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Full text of "Das Vermächtnis des Inka. Erzählung aus Südamerika"

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Karl May's 
Geſammelte Werke 


— — Band 39 munmmnmmun 
Das Vermächtnis des Inka 


Karl⸗May⸗Verlag 
Radebeul bei Dresden 


Das 
Vermächtnis des Inka 


Erzählung aus Südamerika 


von 


Karl May 


II 


Karl⸗May⸗Verlag 
Radebeul bei Dresden 


938 
A ! 4 5 U 
. Inhalt 

Seite 
1. Der Eſpadzt ae R 1 
2. Corrida de toroos 2.0. . . . 38 
8. „Vater Jaguar > rk 63 
4. Eine neue Bebanntfchaft - - - 2 2 222 nn 81 
5. Ein Pamparitt 00 0 nenn 132 
6. Der Letzte der Inkas 193 
7. Eine nächtliche Befreiunn zz 214 
8. Die Blutegel des Don Parmeſa n 242 
9. Auf dem Kriegspfadu. 279 
10. Vater Jaguars Erzählunnn U n 323 
11. Bei den Cam bas 816 
12. Den Krokodilen zur Beute - » 2. r 382 
13. Des Stierkämpfers Geheimniss 414 
14. Ein Urwald kame 433 
15. Doktor Morgenſtern am Ziel 465 
16. Die Säfte des Senor Sererere nn 498 
17. Unerwartete Begegnungen 512 
18. Das Vermächtnis des Inkl. 539 


Alle Rechte, insbeſondere das Recht der Überſetzung, Verfilmung. 
Rundfunkſendung, vorbehalten 
Copyright 1892 by Karl⸗May⸗Verlag, Radebeul bei Dresden 


Zur Verfolgung des Reiſewegs dieſer Erzählung dient unfre 
Landkarte „Beiderſeits vom Aquator“, auf der alle in dem 
Werk erwähnten Orte, Flüſſe, Berge uſw. eingezeichnet ſind. 


Deu der Spamer A.-. in Leipzig 


* 1 7 
R SS). MAULCA 


T N De 


Erſtes Kapitel. 
Der Eipada. 


„Corrida de toros, corrida de toros!“ ertönte es 
aus dem Munde der Ausrufer, welche, mit bunten 
Schleifen und Bändern geſchmückt, die rechtwinklig ſich 
kreuzenden Straßen von Buenos Aires durchzogen. 
Corrida de toros war das Thema, das ſeit mehreren 
Tagen alle Blätter der Stadt ausführlich behandelten, 
und Corrida de toros bildete den Gegenſtand des Ge⸗ 
ſprächs in allen öffentlichen und Privatlokalen. 

Corrida de toros, zu deutſch Stiergefecht, iſt ein 
Wort, das jeden Spanier und jeden, dem ein Tropfen 
ſpaniſchen Blutes in den Adern fließt, zu begeiſtern 
vermag. Er bekümmert ſich nicht um die Einwände, 
welche die Gegner dieſer ſeiner Lieblingsvergnügung 

Hvorbringen, um zu beweiſen, daß ſie nicht nur mora⸗ 
G liſch, ſondern auch anderweit verwerflich iſt; er eilt zur 
3 Arena, um der Tierquälerei aus voller Kehle zuzu⸗ 
= jauchzen, und gerät vor Entzücken gar außer ſich, 
a wenn ein mannhafter Stier einem Pferd den Leib auf⸗ 
5 ſchlitzt oder einen der Toreadores auf die Hörner ſpießt. 
Ja, Corrida de toros! Wie lange hatte man in 
Buenos Aires kein Stiergefecht geſehen; ſeit welcher 
Zeit war in der Plaza de toros das Wiehern der Pferde, 
das Brüllen der Stiere, das Geſchrei der mu und 
May, Das Vermächtnis des Inka. 


— 2 — 


das Jauchzen der Zuſchauer nicht mehr vernommen 
worden! Es war eine ganze lange Reihe von Jahren 
her, ſeit das letzte Stiergefecht ſtattgefunden hatte. Und 
daran waren die leidigen politiſchen Verhältniſſe des 
Landes ſchuld. 

Der Krieg, in welchen Lopez, der Diktator von Pa⸗ 
raguay, die argentiniſche Konföderation gezogen, hatte 
der letzteren bis jetzt vierzig Millionen Dollars und 
fünfzigtauſend Menſchenleben gekoſtet, ganz abgeſehen 
von den zweimalhunderttauſend Opfern, welche die in⸗ 
folge des Krieges eingeſchleppte Cholera noch forderte. 
Da war an Vergnügungen nicht zu denken geweſen. 
Das argentiniſche Heer befand ſich gegen Lopez ſtets im 
Nachteil; in voriger Woche aber hatte es einen bedeu⸗ 
tenden Erfolg errungen. Dieſer wurde in Buenos 
Aires durch Illumination und feſtliche Umzüge ge⸗ 
feiert, und um ſich bei der Bevölkerung beliebt zu 
machen, ergriff der neu erwählte Präſident Sarmiento 
dieſe Gelegenheit, die Erlaubnis zu einem Stiergefecht 
zu erteilen. 

Obgleich es zur Vorbereitung nur wenig Zeit ge⸗ 
geben hatte, waren zufälligerweiſe günſtige Umſtände 
eingetreten, welche erwarten ließen, daß dieſe Corrida 
de toros eine ungewöhnlich feſſelnde ſein werde. Buenos 
Aires beſaß nämlich ſelbſt mehrere Stierkämpfer, die 
ſich einen Namen erworben hatten und noch von keinem 
toro (Stier) geworfen worden waren. Voller Eifer⸗ 
ſucht gegeneinander, brannten ſie darauf, zu entſcheiden, 
welcher von ihnen der geſchickteſte ſei. Da meldete ſich 
ein Fremder, ein Spanier aus Madrid, der ſeit einigen 
Tagen im Hotel Labaſtie wohnte, und bat um die Er⸗ 
lanbnis, ſich mit um den Preis bewerben zu dürfen. 
Als er ſeinen Namen nannte, waren die Herren des Ko⸗ 


8 


mitees mit Freuden bereit, ihre Einwilligung zu er⸗ 
teilen, denn dieſer Mann war kein andrer als Sedor 
Cruſada, der berühmteſte Eſpada im ganzen ſpaniſchen 
Königreich. 

Die Kunde davon war geeignet, die Einwohner⸗ 
ſchaft der Stadt in Erregung zu verſetzen, und doch ſollte 
es noch viel beſſer kommen. Es meldeten ſich nämlich 
noch zwei Señores, deren Anerbietungen dieſe Erregung 
auf das höchſte ſteigerten. Der eine war der Beſitzer 
großer Viehherden. Er hatte vor einiger Zeit unter be⸗ 
deutendem Koſtenaufwand mehrere nordamerikaniſche 
Biſons kommen laſſen, um zu verſuchen, ob eine Kreu⸗ 
zung derſelben mit der einheimiſchen Rinderraſſe zu er⸗ 
zielen ſei; aber dieſe mächtigen Tiere hatten ſich als ſo 
wild und unzähmbar erwieſen, daß er zu dem Entſchluß 
gekommen war, ſie erſchießen zu laſſen. Er erbot ſich, 
den ſtärkſten dieſer Biſons koſtenfrei zum Stiergefecht zu 
liefern. Der andre Senor war Beſitzer einer Hacienda 
in der Gegend von San Nicolas. Seine Peons 
Enechte) hatten, um einen Jaguar, welcher feine Schaf⸗ 
herde lichtete, zu fangen, Gruben gegraben und waren 
ſo glücklich geweſen, das Raubtier lebendig und unver⸗ 
letzt in ihre Hände zu bekommen. Um es an einen 
Händler verkaufen zu können, hatte man es nicht ge⸗ 
tötet, und nun erklärte der Haciendero, daß er den Ja⸗ 
guar bringen laſſen werde, um ihn dem Komitee zu 
ſchenken. | 
Es läßt ſich denken, daß dieſe Umſtände, die An⸗ 
weſenheit des berühmten Stierkämpfers und die Ausſicht 
auf einen Kampf mit dem Büffel und dem Jaguar nicht 
allein für das Publikum, ſondern vor allen Dingen auch 
für die einheimiſchen Toreadores von höchſtem Inter⸗ 
eſſe war. | 


SER 


Toreadores oder Toreros werden die Stierfechter 
im allgemeinen genannt. Das Wort leitet ſich von 
toro, der Stier, her. Sie gliedern ſich in mehrere be⸗ 
ſondere Abteilungen, von denen jede ihre eigene, be⸗ 
ſtimmte Aufgabe zu löſen hat. Da ſind zunächſt die 
Picadores, welche, auf Pferden ſitzend, den Stier mit 
ihren Lanzen zu reizen haben. Sodann die Chulos 
oder Banderillos, denen es obliegt, falls ein Picador 
in Gefahr kommen ſollte, die Aufmerkſamkeit des Stie⸗ 
res durch bunte Schärpen von jenem ab⸗ und auf ſich 
zu lenken und ihm dünne, mit Widerhaken verſehene 
Stäbe in den Nacken zu ſtoßen. Endlich die Eſpadas, 
die eigentlichen Kämpfer, die den Stier mit dem Degen 
zu erlegen haben. Sie haben ihren Namen von dem 
Worte espada, Degen, erhalten. Zu erwähnen ſind 
noch die Matadores, nach dem Worte matar, ſchlachten, 
ſo genannt. Dieſe Schlächter gehören nicht zu den 
eigentlichen Stierkämpfern; ſie ſind Zirkusknechte und 
haben dem Stier, falls er von dem Eſpada nicht tödlich 
getroffen wird, aber doch niederſtürzt, den Gnadenſtoß 
zu geben. 

Wie bereits erwähnt, durchzogen Ausrufer die 
Straßen von Buenos Aires, um zu verkünden, daß der 
Stierkampf morgen ſtattfinden werde. Zuweilen 
blieben ſie ſtehen, um den Paſſanten mit weithin ſchal⸗ 
lender Stimme das Programm und alle nähern Um⸗ 

„ ſtände mitzuteilen. Es war gegen Abend. Wer es 
tun konnte, der ſchloß fein Geſchäft, um eine Reftau- 
ration, ein Café oder eine Confiteria aufzuſuchen und 
dort ſich über das Ereignis des Tages auszuſprechen. 
Confiterias ſind öffentliche Lokale, in denen man nur 
Kuchen und Eis genießt. 

Das Café de Paris, welches als das feinſte in 


1 


5 ee 


Buenos Aires gilt, war fo von Gäſten gefüllt, daß fall 
fein leerer Stuhl zu ſehen war. Es ging da ſehr leb⸗ 
haft her, beſonders an einem Tiſche, zu dem die Blicke 
der Anweſenden immer und immer wiederkehrten, denn 
dort ſaßen die drei argentiniſchen Eſpadas, welche mor⸗ 
gen ihre Geſchicklichkeit zu zeigen hatten. Unter ſich 
voll gegenſeitiger, heimlicher Eiferſucht, zeigten ſie ſich 
in ihren Worten darin einig, daß es ein geradezu un⸗ 
verzeihlicher Fehler des Komitees ſei, den Spanier zu⸗ 
gelaſſen zu haben. Sie nahmen ſich vor, alles mögliche 
zu tun, ihm ſeinen bisherigen Ruhm zu entreißen. 
Einer von ihnen, der das große Wort führte, vermaß 
ſich, den nordamerikaniſchen Biſon gleich mit dem erſten 
Stoße zu erlegen, und wendete ſich an die Anweſenden, 
indem er ſich erbot, mit jedem zu wetten, daß er ſein 
Wort halten werde. 

In ſeiner Nähe ſaßen an einem andern Tiſche vier 
feingekleidete Herren, von denen beſonders einer in die 
Augen fiel. Er war von beinahe rieſiger Geſtalt und 
trug, obgleich er nicht viel über fünfzig Jahre alt ſein 
konnte, einen langen, dichten Vollbart, welcher faſt die 
Weiße des Schnees hatte. Sein Haupthaar beſaß die 
gleiche Farbe. Infolge ſeines ſonnverbrannten Geſichts 
hätte man ihn für einen Gaucho oder überhaupt einen 
Mann halten ſollen, der nur im Freien, auf der 
Pampa oder gar in der Wildnis lebe, aber ſein elegan⸗ 
ter, nach dem neueſten Pariſer Schnitt gefertigter 
Anzug ſprach vom Gegenteil. Seine drei Nachbarn 
waren ebenſo ſonnverbrannt wie er. Einer von ihnen 
wendete ſich mit den Worten an ihn: „Haſt du den 
Großſprecher gehört, Carlos?“ 

Der Weißbärtige nickte mit dem Kopfe. 

„Was ſagſt du dazu?“ 


u 


Der Gefragte zuckte mit der Achſel, indem ein 
leichtes, geringſchätziges Lächeln über ſein ernſtes Ge⸗ 
ſicht glitt. 

„Ganz deiner Meinung!“ fuhr der andre fort. 
„Es gehört ſchon etwas dazu, einen hieſigen Toro, bevor 
er abgemattet iſt, mit dem Degen zu erlegen. Du wirſt 
beſſer wiſſen als wir, was ein nordamerikaniſcher 
Büffel zu bedeuten hat, denn du biſt jahrelang dort 
oben geweſen und haſt Biſons gejagt. Dieſer Eſpada 
hier wird wohl ſchwerlich imſtande ſein, ſein Ver⸗ 
ſprechen zu halten.“ 

„Das meine ich auch. Mit dem Munde tötet man 
keinen Büffel.“ 

Er hatte die Worte lauter geſprochen, als es von 
ihm wohl beabſichtigt worden war. Der Eſpada hörte 
ſie, ſprang von ſeinem Stuhle auf, trat herbei und ſagte 
in faſt befehlendem Ton: „Senor, wollen Sie mir 
wohl ſagen, wie Sie heißen?“ 

Der Weißbärtige maß ihn mit einem unendlich 
gleichgültigen Blick und antwortete dann: „Warum 
nicht, wenn ich vorher Ihren Namen kennen gelernt 
habe.“ . 

„Mein Name iſt weithin berühmt. Ich heiße 
Antonio Perillo.“ 

Da leuchteten die Augen des Rieſen für einen 
Augenblick ganz eigentümlich auf, doch ließ er ſchnell 
die Lider ſinken und meinte in dem gleichen Tone wie 
vorher: „Mein Name iſt ſchwerlich ſo berühmt wie der 
Ihrige. Ich heiße Hammer.“ 

„Iſt das ein deutſcher Name?“ 

„Ja.“ | 

„So find Sie ein Deutſcher?“ 

„Allerdings.“ 


8 


„So halten Sie gefälligſt den Mund, wenn es ſich 
um hieſige Angelegenheiten handelt! Ich bin ein Por⸗ 
teno, verſtanden?“ 

Er ſagte dieſes Wort mit ſcharfer Betonung und 
blickte dem andern dabei von oben herab ſtolz in das 
Geſicht. Portenos nennen ſich die eingeborenen Be⸗ 
wohner des Landes im Gegenſatz zu den Eingewander⸗ 
ten. Wenn der Eſpada glaubte, mit dieſem Worte Ein⸗ 
druck zu machen, ſo hatte er ſich geirrt, denn der Rieſe 
tat gar nicht, als ob er deſſen Bedeutung kenne. Dar⸗ 
um fuhr der Eſpada in noch zornigerem Tone fort: 
„Sie haben mit Geringſchätzung von mir geſprochen. 
Wollen Sie Ihren Ausdruck zurücknehmen?“ 

„Nein. Ich habe geſagt, daß man einen Büffel 
nicht mit Worten tötet, und weil ich eben ein Deutſcher 
bin, pflege ich ſtets zu wiſſen, was ich ſage.“ 

„Carracho! Das iſt ſtark! Ich, der berühmteſte 
Eſpada dieſes Landes, ſoll mich von einem Deutſchen 
verhöhnen laſſen! Mann, wenn ich Sie nun vor meine 
Klinge fordre, was werden Sie da ſagen?“ 

„Nichts, gar nichts werde ich ſagen, da es ja der 
Rede gar nicht wert iſt,“ antwortete Hammer, indem er 
ſich auf ſeinem Stuhle zurücklehnte und dem Eſpada 
einen Blick zuwarf, der auf alles andre, aber nur nicht 
auf Furcht ſchließen ließ. Das erregte dieſen noch mehr. 
Er trat mit vor Zorn funkelnden Augen noch einen 
halben Schritt näher, hob den Arm wie zum Schlage 
und rief: „Wie, Sie wollen mir die Beleidigung nicht 
abbitten und mir auch keine Genugtuung geben?“ 

„Nein.“ 

„Gut, fo werde ich Sie als einen chrloſen Feigling 
kennzeichnen. Hier haben Sie das!“ 


3 


| Er wollte dem Deutſchen mit der Fauft in das Ge⸗ 

ſicht ſchlagen; dieſer aber parierte den Hieb von unten 
herauf mit dem Arm, fuhr ſchnell empor, nahm den 
Eſpada bei den beiden Armen, drückte ſie ihm an den 
Leib, hob ihn in die Höhe und warf ihn, als ob er ein 
federleichter Gegenſtand ſei, an die Wand, daß es 
krachte. 

Alle Gäſte erhoben ſich von ihren Sitzen, um zu 
ſehen, was nun geſchehen werde. Der Eſpada war, wie 
überhaupt alle Anweſenden, von denen keiner das Ge⸗ 
wand der Pampa trug, auf franzöſiſche Art gekleidet, 
und es ſtand alſo nicht zu erwarten, daß er eine Waffe 
bei ſich tragen werde, doch griff er, nachdem er ſich raſch 
aufgerafft hatte, unter den Rock, zog ein langes Gaucho⸗ 
meſſer hervor und drang wutbrüllend auf den Deutſchen 
ein. Dieſer wich keinen Zoll zurück, ſondern ſah ihm 
mit ſcharfem Auge entgegen, packte ihn mit raſchem 
Griffe an dem das Meſſer hochhaltenden Arm und 
drückte ihm dieſen ſo, daß er die Waffe mit einem 
Schmerzensſchrei fallen ließ. Dann gebot er ihm in 
drohendem Ton: „Gib Ruhe, Antonio Perillo! Mir 
kommt man nicht in dieſer Weiſe. Wir befinden uns 
in Buenos Aires, nicht aber in der Salina del Condor. 
Verſtanden?“ | 

Bei diefen Worten nahm er feinen Gegner fo 
ſcharf in das Auge, als ob er ihm in das innerſte Herz 
blicken wolle. Perillo fuhr zurück und ſtarrte den 
Sprecher erſchrocken an. Er war bleich, ſehr bleich ge⸗ 
worden; ſein Auge flimmerte in einem ungewiſſen 
Schein, und ſeine Stimme zitterte beinahe, als er ant⸗ 
wortete: „Die Salina del Condor? Was iſt's mit 
dieſer? Ich kenne ſie nicht.“ 

„Du kennſt ſie nur zu gut; ich ſehe es dir an.“ 


9, 


„Ich weiß nicht, was Sie reden und was Sie 
wollen. Ich mag mit Ihnen nichts zu tun haben.“ 

„Dazu haſt du allen Grund; hüte dich, Antonio 
Perillo!“ 

Er griff in die Taſche, warf, um das Genoſſene zu 
bezahlen, eine Anzahl von Papiertalern auf den Tiſch, 
nahm den Hut vom Nagel und ſchritt der Türe zu, ohne 
daß jemand es wagte, ihn anzuhalten. Seit er nicht 
mehr auf dem Stuhle ſaß, ſondern ſich aufgerichtet hatte, 
ſah jeder ein, daß mit dieſem Goliath nicht gut anzu⸗ 
binden ſei. Seine drei Gefährten folgten ihm. 

Erſt als die Türe ſich hinter ihnen geſchloſſen hatte, 
kehrte dem Eſpada der Mut zurück. Er wendete ſich an 
ſeine Gefährten, um ſeine Niederlage zu beſchönigen, 
denn einer derſelben rief ihm höhniſch zu: „Welch eine 
Blamage, Antonio Perillo! Er hat dich geworfen!“ 

„Laufe ihm doch nach, und binde mit ihm an! 
Gegen ſo einen Rieſen kann kein Menſch aufkommen.“ 

„Das mag ſein. Aber er nannte dich Du. Welche 
Verächtlichkeit! Und du ließeſt es dir nicht nur ge⸗ 
fallen, ſondern nannteſt ihn Sie, wie vorher.“ 

„Ich habe auf das Du gar nicht geachtet.“ 

„Und was war es mit dieſer Salina del Condor? 
Was meinte er damit?“ 

„Weiß ich es? Dieſer Aleman ſcheint an einer 
fixen Idee zu leiden. Ihr wißt ja, daß die Deutſchen 
alle Träumer oder mondſüchtig ſind. Sprechen wir 
nicht mehr davon!“ 

Vielleicht hätte man dieſes Thema doch nicht fallen 
laſſen, wenn nicht eben jetzt eine Perſon eingetreten 
wäre, welche die Blicke aller auf ſich zog. Es war ein 
Gaucho, aber von ſo kleiner, ſchmächtiger Geſtalt, wie 
keiner der Anweſenden in ſeinem Leben jemals einen 


— 10 — 


Gaucho geſehen hatte. Das Männchen trug eine ſehr 
weiße und ſehr weite Hoſe, die ihm nur bis an die 
Knie reichte, und eine rote, baumwollene Chiripa. Das 
iſt eine Decke, die der Bewohner der Pampa ſchräg um 
die Hüften ſchlägt, vorn und hinten emporzieht und 
dann um den Leib legt, wo ſie von einem Gürtel feſt⸗ 
gehalten wird. Die Aermel des Hemdes, das ebenſo 
rein und weiß wie die Hoſe war, hatte der kleine Trä⸗ 
ger bis über die Ellbogen aufgewickelt, ſo daß ſeine 
Vorderarme unbedeckt waren. Ueber den Gürtel war 
eine rote Schärpe gebunden, deren Enden an der Seite 
herunterhingen. Ein ebenfalls roter Poncho bedeckte 
den Oberkörper; das iſt eine wollene Decke, in deren 
Mitte ſich ein Schnitt befindet, wodurch man den Kopf 
ſteckt. Die Unterſchenkel waren mit echten Gaucho⸗ 
ſtiefeln bekleidet, die folgendermaßen zubereitet werden. 
Man zieht beim Schlachten eines Pferdes von den 
unteren Beinen die Haut, doch ohne ſie zu zerſchneiden, 
noch lebenswarm herunter und legt ſie in heißes Waſ⸗ 
ſer, um die Haare leichter abſchaben zu können. Man 
ſteckt, während dieſe Häute noch naß ſind, die Füße hin⸗ 
durch und zieht ſie wie Strümpfe an. Sobald das 
Leder trocken wird, legt es ſich feſt um die Waden und 
bildet eine ſehr wetterfeſte Bekleidung, die man freilich 
niemals ablegen kann, ſondern tragen muß, bis ſie von 
ſelbſt zerreißt und von den Beinen fällt. Natürlich 
ſind da nur die Unterſchenkel und der obere Teil des 
Fußes bedeckt; die Zehen aber ſehen vorn heraus und 
auch die Fußſohle bleibt nackt. Der Gaucho, der ſolche 
Stiefel trägt, geht alſo barfuß — wenn er nämlich 
geht. Von Gehen iſt bei ihm nur dann die Rede, wenn 
er ſich im Innern ſeiner Hütte befindet, ſonſt aber ſitzt 
er ununterbrochen im Sattel. Daß die Zehen nackt 


find, kommt ihm bei der Beſchaffenheit feiner Steig⸗ 
bügel zu ſtatten, denn dieſe ſind ſo klein, daß er nur die 
große Zehe hineinzuſtecken vermag. Deſto größer ſind 
die Sporen, die er trägt. Auch der kleine Mann, der 
jetzt in das Café getreten war, hatte ein paar Räder 
angeſchnallt, welche die Größe eines ſilbernen Fünf⸗ 
markſtückes beſaßen. Ein graues Filzhütchen, von dem 
eine Troddel hing, ſaß ihm auf dem Kopfe, und unter 
dieſem Hute trug er ein rotſeidenes Tuch, deſſen hinten 
herabgehenden Zipfel er vorn am Halſe feſtgebunden 
hatte. Solche Tücher trägt der Gaucho unter dem 
Hute, da ſie den Nacken vor dem Sonnenbrand ſchützen 
und zugleich eine angenehme Kühlung gewähren, weil 
ſie beim Reiten vorn die Luft auffangen und dem 
Nacken zuführen. In dem Gürtel unter der Schärpe 
ſteckte ein langes Meſſer und eine zweiläufige Piſtole, 
und über die Achſel hing an einem breiten Riemen eine 
Doppelflinte, die nicht viel kürzer als der Mann ſelber 
war. In den Händen trug er zwei Bücher. 


Dieſer letztere Umſtand war es beſonders, der die 
Augen auf ihn zog. Ein Gaucho mit Büchern! Das 
hatte man noch nicht geſehen. Dazu war er vollſtändig 
glatt raſiert, was ebenſo auffallen mußte. Auch blieb 
er vorn an der Tür für einen Augenblick ſtehen und 
grüßte, was keinem andern jemals eingefallen wäre, 
mit einem lauten „Buenos dias — guten Tag!“ Dann 
ſchritt er auf den Tiſch zu, der ſoeben leer geworden 
war, ſetzte ſich daran nieder, ſchlug beide Bücher auf 
und begann, gerade ſo, als ob er ganz allein ſei, höchſt 
eifrig darin zu blättern und zu leſen. Es waren zwei 
Abhandlungen der königlichen Akademie der Wiſſen⸗ 
ſchaften in Berlin, von E. d' Alton und von Weiß. 


== 19... 


Der vorhin herrſchende Lärm hatte ſich in die 
tiefſte Stille verwandelt. Der Kleine überraſchte die 
Leute alle. Sie wußten nicht, was ſie von ihm und 
über ihn denken ſollten. Das kümmerte ihn aber nicht 
im mindeſten; ja, er bemerkte es gar nicht; er las und 
fühlte ſich auch nicht geſtört, als man wieder lauter 
wurde und von neuem auf das Stiergefecht zu ſprechen 
kam. Nur als einer der Kellner, ein ebenſo kleiner 
Burſche wie er ſelbſt, zu ihm trat, um ihn zu fragen, 
was er wünſche, blickte er auf und fragte im reinſten 
Spaniſch: „Haben Sie Bier? Ich meine nämlich 
Cerevisia, wie es lateiniſch heißt.“ 

„Ja, Señor, Bier haben wir, die Flaſche zu ſechs 
Papiertalern.“ 

„Bringen Sie mir eine Flaſche, eine Ampulla oder 
Lagena auf lateiniſch.“ 

Der Kellner ſah ihn verwundert an, brachte 
Flaſche und Glas und goß das letztere aus der erſteren 
voll. Der Gaſt trank aber nicht und ſah nicht von den 
Büchern auf. Man beſchäftigte ſich, einen ausgenom⸗ 
men, nicht mehr mit ihm, und dieſer eine war Antonio 
Perillo, der Eſpada. Er ließ ihn faſt nicht aus den 
Augen; er ſchien ſich innerlich nur mit ihm zu beſchäf⸗ 
tigen und beteiligte ſich gar nicht mehr an der Unter⸗ 
haltung. Endlich ſtand er gar auf, kam herbei, ver⸗ 
beugte ſich und ſagte in ſehr höflichem Ton: „Ent⸗ 
ſchuldigung, Seüor! Wir ſcheinen uns zu kennen?“ 

Der kleine, rote Gaucho blickte überraſcht von 
ſeiner Lektüre auf, erhob ſich und antwortete in ebenſo 
höflicher Weiſe: „Es tut mir leid, Seßor, Ihnen 
ſagen zu müſſen, daß Sie ſich irren. Ich kenne Sie 
nicht.“ 


— 13 — 


„So müſſen Sie Gründe haben, dies jetzt zu ſagen. 
Ich bin überzeugt, daß wir uns oben am Fluſſe ſchon 
begegnet ſind.“ 

„Nein, denn ich bin gar nicht da oben geweſen. 
Ich befinde mich erſt ſeit einer Woche hier im Lande 
und habe Buenos Aires noch mit keinem Schritt ver⸗ 
laſſen.“ 

„So darf ich vielleicht fragen, wo Sie eigentlich zu 
Hauſe ſind?“ 

„In Jjterbogk, welches auch Jüterbog oder Jũü⸗ 
terbock geſchrieben wird. Es iſt bis jetzt unentſchieden 
geblieben, welche Schreibweiſe die richtige iſt. Ich ent⸗ 
ſcheide mich aber unbedingt für Jüterbogk, weil da bog 
und bock vereinigt iſt.“ 

„Dieſer Ort iſt mir vollſtändig unbekannt. Wür⸗ 
den Sie die Güte haben, mir Ihren Namen zu ſagen?“ 

„Ganz gern. Morgenſtern, Doktor Morgenſtern.“ 

„Und Ihr Stand?“ 

„Ich bin Gelehrter, oder, genauer ausgedrückt, 
Privatgelehrter.“ 

„Und womit beſchäftigen Sie ſich?“ 

„Mit Zoologie, Senor. Gegenwärtig bin ich nach 
Argentinien gekommen, um das Glyptodon, das Mega⸗ 
therium und das Maſtodon aufzuſuchen.“ 

„Das verſtehe ich nicht. Ich habe dieſe Worte noch 
nie gehört.“ 

„Ich meine das Rieſengürteltier, das Rieſenfaul⸗ 
tier und den Rieſenelefanten.“ 

Der Eſpada machte ein langes Geſicht, ſah den 
Kleinen mit prüfendem Blick an und fragte dann: 
„Sprechen Sie im Ernſt, Senor?“ 

„Natürlich!“ 

„Und wo wollen Sie dieſe Tiere ſuchen?“ 


ae 1 


„Natürlich in der Bampasformation, von der man 
leider noch nicht genau ſagen kann, ob ſie ſich ſchon vor 
oder gleichzeitig mit dem Diluvium gebildet hat.“ 

„Diluvium? Seßsor, ich verſtehe! Sie bewegen 
ſich in dieſer unverſtändlichen Sprache, um mir anzu⸗ 
deuten, daß ich Ihnen unbequem bin.“ 

„Dieſe Sprache iſt keineswegs ſo unverſtändlich, 
wie Sie meinen. Sehen Sie in dieſe beiden Bücher, 
deren Verfaſſer ſehr tüchtige Kenner des Diluviums 
find! Weiß und d' Alton; ſie müſſen Ihnen unbedingt 

bekannt ſein, und — — —' 
| „Nein, gar nicht, gar nicht,“ unterbrach ihn der 
Stierkämpfer. „Dieſe beiden Herren kenne ich nicht. 
Von Ihnen aber möchte ich ſelbſt jetzt noch behaupten, 
daß ich Sie kenne, und zwar genauer noch, als Sie 
denken. Geben Sie zu, daß der Anzug, den Sie jetzt 
tragen, eine Verkleidung iſt?“ 

„Eine Verkleidung? Hm! Wenn ich wahr ſein 
will, ſo muß ich allerdings zugeben, daß ich ſonſt nicht 
gewohnt bin, als Gaucho zu gehen.“ 

„Aber Sie reiten doch ausgezeichnet, wie ich ge⸗ 
ſehen habe!“ 

„Das iſt ein Irrtum, Senor. Ich habe zwar 
ſchon einigemal Gelegenheit gehabt, ein Roß, lateiniſch 
Equus, zu beſteigen; was aber der Lateiner equo vehi 
nennt, nämlich die Kunſt des Reitens, iſt mir doch zu 
vollen neun Zehnteilen fremd geblieben.“ 

Perillo konnte ſich eines Kopfſchüttelns nicht er- 
wehren. Er zog ſein Geſicht in ein diplomatiſches 
Lächeln und meinte, indem er ſich verbeugte: „Ich 
darf nicht weiter in Sie dringen, Senor, denn jedes 
Ihrer Worte ſagt mir, daß Sie unerkannt bleiben 
wollen. Haben Sie die Güte, meine Zudringlichkeit zu 


u. HR: 


verzeihen! Ich bin überzeugt, daß die Zeit kommt, wo 
Sie Ihre gegenwärtige Maske fallen laſſen werden!“ 

Er begab ſich nun an ſeinen Tiſch zurück. Der 
rote Gaucho ſchüttelte nun ſeinerſeits den Kopf, ſetzte 
ſich nieder und murmelte: „Maske! Fallen laſſen! 
Dieſer Senor ſcheint ſehr zerſtreut zu fein.“ 

Dann beugte er ſich wieder über ſeine Bücher. 
Aber er ſollte bald geſtört werden, denn der kleine Kell⸗ 
ner, der in der Nähe geſtanden und die Unterhaltung 
gehört hatte, kam näher und ſagte: „Senor, wollen 
Sie nicht trinken? Es iſt ſchade um das Bier, es ſo 
lange offen ſtehen zu laſſen.“ 

Der Gaucho blickte zu ihm auf, griff nach dem 
Glaſe, tat einen Zug und meinte dann in freundlichem 
Ton: „Ich danke Ihnen, Seüor. Man ſoll ſich ges 
wöhnen, über dem Notwendigen nicht das Angenehme 
zu vergeſſen. Und das Trinken, lateiniſch potio, iſt 
nicht nur angenehm, ſondern ſogar notwendig.“ 

Er wollte weiter leſen, da er aber bemerkte, daß 
der Kellner noch ſtehen blieb, fragte er: „Belieben Sie 
noch eine Bemerkung, Senor?“ 

„Wenn Sie geſtatten, ja. Sie ſprachen vorher von 
Jüterbogk. Sollten Sie ein Deutſcher ſein?“ 

„Der bin ich allerdings, wie auch mein Name 
Morgenſtern beweiſt. Wäre ich ein Römer, ſo würde 
ich lateiniſch Jubar heißen.“ 

„Das freut mich ungeheuer, Senor. Darf ich 
deutſch mit Ihnen reden?“ 

„Deutſch? Sind Sie denn ein Deutſcher?“ 

„Na, und wat for einer! Ick bin in Stralau bei 
Berlin jeboren, alſo een näherer Landsmann von Sie, 
Herr Doktor. Denn dat Sie ooch Doktor find, dat habe 
ick vorhin jehört.“ 


5 IOL'e 


„Ein Stralauer! Wer hätte das gedacht! Ich 
habe Sie für einen Argentinier gehalten. Wie kommen 
Sie denn über die See herüber?“ 

„Als jeborene Waſſerjungfer, wat man ſo 'ne Li⸗ 
belle nennt. Sie wiſſen doch, von wejen dem Stra⸗ 
lauer Fiſchzug und dem Rummelsburger See. Da iſt 
man dat Waſſer jewöhnt und jeht dem Waſſer nach. 
So bin ick nach Hamburg jekommen und dann weiter 
ins Südamerika.“ 

„Was wollten Sie hier?“ 

„Reich werden wollte ick natürlich.“ 

„Nun, und?“ 

„Ja, nun, und! Das Reichwerden jeht nicht ſo 
ſchnell, wie ick mich's jedacht hatte. Es kommen auch 
arme Zeiten mit mang, und wenn die nicht wieder uff⸗ 
hören, da bringt man die Million, von der ick je⸗ 
ſchwärmt habe, eben nicht zuſammen.“ 

„Haben Sie Verwandte zu Hauſe?“ 

„Nee. Hätte ick ſo wen oder wat jehabt, ſo wäre 
ick daheim jeblieben. Dann wollt' ick jern beis Mili⸗ 
tär, denn mein Herz iſt ſtets jut patriotiſch jeſtimmt 
jeweſen; aber da ick um zwei Zoll zu kurz jeweſen bin, 
haben ſie mir nicht jenommen, ſondern vor untauglich 
erklärt. Darüber bin ick ſo ergrimmt jeweſen, daß ick 
in die Fremde jegangen bin, um zu ſehen, ob man mir 
da für tauglich halten wird.“ 

„Wie lange ſind Sie nun ſchon hier?“ 

„Fünf Jahre, wat mit die fünfundzwanzig Lenze 
ſtimmt, die ich bisher in Blüte jeſtanden habe.“ 

„Und womit haben Sie ſich während dieſer Zeit 
beſchäftigt?“ 

„Mit allem möglichen, wat ehrlich war, doch ohne 
es zu wat zu bringen. Jetzt bin ick Kellner hier, doch 


= 142 


auch nicht feft, ſondern nur zur Aushilfe für heute, weil 
man viel Jäſte erwartet hat. Zuletzt habe ick mir mit 
Hafenarbeit beſchäftigt.“ 

„Waren Sie ſchon im Innern des Landes? Ich 
frage nämlich nicht ohne Urſache.“ 

„Damit kann ick auch dienen. Ick bin ſchon zwei⸗ 
mal bis nach Tucuman hinein jeweſen, und zwar als 
Pferdeknecht.“ 

„So können Sie reiten?“ 

„Wie im Löwenritt von Freiligrath. So wat 
lernt ſich hier zu Lande oft und manchmal ſchneller, als 
man's vorher jedacht hat.“ 

„Das iſt gut, ſehr gut! Und nun die Haupt⸗ 
ſache. Es ſoll hier in Argentinien ſehr viel Knochen 
geben?“ 


„Maſſenhaft!“ 

„Ausgezeichnet! Ich ſuche welche.“ 

„Knochen? Weshalb?“ 

„Aus Intereſſe für die Sache.“ 

„So? Dat ift freilich ein Intereſſe, wie ick noch 
keins jefunden habe. Aber da kann ick Ihnen tröſten. 
Wenn Sie Knochen haben wollen, ſo kann ick Ihnen 
lanze Schiffsladungen voll verſchaffen.“ 

„Antediluvianiſche?“ 

„Dat verſtehe ick nicht; ick ſage nur, dat ſie von 
allen Sorten zu haben ſind.“ 

„Vom Maſtodon?“ 

„Von Maſtrindern? So viel Sie haben wollen.“ 

„Ich meine, ob vom Rieſenelefanten.“ 

„Dieſes Vieh kenne ich nicht.“ 

„Das iſt begreiflich, da es ſchon vor der Sintflut 
gelebt hat.“ 

may, Das Vermächtnis des Juka 2 


„Dann iſt's futſch und hat keine Knochen mehr. 
Hier jibt's nach der Sintflut nur noch Knochen von 
Rindern, Pferden und Schafen.“ 

„Sie verſtehen mich nicht. Ich ſuche nach Knochen 
von vorweltlichen Tieren, wie man ſie im hieſigen na⸗ 
turhiſtoriſchen Muſeum findet.“ 

„Ah, ich verſtehe! Die ſtecken in der Erde, wo 
man fie herausbuddeln muß. Habe ick ooch jeſehen. 
Die ſind in der janzen Pampa zu finden. Alſo ſo 'ne 
Sachens wollen Sie ſuchen und ausgraben?“ 

„Ja. Ich werde Gauchos in Dienſt nehmen und 
habe deshalb, um ihnen gleich von vornherein als ein 
ſympathiſcher Menſch zu erſcheinen, mich ſo wie ſie ge⸗ 
kleidet. Vor allen Dingen brauche ich einen Diener, 
auf den ich mich verlaſſen kann. Sie gefallen mir, Sie 
haben ein ehrliches und zugleich pfiffiges Geſicht und 
ſcheinen nicht an Dummheit zu leiden, was der La⸗ 
teiner Vecordia nennt. Haben Sie nicht Luſt, mein 
Diener zu werden?“ 

„Warum nicht, wenn Sie mir jut behandeln.“ 

„So kommen Sie morgen früh zu mir, damit wir 
das Nötige beſprechen können. Kennen Sie den 
Bankier Salido?“ 

„Ja. Er hat fein Jeſchäft hier janz in der Nähe, 
wohnt aber in ſeiner Quinta draußen vor der Stadt.“ 

Da wohne auch ich, denn ich bin ihm empfohlen 
und ſein Gaſt. Jetzt laſſen Sie mich weiter leſen.“ 

„Jut, leſen Sie man immer weiter, Herr Doktor. 
Morjen werde ick mir einſtellen, und ick denke, daß wir 
beide dabei ein jutes Jeſchäft machen werden. Ick 
ſchaffe Ihnen jeden Knochen aus der Erde, und wenn er 
noch x jroß iſt.“ 

er Inhalt dieſes Geſpräches ſchien Morgenſtern 


=. 19 


noch weiter zu befchäftigen, denn er las nun weniger 
aufmerkſam als vorher und vergaß auch das Trinken 
nicht. Als er ſeine Flaſche ziemlich geleert hatte, ſtand 
Antonio Perillo auf, um zu bezahlen und fort zu 
gehen. Einige Zeit ſpäter brach auch Morgenſtern auf. 
Er bezahlte ſeine ſechs Papiertaler. Das klingt ſehr 
hoch, iſt aber nicht ſo gefährlich, wie es ſcheint, da der 
Papiertaler einen Wert von ſechzehn deutſchen Pfen⸗ 
nigen hatte. Dennoch aber tft der Preis von ſechsund⸗ 
neunzig Pfennigen für eine Flaſche Bier kein niedriger 
zu nennen, aber das Bier, wenigſtens das aus Europa 
eingeführte, galt damals noch mehr als heute als 
Luxusgetränk. 


Als er das Cafs verlaſſen hatte, wendete er ſich 
links in die Straße, welche direkt und in ſchnurgerader 
Richtung nach der Quinta des Bankiers führte. Er 
war zu ſehr mit ſeinen gelehrten Gedanken beſchäftigt, 
um die zwei Geſtalten zu ſehen, die gegenüber wartend 
an den Pfeilern einer Tür lehnten. Es war nämlich 
Antonio Perillo und ein andrer, der ſich vorhin im Cafe 
befunden hatte. Dieſer andere war noch größer und 
ſtämmiger als der Stierkämpfer und ſein mäch⸗ 
tiger Körperbau ließ auf eine ungewöhnliche Kraft 
ſchließen. Seinem von Wind und Wetter gegerbten, 
bartloſen Geſicht ſah man es an, daß er in den Pampas 
und den Bergen daheim war. Doch war der Eindruck, 
den dieſes Geſicht machte, kein günſtiger zu nennen. 
Die ſchmale, ſcharf gebogene Naſe erinnerte unwillkür⸗ 
lich an den Schnabel eines Geiers. Unter den auf der 
Naſenwurzel zuſammenſtoßenden Brauen blickten 
ſtechende Augen hervor. Die ſchmalen, farbloſen Lippen 
verſtärkten noch den Eindruck dieſes raubvogelartigen 


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Geſichts. Gekleidet war er in die Landestracht. Auf 
dem Kopfe trug er einen breitrandigen Sombrero. 

Als er die Züge des deutſchen Gelehrten im Lichte 
der Fenſter des Cafés, an denen dieſer vorüberging, 
deutlich erkannte, flüſterte er Perillo zu: „Gar kein 
Zweifel; er iſt's, und wenn er noch ſo ſehr geleugnet 
hat.“ 

„Er hat ſich nur den Bart ſcheren laſſen und die 
Tracht eines Gaucho angelegt. Damit macht er doch 
Leute, wie wir ſind, nicht irre. Ich muß wiſſen, wo er 
wohnt. Schleiche ihm nach!“ 

„Gehſt du nicht mit?“ 

„Nein. Er könnte ſich umdrehen und mich er⸗ 
kennen. Dann würde er Verdacht faſſen. Ich trete in 
„die Confiteria hier rechts, um auf deine Rückkehr zu 
warten.“ 

Perillo ging in die Kuchenſtube, und der andre 
folgte dem Deutſchen heimlich nach. Die Straße 
führte, wie bereits geſagt, in ſchnurgerader Linie fort, 
denn Buenos Aires iſt höchſt regelmäßig gebaut. Es 
beſteht aus lauter Häuſervierecken, zwiſchen denen die 
Straßen ſich genau rechtwinklig kreuzen. Man kann 
alſo den Plan der Stadt mit einem Schachbrett ver⸗ 
gleichen. 

Die Umgebung iſt landſchaftlich ganz und gar un⸗ 
bedeutend. Es gibt keine Abwechſelung, keine Höhen 
und Täler, keine Büſche und Wälder. Hat man die 
Stadt hinter ſich, ſo ſteht man auf der offenen, ebenen 
Pampa, und am Horizont ſchwimmen Himmel und 
Erde ſo zuſammen, daß von einer Grenzlinie zwiſchen 
beiden keine Rede iſt. Der Hafen iſt ſchlecht, und das 
Waſſer des Plata hat eine lehmige, ſchmutzige Farbe, 
ſo daß auch er der Stadt keinen Reiz verleiht. 


— 21 — 


Buenos Aires bedeckt ungefähr den gleichen 
Flächenraum wie Paris. Man kann ſich alſo denken, 
wie weitläufig alles iſt. Es gibt mehrere ſehr ſchöne 
Straßen und Plätze, kommt man aber über den Kern 
der Stadt hinaus, ſo trifft man auf roh gemauerte Ma⸗ 
gazine, häßliche Hütten und Schuttplätze. Einige der 
Außenſtraßen freilich haben ein elegantes Ausſehen, 
da an ihnen die Villen der reichen Einwohner ſtehen. 
Eine ſolche Villa wird hier Quinta genannt. 

In den innern und belebteſten Vierteln der Stadt 
findet man zwei⸗, drei⸗ und wohl auch vierſtöckige Häu⸗ 
ſer; ſonſt aber beſtehen die Gebäude nur aus dem Erd⸗ 
geſchoß; fie ragen nicht in die Höhe, dehnen ſich aber 
deſto mehr in die Breite und Tiefe. Dieſe Gebäude 
haben flache, mit Ziegelſteinen belegte Dächer, über 
denen ſich kleine Warttürme erheben, die man Mira⸗ 
dores nennt. Die Dächer find ein klein wenig geneigt, 
damit der Regen in den Hof und die darin befindliche 
Ziſterne ablaufen kann. 

Nur die ärmeren Leute haben einen einzigen Hof; 
beſſere Häuſer aber werden von drei, vier und noch 
mehr Höfen eingeſchloſſen. Steht man vor der in durch⸗ 
brochener Eiſenarbeit künſtleriſch modellierten Türe 
eines ſolchen Gebäudes, ſo kann man durch dieſe eine 
ganze Reihe von ſauberen, mit Springbrunnen und 
Blumen geſchmückten Marmorhöfen ſehen. Denn 
Marmor iſt das Material, woraus die Häufer der 
Wohlhabenden gebaut werden. 

Wird gefragt, warum es in Buenos Aires nur 
flache Dächer gibt, ſo iſt die Antwort ſehr einſach. Zu⸗ 
nächſt erfordern ſchräge, hohe Dächer weit mehr Ma⸗ 
terial und ſind nur in ſolchen Gegenden notwendig, wo 
eine durchſchnittlich große Regenmenge fällt; in Buenos 


— 22 — 


Aires aber fällt bedeutend weniger Regen als bei uns. 
Sodann würden hohe Dächer und Giebel dem Pam- 
pero, dem gewaltigen, verheerenden Sturm, der von den 
Cordilleren niederſtreicht, viel zu große Flächen bieten. 
Und endlich ſchaffen flache Dächer die Annehmlichkeit, 
daß man auf ihnen des Abends ſpazieren gehen und 
friſche Luft ſchöpfen kann. 

Wer da glaubt, daß man auf den Straßen von 
Buenos Aires eine Menge dahergaloppierender Gau⸗ 
chos ſehen kann, hat ſich ſehr geirrt. Man möchte viel⸗ 
mehr meinen, ſich in einer europäiſchen Stadt zu be⸗ 
finden. Alles kleidet ſich hier in franzöſiſcher Tracht. 
Auch iſt die Zahl der Europäer, die hier wohnen, eine 
ganz beträchtliche. Nur die Hälfte der Bevölkerung 
ſind Argentinier. Es gab damals 4000 Deutſche, 
15 000 Franzoſen, 20 000 Spanier und 50000 Ita⸗ 
liener, außerdem viele Engländer und noch mehr 
Schweizer. Dieſes Durcheinander ſo vieler Nationali⸗ 
täten hat eine ungewöhnliche Sprachgewandtheit zur 
Folge. Leute, ja ſogar junge Perſonen, die mit vollſter 
Fertigkeit drei, vier und wohl noch mehr Sprachen 
beherrſchen, finden ſich hier mehr als ſelbſt in Paris, 
London und New Pork. | 

Was nun den Namen der Stadt betrifft, jo trägt 
fie ihn wohl kaum mit vollem Recht. Buenos Aires 
heißt „gute Lüfte“, aber wenn die Sonne heiß auf die 
platten Dächer der tiefliegenden Stadt brennt, ſo ver⸗ 
mag man es in den dumpfen, drückenden Räumen 
kaum auszuhalten. Und Bäume, die eigentlichen Luft⸗ 
verbeſſerer, gibt es ja nicht, wenigſtens nicht das, was 
man bei uns unter Baumwuchs verſteht. Schon Zitro⸗ 
nen und Apfelſinen gedeihen hier nicht mehr, Tropen⸗ 
früchte noch weniger. Für Aepfel, Pflaumen, Kirſchen 


und andre Obftforten iſt das Klima zu heiß, und fo 
trifft man nur Wein, Birnen, Pfirſiche und Aprikoſen 
an, dieſe aber allerdings in vortrefflicher Güte. Wäl« 
der aber gibt es in dem öſtlichen Teil des Landes gar 
nicht. Höchſtens hat einmal hie oder da der reiche Be⸗ 
fiter einer Quinta den Garten, worin dieſe ſteht, fo 
dicht bepflanzt, daß man unter den Bäumen eine wirk⸗ 
liche Kühlung verfpürt. 

Eine der ſchönſten Quinten war diejenige des 
Bankiers Salido, eines höchſt gaſtfreundlichen Man⸗ 
nes, der die Künſte und die Wiſſenſchaften liebte und 
ſelbſt mit europäiſchen Jüngern derſelben in Brief- 
wechſel ſtand. Infolge dieſes letzteren Umſtandes war 
Doktor Morgenſtern an ihn empfohlen worden und 
hatte eine freundliche Aufnahme bei ihm gefunden. Die 
Quinta lag am ſüdlichen Ende der Stadt, ſo daß der 
Gelehrte einen weiten Weg zurückzulegen hatte, in⸗ 
folgedeſſen Antonio Perillo ſehr lange auf die Rückkehr 
ſeines Verbündeten warten mußte. 

Die Zeit wurde ihm aber nicht lang, denn es 
waren auch hier zahlreiche Gäſte vorhanden, denen das 
morgen ſtattfindende Stiergefecht einen reichen Stoff 
der Unterhaltung bot. Perillo kannte keinen dieſer 
Leute, und ebenſowenig war er ihnen bekannt. Man 
ſprach von Senor Cruſada, dem fremden Stierkämpfer; 
und war überzeugt, daß ihn die hieſigen Eſpadas nicht 
erreichen würden. Das ärgerte Perillo gewaltig, doch 
hütete er ſich, zu ſagen, daß er einer dieſer Eſpadas ſei. 
Man erwähnte natürlich auch den Jaguar und den 
wilden Biſon und war der Meinung, daß die Kämpfer 
einen ſchweren Stand haben würden. 

„Blut wird auf alle Fälle fließen,“ meinte einer, 
„und zwar auch Menſchenblut. Von dem Büffel will 


— 24 — 


ich nicht ſprechen, denn ich habe noch kein ſolches Tier 
geſehen; aber der Jaguar iſt ein ſchlimmer Geſell, der 
ein zähes Leben hat und nicht gleich beim erſten Streich 
liegen bleibt.“ 

Da konnte Perillo ſich doch nicht enthalten, einzu⸗ 
werfen: „Ein Feigling iſt der Jaguar! Ich mache 
mich anheiſchig, ihm nur mit dem Meſſer in der Hand 
zu Leibe zu gehen.“ 

„Und dann von ihm zerriſſen zu werden,“ lachte 
der andre. | 

„Ich ſpreche im Ernſte. Habt Ihr denn noch 
nicht gehört, daß der Jaguar flieht, wenn er einen 
Menſchen ſieht, und daß es Gauchos gibt, die ihn mit 
dem Laſſo fangen?“ 

Da antwortete ein alter, ſonnverbrannter Mann, 
der allein ſaß und ſich bis jetzt nicht mit an dem Ge⸗ 
ſpräch beteiligt hatte: „Da haben Sie recht, Senor. 
Der Jaguar flieht den Menſchen und iſt auch ſchon 
von Gauchos mit dem Laſſo gefangen worden. Aber 
welcher Jaguar war das? Der Jaguar des Fluſſes?“ 

„Gibt es denn auch andre Jaguare?“ 

„Mehrere Arten gibt es nicht, denn Jaguar iſt 
Jaguar; aber vergleichen Sie einmal den am Fluſſe 
wohnenden mit demjenigen, der über die Pampas 
ſtreift oder gar droben in den Schluchten des Gebirges 
wohnt. Der Fluß bietet Nahrung in Hülle und Fülle. 
Da leben Tauſende von Waſſerſchweinen, an denen ſich 
der Jaguar ſatt freſſen kann. Die Jagd auf dieſe 
dummen Tiere fällt ihm nicht ſchwer; er frißt ſich ſatt 
und wird faul und feig. Wenn er den Menſchen ſieht, 
nimmt er Reißaus. Der Jaguar auf den Pampas 
aber hat es nicht ſo leicht. Er hat mit den Rindern, 
den Pferden und, wenn er ſich ein Schaf holen will, 


mit den Hirten zu kämpfen; der iſt gewiß nicht feig. 
Oder wohnt er gar in den Bergen, ſo muß er die wilden 
Lamas jagen, die ſchneller ſind als er und ſich nicht ſo 
leicht erwiſchen laſſen. Da muß er hungern, und Hun⸗ 
ger macht wütend. So ein Gebirgsjaguar fällt am 
hellen, lichten Tage offen über den bewaffneten Men⸗ 
ſchen her. Das, Seüores, iſt die Sache, die ich gern 
tichtigſtellen wollte.“ 

Da meinte Antonio Perillo in ſpöttiſchem Ton: 
„Sie ſcheinen in dieſem Fache ſehr große Kenntniſſe zu 
beſitzen, Seüor. Sind Sie denn ſchon einmal über die 
Grenzen der Stadt hinausgekommen?“ 

„Zuweilen, ja.“ 

„Bis wohin denn?“ 

„Bis nach Bolivia hinauf und auch nach Peru 
hinüber. Auch bin ich im Gran Chaco geweſen.“ 

„Bei den wilden Indianern?“ 

„Ja.“ 

„Und die Indianer haben Sie nicht aufgefreſſen, 
wie der Jaguar das Waſſerſchwein auffrißt?“ 

„Entweder bin ich ihnen nicht fett genug geweſen, 
oder fie haben ſich nicht an mich herangetraut, Senor. 
Wahrſcheinlich hat der letztere Grund vorgelegen, denn 
ich bin all mein Lebtag nicht der Mann geweſen, den 
man fo leicht auffreſſen kann. Und ſelbſt jetzt in 
meinen alten Tagen habe ich Kraft genug im Arm, 
einen, der ſich über mich luſtig machen will, auf das 
loſe Maul zu ſchlagen. Merken Sie ſich das, Senor!“ 

„Nur nicht gleich ſo hitzig, Alter! Es war ja gar 
nicht ſo gemeint,“ lenkte Perillo ein, denn die Szene 
im Café de Paris hatte ihn vorſichtig gemacht. „Ich 
wollte nur ſagen, daß ich den Jaguar nicht für gefähr⸗ 
lich halte.“ 


„Er iſt gefährlich für jeden Menfchen, nur für 
einen einzigen nicht.“ 

„Wer iſt das?“ 

„Das können Sie ſich denken. Es hat doch jeder 
von ihm gehört, und ſein Name beweiſt das, was ich 
von ihm behaupte.“ 

„So meinen Sie den Vater Jaguar?“ 

„Ja.“ 

„Man ſagt von ihm freilich, daß er dem wildeſten 
Jaguar mit unbewaffneten Händen zu Leibe gehe, aber 
ich glaube es nicht.“ 

„Und ich glaube es, denn ich habe es mit dieſen 
meinen Augen geſehen.“ 

„So ſind Sie mit ihm im Gran Chaco zuſammen⸗ 
getroffen?“ 

„Nicht zuſammengetroffen, ſondern mit ihm hinge⸗ 
ritten. Er iſt unſer Anführer, und ich gehöre noch heute 
zu ſeinen Leuten.“ 

Kaum hatte der Alte dieſe Worte geſagt, ſo wur⸗ 
den rundum Ausrufe des Staunens, der Verwunde⸗ 
rung laut. Man ſprang auf, um an ſeinen Tiſch zu 
kommen und ihm die Hand zu drücken. Man wollte 
aus mehreren zuſammengeſchobenen Tiſchen eine lange 
Tafel bilden, woran er ſich mit ſetzen ſollte, um von 
dem berühmten Manne zu erzählen, deſſen Namen und 
Taten in aller Munde waren. Er aber wehrte ab mit 
den Worten: „Der Vater Jaguar liebt es nicht, daß 
wir von ihm ſprechen. Er hat es uns geradezu verbo⸗ 
ten, und Sie dürfen mir meine Weigerung nicht übel⸗ 
nehmen, Seßores.“ 

„Wie ſieht er denn eigentlich aus?“ erkundigte ſich 
Perillo. 

