritte zurück und ſtarrte mich 
aus weit aufgeriſſenen Augen an. Ich fuhr fort: 

„Kolma Puſchi wird nun wohl noch hier bei uns 
bleiben?“ | 

„Was — — was — — was weißt du — — — 
du von Tahua, und was — — — was — — — was 
kannſt du von J⸗kwehtſi'pa wiſſen?!“ 

„Ich weiß viel, ſehr viel von beiden. Iſt meine 
Schweſter Kolma Puſchi ſtark genug in ihrem Herzen, es 
zu hören?“ 

„Sprich, o ſprich!“ antwortete ſie, indem ſie die Hände 
bittend faltete und ganz nahe zu mir herantrat. 

„Ich weiß, daß IJ⸗kwehtſi'pa auch Wawa Derrick ge⸗ 
nannt wurde.“ 

„Uff, uff!“ rief ſie aus. 

„Hat meine Schweſter einmal die Namen Tibo taka 
und Tibo wete gehört? Iſt ihr die Erzählung vom 
Myrtle⸗wreath bekannt?“ 

„Uff, uff, uff! Sprich weiter, weiter! Sprich ja weiter!“ 

„Ich habe dich zu grüßen von den beiden kleinen 
Babies, die vor Jahren hießen: Leo Bender und Fred 
Bender.“ 


— 544 — 

Da fielen ihr die Arme nieder; es wollte ein Schrei 
aus ihrer Bruſt; ſie brachte ihn aber nicht heraus. Sie 
ſank langſam, langſam nieder, legte die Hände in das 
Gras, grub das Geſicht hinein und begann zu e 
leiſe und doch herzbrechend. 

Man kann ſich denken, mit welchem Erſtaunen meine 
Gefährten uns zugehört hatten, und mit welchem Aus⸗ 
druck ihre Augen jetzt an der Weinenden hingen, der 
ich vielleicht doch zuviel Stärke und Selbſtbeherrſchung 
zugetraut hatte. Da ſtand Apanatſchka auf, trat an mich 
heran und fragte: 

„Mein Bruder Shatterhand hat von Tibo taka, Tibo 
wete und von Wawa Derrick geſprochen. Das ſind Worte 
und Namen, die ich kenne. Warum weint Kolma Puſchi 
darüber?“ | 

„Sie weint vor Freude, nicht vor Schmerz.“ 

„Iſt Kolma Puſchi nicht ein Mann, ein Krieger?“ 

„Sie iſt ein Weib.“ 

„Uff, uff!“ 

„Ja, ſie iſt ein Weib. Mein Bruder Apanatſchka 
mag ſeine Kraft zuſammennehmen und jetzt ſehr ſtark 
ſein. Tibo taka war nicht ſein Vater und Tibo wete nicht 
ſeine Mutter. Mein Bruder hatte einen andern Vater 
und eine andere Mutter — — —“ 

Ich konnte nicht weiter ſprechen, denn Kolma Puſchi 
ſprang jetzt auf, faßte mich bei der Hand und ſchrie, auf 
Apanatſchka zeigend: 

„Iſt das Leo — — — — iſt das etwa Leo 
Bender — — — —?!” 

„Nicht Leo, ſondern Fred Bender, der jüngere Bru⸗ 
der,“ antwortete ich. 

Da wendete ſie ſich zu ihm, brach vor ihm nieder, 
ſchlang beide Arme um feine Knie und ſchluchzte: 


u. — — 


— 545 — 


„Mein Sohn, mein Sohn! Er iſt Fred, mein Sohn!“ 
Da rief, nein, ſchrie mich Apanatſchka an: 

„Iſt ſie — — ſie wirklich meine Mutter?“ 

„Ja, ſie iſt's,“ antwortete ich. 

Da faßte er ſie an, hob ſie empor, ſah ihr in das 
Geſicht und rief: 

„Kolma Puſchi iſt kein Mann, ſondern ein Weib! 
Kolma Puſchi iſt meine Mutter, meine Mutter! Darum 
alſo, darum hatte ich dich gleich ſo ſehr lieb, als ich 
dich erblickte!“ 

Er ſank mit ihr in die Knie nieder, hielt ſie feſt um⸗ 
ſchlungen und drückte ſeinen Kopf an ihre Wange. Winne⸗ 
tou ſtand auf und ging fort; ich winkte den andern; ſie 
folgten mir. Wir entfernten uns, um die beiden allein zu 
laſſen; ſie durften nicht geſtört werden. Aber es dauerte 
nicht lange, ſo kam Apanatſchka zu mir und ſagte in 
eiliger, eindringlich bittender Weiſe: 

„Mein Bruder Shatterhand mag zu uns kommen! 
Wir wiſſen ja nichts, noch gar nichts und haben ſo viel 
zu fragen!“ 

Er führte mich zu Kolma Puſchi zurück, die an der 
Erde ſaß und mir erwartungsvoll entgegenblickte. Apa⸗ 
natſchka ſetzte ſich neben ſie, ſchlang den Arm um ſie und 
forderte mich auf: 

„Mein Bruder mag ſich zu uns ſetzen und uns ſagen, 
auf welche Weiſe er erfahren hat, daß Kolma Puſchi meine 
Mutter iſt! Ich habe Tibo wete ſtets dafür gehalten.“ 

„Tibo wete iſt deine Tante, die Schweſter deiner 
Mutter; ſie wurde in ihrer Jugend Tokbela genannt.“ 

„Das iſt richtig,“ rief die Mutter. „Mr. Shatterhand, 
denkt nach, ob auch alles ſtimmt, was wir von Euch 
erfahren! Ich könnte wahnſinnig werden, wie meine 
Schweſter es iſt, wenn Ihr Euch irrtet; wenn ich jetzt 

May, Old Surehanb. II. 85 


— 646 — 


glaubte, meinen Sohn gefunden zu haben, und er es doch 
nicht wäre! Denkt nach; ich bitte Euch, denkt nach!“ 

Ihre Sprache und Ausdrucksweiſe war jetzt die 
einer weißen Lady; darum verzichtete ich auf die 
indianiſche Art, ſie Kolma Puſchi oder „meine Schweſter“ 
zu nennen, und antwortete: 

„Bitte, mir zu ſagen, ob Ihr Mrs. Bender feid!” 

„Ich bin Tahua Bender,“ antwortete ſie. | 

„So irre ich mich nicht; Apanatſchka ift Euer jüng⸗ 
ſter Sohn.“ 

„Alſo wirklich, Mr. en Gebt mir Be 
weiſe, bitte Beweiſe!“ 

„Ihr fordert Beweiſe? Spricht nicht Euer Herz für 
ihn?“ 

„Es ſpricht für ihn; ja, es ſpricht für ihn! Es 
ſprach ſofort für ihn, als ich ihn zum erſtenmal ſah, als 
er durch den Eingang des Camp geritten kam. Mein 
Herz beteuert mir, daß er mein Sohn iſt, und doch 
zittert es vor Angſt, daß er es vielleicht nicht ſei. Und 
meine Vernunft fordert Beweiſe!“ 

„Ja, was verſteht ihr da unter Beweiſen, Mrs. 
Bender? Soll ich Euch einen Geburtsſchein bringen? 
Das kann ich nicht!“ 

„Das meine ich auch nicht; aber es muß doch andere 
Beweiſe geben!“ 

„Es gibt welche; nur ſind ſie mir in dieſem Augen⸗ 
blick nicht zur Hand. Würdet Ihr Eure Schweſter wieder 
erkennen?“ | 

„Gewiß, ganz gewiß!“ 

„Und Euern Schwager?“ 

„Ich habe keinen Schwager.“ 

„War Tokbela nicht verheiratet?“ 

„Nein. Die Trauung wurde unterbrochen.“ 


— 547 — 


„Durch Euern Bruder, den Padre Diterico?“ 

„Ja.“ 

„Wie hieß der Bräutigam?“ 

„Thibaut.“ 

„Euer Bruder ſchoß auf ihn?“ 

„Ja; er verwundete ihn am Arm.“ 

„So iſt kein Irrtum möglich. Was war dieſer 
Thibaut?“ | 

„Ein Taſchenſpieler.“ 

„Wußte Tokbela das?“ 

„Nein.“ 3 

„Ihr verlangt Beweiſe von mir; die kann ich Euch 
aber nur dann geben, wenn ich die damaligen Verhält⸗ 
niſſe und Ereigniſſe kenne. Ich muß Euch nämlich auf⸗ 
richtig ſagen, daß mein ganzes Wiſſen bis jetzt nur auf 
Vermutungen beruht. Doch darf Euch das nicht ängſtlich 
machen. Apanatſchka iſt Euer Sohn Fred, und ich denke, 
daß Ihr ſehr bald auch ſeinen Bruder Leo ſehen werdet.“ 

„Leo? Mein Himmel! Auch er lebt noch?“ 

„Ja. Er weilt ſogar hier im Park von San Luis. 
Er hat während langer Jahre nach Euch geforſcht, doch 
iſt all ſein Suchen bisher vergeblich geweſen.“ 

„So habt Ihr das, was Ihr wißt, wohl von ihm 
erfahren, Sir?“ 

„Leider nein. Ich weiß kein Wort von ihm, nichts, 
gar nichts, als daß ſein Vater im Zuchthaus geſtorben iſt 
und ſeine Mutter und ſein Oheim auch an dieſem 
traurigen Ort geweſen ſind.“ 

„Das weiß er? Das hat er Euch geſagt? Woher 
weiß er es? Er war damals nur einige Jahre alt! Von 
wem hat er es erfahren?“ 

„Das hat er mir nicht mitgeteilt. Aber ſagt, iſt mit 


— 5498 — 


dem Oheim, der auch im Gefängnis war, Euer Bruder 
J⸗kwehtſi pa gemeint?“ 
„Ja.“ 

„Schrecklich! Er, der Prediger, fol Falſchmünzer 
geweſen ſein?! 