„Wie jeder andre Menſch.“ 


— 27 — 


„Und wie alt iſt er?“ 

„Vielleicht fünfzig Jahre.“ 

„Ein Eingeborener?“ 

„Ich habe ſeinen Geburtsſchein noch nicht in der 
Hand gehabt, Senor.“ 

„Darf man nicht erfahren, was er eigentlich treibt? 
Bald ſagt man, er ſei ein Yerbatero; bald nennt man 
ihn einen Goldſucher, bald einen Sendador, der die 
Karawanen über die Anden führt. Ich habe ſogar 
ſchon gehört, daß er ein politiſcher Parteigänger ſei, der 
fein Gewehr bald dieſem und bald jenem Aufrührer 
leihe.“ 

Derbateros find Teeſammler, die in die Urwälder 
ziehen, um den bekannten Paraguaytee zu ſuchen; ihr 
Leben iſt mit vielen Gefahren verknüpft. Sendador 
heißt Pfadfinder, bedeutet alſo genau dasſelbe, was das 
nordamerikaniſche Wort Scout bedeutet. Der Alte ant⸗ 
wortete: „Was er eigentlich iſt, das kann ich Ihnen 
wohl ſagen: Er iſt ein Mann, und zwar ein ganzer 
Mann, wie es wohl ſelten einen zweiten gibt. Auf⸗ 
rührern hat er noch nie gedient und wird er auch nie 
dienen. Er iſt ein Freund aller guten und ein Feind 
aller ſchlechten Leute. Sollten Sie nicht zu den erſteren 
gehören, ſo hüten Sie ſich ja, ihm einmal zu begegnen.“ 

„Sie werden immer ſchärfer und anzüglicher, mein 
alter Seüor! Hat es Sie denn gar ſo verdroſſen, daß 
ich den Jaguar für ein feiges Tier gehalten habe?“ 

„Das nicht. Aber daß Sie behaupteten, ihm nur 
mit dem Meſſer zu Leibe gehen zu wollen, ſagte mir, 
daß Sie entweder ein Aufſchneider oder ein unwiſſender 
Menſch ſeien, und beide kann ich nicht leiden. Der 
Jaguar, den wir morgen ſehen werden, hat wahr⸗ 
ſcheinlich am Fluſſe gewohnt, kann aber auch aus der 


— 28 — 


Pampa gekommen ſein. Wir werden ja erfahren, wie 
er ſich benimmt. Was mich betrifft, ſo bin ich auf ihn 
nicht im geringſten neugierig. Viel eher verlangt es 
mich, ob ſich einer der Eſpadas an den Büffel wagen 
wird.“ 

„Alle werden ſich an ihn wagen, alle; das ver⸗ 
ſichere ich Ihnen!“ 

„Wollen ſehen. So ein Biſon iſt, wenn er gereizt 
wird, ein gefährliches Tier. Ich weiß es vom Vater 
Jaguar, welcher Hunderte erſchoſſen hat.“ 

„Auf der Pampa etwa?“ lachte Perillo. 

„Nein, ſondern in den Prärien von Nordamerika, 
wo er früher gejagt hat.“ 

„Auch dort iſt er geweſen? So iſt er alſo kein 
Porteno, ſondern ein Fremder? Das iſt ein Umſtand, 
der mir freilich nicht zu gefallen vermag.“ 

„Nicht? Nun, was das betrifft, ſo glaube ich nicht, 
daß der Vater Jaguar viel danach fragt, ob er Ihnen 
gefällt oder nicht.“ 

„Weil er mich nicht kennt. Würde er aber meinen 
Namen erfahren, ſo würde er es wohl für eine Ehre 
halten, mir die Hand drücken zu können.“ 

„So? Wie lautet denn dieſer Ihr berühmter 
Name?“ 

„Perillo.“ 

„Ah! Sind Sie etwa Antonio Perillo, der Eſpada, 
der morgen mit auftreten wird?“ 

„Der bin ich allerdings.“ 

Er ſah den Alten mit einem Blick an, aus dem zu 
erſehen war, daß er erwartete, jetzt eine ehrerbietige 
Lobeserhebung zu hören. Aber die Worte, die er zu 
hören bekam, waren ganz andre, nämlich: „So ſagen 


— 29 — 


Sie mir einmal, Sehor, warum Sie mit den Stieren 
kämpfen!“ 

„Welch eine Frage! Um ſie zu töten natürlich. 
Wir erſtechen ſie, um unſre Kunſt zu zeigen.“ 

„Eine ſchöne Kunſt! Es iſt nicht etwa ein Helden⸗ 
ſtück, einen vorher matt gehetzten Ochſen zu erſtechen. 
Ich töte ein Tier, weil ich ſein Fleiſch brauche, um 
leben zu können; aber es um einer ſo fadenſcheinigen 
Ehre willen erſtechen, und gar vorher mit Stichen 
quälen und halb zu Tode hetzen, das iſt Schinderei. Sie 
ſollten ſich alſo nicht einen Eſpada, ſondern viel rich⸗ 
tiger einen Deſollador (Schinder) nennen.“ 

Da fuhr Perillo, wie von einer Feder geſchnellt, 
von ſeinem Stuhl auf. Er wollte auf den Alten ein⸗ 
dringen. Glücklicherweiſe wurde gerade in dieſem 
Augenblick die Türe geöffnet, und ſein Verbündeter 
trat ein. Er beſann ſich eines andern, ſetzte ſich wieder 
und warf dem Alten nur die Worte hin: „Sie wollen 
ſich an mir reiben, können mich aber nicht beleidigen, 
weil Sie tief unter mir ſtehen, daß es Ihnen unmög⸗ 
lich iſt, zu mir aufzuſehen.“ 

„Gerade ſo ſagte die Fliege zum Löwen, als ſie 
über ihm ſummte. Da kam aber ein Vogel und ver⸗ 
ſchluckte ſie.“ 

Perillo tat ſo, als ob er dieſe Worte nicht höre. 
Sein Kamerad ſetzte ſich zu ihm und flüfterte ihm zu: 
„Schon wieder Streit? Nimm dich in acht! Unſer 
ſtilles Handwerk erfordert Vorſicht. Zehn Freunde 
können uns nicht jo viel nützen, wie ein einziger Feind 
uns zu ſchaden vermag.“ 

„Schweig! Dieſer alte Schwätzer kann uns gar 
nicht ſchaden. Sag mir lieber, was du erfahren haſt!“ 


— 80 — 


Sie ſprachen natürlich ſo leiſe miteinander, daß ſie 
von übrigen Gäſten nicht gehört werden konnten. 
Trotzdem blickte der andre ſich vorſichtig um, und als 
er ſah, daß jetzt niemand auf ſie achtete, ſagte er: „Er 
iſt's wirklich, ganz gewiß. Und weißt du, wo er 
wohnt? Bei Salido, dem Bankier.“ 

„Todos demonios! Bei Salido? Wer hätte das 
geahnt! Das iſt ja ganz und gar gefährlich für uns!“ 

„Leider! Er wird ihm alles erzählen. Biſt du 
überzeugt, daß er dich wieder erkannt hat?“ 

„Ich möchte darauf ſchwören. Warum verſtellt er 
ſich? Doch nur, um mich in Sicherheit zu wiegen.“ 

„So müſſen wir nach einem Mittel ſuchen, ihn 
zum Schweigen zu bringen.“ | 

„Hm! Ich verſtehe dich: ein Stich mit dem 
Meſſer oder eine Kugel in den Kopf. Und zwar darf 
keine Zeit verloren werden. Morgen früh wäre es 
vielleicht ſchon zu ſpät. Er darf gar nicht bis vor die 
Polizei kommen. Wenn man erfahren könnte, welches 
Zimmer er bewohnt!“ 

„Ich weiß es. Ich wartete, bis er in das Haus 
getreten war, und ſtieg dann über den Zaun in den 
Garten. Glücklicherweiſe hat die Quinta keine Höfe 
und Mauern; ſie ſteht mitten im Garten, ſo daß man 
rund um ſie gehen kann. Bald nachdem er in der Tür 
verſchwunden war, wurde auf der hintern Seite des 
Hauſes ein oberes Zimmer hell. Er hatte ſeine Lampe 
angebrannt.“ 

„Das kann auch eine andre Perſon geweſen ſein.“ 

„Nein, denn er kam an das offene Fenſter, um es 
zu verſchließen. Ich ſah ihn deutlich ſtehen.“ 

„Wie viele Fenſter hatte das Zimmer?“ 

„Zwei.“ 


er Bl 


„Ließ er die Rolläden herab?“ 

„Nein.“ 5 

„Ob irgendwo eine Leiter in der Nähe iſt?“ 

„Auch daran habe ich gedacht und ſah mich nach 
einer ſolchen um. In der Ecke des Gartens ſteht ein 
Baum, der verſchnitten worden iſt; die Leiter lehnte 
noch daran. Sie tft lang genug, um an das Fenſter zu 
reichen.“ 

„Schön, ſehr ſchön! Leider aber können wir jetzt 
noch nicht an das Werk gehen. Es iſt zu früh. Die 
Straßen ſind noch zu belebt. Man könnte uns ſehen.“ 

„Wir müſſen bis gegen Mitternacht warten. Aber 
ob er dann noch wach fein wird!” 

„Wach oder nicht, das bleibt ſich gleich. Er darf 
den morgenden Tag nicht ſehen. Iſt er noch wach, ſo 
bekommt er durch das Fenſter eine Kugel. Schläft er 
ſchon, ſo ſteigen wir ein. Jetzt aber wollen wir gehen. 
Es gefällt mir hier nicht.“ 

Perillo bezahlte das Eis, das er genoſſen hatte, 
und dann entfernten ſich die beiden Menſchen, die ſo 
leichten Herzens bereit waren, ein Menſchenleben zu 
zerſtören, um die Entdeckung eines frühern Verbrechens 
zu verhüten. 

Die Straßen und öffentlichen Lokale waren heute 
länger belebt als ſonſt. Der Bewohner von Buenos 
Aires iſt häuslich und legt ſich gewöhnlich zeitig ſchla⸗ 
fen; heut aber hatte es elf Uhr geſchlagen, als der letzte 
der Gäſte das Café de Paris verließ. Der deutſche 
Lohnkellner erhielt ſein Tagesſalär und konnte gehen. 
Draußen vor der Tür blieb er ſtehen. Es gab noch 
Paſſanten in den Straßen. Es war Anfang Dezem⸗ 
ber, ein ſchöner, lauer Abend. Der Kellner hatte noch 
nicht Luſt, ſchlafen zu gehen. Ihm lag die neue Stel⸗ 


— 82 — 


lung im Sinn, und die Freude, einen deutſchen Herrn 
gefunden zu haben, ließ keine Müdigkeit in ihm auf⸗ 
kommen. Er beſchloß, noch einen Spaziergang zu 
unternehmen, und lenkte ſeine Schritte ganz unwillkür⸗ 
lich in die Richtung, wo er Doktor Morgenſtern wußte. 
Das Handeln der Menſchen wird oft durch innere Vor- 
gänge beſtimmt, worüber er ſich nicht ſelbſt klar wird, 
und ſo kam es, daß der Deutſche plötzlich vor der 
Quinta ſtand und ſelbſt ganz überraſcht darüber war. 

Hier, fern vom Mittelpunkt des Verkehrs, brann⸗ 
ten keine Laternen mehr. Es war dunkel; nur die 
Sterne verbreiteten einen ungewiſſen Schimmer, bei 
dem man einige Schritte weit zu ſehen vermochte. 
Schon wollte er umkehren, als es ihm war, als ob er 
das Geräuſch ſchleichender Schritte vernehme. Das 
kam ihm verdächtig vor. Warum ſo leiſe? Wer ein 
gutes Gewiſſen hat, kann feſt auftreten. Er drückte ſich 


eng an den Zaun und wartete. 


Ein Menſch kam drüben mitten auf der Straße, 
ging vorüber und blieb dann ſtehen; ein zweiter folgte 
und hielt bei dem erſten an. Sie ſprachen leiſe mitein⸗ 
ander, näherten ſich dann dem Zaun und ſtiegen mit 
großer Gewandtheit in den Garten. 

„Alſo Diebe!“ dachte der Deutſche. Aber was 
wollten ſie ſtehlen? Nur Gartenfrüchte? Oder galt es 
gar einen Einbruch bei dem reichen Bankier? Er 
mußte folgen und ſchwang ſich alſo auch ſo leiſe wie 
möglich über den Zaun. Jenſeits davon gab es Raſen, 
der die Schritte unhörbar machte. Er ſchlich zu der 
Villa hin und an der ſchmalen Seite derſelben vorüber. 
Da erblickte er an der Ecke einen der Männer und blieb 
halten, um ihn zu beobachten. Er ſah, daß der Menſch 
nach einiger Zeit um die Ecke auf die hintere Seite des 


u 28h 


Hauſes verſchwand. Er büdte ſich nieder und kroch auf 
den Händen und Füßen zu der Ecke hin. Da ſtand der 
Kerl und blickte nach zwei erleuchteten Fenſtern des 
erſten Stockes empor. Und jetzt kam der zweite Geſell 
von der Seite herbeigeſchlichen; er trug eine Leiter, die 
ſo an die Mauer gelehnt wurde, daß ihr oberes Ende 
an den Stock des einen Fenſters zu liegen kam. 

Was beabſichtigten dieſe Menſchen eigentlich? Man 
bricht doch nicht in eine erleuchtete Wohnung ein? 
Sollte vielleicht nur ein Scherz beabſichtigt werden? 
Dann wäre es Torheit geweſen, Lärm zu ſchlagen. Doch 
hielt der Deutſche die Augen ſcharf auf die beiden 
Männer. Jetzt ſtieg der eine empor, während der andre 
die Leiter hielt. Oben angekommen, ſah jener in das 
Zimmer, kam dann einige Sproſſen herab und raunte 
dem Untenſtehenden einige Worte zu. Es ſchien dem 
Kellner, als ob der Sprecher einen metalliſch glänzenden 
Gegenſtand in der Hand halte. Dann gab es ein zwei⸗ 
maliges leiſes Knacken, wie wenn die Hähne einer 
Doppelpiſtole aufgezogen werden. Nun wurde ihm 
himmelangſt; er ſchlich ſchnell näher. Noch flüſterten 
die beiden miteinander. Sie konnten ihn nicht ſehen, 
weil er ſich tief an der Erde bewegte. Er hörte die 
Worte: „Er ſitzt und lieſt.“ 

„In welcher Lage?“ 

„Die linke Seite dem Fenſter zugekehrt.“ 

„Iſt ſein Geſicht frei?“ 

„Ja. Er hat die andre Seite des Kopfes in die 
Hand gelegt.“ 

„Dann ſchieße ihn in die Schläfe; das iſt die 
ſicherſte Stelle.“ 

Alſo um einen Mord handelte es ſich! Der Kell⸗ 
ner erſchrak ſo, daß er ſich für einige en nicht 

May, Das Vermächtnis des Inka 


u. BR 


zu bewegen vermochte. Und da ſtieg der Kerl wieder 
aufwärts und richtete den Lauf der Piſtole, die er in 
der Rechten hielt, in das Zimmer. Das gab dem 
Lauſcher ſeine Beweglichkeit zurück. Er ſchrie laut auf, 
ſprang zur Leiter, warf den Untenſtehenden zur Seite 
und ſtieß ſie um, ſo daß der Obenſtehende, der ſoeben 
abdrückte, gerade beim Krachen des Schuſſes jäh zum 
Sturze kam. Der Kellner warf ſich auf ihn, um ihn 
feſtzuhalten. 

„Laß los, Hund, ſonſt erſchieße ich dich!“ knirſchte 
der Mörder. 

Der Schuß ging los, und der Deutſche fühlte einen 
ſtechenden Ruck im linken Arm. Er war getroffen 
worden und konnte den Menſchen nicht mehr halten, 
welcher aufſprang und ſchnell in der Dunkelheit ver⸗ 
ſchwand. Der andre war ſchon vorher davongerannt. 

Die beiden Schüſſe hatten die Bewohner des Hau⸗ 
ſes geweckt. Es begann darin lebendig zu werden. 
Zugleich wurde droben in dem erleuchteten Zimmer 
eines der Fenſter geöffnet; der Doktor ſteckte den Kopf 
heraus und rief: „Welcher Mordbube ſchießt denn da 
nach mir! Warum läßt man mich nicht ruhig leſen?“ 

Da erſchrak der Kellner von neuem und antwor⸗ 
tete: „O jerum, jerum! Sind denn Sie's Herr Dok⸗ 
tor, der umjebracht hat werden ſollen?“ 

„Wer iſt denn da unten? Dieſe Stimme kommt 
mir bekannt vor.“ N 

„Ick bin es, ick, Fritze Kieſewetter, Herr Doktor.“ 

„Fritze Kieſewetter? Mir iſt ein Individuum 
dieſes Namens noch nicht vorgekommen.“ 

„O doch! Heute, im Caféè de Paris haben Sie 
mir kennen jelernt. Sie wollten mir wegen die Sint⸗ 
flutsknochen engagieren.“ 


— 85 — 


„Ah, der Kellner! Aber, Menſch, wie kommen 
Sie denn auf die Idee, nach mir zu ſchießen?“ 

„Als wie ick? Das iſt ſtark! Da hört nun oft 
und manchmal allens auf? Ick ſoll es jeweſen ſind, 
der jeſchoſſen hat!“ 

„Wer denn? Oder ſind Sie nicht allein?“ 

„Ick bin janz allein, nach Schiller die einzige 
fühlende Larve hier in dem Jarden.“ 

„Aber was wollen Sie da denn hier?“ 


„Ihnen retten. Und nun, da Sie mich dat Leben 
zu verdanken haben, halten Sie mir für den reinen 
Meuchelmord. Dat kränkt mir in die Seele!” 

Er ſollte nicht von dem Doktor allein, ſondern auch 
noch von andern verkannt werden. Die Hausbewohner 
kamen mit Lichtern und Laternen, mit allen möglichen 
Waffen in den Händen heraus, um den Miſſetäter zu 
ergreifen. Da half kein Bitten und Reden; Fritze Kieſe⸗ 
wetter wurde feſtgenommen und hineingeſchafft, wobei 
es nicht ohne kräftige Stöße abging, deren Spuren er 
noch jpäter fühlte. Man wollte nach Polizei ſenden, 
um ihn abholen zu laſſen, doch bat er, ihn doch erſt 
ruhig anzuhören. Der Doktor unterſtützte dieſe Bitte 
durch die Erklärung: „Der Menſch iſt ein vorzugs⸗ 
weiſe denkendes Geſchöpf; laſſen Sie uns alſo denken, 
da wir Menſchen ſind. Ich habe dieſem jungen Mann 
kein Leid getan, ihn vielmehr in meinen Dienſt nehmen 
wollen. Iſt das ein Grund, mich zu erſchießen? Nein. 
Auch hat er kein Mörder⸗, ſondern ein ehrliches Geſicht. 
Und ſelbſt wenn er ein Meuchler wäre, ſo iſt das noch 
kein Grund, ihm das Sprechen zu verbieten. Ich be⸗ 
antrage alſo, ihm die Erlaubnis zu erteilen, feine Ver- 
teidigung, lateiniſch Defensio, vorzubringen.“ 


— 86 


Der erzürnte Bankier war eigentlich dagegen, 
mußte aber ſeinem Gaſt ſchon aus Höflichkeit zu Willen 
ſein. Fritze erzählte den Hergang der Sache und ver⸗ 
langte, daß man die Spuren unterſuche. Man will⸗ 
fahrte ihm und kam da allerdings zu der Ueberzeugung, 
daß er nicht gelogen hatte. Man ſah die Fußeindrücke 
nicht nur an der Stelle, wo die Mörder über den Zaun 

hereingeſtiegen waren, ſondern es wurden auch die 
Stellen entdeckt, wo ſie wieder hinausgeſprungen waren. 
Schließlich fand man hinter dem Hauſe den Hut des 
einen, den er während des Sturzes oder beim Ringen 
mit Fritze verloren hatte. Dieſer letztere blutete. Seine 
Wunde wurde unterſucht; ſie war nicht gefährlich; die 
Kugel hatte den Arm nur geſtreift. 

Man wußte jetzt, daß zwei Menſchen eingeſtiegen 
waren, um den deutſchen Doktor zu erſchießen; nur 
durch das Eingreifen Fritzens hatte die Kugel eine 
andre Richtung erhalten. Wer aber waren die Mörder, 
und welchen Grund konnten ſie haben, einen Menſchen 
zu töten, der ſich erſt eine Woche lang im Lande be⸗ 
fand und ganz gewiß niemand beleidigt hatte. 

„Konnten Sie denn nicht wenigſtens eins der Ge⸗ 
ſichter erkennen?“ fragte der Bankier. 

„Nicht vollſtändig,“ antwortete Fritze; „aber als 
der eine auf der Leiter ſtand und die Piſtole nach dem 
Zimmer richtete, befand ſich ſein Kopf im Lichte der 
Lampe; ich konnte ſein Geſicht halb von der Seite 
ſehen, und da kam es mir vor, als ob er Aehnlichkeit 
mit dem Eſpada Antonio Perillo habe.“ 

Das machte die Angelegenheit nur noch verwickel⸗ 
ter. Perillo war zwar ein Mann ziemlich zweideutigen 
Rufes, doch eines Mordes wollte man ihn nicht für 
fähig halten. Und was hätte er für einen Grund haben 


2 


— 87 — 


können, den Doktor mittels einer Kugel zu beſeitigen? 
Er hatte im Café ſogar freundlich mit ihm geſprochen. 
Allerdings gab der Umſtand zu bedenken, daß er ihn 
offenbar für einen andern gehalten hatte. Aus dieſem 
Grunde ließ der Bankier die Polizei benachrichtigen. 
Sie ſtellte ſich in Geſtalt zweier Oberbeamten der blau 
gekleideten Vigilantes ein; dieſe betrachteten die Spu⸗ 
ren, erwogen alle Tatſachen und meinten ſchließlich, 
daß man zunächſt heimlich erfahren müſſe, wo Perillo 
ſich zur Zeit der Tat befunden habe. Keinesfalls aber 
könne vor dem Stiergefecht gegen ihn eingeſchritten 
werden, da er als Eſpada unentbehrlich ſei und ſeine 
Verhaftung auf das Publikum einen böſen Eindruck 
machen könne. 

Was Fritze Kieſewetter betrifft, ſo war es ganz 
unzweifelhaft, daß er dem Doktor das Leben gerettet 
hatte. Dieſer nahm ihn ſofort in Dienſt, und zwar 
unter Bedingungen, welche vorteilhafter gar nicht hätten 
ſein können. Er durfte gleich in der Quinta bleiben. 


Zweites Kapitel 


Corrida de torros 


| Am andern Morgen war jedermann beftrebt, Ein⸗ 
trittskarten für die Vorſtellung zu erhalten. Die Kaſſe 
wurde förmlich belagert. Der Bankier hatte für vier 
Plätze zu ſorgen, drei für ſich, ſeine Gattin und ſeinen 
Gaſt, den Doktor, und den vierten für einen jungen 
Neffen, der bei ihm zu Beſuch war. N 
Die Frau des Bankiers war nämlich eine Deutſche, 
deren Bruder in Lima, der Hauptſtadt von Peru, 
wohnte. Er hieß Engelhardt und hatte zwei Söhne, 
denen ſpäter das Erbe des kinderloſen Bankiers zu⸗ 
fallen mußte. Aus dieſem Grunde hatte der letztere 
gewünſcht, einmal einen der Brüder auf längere Zeit 
bei ſich zu haben, und ſo war der jüngere, namens 
Anton, zu ihm geſchickt worden. Der ſechzehnjährige 
Knabe hatte die Reiſe zur See um Kap Horn gemacht 
und eine ſehr unglückliche Ueberfahrt gehabt. Darum 
ſollte eine zweite Seereiſe vermieden und die Heimkehr 
zu Land über die Anden vorgenommen werden. Nun 
galt es, eine paſſende Gelegenheit dazu zu finden. Eine 
Reiſe quer durch Südamerika iſt mit ungewöhnlichen 
Gefahren und Entbehrungen verknüpft, und nicht jeder 
Maultiertreiber iſt der Mann, dem man für eine ſolche 
Tour einen hoffnungsvollen Knaben anvertraut. 


FE 


tn 


— 39 — 


Das Stiergefecht ſollte punkt ein Uhr beginnen; 
die Plaza de Toros, wie der Zirkus genannt wird, hatte 
ſich aber ſchon zwei Stunden vorher ſo gefüllt, daß es 
für keinen Zuſchauer Raum mehr gab. Nur die Logen 
des Präſidenten und der oberen Behörden waren 
noch leer. 

Auf rieſigen Plakaten war in fußlangen Buch⸗ 
ſtaben das Programm zu leſen. Mehrere Muſikkapellen 
konzertierten, indem ſie einander ablöſten. Die Mata⸗ 
dores glätteten mit Rechen und Beſen den Sand der 
Arena, und zuweilen erſchien aus irgend einer Tür ein 
bunt gekleideter Kämpfer, der langſam und gewichtig 
über die Bühne ſchritt, um ſich bewundern zu laſſen. 

Die Arena war von dem Zuſchauerraum durch 
eine Bretterwand getrennt, die ſtark genug war, den 
Stößen eines Stieres zu widerſtehen, doch nicht zu hoch, 
damit es den Toreadores, welche in Gefahr kamen, 
möglich war, ſich darüber hinwegzuſchwingen. Vorn 
war die Tür, woraus man die Stiere, hinten diejenige, 
woraus man den Jaguar zu erwarten hatte. Es wurde 
erzählt, daß man betreffs des nordamerikaniſchen Bi⸗ 
ſons zu ganz ungewöhnlichen Vorſichtsmaßregeln ge⸗ 
zwungen geweſen ſei. Jetzt konnte man das Tier zwar 
noch nicht ſehen, aber man hörte es brüllen, und dieſe 
Stimme ließ gar wohl ahnen, daß es ſich nicht ohne 
Widerſtand abſchlachten laſſen werde. 

Diejenigen Plätze, die hinter der erwähnten Bret⸗ 
terwand begannen, waren die billigen; da ſaß Fritze 
Kieſewetter, der von ſeinem neuen Herrn ein Billet 
geſchenkt bekommen hatte. Die höher liegenden Plätze 
waren bedeutend teurer; da ſaßen die reichen Leute, 
unter ihnen der Bankier mit ſeinen drei Begleitern. 
Der Zufall hatte es gefügt, daß der weißbärtige Herr, 


— 0 — 


der ſich geſtern im Café de Paris Hammer genannt 
hatte, nebſt feinen geſtrigen Kameraden die neben- 
liegenden Sitze erhalten hatte. Er ſaß neben Doktor 
Morgenſtern, der ſich Mühe gab, ſeinem Nachbar, dem 
jungen Peruaner, das Ungebührliche und Verwerfliche 
ſolcher Tierkämpfe zu demonſtrieren. 


„Haben Sie ſchon einmal einen ſolchen Kampf 
mit angeſehen, mein lieber, junger Senor?“ fragte er. 

Anton Engelhardt verneinte. 

„Dann muß ich Ihnen ſagen, daß dieſe Tierquäle⸗ 
reien nichts Neues ſind. Sie fanden ſchon bei den 
alten Griechen, namentlich in Theſſalien, und bei den 
Römern unter den Kaiſern ſtatt. Das waren Heiden, 
die man entſchuldigen kann. Wir aber ſind Chriſten 
und ſollten ſolche Abſcheulichkeiten unterlaſſen.“ 

„Aber, Senor, Sie find ja ſelbſt auch mitgekom⸗ 
men, um ſie ſich mitanzuſehen!“ 

Dieſe Bemerkung des Knaben brachte den Ge⸗ 
lehrten ſichtlich in Verlegenheit; er rettete ſich aber durch 
die Antwort: „Würde das Gefecht unterbleiben, wenn 
ich nicht mit hier ſäße?“ 

„Nein.“ | 

„So iſt mir alfo kein Vorwurf zu machen. Außer⸗ 
dem bin ich gekommen, um Studien zu machen; ich 
habe alſo eine doppelte Entſchuldigung, Excusatio, wie 
der Lateiner ſagt. Ich bin Zoolog, und es iſt ein zoo⸗ 
logiſches Schauſpiel, das uns erwartet. Ein reichlicher 
Fund im Diluvium würde mir aber doch weit lieber 
ſein.“ | | 

„Hat es vor der Diluvialzeit auch ſchon ſolche 
Tiergefechte gegeben?“ fragte Anton, indem er ein 
ſchelmiſches Lächeln kaum zu unterdrücken vermochte. 


u ‚4 > 


Der Doktor warf ihm einen forſchenden Seiten⸗ 
blick zu und antwortete: „Dieſe Frage läßt ſich nicht ſo 
ohne weiteres mit einem kurzen Ja oder Nein abtun. 
Man ſpricht von einem antediluvianiſchen, ja von 
einem ſogar noch älteren Menſchen. Hat es dieſen 
wirklich gegeben, ſo iſt bei der damaligen niedrigen ſitt⸗ 
lichen Bildungsſtufe anzunehmen, daß dieſer Menſch 
allerdings die Saurier gegeneinander und das Maſto⸗ 
don auf das Megatherium gehetzt haben kann. Es iſt 
das ſehr beklagenswert, aber wir leben in einer zu 


ſpäten Zeit, um es ändern zu können. Wir haben 


u 


uns — — — 

Er wurde unterbrochen, denn die Muſik blies 
einen ſchmetternden Tuſch; der Präſident hatte ſeine 
Loge betreten und mit der Hand das Zeichen gegeben, 
daß das Kampfſpiel beginnen möge. Waren vorher die 
Stimmen der miteinander ſprechenden Zuſchauer wie 
ein dumpfes Brauſen erklungen, ſo trat jetzt mit einem⸗ 
mal eine Stille ein, daß man den Nachbar Atem holen 
hörte. Ein abermaliger Wink des allgebietenden Herrn, 
die Muſik begann einen Marſch zu blaſen, und es öff⸗ 
nete ſich ein Tor, um zunächſt die Picadores einzulaſſen. 
Sie ritten ſchlechte Pferde, da man wertvollere Tiere 
den Hörnern der Stiere nicht ausſetzen mag. Ihnen 
folgten zu Fuße die Banderilleros und Eſpadas, um 
einmal rund um die Arena zu ziehen. Dann nahmen 
die Picadores in der Mitte des Platzes dem Tore, 
woraus die Stiere erwartet wurden, gegenüber Auf⸗ 
ſtellung, da fie den erſten Angriff an- oder vorzu- 
nehmen hatten. Die Banderilleros und Eſpadas zogen 
ſich hinter Pfeiler und in die Niſchen zurück, die zu 
dieſem Zwecke angebracht waren. Nun gab der Prä⸗ 
ſident einen dritten Wink, als Zeichen, daß der erſte 


— 42 — 


Stier eingelaſſen werden ſolle. Die Barriere wurde 
geöffnet, und er kam. 


Es war ein Rappſtier mit ſpitzen und nach vorn 
gebogenen Hörnern. Plötzlich aus dem engen Pferch 
befreit, wollte er die Freiheit genießen und kam in 
weiten Sätzen angejagt. Da erblickte er die Picadores, 
ſtutzte einen Augenblick und rannte dann gerade auf ſie 
zu. Sie ſtoben auseinander, aber er nahm doch das 
Pferd des einen von der Seite und ſchlitzte ihm den 
Leib auf. Der Reiter wollte abſpringen, blieb aber mit 
dem Fuße im Bügel hängen und wurde von ſeinem 
Pferde mit niedergeriſſen. Er ſchien verloren zu ſein, 
denn ſchon ſenkte der Stier den Kopf zum zweiten 


Stoß, da waren aber auch ſchon die Banderilleros zur 


Hilfe. Sie warfen dem Stier mit blitzartiger Ge⸗ 
ſchwindigkeit drei, vier buntſeidene Schärpen über den 
Kopf und die Augen. Er ſtutzte, und das gab dem Pi⸗ 
cador Zeit, ſich zu retten, während ſein Pferd mit her⸗ 
austretenden Eingeweiden ſich ſchnaubend am Boden 
hinſchob und dann ſtöhnend liegen blieb. 


Dies war ſo ſchnell geſchehen, daß man die ein⸗ 
zelnen Bewegungen kaum voneinander zu unterſcheiden 
vermochte. Die Picadores waren in altſpaniſche Rit⸗ 
tertracht gekleidet, während die Banderilleros modern 
ſpaniſche, mit vielen Treſſen und Bändern geſchmückte 
Anzüge trugen. Sie waren nur mit den Schärpen und 
den ſchon erwähnten Stäben mit Widerhaken, welche 
Banderillas genannt werden, verſehen. 

Der ſchwarze Stier ſchüttelte den Kopf, um die 
Schärpen loszuwerden, und als ihm dies nicht ſofort 
gelang, brüllte er vor Wut. Es war vorauszuſehen, 
daß ſein nächſter Angriff ein ſehr gefährlicher ſein 


1 


werde. Da ertönte hinter den Banderilleros eine helle 
Stimme: „Weg mit euch! Laßt mich heran!“ 

Es war Cruſada, der Eſpada aus Madrid. Sie 
zögerten, ihm zu gehorchen, denn das Wagnis, das er 
unternahm, war ein großes; aber auf ein zweites ge⸗ 
bieteriſches Wort von ihm wichen ſie zurück. Er war, 
um den Stier zu reizen, ganz in roten Sammet ge⸗ 
kleidet, natürlich nach ſpaniſchem Schnitt. In der 
linken Hand hielt er die Muleta, ein Stück glänzendes 
Seidenzeug, das an einem Stabe hing, und in der 
rechten den blanken, blitzenden Degen. So ſtand er auf 
zehn Schritt Entfernung dem Stier gegenüber, eine 
große Kühnheit, da das Tier noch nicht ermattet war. 
Er ſchien gleich am Anfang ſeine hieſigen Kollegen 
durch dieſen Bavourſtreich ſchlagen zu wollen. Jetzt 
bekam der Rappſtier das Geſicht frei und ſein erſter 
Blick fiel auf den Feind, der herausfordernd die Mu⸗ 
leta ſchwang. Er ſenkte den Kopf und ſtürmte auf ihn 
zu, um ihn aufzuſpießen. Der Eſpada blieb ſtehen, bis 
die Hörnerſpitzen ihm bis auf zwei Zoll nahe waren; 
dann ſchwang er ſich leicht zur Seite und ſtieß dem vor⸗ 
überſchießenden Stier mit erſtaunenswerter Sicherheit 
und Leichtigkeit den Degen in die Bruſt. Das Tier 
lief nur eine kurze Strecke weit und brach dann tot zu⸗ 
ſammen. Der Eſpada zog ihm den Degen aus der 
Bruſt und ſchwang ihn unter den brauſenden Beifalls⸗ 
rufen der entzückten Menge über ſeinem Haupt. Er 
hatte ein Meiſterſtück gezeigt. 

Nun kamen die Matadores, üm die Tierleiche und 
das noch immer ſtöhnende Pferd hinauszuſchleifen. 
Dann gab der Präſident das Zeichen, den zweiten Stier 
einzulaſſen. Es ſei nur geſagt, daß er einen Bande- 
rillero und einen Eſpada verwundete und dann von 


— 4 — 


dem Spanier erlegt wurde. Der nächſte Stier riß zwei 
Pferde über den Haufen und verwundete Antonio Pe⸗ 
rillo leicht. Der bisherige Sieger tötete auch ihn. Er 
hatte ſeine hieſigen Konkurrenten geſchlagen und wurde 
bejubelt und von den Damen mit Blumen und Taſchen⸗ 
tüchern überſchüttet. Perillo war am Bein verwundet 
und mußte ſich zurückziehen; ſein Aerger ſchien unge⸗ 
heuer zu ſein. 

Jetzt folgte die Hauptnummer des Programms, 
nämlich der Kampf des Jaguars mit dem Büffel. Der 
Sieger ſollte es dann zum Schluſſe mit den Toreadores 
aufzunehmen haben. 

Zunächſt wurde die hintere Türe geöffnet, woraus 
der Jaguar hervorſchoß. Er kam nicht weit, da er an 
einen langen Laſſo gefeſſelt war, deſſen andres Ende an 
einem eiſernen Haken hing. Er bemühte ſich vergeb⸗ 
lich, loszukommen, und legte ſich dann fauchend nieder. 
So lag er, ſcheinbar unbekümmert um das große Pu⸗ 
blikum. Die weit geöffneten Nüſtern zitterten. Er 
hatte einige Tage gehungert und roch das Blut, das 
hier gefloſſen war. Er war ein ungewöhnlich ſtarkes, 
doch nicht zu altes Tier. 

Nun wurde auch vorn geöffnet. Man erwartete, 
daß der Büffel hereinſtürmen werde; aber das tat er 
nicht, ſondern er kam langſam hergeſchritten, als ob er 
ſich bewußt ſei, daß man ihn anſtaunen werde. Er war 
ein wirklicher Rieſe ſeiner Gattung, faſt drei Meter 
lang und ſehr gut genährt, ſo daß er leicht gegen dreißig 
Zentner wiegen konnte. Nach einigen Schritten ſtehen 
bleibend, ſchüttelte er ſich das lange Stirnhaar aus den 
Augen und ſah den Jaguar. Man war aufs äußerſte 
geſpannt, was nun geſchehen werde. Der Jaguar war 
aufgeſprungen und begann zu heulen. Hätte er auch 


Zus: BB 


angreifen wollen, der Laſſo hielt ihn feſt. Der Büffel 
neigte den Kopf zur Seite und muſterte ihn mit dem 
einen Auge. Er ſchien zu überlegen, ob es ſich der 
Mühe lohne, mit dieſem Gegner anzubinden. Dann 
wendete er ſich ab und trollte von dannen, einen Rund⸗ 
gang um den Zirkus unternehmend. Natürlich mußte 
er auf der andern Seite dem Jaguar nahekommen. 
Dieſer ließ ihn weit genug heran und duckte ſich zum 
Sprunge nieder. Da ſenkte der Büffel den Kopf, 
zeigte die Hörner und den mächtigen Nacken und ließ 
ein warnendes Brummen hören. Das war genug ge⸗ 
ſagt; der Jaguar zog ſich zurück und der Biſon trottete 
an ihm vorüber, doch vorſichtigerweiſe ſo, daß er ihm 
im Vorbeigehen die Vorderſeite zukehrte. Der Jaguar 
blieb wider alles Erwarten eingeſchüchtert liegen; ohne 
Zweifel fürchtete er ſich. ö 

Während dieſer Art von Waffenſtillſtand zwiſchen 
den beiden Tieren erklärte der Privatgelehrte ſeinem 
jungen Nachbar: „Der nordamerikaniſche Biſon bildet 
im Verein mit dem europäiſchen Auerochſen, auch Wi⸗ 
ſent genannt, eine Unterabteilung des Geſchlechtes der 
Ochſen, lateiniſch Bos geheißen. Dieſe Untergattung 
zeichnet ſich aus durch einen ſehr gewölbten Schädel, 
breite Stirn, kurze, runde, aufwärts gekrümmte und 
vorn auf die Stirn geſtellte Hörner, zottige Mähne um 
Hals und Bruſt, einen Höcker und den verhältnismäßig 
ſehr ſtark entwickelten Vorderkörper. Der Biſon hat 
einen dickeren Kopf, eine ſtärkere Mähne und kürzere 
Beine als der Auerochs. Er iſt eigentlich ein geſelliges 
Tier, was der Lateiner mit dem Worte congregabilis 
bezeichnet und — — —“ | 

Seine weiteren Worte blieben unhörbar; fie wur⸗ 
den durch das Geſchrei und die ſtürmiſchen Rufe des 


4 


48 


Publikums verſchlungen, das ſich bei dem friedlichen 
Verhalten der beiden Kampftiere zu langweilen begann 
und nun verlangte, daß Der Jaguar gegen den Büffel 
aufgereizt werde. 

„Tirad los buscapies, tirad los buscapies — 
werft die Schwärmer, werft die Schwärmer!“ brüllte 
einer der Zuſchauer, und die andern riefen es ihm 
nach. 

Der Präſident gab mit der Hand das Zeichen, daß 
man dieſem Wunſche willfahren möge. Da wendete 
ſich derjenige Kamerad des Weißbärtigen, der ihm zur 
Rechten ſaß, mit der Frage an ihn: „Meinſt du, daß 
er ſich reizen laſſen wird, Carlos? Ich glaube, daß er 
den Büffel mehr fürchtet, als das Feuerwerk.“ 

„Und ich glaube, daß es leicht ein Unglück geben 
kann,“ antwortete der Gefragte. „Siehſt du nicht, daß 
er den Laſſo, woran er hängt, im Rachen hat? Wenn 
er ihn zerkaut, ſo kommt er los und wird nicht den 
Biſon, ſondern Menſchen anfallen.“ 

Das im Sand hingeſtreckte Tier kaute allerdings 
an dem Laſſo, was aber von den Zirkusbedienſteten 
gar nicht beachtet wurde. Sie brannten, im ſichern 
Hinterhalt ſich befindend, Schwärmer an und warfen 
dieſe nach dem Jaguar. Er wurde getroffen, ſprang 
auf und ließ den Laſſo aus dem Maule fallen; der Rie⸗ 
men war faſt ganz zerbiſſen. Da erreichten die Zünd⸗ 
funken den Pulverſatz, und das Feuer begann zu 
ſprühen. Der Jaguar brüllte vor Schreck und tat einen 
weiten Sprung; der Laſſo wurde angeſpannt und zerriß 


an der zerbiſſenen Stelle; das Raubtier war frei. 


Das Publikum begrüßte dieſes unerwartete Er⸗ 
eignis mit jauchzendem Beifall, denn man war über- 
eugt, daß der Jaguar ſeine Freiheit nun ſofort zu 


| 


* 


1 


einem Angriff auf den Biſon benutzen werde. Er 
rannte allerdings auf dieſen zu, wendete ſich aber, als 
der Büffel ihm die Hörner zeigte und ſich gar anſchickte, 
auf ihn loszugehen, zur Seite, jagte in wenigen Sätzen 
in der Arena hin und her und duckte ſich dann nieder, 
die rollenden Augen empor nach den ihm gegenüber⸗ 
liegenden Sitzplätzen richtend. 

„Estad atento — aufgepaßt!“ rief der Weißbär⸗ 
tige. „Das Tier wird über die Schutzwand gehen.“ 

„Por amor de Dios — um Gottes willen, das 
wird er doch nicht!“ ſchrie der Privatgelehrte, als er 
dieſe Worte hörte. „Die Beſtie ſchaut gerade zu mir 
herauf, als ob ſie mich verſchlingen wolle.“ 

Er fuhr von ſeinem Sitz empor und machte eine 
Bewegung, als ob er fliehen wolle, was aber bei der 
Enge der Plätze ganz unmöglich war. Dieſe haſtige 
Bewegung des rot gekleideten Männchens zog die Auf⸗ 
merkſamkeit des Jaguars erſt recht auf ſich. Das Tier 
hob den Hinterkörper halb empor, ſtieß ein kurzes, hei⸗ 
ſeres Brüllen aus und flog dann in einem weiten 
Satze gegen die hölzerne Scheidewand. Es gelang ihm, 
deren obern Rand mit den Vordertatzen zu erreichen 
und den Körper nachzuziehen. 

In dieſem Augenblick verſtummte alles Geſchrei; 
es trat eine ſo tiefe Stille ein, daß man das Kratzen 
der Klauen des Raubtieres an den Balken deutlich 
hörte. Jedermann ſah, daß der Jaguar es auf das 
rote Männchen abgeſehen habe. Alle, die in deſſen 
Nähe ſaßen, waren hoch gefährdet. Welche Verwüſtung 
mußten die Pranken und Zähne des wilden, vor Hun⸗ 
ger knirſchenden Tieres unter dieſen ſo dicht ſitzenden 
Perſonen anrichten! Man war überzeugt, daß der Ja⸗ 
guar ſofort den zweiten Sprung tun werde; er tat ihn 


AR, 


nicht; er blieb noch auf der Scheidewand hängen, denn 
ſein Auge wurde durch einen andern Gegenſtand ange⸗ 
zogen, und dieſer Gegenſtand war der weißbärtige 
Senor, der ſich Hammer nannte. | 

Diefer war nämlich, als das Tier zum Sprung 
angeſetzt hatte, von ſeinem Sitz aufgefahren und hatte 
dem Gelehrten den Poncho von den Schultern und das 
Meſſer aus dem Gürtel geriſſen. Das letztere in der 
rechten Hand haltend, wickelte er ſich den Poncho um 
den linken Arm und ſprang auf die Vorderlehne ſeines 
Sitzes. Das war ſo blitzſchnell geſchehen, daß er dieſen 
Fußhalt in demſelben Augenblick erreichte, wo der Ja⸗ 
guar auf die Bretterwand gelangte. 

„Punto en boca,“ gebot er mit weithin fchallen- 
der Stimme; „ninguno menease — ſtill, niemand be⸗ 
wege ſich!“ N 

Dann ſprang er auf die Scheidewand des nächſten 
und zweitnächſten Vorderſitzes, deren Inhaber vor Ent⸗ 
ſetzen unter die Bänke gekrochen waren. Noch ein 
Schritt, und Hammer ſtand auf dem vorderſten Sitz, 
dem Jaguar ſo nahe gegenüber, daß er ihn mit der 
Hand erlangen konnte. Das Tier hatte die Bewegun⸗ 
gen des rieſenhaften Deutſchen mit glühenden Augen 
verfolgt, ohne den erwarteten zweiten Sprung zu tun; 
es ſah ſich angegriffen, ohne aber den Gegenangriff zu 
wagen; es hielt ſich mit drei Tatzen feſt, riß den Rachen 
auf und hob die eine Vorderpranke zum abwehrenden 
Schlag empor. So hielten Menſch und Tier, die 
Augen ineinander gebohrt, einige Sekunden einander 
gegenüber. Da nahm Hammer, um die rechte Hand 
frei zu bekommen, das Meſſer zwiſchen die Zähne und 
ſtieß dem Jaguar die Fauſt mit ſolcher Kraft gegen den 
Hinterkörper, daß dieſer den Halt verlor; ſeine hinteren 


— 419 — 


Pranken glitten von der Bretterwand; er ſuchte ſich mit 
den vorderen feſtzuhalten und fauchte den Feind wũ⸗ 
tend an, erhielt aber von dieſem einen ſolchen Hieb auf 
die Naſe, daß er auch vorn abglitt und in die Arena 
zurüͤckſtürzte. 


Aber damit begnügte ſich der Deutſche nicht. Er 
ſprang auf die Wand und, zum Schreck aller Zu⸗ 
ſchauer, in die Arena hinab. Ein vielſtimmiger Schrei 
erſcholl rundum, denn der kühne Mann kam gerade vor 
den Jaguar zu ſtehen, der ſich laut brüllend zum 
Sprung niederduckte. 


Und nun geſchah etwas, was niemand für möglich 
gehalten hatte. Hammer nahm das Meſſer aus dem 
Mund, ſetzte den linken Fuß vor und hielt dem Tier den 
linken, durch den Poncho geſchützten Arm entgegen. War 
es dieſe ſichere Haltung, oder war es die Macht des weit 
geöffneten grauen Auges, deſſen ſtarren Blick der Ja⸗ 
guar auf ſich gerichtet ſah — — er unterließ nicht nur 
den Sprung, ſondern ſetzte die Pranken langſam hinter 
ſich, um ſich in ſchleichender Haltung zurückzuziehen. 
So allmählich, wie er wich, folgte ihm der Deutſche 
Schritt um Schritt, ohne ihn auch nur für einen Mo⸗ 
ment aus dem Auge zu laſſen. Das Raubtier nahm 
wie ein geprügelter Hund den Schwanz zwiſchen die 
Beine und entwich immer ſchneller, in die Flucht ge⸗ 
trieben durch die Macht eines furchtloſen Menſchen⸗ 
auges. Da ertönte von einem der entfernteſten Plätze 
herab der Ruf: „Que maravilla! Este caballero es 
el padre Jaguar — welch ein Wunder! Dieſer Herr 
iſt der Vater Jaguar!“ 


Beim Klang dieſes berühmten Namens erhob ſich 
ein Beifallsſturm, wie er ſelbſt hier wohl ſelten gehört 
May ‚Das Vermächtnis des Inka 4 


a EN 


worden war. „El padre Jaguar, el padre Jaguar!“ 
ſo riefen alle Lippen. 

Es war ein wahres Brauſen von Stimmen in 
allen möglichen Tonlagen. Dieſer unbeſchreibliche 
Lärm ſchüchterte das Raubtier noch mehr ein. War es 
bisher nur rückwärts geſchritten, ſo wendete es ſich 
jetzt um und rannte davon, der Tür entgegen, woraus 
es vorhin gekommen war. Sie war verſchloſſen wor⸗ 
den. Der Deutſche folgte mit ſchnellen Schritten und 
gebot mit ſelbſt in dieſem Lärm noch hörbarer Stimme: 
„Abrid la puerta, presto, presto — öffnet die Tür, 
ſchnell, ſchnell!“ | 


Der mit dieſem Dienſt betraute Peon zog von 
ſeinem ſichern Standort aus die Falltür empor und 
ließ ſie, als der Jaguar in den nun offenen Käfig 
ſprang, wieder fallen. Das Raubtier war unſchädlich 
gemacht. 

Jetzt brach ein Applaus los, welcher gar kein Ende 
nehmen wollte. Der Vater Jaguar ſchritt nach der 
Mitte der Arena, verbeugte ſich rundum und ging dann 
nach der Schutzwand, von der er vorhin den Jaguar 
getrieben hatte, ſchwang ſich hinauf und ſtieg dann von 
Lehne zu Lehne, bis er ſeinen Sitz erreichte. Dort gab 
er dem Privatgelehrten den Poncho und das Meſſer 
zurück und ſagte: „Dank, Seüor! Und Verzeihung, 
daß ich nicht Zeit hatte, Sie erſt um Erlaubnis zu 
bitten!“ 

„Hat nichts zu ſagen, obgleich Sie mir mit dem 
Poncho auch den Hut und das Kopftuch herabgeriſſen 
haben,“ erwiderte der Kleine. „Wozu Sie das Meſſer 
brauchten, kann ich begreifen; aber bitte, mir zu ſagen, 
warum Sie die Decke mitnahmen?“ 


u. 6. 


„Um meinen Arm, den ich als Schild benutzen 
wollte, vor den Zähnen und Krallen des Jaguars zu 
ſchützen.“ 

„Senor, Sie find ein Held, lateiniſch, doch in grie⸗ 
chiſcher Abſtammung, Heros genannt. Ihre Tapfer- 
keit, die, ohne aus dem Griechiſchen zu ſtammen, latei⸗ 
niſch Fortitudo, Virtus bellica und auch Strenuitas 
heißt, bewundere ich aus vollem Herzen. Sie haben 
das Untier wie eine Hauskatze vor ſich her getrieben. 
Was wird aber nun mit dem Büffel, Bison ameri- 
canus, werden? 

„Das können Sie ſofort ſehen, wenn Sie Ihre 
Aufmerkſamkeit nach der Arena richten wollen.“ 

Der Biſon hatte ſich in den Sand geſtreckt und war 
da auch vorhin ruhig liegen geblieben, als der Vater 
Jaguar den Kampfplatz betreten hatte. An einen 
Kampf zwiſchen ihm und dem Jaguar war nicht mehr 
zu denken. Darum verlangte das Publikum jetzt das 
abermalige Auftreten der Stierkämpfer, die ſich mit dem 
Biſon meſſen ſollten. Dieſe Aufforderung geſchah in 
fo ſtürmiſcher Weiſe, daß man ihr nachkommen 
mußte. Es erſchien aber dieſes Mal nur ein Eſpada, 
nämlich Cruſada aus Madrid, doch kam nach einigen 
Minuten Antonio Perillo nach. Er hinkte infolge 
ſeiner Verwundung, die allerdings nur eine leichte 
war, hielt es aber für ein Gebot der Ehre, trotz dieſer 
Verletzung an dem Schauſpiel mit teilzunehmen. 