„Leider! Man hatte Beweiſe, die er nicht entkräften 
konnte.“ 

„Aber wie war es möglich, daß man drei Perſonen 
unſchuldig verurteilen konnte? Bei einem einzelnen An⸗ 
geklagten iſt das eher möglich.“ 

„Mein Schwager hatte alles ſo abgefeimt überlegt 
und eingerichtet, daß eine Verteidigung für uns ganz un⸗ 
möglich war.“ 

„Das war ein Bruder Eures Mannes?“ 

„Kein leiblicher, ſondern ein Stiefbruder.“ 

„Hm! Alſo nicht bloß Halbbruder?“ 

„Nein. Er ſtammte von dem erſten Mann meiner 
Schwiegermutter.“ u 

„Wie hieß er?“ 

„Eigentlich Etters, Daniel Etters, doch wurde er 
ſpäter nach ſeinem Stiefvater auch Bender genannt, und 
zwar John Bender, weil der verſtorbene Erſtgeborene 
John geheißen hatte.“ | 

„Von diefen beiden Namen war Euch John Bender 
geläufiger als Dan oder Daniel Etters?“ 

„Ja. Der zweite Name wurde gar nie in Anwendung 
gebracht.“ 

„Ah! Darum ſteht J. B. und nicht das eigentlich 
richtige D. E. auf dem Kreuze!“ 

„Welches Kreuz meint Ihr?“ 

„Das am Grab Euers Bruders.“ 

„Was? So ſeid Ihr ſchon einmal oben beim Grab 
geweſen?“ 


— 549 — 


„Nein.“ 

„Wie könnt Ihr da von dem Kreuz wiſſen?“ 

„Ein Bekannter hat mir davon erzählt. Er hat es 
geſehen und geleſen.“ 

„Wer war das?“ 

„Sein Name iſt Harbour.“ 

„Harbour? Ja, den haben wir gekannt! Alſo der 
iſt oben geweſen?“ 

„Das fragt Ihr mich, Mrs. Bender? Ihr habt 
ihn ja geſehen!“ 

„Ich?. Wer behauptet das?“ 

„Ich behaupte es. Ihr ſeid es doch geweſen, die 
ihn durch das halbe gebratene Bighorn vom Tode des 
Verhungerns errettet hat!“ 

„Vermutung, Sir!“ lächelte ſie. „Alſo er hat Euch 
von dieſem Grab erzählt?“ 

„Ja. Und dieſer ſeiner Erzählung habe ich es zu 
verdanken, daß ich die Tatſachen ſo nach und nach er⸗ 
raten konnte.“ 

„Hat Winnetou mit raten helfen?“ 

„In ſeiner ſtillen, wortloſen Weiſe, ja. Sein Vater 
war ja ein treuer Freund Eures Bruders, der dann plötz⸗ 
lich verſchwunden war.“ 

„Mit mir und Tokbela, ja.“ 

„Darf ich den Grund dieſes plötzlichen Verſchwin⸗ 
dens erfahren?“ 

„Ja. Mein Bruder Derrick — ſein indianiſcher 
Name war J«kwehtſi'paͤ; als Chriſt wurde er Diterico 
oder engliſch Derrick genannt — war ein berühmter Pre⸗ 
diger, hatte aber nicht ſtudiert. Er wollte das nachträg⸗ 
lich tun und ging deshalb nach dem Oſten. Vorher hatte 
ich Bender geſehen und er mich; wir liebten uns; aber 


— 880 — 


ehe ich ſeine Frau werden konnte, hatte ich mir die Kennt⸗ 
niſſe und Umgangsformen der Bleichgeſichter anzueignen. 
Mein Bruder war ſtolz; er wollte nicht wiſſen laſſen, daß 
er noch zu lernen habe. Ich wurde von mehreren roten 
Kriegern zur Squaw begehrt; dieſe wären mir gefolgt 
und hätten Bender getötet. Das ſind die zwei Gründe, 
daß wir von daheim fortgingen, ohne zu ſagen, warum. 
Mein Bruder beſuchte ein Colleg, und ich kam mit Tok⸗ 
bela in eine Penſion. Bender weilte öfters bei uns, und 
eines Tages brachte er ſeinen Bruder mit. Dieſer ſah 
mich und gab ſich von da an alle Mühe, mich Bender 
abtrünnig zu machen. Es gelang ihm nicht, und ſeine 
Liebe zu mir verwandelte ſich in Haß gegen mich. Bender 
war reich, Etters arm; der Arme hatte eine Anſtellung 
im Geſchäft des Reichen; er kannte alle Räume dieſes 
Geſchäfts und alle Möbel, die in dieſen Räumen ſtanden. 
Als wir verheiratet waren, wohnte Tokbela bei uns. Etters 
führte einen jungen Mann bei uns ein, der Thibaut hieß. 
Nach einiger Zeit bemerkten wir, daß Thibaut und Tokbela 
ſich liebten. Bender erfuhr Schlimmes über Thibaut und 
verbot ihm, wiederzukommen. Etters nahm das übel und 
brachte ſeinen Freund doch immer wieder mit; er mußte 
deshalb aus dem Geſchäft treten und durfte uns nun auch 
nicht mehr beſuchen. Beide beſchloſſen, ſich zu rächen.“ 
„Ich ahne! Thibaut war ja Falſchmünzer!“ 

„Ihr vermutet das Richtige, Mr. Shatterhand. 
Eines Tags kam die Polizei zu uns; ſie fand im Kaſſen⸗ 
ſchrank anſtatt des guten Geldes faſt lauter falſches Geld. 
Im Rock meines Bruders war auch falſches Geld ein⸗ 
genäht, und in meinem Zimmer entdeckte man die Platten. 
Wir wurden alle drei verhaftet. Es wurden uns Schriften 
vorgelegt; ſie waren gefälſcht, aber ganz genau nach der 
Hand meines Mannes und meines Bruders; dieſe Schrift⸗ 


— 551 — 


ſtücke bewieſen ihre und auch meine Schuld. Wir wurden 
verurteilt und eingeliefert.“ 

„Und Benders Geſchäft?“ 

„Das wurde von Etters fortgeführt; Bender konnte 
das nicht hindern. Tokbela, meine Schweſter, kam mit 
meinen beiden Knaben in dieſelbe Penſion, in der ich als 
Mädchen geweſen war.“ 

„Schrecklich! Ihr, die an die Freiheit gewöhnte In⸗ 
dianerin im Gefängnis!“ 

„Uff! Man ſchnitt mir das Haar ab; ich mußte das 
Kleid der Verbrecher anziehen und wurde in eine kleine, 
enge Zelle geſteckt. Ich war ſehr unglücklich und ſann 
Tag und Nacht auf Freiheit und Vergeltung!“ 

„ dhibaut machte ſich indeſſen wieder an Eure Schwe⸗ 
ſter Tokbela?“ 

„So iſt es. Sie verſprach ihm, ſein Weib zu wer⸗ 
den, wenn er uns befreie. Er beſtach einen Schließer des 
Gefängniſſes, der mit meinem Bruder floh.“ 

„Warum nicht mit Bender oder Euch?“ 

„„des Goldes wegen. Mein Bruder kannte einige 
Placers; er hatte von dort Gold geholt und es an un⸗ 
ſerm Hochzeitstag Bender geſchenkt. Das wußte Etters. 
Darum befreiten ſie nur meinen Bruder, um Gold von 
ihm oder durch ihn zu bekommen. Als er mit dem 
Schließer floh, nahm er Tokbela und meine Knaben mit. 
Er brachte ſie nach Denver, wo er ſie unter dem Schutz 
des Gefängnisbeamten ließ, während er in die Berge 
ging, um wieder Gold zu holen. Er brauchte dieſes, um 
den Beamten zu belohnen und dann Bender und mich 
auch zu befreien. Der Beamte gründete mit dem Gold, 
das er bekam, ein Wechſelgeſchäft; Tokbela und die Knaben 
wohnten bei ihm; er hatte die Kinder liebgewonnen. Mein 
Bruder aber verließ Denver, um nun auch Bender und 


— 552 — 


mich zu befreien. Es gelang ihm dies nur halb; ich wurde 
frei, aber Bender war aus Gram um ſein verlorenes Glück 
und ſeine geraubte Ehre krank geworden und im Gefängnis 
geſtorben. Derrick brachte mich nach Denver. Dort waren 
inzwiſchen Etters, der Bankrott gemacht hatte, und Thibaut 
eingetroffen. Sie hatten Tokbela durch Lügen dahin ge⸗ 
bracht, Thibauts Frau zu werden. Wir kamen am Hoch⸗ 
zeitstag an und fanden Bräutigam und Braut bereit, ſich 
die Hände zu reichen. Derrick riß der Braut den Myrthen⸗ 
kranz vom Kopf und nun fielen Etters und Thibaut über 
meinen Bruder her; es entſpann ſich ein Kampf, wobei 
Derrick den Thibaut in den Arm ſchoß.“ 

„Das war doch nicht in der Kirche?“ 

„Nein, ſondern in der Wohnung Tokbelas, bei dem 
früheren Gefängnisbeamten, dem jetzigen Bankier.“ 

„Bitte, es kommt mir da ein Gedanke. Hieß dieſer 
Bankier vielleicht Wallace?“ 

„Nein. Wie kommt Ihr auf dieſen Namen, Sir?“ 

„Davon ſpäter. Erzählt weiter!“ 

„Tokbela hatte ſich über unſre Gefangenſchaft gegrämt; 
ſie war krank und ſchwach dadurch geworden. Der Schreck 
über die unterbrochene Trauung und den Kampf dabei 
warf ſie nieder. Sie ſprach irre im Fieber, und aus dem 
Fieber ging ihr Geiſt in den Wahnſinn über. Sie tobte; 
fie war nur dann ruhig, wenn ſich Fred, mein kleinſter 
Knabe, bei ihr befand, den ſie ſehr liebte. Mein Bruder 
tat ſie zu einem Irrenarzt und den Knaben mit, ohne 
den ſie nicht gegangen wäre. Derrick, ich und Leo wohnten 
beim Bankier. Etters und Thibaut waren verſchwunden; 
ſo dachten wir. Das Gold war aufgebraucht, und Derrick 
mußte wieder in die Berge. Ich bat ihn, mich mitzunehmen, 
und er tat es, denn ich war im Reiten und Schießen fo 
gewandt geweſen wie ein roter Krieger. Wir kamen bis 


— 553 — 


zum Devils⸗head, wo wir überfallen wurden. Etters und 
Thibaut waren nicht verſchwunden geweſen; ſie hatten ſich 
verſteckt gehalten, um uns zu beobachten, und waren uns 
gefolgt. Etters, den wir noch ſtets John Bender nannten, 
ſchoß Derrick nieder, und ich wurde im Schreck darüber 
entwaffnet und gebunden. Die Mörder hatten wohl ge⸗ 
glaubt, daß wir ſchon am Placer geweſen wären und Gold 
bei uns hätten. Da ſie keines fanden, waren ſie ſo er⸗ 
grimmt, daß ſie beſchloſſen, mich nicht ſchnell zu töten, 
ſondern langſam verſchmachten zu laſſen. Sie ſcharrten 
meinen Bruder hart am Felſen in die Erde und legten 

mich auf fein Grab. Dort banden fie mich fo feſt, daß 
ich nicht fortfonnte. Ich lag fo drei Tage und vier Nächte 
und war dem Sterben nahe, als Indianer vom Stamm 
der Capote⸗Utahs kamen und mich befreiten.“ 

„Ah! Seltſam! Weiter!“ 

„Dieſe Utahs gaben mir zu eſſen und zu trinken und 
nahmen mich dann mit. Ein junger Krieger unter ihnen, 
Tuſahga Saritſch genannt, wollte mich zu ſeiner Squaw 
machen und ließ mich darum nicht fort von ſich. In den 
Weidegründen der Utahs angekommen, weigerte ich mich, 
ſeine Squaw zu werden. Er wollte mich zwingen; ich aber 
war inzwiſchen wieder ſtark geworden, kämpfte mit ihm 
und beſiegte ihn. Er verzichtete nun gern auf mich, und 
auch kein anderer begehrte mich, denn eine Squaw, die 
Krieger beſiegt, mochte keiner haben.“ 

N „Wie ſteht es jetzt zwiſchen Euch und den Capote⸗ 
Utahs?“ 

„Sie ſind meine Freunde. Tuſahga Saritſch liebt 
mich noch heut, wenn er auch damals auf mich als Squaw 
verzichtete. Ich kann von ihm verlangen, was ich will. 
Die Freiheit gaben ſie mir damals freilich nicht gleich 
wieder; erſt nach zwei Jahren erhielt ich ſie zurück. Ich 


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eilte natürlich ſofort nach Denver. Meine Kinder waren 
verſchwunden. Etters und Thibaut waren zu dem Irren⸗ 
arzt gekommen und hatten ihm unter Drohungen Tokbela 
abverlangt. Sie war mit ihnen gegangen, hatte aber ge⸗ 
tobt, als ſie von Fred getrennt werden ſollte; ſie waren 
alſo gezwungen geweſen, den Knaben mitzunehmen. Auch 
der Bankier war verſchwunden, und zwar mit Leo, meinem 
Sohn. Ich forſchte nach und erfuhr bei dem Sherifß, 
daß einige Tage nach ſeinem Verſchwinden Schutzleute 
gekommen ſeien, um ihn wegen Befreiung eines Gefangenen 
zu verhaften.“ 

„So ſteht zu vermuten, daß er von Etters oder 
Thibaut heimlich angeſchuldigt, aber noch rechtzeitig von 
irgend jemand gewarnt worden iſt. Er hat die Flucht 
ergriffen und jede Spur ſorgfältig verwiſcht.“ 

„Das hat er getan, denn ich habe viele Jahre lang 
ebenſo vergeblich nach ihm wie nach Tokbela geſucht.“ 

„So kann ich Euch zu Eurer Beruhigung ſagen, daß 
er einen andern Namen angenommen und den Knaben 
ſorgfältig erzogen hat. Er, oder nun ſein Sohn, wohnt 
jetzt in Jefferſon⸗City.“ 

„Wirklich? Das wißt Ihr, Sir?“ 

„Ja; ich bin bei ihm geweſen. Doch, erzählt jetzt 
weiter!“ 

„Ich bin ſchnell fertig. Ich ſuchte nach meinen 
Kindern, doch vergeblich. Ich ritt über alle Savannen, 
durch alle Täler; ich forſchte in den Städten und bei 
den Roten; ich fand ſie nicht. Als Frau hätte ich das 
nicht tun können; ich legte Männerkleidung an und bin 
darum bis jetzt ein Mann geblieben. Als alles, alles 
vergebens war, kehrte ich, faſt verzweifelt, zum Devils⸗ 
head zurück. Die Hand Gottes treibt den Mörder wieder 
zur Stätte ſeiner Tat; das wußte ich, und darum it 


— —— > 


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der Himmel dieſes Parks mein Zelt geworden. Der 
Mörder iſt noch nicht gekommen, aber er wird kommen, 
er wird! Ich bin überzeugt davon. Dann wehe ihm! 
Geſtorben kann er noch nicht ſein, denn Gott iſt gerecht; 
er wird ihn mir zuführen, damit ich mit ihm abrechnen 
und ihn beſtrafen kann!“ 

ne Ihr ihn erkennen, wenn er käme?“ 

„Es ſind aber ſo viele Jahre ſeit jener Zeit ver⸗ 
gangen, Mrs. Bender!“ 

„Ich kenne ihn; ich kenne ihn! Und wenn er ſich 
noch ſo ſehr verändert hätte, an ſeinen Zähnen würde ich 
ihn erkennen!“ 

„An ſeinen beiden Zahnlücken in der oberen Zahn⸗ 
reihe?“ 

„Uff! Das wißt Ihr? Ihr kennt ihn alſo auch?“ 

„Ich kenne ihn nicht. Oder, wenn ich richtig ver⸗ 
mute, ſo kenne ich ihn doch! Euer Sohn Leo hat mir 
das von den Zahnlücken geſagt.“ 

„Leo? Ihr habt wirklich mit ihm geſprochen?“ 

„Ja.“ 

„So ſagt, wo befindet er ſich?“ | 

„Hier im Park von San Luis. Ihr werdet ihn 
ſehen, wenn nicht heut ſchon, ſo doch morgen oder über⸗ 
morgen. Und wenn mich nicht alles trügt, ſo treibt Gott 
grad jetzt den Mörder Euch in die Hände. Er iſt nach 
dem Schauplatz ſeiner Tat unterwegs. Thibaut kommt 
mit Tokbela, und Etters iſt ihnen ſchon voran. Uebrigens 
kann ich Euch ſagen, welchen Weg dieſe beiden Kerls da- 
mals mit Tokbela und Leo von Denver aus eingeſchlagen 
haben.“ 

„Das habt Ihr erfahren? Von wem?“ 

„Von Winnetou und Matto Schahko.“ 


— 586 — 


„Sagt es, Mr. Shatterhand; ſagt es mir!“ 

„Sie ſind zu den Oſagen gekommen und haben ſte 
nicht nur um den ganzen Jahresertrag ihrer Jagd be⸗ 
trogen, ſondern auch einige ihrer Krieger ermordet. Dann 
haben ſie ſich getrennt, und Thibaut iſt mit Eurer 
Schweſter und dem Knaben zu den Komantſchen vom 
Stamme der Naiini gezogen. Dort hat er ſich verbergen 
müſſen, weil ſeine Verbrechen an den Tag gekommen 
waren. Er iſt unterwegs von Winnetous Vater am Rand 
des Llano eſtakado gefunden und vom Tod des Ver⸗ 
ſchmachtens errettet worden.“ 

„Das muß ich ausführlicher hören! Die beiden müſſen 
es mir erzählen!“ 

Sie ſprang auf und wollte fort. 

„Wartet, Mrs. Bender!“ bat ich. „Sie können es 
Euch unterwegs erzählen. Wir wollen keine Zeit ver⸗ 
lieren; wir müſſen vorwärts, hinauf nach dem Devils⸗ 
head. Oder ſeid Ihr auch jetzt noch gewillt, Euch von 
uns zu trennen und Euern Weg allein fortzuſetzen?“ 

„Nein, nein! Ich bleibe bei euch.“ 

„So will ich die Gefährten rufen. Wir brechen auf.“ 

Wir waren in kurzer Zeit wieder unterwegs. Kolma 
Puſchi kannte den Weg beſſer noch als Winnetou. Sie 
ritt mit dieſem, Apanatſchka und dem Oſagen voran. Dieſe 
vier pflegten eine Unterhaltung, bei der ich nicht nötig 
war; ich ritt hinter ihnen her. Nach mir folgten die beiden 
Toaſts mit Treskow. Hammerdull war ganz begeiſtert vor 
Verwunderung darüber, daß der geheimnisvolle Indianer 
ſich als eine Squaw entpuppt hatte. Ich hörte ihn hinter 
mir ſagen: 

„Hat man jemals erlebt, daß ein Mann eigentlich 
eine Frau iſt? Aus dieſem Kolma Puſchi, deſſen Mut 
und Liſt wir fo bewundert haben, iſt eine Squaw heraus⸗ 


gekrochen, die man noch mehr bewundern muß als vor⸗ 
her, da ſie noch ein männlicher Indianer war! Was 
meinſt du dazu, Pitt Holbers, altes Coon?“ 

„Nichts!“ antwortete der Lange. 

„Das iſt eigentlich das Richtige. Nichts, gar nichts! 
Wer ſoll da wiſſen, was er dazu zu ſagen hat? Von 
jetzt an halte ich alles für möglich. Jetzt werde ich gar 
nicht erſchrecken, wenn auch mein alter Pitt Holbers 
ſich in eine Squaw verwandelt!“ 

„Wird mir gar nicht einfallen, alter Dick!“ 

„Ob es dir einfällt oder nicht, das bleibt ſich gleich. 
Was willſt du dagegen machen, wenn du plötzlich zu der 
Erkenntnis kommſt, daß du ein heimlich verkleidetes 
Frauenzimmer biſt?“ 

„Ich würde dich augenblicklich heiraten!“ 

„Hallo! Ohne mich erſt zu fragen?“ 

„Ja, ohne dich zu fragen!“ 

„So ließe ich mich nach der Trauung augenblicklich 
wieder von dir ſcheiden!“ 

„Und ich gäbe dich nicht wieder her!“ 

„Das würden wir wohl ſehen! Denkſt du etwa, ich 
würde die Scheidung beantragen, ohne die richtigen 
Scheidungsgründe zu haben?“ 

„Die gibt es nicht!“ 

„Mehr als genug!“ 

„Sag nur einen einzigen!“ 

„Da iſt er gleich: mangelhafte Ernährung; das iſt 
doch einer!“ 

„Siehſt du etwa ſchlecht genährt aus?“ 

„Ich nicht, aber du! Ich gebe an, daß ich meine 
Frau nicht ernähren kann, und wenn man mir das nicht 
glaubt, ſo ſtelle ich dich zur Betrachtung hin. Wer dich 
dann anſieht und immer noch glaubt, daß ich für dich 


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genug zu eſſen habe, der kann ſich einrahmen und als 
Traumbild an die Wand hängen laſſen!“ 

„Was mir an der Fülle fehlt, das gebe ich in der 
Länge zu!“ 

„Was nützt mir eine Frau, die ſo lang iſt, daß ich 
ihr nicht zuweilen den Kopf waſchen kann? Du weißt 
wohl, was ich damit meine?“ 

„Ves!“ 

„Dies Verfahren iſt nämlich zuweilen ſehr notwendig 
bei dir, altes Coon. Du biſt zu Zeiten ein ſolcher Quer⸗ 
kopf, daß man gar nicht mehr weiß, wohin man ihn dir 
zu richten hat.“ 

„Denk du nur an das Baby der grauen Bärenmutter! 
Balgt ſich dieſer dicke Menſch mit einem Grizzly herum, 
als ob er mit ihm eben aus der Schule käme! Man 
ſieht es deiner Haut noch heute an, was für eine würde⸗ 
volle Rolle du dabei geſpielt haſt!“ 

„Ob ich fie geſpielt habe, oder ob fie der Bär ge⸗ 
ſpielt hat, das bleibt ſich ganz gleich, wenn ſie überhaupt 
nur geſpielt worden iſt! Auch iſt es mir ganz unbegreif- 
lich, wie du von unſrer Verheiratung weg auf dieſe Rolle 
kommen kannſt! Sprich lieber von was Beſſerem, zum 
Beiſpiel davon, was wir mit dem General' machen wer⸗ 
den, wenn er in unſre Hände fällt!“ 

„Wir bezahlen ihn mit gleicher Münze. Er wird 
auch in einen Baum geſpannt. Meiner Anſicht nach hat 
er das reichlich verdient.“ ö 

„Da gebe ich dir natürlich recht. Ich werde mit der 
größten Wonne helfen, für ihn einen Baumſpalt herzu⸗ 
richten, in dem er noch viel beſſer ſingen ſoll, als Old 
Wabble, der arme Teufel, in dem ſeinigen geſungen hat. 
Er wird eingeſpannt; es bleibt dabei!“ 

Der Gerechtigkeitsſinn der beiden Freunde hatte 


— 6659 — 


dasſelbe getroffen, was das alte Teſtament und was auch 
das Wüſtengefetz der mohammedaniſchen Beduinen verlangt: 
Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut. Es 
gab außer Hammerdull und Holbers wohl keinen einzigen 
unter uns, der nicht eine Rechnung mit dieſem ſogenannten 
General auszugleichen hatte. Daß er der lang geſuchte 
Dan Etters war, darüber gab es bei mir nicht den gering⸗ 
ſten Zweifel. Das Fehlen der oft erwähnten Zahnlücken 
konnte mich nicht irre machen, da es ja falſche Zähne gibt; 
ſchon bei den alten Aegyptern gab es ſolche. Daß niemand, 
ſelbſt Old Surehand nicht, auf dieſen Gedanken gekommen 
war, erſchien mir verwunderlich. 