Der Biſon wurde zunächſt von den Picadores 
umringt. Er blieb liegen, als ob ſie gar nicht vor⸗ 
handen wären. Da ſchleuderte einer von ihnen ſeine 
Lanze nach ihm. Sie fuhr einige Zoll tief in den 
Höcker. Da er ſich ſo gleichgültig gezeigt hatte, hielten 
die Picadores es nicht für nötig, ſich nach dieſem Lanzen⸗ 


— 52 — 


wurf ſchnell zurückzuziehen; ſie hatten ſich geirrt. Kaum 
fühlte er die Verwundung, ſo ſprang er zu gleichen 
Beinen und viel ſchneller auf, als man es bei ſeinem 
ſchwerfälligen Körperbau hätte für möglich halten 
können, und ſchoß auf den Angreifer los. Ehe dieſer 
Zeit fand, ſein Pferd zu wenden, hatte es die Hörner 
des Biſon ſchon in den Weichen und wurde aufgehoben 
und ſo zur Seite geworfen, daß es auf ſeinen Reiter zu 
liegen kam. Mit derſelben Schnelligkeit machte der 
Büffel eine Seitenbewegung, um auf den nächſten Pi⸗ 
cador einzudringen. Dieſer floh; aber es zeigte ſich, 
daß ſein Pferd nicht ſchneller als der Biſon war. Der 
ſtürmte hinterdrein, ohne auf die andern Picadores 
und Banderilleros zu achten, die ihn mit ihren Lanzen 
und Stäben ſtören wollten. Er erreichte das Pferd 
und ſtieß ihm das eine Horn in die Seite, ſo daß es 
zum Stürzen kam und den Reiter aus dem Sattel warf. 
Der Büffel hatte es mehr auf den Mann als auf das 
Pferd abgeſehen; ehe ſich dieſer aufraffen konnte, war 
er erreicht, ſchwebte er auf den Hörnern des ergrimmten 
Tieres, wurde in die Luft geworfen, wieder aufgefan⸗ 
gen, abermals emporgeſchleudert und dann unter den 
Füßen zerſtampft. Der Mann brüllte um Hilfe; man 
wollte ſie ihm bringen, aber der Büffel achtete nicht auf 
die neuen Angreifer und auf die Lanzen, die ihm durch 
die dicke Haut drangen; er ließ nicht von dem Picador 
ab, bis dieſer eine formloſe Leiche war. Dann trat er 
um einige Schritte zurück und ſtieß ein Gebrüll aus, 
wogegen dasjenige des Jaguars ein Kindergeſchrei zu 
nennen war. 

Von allen Seiten wurde ihm Beifall zugerufen. 
Wer noch eine Blume hatte, warf ſie ihm zu, und das 
Klatſchen ſo vieler Hände machte einen beinahe betäu⸗ 


benden Eindruck auf die wenigen Perſonen, die fich 
durch eine ſo wilde und blutige Szene abgeſtoßen 
fühlten. 

Der Biſon ſchüttelte die Speere ab und ſah ſich 
nach einem neuen Opfer um. Er fand es nur zu bald 
und leicht. Der erſte Picador war von einigen Bande⸗ 
rilleros unter ſeinem Pferd hervorgezogen worden; er 
ſollte fliehen, konnte es aber nicht, da er das Bein ge- 
brochen hatte. Man mußte ihn, um ihn zu retten, 
forttragen. Drei Banderilleros hoben ihn auf, um ſich 
ſchnell mit ihm zu entfernen; aber noch ſchneller war 
der Büffel hinter ihnen drein, und was nun folgte, ge⸗ 
ſchah in noch viel kürzerer Zeit, als man zur Beſchrei⸗ 
bung bedarf. Man ſah den wütenden Stier mit Kopf 
und Nacken in die Gruppe fahren und dieſe auseinander 
ſchleudern; dann folgten Hörnerſtöße nach rechts und 
links, ein ſchrecklich zu vernehmendes Stampfen der 
Füße — — einer der Banderilleros vermochte ſich zu 
retten; zwei blieben liegen, und auch der Picador war 
tot. Ein junger, mutiger Banderillero riß einem Pica⸗ 
dor die Lanze aus der Hand und ſprang von hinten auf 
den Büffel ein, um ſie ihm in den Leib zu rennen. 
Das Tier aber hatte ſeine Abſicht bemerkt, warf ſich 
blitzſchnell herum und ſenkte den Kopf zum Stoß. Die 
Lanze glitt an dem eiſenfeſten Hörnergrund ab, und im 
nächſten Augenblick wurde der tapfere Fechter in die 
Luft geſchleudert, um dann unter die Hufe des Siegers 
zu kommen. 

Dann rannte der Biſon im Galopp, und nach 
neuen Opfern brüllend, in der Arena umher. Entſetzen 
packte die Toreadores. Sie flohen nach allen Seiten. 
Wer nicht durch das raſch geöffnete Tor entkommen 
konnte, ſchwang ſich auf und über die Rettungswand. 


5 


Die Toreadores warſen ſich von ihren Pferden, die 
armen Tiere preisgebend, um nur ſich in Sicherheit zu 
bringen. Einige Pferde entkamen durch das Tor; die 
übrigen wurden niedergerannt. Dazu das Beifalls⸗ 
gebrüll der hochbegeiſterten Menge. Solch einen Toro 
hatte man noch nicht gehabt, überhaupt noch nie ge⸗ 
ſehen. Daß ſeine Tapferkeit und ungeheure Stärke ſo 
viele Opfer gefunden hatte, wurde nicht beklagt, ſondern 
bejubelt; man gab ſich mit ſeinem bisherigen Erfolg 
keineswegs zufrieden, ſondern die erregte Zuſchauer⸗ 
menge ſchrie in einem fort: „Los espadas, los espa- 
das; fuera, adelante los espadas — die Eſpadas, die 
Eſpadas; heraus, vorwärts die Eſpadas!“ 

Es waren, wie erwähnt, nur zwei Eſpadas er⸗ 
ſchienen, Antonio Perillo und der berühmte Cruſada 
aus Madrid; die andern hatten ſich von Anfang an 
nicht an den Büffel wagen wollen. Cruſada hatte ſich 
durch die Tür geflüchtet und Perillo war, durch ſeine 
Verwundung an ſchnellem Laufen verhindert, auf die 
Holzwand geklettert. Dort ſaß er jetzt und entgegnete, 
als man ſeinen Namen rief: „Este bufalo es un 
demonio; el diablo debe combatir contra esta 
bestia, mas yo eso no — dieſer Büffel iſt ein Dä⸗ 
mon; der Teufel mag mit ihm kämpfen, aber ich nicht!“ 

Ein verächtliches Gelächter war ſein Lohn; dann 
rief man nach Cruſada, dieſer war noch unverletzt und 
mußte ſich ſagen, daß ſein Ruhm dahin ſei, wenn er 
ſich jetzt als ein Feigling zeige. Aber ganz allein konnte 
er ſich unmöglich an den Büffel wagen; er mußte Helfer 
haben, welche die Aufgabe hatten, im Falle der Gefahr 
die Aufmerkſamkeit des Tieres von ihm ab und auf ſich 
zu lenken. Aber nur gegen das Verſprechen einer 
hohen Belohnung ließen ſich drei Banderilleros bereit 


u 68 


finden, den ſchlimmen Gang mit ihm zu wagen. Als 
die vier in die Arena traten, wurden fie mit beifälligen 
Bravorufen empfangen. 

Der Biſon hatte ſich noch keineswegs beruhigt. Er 
ging von einer Tier⸗ und Menſchenleiche zur andern, 
um zu unterſuchen, ob etwa noch Leben vorhanden ſei, 
und warf dabei die Körper und Kadaver mit den Hör⸗ 
nern hin und her. Er blutete aus mehreren Wunden, 
die jedoch nicht tief und gefährlich waren. Als er die 
neuen Angreifer ſah, richtete er den zottigen Kopf gegen 
ſie, ſtampfte den Boden mit den Füßen und ließ ein 
herausforderndes Brüllen hören. 

„Was meinſt du, Carlos, was geſchehen wird?“ 
wurde Vater Jaguar von ſeinem Nachbar gefragt. 

„Wer von ihnen nicht flieht, iſt verloren,“ lautete 
die Antwort. „Es iſt Menſchenmord, dieſe Leute auf 
den Biſon zu hetzen.“ 

„Glaubſt du, daß er unüberwindbar iſt?“ 

„Nein; aber es gibt hier nur einen einzigen Men⸗ 
ſchen, der es wagen darf, mit ihm anzubinden.“ 

„Wer iſt dieſer Mann? Meinſt du dich ſelbſt?“ 

„Vielleicht!“ 

Cruſada näherte ſich von der Seite her mit lang⸗ 
ſamen, faſt zaghaften Schritten dem Büffel. Er hielt 
die Muleta, den Stab mit dem ſeidenen Tuch, in der 
linken und den blanken Degen in der rechten Hand. 
Sein kräftiger und ſchöner Körperbau, der durch die 
reich geſchmückte Kleidung noch hervorgehoben wurde, 
ließ beinahe erwarten, daß er auch jetzt wie ſchon vorher 
Sieger bleiben werde. Während die drei Banderilleros 
ſich auf der andern Seite herbeiſchlichen, hielt der Biſon, 
ohne auf fie zu achten, den Blick nur auf Cruſada ge- 
richtet, in dem er ſeinen eigentlichen Feind erkannte. 


— 56 — 


Das Tier war nicht nur ſtark und mutig, ſondern 
auch ſchlau. Es ſchien die Abſicht ſeines Gegners zu 
ahnen und bewegte ſich nicht von der Stelle. Es ſtand, 
ohne den Kopf zu ſenken, da und erwartete den Angriff. 
Cruſada war bis auf nur fünf Schritte herangekom⸗ 
men und fühlte ſich, da ihm dies gelungen war, des 
leichten Sieges gewiß. Er ſah die breite Bruſt des 
Stieres nahe vor ſich, ein Ziel, das nun gar nicht zu 
verfehlen war. Er ſchwang alſo die bunte Muleta, um 
das Auge des Büffels von ſich ab und auf dieſe zu 
lenken und ſprang auf das Tier ein; es war ein Sprung 
ins Verderben, in den Tod. Der Stier achtete der Mu⸗ 
leta nicht, ſondern nur des Mannes. Als der gezückte 
Degen ihm in die Bruſt fahren ſollte, ſenkte er den 
Kopf und fing den Stoß zwiſchen den Hörnern auf; 
eine kurze, kaum bemerkbare Bewegung ſeines Kopfes, 
und das eine Horn ſaß dem Eſpada tief im Leibe; Cru⸗ 
ſada wurde empor und nach hinten geſchleudert. Die 
drei Banderilleros wollten aus dieſer Richtung auf den 
Biſon eindringen; der aber machte kehrt, um Cruſada 
von neuem zu packen, erblickte ſie und ſenkte die Hörner; 
da rannten ſie laut ſchreiend davon; der Biſon aber 
nahm Cruſada nochmals auf die Hörner und ſchleu⸗ 
derte ihn in die Höhe, um ihn dann unter die Füße zu 
treten. 

„Vaya, quita, sogal Que cobardia, que ba- 
jeza, que infamia — pfui, pfui, pfui, welche Feig⸗ 
heit, welche Niederträchtigkeit, welche Ehrloſigkeit!“ rief 
man von allen Seiten den Banderilleros zu, da ſie den 
Eſpada ſo ſchmachvoll im Stiche ließen. 

Das hatte die Wirkung, daß ſie umkehrten und 
ſich dem Büffel wieder näherten, ohne aber Cruſada 
retten zu können, denn er war bereits tot. Aus dieſem 


BERN, 


Grund ſchenkte ihnen der Stier mehr Aufmerkſamkeit 
als vorher; er machte Miene, zum Angriff überzugehen; 
da ergriffen ſie zum zweitenmal die Flucht. Es war, 
als ob er genau wiſſe, auf welche Weiſe er ihr Ent⸗ 
kommen verhindern könne, denn er rannte nach der Tür, 
wie um ihnen den Weg abzuſchneiden. Sie konnten 
ſich alſo nur auf die Bretterwand retten und eilten auf 
dieſe zu; er ſah das und hielt nun von ſeitwärts her die 
gleiche Richtung ein. Der erſte von ihnen gelangte 
glücklich hinauf, der zweite auch; der dritte aber war 
nicht ſchnell genug; er tat den Sprung und ergriff die 
obere Kante der Wand, doch ehe er den Leib emporzu⸗ 
ziehen vermochte, war der Büffel hinter ihm und traf 
ihn mit dem einen Horn in den Schenkel. Glücklicher⸗ 
weiſe zog er das Horn zu einem neuen Stoße zurück; 
dadurch kam der Mann frei und konnte ſich, wenn auch 
blutend, aber doch ebend, durch eine Anſtrengung, 
wozu ihm die Todesangſt doppelte Kräfte verlieh, vol⸗ 
lends emporſchwingen. Der zweite Stoß des Tieres 
traf die Wand ſo, daß das betreffende Brett zerbrach. 
Das Tier wußte, wo es die Feinde zu ſuchen hatte, und 
ſtieß von neuem gegen die Wand, glücklicherweiſe an 
einer Stelle, die durch die dahinter befindliche Säule 
einen feſten Halt beſaß. Aber die Säule erzitterte unter 
den fortgeſetzten wuchtigen Stößen; die Wand krachte 
in allen Fugen; ſie mußte, wenn der Büffel nicht abließ, 
zuſammenbrechen, und dann waren alle, die hinter ihr 
ſaßen, ſeinen Hörnern preisgegeben. 

Es war alſo kein Wunder, wenn auf dieſer Seite 
des Zirkus eine Panik eintrat, die ſchnell weiter um 
ſich griff. Man ſchrie und zeterte. Jeder, der ſich be⸗ 
droht ſah, wollte ſich retten. Man ſprang auf die Sitze 
und Scheidewände, um nach den hintern Plätzen zu 


— 58 — 


flüchten, und doch waren alle Plätze beſetzt. Einer 
ſprang auf und über den andern; man ſtürzte heulend 
und fluchend übereinander weg. Welche Unglücksfälle, 
welche Verletzungen mußte das ergeben! Da übertönte 
eine laute Stimme das wüſte Geſchrei: „Quedad sen- 
tado — Bleibt ſitzen, Senores! Es iſt keine Gefahr 
vorhanden. Ich nehme den Büffel auf mich.“ 

Der Vater Jaguar war es, der dieſe Worte rief. 
Er zog ſeinen Rock aus, um nicht von ihm gehindert 
zu werden, riß das Meſſer des Privatgelehrten aber⸗ 
mals an ſich und ſprang zum zweitenmal von Platz zu 
Platz auf die Scheidewand und von da in die Arena 
hinab. 

Nicht auf ſeiner Seite, ſondern auf der entgegen⸗ 
geſetzten drohte die Gefahr. Darum rannte er über die 
Arena hinüber und ſtieß jenes Geſchrei aus, das die 
Indianer Nordamerikas bei ihren Jagd⸗ und Kriegs- 
angriffen hören laſſen. Es iſt das ein langgedehntes, 
Finger möglichſt ſchnell vibrierend gegen die Lippen be⸗ 
wegt; dadurch entſteht ein durchdringendes Tremolo, 
das durch Buchſtaben nicht bezeichnet werden kann. | 

Der aus den nördlichen Prärien ſtammende Bi- 
ſon kannte dieſen Jagdruf; er hatte ihn aus dem 
Munde jagender Indianer wohl oft gehört. Als er ihn 
jetzt vernahm, fuhr er raſch herum; er ſah den Vater 
Jaguar und ließ von der Wand ab, um den neuen 
Gegner zu erwarten. 

Aber Hammer zeigte keine Eile, das Tier anzu⸗ 
greifen; das Meſſer in der Rechten, blieb er mitten in 
der Arena ſtehen. Da, wo noch vor einigen Augen⸗ 
blicken das wildeſte Durcheinander geherrſcht hatte, trat 
jetzt tiefe Stille ein. Nur eins war zu hören: der 


Name „Vater Jaguar“ ging leife und erwartungsvoll 
von Mund zu Mund. Wollte dieſer Mann ſich wirk⸗ 
lich mit dem Meſſer an das rieſige Tier wagen? Rieſe 
gegen Rieſe! Aber was iſt die Kraft ſelbſt eines Ath⸗ 
leten gegen die Stärke eines Biſons, zumal eines Biſons 
von dieſer ausgewachſenen Größe! Es läßt ſich denken, 
welch hohe Spannung ſich jedes Zuſchauers jetzt be⸗ 
mächtigte. 

Der Büffel ſtierte den Vater Jaguar mit heim⸗ 
tückiſchem Blick an; dieſer wiederum hielt ſein Auge 
ebenſo ſcharf und offen und ohne Zucken auf ihn ge⸗ 
richtet wie vorhin auf den Jaguar. Das Tier begann 
ſich in Bewegung zu ſetzen, langſam, Schritt um Schritt, 
als ob es wiſſe, daß es jetzt einen ganz andern, weit ge⸗ 
fährlichern Feind vor ſich habe. Hammer ſchritt gleich⸗ 
falls vorwärts, ebenſo langſam wie der Büffel. So 
näherten ſie ſich einander mehr und mehr, bis nur der 
Raum von wenigen Ellen ſie noch trennte. Da war 
es mit der Zurückhaltung des Büffels zu Ende: er hob 
den Kopf, um ein zorniges Brüllen hören zu laſſen, 
und ſenkte ihn dann tief zu Boden nieder, um zum 
Angriff überzugehen. 

Alle Welt meinte, daß der Vater Jaguar zur Seite 
weichen werde; er tat dies zum allgemeinen Entſetzen 
aber nicht, ſondern blieb ſtehen, wo er ſtand. Jetzt war 
der Büffel da; ſeine Hörner mußten den Mann treffen, 
den eine plötzliche Angſt bewegungslos gemacht zu 
haben ſchien. Der Vater Jaguar wurde in die Höhe 
geſchleudert — ein einziger, aber vielſtimmiger Schrei 
erſcholl im Zuſchauerraum. Aber was war denn das? 
Der Vater Jaguar war in aufrechter Haltung durch die 
Luft geflogen, kam hinter dem wütenden Biſon auf die 
Füße und blieb da ſo ruhig ſtehen, als ob er ſeinen 


ai. 6 


vorigen Platz gar nicht verlaſſen habe! Das Tier wen⸗ 
dete ſich und drang wieder auf ihn ein, warf ihn aber- 
mals in die Luft und hinter ſich, drehte ſich dann wie⸗ 
der um und ſchleuderte ihn in die Höhe, um ganz das⸗ 
ſelbe Schauſpiel immer wiederholen zu müſſen. 

Nun ſah man allerdings, daß dieſes fürchterlich 
gewagte Spiel vom Vater Jaguar beabſichtigt und mit 
ebenſo großer Kühnheit wie Gewandtheit ausgeführt 
wurde. So oft der Stier die Hörner zum tödlichen 
Stoß hob, ſetzte ihm, allerdings keinen Augenblick zu 
früh oder zu ſpät, der verwegene Mann den rechten 
Fuß zwiſchen dieſe und ließ ſich von ihm emporwerfen, 
um in einem weiten Sprunge hinter dem Tier den Bo⸗ 
den zu erreichen. Das Staunen der Zuſchauer war 
grenzenlos. Welche Kraft und Geſchicklichkeit lag in 
jeder Bewegung Hammers! Es ging auf Leben oder 
Tod, und dennoch ſah man ſeine Lippen lächeln, und 
dennoch führte er jede ſeiner Bewegungen mit einer 
Leichtigkeit und Sicherheit, mit einer Ruhe aus, als ob 
es ſich um eine harmloſe Unterhaltung handle. 

Je ruhiger er blieb, deſto unruhiger wurde der 
Stier. Daß er den Feind nicht zu beſchädigen ver⸗ 
mochte, ſondern ihn immer und immer wieder unver⸗ 
letzt hinter ſich ſtehend fand, brachte ihn in Wut. Er 
brüllte vor Grimm; ſeine Bewegungen und Wendun⸗ 
gen wurden haſtiger und unſicher; ſeine Augen unter⸗ 
liefen mit Blut, wodurch er am Sehen verhindert 
wurde. Schon kam es vor, daß er den Gegner nicht 
deutlich ſtehen ſah und mit den Hörnern in die Luft 
ſtieß. Das hatte der Vater Jagaur abwarten wollen. 
Wieder war er emporgeworfen worden, und wieder kam 
er hinter dem Stier zu ſtehen; da blieb er dieſes Mal 
nicht halten, ſondern ſprang ſchnell ſeitwärts nach vorn. 


— 61 — 


Der Büffel, eben im Begriff, ſich umzudrehen, kehrte 
ihm dabei die Seite zu — ein kühner, federkräftiger 
Sprung, und Hammer ſaß ihm auf dem Rücken. Das 
Meſſer blitzte in ſeiner Hand; die Klinge drang genau 
da ein, wo der letzte Hals⸗ an den erſten Rückenwirbel 
ſtößt. Der Büffel blieb mehrere Sekunden, ja faſt eine 
Minute, ſtarr und völlig bewegungslos ſtehen; dann 
ging ein Zittern durch ſeine mächtigen Glieder, und er 
brach, ohne einen Laut hören zu laſſen, da, wo er ſtand, 
leblos zuſammen, wobei der Vater Jaguar von ſeinem 
Rücken glitt, um dann dem geſtürzten Tiere das Meſſer 
aus dem Nacken zu ziehen. 

Es war wie eine Lähmung über die erregten 
Zuſchauer gekommen. Keine Lippe bewegte ſich; aller 
Augen warteten, daß der Büffel aufſpringen und den 
Angriff wieder beginnen werde. Der Vater Jaguar 
gab ſeinen drei Gefährten, die neben ihm geſeſſen hatten, 
einen Wink; ſie kamen mit gewandten Sprüngen auf 
demſelben Weg, den er ſelbſt vorhin eingeſchlagen hatte, 
zu ihm in die Arena herab und brachten ihm ſeinen 
Rock. Sie entwickelten dabei gerade wie er eine Gelen⸗ 
kigkeit, die man wohl eher bei einem Seiltänzer als bei 
ſo feingekleideten Seüores geſucht hätte. Hammer legte 
raſch ſeinen Rock wieder an und verließ mit ihnen die 
Arena durch die Tür, die für das Publikum beſtimmt 
war. N 

Jetzt wagten ſich mehrere Campeadores herein. 
Sie ſahen den Büffel liegen und näherten ſich ihm in 
ſehr vorſichtiger Weiſe, um ihn zu unterſuchen. Die 
Toreadores, die ſich auf und über die Rettungswand ge⸗ 
flüchtet hatten, folgten dieſem Beiſpiel. Noch regten 
ſich die Zuſchauer nicht, ſo ſehr ſtanden ſie unter dem 
Einfluß ſtaunender Ueberraſchung, aber der Präſident 


fragte von feiner Loge herab: „Esta el bufalo muerto 
— iſt der Büffel tot?“ 

„Si, Vuestra merced; esta moerto — ja, Ew. 
Gnaden; er iſt tot,“ wurde ihm geantwortet. 

„Esta en verdad muerto, todo muerto — iſt er 
wirklich tot, ganz tot?“ erkundigte er ſich beſorgt. 

„Completamente difunto indudablemente fi- 
nado — vollſtändig tot, ohne allen Zweifel verendet. 
Por medio de un golpe de cuchillo en la nuca — 
infolge eines Meſſerſtiches in das Genick.“ 

Dieſe Fragen und Antworten brachen den Bann, 
worin das Publikum ſich befunden hatte. Auf das 
bisherige Schweigen folgte ein Schreien, Klatſchen und 
Stampfen, daß man hätte meinen mögen, der Zirkus 
breche zuſammen. 6 

„Donde esta el padre Jaguar? Aca, venid aca, 
entre el padre Jaguar — wo iſt der Vater Jaguar? 
Herbei, herein, der Vater Jaguar!“ ſo riefen hunderte, 
ja tauſend Stimmen durcheinander. 

Aber der Geſuchte war verſchwunden. 


Drittes Kapitel 


Der „Vater Jaguar“ 


Der Vater Jaguar war der Held des Tages; ſein 
Name lebte heute in aller Mund, und wo dann ſpäter, 
nachdem der Zirkus ſich geleert hatte, zwei oder mehrere 
miteinander gingen oder beiſammen ſaßen, war er der 
Gegenſtand ihres Geſpräches und ihrer Bewunderung. 
Allein vergeblich bemühten ſich viele, ihn nochmals zu 
ſehen. Man konnte nicht entdecken, wo er wohnte. 

Es verſteht ſich ganz von ſelbſt, daß man auch im 
Haufe des Bankiers Salido von ihm ſprach; hatte er 
doch die Glieder der Familie von dem Tode errettet 
oder wenigſtens vor ſchlimmen Verwundungen bewahrt. 

„Ich habe eine große Unterlaſſungsſünde began⸗ 
gen,“ meinte Doktor Morgenſtern. „Er hat ſich bei 
mir für die Decke und das Meſſer bedankt, und ich habe 
ihm mit keinem Worte Dank, lateiniſch Gratia, geſagt, 
obgleich ich es war, auf den dieſer blutdürſtige Jaguar 
die Augen gerichtet hatte. Was mag er von mir den⸗ 
ken! Faſt jedes Tier beſitzt die Tugend der Dankbar⸗ 
keit, obgleich es einige Individuen und ſogar Ordnun- 
gen gibt, welche, wie die Zoologie und ſpeziell die Lehre 
von den Inſekten, Mollusken, Würmern und Bazillen 
beweiſt, dieſer ſchönen Eigenſchaft wenigſtens teilweiſe 
zu entbehren ſcheinen; ein Menſch aber, in Griechen⸗ 


„ zen 


land Anthropos und in Rom Homo geheißen, follte 
ſich von den Tieren, die doch nach der Klaſſifikation der 
Lebeweſen unter ihm ſtehen, nicht beſchämen laſſen. Ich 
danke dem Vater Jaguar mein Leben und werde ihm 
dies, ſobald ich ihn ſehe, offen eingeſtehen. Denn daß 
er mir mein Meſſer nicht wiedergegeben hat, dadurch 
werde ich doch wohl nicht quitt mit ihm.“ 

Da kam ein Diener und gab eine Karte ab, worauf 
der einfache Name Karl Hammer zu leſen war. Der 
Bankier begab ſich nach dem Sprechzimmer und war 
nicht nur erſtaunt, ſondern auf das freudigſte über⸗ 
raſcht, in dem Fremden den — — Vater Jaguar zu 
erkennen. Er trat ſchnell auf ihn zu, ſtreckte ihm beide 
Hände entgegen und ſagte: „Sie find es, Senor, Sie, 
nach dem man ſo vergeblich ſucht! Erlauben Sie mir, 
Ihnen die Hand zu drücken und Sie herzlichſt will⸗ 
kommen zu heißen. Wie brav und liebenswürdig, daß 
Sie uns Gelegenheit geben, Ihnen wenigſtens ſagen zu 
dürfen, daß wir Ihnen tief, ſehr tief verpflichtet ſind!“ 

Ueber das ernſte Geſicht Hammers glitt ein leiſes 
Lächeln, als er antwortete: „Bitte, Senor, ja nicht zu 
glauben, daß dies der Grund iſt, welcher mich zu Ihnen 
führt. Es iſt vielmehr eine geſchäftliche Angelegenheit, 
in der ich Sie für eine Minute zu ſtören gezwungen bin.“ 

Während dieſer Worte zog er eine Brieftaſche her⸗ 
aus, der er ein Papier entnahm, das er dem Bankier 
überreichte. Dieſer warf einen Blick darauf und ſagte: 
„Eine Anweiſung von meinem Geſchäftsfreund in Cor⸗ 
dova. Die Summe ſteht Ihnen ſofort zur Verfügung, 
obgleich mein Geſchäft des Stiergefechts wegen heute 
geſchloſſen iſt.“ 

„Solche Eile hat es nicht. Ich hielt es für ange⸗ 
zeigt, mich Ihnen vorzuſtellen, und bitte um die Er⸗ 


na: Seh 


laubnis, den Betrag in den nächſten Tagen abheben zu 
dürfen.“ 

Er machte eine Verbeugung und wollte ſich ent⸗ 
fernen; da ergriff ihn der Bankier am Arm und bat: 
„Bleiben Sie noch, Senor! Ich kann Sie unmöglich 
jetzt ſchon gehen laſſen. Sie retteten uns das Leben; 
ich bitte dringend um die Erlaubnis, Sie meiner Frau 
vorſtellen zu dürfen!“ 

„Und ich bitte ſehr, davon abſehen zu wollen, 
Senor. Gerade der Dank, wovon Sie ſprechen, ver⸗ 
ſchließt mir Ihre Tür. Ich darf mir unmöglich ein 
Verdienſt anmaßen, das nur dem Zufall zuzuſchrei⸗ 
ben iſt.“ 

Man ſah ihm an und hörte es auch aus ſeinem 
Ton, daß die Beſcheidenheit, die ihm dieſe Worte dik⸗ 
tierte, eine wahre und keine gemachte war. Infolge⸗ 
deſſen antwortete Salido: „Senor, Sie haben über den 
Wert deſſen, was Sie taten, eine andre Anſicht, als die 
meinige iſt; dennoch verſpreche ich Ihnen, daß Sie von 
mir und den Meinen das Wort Dank nicht hören wer⸗ 
den, und denke, daß Sie unter dieſer Bedingung Ihren 
Entſchluß ändern werden.“ 

„Unter dieſer Bedingung, ja; da bin ich allerdings 
bereit, auf Ihr freundliches Anerbieten einzugehen.“ 

Der darüber hocherfreute Bankier führte ihn in 
das Familienzimmer, wo das ſo unerwartete Erſcheinen 
des Vater Jaguar ebenſo große Ueberraſchung wie 
Freude hervorrief. Ganz beſonders entzückt war der 
Privatgelehrte, der ſich zunächſt von ſeinem Erſtaunen 
gar nicht erholen zu können ſchien, dann aber, Ham- 
mer die Hand entgegenſtreckend, ausrief: ,„Seüor, ich 
bin voller Freude, lateiniſch Gaudium oder auch Laetitia 
genannt, Sie hier begrüßen zu können, zumal ich es für 

Nav. Das Vermächtnis des Inte 8 


u OR, ee 


meine Pflicht halte, Ihnen meinen Dank dafür abzu- 
ſtatten, daß — —“ 

„Halt!“ fiel der Bankier ihm in die Rede. „Senor 
Hammer iſt nur unter der Bedingung mitgekommen, 
daß wir nicht von Dank ſprechen. Bitte alſo, dieſes 
Wort wenigſtens jetzt nicht mehr zu erwähnen.“ 

„Aber, wenn ich nicht von Dank ſprechen ſoll, wo⸗ 
von denn ſonſt?“ 

„Von allem möglichen, zum Beiſpiel von Ihren 
antediluvianiſchen Tieren.“ 

Das hatte Salido ſcherzhaft gemeint; der kleine, 
rote Gelehrte ergriff aber ſofort die Gelegenheit, von 
ſeinem Lieblingsthema zu reden, und antwortete haſtig, 
damit ihm ja niemand mit einer Frage zuvorkomme: 
„Das iſt wahr; das iſt allerdings ſehr richtig! Geüot 
Hammer, haben Sie ſchon einmal ein Megatherium 
oder gar ein Maſtodon geſehen?“ 

„Schon wiederholt,“ antwortete der Gefragte. 

„Wo denn, wo?“ 

„In den Pampas. Wer ein gutes Auge für der⸗ 
gleichen Fundorte hat, braucht gar nicht lange zu 
ſuchen.“ 

„Wirklich, wirklich? Haben etwa Sie ein ſolches 
Auge?“ | 

„Ich will es zwar nicht mit einem Ja behaupten, 
doch hatte ich zuweilen Gelegenheit, gelehrten Herren 
als Führer durch die Pampas zu dienen.“ 

„So! Aber es gehört doch ein gewiſſer paläonto⸗ 
logiſcher Blick dazu, einem Ort anzuſehen, daß er vor⸗ 
weltliche Pflanzen oder Tiere birgt. Die foſſilen 
Ueberreſte vorſintflutlicher Faunen und Floren ſind 
uns in ſehr verſchiedenen Zuſtänden überliefert.” 


„ 


Pe, 


„Allerdings,“ antwortete Hammer lächelnd. „Man 
ſpricht von Verkohlung, Auslaugung, Inkruſtation, von 
Petrifizierung und endlich auch von Abformung.“ 

Der Kleine trat einen Schritt zurück, betrachtete 
den Rieſen erſtaunt und ſagte: „Senor, Sie ſprechen 
da wie ein Profeſſor der Paläontologie! Das iſt meine 
Lieblingswiſſenſchaft. Ich beabſichtige, ein größeres 
Werk über diejenigen Tiere zu ſchreiben, die man bis in 
die Silurzeit zurückdatieren muß.“ 

„Es hat ſchon vorher eine ungeheure Menge von 
Tieren exiſtiert, denn aus dem Silur allein ſind uns 
wohl zehntauſend Arten bekannt.“ 


„Zehntau— — —!" Dem Kleinen blieb vor Er⸗ 
ſtaunen das Wort im Munde ſtecken; dann fuhr er 
fort: „— — —ſend Arten! Das willen Sie? Welche 


Arten ſind das?“ 

„Cölenteraten, Stachelhäuter, Würmer, Glieder⸗ 
tiere, Mollusken und in den obern Schichten ſogar Wir⸗ 
beltiere, z. B. Haifiſche. Die Landbewohner aber treten 
erſt im Devon auf. Inſekten und Reptilien treffen wir 
in der Steinkohlen⸗ und Diasperiode, im Trias, Jura 
und in der Kreide.“ 

„Und Säugetiere?“ fragte der Gelehrte erwar⸗ 
tungsvoll. 

„Im oberſten Trias findet man ſchon Beuteltiere, 
den erſten Vogel im obern Jura; im Tertiär aber 
ſpielen ſie die leitende Rolle, die vorher den Reptilien 
zukam.“ | 

„Und der Menſch?“ 

„Dieſer erſcheint früheſtens in der jungtertiären 
Zeit.“ 

Da tat der Kleine vor Freude einen Luftſprung 
und rief aus: „Sollte man ſo etwas für möglich hal⸗ 


— 


Er 


— 68 — 


ten! Und gar hier in Buenos Aires! Sie ſind ja 
wahrhaftig der reine Profeſſor Giebel, der ein berühmtes 
Handbuch über die Fauna der Vorwelt geſchrieben hat! 
Setzen Sie ſich, ſetzen Sie ſich ſchnell! Ich muß Ihnen 
einige ſehr wichtige zoopaläontologiſche Fragen vor⸗ 
legen. Warum iſt der Schwanz bei allen Fiſchen bis 
in die Jurazeit hinauf heterocerk wie jetzt noch bei den 
Rochen und Haien? Warum traten die echten Ammo⸗ 
niten, die im obern Jura und in der untern Kreide zur 
höchſten Entfaltung gelangen, im alpinen Trias fo ver- 
einzelt auf? Findet da eine Epakme ſtatt oder nicht? 
Aus welchem Grunde rechnen Sie Nautilus und Lin- 
gula zu den Dauertypen, und wie wollen Sie auf eine 
Differenzierung der Tierwelt hinweiſen, wenn man 
Ihnen ſagt, daß — — —“ 

„Valgame Dios — Gott ſtehe mir bei!“ unter⸗ 
brach ihn der Bankier, indem er ſich die beiden Hände 
an die Ohren legte. „Seüores, ich bitte Sie, zu be⸗ 
denken, daß Sie ſich nicht in der vorſintflutlichen Kreide, 
ſondern hier bei mir befinden, der ich von ſolchen Din⸗ 
gen leider nicht das mindeſte verſtehe. Haben Sie die 
Gnade, dieſes Thema, das ja ganz intereſſant ſein mag, 
für ſpäter aufzuſparen. Ich würde Ihnen das ſehr 
hoch anrechnen.“ 

Der Vater Jaguar erklärte ſich lachend einver⸗ 
ſtanden; dem Kleinen aber war es ganz und gar nicht 
lieb, daß er abbrechen mußte. Man kam auf das heu⸗ 
tige Stiergefecht zu ſprechen, wobei Doktor Morgen⸗ 
ſtern einige kulturhiſtoriſche Bemerkungen an den Mann 
brachte. Er ſprach von den römiſchen Gladiatoren und 
nahm dabei Gelegenheit, dem Vater Jaguar das Kom⸗ 
pliment zu machen: „Sie wären jedenfalls ein ausge⸗ 
zeichneter Forumkämpfer geweſen, Senor, und hätten 


— 8 — 


ſowohl unter den Retiarii, Velites und Secutores, als 
auch unter den Galli, Thraces und Hoplomachi Großes 
geleiſtet. Es iſt wirklich jammerſchade, daß Sie nicht 
ſchon damals gelebt haben!“ 


„Warum jammerſchade?“ fragte Hammer ſtill be⸗ 
luſtigt. 

„Weil Sie dann jedenfalls in Friedländers „Dar⸗ 
ſtellungen aus der Sittengeſchichte Roms“ und in Mars 
quardts ‚Römiſche Staatsverwaltung“ auf das rühm⸗ 
lichſte erwähnt worden wären.“ 


„Ich danke, Seßor. Hätte ich damals gelebt, fo 
wäre ich ſchon über tauſend Jahre tot. Lieber iſt mir's, 
daß ich lebe und in den Büchern dieſer beiden Herren 
nicht erwähnt werde.“ 


„Mag ſein! Aber der Erwähnung werden Sie auf 
leinen Fall entgehen. Sie werden in den Werken über 
die Stiergefechte als einer der größten Toreadores an⸗ 
geführt werden. Wie iſt es Ihnen nur möglich ge- 
weſen, dieſen gräßlichen Bison americanus mit einem 
einzigen Meſſerſtich zu erlegen?“ 

„Das iſt nur eine Folge der Uebung. Ich habe 
ſchon viele Büffel auf dieſelbe Weiſe getötet.“ 


„Ich denke, es gibt hier in Argentinien keine Bi⸗ 
ſons. Oder hätte ſich die Wiſſenſchaft, die ſonſt untrüg⸗ 
lich iſt, einmal geirrt?“ 

„Sie irrt ſich nicht. Ich habe die Büffel, von 
denen ich ſprach, in den Vereinigten Staaten erlegt.“ 

„In den Vereinigten Staaten? Ah, da muß ich 
Sie ſogleich fragen, ob Sie die berühmte Mammuts⸗ 
höhle in Kentucky kennen, und vielleicht gar ein Ohio⸗ 
tier geſehen haben?“ 


Fi Re 

„Davon vielleicht ein andres Mal, lieber Senor, 
da wir nicht von eee Dingen ſprechen 
ſollen.“ 

„Alſo weder von dem Dank, den wir Ihnen ſchul⸗ 
dig ſind, noch von petrefakten Tieren darf man ſprechen. 
Nun frage ich Sie bloß, wovon man reden ſoll! Ich als 
Deutſcher bin gewöhnt, zu reden — — —“ 

„Ein Deutſcher find Sie?“ fiel da der Vater Ja⸗ 
guar ein. 

„Allerdings, wie Sie ſchon aus dem Namen Mor⸗ 
genſtern erſehen, den Sie vorhin wohl nicht genau ver⸗ 
nommen haben. Ich bin Privatgelehrter und ſtudiere 
die Vorwelt.“ 

„Und ich bin Laie und ſtudiere die Mitwelt. Mein 
Name Hammer mag Ihnen fagen, daß wir Lands⸗ 
leute ſind.“ 

„Wie, auch Sie ſind ein Deutſcher? Ich ſtamme 
aus Jüterbogk. Und Sie, wenn ich fragen darf?“ 

„Ich wurde im goldenen Mainz geboren.“ 

„Ah, in Mainz, dem von Druſus erbauten Mo⸗ 
guntiacum! Caſtel liegt auf der andern Seite, ulterior, 
jenſeits, wie der Lateiner ſagt. Was hat Sie von da 
nach Nordamerika getrieben?“ 

„Die Tatenluſt.“ 

„Und von da nach Südamerika?“ 

„Eine Veranlaſſung, über die ich ſchweigen möchte.“ 

Sein bisher ſo freundliches Geſicht wurde bei dieſen 
Worten plötzlich tiefernſt. Der zartfühlende Bankier 
ahnte, daß der berühmte Mann an einer wunden Stelle 
berührt worden ſei, und gab dem Geſpräch eine andre 
Richtung, indem er ſich in höflichſtem Tone erkundigte: 
„Man hat Sie allenthalben geſucht, Senor. Daraus 


Ze 


[ließe ich, daß Sie nicht in einem Hotel wohnen, denn 
Sie ſind nicht gefunden worden.“ 

„Wir beſitzen Freunde in Buenos Aires, bei 
denen wir ungeſtört wohnen können,“ lächelte der 
Deutſche. 

„Und werden Sie längere Zeit hier verweilen?“ 

„Nein. Ich werde in kurzer Zeit nach den Anden 
gehen.“ 

„In welcher Richtung?“ 

„Ueber Tucuman wahrſcheinlich nach Peru hin⸗ 
über.“ 

Der Bankier horchte auf und fragte ſchnell: „Kom⸗ 
men Sie da vielleicht bis Lima?“ 

„Möglich.“ | 

„Ich habe nämlich einen ſehr triftigen Grund zu 
dieſer Erkundigung, Senor. Es iſt ein Neffe bei mir zu 
Beſuch, der nur auf eine günſtige Gelegenheit wartet, 
um über die Anden nach Lima zu gehen.“ 

„Wie alt?“ 

„Sechzehn Jahre.“ 

„Dann ſoll er lieber hier bleiben.“ 

„Er muß hinüber. Er wäre ſchon längſt fort, 
wenn ich einen tüchtigen und zuverläſſigen Sendador 
(Wegweiſer, Pfadfinder) gefunden hätte, dem ich den 
Knaben anvertrauen kann. Uebrigens iſt er für ſeine 
Jahre körperlich und geiſtig ſehr gut entwickelt.“ 

„Aber, Senor, bedenken Sie die Gefahren, die des 
Reiſenden auf dieſem Wege lauern!“ 

„Ich habe es bedacht. Dieſe Gefahren werden 
deſto geringer, je zuverläſſiger und erfahrener die Rei⸗ 
ſenden ſind. Sie wollen über die Anden. Faſt möchte 
ich eine Frage ausſprechen und eine Bitte daran 
knüpfen.“ 


— 72 — 


Er ſah den Vater Jaguar erwartungsvoll an und 
fügte, als dieſer ſchweigend vor ſich niederblickte, hinzu: 
„Natürlich würde ich eine ſolche Gefälligkeit ſo reichlich 


honorieren, wie meine Mittel es mir erlauben.“ 


Hammer ſchüttelte leiſe den Kopf, indem er ant⸗ 
wortete: „So etwas läßt ſich nicht honorieren. Ich 
bin als Yerbatero (Teeſucher) im Gran Chaeo, als 
Gambuſino (Goldſucher) in Peru, als Chinchillero 
(Pelzjäger auf Chinchillas) in den Anden und als 
(Cascarillero) Chinarindenſammler in Braſilien um⸗ 
hergeſtiegen. Meine Gefährten haben mich überall be⸗ 
gleitet. Gefahren fürchten wir nicht, denn wir ſind 
ihnen gewachſen, nämlich ſolange wir uns unter uns 
befinden. Die Gegenwart eines andern aber, zumal 
eines unerwachſenen, alſo unerfahrenen Begleiters 
würde uns nicht nur unſrer innern, ſondern infolge⸗ 
deſſen auch unſrer äußeren Sicherheit berauben, ſo daß 
wir kaum imſtande ſein möchten, das Vertrauen, das 
man in uns zu ſetzen hätte, zu rechtfertigen.“ 

„Sie ſprechen, wie ein vorſichtiger und ehrenwerter 
Mann ſprechen muß, Senor; aber fo unerfahren, wie 
Sie meinen, iſt mein Antonio nicht. Er reitet und 
ſchießt ausgezeichnet und iſt ſchon zweimal über die An⸗ 
den herüber in Bolivia geweſen, die Seereiſe von Peru 
hierher gar nicht gerechnet. Er iſt kräftig, ausdauernd, 
unternehmend und anſpruchslos, ſo daß er Entbehrun⸗ 
gen und Anſtrengungen nicht ſehr achtet. Da iſt er ja. 
Sehen Sie ihn ſich an, und ſprechen Sie mit ihm, 
Senor! Seine Eltern find auch Deutſche. Ich denke, 
dieſer letztere Umſtand wird geeignet ſein, als Für⸗ 
ſprache bei Ihnen zu gelten. Komm her, Antonio! 
Dieſer Seßor will nach Peru hinüber. Möchteſt du 
mit ihm gehen?“ 


= FB u 


„Mit keinem fo gern wie mit ihm!“ antwortete der 
Knabe freudig. 

Es war wirklich ein ungewöhnlich ſtarker und auch 
hübſcher Junge. Sein von der Sonne bräunlich ge⸗ 
färbtes Geſicht hatte charakteriſtiſche Züge, die auf 
ſelbſtändiges Denken und Handeln ſchließen ließen. 
Sein Haar war dunkel, aber das Blau ſeiner Augen 
und deren ehrlicher, offener Blick ließen die germani⸗ 
ſche Abſtammung deutlich erkennen. Er ſelbſt ſchien 
dem Vater Jaguar ebenſoſehr wie ſeine Antwort zu ge⸗ 
fallen, denn dieſer ſtreckte ihm die Hand entgegen, zog 
ihn näher zu ſich heran, ſtrich ihm liebkoſend über den 
Kopf und ſagte: „Alſo gern würden Sie mitgehen? 
Aber die Anſtrengungen, das lange Reiten?“ 

„O, das halte ich nicht nur aus, ſondern ich habe 
es ſogar ſehr gern.“ 

„Und der Weg durch den fürchterlichen Gran 
Chaco, die Jaguare und die Indianer?“ 

„Die fürchte ich nicht. Ich weiß mein Gewehr und 
mein Meſſer zu führen,“ antwortete der Knabe, indem 
ſeine Augen blitzten und ſeine Wangen ſich röteten. 

„So! Alſo mutig iſt man. Was hat man denn 
ſonſt gelernt, mein verwegener junger Senor?“ 

Bei dieſer Frage bemächtigte ſich des Jünglings 
eine kleine, ſichtbare Verlegenheit; er antwortete aber, 
fie ſchnell überwindend: „Ich weiß gar wohl, Senor, 
daß die Knaben meines Alters drüben in Deutſchland 
ſchneller vorwärts ſchreiten und ihre Ziele leichter er- 
reichen als wir, da ſie beſſere Schulen und Lehrer ha⸗ 
ben. Aber ich beſuche das Inſtitut für Kunſt und Ge⸗ 
werbe, da ich der Nachfolger meines Onkels werden 
ſoll; Vater hält mir und dem Bruder einen deutſchen 
Hauslehrer, und ſpäter werde ich eine deutſche Univer⸗ 


u, ME. 


fität beſuchen. Wollen Sie mich eraminieren, fo will 
ich ſehr gern antworten.“ 


„Das will mir wohl gefallen, denn ſo ſpricht keiner, 
welcher der Letzte auf der Schulbank iſt. Zum Exami⸗ 
nator bin ich nicht berufen; aber für den Ritt über die 
Pampas und die Anden würden Sie wohl gute Lehrer 
an uns haben. Und ein Deutſcher ſind Sie? Aber 
freilich wohl nur der Abſtammung nach?“ 


„Nein, Senor, ſondern mit meinem ganzen Herzen. 
Ich bin nicht drüben geboren, halte aber doch das 
ſchöne Deutſchland für mein Vaterland. Um ein 
Deutſcher und zwar ein ganzer Deutſcher zu ſein, 
braucht man nicht drüben zu wohnen, denn Alldeutſch⸗ 
land iſt an jedem Orte, da wo die deutſche Zunge klingt 
und Gott im Himmel Lieder ſingt.“ 


Er hatte dies aus vollſtem Herzen geſagt. Der 
kleine, rote Privatgelehrte ſprang begeiſtert auf, breitete 
die Arme aus und rief: „Ja, wo des Deutſchen Zunge 
klingt und Gott im Himmel Lieder ſingt! Das Lied iſt 
gedichtet von Ernſt Moritz Arndt, am 26. Dezember 
1769 in Schoritz auf Rügen geboren und am 29. Ja⸗ 
nuar 1860 in Bonn geſtorben. Komponiert wurde es 
von vielen Tonſetzern. Meine Lieblingsmelodie iſt die⸗ 
jenige von Heinrich Marſchner, für vierſtimmigen Män⸗ 
nerchor in C dur geſetzt. Ich bin Mitglied des Jüter⸗ 
bogker Geſangvereins ‚Deutfche Lyra“ und ſinge erſten 
Baß, vom großen As bis zum eingeſtrichenen e hinauf 
und habe bei Konzerten die Noten anszugeben, da ich 
Bücherwart des Vereins bin, Hurra! ‚Was ift des 
Deutſchen Vaterland? Allüberall wird es genannt. O 
Gott vom Himmel ſieh darein: Der ganze Erdkreis 
wird's noch ſein!“ 


u 


Die Begeiſterung des Kleinen nahm ſich höchſt poſ⸗ 
ſierlich aus, und doch war ſie ſehr ernſthaft gemeint. 
Der Vater Jaguar nickte dem Knaben freundlich zu 
und ſagte: „Recht fo, mein lieber Seüorito! (Kleiner 
Herr, Herrchen.) Es geht auch älteren Leuten, als Sie 
ſind, das Herz auf, wenn vom heiligen Vaterland die 
Rede iſt. Sie ſcheinen ein braver Knabe zu ſein, und 
ſo will ich es mir überlegen, ob es möglich ſein wird, 
den Wunſch Ihres Oheims zu erfüllen.“ 

„Tun Sie es, Senor, tun Sie es!“ bat der Knabe. 
„Ich werde Ihnen gern gehorchen und mich in alles 
ſchicken.“ 

„Ja, tun Sie es!“ bat auch der Bankier. „Sie er⸗ 
weiſen mir damit einen großen Dienſt.“ 

„Es kommt nicht nur auf mich, ſondern auch auf 
meine Gefährten an,“ antwortete der Vater Jaguar. 
„Wir werden uns beſprechen. Bange dürfen Sie um 
den Knaben nicht fein, denn von Santa FE aus, wo 
der Ritt beginnen würde, ſind wir vierundzwanzig 
Mann, von denen kein einziger ſich vor dem Schlimm⸗ 
ſten fürchtet. Freilich würde die Reiſe anders, beſon⸗ 
ders langſamer, vor ſich gehen, als Sie ſich denken. 
Ihren Neffen glücklich hinüberzubringen, das kann für 
uns nur nebenſächlich fein, da wir im Gran Chaco Auf- 
gaben zu löſen haben, die ſich nicht aufſchieben laſſen.“ 

„Im Gran Chaco?“ fragte da der kleine Gelehrte. 
„Gibt es dort nicht auch Verſteinerungen, Senor 
Hammer?“ 

„Erſt recht! Mehr als anderswo! In der Pampa 
hat man ſchon überall geſucht, im Chaco aber nicht, 
weil ſich wegen der dortigen Indianer kein Forſcher hin⸗ 
getraute. Ich weiß Orte, wo man nur nachzugraben 
braucht, um ausgezeichnete Funde zu machen.“ 


zu. IR 


„Hurra! Da laſſe ih Pampa Pampa fein, und 
gehe mit nach dem Gran Chaco! Einen ſolchen Vor⸗ 
teil, lateiniſch Fruetus und auch Commodum genannt, 
darf ich mir unmöglich entgehen laſſen!“ 

„Nicht ſo raſch, mein Lieber! Von Buenos Aires 
bis in den wilden Chaco kommt man nicht ſo leicht, wie 
von Jüterbogk nach Berlin. Und dort gibt's auch keine 
deutſchen Männergeſangvereine. Sie könnten leicht mit 
Ihrem ſchönen erſten Baß den Todesgeſang anſtimmen 
müſſen.“ 

„Wenn auch! Geben mir die Indianer die Noten 
dazu, ſo ſinge ich ihn vom Blatte, prima vista, wie es 
lateiniſch heißt. Sie nehmen mich doch hoffentlich mit?“ 

„Hoffentlich?“ brummte der Vater Jaguar, indem 
er ein bedenkliches Geſicht machte. „Bitte, lieber Seüor 
Morgenſtern, gehen Sie in ſich, und fragen Sie ſich, ob 
Sie der Mann zu einem ſo gewagten Unternehmen 
ſind!“ | 

„Für ein Maſtodon oder ein Glyptodon wage ich 
alles, ſelbſt mein Leben. Sie werden doch einem Lands⸗ 
mann aus Jüterbogk feine Bitte nicht abſchlagen!“ 

„O doch! Sie müſſen dieſen Gedanken unbedingt 
fallen laſſen.“ 

Es war ihm ganz und gar nicht übel zu nehmen, 
daß er auf ſeinem gefährlichen Ritt nur zuverläſſige 
Leute bei ſich haben wollte. Man ſah es ihm an, daß 
ihm der Antrag nicht angenehm war. Darum brachte 
der Wirt das Geſpräch auf ein andres Thema. 

Die Gäſte blieben bis nach dem eingenommenen 
Abendmahl. Als ſie ſich dann verabſchiedeten, war der 
Wirt ſo zartfühlend, ſeinen Wunſch nicht zur Sprache 
zu bringen. Er wußte, daß der Vater Jaguar wieder⸗ 
kommen werde, um ſeine Anweiſung zu präſentieren, 


BE. 


und dann konnte über die Angelegenheit ja nochmals 
geſprochen werden. Doktor Morgenſtern aber war we⸗ 
niger ſtrupulös; er nahm Hammer beim Arme und 
fragte in beſtimmtem Ton: „Alſo, Senor, wie viel 
Pferde ſoll ich mir kaufen?“ 

„Pferde? Wozu?“ 

„Nun, zu unſrer Reiſe. Ich muß doch Pferde ha⸗ 
ben und Hacken und Schaufeln und ſonſtige Werkzeuge.“ 

„Weiter nichts?“ fragte der Vater Jaguar beinahe 
zornig. a 

„Was ſonſt noch?“ 

„Einen Eiſenbahngüterzug. Oder meinen Sie, 
wenn Sie den Rieſenelefanten ausgegraben haben, laufe 
er allein nach Jüterbogk, um dort Mitglied Ihrer 
„Deutſchen Lyra“ zu werden?“ 

Bei dieſen Worten ging Hammer zur Tür hinaus 
und ließ den Kleinen ſtehen; der Bankier begleitete ihn 
bis an den Ausgang. Eben als ſie im Begriff ſtanden, 
ſich dort zu verabſchieden, kam der Kriminalbeamte, der 
den geſtrigen Vorfall zu unterſuchen hatte, und meldete, 
daß der Eſpada Antonio Perillo der Täter nicht ge⸗ 
weſen ſein könne, da er imſtande ſei, ſeine Unſchuld 
durch ein unanfechtbares Alibi zu beweiſen. 