Später wurde ich zu Kolma Puſchi gerufen, und ich 
kann ſagen, daß während dieſes Rittes ſo viel geſprochen 
und erzählt, ſo viel gefragt und geantwortet wurde, wie 
wohl ſelten auf einem andern. Darüber verging der 
Nachmittag, und es brach der Abend herein. Wir hatten 
vor, jetzt noch nicht anzuhalten, denn der Mond ſtand am 
Himmel und mußte uns heut, ehe er unterging, eine gute 
halbe Stunde leuchten. Da konnten wir noch reiten. N 

Die Sonne war ſchon längſt verſchwunden, als wir 
in eines der ſanft ausgeworfenen Täler einbogen, die dem 
Park von San Luis die ihm eigentümliche Bodenbewegung 
geben. Da ſahen wir eine Fährte von der Seite her⸗ 
kommen, welche die gleiche Richtung nahm. Die Unter⸗ 
ſuchung zeigte, daß ſie von drei Pferden ſtammte und 
höchſtens eine Stunde alt ſein konnte. Ich dachte ſofort 
an den Medizinmann mit der Squaw und dem Pacpferd. 
Winnetou hatte denſelben Gedanken, wie ich aus dem 
Blick merkte, den er mir zuwarf. 

Wir trieben unſre Pferde mehr an und ritten 
ſchweigend weiter. Winnetou hing, weit vornübergebeugt, 
im Sattel, um ſich die Spuren nicht entgehen zu laſſen, 


— 50 — 


doch waren ſie ſchon nach zehn Minuten nicht mehr zu 
ſehen. Der Schein des Mondes begann zwar zu wirken, 
doch war er zu ſchwach, um unſern Augen beim Leſen 
dieſer Fährte zu Hilfe zu kommen. Ich ſtieg alſo mit 
Winnetou ab. Wir ließen unſre Pferde führen und gingen 
voran, uns von Zeit zu Zeit tief zum Boden niederbückend, 
mob die Eindrücke noch vorhanden ſeien. So verging die 
Zeit, und der Mond wollte untergehen. War es da nicht 
beſſer, jetzt hier zu lagern und die Spur morgen früh 
wieder aufzunehmen? 

Während wir uns mit dieſer Frage noch beſchäftigten, 
bemerkten wir einen Brandgeruch, den uns ein leichter 
Wind entgegenbrachte. Das Feuer, von dem er kam, mußte 
eben jetzt erſt angezündet worden ſein, ſonſt hätten wir 
ihn ſchon eher geſpürt. Wir baten die Gefährten, zu 
warten und gingen leiſe weiter. Es dauerte nicht lange, 
ſo gab es in der Talmulde rechts eine kleine, von Baum⸗ 
wipfeln überſchattete Bucht, in der wir das Feuer brennen 
ſahen. Wir legten uns auf die Erde und krochen näher, 
denn wir ſahen drei Pferde und zwei an dem Feuer 
ſitzende Perſonen. Als wir nahe genug gekommen waren, 
erkannten wir ſie. Winnetou flüſterte: 

„Uff! Der Medizinmann und ſeine Squaw! Nehmen 
wir ihn gefangen?“ | 

„Wie mein Bruder will.“ 

„Wenn wir ihn ergreifen, haben wir ihn zu ſchleppen; 
laſſen wir ihn aber noch laufen, ſo iſt es möglich, daß 
er uns doch noch entgeht. Es iſt alſo beſſer, wenn wir 
ihn feſtnehmen.“ 

Wir ſchoben uns ſo weit an das Feuer heran, wie 
möglich war, ohne daß wir geſehen werden mußten. Die 
Squaw aß, der Mann hatte ſich faul ins Gras geſtreckt. 

„Jetzt!“ ſagte Winnetou leiſe. 


— 5861 — 


Sir ſtanden auf, ſprangen hin und warfen uns auf 
ihn. Er ſtieß einen Schrei aus und bekam meine Fauſt 
zweimal an den Kopf; da war er ſtill. Wir banden ihn 
mit ſeinem eigenen Laſſo; dann ging Winnetou, die Ge⸗ 
fährten zu holen, denn es war bequem, gleich hier an 
dieſem Ort zu übernachten. Sie kamen und ſtiegen von 
ihren Pferden. Die Squaw bekümmerte ſich nicht um 
‚und; fie hatte auch nichts geſagt, als wir ihren Mann 
feſtnahmen. Apanatſchka nahm ſeine Mutter bei der 
Hand, führte ſie an das Feuer, zeigte auf die Squaw 
und ſagte: 

„Das iſt Zibo-tveteselen!“ 

Ellen war nämlich der chriſtliche Name Tokbelas. 

Kolma Puſchi blickte eine ganze Weile ſtumm auf 
die Squaw nieder und ſagte dann mit einem tiefen 
Seufzer: 

„Das fol meine liebliche, meine ſchöne Tokbela ſein?“ 

„Sie iſt es,“ bekräftigte ich. 

„Mein Gott, mein Gott, was iſt da aus der ſchönſten 
Tochter unſeres Volkes geworden! Wie muß da auch ich 
verändert ſein!“ 

Ja, ſie waren beide ſehr ſchön geweſen; aber 
das Alter, das Leben in der Wildnis und der Wahnſinn 
hatten den „Himmel“ — denn Tokbela heißt „Himmel“ — 
ſo entſtellt, daß ihre Schweſter Zeit brauchte, ſie wieder 
zu erkennen. Kolma Puſchi wollte zu ihr niederknieen, 
um ſich mit ihr zu beſchäftigen, da aber ſagte Winnetou 
zu ihr: 

„Meine Schweſter hat den Mann noch nicht an⸗ 
geſehen; ſie mag ſich einſtweilen noch verbergen, denn 
das Bewußtſein wird ihm jetzt zurückkehren. Er ſoll 
nicht gleich bemerken, wer ſich hier befindet. Hinter den 
Bäumen iſt ein Verſteck. Dorthin begebt euch!“ 

Ray, Old Surehand. IL, 86 


9 


— 562 — 


Mit dieſen Worten waren auch die andern gemeint. 
Sie folgten der Aufforderung und verbargen ſich, ſo daß 
Thibaut, wenn er erwachte, nur Winnetou und mich ſehen 
konnte. 

Wir brauchten nicht lange zu warten, ſo bewegte 
er ſich und ſchlug die Augen auf. Als er uns erkannte, 
rief er: f 

„Der Apatſche! Und Old Shatterhandl Uff, uff, 
uff! Was wollt ihr von mir? Was habe ich euch getan, 
daß ihr mich bindet?“ 

„Schweigt mit Euern ‚Uffs‘,” erwiderte ich, „und 
gebärdet Euch nicht immerfort als Indianer! Der Taſchen⸗ 
ſpieler Thibaut hat ſeine Indianerrolle ausgeſpielt!“ 

„Verflucht! Taſchenſpieler?“ 

„Ja, Taſchenſpieler, Fälſcher, Dieb, Gauner, Räuber, 
Falſchmünzer, Mörder und dergleichen. Ihr hört, es iſt 
eine lange Reihe von Koſeworten, die alle vortrefflich auf 
Euch paſſen.“ 

„Dieſen Schimpf ſollt Ihr mir büßen!“ 

„Pshaw! Ihr wolltet wiſſen, warum wir Euch ſchon 
wieder einmal gebunden haben. Ich will es Euch gern 
ſagen: Ihr ſollt nicht zu zeitig zu dem verabredeten Stell⸗ 
dichein erſcheinen.“ 

„Stelldichein? Ihr faſelt wohl? Wo ſollte das ſein?“ 

„Am Devils⸗head.“ 

„Wann?“ 

„Am ſechsundzwanzigſten September.“ 

„Ihr pflegt zwar ſtets gern in Rätſeln zu ſprechen, 
wie ich ſchon erfahren habe, heut aber iſt es mir ganz 
und gar unmöglich, zu erraten, was Ihr meint!“ 

„So will ich nicht ſagen, am ſechsundzwanzigſten 
September, ſondern am Tag des heiligen Cyprian. Das 
werdet Ihr wohl beſſer verſtehen.“ 


3 7 er 


„Cyprian? Was geht mich dieſer Heilige an?“ 

„Ihr ſollt an feinem Namenstag am Devils⸗head 
eintreffen.“ 

„Wer hat das geſagt?“ 

„Dan Etters.“ 

„Donnerwetter!“ fuhr er auf. „Ich kenne keinen 
Dan Etters!“ 

„So kennt er Euch!“ 

„Auch nicht!“ 

„Nicht? Er ſchreibt Euch doch Briefe!“ 

„Briefe? Habe keine Ahnung!“ 

„Briefe auf Leder, die Schrift mit Zinnober gefärbt. 
Iſt das nicht wahr?“ 

„Hole Euch der Teufel! — Ich weiß von keinem 
Brief etwas!“ 

„Er ſteckt in Eurer Satteltaſche.“ 

„Spion! Ich glaube gar, Ihr habt meine Sachen 
durchſucht! Wann war das?“ | 

„Wann es mir beliebte! Nach meiner Berechnung 
würdet Ihr einen Tag vor dem Namensfeſt des heiligen 
Cyprian nach dem Devils⸗head kommen; darum haben wir 
Euch ein wenig feſtgebunden, damit Ihr Euch verweilen 
ſollt. Was wollt Ihr denn ſo zeitig dort! Habe ich recht?“ 

„Ich wollte, Ihr wäret mitſamt Eurem Cyprian da, 
wo der Pfeffer wächſt!“ 

„Ich glaube wohl, daß Ihr das gerne wünſcht, doch 
iſt es mir leider nicht möglich, Euch dieſen Wunſch zu 
erfüllen, denn ich werde anderswo gebraucht. Sagt ein⸗ 
mal, wer iſt denn eigentlich der Wawa Derrick, von dem 
Eure Squaw zuweilen redet? Ich möchte das doch gar 
zu gern erfahren!“ 

„Fragt ſie ſelbſt!“ 

„Iſt nicht nötig! Wawa iſt ein Moquiwort; ich 


— 


vermute alſo, daß ſie eine A iſt und ihren 
Bruder meint.“ 

„Habe nichts dagegen!“ 

„Ich denke aber grad, daß Ihr gegen dieſen Bruder 
etwas gehabt habt.“ 

„Denkt, was Ihr wollt!“ 

„Gegen ihn und gegen die Familie Bender!“ 

„Alle Teufel!“ ſchrie er erſchrocken. 

„Bitte, regt Euch nicht auf! Was wißt Ihr denn 
ſo ungefähr von dieſer Familie? Man ſucht nämlich 
einen gewiſſen Fred Bender.“ 

Er erſchrack ſo, daß er nicht antworten konnte. 

„Dieſer Fred Bender ſoll nämlich von Euch zu den 
Oſagen geſchleppt worden ſein, bei denen Ihr noch eine 
Rechnung ſtehen habt.“ 

„Eine Rechnung? — Ich weiß von nichts!“ 

„Ihr habt da mit dem berühmten „General“ einen 
Handel in Fellen und Häuten errichtet, der Euch, wenn 
er fehlſchlägt, den Kopf koſten kann.“ 

„Ich kenne keinen General!“ 

„Auch ſollt Ihr bei dieſer Gelegenheit mit ihm einige 
Oſagen umgebracht haben.“ 

„Ihr habt eine ungeheure Phantaſie, Mr. Shatter⸗ 
hand!“ 

„O nein! Matto Schahko iſt ja, wie Ihr wißt, 
bei mir. Er hat Euch auch ſchon geſehen, aber nichts 
geſagt, um uns den Spaß nicht zu verderben.“ 

„So macht euch euern Spaß, nur laßt mich in Ruh! 
Ich habe nichts mit euch zu tun!“ 

„Bitte, bitte! Wenn wir uns unſern Spaß machen 
ſollen, dürft Ihr nicht dabei fehlen. Ihr habt ja die 
Hauptrolle dabei zu übernehmen! Nun will ich Euch 
zunächſt jemanden zeigen.“ 


— 565 — 


„Ven?“ 
„Einen Indianer. Bin neugierig, ob Ihr ihn kennt. 
Seht ihn Euch einmal an!“ 

Ich winkte Kolma Puſchi. Sie kam und ſtellte ſich 
vor ihn hin. 

„Seht ihn Euch genau an!“ forderte ich Thibaut auf. 
„Ihr kennt ihn.“ 

Die beiden bohrten ihre Blicke ineinander. In Thi⸗ 
baut dämmerte eine Ahnung auf; das ſah ich ihm an; 
er äußerte aber nichts. 

„Vielleicht kennt Ihr mich, wenn Ihr mich ſprechen 
hört,“ ſagte Kolma Puſchi. 

„Alle tauſend Teufel!“ ſchrie er auf. „Wer — wer 
iſt denn das?“ | 

„Erinnerſt du dich?“ 

„Nein — nein — — nein!“ 

„Denk an den Devils⸗head! Dort ſciedeſt du von 
mir, Mörder!“ 

„Uff, uff! Stehen denn die Toten wieder auf? Es 
kann nicht ſein!“ 

„Ja, die Toten ſtehen auf! Ich bin kein Mann, 
ſondern ein Weib.“ 

„Es kann nicht ſein! Es kann und darf nicht ſein! 
Tahua, Tahua Bender — — —!” 

Er ſchloß die Augen und lag ſtill. 

„Habt auch Ihr ihn erkannt?“ fragte ich Kolma 
Puſchi leiſe. | 

„Sofort!“ nickte fie. 

„Wollt Ihr weiter mit . reden?“ 

„Nein; jetzt nicht.“ 

„Aber mit Eurer Schweſterꝰ⸗ 
a 
Da faßte ich den Medizinmann unter den Armen, 


— 5686 — 


hob ihn empor und ſtellte ihn mit dem Geſicht an den 
nächſten Baumſtamm. Da wurde er angebunden, ohne 


e 


daß er etwas ſagte. Er hatte genug. Das Erſcheinen 


der von ihm Totgeglaubten war ihm durch Mark und 
Bein gegangen. 


Dieſe ſetzte ſich neben ihre Schweſter, und ich war 


bhöchſt neugierig, wie die Wahnſinnige ſich nun verhalten 
werde. Würde ſie ſie erkennen? 

„Tokbela, liebe Tokbela!“ ſagte Kolma Puſchi, in⸗ 
dem ſie die Schweſter bei der Hand ergriff. „Kennſt du 
mich? Erkennſt du mich wieder?“ 

Die Squaw antwortete nicht. 

„Tokbela, ich bin deine Schweſter, deine Schweſter 
Tahua!“ 

„Tahua!“ hauchte die Wahnſinnige, doch ganz aus⸗ 
druckslos. 


„Sieh mich an! Sieh mich an! Du mußt mich doch 


wieder erkennen!“ 

Sie blickte aber gar nicht auf. 

„Sagt den Namen Eures jüngſten Sohnes!“ flüſterte 
ich Kolma Puſchi zu. 

„Tokbela, horch!“ ſagte ſie. „Fred iſt da. Fred Ben⸗ 
der iſt hier!“ 

Da richtete die Irre den Blick auf ſie, ſah ihr lange, 
lange, leider verſtändnislos, in das Geſicht, wiederholte 
aber doch den Namen: 

„Fred Bender — — — Fred Bender!“ 

„Kennſt du Etters, Daniel Etters?“ 

Sie ſchüttelte ſich und antwortete: 

„Etters — — — Etters — — — böſer Mann — 
ſehr böſer Mann!“ 

„Er hat unſern Wawa Derrick ermordet? Hörſt du? 
Wawa Derrick?“ 


— 567 — 


„Wawa Derrick! Wo iſt mein Myrtle⸗wreath, mein 
Myrtle⸗wreath?“ 

„Der iſt weg, fort; aber ich bin hier, deine Schweſter 
Tahua Bender.“ 

Da kam doch ein wenig Leben in das Auge der 
Squaw. Sie fragte: 

„Tahua Bender? Tahua Bender? Das — — das 
iſt meine Schweſter.“ 

„Ja, deine Schweſter! Sieh mich an! Schau mich 
an, ob du mich kennſt!“ 

„Tahua — — Tahua — — — Tolbela, Tokbela, 
die bin ich, ich, ich!“ 
| „Ja, die biſt du! Kennſt du Fred Bender und Leo 
Bender, meine Söhne?“ 

„Fred Bender — — Leo Bender — — — Fred iſt 
mein, iſt mein, mein!“ | 

„Ja, er ift dein. Du hatteſt ihn lieb.“ 


„Lieb — — ſehr lieb!“ nickte ſie, indem ſie freund⸗ 
lich lächelte. „Fred iſt mein Boy. Fred — — — auf 
meinem Arm — — — an meinem Herzen!“ 

„Du ſangſt ihm gern das Wiegenlied.“ 

„Wiegenlied — — — ja, ja, Wiegenlied — — — !“ 


„Dann holte dich unſer Wawa Derrick mit ihm und 
Leo ab, nach Denver. Hörſt du mich? Wawa Derrick 
brachte euch nach Denver!“ 


Dieſer Name erweckte Erinnerungen in ihr, aber 
keine angenehmen. Sie ſchüttelte traurig den Kopf, legte 
die Hand darauf und ſagte: 

„Denver — — Denver — — — da war mein 
Myrtle⸗wreath — in Denver.“ 

„Beſinne dich; beſinne dich! Sieh mich doch an; ſieh 
mich doch an!“ 


ER. — 
u 
2 
en 


8 — | 
Sie legte ihr die Hände an beide Seiten des Kopfes, 
drehte dieſen ſo, daß die Irre ſie anſehen mußte, und 
fügte hinzu: 

„Sieh mich an und ſag meinen Namen! Sag mir 
jetzt, wer ich bin!“ 

„Wer ich bin — — —! Ich bin Tokbela, bin Tibo⸗ 
wete⸗elen!“ 

„Wer biſt du — —?” 

„Wer biſt du — du — du — —?” Jetzt ſah fie 
die Schweſter mit einem Blick an, in dem Bewußtſein 
und Wille lag; dann antwortete ſie: „Du biſt — — — 
biſt ein Mann — — biſt ein Mann.“ 

„Mein Gott, ſie kennt mich nicht, ſie kennt mich 
nicht!“ klagte Tahua. 

„Ihr fordert zu viel von ihr,“ ſagte ich. „Man 
muß abwarten, bis ein lichter Augenblick kommt; dann 
iſt mehr Hoffnung vorhanden, daß ſie ſich beſinnt; jetzt 
aber iſt's vergebliches Bemühen.“ 

„Arme Tokbela, arme, arme Schweſter!“ 

Sie zog den Kopf der Squaw an ihre Bruſt und 
ſtreichelte ihr die faltigen, hohlen Wangen. Dieſe Lieb⸗ 
koſung war für die Unglückliche eine ſolche Seltenheit, daß 
ſie die Augen wieder ſchloß und ihrem Geſicht einen 
lauſchenden Ausdruck gab. Das dauerte aber nicht lange. 
Die Aufmerkſamkeit verlor ſich ſchnell und machte der 
ſeelenloſen Leere Platz, die gewöhnlich auf dieſem e 
zu finden war. 

Da beugte ſich Apanatſchka zu ſeiner Mutter hinüber 
und fragte: 

„War Tokbela ſchön, als ſie jung war?“ 

„Sehr ſchön, ſehr!“ 

„Ihr Geiſt war damals ſtets bei ihr?“ 

Ja.“ | 


„Und war fie glücklich?“ 

„So glücklich wie die Blume auf der Prärie, wenn 
die Sonne ihr den Tau aus dem Angeſicht küßt. Sie war 
der Liebling des Stammes.“ 

„Und wer nahm ihr Glück, ihre Seele?“ 

„Thibaut, der dort am Baume hängt.“ 

„Das iſt nicht wahr!“ rief dieſer, der jedes Wort 
gehört hatte, das geſprochen worden war. „Ich habe 
ſie nicht wahnſinnig gemacht, ſondern Euer Bruder 
iſt's geweſen, als er unſre Trauung unterbrach. Ihm 
müßt Ihr die Vorwürfe machen, aber nicht mir!“ 

Da ſtand Matto Schahko auf, ſtellte ſich vor ihn hin 
und ſagte: 

„Hund, wagſt du noch, zu leugnen! Ich weiß nicht, 
wie die Bleichgeſichter fühlen und wie ſie ſich lieben, aber 
wenn du dieſer Squaw niemals begegnet wäreſt, ſo hätte 
ſie ihre Seele nicht verloren und wäre ſo glücklich geblieben, 
wie ſie vorher war. Es erbarmt mich ihr Auge, und ihr 
Geſicht tut mir weh. Sie kann dich nicht anklagen und 
keine Rechenſchaft von dir fordern; ich werde es an ihrer 
Stelle tun. Geſtehſt du, uns damals betrogen zu haben, 
als wir dich als Gaſt bei uns . hatten?“ 

„Nein!“ 

"Saft du unſre Krieger mit ermordet?“ 

„Nein!“ 

„Uff! Du wirſt meine Antwort auf dieſes Leugnen 
gleich zu hören bekommen!“ 

Der Oſage trat zu uns und fragte: 

„Warum wollen meine Brüder dieſen Menſchen mit 
hinauf nach dem Devils⸗head nehmen? Brauchen ſie ihn 
da oben?“ 

„Nein,“ antwortete Winnetou. 