Die Herren ſprachen noch einige Zeit über dieſe 
Angelegenheit. Sie wurden dabei von dem Licht, das 
ein Peon hielt, hell beleuchtet und bemerkten nicht, daß 
ſie dabei beobachtet wurden. 

Als der Poliziſt vorhin in die Straße, wo die 
Quinta ſtand, eingebogen war, waren ihm zwei Männer 
gefolgt, ſo heimlich und ſo leiſe, daß ihm ihre Gegen⸗ 
wart entging. Jetzt ſtanden ſie drüben auf der andern 
Seite der Straße. Es war dunkler Abend; aber ſelbſt 
wenn es heller geweſen wäre, hätte man ſie ſchwerlich 


zer, IE a 


ſehen können, da fie fich dicht an das Gebüſch des Ole⸗ 
anderzaunes ſchmiegten. Es waren die beiden Mord⸗ 
buben, die den harmloſen Doktor Morgenſtern hatten 
töten wollen. 

„Dachte es mir, daß dieſer Vigilant zum Bankier 
gehen würde,“ flüſterte Antonio Perillo ſeinem Be⸗ 
gleiter zu. „Wir haben alſo nicht umſonſt vor ſeiner 
Wohnung gelauert. Möchte wiſſen, was er zu ſagen 
hat.“ 

„Das weiß ich ſehr genau,“ antwortete der andre 
ebenſo leiſe. „Er wird ihm ſagen, daß du nicht als 
Täter in Betracht kommſt, weil du — — Tempestad 
— Donnerwetter!“ unterbrach er ſich. „Wer iſt denn 
der Kerl?“ 

„Welcher?“ 

„Der Rieſe, der neben dem Bankier ſteht.“ 

Der Schein des Lichtes war ſoeben hell auf Ham⸗ 
mers Geſicht gefallen. 

„Den kennſt du nicht?“ fragte Antonio Perillo. 
„Ah, ich vergaß, daß du heute nicht mit beim Stiergefecht 
warſt. Das iſt der Vater Jaguar, der Halunke, der uns 
alle fo blamiert hat. El diabolo se le lleve — der 
Teufel hole ihn!“ vo: 

„Der — Ba—ter — Ja—gu—ar?“ fragte der 
ältere, indem er die einzelnen Silben weit auseinander 
dehnte. „Der alſo iſt der Vater Jaguar! Der!“ 

„So kennſt du ihn?“ 

„Und ob ich ihn kenne! Alſo ſo lange Jahre habe 
ich mich geſehnt, den Vater Jaguar zu ſehen, und der 
Zufall, oder vielmehr mein gutes Glück hat mir dieſen 
Wunſch ſtets verſagt. Und nun ich ihn ſehe, glücklicher⸗ 
weiſe ohne daß er mich ſieht, muß ich erfahren, daß es 


— 79 — 


dieſer — dieſer — dieſer iſt! Welch eine Neuigkeit! 
Welch eine Erfahrung, die ich da mache!“ 

Er flüſterte dieſe Worte abgebrochen, lang gedehnt, 
wie geiſtesabweſend. Antonio Perillo konnte ſich dieſes 
Verhalten ſeines Gefährten nicht erklären; darum 
fragte er: „Was iſt's mit dir? Wie redeſt du? Wer 
iſt er denn?“ 

„Wer er iſt, das will ich dir ſagen; du kennſt ja die 
Geſchichte. Dieſer Mann wurde bei den nordamerika- 
niſchen Indianern Metana Mu“) genannt.“ 

„Dieſes Wort verſtehe ich nicht.“ 

„Die engliſch ſprechenden Jäger nannten ihn 
Lightning-hand“).“ 

„Auch engliſch verſtehe ich nicht.“ N 
„So ſollſt du hören, daß er bei den ſpaniſch reden⸗ 
den Mexikanern El Mano relampagueando*) hieß.“ 

„Wie? Was? Iſt das möglich?“ fragte Perillo 
betroffen. „So iſt es alſo der Bruder jenes — jenes 
— — den du damals — — —“ 

„Ja, ja, jenes — — jenes — — den ich da⸗ 
mals — — —! Dieſer Lightning-hand befindet ſich 
ſchon fo lange hier unter dem Namen des Vaters Ja⸗ 
guar. Er iſt alſo gleich darauf nach Argentinien ge⸗ 
kommen. Er hat meine Fährte entdeckt und iſt mir 
gefolgt, um den Tod feines Bruders zu rächen, hat mich 
aber nie getroffen, ebenſo aus Zufall, wie ich ihn auch 
nie geſehen habe.“ 

„So iſt es; ja, ſo iſt es; anders kann es nicht ſein. 
Nimm dich in acht!“ 

„Das werde ich. Nun ich die große Gefahr kenne, 
worin ich ſo lange geſchwebt habe, ohne es zu ahnen, 
werde ich ihr in meiner Weiſe begegnen. Er ſucht mich 


9) Die Bligende Hand 


— 80 — 


und hat mich nicht gefunden; ich aber habe ihn ge⸗ 
funden, ohne ihn zu ſuchen. Er wird mir . ent⸗ 
kommen.“ 

„Du willſt ihn — — —?“ 

„Ja.“ 

„Gerade wie ſeinen Bruder?“ 

„Gerade ſo! Oder meinſt du etwa, daß ich ihn 
leben laſſen ſoll, um ihm in die Hände zu laufen? 
Uebrigens was tut er hier bei dieſem Bankier Salido, 
bei dem der kleine Rote wohnt, der ſich wie ein Gaucho 
kleidet, ohne einer zu ſein?“ 

„Das iſt allerdings ein Umſtand, der auch mir 
auffällt.“ 

„Sollten beide befreundet ſein? Dieſer Zwerg und 
dieſer Rieſe? Sie müſſen beide verſchwinden. Willſt 
du mir helfen?“ 

„Frage nicht erſt! Es verſteht ſich ganz von ſelbſt, 
daß meine Hand, mein Meſſer und meine Kugel dir 
gehören. Wir ſind verwandt und haben gleiche In⸗ 
tereſſen.“ 

„So müſſen wir zunächſt erfahren, wo dieſer Vater 
Jaguar wohnt. Horch!“ 

Der Gerichtsbeamte entfernte ſich zuerſt. Er wie⸗ 
derholte zu Perillos Freude mit lauter Stimme, daß 
dieſer unſchuldig ſei. Dann ging auch der Vater Ja⸗ 
guar, nachdem er mit dem Bankier noch einige höfliche 
Worte gewechſelt hatte. / 

„Jetzt ihm nach!“ flüfterte der Kamerad Perillos. 
„Wir müſſen unbedingt erfahren, wo er ſich aufhält. 
Laſſen wir ihn alſo ja nicht aus den Augen!“ — — 


viertes Kapitel 
Eine neue Bekanntſchaft 


Es war ungefähr vierzehn Tage ſpäter, als ein 
aus Rozario kommender Dampfer an der Landeſtelle 
von Santa Jé anlegte. Die Gehbretter wurden ausge⸗ 
worfen, und die Paſſagiere beeilten ſich, an das Land 
zu kommen. Am Ufer gingen mehrere Offiziere auf 
und ab, denen bei der Lebloſigkeit der innern Stadt die 
Landung der Fremden ein willkommenes Schauſpiel bot. 

Die letzten beiden an das Land Gehenden waren 
zwei kleine Geſtalten, als Gauchos ganz in Rot ge- 
kleidet und zwar ſo ähnlich, daß man ſie in Beziehung 
auf ihre Anzüge ſehr leicht hätte verwechſeln können. 
Sie trugen beide auch genau dieſelben Waffen, nämlich 
jeder ein Gewehr, zwei Revolver, deren Griffe aus dem 
Gürtel blickten, und ein Meſſer. Als die Offiziere dieſe 
zwei Männer erblickten, ſchienen ſie ſehr überraſcht zu 
ſein. Einer von ihnen, ein Kapitän, ſagte zu den 
andern: „Was iſt das? Da kommt Coronel (Oberſt) 
Glotino, und zwar verkleidet! Will er unerkannt blei⸗ 
ben, oder machen wir ihm die Honneurs?“ 

„Warten wir ab, ob er uns beachtet,“ meinte ein 
Oberleutnant. 

Die beiden Roten kamen langſam näher und zwar 
gerade auf die Offiziere zu. Dieſe ſchlugen alſo die 

May, Das Vermächtnis des Inka 6 


Füße ſporenklirrend zuſammen und erhoben die Hände 
zum Salut. 

„Buenos mañanas — guten Morgen!“ dankte 
der kleine Gelehrte, denn dieſer war es, indem er Zeige⸗ 
und Mittelfinger ſeiner rechten Hand an die Hutkrempe 
legte. Sein Begleiter, Fritz Kieſewetter aus Stralau, 
tat dasſelbe. „Schönes Wetter heute, Seüores. Nicht?“ 

„Allerdings, mein Oberſt,“ antwortete der Haupt⸗ 
mann. „Euer Gnaden haben eine gute Fahrt gehabt. 
me der Herr Oberſt heute hier bleiben?“ 

„Vielleicht. Ich ſuche Unterkunft.“ 

„Erlauben der Herr Oberſt, Sie zu begleiten?“ 

„Ich erlaube es gern, bin aber nicht Oberſt.“ 

„Zu Befehl! Ich verſtehe! Diplomatiſche Sen⸗ 
dung oder vielleicht auch gar private militäriſche In⸗ 
ſpektion. Welchen Charakter dürfen wir Euer Gnaden 
erteilen?” 

„Sie meinen, welchen Namen? Ich bin Zoolog 
und heiße Doktor Morgenſtern aus Jüterbogk.“ 

„Ganz recht! Je fremder und unausſprechlicher 
die Namen, deſto tiefer und undurchdringlicher iſt das 
Inkognito. Und dieſer Seüor neben Euer Gnaden?“ 

„Iſt Fritz Kieſewetter, mein Diener, aus Stralau 
am Rummelsburger See.“ 

„Das iſt noch unausſprechlicher, alſo noch undurch⸗ 
dringlicher. Geſtatten Euer Gnaden, nach dem Cuartel!“ 

Die Gruppe ſetzte ſich in Schritt, voran der Ge⸗ 
lehrte, zu ſeiner Linken, ehrfurchtsvoll einen Schritt 
zurück, der Hauptmann, hinter ihnen Fritz Kieſewetter 
mit den andern Offizieren zu beiden Seiten. 

Das Cuartel von Santa Js war ein noch aus der 
alten ſpaniſchen Zeit ſtammendes, mehrſtöckiges Ge⸗ 
bäude mit Turm. Die Fenſter und ſelbſt die Balkone 


gr. 8: 


waren mit ſtarken Eiſengittern verſehen. Vor der 
Faſſade dieſes Gebäudes ſtanden einige Kanonen; Sol⸗ 
daten ſtanden oder ſaßen vor den Türen, und zahlreiche 
Arreſtanten ſchauten durch die vergitterten Fenſter. 

„Sapperlot!“ meinte der Gelehrte in deutſcher 
Sprache zu ſeinem Diener. „Das iſt ja ein Gefängnis. 
Hält man uns für Räuber oder Diebe, was der Lateiner 
einen expilator und vulturius nennt?“ 


„Det jloobe ick nicht,“ antwortete Fritz. „Nach 
ſonne freundliche und höfliche Empfänglichkeit werden 
ſie uns doch nich inſperren! Ick bin vielmehr von die⸗ 
jenigte Anſicht, dat man mit uns die nobelſten Abſichten 
kultiviert. Jehen wir alfo man rin! Raus werden wir 
ſchon wieder kommen, und wenn's jeſchmiſſen ſtatt 
jejangen iſt.“ 

Die anweſenden Soldaten ſalutierten nach Vor⸗ 
ſchrift, und die Herren traten ein. Die beiden Deutſchen 
wurden über einen Innenhof und eine Treppe nach 
einigen ganz hübſch eingerichteten Zimmern geführt, an 
deren Eingang ſich die Offiziere verabſchiedeten. Da⸗ 
bei bemerkte der Hauptmann: „Ein Imbiß wird unver⸗ 
züglich beſorgt und ebenſo eine Ordonnanz komman⸗ 
diert werden. Bin heute Kommandant, da der Herr 
Major nach Parana mußte. Haben der Herr Oberſt 
— Pardon, wollte ſagen der Herr Zoolog einen Befehl?“ 

„Keinen Befehl, ſondern eine Bitte. Laſſen Sie 
doch ſchnell nachfragen, ob ein Yerbatero, der zugleich 
Sendador iſt und ſchlechthin Vater Jaguar genannt 
wird, vorgeſtern oder geſtern hier in Santa Js ankam. 
Ich muß wiſſen, wo er logiert.“ 

„Kam er mit dem Schiff, Euer Gnaden?“ 

„Ja, aus Buenos Aires.“ 


se ze 


„Dann hoffe ich binnen einer halben Stunde rap⸗ 
portieren zu können.“ 

Er trat ab, und kurze Zeit ſpäter meldete ſich ein 
Unteroffizier zum perſönlichen Dienſt und ſervierte zu⸗ 
gleich Fleiſch, Brot, Früchte und Bordeauxwein, der am 
La Plata viel getrunken wird. 

„Dat muß man ſagen,“ meinte Fritz, „dat Militär 
hat doch immer Lebensart. Ick ärgere mir noch heut, 
daß ick nicht jenommen worden bin. Bei meine mora⸗ 
liſche Veranlagung hätte ick mir jewiß bald weit in die 
Höhe jebracht und könnte heut auch mit dem Schlepp⸗ 
ſäbel und Portepee raſſeln. Ireifen wir zu, Herr 
Doktor; ick werde injießen.“ 

Er füllte die Gläſer. Die beiden aßen und tran⸗ 
ken, gemütlich nebeneinander ſitzend, woraus der Un⸗ 
teroffizier natürlich ſchloß, daß Fritze Kieſewetter nicht 
ein Diener, ſondern auch ein höherer Offizier ſei. Fritze 
genoß das Gebotene mit heiterem Mut, dem Doktor 
aber kam die Sache doch nicht ganz geheuer vor; er 
meinte in bedenklichem Ton: „Man nannte mich Co⸗ 
ronel, alſo Oberſt. Ich bin ein Jünger der friedlichen 
Wiſſenſchaft und kein argentiniſcher Partiſan. Wie 
alſo komme ich zu dieſem militäriſchen Grade?“ 

„Jedenfalls wie der Pudel zur ſauren Jurke, in⸗ 
dem er ſie für eine Wurſt jehalten hat. Machen Sie 
ſich nur keine Jedanken! Mir können ſie meinetwejen 
Jeneral nennen, ick bleibe, wat ick bin, und eſſe mit 
Vergnüjen, wat uns die Ordonnanz aufjetafelt hat.“ 

„Aber, Fritze, ſcheint es nicht, daß ich mit einem 
Offizier verwechſelt werde? Dieſer Irrtum, lateiniſch 
Error genannt, kann uns ſehr leicht in Verlegenheit 
bringen.“ 


5 IB 


„Zunächſt hat er uns zu dieſes Jabelfrühſtück je⸗ 
bracht, wat ick keinen Irrtum nennen möchte.“ 
„Aber die Folgen! Fritze, Fritze, du ſcheinſt ein 
wenig von der Eigenſchaft zu beſitzen, die der Lateiner 
mit dem Worte Levitas (Leichtſinn) bezeichnet.“ 

„Dat kann nicht ſtimmen, Herr Doktor. Haben 
die Römer jehungert, wenn ſie wat zu eſſen bekamen?“ 

„Ich glaube nicht.“ 

„So kann mir auch kein Römer Levitas nennen, 
wenn ick mir dahin ſetze, wo ick jeſpeiſt werden ſoll.“ 

Da erſchien der Hauptmann und meldete in ſtram⸗ 
mer Haltung: „Der Vater Jaguar iſt geſtern nach⸗ 
mittag hier angekommen und heute früh mit dreiund⸗ 
zwanzig Erwachſenen und einem Knaben nach der La⸗ 

guna Porongos aufgebrochen.“ 
| „Zu Pferd?“ 

„Ja. Zwanzig ſeiner Begleiter haben einige Tage 
lang hier auf ihn gewartet.“ 

„Ich muß ihm nach. Können Sie uns Pferde 
verſchaffen?“ | 

„Ganz zu Befehl! Wie viele, Euer Gnaden?“ 

„Zwei als Reſerve, alſo vier Stück.“ 

„Auf Requiſition oder vom Regiment?“ 

„Vom Regiment nicht, da ich nicht ſoldatenmäßig 
zu reiten verſtehe.“ | 

„Alſo auf Requiſition,“ meinte der Offizier mit 
einem feinen Lächeln. „Wann befehlen Euer Gnaden, 
daß die Pferde geſattelt bereitſtehen?“ 

„In einer Stunde.“ 

Der Hauptmann entfernte ſich ſalutierend. Als 
kurz darauf die Ordonnanz erſchien, um Zigaretten zu 
bringen und die Speiſereſte abzuräumen, fragte Mor- 
genſtern: „Könnte ich nicht meine Sachen bekommen, 


— 886 — 


mein Lieber? Da das Schiff erſt am Nachmittag von 
hier abgeht und ich nicht wußte, wo ich bleiben würde, 
haben wir unſer Gepäck einſtweilen an Bord gelaſſen. 
Es iſt ein Bündel, lateiniſch Sareina genannt, worin 
ſich Werkzeuge befinden, und ein Paket, mit Leder um⸗ 
wickelt, Fascis geheißen, welches Bücher enthält.“ 

„Wird ſofort geholt, Senor Coronel!“ Mit dieſen 
Worten eilte der Unteroffizier hinaus. 

Nach einer Viertelſtunde kehrte der Hauptmann 
zurück und meldete, daß die Pferde bereit ſtänden. 

„Was koſten fie?” fragte Morgenſtern. 

„Natürlich nichts, Euer Gnaden,“ lächelte der 
Offizier. 

„Aber ich will fie ja bezahlen!“ 

„Ein Zoolog braucht nicht zu zahlen.“ 

„Warum nicht?“ 

„Es iſt die Sitte dieſes Landes, Señor.“ 

„Sonderbar! Dieſes Land wurde von den Spa⸗ 
niern ziviliſiert, die ihre Sprache und Sitten von den 
Römern bekamen; ich habe nirgends geleſen, daß bei 
dieſen letzteren die Gelehrten die Pferde gratis er⸗ 
hielten. Ich werde ſpäter eifrig darüber nachſchlagen, 
da es ſich dabei um ein kulturhiſtoriſches Moment von 
bedeutendem Wert handelt. Es ſcheint, Argentinien iſt 
das einzige Land, das dieſen ſchönen Gebrauch beibe⸗ 
halten hat. Es iſt auch in andrer Beziehung höchſt 
konſervativ. Bewahrt es uns doch in ſeinen Pampas 
die Zeugen und Beweiſe eines längſt untergegangenen 
Lebens auf. Ich will nicht vom Maſtodon und Mega⸗ 
therium ſprechen, aber fragen muß ich Sie doch, Senor, 
ob Sie ſchon ſo glücklich geweſen ſind, hier einen ter⸗ 
tiären Menſchen zu ſehen?“ 


a 


„Tertiär?“ antwortete der Hauptmann verlegen. 
„Wollen Euer Gnaden befehlen, was für eine Perſon 
ich mir unter einem tertiären Menſchen vorſtellen ſoll?“ 

„Ich befehle nicht, ſondern ich bitte bloß. Man 
hat ſchon in den älteren Pliocänſchichten Feuerſpuren 
und Steinwerkzeuge gefunden. Später entdeckte man 
da gar drei menſchliche Skelette. Es hat alſo in den 
Pampas ſchon zur mittleren Tertiärzeit Menſchen ge⸗ 
geben, die ſonderbarerweiſe ein durchbohrtes Bruſtbein 
und dreizehn Rückenwirbel anſtatt zwölf beſaßen. Möglich, 
daß wir nach Jahrtauſenden deren nur noch elf oder 
zehn oder auch noch weniger beſitzen, was mich gar 
nicht wundern würde.“ 

„Woraus zu ſchließen iſt,“ fiel Fritze ſehr ernſt in 
ſpaniſcher Sprache ein, „daß der noch ſpätere Menſch 
gar keine Knochen haben wird.“ 

„Möglich,“ nickte der Doktor. „Die Umbildung 
der Lebeweſen nimmt ihren ununterbrochenen Gang, 
wenn wir uns die kommenden Formen auch nicht vor⸗ 
zuſtellen vermögen. Nehmen wir, um von einem inter⸗ 
eſſanten Beiſpiel zu ſprechen, den Zahn eines Höhlen⸗ 
bären an. Haben Sie ſchon einen ſolchen geſehen, 
Senor Kapitän?“ 

„Nein,“ ſchüttelte der Gefragte, der jetzt allerdings 
nicht wußte, was er von dem „Oberſt“ halten ſollte. 

„Dieſer Zahn, nämlich der Backzahn, iſt in der 
Weiſe —“ N 

Er wurde unterbrochen. Es traten mehrere Sol⸗ 
daten herein, welche das Gepäck brachten und auf den 
Boden niederlegten, um ſich dann zu entfernen. Das 
eine Bündel enthielt, wie man ſah, zwei Hacken, zwei 
Spaten und zwei Schaufeln; das andre war aufge⸗ 
platzt, ſo daß ihm einige Bücher entfielen. Der Haupt⸗ 


— 88 — 


mann bückte ſich dienſtbereit, um ſie aufzuheben und auf 
den Tiſch zu legen. Dabei fiel, da ſich eins derſelben 
öffnete, ſein Blick auf deſſen Titel. Da ſtand gedruckt 
„Nuestros predecesores de los Pampas — die Vorwelt 
in den Pampas. Und drüben auf der Innenſeite des 
Einbandes war der Name Doktor Morgenſtern, Jüter- 
bogk zu leſen. Schnell öffnete der Offizier das zweite, 
dritte und vierte Buch; ſie waren alle mit demſelben 
Namen gezeichnet. Da fragte er in haſtiger Weiſe: 
„Wie nannten Sie ſich vorhin, Senor — — Zoolog?“ 

„Doktor Morgenſtern aus Jüterbogk.“ 

„Iſt das etwa Ihr wirklicher Name.“ 

„Allerdings.“ 

„Können Sie das beweiſen?“ 

„Sehr leicht.“ 

„Womit?“ 

„Mit meinem Paß.“ 

„Her damit!“ 

Das klang befehlend, zornig. Der Gelehrte zog 

ſeine Brieftaſche mit dem Paß hervor und gab den 
letzteren dem Offizier. Kaum hatte dieſer einen Blick 
hineingeworfen, fo rief er aus: „Que yerro y que 
desvergüenza! Mas aun que semejanza! Sois 
bribones, sois embusteros — welcher Irrtum und 
welche Frechheit! Aber auch welche Aehnlichkeit! Ihr 
ſeid Schurken, ſeid Betrüger!“ 
„5 Schurken! Und Betrüger? Wir?“ fragte Mor⸗ 
genſtern. „Senor, wollen Sie uns gefälligſt jagen, wie 
Sie zu einem Urteil gelangen, das völlig unbegründet 
iſt, inaniter würde der Lateiner ſagen.“ 

„Laſſen Sie mich mit Ihrem Lateiner in Ruhe! 
Wie können Sie uns belügen und ſich für den Oberſten 


— 89 — 


Glotino, den Schwager unſres Generals Mitre, aus⸗ 
geben?“ 

„Habe ich das?“ fuhr Morgenſtern nun ſeinerſeits 
ſcharf auf. „Wie können Sie es wagen, mich, einen 
deutſchen Untertan, einen Lügner zu nennen?“ 

„Schweigen Sie! Wiſſen Sie, daß ich Sie ſofort 
einſperren kann?“ 

„Das können Sie; aber ſich dann rechtfertigen, das 
können Sie nicht. Und ein Deutſcher läßt ſich nicht 
einſperren, ohne den Betreffenden dann zur Verant⸗ 
wortung ziehen zu laſſen!“ 

„Es ſind Ihnen Honneurs erwieſen worden; ich 
habe Ihnen zu eſſen und zu trinken gegeben, und meine 
Soldaten haben ſich mit den Gauchos herumgeſtritten, 
um Ihnen Pferde zu verſchaffen. Und nun ſtellt es 
ſich heraus, daß Sie ein Gringo (verächtliche Bezeich⸗ 
nung für Ausländer), ein deutſcher Bücherwurm ſind!“ 

Morgenſtern trat kräftiger auf, als von ihm zu 
erwarten geweſen war. Fritze hatte bis jetzt geſchwie⸗ 
gen, nun aber antwortete auch er: „Mäßigen Sie ſich, 
Senor, ſonſt können Sie in Erfahrung bringen, daß ein 
deutſcher Gelehrter, den Sie Gringo und Bücherwurm 
ſchimpfen, kein ſo unbedeutender Menſch iſt, wie Sie zu 
denken ſcheinen. Es läuft vielleicht mancher hier her⸗ 
um, mit dem zu tauſchen uns gar nicht einfallen 
würde.“ 

„Meinen Sie etwa mich?“ fragte der Hauptmann 
ſcharf. 

„Wen ich meine, brauche ich nicht zu fagen. 
Wollen Sie meine Worte auf irgendwen beziehen, ſo 
habe ich gar nichts dagegen. Ich wundere mich über die 
Vorwürfe, die Sie uns machen. Sie haben uns einge⸗ 
laden, weil Sie uns verkannten; uns aber iſt es nicht 


eingefallen, Sie zu täuſchen. Was wir genoſſen haben, 
werden wir bezahlen. In Beziehung auf die uns er⸗ 
wieſenen Honneurs ſind wir quitt, denn wir haben auch 
gegrüßt. Und was die Pferde betrifft, ſo können Sie 
dieſe ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückſtellen, 
denn wir kaufen uns andre. Was koſtet das Eſſen, und 
was koſtet der Wein, dem man es anſchmeckt, daß er 
kein echter Bordeaux iſt, ſondern aus einer hieſigen 
Fabrik ſtammt?“ 

Er zog den Beutel, um zu bezahlen. Da aber fuhr 
der Kapitän zornig auf: „Was? Ich ſoll von einem 
Bedienten Geld annehmen? Biſt du toll, Kerl!“ 

Da trat Fritze einen Schritt auf ihn zu und drohte: 
„Kerl? Ich ein Kerl? Ich heiße Friedrich Kieſewetter 
und bin ein Preuße. Verſtanden? Und wer mich du 
nennt, der macht mit mir Bruderſchaft und wird von 
mir auch geduzt.“ 

„Welch ein frecher Patron! Menſch, ich ſtecke dich 
unter meine Soldaten und werde dafür ſorgen, daß 
dein Rücken für ein ganzes Jahr die ſchönſte blaue 
Farbe annimmt!“ | 

„Verſuche es! Ich bin ein Untertan des Königs 
von Preußen, deſſen Arm gar wohl ſo weit reicht, dich 
zu faſſen und zu beſtrafen, wenn du es wagſt, dich an 
mir zu vergreifen!“ | 

Dieſe Worte entflammten den Zorn des Offiziers 
auf das höchſte. Er eilte zur Tür, hinter der die Or⸗ 
donnanz ſtehen mußte, öffnete ſie und rief hinaus: 
„Herein! Werft mir ſchnell dieſen Menſchen hinaus, 
bis vor das Tor, und greift ſo feſt wie möglich zu! Je 
mehr blaue Flecke er bekommt, deſto beſſer iſt es.“ 

Es ſtanden auch noch diejenigen Soldaten draußen, 
welche die Pakete gebracht hatten. Sie waren durch die 


— 91 — 


lauten Stimmen, die ſie gehört hatten, zurückgehalten 
worden und kamen ſchnell herein, um den Befehl aus⸗ 
zuführen. Es war ein Gaudium für ſie, einen Frem⸗ 
den hinauszuwerfen, und es kam bei ihnen gar nicht in 
Betracht, daß ſie ihn noch vor wenigen Minuten für 
einen Offizier gehalten hatten. 

Fritze griff nach ſeinem Gewehr, um ſich zu ver⸗ 
teidigen, war aber klug genug, dieſe Abſicht wieder auf⸗ 
zugeben. Er warf es am Riemen über den Rücken 
und ſagte: „Rührt mich nicht an; ich gehe ſelbſt! 
Kommen Sie, Senor Doktor!“ 

Indem er dieſe Worte ſprach, hob er das Bündel 
mit den Werkzeugen auf, hob es auf die Achſel und 
ſchritt der Tür zu. Man hätte dem kleinen Kerlchen 
gar nicht zugetraut, daß es ihm gelingen werde, das 
ſchwere Paket mit ſolcher Leichtigkeit zu bewältigen. 
Seine drohende Haltung imponierte den Soldaten; ſie 
wichen vor ihm zurück und ließen ihn zur Tür hinaus. 
Da aber herrſchte ſie der Kapitän an: „Nennt ihr das 
Hinauswerfen, ihr Halunken? Sofort ihm nach, ſonſt 
ſetzt es Arreſt!“ | 

Sie gehorchten dieſem Befehl; der Hauptmann aber 
wendete ſich an den Gelehrten: „Sie ſehen, Senor, wie 
weit man kommt, wenn man einem Offizier nicht die⸗ 
jenige Höflichkeit erweiſt, die er unbedingt zu fordern 
hat. Was werden Sie tun, wenn ich Sie einſperren 
laſſe?“ 

„Mich mit Hilfe des Vertreters meines Mon⸗ 
archen an Ihren Präſidenten wenden,“ antwortete 
Morgenſtern ruhig. „Dann würden Sie ebenſo ein⸗ 
geſperrt, um zu erfahren, wie weit man kommt, wenn 
man einem deutſchen Untertan diejenige Rückſicht ver⸗ 
ſagt, die er unbedingt zu fordern hat.“ 


— 92 — 


„Ich finde, daß Sie ſehr hochtrabend ſprechen. Die 
Lage, in welcher Sie ſich gegenwärtig befinden, iſt 
keineswegs eine ehrenvolle.“ 


„Die Ihrige noch weniger. Wer einen Senor, den 
er einſperren will, vorher Oberſt genannt und Euer 
Gnaden tituliert hat, muß befürchten, ſchwer blamiert 
zu werden. Ich hoffe, wir ſind miteinander fertig. 
Die Bücher, welche hier liegen, werde ich durch einen 
Boten holen laſſen. Leben Sie wohl, Senor.“ 


Er wendete ſich nach der Tür und ging, ohne daß 
der Kapitän Miene machte, ihn zurückzuhalten, hinaus. 
Als er die Treppe hinabſtieg, hörte er auf dem Hofe 
einen Lärm, und als er dieſen erreichte, ſah er einen 
dichten Knäuel von Soldaten, worin Fritze ſteckte. Sie 
hatten die Fäuſte erhoben und wollten ihn ſchlagen, 
wagten dies aber nicht, da er den Revolver gezogen 
hatte und drohte, auf jeden zu ſchießen, der es wagen 
würde, ſich an ihm zu vergreifen. So ſchimpften ſie 
nur und ſchoben hinter ihm her, wodurch ſie ihn im 
Trab bis vor das Tor brachten, wo er ſtolperte und mit 
ſeinem Bündel niederfiel. Da packten ſie ihn, riſſen 
ihm den Revolver aus der Hand und gaben ihm ihre 
Fäuſte zu fühlen. Er wehrte ſich mit Händen und 
Füßen gegen ſie und ſchlug und ſtieß wacker um ſich, 
bis Morgenſtern kam und einige von ihnen mit dem 
Kolben feines Gewehrs zurückſtieß. 

„Zurück, ihr Halunken!“ gebot er. „Habt ihr ver- 
geſſen, daß ich Offizier bin! Euer Kapitän iſt verrückt 
geworden, daß er es wagt, euch auf den Begleiter eines 
Coronel zu hetzen. Lauft ſchnell zum Medico militar 
(Militärarzt)! Ich befehle ihm, den Kapitän ſofort zu 
unterſuchen und in Behandlung zu nehmen.“ 


— 93 — 


Dieſe Liſt wirkte ſofort. Sie zogen ſich verblüfft 
zurück, und einige von ihnen liefen wirklich fort, um nach 
dem Arzt zu ſuchen. Fritze ſprang auf, teilte ſchnell 
noch einige kräftige Rippenſtöße aus, nahm dann ſein 
Bündel wieder auf die Achſel und folgte dem Doktor, 
der ſich mit raſchen Schritten nach der Stadt zu ent⸗ 
fernte. Als Fritze ihn eingeholt hatte, ſchimpfte er: 
„So 'ne Rotte Korah iſt mich auch noch nicht vorje⸗ 
lommen! Dat will Soldat find? Schönes Helden⸗ 
tum! Dreißig gejen einen einzigen, der noch dazu den 
Pack tragen muß! Sie wollten mir verhauen!“ 

„Haben Sie dir wehe getan?“ fragte ſein Herr 
beſorgt. 

„Dat weiß ick nicht. Ick muß es erſt unterſuchen. 
Fühlen tu ick jetzt noch nichts. Hoffentlich kommt das 
Zartjefühl nicht noch hinterher.“ 

„Gott ſei Dank, daß es nicht noch ſchlimmer ge⸗ 
worden iſt! Es war wirklich leichtſinnig von uns, uns 
in eine ſolche Gefahr, lateiniſch Periculum, zu begeben. 
Wollen uns jetzt ein Hotel ſuchen.“ f 

Sie gingen ſuchend durch einige Straßen und 
kamen an ein Haus, über deſſen Tür auf einem Schild 
zu leſen war: „Posada por pasageros, Gaſthaus für 
Fremde“. Dieſe Poſada ſah freilich gar nicht einladend 
aus. Das Gebäude beſtand aus geſtampfter Erde und 
hatte nur ein Erdgeſchoß mit einer breiten, niedrigen 
Tür und zwei Oeffnungen, in denen keine Fenſter 
waren. Nebenan gab es einen von einer Mauer umge⸗ 
benen Hof, wo man Pferde ſtampfen und wiehern 
hörte. Auf dieſe Hütte ſteuerte Fritze zu. 

„Da hinein?“ fragte der Doktor, indem er ein be⸗ 
denkliches Geſicht zog. 

„Ja,“ antwortete Fritze. 


zu - 


„Es ſieht aber genau wie eine Spelunke aus!“ 

„Det ſchadet nichts, wenn wir nur nicht wieder 
herausjeworfen werden, hier iſt alles Spelunke. Alſo 
man wieder rin ins Vergnüjen!“ 

Als ſie eingetreten waren, ſahen ſie, daß das 
Innere dieſes Gaſthauſes aus nur einem Zimmer be⸗ 
ſtand. Tiſche und Stühle gab es nicht, dafür aber 
mehrere Hängematten und niedrige Schemel. Auf 
einem derſelben ſaß der Wirt, ein hagerer, ſchmutziger 
Menſch, der ſich erhob und unter tiefen Verneigungen 
nach den Wünſchen der Geüores fragte. Fritze warf 
ſein Bündel auf den Boden, der aus geſtampftem Lehm 
beſtand, und antwortete an Stelle ſeines Herrn: „Kön⸗ 
nen Sie uns vier Pferde, zwei Reit⸗ und zwei Pack⸗ 
ſättel verſchaffen?“ 

„Mieten?“ 

„Nein, kaufen.“ 

„Wohin wollen Sie?“ 

„Nach dem Gran Chaco, nach Tucuman, vielleicht 
noch weiter.“ 

„Ich habe ſehr feine Pferde zum Verkauf. Be⸗ 
mühen ſich Euer Gnaden mit in den Hof!“ 

Er öffnete eine Seitentür, die in den Hof führte. 
Die beiden folgten ihm hinaus. In einer der Hänge⸗ 
matten hatte ein Mann gelegen, den ſie gar nicht be⸗ 
achteten. Als dieſer von dem Pferdehandel hörte, 
ſprang er aus der Matte und folgte ihnen. Draußen 
ſtanden zwölf abgetriebene und halbverhungerte Gäule, 
deren Ausſehen ein ſo verkümmertes war, daß ſelbſt der 
Doktor, obgleich er nichts von Pferden verſtand, kopf⸗ 
ſchüttelnd meinte: „Das ſollen Pferde ſein? Ich 
würde ſo ein Tier viel eher für das halten, was der 
Lateiner Caper oder Hircus nennt.“ 


— 95 — 


„Was iſt das?“ fragte der Wirt. 

„Ein Ziegenbock.“ 

„So ſind wir fertig. Meine Pferde ſind keine 
Ziegenböcke.“ 

Er wendete ſich ſtolz ab, um in die Stube zurück⸗ 
zukehren. Da ſtand der Gaſt, der in der Hängematte 
gelegen hatte. Dieſer betrachtete die beiden Kleinen 
mit neugierigen Augen. Er war ebenſo rot gekleidet 
wie ſie, trug aber lange Stiefel, deren Schäfte ſeine 
Oberſchenkel bedeckten. Sein Geſicht war ſo bärtig, daß 
man davon nur die Naſe und die Augen ſah. Sein 
Haar hing unter dem Hut, der auf dem ſchon beſchriebe⸗ 
nen Kopftuch ſaß, lang bis auf den Rücken herab. 
Dennoch machte er den Eindruck eines Menſchen, vor 
dem man ſich nicht zu hüten brauchte. Er verbeugte 
ſich und ſagte: „Seüores, ich höre, daß Euer Gnaden 
nach dem Gran Chaco wollen, und kann Ihnen viel⸗ 
leicht mit meinem Rate dienen. Wo kommen Sie her?“ 

„Von Buenos Aires.“ 

„Wohnen Sie dort?“ 

„Nein. Ich bin fremd im Lande.“ 

„Ein Fremder? Wo haben Sie Ihre Heimat?“ 

„In Deutſchland.“ 

„Alſo ein Deutſcher! Und was ſind Sie? Neh⸗ 
men Sie mir meine Fragen nicht übel! Ich habe eine 
gute Abſicht dabei.“ 

„Ich bin ein Privatgelehrter, ein Zoolog, und will 
nach dem Gran Chaco, um dort BE Tiere aus⸗ 
zugraben.“ 

„Ah! Vielleicht ein Maſtodon?“ 

„Hoffentlich!“ 

„Oder ein Megatherium?“ 

„Sie kennen die Namen dieſer Tiere?“ 


— 96 — 


„Natürlich! Ich bin ein Kollege von Ihnen.“ 

„Was? Auch ein Gelehrter?“ fragte Morgenſtern 
verwundert, denn dieſer Mann ſah wie ein echter 
Gaucho, nicht aber wie ein Gelehrter aus.“ 

„Allerdings bin ich einer,“ antwortete er ſtolz, in⸗ 
dem er ſich an die Bruſt ſchlug. 

„Wohl auch Zoolog?“ 

„Auch, denn ich habe alles ſtudiert. Eigentlich 
aber bin ich Cirujano (Chirurg), wenn Euer Gnaden 
geſtatten.“ 

„Alſo ein Arzt!“ 

„Ja. Ich erlaube mir, mich Euer Gnaden vor⸗ 
zuſtellen. Man kennt mich überall, und Sie werden 
nur deshalb, weil Sie fremd ſind, meinen berühmten 
Namen noch nicht gehört haben. Ich bin nämlich Dok⸗ 
tor Parmeſan Rui el Iberio de Sargunna 9 Caſtel⸗ 
guardiante.“ 

„Danke! Ich heiße Doktor Morgenſtern, und der 
Name meines Dieners iſt Kieſewetter.“ 

„Zwei ſchöne Namen, doch darf ich wohl behaup⸗ 
ten, daß der meinige wohlklingender iſt und ſich auch 
viel leichter ausſprechen läßt. Ich bin einer altkaſti⸗ 
lianiſchen Adelsfamilie entſproſſen. Was ſagen Sie zu 
einer Amputation des ganzen Beines, und zwar in 
der Weiſe, daß man erſt die Weichteile abſchneidet und 
dann den Kopf des Oberſchenkelknochens ſehr einfach 
aus dem Pfannengelenk des Beckens nimmt?“ 

„Oberſchenkelknochen, Os femoris genannt? Und 
Becken, Pelvis geheißen? Ich verſtehe Sie nicht, 
Senor. Warum ſoll denn dem unglücklichen Mann das 
Bein amputiert werden? Iſt er verwundet? Hat er 
ſchon den Brand darin?“ 

„Keineswegs. Das Bein iſt kerngeſund. © 


— 97 — 


„Aber weshalb ſoll es ihm da abgeſchnitten 
werden?“ 

„Weshalb? Cielo! Welche Frage! Der Mann 
iſt ja ganz munter und wohl; es fehlt ihm nichts, gar 
nichts. Ich denke überhaupt gar nicht an einen be⸗ 
ſtimmten Menſchen, ſondern ich ſetze nur den Fall, ver- - 
ſtehen Sie wohl, den Fall, daß ich ein Bein abzunehmen 
hätte. Würden Sie mir die nötige Geſchicklichkeit zu⸗ 
trauen?“ 

„Ganz gern, ganz gern, Sefior. Aber dennoch bin 
ich herzensfroh, daß Sie nur den Fall ſetzen. Ich 
glaubte ſchon, ich ſollte Ihnen helfen und das Bein des 
Unglücklichen halten.“ 

„Das iſt gar nicht notwendig, denn ich bedarf 
keiner Hilfe. Ich verfahre mit ſolchem Geſchick und 
ſolcher Schnelligkeit, daß der Patient gar nichts davon 
empfindet. Erſt dann, wenn er geheilt das Lager ver⸗ 
läßt, bemerkt er, daß er nur noch ein Bein hat. Und 
das tue ich nicht nur beim Bein, ſondern bei allen 
Gliedern. Ich ſage Ihnen, Seüor, ich ſäble alles, alles 
herunter!“ 

Er machte dabei ſo energiſche Armbewegungen, daß 
der Doktor erſchrocken ausrief: „Mein Himmel! Ich 
bin geſund, vollſtändig geſund! Mir brauchen Sie 
nichts zu amputieren“! 

„ Leider, leider! Es iſt wirklich jammerſchade, daß 
Sie nicht verwundet ſind oder einen hübſchen Knochen⸗ 
fraß haben. Sie würden ſich königlich über die Kunſt 
freuen, womit ich Ihren Körper von dem betreffenden 
Gliede befreite. Ich habe meine Werkzeuge ſtets bei mir. 
Was meinen Sie wohl zum Beiſpiel vom Herausſägen 
des Ellenbogengelenks? Haben Sie dieſe wunderbare 
Operation ſchon einmal geſehen?“ 

May, Das Vermächtnis des Inka 7 


— 98 — 


„Nein. Und ich verſichere Sie, daß ſich meine 
beiden Ellenbogen in vollſter Ordnung befinden.“ 

„O, was das betrifft, ſo würde es gar nichts ſcha⸗ 
den, wenn ſie durch Schüſſe zerſchmettert worden oder 
durch eine komplizierte und veraltete Verrenkung un⸗ 
brauchbar geworden wären. Ich ſäge ſie Ihnen zu 
Ihrem eigenen Entzücken heraus, und dann könnten 
Sie ſich Ihrer Arme ganz leidlich wieder bedienen.“ 

„Das will ich nicht bezweifeln, Seüor; aber dennoch 
iſt es mir lieber, gar nicht in die Lage zu kommen, ſie 
mir herausſägen laſſen zu müſſen.“ 

„So ſind Sie zwar ein gelehrter Mann, beſitzen 
aber nicht den Mut, der Wiſſenſchaft ein Opfer zu brin⸗ 
gen. Und das iſt jammerſchade, denn ich ſäble alles, 
alles herunter. 

„Ich bewundere Ihre Geſchicklichkeit, Senor, habe 
aber leider keine Zeit, mich weiter über dieſes inter⸗ 
eſſante Thema zu verbreiten. Ich ſuche Pferde für 
meine Reiſe, und da ich hier keine paſſenden gefunden 
habe, fo muß ich jetzt weiter, um — —“ 

„Machen Sie ſich keine Sorge,“ unterbrach ihn der 
Chirurg. „Ich ſtelle mich Ihnen zur Verfügung.“ 

„Sie? Wiſſen Sie vielleicht, wo vier kräftige und 
ausdauernde Tiere zu haben ſind?“ 

„Ich weiß es nicht nur, ſondern ich ſtehe ſelbſt 
auch im Begriff, mir eins zu kaufen.“ 

„Wo iſt das?“ 

„Auf einer kleinen Eſtancia, die eine halbe Stunde 
von der Stadt entfernt liegt. Aber es hat keine Eile. 
Wir können den Handel erſt morgen früh machen. Ich 
habe erfahren, daß der Eſtanciero verreiſt iſt und erſt 
heute abend wiederkommt.“ 


— 99 — 


„So muß ich mich nach einer andern Stelle um⸗ 
ſehen, denn ich habe keine Zeit zu verlieren.“ 

„Warum? Die vorfintflutlihen Skelette laufen 
Ihnen doch nicht fort.“ g 

„Nein; aber ich will eine Geſellſchaft von Männern 
einholen, die nach der Laguna Porongos vorausgeritten 
find.” | 

Der Chirurg horchte auf. „Wer iſt das? Meinen 
Sie etwa den Vater Jaguar mit ſeinen Leuten?“ 

„Ja, den meine ich. Kennen Sie ihn vielleicht?“ 

„So genau wie mich ſelbſt. Ich gehöre ja zu ihm. 
Wir hatten uns hier zu verſammeln; ich wurde aber 
droben in Puerto Antonio unvermutet aufgehalten, ſo 
daß ich zu ſpät kam. Sie ſind ſchon fort. Ich konnte 
mir freilich hier ſofort ein Pferd kaufen, um ihnen 
nachzureiten; aber in dieſer Stadt findet man kein 
brauchbares Tier. Darum warte ich lieber bis morgen 
früh, wo ich ein gutes bekomme und nicht Gefahr laufe, 
es unter mir zuſammenbrechen zu ſehen.“ 

Doktor Morgenſtern hatte ein gelindes Grauen vor 
dieſem Mann gefühlt, der „alles, alles herunterſäbelte“; 
jetzt aber freute er ſich, ihn getroffen zu haben. Darum 
fragte er: „Sie glauben, daß Sie den Vater Jaguar 
noch einholen werden?“ 

„Natürlich! Ich kenne die Route, die er ein⸗ 
ſchlägt, ganz genau.“ 

„Das freut mich außerordentlich. Würden Sie 
uns die Erlaubnis, lateiniſch Concessio, erteilen, uns 
Ihnen anzuſchließen?“ 

„Herzlich gern, Senor, da wir beide Jünger der 
Wiſſenſchaft, alſo Kollegen ſind und ich mich darauf freue, 
doch vielleicht eine Gelegenheit zu finden, Ihnen zeigen 
zu können, daß ich mich ſelbſt vor der ſchwierigſten Am⸗ 


— 100 — 


putation nicht fürchte. Hoffentlich ſtoßen wir mit feind⸗ 
lichen Indianern zuſammen; ich nehme natürlich mit 
Beſtimmtheit an, daß dabei einigen von uns mehrere 
Glieder zerſchmettert werden; dann ſollen Sie ſehen, wie 
ich meines Amtes walten werde. Das wird nur ſo 
fliegen, denn ich ſäble wirklich alles, alles herunter!“ 

Er fuhr dabei mit beiden Armen durch die Luft, 
um anzudeuten, daß die Knochen und Fleiſchfetzen „nur 
ſo fliegen“ würden. Dieſer Mann ſchien dem blutigen 
Teil ſeines Berufes mit außerordentlicher Leidenſchaft 
anzuhängen. Trotzdem fühlte ſich Morgenſtern jetzt 
nicht mehr dadurch zurückgeſtoßen oder gar, wie vorher, 
eingeſchüchtert. Er begann zu ahnen, daß er es hier 
mit einer zwar krankhaften, doch ganz ungefährlichen 
Idee zu tun habe. Darum antwortete er lächelnd: 
„So bin ich bereit, mit Ihnen bis morgen zu warten. 
Aber was tun wir bis dahin? Und wo halten wir uns 
auf?“ 

„Wir leihen uns einige Klepper vom Wirt und 
reiten nach der Eſtancia, von wo ſie ein Peon zurück⸗ 
bringen wird. Dort eſſen, trinken, rauchen und ſchla⸗ 
fen wir.“ 

„Einverſtanden, d. h. rauchen werde ich nicht.“ 

„Welch ein Wunder! Hier raucht alles, Mann 
und Weib, Kind und Kegel. Warum Sie nicht?“ 

„Weil ich eine Nikotinvergiftung befürchte. Hat 
doch die Wiſſenſchaft nachgewieſen, daß man vom vielen 
Rauchen den ſchwarzen Star, Amaurosis genannt, be⸗ 
kommen kann.“ i 

„Da müßte man die Zigaretten nicht rauchen, ſon⸗ 
dern ſcheffelweiſe hinunterſchlingen. Und ſelbſt da 
kämen ſie doch nur in den Magen, nicht aber in die 
Augen. Ich könnte ohne das Rauchen nicht exiſtieren. 


— 101 — 


Es regt die Nerven an, erhöht die Lebenskraft, begeiftert 
den Menſchen für alles Gute und Schöne und gibt eine 
ſo ſichere Hand, daß man ſelbſt die ſchwerſte und ge⸗ 
fährlichſte Amputation mit Leichtigkeit auszuführen 
vermag. Haben Sie hier in Santa Js noch zu tun, 
oder können wir bald aufbrechen?“ 

Morgenſtern erzählte ihm in kurzen Worten das 
hier erlebte Abenteuer und ſagte ihm, daß er nur noch 
ſeiner Bücher bedürfe, um reiſefertig zu ſein. 

„Die werde ich Ihnen ſofort holen, Senor,“ meinte 
der „Doktor“ Parmeſan. 

„Sie? Damit darf ich Sie doch unmöglich be⸗ 
läſtigen, Senor.“ 

„Warum nicht? Zahlen Sie mir zwei Papiertaler, 
ſo tue ich es gern. Uebrigens bin ich den Soldaten und 
Offizieren bekannt. Man wird keinem andern Ihre 
Bücher ſo gewiß übergeben wie mir.“ 

Alſo dieſer Mann mit dem langen und wohlklin⸗ 
genden altkaſtilianiſchen Namen, der ſich „Doktor“ 
nannte, war bereit, für zwei Papiertaler, alſo für zwei⸗ 
unddreißig deutſche Pfennige Gepäckträgerdienſte zu 
leiſten! Als er von Morgenſtern dieſen Betrag erhal⸗ 
ten hatte, ging er fort und brachte ſchon nach kurzer 
Zeit die Bücher getragen. Dann entfernte er ſich aber⸗ 
mals, um Papier und Tabak zu Zigaretten einzukaufen. 
Er nahm zu dieſem Zweck einen Lederſack mit, den er 
gefüllt zurückbrachte. Er hatte ganz richtig geſagt, daß 
hier jeder rauche. Man wird in der Pampa ſelten 
einen Menſchen ſehen, der nicht eine ſelbſtgedrehte Ziga⸗ 
rette im Munde hat. 

Der Wirt war gern bereit, gegen geringe Bezah⸗ 
lung Pferde und einen Peon herzuleihen. Eines dieſer 
Tiere bekam Morgenſterns Pakete zu tragen; dann 


— 102 — 


ſtiegen die Männer auf, um nach der Eſtancia zu reiten. 
Als ſie langſam durch die erſte Gaſſe kamen, ſtanden 
einige da beiſammen; ſie ſahen den Chirurgen und 
rannten augenblicklich in das nächſte Haus, indem ſie 
ſchrien: „El carnicero, el carnicero! Huid, huid, 
de la contrario os amputa — der Fleiſchhacker, der 
Fleiſchhacker! Flieht, flieht, ſonſt zerſchneidet er euch!“ 

Er ſchien alſo den Kindern als abſchreckender Po⸗ 
panz bekannt zu ſein. Das ärgerte ihn aber keines⸗ 
wegs, ſondern er ſagte in ſtolzem Ton: „Hören Sie es, 
Senor? O, man kennt mich und meine Fertigkeiten 
ſehr genau. Mein Ruhm iſt über ſämtliche La Plata⸗ 
Staaten verbreitet!“ 

Der Ritt ging an dem Cuartel vorüber, wo Mor⸗ 
genſtern vorhin die ſo kurze Rolle eines Oberſten ge⸗ 
ſpielt hatte, dann an dem Kirchhof und mehreren kleinen 
Ranchos, bis man endlich das Stadtgebiet hinter ſich 
hatte. Zur Linken ſahen die Reiter den ſeeartig aus⸗ 
gedehnten Rio Salado fließen, und vor ihnen lag ein 
ausgedehntes, hügelig unebenes Heideland. Auf ihm 
ſtand, rechts nach dem See hinüber, den der Rio Sala⸗ 
dillo hier bildet, die Hazienda, von der der „Fleiſch⸗ 
hacker“ geſprochen hatte. Sie war nicht ſehr groß, den⸗ 
noch gab es da nicht unbeträchtliche Herden. Man ſah 
wohl an die tauſend Schafe weiden; auf der andern 
Seite graſten, von einigen Gauchos bewacht, mehrere 
hundert Stück Rinder, und in den Corrals gab es 
Pferde genug, eine ganze Schwadron Kavallerie beritten 
zu machen. — — 


Wer über die Pampa oder den Campo, das Feld, 
reitet, bekommt dreierlei Anſiedelungen zu ſehen. Die 
erſte Art find die Ranchos (ſprich Rantſchos), kleine 


108 


Hütten, die meiſt aus geſtampfter Erde hergeſtellt ſind 
und Stroh» oder Schilfdächer haben. Oft ſtehen fie 
nicht zu ebener Erde, ſondern find mehrere Fuß tief in 
den ausgegrabenen Boden eingelaſſen. Von Möbeln 
nach unſerm Sinn iſt keine Rede. Eine Hängematte 
gilt als Luxusartikel. Das Mahl wird auf einem 
Feuerherd bereitet, der gleichfalls aus Lehm hergeſtellt 
iſt, denn Steine gibt es in den Pampas nicht. Ein 
Schornſtein iſt nicht vorhanden; der Rauch zieht durch 
die Oeffnungen ab, die als Tür und Fenſter bezeichnet 
werden, doch iſt die Tür nicht verſchließbar, und in den 
Fenſteröffnungen gibt es weder Glas noch Rahmen. 
Höchſtens vertritt ein Stück geöltes Papier die Stelle 
der Scheiben. 