„So hört, was Matto Schahko euch zu ſagen Bat! 


— 570 — = 


Ich bin mit euch hierher geritten, um zu rächen, was da⸗ 
mals an uns verübt worden iſt. Wir haben Tibo kaka 
gefangen, und wir werden auch den General ergreifen. Ich 
bin bisher zu allem ſtill geweſen. Jetzt weiß ich, daß ich 
den ‚General‘ nicht bekommen kann, weil die Rache andrer 
größer als die der Waſaji iſt. Dafür will ich dieſen Tibo 
taka haben; ja, ich will und muß ihn haben, heut, gleich 
jetzt! Ich will ihn nicht töten, wie man einen Hund ab⸗ 
ſchlachtet. Ich habe geſehen, wie ihr handelt, und daß ihr 
ſelbſt dem, der den Tod verdient, Gelegenheit gebt, 
für ſein Leben zu kämpfen. Er gehört mir; ich ſage es; 
aber er ſoll ſich wehren dürfen! Beratet darüber! Ueber⸗ 
laßt ihr ihn mir, ſo mag er mit mir kämpfen; ſeid ihr 
aber damit nicht einverſtanden und wollt ihn ſchützen, ſo 
erſchieße ich ihn, ohne euch zu fragen. Ich gebe euch eine 
Viertelſtunde Zeit. Tut, was ihr wollt; aber ich halte 
Wort! Soll ich nicht mit ihm kämpfen, ſo erſchieße ich 
ihn! Ich habe geſprochen. Howgh!“ 

Er ging ein Stück zur Seite und ſetzte ſich dort nieder. 
Sein Antrag kam uns ganz unerwartet. Er mußte 
ſehr ernſt genommen werden; denn wir waren feſt über⸗ 
zeugt, daß er jedes ſeiner Worte einlöſen werde. Der Fall 
war ſehr einfach: erlaubten wir den Kampf nicht, ſo 
war Thibaut in einer Viertelſtunde eine Leiche; erlaubten 
wir ihn, ſo konnte er ſich wehren und ſein Leben retten. 
Unſre Verhandlung war alſo kurz; ſie dauerte kaum fünf 

Minuten: der Kampf ſollte ſtattfinden. Thibaut weigerte 
ſich freilich, darauf einzugehen; als er aber merkte, daß es 
dem Oſagen mit dem Erſchießen ernſt war, fügte er ſich. 
In Beziehung auf die Waffen war Matto Schahko ſtolz 
genug, die Wahl ſeinem Gegner zu überlaſſen; dieſer ent⸗ 
ſchied für die Kugel. Es ſollte jeder drei Schüſſe auf 
Winnetous Kommando haben, mehr nicht; die Schüſſe 


— 571 — 


waren zu gleicher Zeit abzugeben, und zwar auf einen 
Abſtand von fünfzig Schritten. 

Ich ſteckte draußen im Tal dieſe Entfernung ab; dann 
wurde an jedem Endpunkt der Linie ein Feuer angezündet, 
damit das Ziel geſehen werden könne. Wir banden 
Thibaut die Hände los; an die Füße bekam er einen 
Riemen, der ihm bequem zu ſtehen, auch langſam zu gehen, 
aber nicht zu fliehen erlaubte. Hierauf gaben wir ihm 
ſein Gewehr und drei Kugeln und führten ihn an ſeinen 
Platz. Wir waren natürlich alle auf dem Plan; nur 
die Squaw war am Lagerfeuer ſitzen geblieben. 

Als Winnetou das Zeichen gab, fielen die beiden 

Schüſſe faſt wie einer; keiner hatte getroffen. Thibaut 
lachte höhniſch auf. 
„Lacht nicht!“ warnte ich ihn. „Ihr kennt den 
Oſagen nicht! Habt Ihr für den Fall Eures Todes einen 
Wunſch? Habt Ihr einen Auftrag, den wir ausführen 
können?“ | 

„Ich wünſche, daß, wenn ich erſchoſſen werde, auch 
euch alle der Teufel holen möge!“ 

„Denkt an die Squaw!“ 

„Denkt Ihr an ſie; mich geht ſie nichts mehr an!“ 

„Well! Jetzt eine Frage: Der ‚General‘ iſt Dan 
Etters?“ 

„Fragt ihn ſelbſt, nicht mich!“ 

Er legte das Gewehr wieder an; Winnetou gab das 
Zeichen und die Schüſſe krachten. Thibaut wankte, griff 
mit der Hand nach der Bruſt und ſank nieder. Winnetou 
beugte ſich zu ihm herab und unterſuchte ſeine Wunde. 
ö „Wie auf zwei Schritte getroffen, genau ins Herz; er 
iſt tot,“ ſagte er. 

Der Oſage kam langſamen Schrittes herbei, ſah ihn 
an, ohne ein Wort zu ſagen, ging zum Lagerfeuer und 


— 572 — 


ſetzte ſich dort nieder. Wir hatten wieder ein Grab herzu⸗ 
ſtellen, eine Arbeit, an die ſich Hammerdull und Holbers 
auf der Stelle machten. Die Squaw ahnte nicht, daß ſie 
jetzt Witwe war; der Verluſt, der ſie betroffen hatte, 
war aber jedenfalls mehr ein Gewinn für ſie. 

Ueber die nun folgende Nacht kann ich hinweggehen; 
es geſchah nichts, was ich erwähnen müßte; am Morgen 
brachen wir ebenſo zeitig wie geſtern auf. Apanatſchka 
ritt neben ſeiner Mutter und ſprach ſehr viel mit ihr, 
doch möchte ich ſagen, falls der Ausdruck geſtattet iſt, daß 
das eine einſilbige Geſprächigkeit war. Er zeigte ſich be⸗ 
drückt. Es war ihm doch nicht gleichgültig, daß Tibo taka, 
den er für ſeinen Vater gehalten hatte, eines ſolchen Todes 
hatte ſterben müſſen. Dieſes Bedrücktſein machte 5 alle 
Ehre! 

Wir befanden uns jetzt aller Vermutung nach am 
Anfang des Endes, und unſer Ritt wurde, je weiter wir 
kamen, deſto gefährlicher. Es war anzunehmen, daß der 
„General“ uns möglichſt viele Fallen gelegt habe, an denen 
wir vorüber mußten. Viele Stellen waren zu Verſtecken 
geeignet, aus denen auf uns geſchoſſen werden konnte; 
aber es geſchah nichts derartiges. Entweder dachte er nicht, 
daß wir heut kämen, oder er hatte ſich den Streich gegen 
uns bis oben an der Foam⸗Kaskade oder am Devils⸗head 
aufgeſpart. 

Um kurz zu ſein, will ich nur bemerken, daß wir 
gegen Abend in der Nähe der Foam⸗Kaskade ankamen. 
Man denke ſich den berühmten Staubbach des Lauter- 
brunner Tals in der Schweiz, nur den Felſen nicht ganz 
ſo hoch und den herabſtürzenden, ſich in Staub auflöſenden 
Bach von dreifacher Stärke, ſo hat man ein Bild von der 
Foam⸗Kaskade im Park von San Luis. Hoch oben die 
Felſen mit Wald gekrönt und auch unten der tiefe Grund 


— 578 — 


faft ganz mit Fels und Wald bedeckt. Es war ein Chaos 
von Steingetrümmer, von einem ſchier undurchdringlichen 
Wipfeldach überwölbt. Sobald wir uns unter dieſem 
Dach befanden, wurde es dämmerdunkel um uns her. 

„Wo geht der Weg von hier nach dem Devils⸗ head?“ 
fragte ich Kolma Puſchi. „Dort haben wir die Utahs zu 
ſuchen.“ 5 
„Hier links durch den Wald und dann die Felſen 
ſehr ſteil hinauf,“ antwortete ſie. „Bereiten euch die 
Utahs Sorge?“ 

„Nein; doch müſſen wir natürlich wiſſen, wo ſie ſind.“ 

„Ich gehöre noch heute zu ihnen und werde mit 
ihnen ſprechen. Wenn ich bei euch bin, habt ihr von ihnen 
nichts zu fürchten.“ 

„Wir fürchten uns, wie geſagt, vor ihnen nicht, aber 
ich möchte mich doch lieber nicht auf Eure Vermittlung 
verlaſſen.“ 

„Warum nicht?“ 

„Sie haben ſchon ſelbſt eine Rache auf uns und hierzu 
dem „General' ihre Hilfe gegen uns verſprochen. Das find 
zwei Mächte gegen uns, während Ihr nur eine, nämlich 
Euern Einfluß, für uns aufbieten könnt. Im beſten Fall 
gibt es eine lange Verhandlung, während der der ‚General‘ 
uns vielleicht gar entkommt. Nein, nein; wir verlaſſen 
uns lieber ganz auf uns ſelbſt!“ n 
N „So kommt! Ich kenne den Wald und jeden einzel⸗ 

nen Felſen und werde euch führen.“ | 

Sie ritt voran, und wir folgten ihr im Indianer⸗ 
marſch wohl eine halbe Stunde lang, bis es ſo dunkel 
wurde, daß wir abſteigen und die Pferde führen mußten. 
Draußen war es wohl erſt Dämmerung, im tiefen Wald 
hier aber ſchon vollſtändig Nacht. So ging es weiter und 
immer weiter, eine ſchier endloſe Zeit, wie uns deuchte. 


— 574 — 


Da hörten wir vor uns das Wiehern eines n und 
hielten an. 

Wem gehörte dieſes Pferd? Das mußten wir wiſſen. 
Die Gefährten mußten ſtehen bleiben, und wir, nämlich 
Winnetou und ich, wie gewöhnlich, gingen weiter. Es 
wurde ſchon nach kurzer Zeit vor uns heller; der Wald 
hörte auf, und nur wenige Schritte davon öffnete ſich die 
Felſenwand, um einen ſchmalen Pfad ſehen zu laſſen, 
der ſehr ſteil emporführte. Das war jedenfalls der Weg 
nach dem Devils⸗head. Auf dem lichten Raum zwiſchen 
ihm und dem Wald lagen die uns nur zu wohlbekannten 
Capote⸗Utahs als Wächter vor dem Felſenſteg. Wenn 
wir nach dem Devils⸗head wollten, mußten wir hierher⸗ 
kommen; das wußten ſie, und darum hatten ſie ſich da 
gelagert, um uns abzufangen. Dieſe kurzſichtigen. Men⸗ 
ſchen! Sie konnten ſich doch denken, daß wir ihnen nicht 
ſchnurſtracks in die Hände reiten, ſondern Erkundung ein⸗ 
ziehen würden! 

Der „General“ war nicht bei ihnen; dafür aber ſahen 
wir jemand, der nicht zu ihnen gehörte, nämlich unſern 
Old Surehand! Es war alſo doch eingetroffen, was wir 
beide uns gedacht und vorhergeſagt hatten: ſie hatten ihn 
wieder feſtgenommen! Warum hatte er uns verlaſſen, an⸗ 
ſtatt nur die kurze Nacht noch zu warten! Ich war in 
dieſem Augenblick zornig auf ihn. 

„Dort ſteht er nun am Baum, feſtgebunden und ein 
Gefangener wie vorher!“ ſagte ich „Mein Bruder mag 
auf mich warten!“ 

„Wohin will Old Shatterhand gehen?“ fragte er. 

„Ich will die Gefährten holen.“ 

„Ihn zu befreien?“ 

„Ja. Und wenn der Häuptling der Apatſchen nicht 
mitmacht, ſo ſpringe ich allein mitten unter die roten 


— 575. — 


Kerls hinein. Dieſe Geſchichte muß ein Ende nehmen. 
Ich habe das ewige Anſchleichen ſatt!“ 

„Uff! Winnetou wird gern mit dabei ſein!“ 

„So werden wir die Pferde in ein Verſteck führen 
und dann kommen. Bleib du einſtweilen hier!“ N 

Ich eilte zurück, denn es war keine Zeit zu verlieren. 
Was wir tun wollten, mußte geſchehen, ſo lange es noch 
hell war. 

Ein Verſteck für die Pferde war bier, wo das Gelände 
aus lauter Verſtecken beſtand, raſch gefunden; wir ließen 
Treskow als Wächter dort und gingen dann zu Winnetou, 
der indeſſen ſeinen taktiſchen Gedanken nachgehangen hatte. 
Die andern wurden, weit auseinandergezogen, in einem 
Halbkreis rund um die Roten aufgeſtellt. Nachdem ſie 
ihre Weiſungen erhalten hatten, konnten wir den Streich, 
der freilich beinahe ein Schwabenſtreich war, beginnen. Ich 
hatte keine Geduld mehr. Mein Zorn wollte und mußte 
ſich betätigen, und Winnetou, der gute, war ſo nachſichtig, 
mich durch Widerſpruch nicht noch mehr aufzubringen. 

Der Häuptling ſaß ganz in der Nähe des Gefangenen. 
Die Roten waren ſtill; keiner ſprach ein Wort. Da waren 
wir beide plötzlich unter ihnen. Winnetou ſchnitt in einem 
Nu die Feſſeln Old Surehands durch, und ich faßte den 
Häuptling mit einer Hand beim Hals und gab ihm die 
andre Fauſt ſo auf den Schädel, daß er zuſammenſank. Die 
Indsmen ſprangen auf, griffen zu den Waffen und erhoben 
ihr Kriegsgeheul. Ich richtete aber ſchon den Lauf des 
Stutzens auf den Kopf des Häuptlings und überbrüllte ſie: 

„Seid ſofort ſtill, ſonſt ſchieße ich Tuſahga Saritſch 
in den Kopf!“ 

Sie ſchwiegen. 

„Rührt euch nicht!“ fuhr ich fort. „Wenn ein ein⸗ 
ziger die Waffe auf uns richtet, iſt es des Häuptlings Tod. 


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Es wird ihm und euch nichts geſchehen, wenn ihr Frieden 
haltet. Ihr ſeid von uns eingeſchloſſen, und wir könnten 
euch niederſchießen; daß wir es dennoch nicht tun wollen, 
wird euch gleich Kolma Puſchi ſagen!“ | 

Die Genannte trat unter den Bäumen hervor. Bei 
ihrem Anblick nahmen die Utahs eine ruhigere Haltung 
an. Sie ſprach zu ihnen ſo, wie es den Umſtänden ange⸗ 
meſſen war, und brachte es zu unſrer Freude ſo weit, daß 
die Roten uns vorläufig ihre Waffen ablieferten. Ihr 
Einfluß war wirklich größer, als ich gedacht hatte. Den 
Häuptling banden wir. 

Das erſte war natürlich, daß wir nach dem „General“ 
fragten. Er war nach dem Devils⸗head geritten und 
wollte morgen am Vormittag wiederkommen. Dennoch 
ſchickte ich ſofort den Oſagen ein Stück den Felſenpfad 
hinan, um dieſen zu bewachen und dafür zu ſorgen, daß 
wir nicht von Douglas⸗Etters überraſcht würden. Dieſer 
mußte durch den Engpaß kommen, weil es, wie Kolma 
Puſchi ſagte, keinen andern Weg gab. | 

Man kann ſich denken, was der Häuptling für Augen 
machte, als er wieder zu ſich kam und Old Surehand 
frei, ſich aber gebunden ſah! Ich hatte dafür geſorgt, daß 
er für unſere Sache gewonnen wurde. Kolma Puſchi ſaß 
bei ihm und klärte ihn auf. Sie erzählte ihm, was der 
„General“ alles an ihr verbrochen hatte, denn ich war nun 
gezwungen geweſen, ihr zu verſichern, daß dieſer kein an⸗ 
derer als Dan Etters ſei. Sie ſagte ihm auch, daß ſein 
jetziger Verbündeter damals ihren Bruder erſchoſſen und 
ſie auf deſſen Grab feſtgebunden habe. Damit gewann ſie 
ihn ſchon mehr als halb für ſich und uns: als ſie ihm aber 
in meinem Auftrag mitteilte, daß wir eigentlich gekommen 
ſeien, den ſchauderhaften Tod Old Wabbles und der 
Tramps an den Utahs zu rächen, von dieſer Rache aber 


Bi 


abſehen würden, falls fie ſich von dem General ab- und 
uns zuwendeten, da erklärte er ſo laut, daß wir es alle 
hörten: 


„Wenn ihr uns das verſprecht, werden wir ihn nicht 
länger beſchützen; aber wir haben ihm verſprochen, ſeine 
Brüder zu ſein, und darauf habe ich das Kalumet mit 
ihm geraucht; darum iſt es uns verboten, ſeine Feinde 
zu ſein. Es iſt uns alſo nur möglich, das zu tun, was 
ich euch jagen werde: Wir entfernen uns jetzt gleich von 
hier und ziehen durch den Wald zurück bis in den Park 
hinaus; am Morgen reiten wir dann weiter. Ihr ſeid 
alſo Herren dieſes Wegs, auf dem er kommen muß, und 
könnt ihn ergreifen und mit ihm machen, was euch beliebt. 
Tuſahga Saritſch hat geſprochen. Howgh!“ 

Weder Winnetou noch ich glaubte, ihm ganz trauen 
zu dürfen, aber Kolma Puſchi ſtand für ihn ein, und ſo 
bedachten wir uns nicht lange und nahmen ſeinen Vor⸗ 
ſchlag an. Noch war keine halbe Stunde vergangen, ſo 
zogen ſie, ihre Pferde führend und mit Feuerbränden in 
den Händen, durch das Dunkel des Waldes ab, und wir 
gaben ihnen Kolma Puſchi mit, die uns nach ihrer Rück⸗ 
kehr meldete, daß die Utahs wirklich fort ſeien und keine 
hinterliſtige Abſicht gegen uns hegten. Nun löſchten wir 
das Feuer aus und legten uns ſchlafen; die Wache im 
Engpaß wurde aber die ganze Nacht unterhalten. Old 
Surehand ſchien, ohne gefragt zu werden, uns nicht ſagen 
zu wollen, wie er wieder in die Hände der Utahs geraten 
war; wir aber wollten ihn nicht durch Fragen kränken, 
und ſo wurde die Sache totgeſchwiegen. 
| Wir warteten faſt den ganzen Vormittag, ohne daß 
der General kam; da ſtieg der Gedanke in uns auf, daß 
wir von den Utahs belogen worden ſeien. Es war ja 

May, Old Surehand. II. 37 


— 578 — 


möglich, daß er gar nicht nach dem Devils⸗head geritten 
war. Es blieb uns keine andere Wahl: wir mußten hin. 

Es war das zu Pferde ein außerordentlich ſchwieriger 
Weg. Harbour hatte recht gehabt, als er ihn als ſolchen 
beſchrieb. Es ging immer zwiſchen ganz engen Felſen⸗ 
wänden oder an Abgründen hin, Kolma Puſchi als 
Führerin voran. Wir mußten die größten Anforderungen 
an unſre Pferde ſtellen. Wir waren ſchon über zwei 
Stunden ſo geritten, als Kolma Puſchi ſagte, daß es nur 
noch eine gute halbe Stunde dauern werde. Kaum hatte 
ſie das geſagt, fo errönte vor uns ein Ruf. Wir ſahen 
einen Reiter, der um eine Biegung herum uns entgegen⸗ 
kam; es war der General. Sein erſter Ruf hatte unſrer 
Führerin gegolten, an der ſein Auge voll Entſetzen hing. 
Dann erblickte er mich, der ich hinter ihr ritt. 

„Alle tauſend Donnerwetter, Old Shatterhand!“ 
ſchrie er auf. | | 

Er lenkte fein Pferd um, wozu er grad noch Raum 
hatte, und verſchwand. 

„Ihm nach! Raſch, ſchnell! Was das Pferd laufen 
kann!“ rief ich Kolma Puſchi zu. „Wenn er uns jetzt 
entkommt, ſehen wir ihn nie wieder!“ 

Sie ſpornte ihr Pferd an, und nun begann eine ſo 
halsbrecheriſche Jagd, daß mir noch jetzt grauſt, wenn 
ich daran denke. Wir waren hinter ihm; aber er trieb 
ſein Pferd zu raſender Eile. Bald ſahen wir ihn und 
bald nicht, je nachdem der Weg in gerader Richtung ging 
oder ſich krümmte. Winnetou folgte mir. Noch nicht 
eine Viertelſtunde hatte dieſe Hetze gedauert, ſo öffnete 
ſich der Engweg auf einen breiten Querpaß. Der General 
lenkte rechts um. Kolma Puſchi folgte ihm, drehte ſich 
aber um und rief mir zu: 

„Einige nach links, ihm entgegen!“ 


ut I67G a 


Ich lenkte alſo nach dieſer Richtung und bedeutete 
Winnetou: 

„Du wieder rechts! Wir zwei ſind genug!“ 

Die beiden Wege führten, wie aus Kolma Puſchis 
Verhalten zu ſchließen war, ſpäter jedenfalls wieder zu⸗ 
ſammen, und ſo mußten wir den Flüchtling zwiſchen uns 
bekommen. Ich ritt ſo ſchnell, wie der Weg es erlaubte, 
wieder zwiſchen Felſen hin, die höher und immer höher 
wurden, und nahm, um für alles gerüſtet zu ſein, den 
Stutzen in die Hand. 

Jetzt erreichte ich eine Stelle, wo links ein tiefer 
Abgrund gähnte und rechts eine tief eingeſchnittene, natür⸗ 
liche Schneiſe faſt gradlinig in die Höhe führte. Da 
hörte ich den Galopp eines Pferdes, das mir entgegen⸗ 
kam. Es erſchien um die Rundung; der Reiter war der 
General. Er ſah den Abgrund an der Seite, mich mit 
dem Gewehr vor ſich und ſtieß einen gräßlichen Fluch 
aus. Faſt noch im Galopp, warf er ſich vom Pferd 
herunter und ſprang in die Schneiſe. Ich konnte ihn 
erſchießen, wollte ihn aber lebendig haben. Da erſchienen 
auch zunächſt Winnetou und Kolma Puſchi, die, wie auch 
ich, ihre Pferde zügelten. 