In dieſen Ranchos wohnen die kleinen Leute, die 
auf den Haziendas und ee bedienſtet ſind — die 
Gauchos. 

Dieſes letztere Wort iſt der Indianerſprache ent⸗ 
lehnt; die beiden Buchſtaben „a u“ bilden keinen Dop⸗ 
pellaut, ſondern werden getrennt ausgeſprochen; man 
muß alſo Ga⸗utſcho ſagen. Die Ga⸗utſchos gehören 
meiſt der Klaſſe der Meſtizen an; ſie betrachten ſich 
zwar als Weiße und ſind auf dieſe Bezeichnung unge⸗ 
mein ſtolz, ſtammen aber von Indianerinnen und den 
früher eingewanderten Spaniern ab. 

Die Ga⸗utſchos beſitzen alle den Stolz des Spa⸗ 
niers und infolge ihres eigenartigen Lebens eine unge⸗ 
meine Freiheitsliebe. Jeder hält ſich für einen Ca⸗ 
ballero und iſt ſehr höflich gegen andre, um ſelbſt höflich 
behandelt zu werden. Der ärmſte Teufel, ja ſelbſt der 
Bettler wird „Euer Gnaden“ genannt. Derjenige 
Fremde, der glaubt, er dürfe auf einen Gaucho von 
oben herabblicken, weil er reicher oder gebildeter als 


t 


— 104 — 


dieſer iſt, wird bald fo zurechtgewieſen werden, daß ihm 
der Hochmut vergeht Herablaſſung beantwortet der 
Gaucho mit der ausgeſuchteſten Grobheit oder, falls dies 
nichts fruchtet, gar mit dem Meſſer. Behandelt man 
ihr aber höflich läßt man ihn als einen menſchlich voll⸗ 
ſtandig Gleichberechtigten gelten, wird man bald einen 
treuen und aufopfernden Freund an ihm haben. Zu 
rühmer iſt vor allen Dingen ſeine Ehrlichkeit. So wie 
er ſeine Hütte nie verſchließt, ſo wird er ſelbſt auch nie⸗ 
mals ſtehlen Findet er etwas, ſo gibt er es, falls die 
Möglichkeit vorhanden iſt, dem Verluſtträger ganz ge⸗ 
wiß zurück. Ein Gaucho zum Beiſpiel, welcher jo arm 
war, daß er nicht einmal einen Schemel beſaß und das 
Gerippe eines Pferdekopfes als Stuhl benutzte, fand 
auf offener Pampa eine Uhr, die einem ausländiſchen 
Reiſenden aus der Taſche geglitten war. Er jagte einen 
Tag lang von einem Nachbar zum andern, um zu er⸗ 
fahren, wem die Uhr wohl gehören könne, und als er 
von dem Fremden hörte, ritt er ihm zwei Tage lang 
nach, um ſie ihm zu bringen. Als ihm der Reiſende 
eine Geldbelohnung geben wollte, warf er fie ihm ver⸗ 
ächtlich vor die Füße und kehrte, ohne ein Wort zu 
ſagen, um. 

Von Jugend auf an das Pferd gewöhnt, ſind die 
Gauchos ebenſo kühne wie unermüdliche Reiter. Sie 
gleichen darin den Weſtmännern und Indianern Nord⸗ 
amerikas. Eine Strecke von hundert Schritten zu 
gehen, fällt dem Gaucho gar nicht ein. Sobald er ſeinen 
Rancho verläßt, ſitzt er zu Pferde. Zweijährige Kinder 
ſprengen auf halbwilden Pferden jubelnd in die Pampa 
hinein. Auch die Frauen reiten, und zwar nach 
Männerart, nicht die Beine auf einer Seite des Pferdes. 
Oftmals ſieht man Mann und Weib zuſammen auf 


— 105 — 


einem Pferde fiten, die Frau dann ſtets verkehrt auf 
dem Hinterteile des Pferdes, ohne allen Halt, ihren 
Rücken an denjenigen ihres Mannes lehnend. Und 
doch fällt ſie ſelbſt im ſchnellſten Galopp nicht herab. 

Eine Untugend, und zwar eine große, beſitzt der 
Gaucho. Er iſt nämlich vollſtändig gefühllos gegen ſein 
Pferd. Er gräbt den Tieren mit den großen, ſcharfen 
Sporen ſchonungslos tiefe Löcher in die Weichen, ohne 
daran zr denken, welche Schmerzen er dem armen Ge⸗ 
ſchöpf bereitet. Darum fürchten die Pferde ihren Herrn 
und gebärden ſich wie toll, wenn er ſie zuſammentreibt, 
um ſich für den Ritt eines mit dem Laſſo aus der Herde 
zu fangen. Bricht es unter ihm zuſammen, ſo läßt er 
es, noch lebend, für die Geier liegen und holt ſich ein 
andres. Bei den ungezählten Herden, die es im Lande 
gibt, iſt ein Pferd ſo billig, daß man ſich zum Tode 
eines ſolchen Tieres vollſtändig gleichgültig verhält. 
Daher die zahlloſen Pferdegerippe, denen man überall 
begegnet. Man kann, ohne zu übertreiben, ſagen, daß 
die weiten, endloſen Pampas mit Pferdeknochen ge⸗ 
radezu bejät find. 

Das eigenartige Leben, das der Gaucho führt, der 
vollſtändige Mangel aller Schulen und ſonſtigen Bil⸗ 
dungsmittel und der fortwährende Umgang mit halb⸗ 
wilden Tieren, das ſind die Urſachen davon, daß der 
Gaucho zarteren Regungen vollſtändig unzugänglich iſt. 
Dazu kommen die traurigen politiſchen Zuſtände des 
Landes. Ein Geſchichtſchreiber hat geſagt, daß in den 
La Plata⸗Staaten es kein Jahr ohne wenigſtens eine 
kleine Empörung gebe, und es iſt wahr, daß ſeit Men⸗ 
ſchengedenken dort eine Revolution der andern folgte. 
Das verroht den Menſchen. Der Gaucho, dem ruhigen 
Leben abgeneigt und durch ſeinen Beruf abgehärtet, iſt 


— 16 — 


jederzeit bereit, ſich einem Pronunciamiento — das iſt 
der Ausdruck für Aufruhr — anzuſchließen. Je öfter 
dies geſchieht, deſto tiefer drückt die Unbotmäßigkeit ſich 
ſeinem Weſen ein, und die Folge davon iſt, daß die Be⸗ 
wohner derjenigen Diſtrikte, die ſich öfters gegen die 
öffentliche Gewalt auflehnen, in Beziehung auf gute 
Eigenſchaften weit hinter den andern zurückſtehen. Da⸗ 
her die Verſchiedenheit, mit der die Bewohner der 
Pampas beurteilt werden. 


Die zweite Art der Niederlaſſungen wird Ha⸗ 
cienda genannt. Ein Haciendero betreibt Feld⸗ und 
Viehwirtſchaft zugleich, wird alſo ſelten große Herden 
beſitzen. Die dritte Art wird Eſtancia genannt. 
Der Eſtanciero gibt ſich nicht mit Ackerbau ab; er 
züchtet nur Vieh, um es in die Schlachthäuſer zu lie⸗ 
fern. Es gibt Eſtancieros, die mehrere hunderttauſend 
Stück beſitzen. 


Dieſe Tiere befinden ſich ſowohl im Sommer als 
auch im Winter ſtets im Freien. Obgleich ſie von 
reitenden Gauchos beaufſichtigt werden, kommt es 
häufig vor, daß ſie über die Grenze laufen und unter die 
Herden des nächſten, ja des zweiten und dritten Nach⸗ 
bars gelangen. Um Verluſten vorzubeugen, brennt 
deshalb jeder Beſitzer ſeinen Tieren einen Stempel ein, 
der bei der Behörde für ihn regiſtriert worden iſt. So 
kennt jeder ſein Eigentum und liefert von Zeit zu Zeit 
den zugelaufenen Beſtand den rechtmäßigen Eigen⸗ 
tümern zurück. Beim Verkauf eines Pferdes oder 
Rindes wird das Zeichen dadurch ungültig gemacht, 
daß man es nochmals, und zwar verkehrt, auf das vor⸗ 
herige einbrennt, ein ſchmerzhaftes Verfahren, dem ſich 
die Tiere natürlich mit aller Anſtrengung widerſetzen. 


— 107 — 


Eine ſolche Zeichnung der noch nicht mit einem 
Stempel verſehenen jungen Rinder war eben im 
Gange, als die Reiter die Eſtancia erreichten. Eine 
Anzahl berittener Gauchos war beſchäftigt, die Tiere 
draußen auf dem Campo zuſammen und dann in den 
dazu beſtimmten Corral zu treiben. Unter Corral iſt 
hier ein freier Platz zu verſtehen, der von hohen, ſtache⸗ 
ligen Kaktushecken umgeben iſt. 

Die Rinder wiſſen ganz genau, daß ſtets etwas 
Ungewöhnliches bevorſteht, wenn man ſie nach dem 
Corral bringen will, und weigern ſich infolgedeſſen, 
ihren Hirten zu gehorchen. So auch hier. Sie ver⸗ 
ſuchten, auszubrechen, ſtets aber waren die kühnen 
Reiter da, ſie mit hochgeſchwungenem Laſſo oder krei⸗ 
ſender Bola daran zu hindern. 

Die Bola iſt ein Wurfgeſchoß, das aus drei Blei⸗ 
oder Eiſenkugeln beſteht. Jede dieſer Kugeln hängt an 
einem ſtarken, unzerreißbaren Riemen; die Enden dieſer 
Riemen ſind zuſammengebunden. Der Gaucho nimmt 
eine der Kugeln in die Hand, ſchwingt die beiden andern 
einigemal zielend um den Kopf und ſchleudert dann 
die Bola nach dem Tiere, das er fangen will. Er ver⸗ 
fährt dabei mit einer ſolchen Geſchicklichkeit, daß die 
Bola ſich um die Hinterbeine des Pferdes oder Rindes 
ſchlingt und dieſes zum Fall bringt. 

Die Tiere kennen dieſe Schleuderkugeln und fürch⸗ 
ten ſie ebenſoſehr, wie ſie den Laſſo ſcheuen. So oft ſie 
ausbrechen wollten, trieb die Angſt vor dieſen Waffen 
ſie wieder zurück. So kamen ſie, zu beiden Seiten und 
hinter ſich die ſchreienden Gauchos, mit donnerndem 
Geſtampfe herangebrauſt. Am offenen Corral ange⸗ 
kommen, ſtutzten ſie; als aber ein alter, erfahrener 
Bulle, der wohl wußte, daß er für ſich nichts zu be⸗ 


— 108 — 


fürchten hatte, hineinrannte, folgten die andern hinter 
ihm drein, und die Umzäunung wurde ſofort geſchloſſen. 

Da ſahen die Gauchos die vier Reiter halten. Sie 
kamen herbeigeritten. Der Majordomus (Hausver⸗ 
walter) rief, als er den Chirurg erblickte, fröhlich 
lachend: „Cielo, beim Himmel, das iſt el Carnicero, 
der Fleiſchhauer! Willkommen, Senor! Wollen Sie 
bei uns vielleicht etwas herunterſäbeln? Wir ſind alle 
geſund und munter. Laſſen Sie alſo Ihre Inſtrumente 
ſtecken!“ 

Dieſer Empfang ſchien den Doktor Parmeſan zu 
verdrießen, denn er antwortete: „Laſſen Sie ſolche 
Scherze, wenn Sie mit einem Caballero ſprechen! Wie 
können Sie mich Carnicero nennen! Ich verbitte mir 
das! Meine Ahnen wohnten auf altkaſtilianiſchen 
Burgen und Schlöſſern und haben ſiegreich gegen die 
Mauren gekämpft, als von Ihren Vorfahren noch keine 
Rede war. Für Sie bin ich Don Parmeſan Rui el 
Iberio de Sargunna y Caſtelguardiante. Das merken 
Sie ſich, Euer Gnaden!“ 

„Schön, Don Parmeſan, ich merke es mir. Uebri⸗ 
gens wollte ich Sie keineswegs beleidigen. Sie wiſſen 
ja, welche Wertſchätzung wir Ihnen widmen, und wer⸗ 
den es mir alſo verzeihen, wenn ich in der Freude über 
Ihre Ankunft den rechten Ausdruck verfehlte!“ 

„Das laſſe ich mir eher gefallen. Die Reue findet 
bei mir ſtets ein verſöhnliches Herz. Ich verzeihe 
Ihnen, zumal ich allerdings weiß, daß Sie meine chi⸗ 
rurgiſche Geſchicklichkeit anerkannt haben. Ich mache 
Sie bei dieſer Gelegenheit darauf aufmerkſam, daß man 
bei einer Trepanation der Hirnſchale jetzt nicht mehr 
mit dem zirkelförmigen Trepanum, ſondern mit dem 
Meißel arbeitet. Man muß — — —“ 


— 109 -- 


„Bitte, davon ſpäter!“ unterbrach ihn der Gaucho. 
„Sie wiſſen, Don Parmeſan, daß wir uns ſehr gern 
von Ihnen belehren laſſen; aber Sie haben da Geüores 
bei ſich, gegen die wir unhöflich ſein würden, wollten 
wir von Schädelverletzungen ſprechen. Darf ich Fuer 
Gnaden um ihre Namen bitten?“ 

„Die Señores find neue Bekannte von mir, die 
nach dem Gran Chaco wollen, gelehrte, hochſtudierte 
Leute, infolgedeſſen ihre Namen ſo ſchwer auszuſprechen 
ſind, daß es mir unmöglich iſt, ſie Ihnen zu ſagen.“ 

„Ich heiße Morgenſtern und mein Begleiter Kieſe⸗ 
wetter,“ erklärte der Privatgelehrte. „Wir ſind ge⸗ 
kommen, um einige Pferde zu kaufen. Hoffentlich ſind 
welche übrig, was der Lateiner supersum oder nach 
Umſtänden auch reliquus nennt.“ 

„Nun, Reliquien ſind unſre Pferde nicht; aber der 
Eſtanciero wird Ihnen doch gern einige verkaufen. 
Leider kommt er erſt heute abend heim. Sie werden 
bis dahin unſre Gäſte ſein und können, wenn Sie ſich 
unterhalten wollen, an der Zeichnung der Rinder teil⸗ 
nehmen.“ 

„Außerordentlich gern! Ich habe ſo etwas noch 
nicht geſehen!“ . 

„So kommen Sie! Ich werde Ihnen zunächſt 
Zimmer anweiſen laſſen.“ 

Er ritt voran nach dem Wohngebäude und führte 
ſie in das Zimmer. Der Peon aus Santa Js wurde 
abgelohnt und kehrte mit den Pferden nach der Stadt 
zurück. f 

Der Beſitzer der Eſtaneia war gewiß ein wohl⸗ 
habender Mann, dennoch konnte die Einrichtung ſeiner 
Wohnung nicht einmal derjenigen eines deutſchen Ar⸗ 
beiters verglichen werden. Die vier Lehmwände waren 


— 110 — 


nackt und leer. Es gab einen alten Tiſch, zwei noch 
ältere Stühle und mehrere niedrige Schemel. Eine 
Guitarre hing in der Ecke. Das war alles. Der Ma⸗ 
jordomus lud zum Sitzen ein und begab ſich nach der 
Küche, um den üblichen Mate zu holen, der dortzulande 
jedem Gaſte ſofort vorgeſetzt wird. 

Mate iſt Paraguay⸗Tee; er wird aus den Blättern 
und Stengeln von Ilex paraguyensis gewonnen und 
hat die Form eines groben Pulvers. Man tut eine Priſe 
davon in einen kleinen, ausgehöhlten Flaſchenkürbis und 
gießt kochendes Waſſer darauf. Der Tee wird nicht ge⸗ 
trunken, ſondern mittels einer dünnen, metallenen 
Röhre, Bombilla genannt, aus dem Kürbis geſogen. 
Da die Bombilla ſehr heiß wird, verbrennen ſich Aus⸗ 
länder, welche dieſe Art des Trinkens nicht gewöhnt 
ſind, gewöhnlich Lippen und Zunge, bis ſie gelernt ha⸗ 
ben, vorſichtig zu ſein. | 

Solchen Mate bekamen die drei Gäſte. Der Chi⸗ 
rurg ſog das Getränk mit Vorſicht in den Mund, auch 
Fritze war lange genug im Lande geweſen, um zu wiſſen, 
daß er ſich in acht zu nehmen habe; der Doktor aber 
brachte dem Mate ſofort den Tribut, den in der Regel 
jeder Ausländer ihm bringt. Die Bombilla war heiß, 
und er ſog zu kräftig, infolgedeſſen er zu viel des heißen 
Tees in den Mund bekam. Er verbrannte ſich, und da 
er es für unanſtändig hielt, den Mate auszuſpucken, 
ſchluckte er ihn hinab. Natürlich verbrannte er ſich auch 
den Schlund und rief, indem er ſein Geſicht ſchmerzlich 
verzog: „O weh, meine Lippen, mein Gaumen, mein 
Schlund, lateiniſch Labia, Palatum und Gluttus ge- 
nannt! Das iſt ja der reine Teufelstrank, ganz geeignet, 
die Verdammten in der Hölle innerlich zu martern! 
Ich danke ergebenſt für dieſes Ilex⸗Waſſer!“ 


5 


— 111 — 


„Dat habe ick bei die erſten Verſuche boch Fefagt,“ 
meinte Fritze. „Bei zu kräftige Anziehungskraft ver⸗ 
feuerwerkert man ſich die Jeſchmacksorgane, doch dauert 
es nicht lange, bis man ſich injerichtet und den rich⸗ 
tigen Manometerdruck anjewöhnt hat. Trinken Sie 
man weiter, Herr Doktor!“ 

„Fällt mir gar nicht ein! Ich glaube, mein Schlund 
iſt eine einzige Brandblaſe!“ 

Er war durch kein Zureden zu bewegen, noch einen 
Zug zu tun. Die beiden andern aber hatten ihre Cala⸗ 
bazas (Flaſchenkürbiſſe) bald ausgeleert, und dann wur⸗ 
den ſie von dem Majordomus aufgefordert, ſich mit nach 
dem Corral zu begeben, um dem hochintereſſanten Zeich⸗ 
nen der Rinder beizuwohnen. Don Parmeſan legte ſei⸗ 
nen roten Poncho, ſein Kopftuch und die Chiripa ab, 
welche beide von der gleichen Farbe waren. Von Mor⸗ 
genſtern nach dem Grunde befragt, antwortete er: „Wiſ⸗ 
ſen Euer Gnaden noch nicht, daß die rote Farbe dieſe 
halbwilden Rinder reizt? Wer rot gekleidet iſt, ſoll ſich 
hüten, einem Toro nahe zu kommen.“ 


„Meinen Sie? Meines Wiſſens iſt es nur vom Pu⸗ 
ter wiſſenſchaftlich feſtgeſtellt, daß er gegen dieſe ſchöne 
Farbe idioſynkraſiert. Aber daß auch das Rind, Bos auf 
lateiniſch, denſelben Widerwillen beſitzt, iſt wohl hie und 
da geäußert, aber noch von keinem Zoologen mit unum⸗ 
ſtößlichen Beiſpielen belegt worden. Da ich nun Zoo⸗ 
log bin und hier eine ſo vortreffliche Gelegenheit finde, 
mir hier den Stoff zu einer gelehrten Abhandlung über 
dieſes Thema zu ſammeln, ſo würde es eine Sünde ge⸗ 
gen die Wiſſenſchaft ſein, wenn ich meine roten Klei⸗ 
dungsſtücke ablegen wollte.“ 


„Aber Sie begeben ſich in Gefahr, Senor!“ 


— 112 — 


„Der echte Jünger der Wiſſenſchaft darf, wenn es 
gilt, ein Problem zu löſen, nicht fragen, ob eine Ge⸗ 
fahr damit verbunden iſt. Ich bleibe alſo angekleidet, 
wie ich bin.“ 

„Ick ooch,“ ſtimmte Fritze bei. „Da ich der Diener 
eines Zoologen bin, darf mir ſelbſt der größte Ochſe 
nichts andres als nur ein Gegenſtand dieſer edlen Wiſ⸗ 
ſenſchaft fein.“ 

Man ging hinaus. Der Haupteingang des Corrals 
war zu, doch gab es neben ihm eine kleine, ſchmale Oeff⸗ 
nung, wodurch ein Menſch ſchlüpfen konnte; dieſe be⸗ 
nutzten die drei Gäſte, um in den Corral zu kommen. 
Der Majordomus blieb außerhalb. 

Der Rodeo, wie man das Zuſammentreiben einer 
Herde in die Corrals nennt, war im vollſten Gange. Die 
Maſſe der Rinder hielt eingeſchüchtert im hintern Teil 
des umzäunten Platzes; das Jungvieh aber, das gezeich⸗ 
net werden ſollte, jagte, von den Gauchos verfolgt, auf 
dem freien Raum umher. Jedes Rind, dem die Marke 
aufgebrannt werden ſollte, mußte eingefangen und ſo 
gefeſſelt werden, daß es keinen Widerſtand zu leiſten ver⸗ 
mochte. Dazu gehörten, wie es hier auf dieſer Eſtanzia 
gehandhabt wurde, fünf Gauchos. Andre waren be⸗ 
ſchäftigt, ein Feuer zu unterhalten, worin die Stempel 
glühend gemacht wurden. 

Der ganze Vorgang ging folgendermaßen vor ſich: 
Das betreffende Rind wurde zunächſt von den übrigen 
geſchieden. Während es dann über den Platz rannte, 
jagte ihm ein Gaucho nach, um ihm den Laſſo über 
den Kopf zu werfen. Die Schlinge zog ſich ſtets mit 
unfehlbarer Sicherheit um den Hals zuſammen, benahm 
dem Tier den Atem und riß es nieder. Sofort waren 
die vier andern Gauchos bei der Hand, um ihre Schlin⸗ 


— 18 — 


gen um die Beine zu werfen. Die Pferde, auf denen 
dieſe fünf Reiter ſaßen, und an deren Sattelknöpfe die 
Enden der Laſſos befeſtigt waren, kannten das, was ſie 
zu tun hatten, ſehr genau; ſie zogen, jedes in der betref⸗ 
fenden Richtung, die Laſſos ſtraff an, wodurch die Beine 
des Rindes ſcharf ausgeſtreckt wurden und in dieſem 
Augenblick ſprang ein ſechſter Gaucho mit dem glühen⸗ 
den Stempel herbei, um ihn dem Tier auf den linken 
Oberſchenkel zu drücken. War dies geſchehen, ſo ließ man 
es frei; es ſprang auf, rannte, vor Schmerz und Auf⸗ 
regung brüllend, einige Male hin und her und kehrte 
dann zur Herde zurück, um ſich in ihr zu verſtecken. 

Dieſes Verfahren lief nicht immer glatt ab. Zu⸗ 
weilen ſaß ein Laſſo nicht an der gewünſchten Stelle 
feſt; das Tier konnte ſich alſo bewegen und ſich wehren. 
Dann war Hilfe oder doppelte Anſtrengung notwendig, 
und das ging nicht ohne Rufen und Schreien, ohne Sze⸗ 
nen ab, bei denen es einem Europäer hätte angſt und 
bange werden mögen. Das gequälte Rind ſträubte ſich 
brüllend; die andern ſtimmten ein und ſtoben ſchnaubend 
auseinander, um auf dem Platz umherzujagen, bis ſie 
von den Gauchos mit hochgeſchwungenen Laſſos und Bo⸗ 
las wieder zuſammengetrieben waren. Da kam es vor, 
daß ein widerſpenſtiger Ochſe ſich zur Wehr ſetzte und 
der angegriffene Reiter ſich nur durch Aufbietung aller 
ſeiner Geſchicklichkeit zu retten vermochte. 

„Dat iſt allerdings großartig,“ ſagte Fritze nach 
einer ſolchen Szene zu ſeinem Herrn. „Ick habe doch 
auch ſchon zu Pferde jeſeſſen, aber ſonne Jelenkigkeit, 
wie hier erforderlich iſt, kann ick nicht aufweiſen. Ick 
bin überzogen, daß dat erſte beſte Rind mit mir über 
den Haufen rennen würde, Ihnen nicht auch, Herr 
Doktor?“ | 

May, Das Vermächtnis des Inka 8 


— 114 — 


„Mit mathematiſcher Gewißheit kann ich dieſe 
Frage nicht beantworten,“ meinte bedachtſam der Dok⸗ 
tor. „Ich habe noch keine Erfahrungen darüber, und 
man ſoll, wie die Wiſſenſchaft lehrt, nur das behaup⸗ 
ten, was man beweiſen kann. Uebrigens liegt mir an 
dem Beweiſe, daß ich umgerannt würde, bedeutend we⸗ 
niger als an demjenigen, daß der Wiederkäuer, den wir 
mit dem Worte Rind bezeichnen, wirklich einen ſo gro⸗ 
ßen Widerwillen gegen die rote Farbe hat, wie vorhin 
behauptet wurde. Ich hoffe, du wirſt mir behilflich ſein, 
einen darauf bezüglichen Verſuch anzuſtellen.“ 

„Sehr jerne, wenn es nämlich ohne zerbrochene 
Gliedmaßen jeſchehen kann.“ 

„Ohne allen Zweifel!“ 

„So? Denken Sie doch an den Büffel beim Stier⸗ 
jefechtl“ 

„Das war ein Bison americanus, während wir es 
hier mit einfachen argentiniſchen Rindern zu tun ha⸗ 
ben. Ich beabſichtige, eine Probe zu machen, und zwar 
eine Doppelprobe. Wir ſind beide rot gekleidet; ich 
nähere mich einem Ochſen, und du bemühſt dich, an eine 
Kuh zu kommen. Auf dieſe Weiſe erfahren wir nicht 
nur, ob das Rind im allgemeinen die betreffende Ab⸗ 
neigung beſitzt, ſondern es wird zugleich auch die be⸗ 
ſondere und ſehr wichtige Frage beantwortet, bei wel⸗ 
chem Genus dieſe Abneigung bedeutender iſt, ob beim 
Genus masculinum oder bei dem Genus femininum.“ 

„Jut, aber wenn ich nun jrad an den böſern Genus 
jerate!” 

„Das fteht, nicht zu erwarten, da ich den Ochſen 
auf mich nehmen werde und jede Eigenſchaft, alſo vor⸗ 
ausſichtlich auch dieſer Widerwille, beim männlichen Ge⸗ 
ſchlechte ſchärfer ausgeprägt iſt als beim weiblichen, das 


— 15 — 


ja bekanntermaßen ſtets die ſchwächere Hälfte bildet. Al⸗ 
ſo biſt du bereit?“ 

„Ja, ick will mir Ihnen zu Jefallen für dieſe zoo⸗ 
logiſche Frage intereſſieren.“ 

„Es iſt nicht eigentlich eine allgemein zoologiſche, 
ſondern eine beſonders zoopſychologiſche.“ 

„Dat iſt eins und dasſelbe. Ob ick zoologiſch oder 
zoopſychologiſch niederjerannt werde, bleibt ſich gleich. 
Beides iſt gleich unanjenehm, ſoll aber für Ihnen je⸗ 
wagt werden.“ 

„So nimm du die Kuh, die eben jetzt gebrannt 
wird.“ 

Er zeigte auf das Tier, das eben jetzt gefeſſelt an 
der Erde lag, um die Marke zu erhalten. Die beiden 
Deutſchen hatten bisher an der Umzäunung und hin⸗ 
ter den Gauchos geſtanden, die das Feuer unterhalten 
mußten, und dies war wohl der Grund, weshalb den 
Tieren die rote Farbe ihrer Kleidung noch nicht auf⸗ 
gefallen war. Fritze folgte der Aufforderung ſeines 
Herrn und ging ſchnell nach der Stelle, wo die Kuh ſo⸗ 
eben von ihren Feſſeln befreit wurde. Als die Gauchos 
dies ſahen, riefen ſie ihm von mehreren Seiten zu: 
„Arredro, arredro! Que demencia, que locura — 
zurück, zurück! Welch ein Wahnſinn, welch eine Verrückt⸗ 
heit!“ 

Er ließ ſich nicht aufhalten und ging weiter. Eben 
löſte ſich der letzte Laſſo und die Kuh ſprang auf und 
wendete ſich zur Flucht. Da fiel ihr Auge auf den un⸗ 
vorſichtigen Deutſchen. Durch die rote Farbe ſeines 
Anzugs gereizt, ſenkte ſie den Kopf zum Angriff; aber 
die Behandlung, die ſie vor wenigen Augenblicken er⸗ 
fahren hatte, übte doch noch eine einſchüchternde Wir⸗ 
kung; das Tier ſtand einige Augenblicke mit geſenkten 


— 116 — 


Hörnern, warf dann den Kopf empor und rannte 
davon. 

„Welch ein Glück!“ ertönte es von den Lippen der 
Gauchos. „Eilen Sie zurück, eilen Sie, Senor! Blei⸗ 
ben Sie dort am Zaun! Wiſſen Sie denn nicht, daß die 
rote Farbe dieſen Tieren zuwider iſt?“ 

„Ich wußte es nicht genau und wollte deshalb 
verſuchen, ob es wahr iſt,“ antwortete er, indem er 
langſam zurückkehrte. 

„Verſuchen Sie es nicht noch einmal; es könnte 
Ihnen nicht wieder ſo glücken, wie das jetzt der Fall 
war!“ 

Aus ihren Worten ſprach nicht nur die Beſorgnis 
um ihn, ſondern auch der Unwille darüber, daß er es 
ohne ihre Erlaubnis gewagt hatte, ſich der Kuh zu 
nähern, um ſie zu reizen. Fritze trat ſiegesfroh zu Mor⸗ 
genſtern und ſagte: „Nun, ſind Sie mit mich zufrieden? 
Die Probe iſt, denke ich, jenügend ausjefallen.“ 

„Allerdings,“ nickte der Doktor. „Die Kuh wollte 
auf dich losgehen, beſann ſich aber eines andern. Es 
iſt daraus mit Sicherheit zu ſchließen, daß ihr die rote 
Farbe unangenehm war, doch nicht in einem Grade, der 
fie zum wirklichen Angriff, lateiniſch Aggressio ges 
heißen, veranlaßt hätte. Wir haben es alſo bei dieſem 
Genus femininum mit einer Abneigung geringen Gra⸗ 
des zu tun, und ich werde mir nun ein Masculinum 
ſuchen, um einen vergleichenden Beweis erbringen zu 
können.“ 

Während dieſer kurzen Unterhaltung waren einige 
Gauchos in die Herde eingedrungen, um wieder ein 
Stück zwiſchen ihre Laſſos zu nehmen. Die Färſe, auf 
die ſie es abgeſehen hatten, hielt ganz in der Nähe des 
alten Bullen, der als erſter in den Corral gegangen 


— 117 — 


war. Er hatte ſich bisher ruhig verhalten; als aber jetzt 
die Riemen ſo nahe bei ihm geſchwungen wurden, glaubte 
er, es ſei auf ihn abgeſehen, brach mit Gewalt aus dem 
Rebano (Herde) und galoppierte brüllend über den 
freien Platz gerade auf das Feuer zu. Die dort befind⸗ 
lichen Gauchos warfen die Arme in die Luft und ſchrieen 
ihm entgegen, um ihn dadurch zur Umkehr zu bewegen. 
Er blieb aber auch wirklich kurz vor ihnen halten und 
glogte ſie mit ſtieren Augen an. Einer riß einen Brand 
aus dem Feuer und warf ihm dieſen an den Kopf; da 
drehte ſich der Stier um, jedenfalls um zurückzukehren, 
hielt aber ſchon bei halber Wendung inne und ließ ein 
dorniges Brummen hören. 

Die Urſache dazu hatte ihm Morgenſtern gegeben, 
der ihm entgegengetreten war und jetzt kaum vier 
Schritte entfernt vor ihm ſtand. 

„Lugar, lugar — auf die Seite, auf die Seite!“ 
ſchrieen die Gauchos. 

Der Bulle drang nämlich mit einem ganz urplötz⸗ 
lichen Sprung auf den kleinen Gelehrten ein, und es 
war für dieſen ein Glück, daß er den Warnungsrufen 
augenblicklich Folge leiſtete und eine ſchnelle Wendung 
nach rechts machte, denn nur dadurch entging er den 
Hörnern des Tieres, das an ſeiner linken Seite vorüber⸗ 
rennen. 

„Lugar, lugar!“ riefen die Gauchos von neuem. 
Dabei ſprengten die Reiter heran, um die Aufmerkſam⸗ 
leit des Angreifers von dem Deutſchen ab, und auf ſich 
zu lenken. 

Morgenſtern wich abermals glücklich aus, doch ging 
die ihn bedrohende Hornſpitze nicht weiter als drei Zoll 
an ihm vorüber. Erſt jetzt blitzte ihm die Einſicht auf, 


— 118 — 


daß er ſich in eine große Gefahr begeben habe, und die 
Sorge um ſein Leben gab ihm einen ebenſo plötzlichen 
wie eigenartigen Gedanken ein. Er konnte ſich nur ret⸗ 
ten, wenn es ihm gelang, den gefährlichen Hörnern 
auszuweichen; der Ochſe hatte die Hörner vorn, und ſo 
war alſo nur hinter ihm Sicherheit zu finden. Dieſer 
Gedanke wurde von dem kleinen Männchen ebenſo 
ſchnell ausgeführt, wie er gekommen war: Morgenſtern 
ſprang hinter dem Ochſen drein. Dieſer wendete ſich 
wieder um und ſah ſeinen Gegner nicht mehr ſtehen, 
wo er geſtanden hatte, bemerkte ihn aber hinter ſich. 
Sich abermals umdrehend, ſuchte er ihn zu erreichen; 
aber der Gelehrte war behend und machte die Schwen⸗ 
kung mit, um hinter dem Feind zu bleiben. Dies 
wiederholte ſich mehrere Male, und zwar ſo ſchnell, 
daß die Gauchos ihre Bolas und Laſſos nicht anwenden 
konnten, ohne den Deutſchen zu gefährden. Aber dieſe 
Schnelligkeit verſchlimmerte ſeine Lage; er fühlte, daß 
er derſelben nicht gewachſen ſei und bald ermüden werde. 
Gab es denn gar keine Rettung, keinen Halt? Gewiß gab 
es einen Halt, ganz nahe da vor ihm! Er griff mit bei⸗ 
den Händen zu und hielt ſich an dem Schwanz des Och⸗ 
ſen feſt. Solange er da hängen blieb, konnten ihn die 
Hörner nicht erreichen. 

Als der Stier ſich da ergriffen fühlte, wo es noch 
niemand gewagt hatte, ihn in dieſer Weiſe anzupacken, 
blieb er zunächſt einige Sekunden lang in verdutztem Ab⸗ 
warten ſtehen. Dann ſprang er mit beiden Hinterbeinen 
zur Seite, um das Anhängſel abzuſchleudern, was ihm 
aber nicht gelang, da Morgenſtern auf Tod und Leben 
feſthielt. Hierdurch an allen ſeinen Einſichten, Kennt⸗ 
niſſen und Erfahrungen erſt recht irre geworden, hielt 
der verblüffte Bulle es für das klügſte, die Partie voll⸗ 


on 


— 119 — 


ſtändig aufzugeben, ſelbſt wenn der Schwanz dabei ver⸗ 
loren gehen ſollte. Er ließ ein klägliches Brüllen hö⸗ 
ren und rannte ſpornſtreichs ſeiner Herde zu. 

Hatten die Gauchos erſt gebrüllt, was die Lungen 
nur hergaben, um das Tier von dem Gelehrten ab⸗ 
zuhalten, ſo lachten ſie jetzt ebenſoſehr über den Anblick, 
der ſich ihnen bot. Der Stier ſchien vor Entſetzen ganz 
außer ſich zu ſein; er machte die tollſten, bockbeinigſten 
Sprünge, bald nach rechts und bald nach links den 
Hinterkörper werfend. Man hörte ſeinem Gebrüll die 
Angſt, die er empfand, ganz deutlich an. In dieſer 
Weiſe hatte noch kein Gaucho einen Ochſen brüllen hö⸗ 
ren. Morgenſtern hielt feſt. Er konnte nicht ſo ſchnell 
laufen wie fein Vordermann, verlor infolgedeſſen die 
Erde unter den Füßen und wurde fortgeſchleift, bis ſeine 
Kräfte nachließen und er den Schwanz losließ, was einen 
Purzelbaum zur Folge hatte, wie er ihn ſo ungeheuer 
wohl noch nie im Leben geſchlagen hatte. 

Da erreichte das Gelächter der Gaucho eine Stärke, 
daß die Angſt des Bullen noch vergrößert wurde, wie 
ein Pfeil fuhr er zwiſchen ſeinesgleichen hinein und hin⸗ 
durch, bis er die hinterſte Ecke erreichte, wo er ſchnau⸗ 
bend ſtehen blieb und da jedenfalls das ſtille Gelübde 
tat, niemals wieder mit einem Zoologen aus Jüterbogk 
anzubinden. 

Morgenſtern war ganz ohne alle Verletzung davon⸗ 
gekommen. Er erhob ſich vom Boden, befühlte einige 
ſeiner Gliedmaßen und kehrte dann langſam dahin zu⸗ 
rück, wo er geſtanden hatte. Die Gauchos kamen, noch 
immer lachend, herbei, um ihn zu beglückwünſchen. 
Der Oberpeon aber ſagte ſehr ernſt: „Sie ſind im 
höchſten Grade unvorſichtig geweſen, Señores, und ſchei⸗ 
nen ſelbſt jetzt noch nicht zu wiſſen, daß Sie Ihr Leben 


— 120 — 


auf das Spiel geſetzt haben. Wie kommen Sie beide 
denn eigentlich dazu, ſich in dieſer Weiſe an die Rinder 
zu wagen?“ 

„Infolge eines zoopſychologiſchen Problems,“ ant⸗ 
wortete Morgenſtern. 

„Dieſe Worte verſtehe ich nicht.“ 

„Ich wollte erfahren, ob die rote Farbe wirklich 
imſtande iſt, dieſe Familie der Wiederkäuer ſo in Zorn 
zu bringen.“ 

„Ah! Und deshalb wagten Sie Ihr Leben? Das 
konnten Sie billiger haben. Hätten Sie uns gefragt, ſo 
wären wir gern bereit geweſen, Ihnen alle Auskunft 
zu erteilen.“ 

„Sind Sie Zoolog?“ 

„Nein; ich bin Gaucho.“ 

„So hätte Ihre Ausſage mir nicht genügen bön⸗ 
nen. Hier gelten nur anerkannte Autoritäten.“ 

„Senor, wenn ich auch nicht zu den Autoritäten 
zähle, ſo bin ich doch jedenfalls ein Caballero!“ meinte 
der Mann beleidigt. „Glauben Sie, daß ich Sie belügen 
würde?“ 

„Nein. Sie würden mir ſagen, was Sie für wahr 
halten; eine ſolche Wahrheit kann nur von Fachmännern 
feſtgeſtellt werden.“ 

„Ich bin kein Gelehrter und will nicht annehmen, 
daß Sie mich beleidigen wollen, denn Sie ſind unſer 
Saft. Sie ſind jedenfalls Fachmann, und es freut mich, 
daß Sie nun auf Grund eigener Erfahrung eine Wahr⸗ 
heit, die wir längſt kannten, feſtſtellen können. Aber 
Ihre Unvorſichtigkeit hat auch uns in Gefahr gebracht. 
Sie wiſſen wohl gar nicht, was eine Eſtampeda iſt?“ 

„Nein.“ 


— 121 — 


„Eine Eſtampeda iſt eine durchbrechende, durch⸗ 
gehende, aufgeregte, fliehende Pferde⸗ oder Rinderherde. 
Infolge Ihrer Unvorſichtigkeit konnten wir alle ſehr 
leicht unter die Hufe geſtampft werden. Hoffentlich ge⸗ 
ben Sie mir wenigſtens in dieſer Beziehung recht und 
haben die Güte, dafür zu ſorgen, daß weder Sie ſelbſt 
noch wir durch Ihre roten Anzüge wieder in Ver⸗ 
legenheit gebracht werden.“ 

Er wendete ſich ab, und die andern Gauchos folg⸗ 
ten dieſem Beiſpiele. Sie fühlten ſich beleidigt, daß ihr 
Anführer nicht als „Autorität“ anerkannt worden war. 
Die beiden Deutſchen verſtanden den ihnen gegebenen 
Wink und entfernten ſich durch die Lücke aus dem Corral. 
Draußen vor der Umzäunung meinte Fritze: „Ick muß 
ſagen, daß unſer Ritt ſehr jut anfängt. Wir haben noch 
nicht mal Pferde und ſind gleich am erſten Tage zwei⸗ 
mal herausjeſchmiſſen worden. Aber wir beſitzen jetzt 
wenigſtens den Troſt, daß die wiſſenſchaftliche Wahrheit 
feſtjeſtellt worden iſt: Der Puter ärjert ſich nicht alleine 
über die rote Farbe.“ 

„Ja,“ nickte der Doktor. „Ich werde der Akademie 
der Wiſſenſchaften eine Abhandlung über dieſen Gegen⸗ 
ſtand einſenden. Es iſt nun heutigentags unwiderleg⸗ 
lich bewieſen, daß die Rinder einen Widerwillen gegen 
die rote Farbe haben.“ | 

„Und zwar beide Jeſchlechter.“ 

„Allerdings, aber doch in verſchiedenem Grade. Das 
Maseulinum war empfindlicher als das Femininum.“ 

„Aber woher denn dieſe Abneigung gejen dieſe 
Farbe, welche jrade meine Lieblingsfarbe iſt?“ 

„Das läßt ſich jetzt nicht ſagen. Die Tatſache iſt 
feftgeftellt; den Gründen muß man noch nachſpüren. 
Ob es vielleicht darin liegt, daß die roten Farbenſtrah⸗ 


— 12 — 


len im Sonnenſpektrum durch das Prisma am ſchwäch⸗ 
ſten gebrochen werden? Die roten Strahlen ſchwingen 
in einer Sekunde nur fünfhundert Billionen mal.“ 

„Sollte dat dem Bullen aufjefallen ſind?“ 

„Wenn z. B. das Violett in der Sekunde achthundert 
Billionen Schwingungen macht, ſo ergibt das einen 
Unterſchied von dreihundert Billionen, der ſo groß iſt, 
daß er ſelbſt auch dem Auge eines Wiederkäuers wohl 
aufzufallen vermag. Doch bedarf das jedenfalls noch der 
Aufklärung. Ich habe meinen nächſten Zweck erreicht 
und dabei zugleich eine Entdeckung gemacht, über welche 
jeder Menageriebeſitzer in Entzücken geraten W wenn 
ich ſie veröffentliche.“ 

„So? Welche denn?“ 

„Wie ſelbſt das wildeſte Tier ſofort zu bändigen 
iſt. Man hängt ſich einfach an deſſen Schwanz. Die 
Situation iſt zwar nicht übermäßig bequem, doch wird 
das einen Tierbändiger nicht hindern, meinem Rat zu 
folgen.“ 

„Hm! Dat tft nun fo ne Sache! Ick möchte mir 
z. B. nicht an den Schwanz eines Löwen oder einer 
Rieſenſchlange hängen 8 

Sie waren während dieſes gelehrten Geſpräches 
langſam weitergegangen und hatten nicht bemerkt, daß 
der Chirurg ihnen gefolgt war. Jetzt holte er ſie ein 
und ſagte: „Seüores, die Gauchos ſind ſehr erzürnt auf 
Sie. Ich warnte, doch Sie achteten meiner Worte nicht 
und kamen in Gefahr. Leider aber ließ der Bulle ſich 
ins Bockshorn jagen.“ 

„Leider?“ fragte Morgenſtern verwundert. 

„Ja, leider! Denn wenn er nicht ſo erſchrocken 
wäre, hätte ich Gelegenheit gehabt, Ihnen meine Kunſt 


zu zeigen.“ 


— 123 — 


„Wieſo?“ 

„Er hätte Sie entweder aufgeſpießt oder Ihnen ei⸗ 
nige Knochen zerbrochen. Wie glücklich hätte es mich 
gemacht, Euer Gnaden beweiſen zu können, daß ich ein 
Meiſter in der Behandlung jeder Art von Wunden und 
Knochenbrüchen bin. Ich ziehe den längſten Splitter 
heraus, ohne daß die Blutung ſich vergrößert. Ich bin 
in jedem Augenblick zur ſchwierigſten Operation bereit.“ 

Um die Pferde, welche die Reiſenden bekommen 
ſollten, zu ſehen, mußten ſie hinaus auf die Weide wan⸗ 
dern. Die Eſtancia gehörte, wie bereits geſagt, nicht 
zu den größeren, und dennoch war es erſtaunlich, welch 
eine Menge des Weideviehes es hier gab. 

Das Hauptprodukt der La Plata⸗Staaten iſt das 
Vieh; die Eſtanciers züchten Pferde, Rinder und Schafe. 
Das europäiſche Pferd wurde 1536 durch Mendoza, das 
Schaf 1550 aus Peru und das Rind 1553 von Braſilien 
her eingeführt. Nur ſelten reitet man eine Stunde lang 
durch das Land, ohne ganze Majados (Herden) dieſer 
Tiere zu erblicken. Man rechnet, daß eine Quadrat⸗ 
legua 20 000 Schafe oder 300 Stück Hornvieh, welch letz⸗ 
teres ſich in guten Jahren um 800 Stück vermehren 
kann, zu ernähren vermöge. 

Den Schafen wird, der Wolle wegen, das beſſere 
Weideland überlaſſen; ihnen widmet man Sorgfalt. Um 
die Pferde und Rinder kümmert man ſich weniger. Sie 
ſtehen unter der Aufſicht von Gauchos und Hunden, und 
der Beſitzer nimmt nur dann Notiz von ihnen, wenn 
ſie entweder gezeichnet oder verkauft werden ſollen. Für 
eine Stute zahlt man höchſtens 16, für ein gutes Reit⸗ 
pferd nicht mehr als 60 Mark. Ein Stück Hornvieh, 
das nach dem Saladero verkauft wird, koſtet meiſt weni⸗ 
ger als 50 Mark. Saladeros ſind große Schlachthäuſer, 


— 124 — 


wo die Rinder in Maſſen getötet werden. Das Wort 
leitet ſich von dem ſpaniſchen salar, einſalzen ab. Dort 
werden die Häute eingeſalzen und ungeheure Talg⸗ 
mengen gewonnen. Einer der berühmteſten Saladeros 
iſt derjenige zu Fray Bentos, wo Liebigſcher Fleifch- 
extrakt gewonnen wird. Man ſchlachtet da täglich bis 
900 Stück Rinder und zerkleinert die Muskeln mit Ma⸗ 
ſchinen, wovon jede in der Stunde das Fleiſch von 
200 Ochſen zerſchneidet. Das geſamte Fleiſch eines 
Ochſen liefert nur drei Kilogramm Extrakt. 

Als die drei Männer ſich überzeugt hatten, daß es 
hier ganz andere Pferde gab, als im Gaſthof zu Santa 756, 
kehrten ſie nach der Eſtancia zurück. Dort war man in⸗ 
deſſen mit dem Zeichnen der Rinder fertig geworden; 
der Corral wurde geöffnet und die Tiere ſtürmten, froh, 
der Gefangenſchaft entronnen zu ſein, in das Freie. 
Zwei hatte man zurückgehalten, um ſie zu ſchlachten. 
Die Reiſenden näherten ſich, um zuzuſehen, in welcher 
Weiſe dies geſchah. 

Der Anblick, der ſich ihnen bot, war ein höchſt 
widerwärtiger. Die Kühe ahnten, was ihnen bevorſtand, 
und brüllten vor Angſt. Sie wurden, um ihr Blut zu 
erhitzen, weil nach der Meinung der Gauchos das 
Fleiſch dann beſſer ſchmeckt, eine Zeitlang im Corral 
umhergehetzt und dann ganz in der oben beſchriebenen 
Weiſe, als ob ſie gezeichnet werden ſollten, mit Hilfe der 
Laſſos niedergeriſſen. Nachdem ihnen einfach die Gur⸗ 
gel durchſchnitten worden war, warfen ſich die rohen 
Menſchen auf die noch lebenden und vor Schmerz ſich 
bäumenden und mit den Beinen um ſich arbeitenden 
Tiere und ſchnitten ihnen ganze, lange Stücke rauchen⸗ 
den und zuckenden Fleiſches mitſamt der Haut aus den 
Leibern. Das Todesröcheln, das ſich aus den offenen 


a 


— 125 — 


Gurgeln drängte, war, verbunden mit den gierigen Zu⸗ 
rufen der Gauchos, für ein ziviliſiertes Ohr nicht anzu⸗ 
hören. Morgenſtern ging mit Fritz davon. Der Chi⸗ 
rurg aber blieb und zog ſein Meſſer, um ſich auch eine 
Portion zu nehmen. Das unmenſchliche Schauſpiel war 
ihm etwas Gewohntes. 

Der Gaucho ſpießt dieſes Fleiſch an Hölzer oder 
gleich an ſein Meſſer und hält es über das Feuer, um 
die angebratene Seite in den Mund zu ſtecken, den Biſ⸗ 
ſen unter der Naſe abzuſchneiden und es dann weiter 
zu braten. Aſado nennt er dieſes noch im Blute ge⸗ 
röſtete Fleiſch. Sitzt aber gar noch die Haut (cuero) 
daran, ſo bildet der Braten ſeine allergrößte Delikateſſe 
und wird Asado con cuero, Aſado mit der Haut ge⸗ 
nannt. 

Bald brannten die Feuer, an denen die Gauchos 
und andern Bedienſteten ſaßen, um ihr Lieblingsgericht 
zu verzehren. Um die beiden Deutſchen kümmerten ſie 
ſich nicht, ganz ſo, wie der Chirurg geſagt hatte. Die⸗ 
ſer aber leiſtete ihnen bei ihrem Mahle und bei ihrer 
Unterhaltung Geſellſchaft, obgleich ſie ihn nicht etwa 
mit großer Hochachtung behandelten. Seine Verſeſſen⸗ 
heit auf die Chirurgie hinderte ihn, zu bemerken, daß 
ſie mehr ironiſch als ernſthaft mit ihm verkehrten. 

Doktor Morgenſtern wäre ganz verlaſſen geweſen, 
wenn der Majordomus es nicht für ſeine Pflicht gehal⸗ 
ten hätte, ſich ſeiner anzunehmen. Er widmete ihm 
einige freie Viertelſtunden und ſorgte dafür, daß es nicht 
an Speiſe und Trank gebrach. 

Abends kam der Eſtanciero, der ſich ſofort bereit 
erklärte, fünf Pferde zu dem landläufigen Preiſe zu ver⸗ 
kaufen. Er war erfreut, Europäer bei ſich zu finden, 
von denen wenigſtens der eine ſo kurze Zeit im Lande 


3 FDE: Ze 


weilte, daß er über die jüngſten Ereigniſſe von drüben 
zu berichten vermochte. Die Gauchos ſaßen draußen 
bei ihren Feuern, aßen immer noch oder wenigſtens 
ſchon wieder, denn ſo ein Menſch vermag ungeheure 
Mengen Fleiſch zu verzehren, und füllten die Pauſen 
mit kräftigen Scherzen, leidenſchaftlichen Erzählungen 
und patriotiſchen Liedern, die ſie mit ihren Guitarren 
begleiteten. Es gibt ſelten einen Gaucho, der nicht eine 
Guitarre beſitzt. | 


Der Eſtanciero hatte bei feiner Ankunft von ihnen 
erfahren, was im Corral geſchehen war, und ſchon da 
den Kopf dazu geſchüttelt, daß ein Menſch es wagen 
könne, mit einem Bullen anzubinden, um ſich zu über⸗ 
zeugen, ob derſelbe zur roten Farbe gleichgültig ſei oder 
nicht. Nun erkannte er im Laufe der Unterhaltung 
mehr und mehr, daß Morgenſtern ein Original und 
zugleich ein ſeelenguter Menſch ſei, der nur an ſein 
beſonderes Fach denke, von dem gewöhnlichen Leben 
und deſſen Anforderungen wenig oder gar nichts ver⸗ 
ſtehe und überall eher hinpaſſe als in die Pampas oder 
gar in den Gran Chaco, wo der Reiſende während des 
Tages und der Nacht von vielſeitigen Gefahren umgeben 
iſt. Darum ſagte er endlich, nachdem alle ſeine teil⸗ 
nehmenden Fragen beantwortet waren: „Aber, liebſter 
Senor, meinen Sie denn wirklich, daß Sie ihre Zwecke 
erreichen, ohne in der Wildnis umzukommen? Sie ha⸗ 
ben keine Ahnung deſſen, was Sie im Gran Chaco und 
in den Cordilleras erwartet.“ 


„Was das betrifft, ſo weiß ich ſehr wohl, woran 
ich bin,“ antwortete der Gelehrte. „Ich habe ja das 
Buch Excursion au Rio Salado et dans le Chaco, par 
Ameöd&e Jacques geleſen.“ 


—— 


— 127 — 


„Ich kenne dieſes Buch nicht, allein ich weiß, daß 
das Leſen eines Buches einen Menſchen, ſelbſt den ge⸗ 
lehrteſten, noch lange nicht befähigt, die Entbehrungen 
und Gefahren zu beſtehen, die Ihrer warten. Oder mei⸗ 
nen Sie, daß Sie ſich auf dieſen ſogenannten Don 
Parmeſan verlaſſen können?“ 

„Warum nicht? Er iſt doch ein gelehrter Mann.“ 

„Ein Narr iſt er, weiter nichts!“ 

„Aber doch ein bedeutender Chirurg?“ 

„Fällt ihm nicht ein. Die Chirurgie iſt ſein fixer 
Gedanke. Dieſer Senor hat noch keinem Menſchen ein 
Haar oder einen Fingernagel gekürzt, obgleich er einen 
Sack voll chirurgiſcher Inſtrumente im Lande herum⸗ 
ſchleppt. 