„Hier hinauf iſt er!“ rief ich. „Kommt nach, kommt 
nach!“ 

„Das iſt das Devils⸗head,“ antwortete Kolma Puſchi. 
„Da gibt es keinen andern Weg als dieſen. Er iſt unſer!“ 

Nun ging ein Klettern los, das einem Gemsjäger 
Ehre gemacht hätte. Der General war uns nur wenig 
voraus. Sein Gewehr hinderte ihn; er warf es fort. 
Ich hatte nur den Stutzen übergehängt, den Bärentöter 
aber unten gelaſſen. So arbeiteten wir uns höher und 
immer höher. Die Schneiſe wurde enger und hörte da 
auf, wo ein ſchmaler Steinſims ſeitwärts führte. Auf 


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dieſem klimmte der General weiter; ich folgte ihm. Immer 
ſchwindelnder wurde der Pfad. Der Sims hatte eine Unter⸗ 
brechung; es galt einen Sprung von faſt Manneslänge. 
Der Flüchtling wagte ihn in ſeiner Angſt; er erreichte 
auch den jenſeitigen Stein; aber dieſer hing nicht feſt 
mit der Felſenmauer zufammen; er brach los und ſtürzte, 
verſchiedentlich aufpolternd, mit dem General in die Tiefe. 
Ich wendete mich zurück. 

„Kehrt um; er iſt abgeſtürzt!“ rief ich den beiden zu. 


Nun ging es mit ebenſo großer Haſt den Weg zurück, 


auf dem wir heraufgeklettert waren. Unten angekommen, 
ſprangen wir auf die Pferde und jagten zurück. Nach 
kurzer Zeit ſchon ſahen wir unſre Kameraden. Sie ſtanden 
bei einem Haufen abgeſtürzter Felſentrümmer. Der Stein 
hatte andre, noch viel größere, auch nicht feſt eingefügte 
Stücke, mit herabgeriſſen, und unter dem größten dieſer 
Stücke, das ſicher vierzig Zentner wog, lag der General. 
Sein Oberkörper, von den Rippen an, war frei; die 
untere Hälfte lag unter dem Stein, jedenfalls zu Mus 
zermalmt. Er fühlte jetzt nichts; er hatte das Bewußt⸗ 
ſein verloren. 

„Mein Himmel!“ rief ich aus. „Genau wie Old 
Wabble! Der Unterleib eingepreßt! Welch eine Ver⸗ 
geltung!” 

„Und hier! Seht her!“ ſagte Kolma Puſchi, indem 
ſie auf die Felswand deutete. „Was ſeht Ihr da? Was 
ſteht da zu leſen, von meiner Hand eingegraben?“ 

Wir ſahen Figuren, zwiſchen ihnen ein Kreuz, und 
unter dieſem ſtand zu leſen: An dieſer Stelle wurde 
der Padre Diterico von J. B. aus Rache an ſeinem 
Bruder E. B. ermordet. Darunter war eine Sonne mit 
den Buchſtaben E. B. zu ſehen. Es lief mir kalt über 
den Rücken. Ich fragte Kolma Puſchi: 


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„Iſt das das Felſengrab?“ 

„Ja. Dieſe Unterſchrift iſt mein Name E. B. Emily’ 
iſt nämlich mein chriſtlicher Name. Dieſer Mann liegt 
grad auf dem Grab meines Bruders, genau da, wo er 
mich damals feſtgebunden hat, und wo ich im Kampf 
mit ihm meinen Trauring verlor.“ 

„Einen Trauring? Iſt es dieſer?“ 

Ich zog den Ring vom Finger und reichte ihn ihr. 
Sie ſah ihn an, las die innere Schrift und rief jubelnd 
aus: 

„E. B. 5. VIII. 1842. Er iſt's; er iſt's! Meinen 
Ring habe ich wieder, meinen Ring! Wo habt Ihr ihn 
her, Mr. Shatterhand?“ 

„Dem General abgeſtreift, als er in Helmers Home 
am Rande des Llano eſtakado fünfzig Hiebe aufgezählt 
bekam.“ 

„Welch ein Zufall, — welch ein Zufall!“ 

„Das iſt kein Zufall,“ ſagte da Old Surehand. „Wer 
hier nicht zu der Erkenntnis kommt, daß es einen Gott 
gibt, und wer hier nicht glauben und nicht beten lernt, 
der iſt ewig verloren! Ich glaubte und betete lange, 
lange Jahre nicht mehr; jetzt habe ich es aber wieder 
gelernt.“ 

„Die Belohnung wird auch gleich folgen,“ ſagte ich. 
„Sagt mir nun endlich einmal aufrichtig, ſeit wann Ihr 
nicht mehr gebetet habt!“ 

„Seit mein Pflegevater Wallace mir erzählte, was 
ſich in meiner Familie ereignet hat. Seit jener Zeit ſuche 
ich nach meiner Mutter, nach ihrem Bruder und ihrer 
Schweſter.“ 

„Und warum ſeid Ihr jetzt hier heraufgekommen?“ 

„Es wurde bei Wallace ein Brief für mich abgegeben, 
der mich für den ſechsundzwanzigſten September nach dem 


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Devils⸗head beſtellte; ich ſollte aber keinem einzigen b 
ſchen etwas davon ſagen.“ 

„Dieſer Brief war ſicher von dem General hier. Er 
hat Euch im Llano erkannt und nach Euch geforſcht. Er 
wollte Euch verderben; er lockte Euch hierher, wahrſchein⸗ 
lich um Euch zu ermorden.“ 

„Dieſer General hier? Was hat denn der mit dieſen 
Angelegenheiten zu tun?“ 

„Dieſer General iſt Dan Etters, den Ihr ſuchtet.“ 

„Dan Etters — — —21 Herrgott, iſt's wahr?“ 

„Ja. Ich kann es Euch ſogleich beweiſen. Ihr habt 
doch auch gute Weſtmannsaugen. Seht doch N Mund! 
Er ſteht weit offen, und hier — — —!” 

Ich griff dem Zermalmten in den Mund und zog 
die künſtliche Gaumenplatte mit zwei Oberzähnen heraus. 

„Das ſind falſche Zähne,“ fuhr ich fort. „Seht Ihr 
nun die Zahnlücken?“ 

Welch ein Erſtaunen gab das jetzt! Ich ließ ſie aber 
nicht zu Worte kommen und fuhr fort: 

„Ich ſprach davon, daß der Lohn für Eure Um⸗ 
wandlung ſchon gegeben ſei. Ihr heißt Leo Bender, und 
hier ſteht Eure Mutter.“ | 

Die hierauf folgende Szene iſt unmöglich zu ſchildern. 
Ich wurde umdrängt, gefragt, gedrückt — — —; ich floh 
davon und blieb fort, bis ich einen langgezogenen, ganz 
entſetzlichen Schrei hörte, der mich zurücktrieb. Dan Etters 
war zur Beſinnung gekommen und ließ ein markerſchüt⸗ 
terndes Brüllen hören. Es war mit ihm kein Wort zu 
reden; er hörte nicht. Er ſchrie und brüllte, jammerte 
und ſtöhnte. Es war nicht auszuhalten. Wir mußten 
uns entfernen. Geholfen konnte ihm nicht werden, denn 
es war vollſtändig unmöglich, den Fels zu heben, um 
den Mann darunter hervorzuziehen. Er mußte an Ort 


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und Stelle ſterben, grad ſo, wie er da lag, am Schau⸗ 
platz ſeiner Mordtat. Später, als wir ihn nicht mehr 
hörten, gingen wir wieder hin. Da hatte er die Zähne 
feſt zuſammengebiſſen und ſtarrte uns mit unbeſchreiblich 
tieriſchen, nein, viehiſchen Augen an. 

„Dan Etters, hört Ihr mich?“ fragte ich ihn. 

„Old Shatterhand! — Sei verdammt!“ antwor⸗ 
tete er. 

„Habt Ihr einen Wunſch?“ 

„Verdammt in alle Ewigkeit, du Hund!“ | 

„Der Tod hält Euch gepackt. Ich möchte mit Euch 
beten!“ 

„Beten? Hahahahahal Willſt du nicht lieber — —“ 

Es war gräßlich, unmenſchlich, was er ſagte! 

Ich fragte trotzdem weiter; andre fragten, baten, 
ermahnten und warnten ihn. Er hatte nur Flüche und 
Läſterungen zur Antwort. Um nicht das Allerſchlimmſte 
hören zu müſſen, gingen wir fort. Da begann er, wieder 
zu brüllen. Was für Schmerzen mußten das ſein, die 
ihm ein ſolches Geheul entlockten! Und doch ließ er ſich 
nicht durch ſie zur Reue führen. 

Wir nahmen unſer Lager ſo weit von ihm, daß wir 
ſein Geſchrei nur wie ein fernes Windsgeheul hörten. 
Dort wurde nun erzählt, den Reſt des Nachmittags, den 
Abend und die ganze Nacht hindurch; wovon und worüber, 
das läßt ſich ja denken. Es gab noch gar manche Frage 
und manches Rätſel; aber derjenige, der ſie löſen und 
beantworten konnte, war teufliſch genug, uns alle Aus⸗ 
kunft zu verweigern, Dan Etters nämlich. Er wurde 
des Abends und auch in der Nacht öfters aufgeſucht 
aber wir erhielten nur Flüche und höhniſches Gelächter 
zur Antwort. Sogar mit Waſſer erquicken ließ er ſich 
nicht; als ich es zu tun verſuchte, ſpie er mir ins 


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Geſicht. Dann brüllte und heulte und läſterte er wieder 
längere Zeit, bis wir am Morgen fanden, daß er 
geſtorben war, geſtorben nicht wie ein Menſch, ſondern 
wie — wie — wie, es fehlt mir jeder Vergleich; es kann 
kein toller Hund, nicht das allerniedrigſte Geſchöpf 
ſo verenden wie er. Wir haben ihn liegen laſſen, 
ſo wie er lag, und einen Steinhügel darüber gehäuft. 
Kann Gott ſeiner armen Seele gnädig ſein? Vielleicht 
doch — doch — — doch — — — doch! 

Und nun das Ende, lieber Leſer? Ich weiß, du 
möchteſt recht ausführliche Auskunft über jede einzelne 
Perſon haben, aber wollte ich ſie dir geben, ſo würde 
ich mir vorgreifen und mich um die Freude bringen, dir 
in einem der folgenden Bände noch mehr von ihnen er⸗ 
zählen zu können. Nur über Tokbela muß ich dich be⸗ 
ruhigen. Ihr Wahnſinn iſt in eine ſtille Melancholie 
übergegangen, die ſie nicht hindert, an allem, was ihre 
Umgebung betrifft und bewegt, innigen Anteil zu nehmen. 
„Ihr Geiſt iſt wieder bei ihr.“ 

Und Dick Hammerdull und Pitt Holbers? Dieſe 
beiden lieben Kerle ſind — — — doch ob ſie ſind, oder 
ob ſie nicht ſind, das iſt ja ganz gleich, wenn ſie nur 
noch find! — — — 


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