„Alſo nur eine fixe Idee? Sollte man ſo etwas 
denken!“ 

„Warum nicht. Es gibt viele Menſchen, welche 
an einer ſolchen Monomanie leiden. Ich habe da z. B. 
einen kennen gelernt, der ſich mit der fixen Idee herum⸗ 
trägt, nach Knochen von Tieren zu ſuchen, die vor Tau⸗ 
ſenden von Jahren gelebt haben. Hätte Noah geglaubt, 
daß dieſe Kreaturen etwas wert ſeien, ſo hätte er ſie 
ganz gewiß mit in ſeine Arche aufgenommen.“ 

„Senor, das iſt keine fixe Idee, ſondern der Mann 
iſt jedenfalls ein ſehr kluger Kopf, ein Zoopaläontolog, 
gerade wie ich!“ rief Morgenſtern begeiſtert. „Lebt der 
Mann hier?“ 

„Jetzt, ja.“ 

„Wo denn, wo? Kann ich ihn vielleicht kennen 
lernen?“ 

„Kennen lernen? Das iſt gar nicht nötig. Sie 
kennen ihn längſt, denn Sie ſind es ſelbſt.“ 


„Ich? Ah! Oh!“ dehnte der Gelehrte, indem er 
den Mund weit offen ließ. „Mich meinen Sie, mich? 
So leide ich nach Ihrer Anſicht alſo an einer fixen, an 
einer krankhaften Idee?“ 

„Allerdings. Nehmen Sie mir es nicht übel, Sen⸗ 
nor; aber es iſt ſo, es iſt wirklich ſo. Was können Ihnen 
die vorweltlichen Eidechſen nützen?“ 

„Was ſie mir nützen können? O, eine einzige ſolche 
Eidechſe, lateiniſch Lacerta genannt, kann mich zum be⸗ 
rühmten Mann machen.“ 

„Das verſtehe ich nicht, will es aber glauben. Doch 
was hilft Ihnen eine Berühmtheit, die Sie gar nicht 
erreichen können, weil Sie unterwegs umkommen wer⸗ 
den? Wie ich vernehme, ſind Sie zu einer Reiſe in den 
Gran Chaco ja gar nicht ausgerüſtet.“ 

„O doch! Ich beſitze Waffen, Bücher, Hacken und 
Schaufeln. Und die Pferde, die mir nötig ſind, werden 
Sie mir verkaufen. Außerdem iſt Senor Parmeſan bei 
mir, der den Chaco kennt.“ 

„Ich ſage Ihnen, daß er ihn nicht kennt, daß er 
höchſtens einmal bis an deſſen Grenze gekommen iſt.“ 

„Aber er gehört doch zur Geſellſchaft des Vaters 
Jaguar!“ | 

„Das glaube ich nicht. Der Vater Jaguar braucht 
keine Narren.“ 

„Welchen Grund hätte er denn, es zu behaupten, 
wenn es nicht wahr wäre?“ 

„Das will ich Ihnen ſagen, Seüor. Der Menſch 
ſchwärmt bei Tage und träumt des Nachts nur von ſei⸗ 
ner Chirurgie. Er rennt von einem Ort zum andern, 
um Knochenbrüche und andere Verletzungen zu finden. 
Sie haben ihm geſagt, daß ſie nach dem Gran Chaco 
wollen; da iſt er denn ſofort überzeugt geweſen, daß 


— 19 — 


es Brüche, Stiche, Kugeln und Wunden geben wird, 
und hat ſich Ihnen zur Begleitung angeboten. Der ret⸗ 
tet Sie nicht, wenn Sie in Gefahr kommen.“ 

Der Eſtanciero meinte es aufrichtig gut. Morgen⸗ 
ſtern blickte ſtill und nachdenklich vor ſich nieder. Da 
ſagte Fritze, der bei ihnen ſaß: „Senor, machen Sie uns 
nicht bange! Wir ſind Preußen, und ein Preuße kommt 
überall durch. Ich bin ſchon oben in Tucuman ge⸗ 
weſen und denke, daß wir auch jetzt ganz gut hinauf⸗ 
kommen werden.“ 

„Ganz, wie Sie denken!“ erwiderte der Eſtan⸗ 
ciero. „Sie tragen nicht meine, ſondern Ihre Haut zu 
Markte; es tut mir alſo nicht weh, wenn ſie Ihnen ab⸗ 
gezogen wird. Ich wünſche Ihnen aber alles Gute.“ 

Er ſtand auf und fragte, ob er ihnen ihre Lager⸗ 
plätze anweiſen dürfe. Man geht in jenen Gegenden in 
der Regel ſehr früh ſchlafen, um zeitig aufzuſtehen. Die 
beiden Gäſte wurden auf weiche Fellunterlagen gebettet 
und ſchliefen bei den Klängen der draußen noch ertönen⸗ 
den Lieder ein. 

Als ſie erwachten, ging eben die Sonne auf. Die 
Gauchos waren alle ſchon munter, obgleich ſie ſich viel 
ſpäter zur Ruhe niedergelegt hatten. Der Chirurg hatte 
in einem ihrer kleinen Ranchos geſchlafen. Auch der 
Eſtanciero war aufgeſtanden. Ueber dem Herde brodelte 
in einem Keſſel der Puchero, ein Gemiſch von Koch⸗ 
fleiſch, Maiskolben, Mandioca, Speck, Kohl und Rü⸗ 
ben. Dazu gab es Mate zu trinken, von dem der Dok⸗ 
tor aber, um ſich nicht wieder zu verbrennen, nichts 
genoß. 

Nach dem Eſſen ging man nach dem Kamp zu den 
Pferden. Der Eſtanciero war trotz der von Fritze er⸗ 
haltenen Zurechtweiſung ſo uneigennützig, vier ſeiner 

May, Das Vermächtnis des Inka 9 


— 130 — 


beſten Pferde ſelbſt auszuſuchen und fie Morgenſtern 
zum Geſamtpreiſe von zweihundert Mark nach deut⸗ 
ſchem Gelde zu überlaſſen. Gegen den Chirurgen war 
er nicht ſo zuvorkommend; er ſchien ihm nicht hold zu 
ſein. Dieſer mußte ſelbſt wählen und auch mehr be⸗ 
zahlen, obgleich ſeine Wahl keine für ihn günſtige zu 
nennen war. Für das, was genoſſen worden war, eine 
Bezahlung anzubieten, wäre eine Beleidigung geweſen. 
Don Parmeſan kaufte von einem Gaucho einen alten 
Sattel. Den beiden Deutſchen ließ der Wirt zwei Pack⸗ 
und zwei Reitſättel ab. Die letzteren waren von der⸗ 
jenigen Art, welche man Recado nennt und die aus 
mehreren zuſammenhängenden Teilen beſtehen, um des 
Nachts auseinandergeſchlagen und zur Herſtellung des 
Lagers benutzt werden zu können. 

Als dies geſchehen war, brachen die drei Reiſen⸗ 
den auf. 

„La enhora buena de la vuelta — Glück auf die 
Reiſe!“ rief ihnen der Eſtanciero nach. „Nehmen Sie 
ſich vor den Indianern des Gran Chaco in acht, welche 
mit vergifteten Pfeilen ſchießen. Die ſind weit gefähr⸗ 
licher als Flintenkugeln!“ 

Dieſe ſehr gut gemeinte Warnung war nicht un⸗ 
begründet. Die Indianer Südamerikas bedienen ſich 
noch heut kleiner, ſpitzer Pfeile, die ſie aus langen 
Blaſerohren ſchießen. Das dazu nötige Gift bereiten 
ſie aus dem Saft des Strychnosbaumes und einer 
Lianenart, die ſie Maracuri nennen. Zu dieſem Saft 
kommen noch Pfeffer, Zwiebeln, Kockelskörner und 
andre, uns unbekannte Pflanzenſtoffe. Er wird dick ein⸗ 
gekocht und behält ſeine verderbliche Wirkung jahre⸗ 
lang, obgleich er friſch am ſchnellſten wirkt. Die kleinſte 
Verwundung mit einem dadurch vergifteten Pfeil führt 


4 


— 131 — 


den unabänderlichen und ſichern Tod von Menſch und 
Tier herbei, doch iſt das Curare nur dann ſchädlich, 
wenn es direkt in das Blut kommt, gerade wie das 
Schlangengift. Die Indianer erlegen damit alle jagd⸗ 
baren Tiere und verzehren ſie, ohne Schaden davon zu 
haben. Der eigentlich wirkſame Stoff dieſes Giftes iſt 
das Curarin, ein in der Rinde der genannten Pflanzen 
enthaltenes Alkaloid, welches dadurch tötet, daß es die 
Bruſtmuskeln lähmt und den Blutumlauf ins Stocken 
bringt. Wie ſtark es iſt, wird dadurch bewieſen, daß 
ein Jaguar, von einem ſolchen winzigen Pfeil ſo leicht 
in die Haut getroffen, daß er es gar nicht fühlt, ſchon 
nach zwei Minuten tot zuſammenbricht. 


Fünftes Kapitel 


Ein Pam paritt 


Der Weg, den Doktor Morgenſtern und feine bei- 
den Gefährten verfolgten, führte gerade nach Norden, 
zwiſchen dem Rio Salado und dem Rio Saladillo hin, 
hinter denen dichte Waldungen lagen. Nach nicht ganz 
einer Stunde führte eine hölzerne Brücke über den 
erſtgenannten Fluß, und dann erreichten die Reiter die 
meiſt von Deutſchen bewohnte Kolonie Eſperanza. Da 
ſie den Vater Jaguar einholen wollten und alſo keine 
Zeit zu verlieren hatten, hielten ſie hier gar nicht an, 
ſondern jagten auf der Straße nach Cordova weiter. 

Jagten! Ja, ein Jagen war es allerdings zu nen⸗ 
nen, denn der Chirurg ritt in der hier zu Lande ge⸗ 
bräuchlichen Schnelligkeit voran, und die beiden andern 
mußten folgen. In Argentinien legt man im Poſt⸗ 
wagen in der Stunde durchſchnittlich zwanzig Kilometer 
zurück; ein Reiter aber macht wenigſtens fünf Kilo⸗ 
meter mehr. Wie lange das Pferd aushält, wird nicht 
gefragt. Dem Chirurgen fiel es auch nicht ein, ſich 
dieſe Frage vorzulegen. Er bedachte nicht, daß er einer 
Gegend entgegenritt, wo es keine Gelegenheit gab, auf 
einer Eſtancia ein abgetriebenes Pferd gegen Nach⸗ 
zahlung mit einem friſchen zu vertauſchen. Seine Spo⸗ 
ren wühlten förmlich im Fleiſche ſeines armen Tieres, 


— 138 — 


und wenn die Deutſchen ihn baten, doch weniger grau⸗ 
ſam zu ſein, lachte er gefühllos auf und trieb es nur 
noch ärger. Er war übrigens ein guter und, wie es 
ſchien, auch ausdauernder Reiter. 

Fritze Kieſewetter ſaß auch nicht übel zu Pferde. 
Er hatte hier im Lande Gelegenheit gehabt, ſich an den 
Sattel zu gewöhnen. Leider aber war dies bei dem 
kleinen Zoologen nicht der Fall. Zwar hatte er keine 
Angſt vor dem Sattel verraten, jetzt aber zog er ein 
Geſicht, als ob ſein Gaul mit ihm durch alle Wolken 
fliege. Er gab ſich alle Mühe, im Gleichgewicht zu 
bleiben, und das gelang ihm auch recht leidlich, doch 
zeigten ſeine feſt zuſammengekniffenen Lippen, daß es 
ihm nicht allzu wohl dabei ſei. Uebrigens hatte ſein 
Pferd einen weichen, gleichmäßigen Gang, und da man 
meiſt in Karriere ritt, wurde dieſer auf das Beſte zur 
Geltung gebracht. Dennoch war der gelehrte Paläon⸗ 
tolog nach einem Stundenritt hinter Eſperanza ſchon 
ſo ermüdet, daß er ſein Pferd anhielt und den beiden 
andern zurief: „Halt! Mein Pferd kann nicht weiter. 
Die Beine tun ihm weh! Es muß Ruhe haben, was 
der Lateiner Tranquillitas nennt.“ 


„Schön!“ meinte Fritze, indem er halten blieb. „Ick 
bin's ſehr zufrieden, wenn wir eine Viertelſtunde Fe⸗ 
rien machen. Wenn wir in fo 'ne Weiſe weiterjagen, 
kommen wir bis gegen Abend drüben in China an, und 
ſo weit wollen wir doch jar nicht.“ 


Der Chirurg aber hatte einen Einwand: „Wir 
müſſen heute noch bis Fort Tio kommen, und das ſind 
wohl noch hundert Kilometer. Nur in dieſem Falle 
können wir die Laguna Parongos bis morgen abend 
erreichen. Ich reite weiter!” 


— 134 — 


„In Gottes Namen!“ antwortete Morgenſtern, in⸗ 
dem er abſtieg und ſich ins weiche Camposgras ſetzte. 
„Wenn Sie Ihr Pferd zu Tode hetzen wollen, ſo tun 
Sie es. Wo nehmen Sie dann ein anderes her? Sehen 
Sie nur, wie Sie es in dieſen zwei Stunden zugerichtet 
haben! Es blutet an beiden Seiten. Sie ſind von einer 
fürchterlichen Grauſamkeit, lateiniſch Atravitas oder 
Crudelitas, auch Duritas oder Immanitas, ſogar Sae- 
vitia genannt.“ 

„Was ich mit meinem Pferde tue, das iſt meine 
Sache, denn ich bin es, der es bezahlt hat, Senor.“ 

„Was das betrifft, ſo werden wir Ihnen nicht 
widerſprechen,“ meinte Fritze, „obgleich wir behaupten 
könnten, daß der Umſtand, daß Sie es bezahlten, Ihnen 
noch nicht das Recht gibt, es zu martern.“ 

Er ſetzte ſich neben ſeinen Herrn nieder. Der Chir⸗ 
urg brummte noch einige unwillige Bemerkungen in 
den Bart, hielt es aber doch für beſſer, ſich zu fügen, 
anſtatt weiter zu reiten. Schon nach einer halben 
Stunde aber drängte er wieder zum Aufbruch, und die 
beiden andern taten nach ſeinem Willen. 

Der weite Campo, durch den ſie ritten, war voll⸗ 
ſtändig eben und nur mit Gras bewachſen. Nirgends 
zeigte ſich ein Strauch oder gar ein Baum; Wälder 
und Buſchwerk findet man nur da, wo es Waſſer gibt. 
Als ſie eine Weile geritten waren, vernahmen ſie einen 
wüſten Lärm hinter ſich. Sich nach demſelben um⸗ 
drehend, gewahrten ſie, daß die Diligence, der die Poſt⸗ 
und Paſſagierverbindung zwiſchen Santa Js und Cor⸗ 
dova oblag, ihnen folgte. 

Eine ſolche Diligencereiſe iſt etwas ganz andres 
als eine Fahrt mit einer ehrbaren deutſchen Poſtkutſche. 
Der Unterſchied zwiſchen beiden iſt dem Gegenſatz zwi⸗ 


— 185 — 


ſchen einem linden Mailüftchen und einem raſenden 
Pamperoſturm zu vergleichen. 

Man ſpricht oder ſprach zwar auch in den La Plata⸗ 
ſtaaten von Straßen; aber bei dieſem Wort darf man 
nicht etwa an geebnete Wege, die von Baumreihen ein⸗ 
geſäumt werden, denken. Landſtraßen oder gut und 
regelmäßig unterhaltene Wege gibt es dort nicht, da 
das Material zu deren Bau vollſtändig mangelt. Holz 
iſt ſelten, und Stein findet man gar nirgends. Ein 
jeder reitet oder fährt in der Richtung, die ihn zum 
Ziele bringt, ganz gleich, ob dabei einen oder einige 
Kilometer weit nach rechts oder links abgewichen wird. 

Das, was man Straßen nennt, beſteht aus einer 
mehr oder weniger breiten Reihe von Spuren und 
Gleiſen, die in beliebiger Art und Weiſe über die Pam⸗ 
pas führen. Bald hat man einem Bodeneinſchnitt zu 
folgen, bald einen Sumpftümpel zu umgehen oder einen 
jener kleinen, aber ſteilufrigen Flüſſe zu durchqueren, 
die hie und da vorkommen, um ohne alle Verbindung 
mit einem größeren Strom oder Fluß in der Pampa 
nach und nach zu verlaufen. 

Genau ſo mangelhaft wie dieſe Straßen ſind auch 
die Stationen, an denen die Pferde gewechſelt werden, 
meiſt armſelige Ranchos, wo der Reiſende nicht eine 
Spur von Bequemlichkeit findet. 

Und die Poſtwagen erſt! Dieſe Fahrzeuge ſcheinen 
aus einer Zeit zu ſtammen, wo der Menſch mit dem 
Höhlenbären auf du und du verkehrte. Sie ſind ſo roh 
gearbeitet und von ſo unbehilflicher Form, daß ihr An⸗ 
blick einem ziviliſierten Reiſenden, der gezwungen iſt, 
ſich ihrer zu bedienen, Grauen einflößt. Das Innere 
faßt gewöhnlich acht Menſchen, während nach unſern 
Begriffen nur vier Platz hätten. Und dazu müſſen dieſe 


— 136 — 


acht all ihr Reiſegepäck bei ſich haben. Draußen, hin⸗ 
ter dem Kutſcher oder Mayoral, gibt es noch zwei 
Plätze. Das Verdeck wird mit Poſtſtücken und andern 
Dingen ſo hoch beladen, daß man glaubt, die Diligence 
könne unmöglich im Gleichgewicht bleiben und müſſe 
ſchon bei den erſten Schritten der Pferde umſtürzen. 
Und doch kommt es vor, daß überzählige Reiſende noch 
da oben auf dieſem Turmbau Platz nehmen! 

Zu dieſer Kutſche gehören acht Pferde. Vier ſind 
vor den Wagen nebeneinander geſpannt, vor ihnen 
zwei und vor dieſen eins, auf dem der Vorreiter ſitzt. 
Auf dem achten „Rößli“ ſitzt ein Peon, der nebenher 
reitet und die Aufgabe hat, die Pferde anzutreiben und 
etwa herab⸗ oder herausfallende Gegenſtände auf⸗ 
zuleſen. 


Die Geſchirre ſind im höchſten Grade dürftig. Je⸗ 
des Zugpferd bekommt einen Ledergurt um den Leib 
geſchnallt, woran ein Laſſo befeſtigt iſt, mit dem es an 
dem Wagen hängt. 


Der Mayoral hat einen ſpitzen Stock, mit dem er 
die hintern Pferde anſtachelt und eine lange Peitſche, 
womit er die vordern Tiere erreichen kann. Auch der 
Vorreiter und der Peon ſind im Beſitze von je einer 
Peitſche, ſo daß alſo an Mitteln, den Pferden „gütlich“ 
zuzureden, kein Mangel iſt. Oft ſitzt auf einem der 
beiden Mittelpferde noch ein Gaucho, der natürlich auch 
mit einer Peitſche verſehen iſt. 

Dieſe vier Bedienſteten der Diligence haben, mit 
unſern Poſtillonen verglichen, das Ausſehen von Räu⸗ 
bern, denen man ſein Eigentum und Leben für keinen 
Augenblick anvertrauen möchte, ſind aber brave und 
ehrliche Leute, die ihr Fach verſtehen und ihren Ver⸗ 


— 17 — 


pflichtungen in einer Weiſe nachkommen, daß einem 
Hören und Sehen vergehen möchte. 


Nehmen wir an, die Kutſche iſt beladen und die 
Paſſagiere ſind eingeſtiegen. Sie haben ſich nach Mög⸗ 
lichkeit zurechtgeſetzt und ſind überzeugt, daß die Fahrt 
nun beginnen werde. Sie beginnt auch, denn der 
Mavyoral ſtößt ein tigerartiges Gebrüll aus und ſtößt 
den hinteren Pferden die Spitze des Stocks in die offe⸗ 
nen Wunden, die von früher zurückgeblieben ſind, und 
handhabt zu gleicher Zeit die Peitſche, als ob er die 
vorderen Pferde erſchlagen wolle. Der Mittelreiter, der 
Vorreiter und der Peon brüllen ebenſo und hauen mit 
ihren Peitſchen auf die Tiere ein. Dieſe ſpringen an; 
der ſchwerfällige Wagen tut einen Ruck nach vorn, neigt 
ſich nach rechts, nach links und wird dann von den 
gepeitſchten Pferden vorwärts geriſſen. Die Paſſagiere 
ſtoßen bei dem gewaltigen Ruck die Köpfe zuſammen 
und verlieren ihre Hüte; ihr Gepäck rollt ihnen auf den 
Schoß oder zwiſchen die Beine; ſie ſtrecken die Arme 
aus, um ſich gegenfeitig aneinander feſtzuhalten; der eine 
erfaßt den andern beim Bart und dieſer ihn an der 
Uhrkette. 


„Was wollen Sie mit meinem Bart, Seßñor?“ 
fragt dieſer. 

„Und was haben Sie mit meiner nee fragt 
jener. 


„Es geſchah ohne Abſicht. Entſchuldigen Euer 
Gnaden!“ 

„Bitte ebenſo um Verzeihung, Senor. Ich hatte 
wirklich keine Abſicht auf Ihren Bart.” 

Die Diligence fliegt aus der Station hinaus. Da . 
tut es hinten einen Krach. 


— 18 — 


„Anhalten, anhalten!“ ſchreit der Peon. „Bei San 
Jago, Mayoral, wir müſſen halten!“ 

Dieſer zügelt die Pferde und brüllt: „Was geht 
mich dein San Jago an! Ich habe zu fahren, nicht 
aber zu beten. Was ſtörſt du mich?“ 

„Es iſt eine Kiſte heruntergefallen. Da hinten 
liegt ſie.“ | 

„So hole fie, und wirf fie wieder hinauf!” 

„Sie ſcheint zerbrochen zu ſein.“ 

„Kann ich dafür? Warum nimmt man kein ſtär⸗ 
keres Holz zu dieſen Kiſten. Was iſt denn drin?“ 

„Werde nachſehen.“ 

Er ſteigt ab und bringt die Kiſte herbei. Der Dek⸗ 
kel iſt losgeſprungen. Auf ihm iſt die Adreſſe eines 
Profeſſors an der Univerſität von Cordova zu leſen. 
Die Kiſte enthält Flaſchen, wovon einige zerbrochen ſind. 
Eine rote Flüſſigkeit tropft heraus und duftet angenehm 
in die Naſe des Peons. 

„Bei meiner Seligkeit, es iſt Rotwein!“ ruft er 
aus. „Vier Flaſchen ſind zerbrochen, glücklicherweiſe 
nur oben an den Hälſen.“ 

„Nimm ſie heraus! Jedem von uns eine. Man 
wird dieſes Labſal doch nicht zur Erde laufen laſſen!“ 

Dieſe Flaſchenreſte werden ausgetrunken, worauf 
man die Kiſte mit einem Riemen zuſchnürt und oben auf 
dem Verdeck anbindet. Dann geht die Fahrt weiter, 
wobei die Paſſagiere wieder aneinander geraten. 

„Entſchuldigen Euer Gnaden! Das iſt mein Bein!“ 
ruft einer. 

„O Verzeihung, Senor! Ich hielt es für das mei⸗ 
nige, das ich zwiſchen dieſen Paketen hervorziehen 
wollte. Wo haben Sie ihren Hut?“ 


— 19 — 


„Auf Ihrem Kopfe. Euer Gnaden haben ihn ſo⸗ 
eben aufgeſetzt. Der Ihrige iſt aus dem Fenſter ge⸗ 
fallen.“ 

„Himmel! Zum Fenſter hinaus? So iſt er ver⸗ 
loren. Woher bekomme ich einen andern! Schreckliche 
Geſchichte, ſo eine Fahrt mit der Diligence!“ 

Glücklicherweiſe iſt der Hut nicht verloren. Der 
Peon hat ihn fliegen ſehen, iſt umgekehrt, hat ihn, ohne 
abzuſteigen, aufgehoben und bringt ihn jetzt zurück. In⸗ 
dem er ihn zum offenen Fenſter hereinwirft, ruft er: 
„Hüte feſthalten oder anbinden, Seüores! Wir haben 
keine Zeit, auf Ihre Hüte Rückſicht zu nehmen.“ 

Dann reitet er wieder vor, um die Zugpferde mit 
Gebrüll und Peitſchenhieben anzutreiben. Gelangt man 
zufälligerweiſe an einen ausgetrockneten Bach oder klei⸗ 
nen Fluß, ſo geht es in Karriere hüben hinab, hindurch 
und drüben wieder hinauf. Der Peon aber ſpringt vom 
Pferde, um im Bette des Fluſſes nach Rollkieſeln, den 
einzigen Steinen, die es in den Pampas gibt, zu ſuchen. 
Er füllt ſeine Taſchen damit und ſprengt der Diligence 
nach, um, wenn die Hiebe nicht genug fruchten, die 
Pferde dadurch anzutreiben, daß er ſie mit Kieſeln bom⸗ 
bardiert. 

Dieſer Peon it ein Meiſter im Reiten, wird aber 
von dem Vorreiter womöglich noch übertroffen. Dem 
letzteren liegt es ob, die Richtung anzugeben. Er hat 
das Gelände zu überſchauen, um mit ſicherem Blick die 
zu vermeidenden Stellen zu entdecken. Dazu gehört, 
da man ſtets in Karriere fährt, eine große Uebung. 
Oft muß er, um eine gefährliche Stelle zu umgehen, 
eine ganz plötzliche Wendung machen. Dann ſchreit er 
wie verrückt; der Mayoral brüllt und haut und ſticht 
auf die Pferde ein, und der Mittelreiter und der neben⸗ 


— 140 — 


her jagende Peon heulen ebenſo laut. Die Paſſagiere, 
denen himmelangſt wird, laſſen ihre Stimmen eben⸗ 
falls hören. Das Gefährt wird in die betreffende Rich⸗ 
tung geriſſen, um dann gleich wieder auf die andere 
Seite gezerrt zu werden, was ſich beſonders dadurch ſo 
gefährlich ausnimmt, daß der Vorreiter jede Abweichung 
von der geraden Linie übertreiben muß. Will er, daß 
der Wagen in einem Winkel von zehn Grad abweiche, 
ſo reitet er ſelbſt in einem Winkel von dreißig Grad 
nach der betreffenden Seite. Kommt dann eine ebenſo 
große und ebenſo raſche Biegung nach der andern Seite 
vor, ſo hat er ſein Pferd auf einer Strecke von nur we⸗ 
nigen Metern in einem Winkel von ſechzig Grad hin 
und her geriſſen, wobei dem angſtvoll zuſchauenden 
Fahrgaſt ſich die Haare auf dem Kopfe ſträuben möchten. 

Man legt auf dieſe Weiſe wohl fünfundzwanzig 
Kilometer in der Stunde zurück, doch nur mit friſchen 
Pferden, die durch das unſinnige Jagen bald ſo ermat⸗ 
ten, daß dieſes Ergebnis nach und nach ein geringeres 
wird. 

Nähert man ſich einer Station, wo Pferdewechſel 
ſtattfindet, ſo jagt der Peon voraus, um die Leute dort 
zu benachrichtigen. Die Diligencegejellihaften haben 
nämlich mit denjenigen Eſtancieros, Hacienderos und 
Rancheros, deren Beſitzungen in der Nähe des Weges 
liegen, Verträge abgeſchloſſen. Sobald der Peon 
kommt, werden die Pferde in den Corral getrieben, 
um da gefangen zu werden. Man hält ſie feſt und legt 
ihnen den Gurt an. Die Tiere wiſſen, welche An⸗ 
ſtrengungen und Mißhandlungen ihnen bevorſtehen, und 
wehren ſich aus Leibeskräften. Das führt dann wieder 
zu Szenen, von denen der gebildete Mann ſich mit Un⸗ 
willen abwendet. Die gebrauchten Pferde werden frei 


— 141 — 


gelaſſen und rennen, vor Freude wiehernd, davon; die 
friſchen werden, indem ſie ſich bäumen und ſchnaubend 
um ſich ſchlagen, an den Wagen gehängt und dann geht 
die tolle Fahrt von neuem an. 

In den Jahreszeiten des fetten Graswuchſes ſind 
die Pferde beſſer genährt und vermögen ſolche Anſtren⸗ 
gungen leidlich auszuhalten. Iſt aber die Weide man⸗ 
gelhaft, oder liegen die Pampas gar dürr, ſo ſind die 
armen Tiere ausgehungert und vermögen den ſchweren 
Wagen kaum zu ſchleppen. Sollen ſie dann noch in 
raſender Karriere laufen, ſo können ſie es nicht aus⸗ 
halten und brechen ſchließlich mitten im Rennen zuſam⸗ 
men. Das tut aber nichts. Man hat Erſatzpferde mit⸗ 
genommen. Man ſchnallt den Gurt einem von dieſen 
um und läßt das geſtürzte Pferd einfach liegen. Es 
lebt noch, iſt aber ſo abgehetzt und ermattet, daß es nicht 
aufſtehen kann. Seine Flanken ſchlagen; ſeine Glieder 
zucken krampfhaft; feine Augen find mit Blut unter- 
laufen, und die Zunge hängt ihm weit aus dem geöff⸗ 
neten Maul. Die Geier, die in Menge auf den Pam⸗ 
pas hauſen, und denen niemand etwas tut, weil ſie die 
Geſundheitspolizei bilden, nähern ſich und reißen dem 
armen Tier das Fleiſch fetzenweiſe vom Leibe. Nach 
wenigen Stunden iſt von dem Pferd nur das vollſtän⸗ 
dig fleiſchloſe Gerippe noch vorhanden. Daher kommt 
es, daß man faſt bei jedem Schritt gebleichten Knochen 
begegnet. Das Leben eines Pferdes hat eben für den 
Gaucho keinen Wert. Und wollte man ihn auf die mo⸗ 
raliſche Seite dieſer Behandlung eines Geſchöpfes Got⸗ 
tes aufmerkſam machen, ſo würde er erſtaunt auflachen, 
weil er nicht das mindeſte Verſtändnis dafür beſitzt. 

Eine ſolche Diligence kam jetzt hinter den drei Rei⸗ 
tern her. Sie fuhr ſchneller, als dieſe ritten, und hatte 


— 12 — 


ſie alſo ſehr bald eingeholt. Im Vorüberjagen rief 
der Peon fragend: „Wohin, Seüores!” | 

„Nach Fort Tio, Euer Gnaden,“ antwortete der 
Chirurg. 

„Wir kommen dort vorüber. Soll ich für Euer 
Gnaden Quartier beſtellen?“ 

„Ja, ich bitte Sie darum, Senor!“ 

Die wilde Jagd ging weiter und war ſehr bald 
am Horizont verſchwunden. N 

„Iſt ſo etwas erhört?“ meinte Fritze kopfſchüttelnd. 
„Bei uns zu Hauſe würde dieſen Leuten bald dat Hand⸗ 
werk jelegt werden. Und hier ſoll man ſie noch mit 
Euer Gnaden titulieren! Wat ſagen Sie zu ſo 'ne Tier⸗ 
quälerei, Herr Doktor?“ 

„Gar nichts, als daß man dieſe Menſchen einmal 
ſo behandeln ſollte, wie ſie ihre Pferde behandeln. 
Dann würden ſie vielleicht zur Einſicht kommen, was 
der Lateiner Intelligentia oder auch Perspicientia 
nennt.“ g 

Morgenſtern hatte die Ruhepauſe eigentlich ſeinet⸗ 
wegen, weniger ſeines Pferdes wegen gehalten. Die⸗ 
ſes war noch gar nicht ermüdet geweſen, und ſo ging 
es jetzt im fröhlichen Galopp weiter. Er freilich machte 
kein ſehr fröhliches Geſicht dazu, denn das Reiten ſtrengte 
ihn an. Er gab ſich alle Mühe, dies nicht merken zu 
laſſen, doch mußte am Nachmittag noch ein längerer 
Halt gemacht werden, und ſo war es beinahe Abend 
geworden, als ſie das Fort vor ſich liegen ſahen. Es 
war ihnen leicht geweſen, den Weg zu finden. Denn 
das Gleis der Diligence war ein zuverläſſiger Führer. 

Unter einem Fort an der argentiniſchen Indianer⸗ 
grenze darf man ſich nicht das denken, was man hier 
bei uns unter einem Fort verfteht. Fort Tio beſtand aus 


— 18 — 


einer von dichten, ſtacheligen Kaktushecken eingefriedigten 
Fläche, die von einem Graben umgeben war. Auf die⸗ 
ſer Fläche ſtanden einige Ranchos, in denen jetzt wohl 
zwanzig Soldaten lagen, deren Kommandeur ein Leut⸗ 
nant war. Der Eingang ſtand weit offen. Als die drei 
Männer hineinritten, kam ihnen dieſer Leutnant ent⸗ 
gegen. 

„Willkommen!“ rief er ihnen zu. „Wir freuen uns, 
Senores, fie bei uns zu — — —“ 

Er hielt inne. Sein Auge war auf den Chirurgen 
gefallen. Da lachte er fröhlich auf und fuhr fort: „El 
Carnicierol Ah, ſehen wir uns einmal wieder! Welche 
Operationen haben Sie ausgeführt, ſeit wir uns in 
Roſario zum letzenmal ſahen?“ 

Dies war einigermaßen ſpöttiſch geſprochen. „Don“ 
Parmeſan fühlte ſich beleidigt und antwortete ſpitz: 
„Ich liebe es, daß ſich für meine Operationen nur die⸗ 
jenigen Leute intereſſieren, die ich operiert habe, oder 
operieren ſoll. Soll ich Ihnen oder einem Ihrer Unter⸗ 
gebenen ein Bein oder einen Arm abnehmen?“ 

„Nein, Senor, wir find glücklicherweiſe alle ſehr 
geſund und wohl.“ 

„So laſſen Sie uns nicht von ſolchen Sachen 
ſprechen, obgleich ich Sie wohl fragen könnte, was Sie 
z. B. zu einer Entfernung der untern Kinnlade ſagen. 
Würde der Patient auch ohne dieſe leben können?“ 

„Das vermag ich nicht zu ſagen. Ich weiß nur, 
daß ich ohne die meinige nicht leben möchte. Was für 
Senores darf ich neben Ihnen begrüßen?“ 

„Zwei deutſche Gelehrte, von denen der eine der 
Diener des andern iſt. Ihre Namen mögen ſie ſelbſt 
ſagen; meine Zunge iſt nicht imſtande, ſie auszu⸗ 
ſprechen.“ 


ei 14 


Morgenſtern nannte feinen und Fritzens Namen 
und wurde mit dieſem nach dem Rancho geführt, den 
der Leutnant bewohnte. Parmeſan geſellte ſich zu den 
Soldaten. Der letztere hatte ſchon einige Male nach 
ihnen ausgeſchaut, da der Peon ſein Verſprechen wirk⸗ 
lich gehalten und ſie angemeldet hatte. 

Die Soldaten beſaßen Pferde und Rinder, die ſie 
am Tage im Freien weiden ließen und abends in das 
Innere des Forts trieben. Die Rinder gehörten mit 
zur Verproviantierung des Ortes. Fleiſch gab es alſo 
genug. Es wurde den Gäſten ſo viel vorgelegt, daß 
ſie es gar nicht zu bewältigen vermochten. 

Im Laufe der Unterhaltung bemerkte der Offizier 
gar bald, wes Geiſtes Kinder er vor ſich hatte. Ein 
Menſch, der in die Pampas oder gar in den Gran Chaco 
ritt, um Knochen auszugraben, mußte ſeiner Anſicht 
nach wenn nicht ganz, ſo doch wenigſtens halb wahn⸗ 
ſinnig ſein. Er ſah ein, daß gegen dieſe Idee nichts zu 
machen ſei; ſo gab er es auf, davon abzuraten und 
fuhr fort: „Sie verweilen jedenfalls einige Zeit hier, 
um Gefährten oder Diener zu erwarten, die noch zu 
Ihnen ſtoßen werden, Senor?“ 

„Nein. Ich habe nur einen Gefährten, das iſt 
Senor Parmeſan, und auch nur einen Diener; das iſt 
Fritze Kieſewetter.“ 

„Wie?“ meinte der Offizier verwundert. „So 
kommt niemand, der Ihnen diejenigen Gegenſtände 
nachbringt, die im Gran Chaco unentbehrlich ſind?“ 

„Niemand. Was ich brauche, das habe ich bereits.“ 

„Sie irren, Seüor. Wovon wollen Sie dann le⸗ 
ben? Haben Sie Mehl?“ 

„Nein.“ 


„Dürrfleiſch, Fett und Speck?“ 


— 145. — 


„Nein.“ | 
„Kaffee und Tee? Kakao und Tabak?“ 
„Nein.“ 

„Pulver, Zündhölzer und alle diejenigen Kleinig⸗ 
keiten, die ein gebildeter Menſch nicht entbehren kann? 
Kleider, Schuhzeug, Scheren und andres Handwerks⸗ 
zeug?“ 

„Meine Kleider habe ich an. Pulver habe ich einen 
ganzen Lederbeutel voll.“ 

„Das iſt nicht genug. Und das andre alles fehlt 
Ihnen auch. Was wollen Sie trinken und eſſen? Ha⸗ 
ben Sie Geſchirr zum Kochen?“ 

„Das brauche ich nicht, da ich nicht kochen werde. 
Trinken werde ich Waſſer, und eſſen werde ich Fleiſch.“ 

„Aber das finden Sie nicht überall.“ 

„O doch. Waſſer gibt's an allen Orten, und Fleiſch 
werde ich mir ſchießen.“ 

„Sind Sie ein guter Schütze?“ 

„Fritze ſchießt ausgezeichnet.“ 

„So will ich Ihnen ſagen, daß es Waſſer nicht 
überall gibt. Jenſeits des Rio Salado kommen Sie in 
Montes impenetrabiles sin agua, in die undurchdring⸗ 
lichen und waſſerloſen Waldungen. Da können Sie 
wochenlang dürſten, ohne einen Schluck Waſſer zu fin⸗ 
den. Und Fleiſch? Wenn Sie kein guter Jäger ſind, 
müſſen Sie verhungern.“ 

„Schwerlich! Ich habe geleſen, daß Hunderte von 
Trappern und Fallenſtellern in Nordamerika von dem 
Fleiſch wilder Tiere leben. Hunger, was der Lateiner 
Fames nennt, werden wir nicht leiden.“ 

„Südamerika iſt nicht Nordamerika. Dann die 
Indianer!“ 

May, Das Vermächtnis des Inka 10 


— 146 — 


„Die werden mir nichts tun, weil ich ihnen nichts 
tue.“ 
„Sie irren. Wir müſſen ihnen zu beſtimmten Zei⸗ 
ten einen Tribut — wir nennen es freilich Geſchenk — 
an Pferden, Rindern und Schafen geben, damit ſie unſre 
Herden nicht lichten und uns unſre Tiere nicht ftehlen. 
Dennoch kommen ſie häufig über die Grenze und trei⸗ 
ben uns das Vieh zu Hunderten von Stücken weg. Da⸗ 
bei nehmen ſie auch Menſchen gefangen und ſchaffen ſie 
nach dem Chaco, um ſie nur gegen Geld freizugeben. 
Sie kommen dann ganz offen in unſre Städte und zu 
unſern Behörden, um das Löſegeld zu fordern.“ 

„So gebt es ihnen nicht, ſondern beſtraft fie!” 

„Das geht nicht, Senor. Würden wir einen ſolchen 
Boten züchtigen, ſo wären die weißen Gefangenen, um 
die es ſich handelt, verloren. Wie nun, wenn Sie auch 
von ihnen feſtgenommen werden?“ 

„Mich bekommen ſie nicht. Ich bin außerordentlich 
ſchlau und vorſichtig, was der Lateiner astutus und 
catus oder prudens nennt.“ 

„Mag ſein. Ich will das nicht unterſuchen. Aber 
Ihre Kleidung! Wie lange wird ſie bleiben, wie ſie 
iſt? In der Wildnis geht ſie bald in Stücke.“ 

„Ich nehme ſie in acht.“ 

„Und die Stiefel. Sie haben ja Gauchoſtiefel ohne 
Sohlen an. Meinen Sie, daß Ihre Füße über die 
Dornen und Stacheln des Gran Chaco kommen 
werden?“ N 

„Ich reite ja!“ 

„Ihr Pferd kann krepieren!“ 

„So haben wir Erſatzpferde. O, ich habe an 
alles gedacht. Uebrigens ſind wir nicht ganz allein 
auf uns angewieſen. Wir werden Freunde finden.“ 


— 147 — 


„Wer iſt das?“ 

„Die Truppe des Vater Jaguar.“ 

„Ah! Kennen Sie dieſen?“ 

„Ja. Wir haben ihn in Buenos Aires ge⸗ 
troffen. Er iſt uns vorangeritten, und wir werden 
ihn einholen.“ 

„Er war hier; er wollte nach der Laguna Po⸗ 
rongos, um dort zwei Tage zu bleiben.“ 

„Dann treffen wir ihn gewiß, denn wenn wir 
morgen zeitig aufbrechen, kommen wir gegen Abend 
bei der Laguna an.“ 

„Weiß er denn, daß Sie vorweltliche Tiere aus⸗ 
graben wollen?“ a 

„Ja. Er hat mir verſichert, daß im Chaco welche 
zu finden ſind.“ 

„Und hat Sie aufgefordert, dorthin ihm nachzu⸗ 
kommen?“ fragte der Offizier ungläubig. 

„Das nicht. Ich bat ihn, mich mitzunehmen; er 
aber verweigerte es mir.“ 

„Das konnte ich mir denken. Er hat andres zu 
tun, als mit Ihnen nach alten Knochen zu ſuchen. 
Und ſo ſind Sie ihm alſo heimlich gefolgt, ohne daß er 
es weißꝰ“ ö 

„Ja, heimlich, was der Lateiner clandestinus, 
auch furtinus und latito nennt.“ 

„Ich befürchte, Sie ſind des Lateiniſchen ſicherer, 
als einer freundlichen Aufnahme von ſeiten dieſes be⸗ 
rühmten Mannes. Kehren Sie um! Graben Sie auf 
der Pampa nach alten Reſten! Das iſt nicht ſo ge⸗ 
fährlich wie eine Reiſe durch den Chaco, wo hinter 
jedem Baum ein Jaguar oder Indianer lauern kann!“ 

„Daß ich mich vor den Indianern nicht fürchte, habe 
ich Ihnen bereits geſagt, und ſollte mir ein Jaguar 


— 18 — 


begegnen, ſo habe ich ein probates Mittel entdeckt, 
jedes wilde Tier, alſo auch jeden Jaguar, ſofort in die 
Flucht zu ſchlagen.“ 

„Ein ſolches Mittel möchte ich kennen lernen!“ 

„Nun, es iſt zwar noch Geheimnis, aber da Sie 
uns ſo freundlich aufgenommen haben, will ich es 
Ihnen mitteilen. Werden Sie von einem wilden Tier 
angefallen, ſo hängen Sie ſich an deſſen Schwanz, bei 
den Lateinern Cauda genannt. Selbſt die blutdür⸗ 
ſtigſte Beſtie wird auf der Stelle die Flucht ergreifen.“ 

Der Leutnant öffnete den Mund, brachte aber 
keine Silbe hervor, ſondern ſah dem Sprecher wortlos 
in das Geſicht. 

„Sie ſtaunen?“ fragte dieſer lächelnd. „Nicht 
wahr, das hatten Sie nicht erwartet?“ 

„Nein, wahrhaftig nicht!“ antwortete der Offi⸗ 
zier, indem er in ein lautes Gelächter ausbrach. 

„Lachen Sie nicht, es iſt wahr.“ 

„Einen Jaguar beim Schwanz faſſen! Welch ein 
Gedanke!“ 

„Ein ſehr pfiffiger, ein ſehr ſchlauer Gedanke! 
Und doch ſo einfach, daß man an das Ei des Ko⸗ 
lumbus erinnert wird. Wenn ich ein Tier hinten habe, 
kann es mich doch nicht vorn beißen.“ 

„Aber der Jaguar wird ſich blitzſchnell herum⸗ 
drehen und Sie zerfleiſchen!“ 

„Fällt ihm ganz und gar nicht ein. Er wird vor 
Angſt brüllen und ſchleunigſt ausreißen. Ich bin 
meiner Sache ſicher und weiß, daß ſo eine Beſtie viel 
ungefährlicher iſt als mancher Menſch, zum Beiſpiel 
dieſer Hauptmann in Santa %6, der uns einſperren 
oder unters Militär ſtecken laſſen wollte.“ 


— 149 — 


Der Leutnant horchte auf und fragte: „Ein Ka⸗ 
pitän in Santa F6? Wann war das?“ 


„Geſtern.“ 


„Zu dieſer Zeit gibt es dort nur einen Kapitän, 
nämlich den Kapitän Pellejo. Der hat Sie einſperren 
laſſen wollen?“ 

„Allerdings.“ 

„Weshalb?“ 

„Eines Mißverſtändniſſes wegen, woran wir nicht 
die mindeſte Schuld gehabt haben. Soll ich es Ihnen 
vielleicht erzählen?“ N 

„Ich bitte Sie ſehr darum!“ antwortete der Ge⸗ 
fragte, indem ſein Geſicht den Ausdruck großer Span⸗ 
nung annahm. 

Der unvorſichtige Gelehrte erzählte das unange⸗ 
nehme Abenteuer. Im Laufe ſeines Berichtes nahm 
das Geſicht des Offiziers einen immer ernſteren Aus» 
druck an, und zuletzt ſagte er in einem viel weniger 
freundlichen Ton als bisher: „Das tut mir leid, 
Senor. Kapitän Pellejo iſt mein nächſter Vorge⸗ 
ſetzter, und ich muß Ihnen ſagen, daß er ſich heut in 
Fort Uchales befindet und morgen hierher kommen 
wird. Glücklicherweiſe werden Sie uns bei ſeinem 
Eintreffen ſchon verlaſſen haben. Hüten Sie ſich, ihm 
zu begegnen!“ 

„Haben Sie keine Sorge um mich! Ich fürchte 
ihn nicht.“ 

„Ob Sie Veranlaſſung haben, ihn zu ſcheuen oder 
nicht, muß mir gleichgültig ſein. Ich bin ihm als ſein 
Untergebener für alles, was ich tue, verantwortlich, 
und wenn er erfährt, daß ich Sie hier aufgenommen 
habe, wird mich ſein Zorn treffen. Sie ſollten hier 


— 150 — 


bei mir übernachten; nun aber bin ich gezwungen, 
Ihnen einen andern Rancho anzuweiſen.“ 

Er ſtand auf und ging hinaus. Nach kurzer Zeit 
kam an ſeiner Stelle der Chirurg und meldete, daß er 
den Seüores ihre Schlafplätze zu zeigen habe. 

„Kommt der Leutnant denn nicht wieder?“ fragte 
Morgenſtern. ö 

„Nicht eher wohl, als bis Sie ſich entfernt haben, 
Senor. Er war plötzlich ganz anders geworden und 
ſchien zornig auf Sie zu ſein. Haben Sie ſich mit 
ihm gezankt?“ 

„Nein; aber meine Erzählung, Commemoratio 
oder Oratio genannt, ſchien ihm nicht zu gefallen. 
Legen wir uns ſchlafen, um morgen mit dem Früheſten 
aufzubrechen!“ 

Der Chirurg führte ſie nach einem andern Rancho, 
den der Bewohner verlaſſen hatte, um ihnen Platz zu 
machen. Kein Menſch kümmerte ſich um ſie. Ein 
Talglicht in einen kleinen Kürbis geſteckt, erleuchtete 
die aus aufeinander gelegten Raſenſtücken gebildete 
Hütte. Dürres Gras war das Lager, doch ſchliefen die 
drei während der ganzen Nacht ſo gut, als ob ſie auf 
Daunen lägen. Beim Morgengrauen waren ſie ſchon 
wach. Die Soldaten ſchliefen noch. Sie fingen ihre 
Pferde ein, ſattelten ſie, öffneten den während der 
Nacht verſchloſſen geweſenen Eingang und ritten davon, 
ohne Abſchied zu nehmen. 

Fritze kannte die Richtung genau, in welcher die 
Laguna Porongos von Fort Tio liegt, und der Chirurg 
war auch ſchon dort geweſen. Darum ſtand nicht zu 
befürchten, daß man ſich verirren werde. 

Das Reiten kam dem kleinen Gelehrten heute viel 
leichter vor als geſtern. Er hielt es aus bis Mittag; 


==» jbL we 


dann aber mußte man ausruhen, nicht nur der Men⸗ 
ſchen, ſondern auch der Pferde wegen, die man graſen 
ließ. Waſſer gab es nicht; aber das Gras war ſo friſch 
und grün, daß die Pferde nicht zu trinken brauchten. 


Nun hatten die Herren Hunger bekommen, und es 
ſtellte ſich heraus, daß die Warnungen des Leutnants 
geſtern abend doch nicht aus der Luft gegriffen waren. 
Man hatte während des ganzen Vormittags außer 
einigen Geiern kein Tier, am allerwenigſten aber ein 
jagd⸗ und eßbares geſehen. Glücklicherweiſe beſaß der 
Chirurg ein großes Stück Fleiſch, das er geſtern kluger⸗ 
weiſe von einem Soldaten eingehandelt hatte. Er war 
ſo rückſichtsvoll, es in drei gleichgroße Teile zu zer⸗ 
ſchneiden und zwei davon ſeinen Reiſegenoſſen abzu⸗ 
laſſen, allerdings nur gegen bare Bezahlung, ein Um⸗ 
ſtand, der ihnen ſagte, was für einen Kameraden ſie 
an ihm haben würden. 


Man brannte von vertrocknetem Graſe ein Feuer⸗ 
chen an, um das Fleiſch zu braten. Es reichte gerade 
aus, um die Männer zu ſättigen. Nachdem man dann 
wieder aufgebrochen war, hielt man die Augen offen, 
ob ſich nicht ein Wild ſehen laſſe. Fritze und der Chir⸗ 
urg hielten ihre Gewehre ſchußbereit. Die Sorge um 
die Nahrung hatte begonnen, und man wollte ſich 
heute doch nicht hungrig ſchlafen legen. 

Der Nachmittag verging, und es wollte Abend 
werden, ohne daß man eine Jagdbeute erlangt hatte. 
Der Hunger ſtellte ſich wieder ein. Da rief plötzlich der 
Chirurg erfreut aus: „Ich hab's, ich hab's geſehen! 
Wir werden zu eſſen bekommen.“ 

„Was denn? Was haben Sie geſehen?“ fragte 
der Gelehrte. 


— 12 — 


„Ein Vizceacha, ein Pampaskaninchen. Wir gra⸗ 
ben es aus.“ 
„Wo?“ 


„Da drüben links. Es kam aus ſeinem Bau, ver⸗ 
ſchwand aber ſogleich wieder, als es uns erblickte.“ 


Das Vizceacha iſt größer als unſer wildes Kanin⸗ 
chen; es iſt ihm zwar ähnlich, weshalb es eben Pam⸗ 
paskaninchen genannt wird, gehört aber nicht zu den 
Haſen, ſondern zu den Wollmäuſen. Man ißt es nur 
in dem Falle, daß man hungert und nichts andres hat. 
Der Bau dieſes Tieres iſt ein flachgewölbter, in der 
Mitte geöffneter Hügel, der ſich ſtets nur in lehmiger 
Gegend befindet. Es wohnen meiſt mehrere Familien 
bei einander, weshalb der Bau außer dem Hauptein⸗ 
gang noch mehrere Schlupflöcher hat. 

So war es auch hier. Es gab vier Löcher, die 
ſorgfältig verſtopft wurden. Während die Pferde ſich 
im Graſe gütlich taten, gruben Morgenſtern und der 
Chirurg den Hügel auf, und Fritze ſtand mit ange⸗ 
legtem Gewehr bereit, ſofort zu ſchießen, falls eines der 
Vizeachas ſich durch ein verſchloſſenes Loch die Flucht 
erzwingen wollte. Das war grundfalſch. Ein erfah⸗ 
rener Jäger hätte es ganz anders angefangen. Den⸗ 
noch aber hatte es Erfolg. Kaum waren fünf Minuten 
vergangen und die Spaten einige Fuß tief in den Bo⸗ 
den eingedrungen, ſo ſchoß Fritze zweimal hinterein⸗ 
ander und ſtieß dann einen Freudenruf aus. Die 
beiden andern blickten von der Arbeit auf und ſahen, 
daß er zwei Vizceachas erſchoſſen hatte. Das war 
genug. Die Spaten wurden den Packpferden wieder 
aufgeladen, die Kaninchen, welche ſehr groß und fett 
waren, dazu, und dann ritt man weiter. 


— 18 — 


Bald wurde das Gras faftiger und der Boden 
weicher als bisher. Im Norden zeigten ſich einzelne 
Bäume, ein ſicheres Zeichen, daß man ſich an der La⸗ 
gung Porongos befand. Dieſer Name bedeutet ſoviel 
wie See oder Sumpf der wilden Zitronenbäume, und 
ſolche Bäume waren es, die man jetzt vor ſich hatte. 
Die Sonne ſtieg eben hinter dem Horizont hinab, 
als die drei Reiter das Waſſer der Laguna vor ſich 
glänzen ſahen. 

Sie waren zuletzt einer Fährte von ſo zahlreichen 
Reitern gefolgt, daß ſie annehmen mußten, die Spur 
der Truppe des Vater Jaguar vor ſich zu haben. 
Gern wären ſie weiter geritten; aber es wurde ſchnell 
dunkel, und ſo hielten ſie es für geraten, anzuhalten und 
Lager zu machen. 

Sie ſtiegen alſo ab und entſattelten ihre Pferde. 
Sie banden ihnen mit den Laſſos die Vorderbeine in 
der Weiſe zuſammen, daß die Tiere zwar weiden, aber 
nur kleine Schritte machen konnten, um ſich nicht weit 
zu entfernen. Die Pampaspferde leben in Herden und 
bleiben ſtets beiſammen; daher ſtand nicht zu befürchten, 
daß man ſie früh nach verſchiedenen Richtungen zu 
ſuchen habe. 

Dann wurde dürres Holz zum Feuer geſammelt. 
Die wilden Zitronenbäume lieferten genug davon. 
Als die Flamme luſtig flackerte, wurden die beiden 
Vizcachas abgezogen und ausgeſchlachtet. Sie gaben 
genug Fleiſch für heute abend und für morgen früh. 
Waſſer war freilich nicht vorhanden, da das ſalzhaltige 
der Laguna nicht zu genießen war. 

Nach dem Eſſen wickelten die drei ſich in ihre 
Ponchos und legten ſich am Feuer zum Schlafen nieder. 
Man hatte heute wieder über hundert Kilometer zurück⸗ 


— 154 — 


gelegt, und war alſo ſo ermüdet, daß trotz der ſcharfen 
Luft, die während der Nacht wehte, keiner erwachte. 

Am Morgen fand es ſich, daß die Pferde ganz in 
der Nähe geblieben waren. Der Reſt des Fleiſches 
wurde gebraten und verzehrt; dann brach man 
wieder auf. 

Die Reiter befanden ſich auf der öſtlichen Seite 
der Laguna, in die von Oſten her der Rio Dulce fließt. 
Dieſer Name wurde dem Fluſſe gegeben, weil er an⸗ 
fangs ein wohlſchmeckendes, ſüßes Waſſer führt. Nach⸗ 
dem er aber durch die Salzwüſte gefloſſen iſt, hat er ſo 
viel Salz angenommen, daß ſein Waſſer im untern 
Teile ſeines Laufes ungenießbar geworden iſt. 

Die geſtrige Spur führte an der Lagune hin und 
dann ein Stück davon ab. Dort hatte man Halt und 
jedenfalls auch Lager gemacht, denn der Boden war 
zerſtampft; es gab mehrere ausgekohlte Feuerſtätten 
und das Gras war in einem weiten Umkreis von den 
weidenden Pferden niedergetreten. Aber wann man 
hier ausgeruht hatte, das zu erraten oder gar zu be⸗ 
ſtimmen, dazu waren die drei nicht erfahren genug. 
Wald» oder Prärieläufer war keiner von ihnen. 

Von dieſer Stelle aus führte die Fährte in nord⸗ 
öſtlicher Richtung weiter. Der Chirurg blieb halten 
und fagte in bedenklichem Ton: „Seüores, meinen Sie 
wirklich, daß die Spuren von den Leuten des Vater 
Jaguar herrühren?“ 

„Ja,“ antwortete Fritze Kieſewetter. „Er hat 
vierundzwanzig Mann bei ſich, und ungefähr ſo viele 
ſind es geweſen, welche hier geritten ſind.“ 

„Das iſt wahr; aber der Vater Jaguar will nach 
dem Gran Chaco, der von hier aus im Norden und 


— 155 — 


Nordweſten liegt, und dieſe Spur zeigt nach Nord⸗ 
oſten.“ 

„So wird er wohl einen triftigen Grund gehabt 
haben, von der geraden Richtung abzuweichen.“ 

„Hm! Euer Gnaden ſchlagen alſo vor, daß wir 
dieſer Fährte folgen?“ 

„Ja. Ich denke nicht, daß ich mich irre. Der 
Vater Jaguar iſt ſicherlich nach dieſer Laguna geritten. 
Wir haben die einzige Spur vor uns, die es hier gibt, 
folglich iſt ſie die ſeinige. O, ich verſtehe mich darauf, 
denn ich habe früher einmal eine Indianergeſchichte ge⸗ 
leſen, worin ſehr viel von Stapfen, Spuren und Fähr⸗ 
ten die Rede war.“ 

Sie ritten alſo auch nach Nordoſt. Der Weg 
führte über eine ebene Fläche, auf der nichts als Him⸗ 
mel und Gras zu ſehen war. Die Spuren waren ganz 
deutlich zu verfolgen. Gegen Mittag fanden ſie eine 
klare Quelle, wo der Trupp, den ſie für denjenigen des 
Vater Jaguar hielten, gelagert hatten. Sie ſtiegen 
auch ab, um endlich einmal ſich ſatt zu trinken und dann 
auch ihre Pferde Waſſer nehmen und ruhen zu laſſen. 
Nach einer guten Stunde wurde wieder aufgebrochen. 

Doktor Morgenſtern hatte einen kleinen Kompaß 
an ſeiner Uhrkette hängen. Dieſen zu Rat ziehend, 
ſah er, daß die Fährte eine immer mehr öſtliche Rich⸗ 
tung nahm. Sie lief nicht mehr nach Nordoſt, ſon⸗ 
dern ſchon nach Oſtnordoſt. Das fiel dem Chirurgen 
noch mehr auf. Er ſchüttelte den Kopf und ſagte: 
„Wenn wir in dieſer Weiſe weiterreiten, kommen wir 
im ganzen Leben nicht nach dem Chaco. Wenn ich mich 
nicht irre, ſo reiten wir auf diejenige Gegend des Rio 
Salado los, wo Paſo de las Canas oder gar Paſo 
Quebracho liegt. Sollten wir den Vater Jaguar 


— 156 — 


wirklich vor uns haben? Ich habe große Luſt, umzu⸗ 
kehren oder mich nach links zu wenden.“ 

„Und ich reite dorthin, wo die Spur hinzeigt,“ 
antwortete Morgenſtern. „Wo Spuren ſind, da findet 
man Menſchen; und wo Menſchen ſind, da gibt es 
etwas zu eſſen.“ 

Dieſe Schlußfolgerung machte einen guten Ein⸗ 
druck auf Don Parmeſan, denn er meinte, indem er 
zuſtimmend mit dem Kopfe nickte: „Das iſt freilich 
wahr. Wir werden heute vielleicht hungern müſſen, 
denn es hat ſich noch kein einziges Tier ſehen laſſen, 
dieſe Geier ausgenommen, die überall ſind und leider 
nicht verzehrt werden können. Reiten wir alſo der 
Fährte nach!“ 

Wieder ging es weiter. Es war um die Mitte des 
Nachmittags, da zeigte der Chirurg mit der Hand ge⸗ 
radeaus und ſagte in leiſem Ton, als ob er befürchtete, 
gehört zu werden: „Un avestruz, un avestruz, — 
ein Strauß, ein Strauß!“ 

Die beiden andern blickten in die angegebene 
Richtung und ſahen wirklich einen Strauß, der, aller⸗ 
dings eine bedeutende Strecke entfernt, den Boden eifrig 
mit dem Schnabel bearbeitete und die Reiter nicht be⸗ 
merkte, da er ihnen den Rücken zukehrte. 

„Das gibt Fleiſch, das gibt Fleiſch!“ fuhr Don 
Parmeſan fort. „Wir werden unſern Hunger ſtillen.“ 
| „Aber erſt dann, wenn wir den Vogel haben,“ 

meinte Fritze. „Ich habe gehört, daß der Strauß ſehr 
ſchwer zu jagen iſt.“ 

„Da hat man Euer Gnaden allerdings recht be⸗ 
richtet. Er wird uns entgehen.“ 

Da legte der Doktor den Finger auf die Naſe und 
ſagte in gewichtigem Tone: „Seüor, ich hab's, ich hab's! 


— 157 — 


Die Wiſſenſchaft iſt's, die dem Menſchen in jeder Ver⸗ 
legenheit zu Hilfe kommt. Die lehrt, daß der Strauß 
den Kopf in die Erde ſteckt; veranlaſſen Sie ihn alſo, 
den Kopf in die Erde zu ſtecken, ſo ſieht er uns nicht, 
und wir können über ihn kommen wie David über die 
Philiſter!“ 

„Senor,“ fuhr Parmeſan auf, „wollen Sie ſich über 
mich luſtig machen?“ 

„Fällt mir nicht ein! Ich ſpreche im vollen 
Ernſt.“ 

„So reiten Sie doch hin, und bitten Sie ihn, den 
Kopf zu verſtecken.“ 

„Das würde vorausſichtlicherweiſe den entgegenge⸗ 
ſetzten Erfolg haben.“ 

„Das denke ich auch. Wie ſoll man ihn veran⸗ 
laſſen, den Kopf zu verbergen?“ 

„Das iſt Ihre Sache, Seüor. Wenn Sie kein 
Mittel kennen, meinen Vorſchlag auszuführen, ſo iſt 
das nicht meine Sache, obgleich ich es tief beklage, da 
wir nun doch noch Hunger leiden werden.“ 

Parmeſan wollte eine noch derbere Antwort ge⸗ 
ben, aber Fritze kam ihm zuvor: „Streiten Sie ſich 
nicht, Senores! Ich glaube, einen guten Gedanken zu 
haben. Glauben Sie, Seßor Parmeſan, daß — —“ 

„Don Parmeſan, bitte!“ unterbrach ihn der andre 
ſtolz. 

„Gut! Alſo, Don Parmeſan, glauben Sie, daß 
der Strauß vor einem Pferde flieht?“ 

„Nein. Es kommt im Gegenteil vor, daß man 
graſende Strauße mitten unter weidenden Pferde⸗ und 
Rinderherden findet.“ 

„Schön! Ich ſteige ab und lege mich mit meiner 
Flinte hier in das Gras. Sie beide reiten in einem 


— 158 — 


weiten Bogen nach rechts und links, über den Strauß 
hinaus und verſuchen, ihn mir zuzutreiben. Iſt das 
Glück uns günſtig, ſo iſt es möglich, daß ich den Vogel 
vielleicht doch erlege.“ 

Dieſer Vorſchlag fand Anklang und wurde ſofort 
ausgeführt. Morgenſtern ritt rechts⸗ und Parmeſan 
linksab, in einem Bogen in den Campo hinaus, um 
dann den Vogel zu veranlaſſen, ſeine Flucht auf Fritze 
hin zu nehmen. 

Der amerikaniſche Strauß oder Nandu wird mit 
der Bola, die man ihm um die Beine wirft, gefangen. 
Zu ſchießen iſt er nicht leicht, weil der Jäger, um 
ſchießen zu können, ſein Pferd anhalten muß und der 
ſchnelle Vogel, bis das Pferd ruhig ſteht, gewöhnlich 
ſchon außer Schußweite gekommen iſt. 

Um keine Zeit zu verlieren und dem Vogel den 
Weg möglichſt bald abzuſchneiden, trieben die beiden 
Reiter ihre Tiere zur größten Eile an. Der Nandu 
ſchien für nichts außer ſeiner Beſchäftigung Augen zu 
haben. Er hackte mit dem Schnabel und ſcharrte mit 
den kräftigen, dreizehigen Füßen den Boden und drehte 
ſich dabei jetzt immerwährend um feine eigene Achſe, 
ohne auf die beiden Reiter draußen oder das hier 
ruhig weidende ledige Pferd achtzugeben. 

„Ick jlaube jar, er will Eier lejen und baut ſich 
ſein Neſt dazu!“ brummte der im a liegende Fritze 
vor ſich hin. 

Jetzt waren die Reiter hinter De Nandu ange⸗ 
langt und wendeten ihm ihre Pferde zu. Er war ſo 
beſchäftigt, daß er ſie erſt bemerkte, als ſie höchſtens 
noch zweihundert Ellen von ihm entfernt waren. Da 
machte er einen weiten Satz und rannte fort, gerade 
vor ihnen her und auf die Stelle zu, wo Fritze lag. 


— 159 — 


Nun ſah er das Pferd, ſtutzte, ſetzte aber dann ſeine 
Flucht in der eingeſchlagenen Richtung fort. Das 
Pferd ſchien ihm nicht gefährlich zu ſein. 

Fritze fühlte, daß ihm das Herz vor Freude höher 
ſchlug. Er ſtemmte den linken Ellbogen feſt auf die 
Erde, um einen guten Halt für ſein Gewehr zu haben, 
legte an und zielte. Als der Vogel noch ungefähr 
ſechzig Sprünge entfernt war, drückte er ab. Der 
Schuß krachte; der Nandu tat einen Sprung kerzen⸗ 
gerade in die Höhe, taumelte dann einige Male hin und 
her und fiel dann nieder. 

Fritze ſprang jubelnd auf, nahm ſein Pferd beim 
Zügel und führte es zu der Stelle hin, wo er mit den 
beiden andern zu gleicher Zeit anlangte. 

„Es iſt gelungen, vortrefflich gelungen!“ rief 
Don Parmeſan, indem er vom Pferd ſprang und zu 
dem Vogel trat, um ſich niederzubücken. 

Aber der Nandu war noch nicht ganz tot. Er 
nahm ſeine letzte Kraft zuſammen und verſetzte dem 
Chirurgen einen ſo kräftigen Schnabelhieb, daß er ihm 
den Poncho zerriß und ein Stück Fleiſch aus dem 
Oberarm hackte. 

„O Himmel, o Hölle!“ ſchrie der Verwundete, in⸗ 
dem er zurück ſprang. „Dieſer Teufel lebt ja noch! 
Er hat mir eine Wunde beigefügt, woran ich höchſt 
wahrſcheinlich ſterben werde!“ 

„Sie find ſelbſt ſchuld, Senor,“ antwortete Fritze. 
„Man nähert ſich einem ſo kräftigen Tiere nicht eher, 
als bis man genau weiß, daß es tot iſt.“ 

Er hielt dem Nandu den zweiten, noch nicht abge⸗ 
ſchoſſenen Lauf nahe an den Kopf und jagte ihm die 
Ladung hinein. Dann wendete er ſich zu dem Chir⸗ 
urgen, um zu ſehen, ob dieſer leicht oder ſchwer ver⸗ 


— 160 — 


wundet ſei. Der Biß war nicht gefährlich. Der Mus⸗ 
kel blutete zwar heftig, doch fehlte nicht mehr als ein 
walnußgroßes Stückchen Fleiſch, das der Vogel noch im 
Schnabel hatte. Fritze nahm es heraus, hielt es dem 
„Don“ hin und ſagte: „Hier haben Sie, was Ihnen 
fehlt, Senor. Euer Gnaden find ein fo berühmter und 
geſchickter Chirurg, daß es Ihnen nicht ſchwer werden 
kann, dieſes Stück Rindfleiſch wieder anwachſen zu 
laſſen.“ 

„Rindfleiſch?“ fuhr der Angeredete auf, emſig be⸗ 
ſchäftigt, die Blutung zu ſtillen. „Ich hoffe, daß Sie 
dieſes Wort zurücknehmen, ſonſt müßte ich mich mit 
Euer Gnaden auf Leben und Tod ſchießen.“ 

„Gut, ich nehme es zurück und bitte um Entſchul⸗ 
digung. Wird das Stück wieder anwachſen?“ 

„Es wäre mir eine Leichtigkeit, es einzuſetzen, fo 
daß es haften bleibt; aber dazu bedürfte ich meiner 
beiden Hände. Wollen Sie mir helfen?“ 

„Gern.“ 

„So drücken Sie das Stückchen Fleiſch feſt auf die 
Wunde, aber ſo, wie es vorher im Muskel gelegen hat, 
und ſchlingen Sie mir dann meine Schärpe ſo feſt wie 
möglich um den Arm.“ 

Morgenſtern half auch mit, und ſo war die kleine 
Wunde ſehr bald verbunden. Nun hatte man Zeit, 
den Vogel zu betrachten. Es war eine Henne, wohl 
anderthalb Meter lang und gegen ſechzig Pfund ſchwer. 
Sie wurde auf das eine Packpferd geladen und dann 
ſtiegen die glücklichen Jäger wieder auf, um den 
unterbrochenen Ritt fortzuſetzen. Als ſie an der 
Stelle, wo der Nandu zuerſt geſehen worden war, vor⸗ 
überkamen, ſahen fie, daß er wirklich im Begriff ge 
ſtanden hatte, den Boden rund und ſchüſſelförmig 


— 161 — 


auszuhöhlen, jedenfalls um Eier zu legen, gar nicht 
weit entfernt von einer ſo ſichtbaren Menſchenfährte, 
kein gutes Zeugnis für die Intelligenz der ſtrauß⸗ 
artigen Vögel! 

Nach einem kurzen Ritt wurden die drei Reiter 
von der Spur wieder mehr nordöſtlich und bald darauf 
gerade nördlich geführt. 

„Nun, ſind Euer Gnaden jetzt zufrieden?“ fragte 
Fritze den Chirurgen. „Wir befinden uns nun in der 
Richtung, die gerade nach dem Chaco führt.“ 

„Hier iſt's ſchlimmer als vorher,“ antwortete der 
Gefragte mißmutig, da ſein Arm ihn ſchmerzte. „Auf 
dieſe Weiſe kommen wir nach dem Monte de los palos 
Negros, und von dieſer Waldung habe ich gehört, daß 
ſie faſt undurchdringlich iſt. Hätten wir uns vorher 
mehr links gehalten, ſo würden wir bis zum Rio Sa⸗ 
lado und noch darüber hinaus ſtets freies, offenes 
Land haben.“ 

„Sind Sie denn wirklich ſchon über dieſen hin⸗ 
ausgekommen?“ 
„Zweifeln Sie etwa daran?“ 

Dieſe Frage ſollte unwillig und zurechtweiſend 
klingen, hatte aber einen ſo unſichern Ton, daß man 
meinen ſollte, er hätte lieber mit einem aufrichtigen 
Nein geantwortet. 

Bald darauf gab es einen Anblick, der ganz ge⸗ 
eignet war, die drei hungrigen Reiter zu elektriſieren. 
Sie ſahen vor ſich, doch rechts von der eingeſchlagenen 
Richtung, ein Rudel der kleinen Pampashirſche äſen. 
Ohne daß einer den andern dazu aufgefordert hätte, 
nahmen ſie ihre Pferde nach rechts herüber und jagten 
auf das Wild zu, ohne ſich zu ſagen, daß es ganz un⸗ 

May, Das Vermächtnis des Inka 11 


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möglich ſei, eins der windesſchnellen Tiere zum Schuſſe 
zu bekommen. 

Der Hirſch ſah die Gefahr und eilte mit ſeinem 
Gefolge fort, nicht allzu raſch, da er wohl wußte, daß 
ein Pferd ihn nicht erreichen könne. Eine Zeitlang ließ 
er die gleiche Entfernung zwiſchen ſich und den Ver⸗ 
folgern liegen; aber als dieſe ihre Pferde zur ſchnellſten 
Eile antrieben, griff auch er weiter aus, und ſeine Fa⸗ 
milie folgte ihm mit graziöſer Leichtigkeit, die Jäger 
immer weiter und weiter hinter ſich zurücklaſſend. 

Dennoch ſetzten dieſe die Verfolgung fort, bis ein 
dunkler Streifen Waldes am Horizont auftauchte, dem 
der Hirſch zujagte. Bald darauf verſchwand das Rudel 
zwiſchen den Bäumen. Die Reiter hielten in einiger 
Entfernung von dem Walde an. An deſſen Rand 
glänzte ein Waſſer. 

„Der Braten iſt uns entgangen,“ ſeufzte Don 
Parmeſan. „Ein Hirſchrücken iſt etwas Beſſeres als 
ein Stück zähes Straußenfleiſch. Haben die Seüores 
ſchon einmal welches gegeſſen?“ 

„Ich nicht,“ antwortete der Doktor. „Wie 
ſchmeckt es?“ | | 

„Wie Stiefelſohle. Man kann es nicht beißen und 
muß es ganz verſchlingen. Nur der Hunger treibt es 
hinein.“ N 

„Bringt man es denn nicht weich, indem man es 
in Butter, lateiniſch Butyrum, ſchmort? Wir müſſen 
den Vogel in ſeinem eigenen Fett braten.“ 

„Fett? Straußenfett? Meinen Sie wirklich, daß 
ein Strauß auch nur eine Spur von Fett hat?“ 

„Ja, das meine ich. Die Wiſſenſchaft beweiſt, daß 
in jedem tieriſchen Körper Fett, Adeps genannt, vor⸗ 
handen iſt. Da nun der Strauß einen ſolchen Körper 


— 163 — 


beſitzt, ſo bezweifle ich es nicht, daß wir bei einiger 
Aufmerkſamkeit wenigſtens eine bemerkbare Spur 
deſſen finden, was ich ſoeben mit Adeps bezeichnet 
habe.“ i 

„Und wenn Sie den ſchweren Vogel in dieſer 
‚Spur‘ von Fett braten, wird er dennoch trocken bleiben 
wie die Rückenlehne eines Strohſeſſels. Laſſen wir 
das! Wir haben andres zu bedenken. Was tun wir 
jetzt? Wir ſind von unſrer Fährte abgekommen. 
Suchen wir ſie wieder auf?“ | 

„Dazu iſt's zu ſpät,“ antwortete Fritze. „Es wird 
gleich Abend ſein. Hier haben wir Gras für die Pferde 
und dort am Waldesrande Waſſer für Menſch und Tier. 
Es wird wohl geraten ſein, hier zu bleiben und die 
Fährte morgen früh wieder aufzuſuchen.“ 

Der gute, kleine Mann bedachte nicht, daß das 
niedergetretene Gras ſich während der Nacht aufrichten 
und die Spur dann am Morgen nicht mehr zu ſehen 
ſein werde. 

Sie ritten vollends bis zum Walde hin, wo ſie 
von den Pferden ſtiegen und dieſe von dem Sattel⸗ und 
Zaumzeuge befreiten. Der Mald . er/ ſeit diet. Er 
beſtand hier an dieſer Stelle aus Quebrachos, hohem 
Kaktus, Miſtol, Chañars, Vinals und andern Legumi⸗ 
noſen. Zwiſchen den erſten Bäumen drang ein Quell 
aus dem Boden und floß vielleicht zehn Ellen weit in 
eine Vertiefung, wo er einen kleinen hellen Weiher 
bildete. Dort lagerten ſich die Reiſenden. Holz zu 
einem Feuer war genug vorhanden. Bald loderte es 
hoch auf und nun machten ſich die drei an die Zube⸗ 
reitung des heutigen Bratens. Es wäre unmöglich ge⸗ 
weſen, den Strauß zu rupfen wie einen kleineren Vogel. 
Man zog ihm das Fell mitſamt den Federn ab wie 


— ung 


— 164 — 


einem behaarten Tiere. Dann wurde er aufgebrochen. 
Der Magen enthielt Pflanzenüberreſte, Sand, Steine, 
einen hörnernen Meſſergriff und einen eiſernen Reit⸗ 
ſporn mit talergroßem Rade. Der Strauß verſchlingt 
eben alles, was ihm in die Augen ſticht. Das Fleiſch 
ſah gar nicht übel aus und ließ ſich auch ganz leidlich 
ſchneiden. Bei der weiteren Zerlegung ſtellte es ſich 
heraus, daß der Vogel allerdings nötig gehabt hatte, 
ein Neſt zu formen; es waren Eier vorhanden, eines im⸗ 
mer kleiner als das andre, von der Größe einer Erbſe 
bis zu derjenigen einer Männerfauſt. Die größeren 
wurden in heiße Aſche gelegt, um zu röſten, und ſchmeck⸗ 
ten dann gar nicht übel. Dann verſuchte man das 
Bruſtfleiſch, als das zarteſte, wie Aſado vom Rind zu 
behandeln. Als Fritze das erſte Stück in den Mund 
nahm und es zwiſchen den Zähnen probiert hatte, 
ſpuckte er es wieder heraus und ſagte zu ſeinem Herrn: 
„Pfui! Dat iſt wirklich die reine Stiebelſohle, ohne 
Kraft und Jeſchmack und nicht zu kauen. Verſuchen 
Sie's doch mal!“ 

Dem Gelehrten ging es nicht anders. Das Fleiſch 
war ſo zöberdak man es trotz allen Hungers nicht ge⸗ 
nteßen konnte. 

„Klopfen wir es!“ meinte Fritze. 

Er legte ein Stück auf den Boden und bearbeitete 
es mit dem Gewehrkolben, um es mürbe zu machen. 
Es fühlte ſich jetzt weicher an, wurde aber im Feuer 
härter als das vorige Stück. 

„Dat iſt auch ſo 'ne falſche Berechnung in die 
Natur!“ räfonnierte er. „Rebhühner und Krammets⸗ 
vögel, die ſo delikat ſind, wachſen klein, und diejenigen 
Vögel, welche die jewünſchte Iröße beſitzen, ſind nicht 
zu jenießen. Mir dauert mein Pulver, das ick ver⸗ 


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ſchoſſen habe. Hätte ick die harte Natur dieſes Straußes 
jekannt, ſo hätte ick mich ſeinen Tod nicht auf mein 
Jewiſſen jeladen. Wat eſſen wir nun?“ 

Es raſchelte hinter dem Sprecher. Er drehte ſich 
um und ſah ein langes, eidechſenartiges Tier am 
Stamm des nächſten Baumes. 

„Still!“ flüſterte er. „Rührt euch nicht. Wenn 
es glückt, gibt es doch noch einen Braten.“ 

Er hatte ſein Gewehr wieder geladen. Es enthielt 
einen Schrot⸗ und einen Kugelſchuß. Er nahm es, 
hinter ſich greifend, in die Hand und zog es langſam 
nach vorn. Das Feuer war für das Tier eine unge⸗ 
wöhnliche Erſcheinung. Es ſaß am Stamme des Bau⸗ 
mes, langgeſtreckt wie eine Schlange, ſich mit den 
Füßen feſthaltend, und ſtarrte mit hellen Augen in die 
Flamme. Da riß Fritz fein Gewehr mit einem plötz⸗ 
lichen Ruck in den Anſchlag empor, zielte kurz und 
drückte ab. Der Schuß krachte; das Tier war weg. 

„Was wars? Was gab's?“ fragte Morgenſtern, 
welcher ebenſo wie der Chirurg mit der Seite gegen den 
Baum geſeſſen hatte. 

„Einen Iguan,“ antwortete Fritz. 

„Iguan?“ rief Parmeſan, indem er aufſprang. 
„Einen Iguan! Das iſt ja die größte Delikateſſe, die es 
auf Erden gibt! Haben Sie ihn getroffen, Senor? 
Ich hoffe, ja?“ 

„Weiß es nicht. Wollen ſehen.“ 

Er ſtand auf, um nach dem Baume zu gehen. 

„Nehmen Sie ſich in acht!“ warnte der Chirurg. 
„Die Iguans ſind fürchterlich biſſig. Wenn er noch 
nicht tot iſt, dürfen Sie ihn ja nicht anfaſſen.“ 

Als Fritz zum Baum kam, ließ er einen Ruf der 
Freude hören. Das Tier war doch getroffen worden. 


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Es lag unten auf dem Boden und bewegte ſich nicht. 
Dennoch war der Deutſche ſo vorſichtig, es nicht eher 
anzugreifen, als bis er ihm einige kräftige Kolbenhiebe 
auf den Kopf gegeben hatte. Don Parmeſan kam her⸗ 
bei, um den Iguan nach dem Feuer bringen zu helfen. 

Der Iguan, auch Leguan genannt, iſt eine große 
ſüdamerikaniſche Baumeidechſe mit einem breiten Kopf, 
an den Rändern gekerbten Zähnen, großem Stachel⸗ 
kamm auf dem Rücken und einem ſehr langen Schwanz. 
Die Beine ſind ungemein kräftig und haben ſehr lange 
Zehen; unter der Kehle hängt ein häutiger Sack. Die 
Iguane ſchwimmen ausgezeichnet, und klettern unge⸗ 
mein behend auf Bäumen und nähren ſich von Vogel⸗ 
eiern, Inſekten, jungen Baumſproſſen und ſaftigen 
Blättern und Blüten. Sie ſind bei Gegenwehr mutig 
und außerordentlich biſſig. Der gemeine Leguan wird 
anderthalb Meter lang, wovon allerdings ein Meter 
allein auf den Schwanz zu rechnen iſt. Man ſtellt ihm 
ſehr eifrig nach, da er ein beſonders wohlſchmeckendes, 
zartes und leicht verdauliches Fleiſch beſitzt. 

Das Tier hat ein höchſt häßliches Ausſehen, dar⸗ 
um rief Morgenſtern, als er es erblickte, aus: „Ja, 
das iſt ein Iguan; ich ſehe es. Aber wollen Sie dieſes 
Viehzeug wirklich eſſen?“ 

„Natürlich!“ antwortete Don Parmeſan. „Es gibt 
nichts Feineres als Iguanfleiſch, gleich in der Haut, 
in den Schuppen gebraten. Wiſſen Sie das noch nicht?“ 

„Welch eine Frage! Die Wiſſenſchaft lehrt, daß 
der Iguan Fleiſch beſitzt, und die Erfahrung fügt hinzu, 
daß es gegeſſen wird. Mir aber kommen Sie ja nicht 
mit einem ſolchen Braten! Ich will doch lieber mit 
den Chineſen geſchmorte Regenwürmer, Trepang und 


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Holothurien verzehren als meine Zähne an einer fol 
chen Echſe verſuchen.“ 

„Euer Gnaden laſſen es ſicher nicht liegen. Ich 
werde mir ſofort ein Stück abſchneiden.“ 

Er zog das Meſſer, um dies zu tun. Da aber 
hielt ihm Fritze die Hand abwehrend entgegen und 
ſagte: „Halt, Senor! Wer hat den Iguan geſchoſſen?“ 

„Sie natürlich.“ 

„Ich; das iſt ſehr richtig, und alſo iſt er mein 
Eigentum. Wer ein Stück haben will, muß es mir 
abkaufen.“ 

„Abkaufen? Wie kommen Euer Gnaden zu dieſer 
lächerlichen Anſicht?“ 

„Ganz ſo, wie Euer Gnaden auf den Gedanken 
kamen, ſich Ihr Rindfleiſch von mir bezahlen zu laſſen. 
Mein Iguan iſt weit ſchmackhafter als Ihr Rind⸗ 
fleiſch. Bei mir koſtet das Pfund Iguan heute abend 
fünfzig Papiertaler.“ 

„Aber Senor, Sie ſcherzen!“ 

„Es iſt mein Ernſt. Wer unter Kameraden ver⸗ 
kauft, darf nicht erwarten, daß man freigebiger iſt 
als er.“ 

Er ſchnitt ſich ein tüchtiges Stück herab, ſpießte es 
an einen zugeſpitzten Zweig und hielt es an das Feuer. 
Sofort war ein äußerſt feiner und zarter Bratenduft 
zu bemerken. 

„Hm! Nicht übel!“ meinte Morgenſtern. „Wenn 
dieſe Echſe ſo ſchmeckt, wie ſie riecht, ſo könnte man 
wirklich beinahe Appetit bekommen.“ 

Fritze antwortete nicht und briet weiter. Er hatte 
ſchon Iguan gegeſſen und wußte, was geſchehen würde. 
Als ſein Stück gar war, erfüllte es den Umkreis des 
Weihers mit ſeinem Duft. Nun ſchnitt er es in Stücke 


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und begann zu eſſen. Das ſchlaue, ſchadenfrohe Kerl⸗ 
chen machte dabei ein äußerſt wonnevolles Geſicht. Da 
konnte ſich Don Parmeſan nicht länger halten. Er 
fragte: „Senor, wollen Euer Gnaden wirklich kein 
Stück verſchenken?“ 

„Nein.“ 

„Auch kein kleines Stückchen?“ 

„Nein.“ 

„Ganz dünn und nur ſo groß wie das Innere 
meiner Hand?“ 

„Nein.“ 

„Was koſtet ein Stück, woran man ſich ſatt eſſen 
kann?“ 

„Sie ſind ein ſtarker Eſſer, alſo hundert Papier⸗ 
taler.“ 

„Que ca-restial Und was fordern Sie für ein 
Stück, wovon man etwa zehn Biſſen ſchneiden kann?“ 

„Sie machen ſehr große Biſſen. Zehn Biſſen wer⸗ 
den ein Pfund ſein, alſo fünfzig Papiertaler.“ 

„Cuanto costa eso — wie teuer iſt das! Be⸗ 
denken Sie doch, daß ich ein armer Verwundeter bin!“ 

„Auch das bedenke ich. Ein Verwundeter ſoll 
Diät halten und einige Tage gar nicht eſſen.“ 

„Das iſt vollſtändig unmöglich, wenn man gebra⸗ 
tenen Iguan riecht. Senor, denken Euer Gnaden an 
das Vorbild ſo vieler frommer und erleuchteter Män⸗ 
ner! Ich will Ihnen Ihr Geld zurückgeben.“ 

Er zog den Beutel aus der Taſche. 

„Laſſen Sie!“ wehrte Fritze ab. „Ich nehme 
nichts zurück. Sie werden jetzt aber einſehen, wie 
falſch es iſt, ſich von Kameraden, mit denen man Sor⸗ 
gen, Entbehrungen, Gefahren und vielleicht gar den 
Tod zu teilen hat, ein Stückchen Fleiſch bezahlen zu 


5 


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laſſen. Es verſteht ſich ganz von ſelbſt, daß ich es nicht 
machen werde wie Sie. Was einer von uns hat, ge⸗ 
hört auch den andern. Der Iguan iſt unſer gemein⸗ 
ſchaftliches Eigentum. Schneiden Sie ſich alſo ſo viel 
herab, wie Sie eſſen wollen!“ 

Das ließ Don Parmeſan ſich nicht zweimal ſagen. 
Er rückte ſchnell herbei, ſteckte den Beutel wieder ein 
und ſchnitt ſich ein großes Stück Fleiſch herunter. 
Auch Fritz nahm ſich noch ein Stück. Der Gelehrte ſah 
ihnen noch eine kleine Weile zu, dann fragte er: „Fritz, 
ſchmeckt es denn gar ſo ausgezeichnet?“ 

„Hochfein, ſage ick Ihnen!“ 

„So möchte ich es wirklich einmal koſten. Es iſt 
nur, daß man fagen kann, man habe einmal Iguan 
gegeſſen.“ 

„Dat müſſen Sie allerdings ſagen können. Wat 
ſoll man in Jüterbogk von Sie denken, wenn Sie in 
Südamerika jeweſen ſind und von keiner Eidechſe jekoſtet 
haben! Soll ick Sie einen kleinen Happen zurecht 
machen?“ 

„Ja, tue es!“ 

Fritz ſpießte einen Biſſen an und ließ ihn braten. 
Morgenſtern koſtete erſt zaghaft, kaute dann bedächtig 
und die Augenbrauen emporziehend, ſchluckte er ihn hinab, 
rückte heran, zog das Meſſer, ſchnitt ſich ein derbes 
Stück ab und ſagte: „Wer hätte das gedacht! So eine 
Eidechſe verdient es eigentlich, in eine viel höhere Tier⸗ 
klaſſe verſetzt zu werden. Es gibt weder einen Fiſch 
noch einen Vogel oder ein Säugetier, deſſen Fleiſch von 
einer ſolchen Zartheit iſt. Ich werde das in meinem 
ſpäteren Werk ganz beſonders hervorheben und mit fet⸗ 
ter Schrift drucken laſſen, daß die Iguane ganz außer⸗ 
ordentlich wohlſchmeckend, lateiniſch sapidus, ſind.“ 


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So ſchmauſten die drei noch eine ganze Weile. Sie 
hatten heute beides gekoſtet, das härteſte und das zarteſte 
Fleiſch, Strauß und Iguan, und als ſie endlich auf⸗ 
hörten, war noch der ganze Strauß, vom Iguan aber 
nur der Schwanz übrig, den ſie ſich für morgen früh 
aufheben wollten. Dann feſſelten ſie die Pferde ſo wie 
geſtern und hüllten ſich in ihre Decken, um zu ſchlafen. 


Als die beiden Deutſchen früh am nächſten Morgen 
erwachten, hatte der „Don“ ſchon ein Feuer angezündet 
und machte ſich mit dem Iguanſchwanz zu ſchaffen. 

„Halt!“ meinte Fritze. „Laſſen Sie mich teilen, 

Senor, wir haben gleiche Rechte.“ 
j Nun ſahen fie übrigens auch, daß es in dem Weiher 
Fiſche gab, Fiſche, und zwar wie viele und wie große! 
Aber wie dieſe fangen? Man hatte weder Netze noch 
Angelzeug. 

„Ich weiß, was wir machen,“ ſagte Fritz. „Wir 
jagen ſie mit unſern Ponchos aus dem Waſſer. Wollen 
Sie mir helfen, Don Parmeſan?“ 

Der Gefragte erklärte ſich dazu bereit. Sie ſtiegen 
in das Waſſer und nahmen einen Poncho in die Hand. 
Der eine hielt ihn an dem einen, und der andre an dem 
andern Ende. Der Weiher war nicht tief. Sie tauchten 
die Decke bis auf den Boden nieder und trieben, indem 
ſie vorwärts ſchritten, die Fiſche nach dem Ufer zu. Es 
gelang ihnen gleich beim erſten Mal, einige an das 
Land zu ſchnellen. Als ſie dieſes Experiment wiederholt 
hatten, beſaßen ſie ſo viel Fleiſch, daß ſie für zwei Tage 
auszureichen vermochten. 

Während ſie beſchäftigt waren, die Fiſche erſt aus⸗ 
zunehmen und in grüne Blätter zu wickeln, fiel das Auge 
Morgenſterns auf eine gar nicht weit von dem Weiher 


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entfernte Stelle des Graſes, wo dieſes äußerſt klein und 
ſpärlich wuchs; auch hatte es eine gelbe anſtatt eine 
grüne Farbe. Noch viel auffälliger war es jedoch, daß 
dieſe Stelle genau zirkelrund war, und daß an der Grenz⸗ 
linie dieſes Kreiſes Sand lag und kein einziger Halm 
wuchs. Auch dieſe kleine, ſandige Stelle in dem Lehm⸗ 
boden mußte auffallen. 

Morgenſtern ſtand von ſeinem Platz auf und 
näherte ſich dieſem eigentümlichen Kreiſe, um ihn ge⸗ 
nauer in Augenſchein zu nehmen. Da ſah er zunächſt, 
daß er konvex wie eine umgeſtürzte Schale war. 

„Konvex und zirkelrund,“ ſagte er ſich. „Das iſt 
höchſt ſonderbar. Warum gedeiht das Gras hier nicht? 
Der Boden beſteht ebenſo aus Lehm, wie derjenige der 
Umgebung. Sollten Steine oder ein andrer ſteriler 
Grund darunter liegen, ſo daß die Wurzeln des Graſes 
nicht tief einzudringen vermögen und alſo nicht genug 
Nahrung erlangen können?“ 

Um das zu unterſuchen, zog er ſein Meſſer und 
ſtach damit in die Erde. Die Klinge drang höchſtens 
fünf Zoll tief ein und traf dann auf einen harten Ge⸗ 
genſtand. Er probierte an andern Stellen und zwar mit 
genau demſelben Erfolge. Der eigentümliche Kreis 
hatte eine ſehr harte Unterlage, auf der eine überall fünf 
Zoll hohe Lehmſchicht lag, welche dem Gras nicht genug 
Nahrung gewährte, ſo daß dieſes nur ſpärlich ſtand, 
nicht hoch wurde und eine krankhafte, gelbe Farbe beſaß. 
Dieſe Regelmäßigkeiten mußten eine Urſache und zwar 
eine ganz eigenartige und ungewöhnliche Urſache haben. 

Und woher der ſchmale Sandfleck an der einen 
Stelle des Kreisumfangs? Es gab, ſo weit das Auge 
reichte, keinen Sand. Morgenſtern bückte ſich nieder und 
begann, mit dem Meſſer in den Sand zu bohren und 


A 


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ihn aufzuwerfen. Die beiden andern hatten ihm ver⸗ 
wundert zugeſchaut. Jetzt kam Fritze herbei und fragte: 
„Wat jibt es hier, Herr Doktor? Wat haben Sie mit 
dat Meſſer? Wollen Sie unſre jute Mutter Erde tot⸗ 
ſtechen?“ 

Wenn er mit dem Doktor allein und nicht auch mit 
dem Chirurgen redete, bediente er ſich ſtets der deutſchen 
Sprache. 

„Mach keine dummen Witze!“ antwortete Morgen⸗ 
ſtern. „Es handelt ſich hier um eine ernſte Angelegen⸗ 
heit. Haſt du vielleicht einmal von ſogenannten Hexen⸗ 
ringen gehört?“ 

„Sehr oft. Dat ſind kreisrunde Stellen auf Wieſen, 
auf denen in der Walpurgisnacht die Hexen hippelſchot⸗ 
tiſch jetanzt haben.“ 

„Unſinn! Dieſe Kreiſe verdanken ihre Entſtehung 
verſchiedenen Arten von Hutpilzen, deren Myeelium ſich 
zentrifugal vermehrt. Vertilgt man dieſe Pilze, ſo 
hören auch die Ringe auf.“ 

„Ick verſtehe! Hier haben Sie auch ſo nen Hexen⸗ 
ring gefunden.“ 

: „Ja; aber er iſt ganz eigentümlicher Art. Während 

die bekannten Hexenringe von einem üppig grünenden 
Kreis umſchloſſen werden, iſt dies hier nicht der Fall. 
Auch wächſt hier Gras, während dort das Innere der 
Ringe vollſtändig kahl liegt. Und nun woher dieſer 
Sand? Es iſt ſonſt nirgends welcher zu fehen.” 

„Hm. Dieſe Stelle kommt mir auch ſehr ſonder⸗ 
bar vor. Sollte hier ein Schatz verjraben liejen? Dat 
wäre mich lieber, als wenn wir ein urweltliches Rieſen⸗ 
jeſchöpf herausbuddelten.“ 

„Vorweltliches Rieſengeſchöpf!“ rief Morgenſtern 
aus, indem er den Sprecher mit freudiger Ueberraſchung 


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anblickte. „Fritze, vielleicht haſt du das Richtige ge⸗ 
troffen!“ 

„Mit dem Jeſchöpf oder mit dem Schatz?“ 

„Mit beiden, denn wenn ich hier ein Maſtodon oder 
ſo etwas finde, ſo iſt das ein Schatz für mich, und du 
würdeſt auch nicht leer ausgehen.“ 

„Dat läßt ſich hören, ſagte der Taube, als er eine 
Ohrfeige bekam. Aber im Ernſte jeſprochen, hier mitten 
in der Urwildnis ſo 'ne Stelle, dat muß doch einen 
Irund haben. Und, nur man Jeduld, ick denke, wir 
finden dieſen Irund, wenn wir nur erſt mal da den 
Sand fortſchaffen.“ 

„Ganz dasſelbe dachte auch ich. Hole die Spaten, 
die Hacken und die Schaufeln! Wir müſſen ſchleunigſt 
nachgraben.“ 

Fritze folgte dieſer Aufforderung. Als die beiden 
den Sand aufzugraben begannen, kam Don Parmeſan 
herbei und drängte unwirſch zum Aufbruch, da man 
heute noch den Vater Jaguar einholen müſſe. Er machte 
aber ſofort ein andres, viel freundlicheres Geſicht, als 
der Doktor ihm ſagte: „Wenn wir ein Megatherium 
hier finden oder ein ähnliches Rieſentier und Sie helfen 
mit, ſo ſchenke ich Ihnen tauſend Papiertaler.“ 

„Da helfe ich mit, und wenn es eine ganze Woche 
dauert!“ | 

Er ergriff ſofort einen Spaten und begann mitzu- 
arbeiten, denn tauſend Papiertaler, ſoviel wie hundert⸗ 
ſechzig deutſche Reichsmark, waren für ihn eine ſehr be⸗ 
gehrenswerte Summe. | 

Während er mit Fritze in der ſandigen Stelle in 
den Boden eindrang, nahm Morgenſtern eine Schaufel, 
um einen Punkt der harten Unterlage von der darauf 
liegenden Lehmſchicht und dem darin wachſenden Graſe 


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zu befreien. Er kratzte dieſe Schicht ab und ſchob ſie zur 
Seite; da kam eine undurchdringliche, glatte und ſchild⸗ 
pattähnliche Maſſe zum Vorſchein, die, als er darauf 
ſchlug, einen dumpfen, hohlen Ton erzeugte. Da tat er 
vor Freude einen Luftſprung und rief jauchzend aus: 
„Heureka, heureka! Ich hab's, ich hab's gefunden! Dieſe 
glasharte und panzerartige Maſſe! Ich hab's, ich 
hab's!“ 

„Wat haben Sie denn?“ fragte Fritze, indem er 
von ſeiner Arbeit aufſah. 

„Das Tier, das Rieſentier. Es iſt ein Glyptodon, 
ganz gewiß ein Glyptodon!“ 

„Wer ſoll dat Wort verſtehen! Wie würde man es 
in Stralau oder Jüterbogk titulieren?“ 

„Rieſenarmadill, oder noch deutſcher, Rieſenpanzer⸗ 
tier! Ein vorſintflutliches Geſchöpf, Fritze!“ 

„Alſo in der Sintflut umjekommen und ſchmählich 
ertrunken? Da kann mich dat arme Beeſt wirklich leid 
tun. Iſt es jroß?“ 

„Wie ein Tapir oder Nashorn, anderthalb Meter 
lang.“ 

„Alſo nicht auf den Arm oder in die hohle Hand zu 
nehmen. Na, dat ſchadet nichts; wir holen ihm dennoch 
heraus!“ 

„Natürlich muß es heraus! Aber nehmt euch in 
acht, daß ihr es nicht beſchädigt! Jede, auch die kleinſte 
Beſchädigung, lateiniſch Laesio genannt, vermindert den 
Wert dieſes koſtbaren Fundes!“ 

Fritze grub mit dem Chirurgen weiter. Auch der 
Doktor arbeitete mit dem größten Eifer, mit der Schaufel 
die obere Lehmkruſte von dem Panzer des vorweltlichen 
Tieres abzukratzen. Seine Augen ſtrahlten; ſeine Wan⸗ 
gen glühten, und ſeine Hände zitterten; er befand ſich 


„ 


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wie im Fieber. Dabei hielt er ſeinen beiden Gefährten 
einen Vortrag über die Urzeiten und die Weſen, die da⸗ 
mals lebten. Fritze und Don Parmeſan warfen den 
Sand nach rechts und links heraus und drangen immer 
tiefer ein. Da gab der Sand plötzlich. nach; Fritze ſtieß 
einen Schrei aus und verſchwand in der Erde. Sein 
Gefährte ſprang ſchnell aus dem Loch, ſonſt wäre er ihm 
nachgeſtürzt. 

„Um des Himmels willen, was iſt geſchehen!“ rief 
Morgenſtern. „Hoffentlich kein Unglück, lateiniſch In- 
fortunium geheißen!“ 

„Er iſt verſchwunden, vollſtändig verſchwunden,“ 
antwortete Parmeſan. „Die Erde wich unter ihm, und 
da war er fort.“ 

Der Doktor trat vorſichtig an das Loch und rief 
hinab: „Fritze, lieber Fritze, lebſt du noch?“ 

„Ja, ick lebe und bin verjnügt in meine Seele,“ er⸗ 
klang es von unten herauf. 

„Wie iſt das gekommen und wohin biſt du geraten?“ 

„Ick habe mit die Balance dat neunzehnte Jahr⸗ 
hundert verloren und bin herunter ins Diluvium 
jerutſcht.“ 

„Biſt du verletzt?“ 

„Nein. Dat Panzervieh verhält ſich ſehr jebildet. 
Es iſt janz ſtill und hat mir nicht beſchädigt.“ 

„So komm ſchnell herauf! Es könnten gefährliche 
Gaſe vorhanden ſein.“ 

„Im Jejenteil! Es iſt hier janz mollig. Kommen 
Sie herunter! Ick habe jrad noch zwei ſchöne Sitzplätze 
zu vermieten, zwei Plätze in der Urwelt. Immer 
rrrrunter, meine Herren!“ 

Dieſes luſtige Gebaren des kleinen Dieners ver⸗ 
ſcheuchte alle Beſorgniſſe des Doktors. Und da ſeine 


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Wißbegierde ſo groß war, daß er ſie kaum beherrſchen 
konnte, folgte er der Aufforderung und ſtieg vorſichtig in 
das Loch. Dieſes führte zunächſt gegen vier Fuß ſenk⸗ 
recht hinab und ging dann in einem ſtumpfen Winkel 
ſchief nach innen weiter. Der Diener war alſo nicht 
ſenkrecht hinuntergeſtürzt, ſondern in geneigter Richtung 
vorwärtsgerutſcht. Jetzt rief er von innen heraus: 
„Da ſind Sie ja! Ick ſehe Ihre Beine. Sie befinden 
ſich jrad vor dem Bauch des Rieſentieres. Setzen Sie ſich 
nieder, ſo ziehe ich Ihnen an die Füße herein zu mich.“ 

In dieſem Augenblick fühlte Morgenſtern ſich bei 
den Füßen ergriffen und fortgezogen; er kam in ein 
ſanftes Gleiten und ſaß dann zu ſeinem Erſtaunen neben 
Fritzen in einer kleinen niedrigen Höhle, welche infolge 
des Loches, durch das er ſoeben gekommen war, ſo viel 
Helligkeit beſaß, daß man ſich darin umſehen konnte. 
Sie war länglichrund, ungefähr zwei Ellen hoch und ſo 
groß, daß drei Perſonen bequem nebeneinander ſitzen 
konnten. Die Decke war gewölbt, nicht ſehr, ſondern 
ungefähr wie das Innere eines Tellers, und von dunkel⸗ 
melierter, matt glänzender Farbe. Der Boden der 
Höhle war eben und von dem hereinbrechenden Sande 
teilweiſe bedeckt. An den unbedeckten Stellen ſah man, 
daß er aus hartem Lehm beſtand. 

Als Fritze ſeinen Herrn neben ſich hatte, lachte er 
auf und ſagte in fröhlichem Ton: „So kann man aus 
die Ober⸗ in die Unterwelt und aus die Jejenwart in 
die Verjangenheit jeraten. Wat ſagen Sie zu dieſe 
ſchöne Mammuthöhle?“ 

„Von einem Mammut iſt hier Me Rede. Wir be⸗ 
finden uns höchſt wahrſcheinlich im Leibe eines Glyp⸗ 
todon, alſo desjenigen Tieres, das ich vorhin Rieſenar⸗ 
madill nannte,” 


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„Haben dieſe Tiere Leiber aus Lehm jehabt?“ 

„Natürlich nein. Du kannſt dir doch denken, daß 
der Leib mitſamt den Knochen nach und nach verweſte 
und daß nur der unzerſtörbare Panzer übrig geblieben 
iſt. In ſeinem Innern ſitzen wir jetzt.“ 

„Alſo mitten in der Armatur?“ 

„Ja. Man hat dieſen Panzer früher irrtümlicher⸗ 
weiſe für die Bedeckung des Megatheriums gehalten, 
weil auch Knochen dieſes letzteren Tieres in der Nähe 
ſolcher Fundorte angetroffen wurden. Das Glyptodon 
iſt aber für den Kenner unmöglich mit dem Megathe⸗ 
rium zu verwechſeln, lateiniſch permuto, obgleich es 
ebenſo wie dieſes einen runden, abgeſtutzten Kopf und am 
Jochbein einen abſteigenden Fortſatz hatte. Der Panzer, 
der das Tier vom Hals bis zum Schwanz umſchloß und 
nur am Bauch offen war, bildete keine Ringe, ſondern 
beſtand aus einzelnen, ſechseckigen Knochenſtücken, die 
eine einzige ſtarke und zuſammenhängende Decke bilde⸗ 
ten. Der Schwanz ſteckte in einer beſonderen Panzer⸗ 
röhre, die wir jedenfalls noch finden werden. Wir 
müſſen den Panzer zunächſt freilegen; wenn ſich dann 
ergibt, welches der hintere und welches der vordere Teil 
iſt, läßt ſich leicht ſagen, wo die Schwanzröhre liegt.“ 

Fritze ſchüttelte den Kopf und ſagte: „Wenn dat 
janze Tier im Panzer jeſteckt hat, ſo daß nur der Bauch 
unbedeckt war, ſo muß dieſer doch eine unten offene 
Höhlung bilden; die Seiten ſind auch bepanzert jeweſen, 
hier haben wir nur oben Panzer und an den beiden 
Seiten Lehm.“ 

„Der iſt durch den Druck eingedrungen. Wenn wir 
ihn entfernen, werden die Seiten des Panzers zum Vor⸗ 
ſchein kommen. Ich werde dir den Chirurgen herab⸗ 
ſchicken. Ihr beide ſchafft dieſen Lehm hinaus, während 

May, Das Vermächtnis des Inka 12 


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ich von oben graben werde, um das Glyptodon von außen 
bloßzulegen. So arbeiten wir uns in die Hände und 
werden jedenfalls noch vor der Abenddämmerung, latei⸗ 
niſch Crepusculum genannt, fertig ſein.“ 

Er ſtieg aus der Höhle empor und ſchickte Don Par⸗ 
meſan mit Hacke und Schaufel hinab. Während die 
beiden nun unten fleißig arbeiteten, drang er ſelbſt oben 
mit der Hacke in die Erde ein, um die Erde rund um 
den Panzer aufzugraben und dieſen bloßzulegen. 

Er ſtrengte ſich ſo an, daß ihm der Schweiß über 
das Geſicht lief. Er war ganz begeiſtert für ſeine Arbeit. 
Er dachte an den Ruhm, den es ihm bringen würde, 
wenn es ihm gelänge, ein foſſiles Rieſenarmadill in 
ſeiner heimatlichen Wohnung aufzuſtellen. Denn daß 
es ſich hier um ein Glyptodon handelte, davon war er 
vollſtändig überzeugt, bis er gegen Mittag die Ent⸗ 
deckung machte, daß der Panzer nicht eine Röhre, ſon⸗ 
dern eine Schale bilde, die wie eine plattgewölbte Decke 
auf der unter ihr befindlichen Höhle lag; ſie wurde von 
den Lehmwänden der letzteren getragen. Fritze und 
Don Parmeſan drangen mit ihren Werkzeugen durch 
dieſe Wände, und da der Gelehrte ihnen von außen mit 
ſeiner Hacke entgegenkam, dauerte es gar nicht lange, 
ſo war die eine Seite der Panzerdecke, die einer umge⸗ 
ſtürzten Schale glich, freigelegt, und Fritze kam mit dem 
Chirurgen herausgekrochen. 

„Sehen Sie, daß Sie ſich jeirrt haben,“ ſagte der 
erſtere zu Morgenſtern. „Es iſt kein Jürteltier, denn 
die Seiten dieſes Jeſchöpfes ſind unbepanzert jeweſen; 
es hat nur oben auf dem Rücken einen Schild jehabt.“ 

Der Gelehrte war einigermaßen enttäuſcht. Er 
blickte nachdenklich vor ſich nieder. Dann aber erhellte 
ſich ſein Geſicht plötzlich; er ſtieß einen Jubelruf aus und 


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antwortete dann: „Fritze, du machſt mir das Herz wie⸗ 
der leicht. Schon glaubte ich, daß unſre Arbeit eine ver⸗ 
gebliche geweſen ſei. Deine Worte aber überzeugen mich 
vom Gegenteil. Du haſt das Richtige getroffen. Es 
hat oben auf dem Rücken einen Schild gehabt, Schild, 
Schild, ein runder Schild, lateiniſch Clypeus genannt. 
Kannſt du mir ein Tier, ein berühmtes Tier nennen, 
deſſen Name mit Schild — beginnt?“ 

„Ja.“ 

„Nun?“ 

„Ein Schildbürjer.“ 

„Unſinn! Ich meine natürlich die Schildkröte, la⸗ 
teiniſch Testudo geheißen. Dieſes Tier iſt kein Arma⸗ 
dill, ſondern eine Schildkröte und zwar eine Rieſen⸗ 
ſchildkröte von ganz außerordentlichen Dimenſionen ge⸗ 
weſen. Welch ein Glück, welch eine Wonne! Welch ein 
Ruhm wartet meiner, wenn die Kunde durch die gelehr⸗ 
ten Kreiſe aller Länder geht, daß ich eine foſſile Rieſen⸗ 
ſchildkröte ausgegraben habe!“ 

„Wenn es wirklich eine iſt!“ 

„Jedenfalls. Ich werde es gleich unterſuchen.“ 

Er holte in ſeinem Hute Waſſer herbei und wuſch 
mit Hilfe eines Graswiſches eine Stelle des Panzers rein. 

„Siehſt du,“ rief er dann aus, „daß ich recht habe. 
Dieſe Maſſe iſt nichts andres als Horn, ſtarkes, dickes 
Horn. Dieſe konvexe Platte iſt nicht der Panzer eines 
Gürteltieres, ſondern das Rückenſchild ejner Rieſen⸗ 
ſchildkröte, lateiniſch Chelonia Midas genannt.“ 

„Soll mir aufrichtig freuen, wenn nicht etwa wie⸗ 
der ein Irrtum vorliegt, ſo daß dat einſtige Jürteltier 
und jetzige Schildkröte nachher der Abwechſlung wejen 
für einen vorweltlichen Laubfroſch jehalten wird. Aber 
haben die Schildkröten nicht zwei Schilde?“ 


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„Ja, einen Rücken⸗ und einen Bauchſchild.“ 

„Dieſes Tier hat aber doch nur eins jehabt! Sollte 
ſie dat andre verloren oder in der Lotterie verſpielt 
haben?“ a 
„Keinen dummen Witz, Fritze! Der Bruſtſchild 
muß auch da ſein. Das Fleiſch, das zwiſchen bei⸗ 
den gelegen hat, iſt verweſt. Dadurch entſtand die 
Höhle, die wir hier vor uns ſehen. Der Boden wird 
jedenfalls von dem Bauchſchild gebildet. Wir werden es 
ſofort finden, wenn wir den Lehm, welcher eingedrungen 
iſt, wegräumen.“ 

„Dat leuchtet mich eher ein. Und wiſſen Sie, als 
wir da drin hockten, habe ich jehört, daß der Boden hohl 
klang.“ 

„Hohl? Wirklich? Siehſt du, Fritze, daß ich ganz 
richtig vermute! Du haſt auf dem Bauchſchild geſtan⸗ 
den, und das klingt hohl, cavus auf lateiniſch. Wir 
werden ihn ausgraben.“ 

„Aber nicht jetzt, ſondern nach dem Eſſen. Es iſt 
Mittag jeworden, und wir müſſen etwas jenießen. Wir 
haben ja Fiſche, die wir uns backen oder braten können.“ 

Der kleine Gelehrte war ſo entzückt über ſeinen 
Fund, daß er keinen Hunger fühlte und von dieſer Ar⸗ 
beitspauſe gern abgeſehen hätte. Es fiel ihm auch gar 
nicht ein, ſich an der Zubereitung der Fiſche zu beteili⸗ 
gen; er ſcharrte und kratzte vielmehr an der Schildkröten⸗ 
ſchale herum, klopfte fie an, um zu hören, was für einen 
Ton ſie hatte, prüfte, ob der Boden unter ihr wirklich 
hohl klang, was allerdings der Fall war, und kam erſt 
dann zu den beiden andern, als die Fiſche zum Eſſen 
fertig waren. Während ſie tüchtig zulangten, nahm er 
ſich nur ein kleines Stück, ſprang, als er dieſes gegeſſen 
hatte, wieder auf und ſagte: „Ich kann nicht eſſen; es 


— 11 — 


läßt mir keine Ruhe, bis ich auch den Bauchſchild gefun⸗ 
den habe. Der Magen, Ventriculus oder Stomachus 
geheißen, iſt mir wie zugeſchnürt. Ich kann nicht 
ſchlingen.“ 

„Dat iſt nicht jeſund,“ bemerkte Fritze. „Der 
Menſch muß eſſen können. Wenn ick mir über was 
freue, eſſe ick doppelt.“ 

„Iſt's denn ein Wunder? Ein ſolcher Fund iſt ge⸗ 
radezu großartig und ſteht ganz einzig da. Man freut 
ſich, daß man ſich kaum zu faſſen weiß, und hat doch 
ſchwere Sorge, lateiniſch Cura genannt, dabei.“ 

„Dat begreife ick nicht. Mir hat noch keine Kröte 
Sorje jemacht. Um wat ſorjen Sie ſich denn?!“? 

„Um verſchiedenes. Vor allen Dingen um den 
Namen, den ich ihr geben muß.“ 

„Den hat ſie ja ſchon. Sie wird ja Schildkröte 
jenannt. Oder iſt dat nicht ihr rechtmäßiger Name?“ 

„Es iſt der deutſche Name. Ich muß ihr aber 
einen wiſſenſchaftlichen, einen lateiniſchen Namen geben!“ 

„Und dat macht Ihnen Sorje? So werde ick 
Ibnen helfen. Dieſer wiſſenſchaftliche Name fol ſofort 
jefunden werden. Wie heißt Schildkröte auf lateiniſch?“ 

„Testudo. Aber es gibt Arten, welche wiſſenſchaft⸗ 
lich mit Cistudo, Emys, Chelyd ra, Trionychida, 
Sphargis und Chelonia bezeichnet werden. Chelonia 
Midas zum Beiſpiel iſt die Rieſenſchildkröte.“ 

„So haben Sie ja den jeſuchten Namen. Eine 
Rieſenſchildkröte iſt's ja, die wir jefunden haben.“ 

„Richtig! Aber ich darf ſie doch nicht ſo nennen, 
da mit Chelonia Midas die jetzt noch lebenden gemeint 
ſind; unſre aber iſt eine vorſintflutliche und viel, viel 
größer als die heute noch exiſtierenden.“ 


— 12 — 


„Dat iſt wahr. Sie ift ein wahrer Goliath, ein 
richtiger Gigant, und — —“ 

„Halt, halt!“ unterbrach ihn der Gelehrte. „Ich 
hab's, ich hab's! Du haſt es eben geſagt. Du biſt ein 
ganz tüchtiger Kerl, Fritze! Gigant und Chelonia! Das 
gibt eine ganz ausgezeichnete Zuſammenſetzung. Ich 
werde dieſes rieſige Tier Gigantochelonia nennen. 
Vielleicht fügt man fpäter, um mich als den Entdecker zu 
feiern, noch meinen Namen bei, was ich der gebotenen 
Beſcheidenheit wegen heute nicht tun will. Ja, ja, dieſe 
foſſile Rieſenſchildkröte wird Gigantochelonia genannt. 
Ich werde den Namen ſofort notieren und dazu den 
wichtigen Tag, an dem ich a unvergleichlichen Fund 
gemacht habe.“ 

Er zog ſein Notizbuch hervor und trug den Namen 
ein. Fritze aber meinte kopfſchüttelnd: „Dieſe jelehrten 
Herren find doch ſonderbare Individuummers! Ob-_ 
jleich der ſchönſte deutſche Name vorhanden tft, muß doch 
ein lateiniſcher jefucht werden. Dieſes Tier iſt jedenfalls 
zu Noahs Zeit ins Diluvium jeraten; darum würde ick 
ſie einfach Rieſen⸗Noah⸗Kröte nennen. Dat würde für 
jedermann ſofort verſtändlich ſein. Schade nur, daß dat 
Fleiſch nicht mehr vorhanden iſt! Wie viel Turtle⸗ 
ſuppen könnte man da machen!“ 

„Ja, bedenkt man, wie weit die beiden Schilder 
voneinander liegen, ſo kann man ſich einen Begriff da⸗ 
von machen, wie ſtark und dick das Tier geweſen iſt. Es 
muß eine wahre Unmaſſe von Fleiſch, lateiniſch Caro 
genannt, gehabt haben. Aber ihr ſeid nun endlich fertig 
mit Eſſen. Beeilt euch nun! Wir müſſen den Bauch⸗ 
ſchild ausgraben. Ihr hackt alſo den Boden auf, wäh⸗ 
rend ich fortfahren werde, die obere Schale los zu 
machen.“ 


— 183 — 


Fritze ſtieg mit Don Parmeſan wieder in die Höhle, 
um der Anweiſung ſeines Herrn nachzukommen, wäh⸗ 
rend dieſer oben die begonnene Arbeit fortſetzte. Er 
war mit einem ſolchen Eifer dabei, daß er für nichts 
andres Augen hatte und alſo auch nicht bemerkte, daß er 
der Gegenſtand einer Beobachtung war, die für ihn u 
ſeine Genoſſen leicht ſchlimme Folgen haben konnte. 


Im Oſten von der Stelle, wo die drei mit ſo 


großem Fleiße beſchäftigt waren, erſchien nämlich ein 
Trupp von vielleicht fünfzig Reitern, deren Ziel allem 
Anſchein nach das Waſſer war, in deſſen Nähe ſich der 
Fundort der berühmten Gigantochelonia befand. Und 
zugleich kamen im Süden fünf andre Reiter, die aber 
noch ſo entfernt waren, daß man ſie nur als kleine, be⸗ 
wegliche Punkte zu erkennen vermochte. 

Der erſtere Trupp befand ſich in größerer Nähe. 
Er beſtand aus Indianern, bei denen ſich zwei Weiße 
befanden. Die Roten waren mit Pfeil und Bogen, lan⸗ 
gen Lanzen und Blasrohren bewaffnet; ein einziger von 
ihnen, der ihr Anführer zu ſein ſchien, hatte eine Flinte. 
Die beiden Weißen waren wie Gauchos gekleidet und in 
rot und blau geſtreifte Ponchos gehüllt. Als Waffen 
führten fie Meſſer, Revolver und Doppelflinten bei ſich. 
Der eine war Antonio Perillo, der Stierkämpfer aus 
Buenos Aires, der andre aber jener ältere Mann, der 
mit Perillo am Abend nach dem Stierkampf an der 
Quinta des Bankiers den Vater Jaguar beobachtet hatte. 

Sie kamen im Trab längs des Waldrandes daher⸗ 
geritten. Nahe genug herangekommen, erblickten ſie den 
kleinen Gelehrten, der, ihnen den Rücken zukehrend, ganz 
in ſeine Arbeit vertieft war. Die beiden Weißen ritten 
mit dem Häuptling an der Spitze. Der ältere von ihnen 
hob die Hand, um das Zeichen zum Halten zu geben, 


7 


N 


parierte fein Pferd und ſagte, fih an den Häuptling 
wendend: „Was iſt das! Wir ſind nicht allein! Dort 
am Waſſer iſt ein Mann! Siehſt du ihn? Er hackt die 
Erde auf.“ 

Der Rote blickte in die angedeutete Richtung und 
antwortete in zwar gebrochenem, aber doch geläufigem 
Spaniſch: „Hola, ein Weißer bei unſrer Quelle, bei 
unſerm Escondite (Verſteck)! Er hat es entdeckt und 
gräbt es auf. Vaya! Auf und hin zu ihm!“ 

Er wollte ſein Pferd antreiben; der Weiße aber er⸗ 
griff ſeinen Arm und ſagte: „Halt, nicht ſo eilig! Laß 
uns ihn vorher beobachten. Er kann uns nicht entgehen. 
Er iſt ja allein, ein einzelner.“ 

„Ob er allein iſt oder ob ſich viel bei ihm befinden, 
das iſt mir gleich. Man nennt mich el Brazo valiente 
(der ‚tapfere Arm‘); ich bin der Kriegshäuptling der 
Abipones und fürchte mich vor keinem Feind.“ | 

„Ich weiß es. Aber wir wollen doch erſt beobachten. 
Wer mag dieſer Menſch ſein, und durch welchen Verrat 
hat er Euer Almacen de polvora (Pulvermagazin) 
entdeckt. Er iſt übrigens nicht allein hier; er hat Ge⸗ 
ſellſchaft bei ſich, denn ich zähle fünf Pferde, die dort am 
Waſſer weiden.“ 

„Quedo — ftill!” rief da Antonio Perillo. „Er iſt 
von kleiner Geſtalt und ganz rot gekleidet. Sollte es 
möglich ſein? Wenn mich meine Augen nicht trügen, 
ſo machen wir einen höchſt wichtigen Fang. Es iſt der 
Oberſt, der ſich in Buenos Aires für einen deutſchen 
Gelehrten ausgab!“ 

„Demonio! Iſt's wahr?“ fragte der ältere von 
Perillos Begleitern. 

„Ich möchte es beſchwören. Jetzt haben wir den 
Beweis, daß ich mich in ihm nicht irrte! Wie käme ein 


harmloſer deutſcher Bücherwurm an die geheime Pul⸗ 
verkammer, die wir für unſre roten Verbündeten an⸗ 
legten, damit ſie im Augenblick des Losſchlagens die 
nötige Munition beſitzen? Es iſt der Oberſt Glotino, 
dieſer Schurke, der ſich über alle unſre Wege ſchleicht. 
In Buenos Aires traf ihn unſre Kugel nicht; hier aber 
ſoll ſie ihn nicht fehlen!“ 


Er zog den Revolver drohend aus dem Gürtel. 


„Still!“ beruhigte ihn fein älterer Gefährte. „Keine 
Uebereilung! Wir dürfen ihn nicht töten; er muß uns 
ſagen, was er in dieſer Gegend will und wie er zur 
Kenntnis unſres Verſtecks gelangt iſt. Schießen wir ihn 
nieder, ſo ſind wir ihn los, ja; aber behalten wir ihn 
lebend in unſern Händen, ſo haben wir in ihm eine 
Geiſel, die uns vom größten Vorteil werden kann. Und 
wer kommt da drüben? Sind das nicht Reiter?“ 


| Er deutete nach Süden, wo die fünf Punkte indeſſen 

größer und deutlicher geworden waren. Die Blicke der 
andern richteten ſich dorthin. Antonio Perillo antwor⸗ 
tete: „Das kann kein andrer als der Hauptmann Pellejo 
fein, mit dem wir hier zuſammentreffen wollten. Unſre 
Liſt iſt alſo gelungen. Er hat den Auftrag erhalten, die 
Grenze zu inſpizieren, er, unſer Kumpan! Man beſtellt 
den Bock zum Gärtner. Wir bekommen ſomit die 
Grenze und alle Niederlaſſungen am Fluſſe in die Hand. 
Dadurch ſind unſern roten Verbündeten, wenn der 
Augenblick des Handelns kommt, ſämtliche Einfallspfor⸗ 
ten geöffnet. Er iſt's gewiß, ganz gewiß. Ich denke, 
wir überlaſſen es nicht ihm, den Kerl dort zu fangen, 
ſondern tun das ſelbſt, noch ehe er herangekommen iſt. 
Seht, der Halunke fteint hinab ins Magazin! Das iſt 
der letzte Augenblick. Wir umzingeln die Stelle. Vor⸗ 


— 186 — 


wärts! Einige ſetzen ſich augenblicklich in den Beſitz der 
Pferde; dann gibt es kein Entrinnen für den Schurken.“ 

Der Trupp ſetzte ſich in raſche Bewegung gegen 
das Pulvermagazin, das Doktor Morgenſtern für den 
Einbettungsort eines vorweltlichen Tieres gehalten hatte. 

Fritze hatte mit dem Chirurgen den Lehm, der den 
Boden der Höhle bildete, aufgegraben. Jeder Hieb oder 
Stoß, den die beiden taten, war von einem dumpfen 
Ton begleitet, ein Beweis, daß es unter dieſem Boden 
einen zweiten hohlen Raum gab. Als ſie ungefähr einen 
Fuß tief gekommen waren, ſtießen ſie zu ihrem Er⸗ 
ſtaunen auf ſtarke Hölzer, aus abgeſchnittenen Aeſten ge⸗ 
bildet, welche nebeneinander gelegt waren und die Trä⸗ 
ger des Lehmbodens bildeten. Sie zogen mehrere der⸗ 
ſelben heraus, und ſo entſtand eine große Oeffnung, 
durch die ſie hinabblicken konnten. Sie ſahen da unter 
ſich eine weit größere Höhle, als die obere geweſen war. 
Da ſtanden oder lagen viele kleine, ſorgfältig in ge⸗ 
harztes Leder gehüllte Fäſſer und längliche, ebenſo gegen 
die Feuchtigkeit geſchützte Pakete. Fritz kniete nieder, 
um eins der letzteren herauszulangen; es war ſchwer, 
ſo daß der Chirurg ihm helfen mußte. Als ſie es oben 
hatten, zerſchnitt Fritze die Riemen, mit denen es zu⸗ 
ſammengebunden war; es enthielt — Gewehre, ſehr 
wohlerhaltene Gewehre. 

„Welche Ueberraſchung!“ rief er aus. „Das ſind 
ja Flinten! So ſteht zu erwarten, daß die Fäſſer Pulver 
und Blei enthalten!“ Und in deutſcher Sprache fort⸗ 
fahrend, rief er dem draußen haſtig arbeitenden Privat⸗ 
gelehrten zu: „Herr Doktor, kommen Sie doch mal 
herein! Wir haben etwas ſehr Kurioſes jefunden.“ 

„Etwas Kurioſes?“ fragte der Angerufene. „Der 
Bauchſchild einer Gigantochelonia iſt etwas ſehr Wich⸗ 


— 187 — 


tiges, ſehr Intereſſantes, aber doch nichts Kurioſes. 
Habt ihr ihn?“ 

„Den Schild leider nicht, ſondern eine janz andre 
Art von Armatur. Haben Sie doch die Jewogenheit, 
verehrter Herr Doktor, uns mit Ihrem jütigen Beſuche 
zu bejlücken!“ 

Morgenſtern legte die Hacke weg und folgte der Auf⸗ 
forderung. Das war der Augenblick, wo Antonio Pe⸗ 
rillo ſagte: „Seht, der Halunke ſteigt hinab ins Ma⸗ 
gazin!“ 

„Schauen Sie her!“ meinte Fritze. „Es hat vor 
der Sintflut auch ſchon Pulver und Flinten jegeben. 
Dieſe Entdeckung jeht doch wohl noch über Ihre Giganto- 
chelonia.” 

Der kleine Gelehrte machte ein ganz unbeſchreib⸗ 
liches Geſicht. Sein Mund ſtand offen; ſeine Augen 
öffneten ſich, ſo weit es möglich war, und ſeine Brauen 
ſtiegen hoch empor. 

„Flinten? Flinten?“ ſtotterte er. „Ja, wahrhaf⸗ 
tig, Flinten! Es iſt gewiß, daß es weder im Silurium 
oder gar vorher, noch in der nächſtfolgenden Zeit Schieß⸗ 
gewehre gegeben hat. Wenn dieſe Waffen ſich hier unter 
dem Rückenſchild meiner Gigantochelonia vorfinden, ſo 
ſind ſie von menſchlichen Individuen, die höchſtwahr⸗ 
ſcheinlich der geſchichtlichen Zeit angehören, hergebracht 
worden. Dieſe Menſchen haben keine zoopaläontologi⸗ 
ſchen Kenntniſſe gehabt, ſonſt hätten fie erkennen müſ⸗ 
ſen, daß ſie ihre nachſintflutlichen Waffen an einen vor⸗ 
ſintflutlichen Ort brachten, deſſen Bedeutung für die 
Verhältniſſe urweltlicher —“ 

Er kam nicht weiter. Nahendes, ſtarkes Pferdege⸗ 
trappel brachte ihn aus der Urwelt in die Gegenwart 


— 188 — 


zurück. Laute Stimmen ertönten, und als er den Kopf 
aus dem Loch ſteckte, um zu ſehen, was draußen vorgehe, 
ſah er, daß mehrere Indianer die Pferde ergriffen und 
andre die Waffen, die er und ſeine Begleiter abgelegt 
hatten, an ſich nahmen. Zwei Weiße hielten ihm ihre 
Revolver entgegen, und einer von ihnen rief ihm in ge⸗ 
bieteriſchem Ton zu: „Kommen Sie mit Ihren Ge⸗ 
noſſen heraus, Senor! Wir haben ein Wörtchen mit 
Ihnen zu reden.“ ö 

„Antonio Perillo!“ rief der Gelehrte aus, der den 
Sprechenden erkannte. 

„Ja, ich bin es. Gehorchen Sie, und kommen Sie 
ſchnell, ſonſt zwingen Sie uns, Gewalt anzuwenden.“ 

„Der Gewalt bedarf es nicht. Ich habe ein gutes 
Gewiſſen und kann mich vor jedem Menſchen ſehen 
laſſen.“ 

Er kam herausgeſtiegen und ſeine beiden Gefährten 
folgten ihm. Als Perillo den Chirurgen erblickte, rief er 
erſtaunt aus: „Der Carnicero! Senor, was tun Sie 
denn hier in dieſer Geſellſchaft?“ 

„Ich führe die Herren nach dem Gran Chaco,“ ant⸗ 
wortete der Gefragte. 

„Zu welchem Zweck?“ 

„Um Tiere auszugraben.“ 

„Tiere? Ausgraben? Was denn für welche?“ 

„Vorſintflutliche Urtiere.“ 

„Das laſſen Sie ſich weismachen? Senor Parme⸗ 
ſan, ich habe Sie bisher als einen Menſchen gekannt, 
der zwar ſeine Schrullen hat, ſonſt aber ungefährlich 
iſt und ganz beſonders ſich niemals mit Politik befaßt. 
Heute aber lerne ich anders von Ihnen denken!“ 

„Politik? Was geht mich dieſe an! Ich bin Chirurg 
und habe vollſtändig genug an meiner Wiſſenſchaft. Sie 


— 189 — 


wiſſen ja, es iſt mir keine Operation und kein Schnitt zu 
ſchwierig; ich ſäble alles herunter.“ 

„Diesmal aber ſcheinen Sie unter Säbel nicht Ihr 
Operiermeſſer, ſondern einen wirklichen Degen zu ver⸗ 
ſtehen. Sie wiſſen doch, daß Ihre Begleiter politiſch 
höchſt verdächtige, ja ſogar gefährliche Menſchen ſind?“ 

„Gefährliche Menſchen? Das iſt nicht wahr. Dieſe 
Senores find gelehrte Leute aus Deutſchland; fie wollen 
Rieſentiere ausgraben; mit der Politik aber haben ſie 
nichts zu tun.“ 

„Wenn das wirklich Ihre Ueberzeugung iſt, ſo ſind 
Sie von ihnen getäuſcht worden. Wir aber wiſſen 
beſſer, woran wir mit ihnen ſind. Glücklicherweiſe iſt 
die Rolle dieſer ehrenwerten Señores jetzt ausgeſpielt, da 
wir ſie hier bei dem Diebſtahl ertappt haben.“ 

„Diebſtahl?“ fuhr da Fritze auf. „Wir find keine 
Diebe, wohl aber können wir Sie eines Verbrechens 
zeihen, das noch ſchlimmer als Diebſtahl iſt.“ 

„So?“ lachte Perillo höhniſch auf. „Welches Ver⸗ 
brechen meinen Sie denn?“ 

„Den Mord. Sie haben in Buenos Aires meinen 
Herrn zu erſchießen verſucht!“ 

„So? Es dürfte Ihnen ſchwer werden, dies zu be⸗ 
weiſen; wohl aber werden wir Ihnen den Beweis 
führen, daß Sie ſich in Dinge eingelaſſen haben, wodurch 
Ihr Kopf in die größte Gefahr gebracht wird. Ich er⸗ 
kläre Ihnen beiden, daß Sie unſre Gefangenen ſind.“ 

„Dazu haben Sie kein Recht. Oder gehören Sie 
etwa zur Polizei?“ Ä 

„Das geht Sie nichts an! Uebrigens gehört Ihre 
Angelegenheit nicht vor das Zivil⸗ ſondern vor das 
Kriegsgericht. Man wird Sie ſtandrechtlich erſchießen. 


— 190 — 


Hier kommt der Offizier, der Sie ins Verhör nehmen 
wird.“ | | 

Er deutete auf die fünf Reiter, die jetzt von Süden 
her am Platz angekommen waren, vier Kavalleriſten, 
angeführt von dem Hauptmann, der Morgenſtern und 
Fritze in Santa Js erſt bewirtet und dann fortgewieſen 
hatte. Dieſer ſprang vom Pferde, nickte den Indianern 
zu, reichte dem Stierkämpfer wie einem alten Freunde 
die Hand und gab ſie dann auch dem Begleiter dieſes 
letzteren, indem er ſich ſehr höflich verbeugte und in bei⸗ 
nahe ehrerbietigem Ton ſagte: „Viel Ehre für mich, 
El gambusino maestro, den berühmteſten Gambuſino 
(Goldſucher) des Landes wiederzuſehen! Sie bemerken, 
daß ich Wort gehalten und mich zur rechten Zeit einge⸗ 
ſtellt habe. Aber welche Menſchen finde ich bei Ihnen? 
Da iſt ja der famoſe Deutſche, den ich wegen ſeiner 
großen Aehnlichkeit für den Oberſten Glotino hielt und 
dann —“ 


„Hielt? Nur hielt?“ unterbrach ihn der Angere⸗ 
dete, der bis jetzt noch nicht geſprochen hatte. „Laſſen 
Sie ſich durch die Verkleidung nicht irre machen! Er 
iſt es wirklich. Wo haben Sie ihn geſehen?“ 


Kapitän Pellejo erzählte kurz die Begegnung in 
Santa %6, worauf der als Gambuſino bezeichnete achſel⸗ 
zuckend meinte: „Da haben Sie ja den Beweis, daß wir 
es mit dem richtigen Glotino zu tun haben. In Buenos 
Aires logierte er bei dem Bankier Salido, der als An⸗ 
hänger des Generals Mitre bekannt iſt; in Santa Js 
geht er nach dem Cuartel, um deſſen Beſatzung zu kon⸗ 
trollieren, und dann reitet er direkt hierher, um unſer 
Magazin auszunehmen. Er wird uns zu ſagen haben, 
wer ihm deſſen Lage verraten hat.“ 


— 191 — 


„Mir hat niemand etwas verraten,“ bemerkte da 
der kleine, rote Gelehrte. „Ich heiße Morgenſtern und 
bin aus Deutſchland. Wir wollen nach dem Gran 
Chaco, um vorweltliche Tiere auszugraben, und hier, 
wo wir Lager machten, entdeckte ich zufällig, lateiniſch 
fortuito, die obere Schale einer vorſintflutlichen Rieſen⸗ 
ſchildkröte, der ich den Namen Gigantochelonia gegeben 
habe.“ 

„Die Schale einer Schildkröte? Wo iſt ſie denn?“ 

„Hier doch,“ antwortete der Kleine, indem er auf 
den vermeintlichen Panzer zeigte. „Sie werden doch zu⸗ 
geben, daß wir es hier mit dem Rückenſchild einer Rie⸗ 
ſenſchildkröte zu tun haben!“ 

„Herr, halten Sie uns nicht für verrückt!“ fuhr der 
Gambuſino auf. „Sie wiſſen ſehr genau, in welcher 
Weiſe man derartige heimliche Magazine anlegt und 
daß man die Waffen und das Pulver dadurch vor der 
Feuchtigkeit ſchützt, daß man dem Verſteck eine mit Harz 
durchtränkte Lehmdecke gibt. Halten Sie uns etwa für 
ſo dumm, zu glauben, daß Sie eine ſolche Decke für den 
Panzer einer Schildkröte angeſehen haben?“ 

„Aber, Senor, das iſt ja wirklich der Fall! Die 
Annahme, daß dies eine durchharzte Lehmdecke ſei, beruht 
auf einem gewaltigen Irrtum. Ich bin Kenner und 
gebe Ihnen die Verſicherung, daß wir es mit den Ueber⸗ 
reſten einer ganz einzig daſtehenden zoopaläontologi⸗ 
ſchen Exiſtenz zu tun haben. Darauf können Sie ſich 
verlaſſen, lateiniſch durch kidus ausgedrückt.“ 

„Verſtellen Sie ſich doch nicht auf eine ſo lächer⸗ 
liche Weiſe! Wir werden Ihnen ein Latein vorſagen, 
das Sie wohl ſchwerlich nachſprechen können. Senor 
Kapitän, bemächtigen Sie ſich dieſer beiden ſogenannten 
Deutſchen! Der Carnicero iſt ungefährlich; ihn wollen 


— 192 — 


wir laufen laſſen, da er, wenn wir ihn bei uns be⸗ 
hielten, uns nur hinderlich ſein würde. Er mag ſein 
Pferd und ſeine Waffen nehmen und reiten, wohin es 
ihm beliebt.“ a 

Nichts konnte dem Chirurgen lieber ſein als dieſe 
Entſcheidung. Er ſattelte ſchnell ſein Pferd, nahm ſeine 
Flinte und ſtieg auf, um davonzureiten. Aber wohin? 

„Eine tolle Geſchichte!“ brummte er in den Bart. 
„Dieſer deutſche Knochenſucher ſoll der Oberſt Glotino 
ſein. Fällt ihm gar nicht ein! Er hat das Waffen⸗ 
verſteck wirklich für das Lager eines uralten Tieres ge⸗ 
halten. Dieſe Kerls, die uns überraſchten, wollen ſich 
mit den Indianern verbinden, um ſich gegen die Re⸗ 
gierung zu empören. Sie ſind Halunken. Sie ſprachen 
davon, den Deutſchen töten zu wollen. Er iſt ein guter 
Menſch, und ich möchte ihn retten. Ich muß ver⸗ 
ſuchen, den Vater Jaguar zu finden!“ 


Sechſtes Kapitel 
Der Letzte der Inkas 


Ungefähr zwanzig Kilometer im Norden von der 
Stelle, wo ſich das ſoeben Erzählte ereignete, liegt jen⸗ 
ſeits des Rio Salado die Laguna Toſtado. Der ſchon 
erwähnte Monte impenetrabile, d. i. undurchdring⸗ 
liche Wald, ſchickt ſeine Ausläufer bis an das Ufer der 
Lagune. Er dehnt ſich längs des Rio Salado in nord⸗ 
weſtlicher Richtung aus und iſt nur da zu durchqueren, 
wo durch irgend welche Einflüſſe oder Zufälle eine na⸗ 
türliche Oeffnung entſtanden iſt. Dieſe Oeffnungen 
bilden die Ausfallspforten, durch welche die Indianer 
des Chaco ihre Raubzüge in das bewohnte Land unter⸗ 
nehmen. 

Am Nachmittag desſelben Tages ſchritten zwei Per⸗ 
ſonen langſam und wie ſuchend an dem Rand des Wal⸗ 
des hin. Die eine, welche voranſchritt, war ein ſehr 
alter Mann, deſſen Geſicht ſo viele Falten und Fältchen 
hatte, daß man ſie nicht zu zählen vermochte. Er ſchien 
nur aus Haut und Knochen zu beſtehen, doch waren 
ſeine Bewegungen ſo kräftig und ſicher, daß man ihn 
für viel jünger hätte halten mögen, als er wirklich war. 
Seine Kleidung beſtand aus einer langen Hoſe von 
weichgegerbtem Leder und einem kurzen Hemd aus dem⸗ 

May, Das Vermächtnis des Inka 13 


— 194 — 


ſelben Stoff. Das letztere wurde über den Hüften von 
einem ſchmalen Gürtel zuſammengehalten, worin ein 
Meſſer ſteckte. Die Füße trugen niedrige, ſandalenar⸗ 
tige Schuhe, denen man es anſah, daß er ſie wohl ſelbſt 
gefertigt hatte. Ein über der Schulter hängender Rie⸗ 
men hielt ein großes Pulverhorn, einen ledernen Blei⸗ 
beutel und eine eiſerne Kugelform. Den Kopf trug der 
Alte unbedeckt oder vielmehr nur bedeckt von dem dich⸗ 
ten, langen, wie Silber glänzenden Haar, das wie eine 
Mähne hinten bis zum Gürtel herniederhing. Von 
einem Bart aber war keine Spur zu ſehen. Auf dem 
Rücken trug er eine Art Jagdtaſche, die aus dem Fell 
eines Silberlöwen gefertigt war, und in der Hand ein 
ſtarkes, einläufiges Gewehr. 

Die andre Perſon war ganz genau ſo gekleidet und 
bewaffnet wie dieſer Mann, trug eine ganz gleiche Taſche 
auf dem Rücken und das Haar auch lang bis auf den 
Gürtel hinab, war ihm aber in andrer Beziehung um 
fo: mehr unähnlich. Dieſer andre war nämlich ein 
Jüngling, der kaum achtzehn Jahre zählen mochte, nicht 
lang, aber ſtark und unterſetzt gebaut und von einer 
auffallenden Gewandtheit in ſeinen Bewegungen. Sein 
Haar beſaß die tiefſte Schwärze; ſein Geſicht war jugend⸗ 
lich friſch und vom Gehen jetzt leicht gerötet. Man 
mußte ihn ebenſo wie den Alten für einen Indianer 
halten, und doch hätte man aus einigen Anzeichen ſchlie⸗ 
ßen mögen, daß er kein ſolcher ſei. Seine dunklen 
Augen ſtanden nicht ſchief gegeneinander; die Backen⸗ 
knochen traten nicht hervor; die Lippen waren fein, und 
die kleine Naſe hatte keineswegs die aufgeworfene Ge⸗ 
ſtalt, die den Naſen der Indianer Südamerikas eigen 
iſt; ſie beſaß vielmehr eine edle Form, ſie war ſchmal und 
leicht gekrümmt. Sein Geſicht war zwar jetzt von der 


— 195 — 


Sonne verbrannt, hatte aber jedenfalls urſprünglich 
eine viel hellere als die gewöhnliche Indianerfarbe. 


Beide ſchritten zwiſchen dem Waſſer der Lagune und 
dem Waldesrand hin, um den letzteren mit ſcharfen 
Augen zu muſtern. Da erhob der Jüngling die Hand, 
deutete vor ſich hin und ſagte im Kaltſchakidialekte der 
Ketſchuaſprache: „Schau, Anciano, dort ſcheint der 
Baum zu ſtehen. Ich weiß genau, daß es ein Ombu 
von dieſer Größe war.“ 


Aus dem Umſtand, daß der junge Mann ſich dieſer 
Sprache bediente, war mit Sicherheit zu ſchließen, daß 
ſeine Heimat nicht in dieſer Gegend zu ſuchen ſei. Der 
QOmbu (Phytolacca dioeca) iſt ein mächtiger Baum, 
deſſen Blätter mit denjenigen des Maulbeerbaums große 
Aehnlichkeit haben. Das merkwürdigſte an ihm iſt ſein 
Stamm, ein dicker Holzkörper vom Umfang einer mäch⸗ 
tigen Eiche, der ſich nach unten ſchnell ausdehnt und in 
gewaltige Wurzeläſte teilt, die in Windungen eine 
Strecke über der Erde fortlaufen und erſt dann in den 
Boden eindringen. Auf dieſe Wurzeln ſetzt man ſich, 
wenn man den Schatten benutzen will, den die weit aus⸗ 
gebreitete Krone ſpendet. Aber dieſer koloſſale Stamm 
hat ein ſo lockeres Holz, daß es, wenn man hineinſtößt, 
wie Zunder bricht. Darum iſt der Ombu zu nichts zu 
gebrauchen, denn ſein Holz iſt nicht einmal zum Ver⸗ 
brennen tauglich. Man pflanzt ihn nur an, um einen 
Schattenſpender zu haben. 


„Du kannſt recht haben, o Herr,“ antwortete der 
Alte in derſelben Sprache. „Der Ombu, unter den wir 
unſre Sachen vergruben, ehe wir die Gegenden der Spa⸗ 
nier beſuchten, hatte ganz dieſelbe Geſtalt wie dieſer. 
Laß uns nachſehen!“ 


— 196 — 


Der Alte nannte den Jungen „Herr“, bei In⸗ 
dianern ein ganz und gar unmöglicher Brauch. Dieſe 
beiden Perſonen ſchienen in einem ganz eigentümlichen 
Verhältnis zu einander zu ſtehen. Sie ſchritten auf den 
Ombu zu, blieben darunter halten und legten ihre 
Taſchen und Gewehre ab. Dann unterſuchte der Alte 
den Boden. Auf eine Stelle deutend, wo das Gras im 
Wachſen zurückgeblieben war, ſagte er: „Du haſt richtig 
vermutet, Herr. Wir ſind an Ort und Stelle. Weil 
wir damals den Raſen hier aufgruben, hat dem Graſe 
die Ernährung gefehlt. Ich werde ſuchen. Hoffentlich 
hat niemand dieſen Ort entdeckt.“ 

Er kniete nieder und zog das Meſſer, um die Erde 
aufzugraben. Der Jüngling wollte das gleiche tun; 
der Alte aber bat: „Laß ab, o Herr! Du biſt zum 
Herrſchen geſchaffen, nicht aber zu dieſer Arbeit eines 
Untergebenen.“ | 

„Und dennoch helfe ich dir, lieber Anciano. Du 
weißt ja, ich tue es gern, denn du biſt alt, und ich bin 
jung.“ n 

Aber Anciano ſchob ihn mit dem Arm ſanft zurück 
und antwortete: „Alt? Ich bin noch nicht alt. Ich 
zähle erſt ein einziges über hundert Jahre; meine Vor⸗ 
fahren aber ſind viel, viel älter geworden.“ 

Während der Alte emſig grub, fuhr er fort: „Ja, 
weit über hundert Jahre! Mein Vater zählte hundert⸗ 
zehn, mein Großvater hundertelf und deſſen Vater gar 
hundertzwanzig. Und deſſen Vorgänger war es, der 
deine Urahnen. aus der Hand der Spanier rettete, als 
ſie den großen Inka Atahualpa ermordeten und ſeine 
ganze Familie ausrotten wollten. Haukaropora hieß 
dieſer dein göttlicher Vorfahre, und denſelben Namen 
haſt du auch erhalten. Er war der jüngſte Sohn von 


— 197 — 


Atahualpa und in der Ferne geboren, ſo daß Pizarro, 
der Mörder, nichts von ſeinem Daſein wußte. Unſer 
großes Reich wurde zerſtört, mit dem Schwert und dem 
Feuer, durch Liſt, Betrug und Verrat. Man meint, die 
Inkas ſeien ausgeſtorben, aber du lebſt, der letzte der 
Sonnenſöhne, und es wird die Zeit kommen, wo du die 
Spanier beſtrafen und dein Reich zurückerobern wirſt.“ 

Haukaropora hatte ſich in das Gras geſtreckt und, 
den Kopf in die Hand geſtützt, den Worten des Alten zu⸗ 
gehört. Sein Geſicht hatte einen tief wehmütigen, ja 
melancholiſchen Ausdruck angenommen. Er ſeufzte auf 
und ſagte, als Anciano jetzt ſchwieg: „Das haſt du mir 
ſchon ſo oft geſagt, aber ich glaube es nicht. Ich glaube 
dir alles, alles, nur dieſes nicht.“ 

„Wie? Du glaubſt nicht, daß du ein Inka, ein 
Sohn der Sonne biſt?“ fragte der Alte erſtaunt. 

„Das glaube ich, denn du haſt es mir bewieſen, 
und ich ſelbſt fühle in mir etwas ganz Unbeſchreibliches, 
was mir ſagt, daß ich nicht ſo bin wie andre. Aber, daß 
das Reich meiner Ahnen wieder erſtehen könne, das 
glaube ich nicht.“ 

Da richtete ſich der Alte aus ſeiner gebückten Hal⸗ 
tung auf und antwortete in feierlichem Ton: „Du ſollſt 
und mußt es aber glauben, denn es gibt eine Gerechtig⸗ 
keit, welche jede Sünde, jede Miſſetat beſtraft und dem 
Unſchuldigen das wiedergibt, was ihm genommen 
wurde. Du wirſt das Reich deiner Väter wieder auf⸗ 
richten; ich ſage es dir, und mein Wort iſt immer wie 
ein Schwur. Kein Menſch ahnt, wer du biſt, denn wir 
haben es geheim gehalten. Nur wenn wir allein ſind, 
bedienen wir uns der Sprache unſrer Ahnen und ich 
nenne dich Herr. Wenn andre bei uns ſind, bin ich ein 
armer Indianer, und du biſt mein Enkelſohn. Es wird 


* 


— 18 — 


aber die Stunde ſchlagen, wo dieſes Geheimnis gelüftet 
wird.“ 

„Aber ohne Erfolg, mein Vater! Ich hatte Luſt, 
die Länder und Städte der Spanier kennen zu lernen, 
und du haſt mich aus meiner Einſamkeit genommen 
und nach Oſten geführt. Ich habe dieſe Städte, dieſe 
Pampas und ihre Bewohner geſehen, und nun wir 
zurückkehren, weiß ich, daß unſre Hoffnungen ſich nie er⸗ 
füllen werden.“ 

„Nie? Warum?“ 

„Weil ſie zu mächtig und liſtig ſind und wir keine 
Mittel beſitzen, den Kampf mit ihnen ſiegreich aufzuneh⸗ 
men und auszuhalten.“ 

„Mächtig und liſtig!“ lachte der Alte rauh auf. 
„Sie betätigen ihre Macht, indem ſie ſich untereinander 
zerfleiſchen. Und ihre Liſt iſt nichts als Heimtücke, die 
den eigenen Herrn vernichtet. Steht nicht das Land in 
immerwährender Empörung? Warte noch eine kleine 
Weile, dann wird man ſich nach dem Erlöſer ſehnen, 
und der wirſt du ſein, o Herr.“ 

„Woher ſoll ich Soldaten nehmen, um zu ſiegen?“ 

„Alle roten Männer werden mit dir ſein!“ 

„Und woher das Geld, das ein Heerführer haben 
muß? Die Völker der Roten ſind alle arm.“ 

„Aber du biſt reich, reich wie kein andrer!“ 

„Ich? Reich?“ fragte der Jüngling in ungläubi⸗ 
gem Tone. 

„Ja reich, unendlich reich,“ antwortete der Alte. 
Und indem er mit der flachen Hand auf ſeine Silber⸗ 
löwentaſche ſchlug, fuhr er fort: „Hier trage ich das 
Vermächtnis des Inka, deſſen rechtmäßiger und einziger 
Erbe du biſt. Seit dem Tode deines Vaters habe ich es 
bei mir herumgetragen, und zu ſeiner Zeit wird es von 


— 19 — 


mir geöffnet werden. Doch ſchau, o Herr, die Grube ift 
geöffnet, und unſre Waffen kommen zum Vorſchein.“ 

Er hatte die Erde ausgeworfen und nahm die Ge⸗ 
genſtände, die das Loch enthielt, heraus. Es waren zwei 
lederne Köcher, mit Pfeilen gefüllt, zwei lange Lanzen 
und zwei Bogen, von denen der eine ganz aus durch⸗ 
ſichtigem Horn beſtand und von fremder, eigenartiger 
Arbeit war. Zuletzt brachte er noch einen Streitkolben 
heraus, der eine ſchwarze Farbe hatte und aus gefirniß⸗ 
tem Eiſen zu ſein ſchien. Jeder erhielt einen Speer, 
einen Köcher und einen Bogen; der des jungen Inka war 
derjenige von Horn, welcher eine Länge von beinahe 
drei Ellen hatte. Dazu bekam er den Streitkolben, den 
er ſich an den Gürtel hing, und zwar an der linken 
Seite, an der Stelle, wo man den Säbel zu tragen 
pflegt. Die Art und Weiſe, wie er dabei mit dem Kol⸗ 
ben hantierte, ließ vermuten, daß dieſer von bedeuten⸗ 
dem Gewicht ſei. 

Der Alte hatte ſich erhoben, nickte dem Jüngling 
ernſt zu und ſagte: „Dieſer Bogen und der Human⸗ 
tſchuay ſind die einzigen Gegenſtände, die von den Söhnen 
der Sonne auf dich übergegangen ſind. Halte ſie lieb 
und wert, o Herr! Du glaubteſt vorhin, du ſeiſt arm; 
darum will ich dir etwas ſagen, was ich dir bisher ver⸗ 
ſchwiegen habe. Im Heere der Sonnenſöhne trug jeder 
Obere, auch der Inka, außer den andern Waffen auch 
einen ſchweren, zackigen Streitkolben, Humantſchuay ge⸗ 
nannt. Die gewöhnlichen Kämpfer hatten Streitäxte 
aus Bronze; der Streitkolben der Heerführer war aus 
Silber, derjenige des Inka aber aus purem, reinem 
Gold. Dieſer Humantſchuay, der hier an deiner Seite 
hängt, war die Waffe eines Inka; er beſteht aus ge⸗ 
diegenem Gold.“ 


— 200 — 


„Aus Gold?“ fragte der Jüngling erſtaunt, indem 
er den Kolben aufnahm und betrachtete. „Er iſt ja 
ſchwarz wie Eiſen!“ 

„Weil er einen dünnen Ueberzug aus Lack beſitzt. 
Eine goldſchimmernde Waffe darfſt du jetzt nicht ſehen 
laſſen. Später aber wird ſie in deiner ſtarken Hand 
deinen Kriegern voranleuchten. Sie iſt bei der Flucht 
deines Ahnen gerettet worden.“ 

„Mag er von Gold ſein,“ meinte der Jüngling 
kopfſchüttelnd, „dieſer Streitkolben; er wird jetzt keinem 
Feind mehr gefährlich. Man hat ganz andre Waffen 
als damals. Was ſind tauſend Streitkolben gegen fünf⸗ 
zig Flinten oder eine einzige Kanone! Seit du drüben 
in Montevideo dieſe beiden Flinten gekauft haſt, weiß 
ich, wie ſchwach unſre bisherigen Waffen waren.“ 

„Das glaube nicht! Der Klang des Pulvers 
verrät dich deinem Feind; der Pfeil aber iſt verſchwiegen. 
Du töteſt mit ihm viele, bevor man erkennt, wo du dich 
befindeſt. Jetzt aber komm, o Herr, damit wir bis zum 
Abend ein Waſſer erreichen, wo wir unſern Durſt zu 
ſtillen vermögen!“ 

Sie hatten, ehe ſie vor Monaten die Wildnis ver⸗ 
ließen, ihre Waffen außer den Meſſern hier vergraben 
und ſie jetzt wieder hervorgeholt. Da ſie es nicht für 
nötig fanden, das Loch wieder zuzufüllen, ließen ſie es 
offen und nahmen ihre vorhin unterbrochene Wanderung 
wieder auf. Pferde beſaßen ſie nicht; ſie kehrten zu Fuß 
in ihre ferne Heimat zurück. 

„Die Lagune verlaſſend, wanderten fie am Waldes⸗ 
rand hin. Sie hatten viel zu tragen, was aber auf die 
Schnelligkeit ihrer Schritte von gar keinem Einfluß war. 
Der über hundert Jahre alte Greis ſchritt rüſtig wie ein 
junger, dreißigjähriger Mann neben feinem Begleiter 


— 201 — 


her. Er war von dieſem Anciano genannt worden, ein 
ſpaniſches Wort, welches der Alte, der Hochbetagte, der 
Greis bedeutet. Es iſt übrigens bekannt, daß man bei 
den Indianern der Cordilleren oft Perſonen findet, die 
über hundert Jahre zählen. 

Da, wo die beiden jetzt gingen, entfernte ſich der 
Wald vom Fluſſe, ſo daß zwiſchen beiden ein ziemlich 
breiter Campo blieb, in deſſen niedrigem Graſe leicht zu 
gehen war. Sie ſuchten ſich eine der erwähnten natür⸗ 
lichen Oeffnungen im Walde, um eine andre Richtung 
einzuſchlagen. Nach ungefähr einer Stunde gelangten 
ſie an eine ſolche, die gerade nordwärts durch den Wald 
zu führen ſchien. Sie war ſchmal, höchſtens vierzig 
Schritte breit. Sie folgten ihr. 2 

Noch aber waren fie nicht weit vorwärts gekom⸗ 
men, als der Inka, der doch ſchärfere Augen als der 
Alte hatte, dieſen plötzlich am Arm faßte und ihn ſchnell 
ſeitwärts unter die Bäume zog. 

„Was iſt's? Was gibt's?“ fragte Anciano. „Haſt 
du etwas geſehen? Vielleicht ein Tier, das wir ſchießen 
können, um friſches Fleiſch zu erhalten? 

„Nicht nur ein Tier, ſondern viele habe ich geſehen,“ 
antwortete der Gefragte. „Ich ſah gerade vor uns in 
der Lichtung Pferde und Menſchen.“ 

„Wer könnte das ſein? Was wollen die hier? Wie 
viele waren es?“ | 

„Das kann ich nicht ſagen, da ich fie nur einen 
Augenblick lang ſah und dann mich hier verſtecken 
mußte.“ 

„Das haſt du klug gemacht, o Herr. Wir befinden 
uns hier im Gebiete der Abipones; da können wir nicht 
vorſichtig genug ſein. Was taten ſie? Ritten ſie vor 
uns her oder auf uns zu?“ | 


— 202 — 


„Sie ritten nicht, ſondern ſie lagerten.“ 

„Dann werde ich mich eee um ſie zu be⸗ 
obachten.“ 

„Laß mich das tun, lieber Anciano! Es iſt zu ge⸗ 
fährlich, und du biſt ſo alt.“ 

„Ich bin nicht zu alt, du aber biſt zu jung dazu. 
Und wie könnte ich dich, Herr, einer ſolchen Gefahr über⸗ 
antworten!“ 

„So gehen wir beide!“ 

„Nein. Einer genügt; aber zwei ſind zu viel.“ 

Sie ſtritten ſich eine kurze Zeit, da jeder die Gefahr 
auf ſich nehmen wollte; aber der Alte ſetzte in aller Liebe 
ſeinen Willen durch und entfernte ſich. Es dauerte wohl 
eine halbe Stunde, bevor er zurückkehrte; dann kam er 
geſchlichen und meldete: „Es ſind wirklich Abipones. 
Ich zählte fünfzig Pferde und ebenſoviele Leute.“ 

„Woher mögen dieſe Menſchen die Pferde haben?“ 

„Geſtohlen natürlich.“ 

„Wie waren ſie bewaffnet?“ 

„Mit Lanzen, Bogen, Pfeilen und Blasrohren.“ 

„So haben ſie Giftpfeile bei ſich und man muß ſich 
in acht nehmen. Was tun wir. Können wir vorüber?“ 

„Nein. Die Oeffnung des Waldes iſt zu ſchmal.“ 

„So ſchleichen wir unter den Bäumen an ihnen 
vorbei.“ | 

„Auch das geht nicht. Der Wald iſt undurchdring⸗ 
lich. Die Schlingpflanzen bilden eine dichte Maſſe, 
durch die man nicht gelangen kann. Schon jetzt war es 
mir unmöglich, wenigſtens am Saume hin mich ſo weit 
anzuſchleichen, daß ich die Leute genau zählen konnte.“ 

„So können wir alſo gar nicht weiter vorwärts?“ 

„Nein. Wir müſſen zurück und uns eine andre 
Oeffnung des Waldes ſuchen. Komm, o Herr!“ 


— 208 — 


Sie gingen zurück, bis ſie den Campo wieder er⸗ 
reichten, und ſchritten dann in der vorigen Richtung am 
Walde hin. Dieſer machte nach einiger Zeit einen Bo⸗ 
gen nach Norden, den ſie dadurch abſchnitten, daß ſie die 
dadurch entſtehende halbkreisförmige Prärie gerades⸗ 
wegs überſchritten. Die erſte Hälfte des Nachmittags 
war vergangen, und die Sonne neigte ſich ſtark dem weſt⸗ 
lichen Horizont entgegen. 

Während ſie über dieſe offene Prärie marſchierten, 
erblickten ſie plötzlich links von ſich, alſo im Süden und 
dem Fluſſe zu, einen einzelnen Reiter, der in geſtrecktem 
Galopp näher kam. Und zu gleicher Zeit bemerkten ſie 
vor ſich im Graſe eine dunkle Linie, eine breite Spur, 
die nach Nordweſt führte, und welcher dieſer Reiter zu 
folgen ſchien. Sie blieben überlegend ſtehen. 

„Was tun wir?“ fragte der Inka. „Weichen wir 
ihm aus?“ 

„Das iſt unmöglich,“ meinte der Alte. „Er iſt 
ſchneller als wir und würde uns einholen. Uebrigens 
brauchen wir uns vor einem einzelnen Mann doch nicht 
zu fürchten.“ 

„Auch nicht, wenn er zu den Abipones gehört?“ 

„Auch dann nicht; denn ehe er ſie herbeiholen 
könnte, wären wir ſchon weit fort. Uebrigens glaube 
ich zu ſehen, daß er ein Weißer iſt.“ 

Der Reiter hatte natürlich auch ſie geſehen und kam 
auf ſie zu. Bei ihnen angekommen, hielt er ſein Pferd 
an, grüßte und fragte in ſpaniſcher Sprache: „Darf ich 
erfahren, Seßores, woher Sie kommen?“ 

„Wir kommen vom Parana her,“ antwortete An⸗ 
ciano höflich in derſelben Sprache. 

„Und wohin wollen Sie?“ 

„Durch den Gran Chaco hinauf in die Berge.“ 


— 204 — 


„Wer ſind Sie?“ ö 

„Wir ſind Indianer, die zu keiner Partei gehören 
und mit den Weißen in Frieden leben.“ 

„Das freut mich. Ich bin Doktor Parmeſan Rui 
el Iberia de Sargunna y Caſtelguardianta.“ 

„Ein ſehr langer und wohl auch ſehr vornehmer 
Name, Senor, nicht?“ 

„Ja. Ich ſtamme aus Altkaſtilien, wo meine 
Ahnen auf Burgen und Schlöſſern wohnten. Aber da 
Sie durch den Chaco und nach den Bergen wollen, ſo 
fällt mir ein — — gehören Sie etwa zur Geſellſchaft 
des Vater Jaguar?“ 

„Des Vater Jaguar? Iſt dieſer berühmte Mann 
denn hier?“ 

„Allerdings. Ich ſuche ihn. Ich glaube, die 
Fährte, die Sie da vor ſich ſehen, iſt die ſeinige. Alſo 
Sie gehören nicht zu ihm?“ 

„Nein; aber wir würden uns ſehr freuen, wenn 
wir ihn treffen könnten; denn er würde uns gewiß er⸗ 
lauben, uns ihm anzuſchließen. Alſo Sie meinen, daß 
dies ſeine Spur iſt?“ 

„Ja. Wir hatten ſeine Fährte ſchon einmal, ritten 
aber nicht auf ihr fort, weil wir bei einem vorweltlichen 
Tiere halten blieben. Dann als ich die Fährte brauchte, 
war ſie verſchwunden. Nachher aber erreichte ich eine 
Stelle, wo der Vater Jaguar Halt gemacht haben muß, 
und von da aus iſt die Spur wieder zu ſehen?“ 

„So bitten wir, ihr mit Ihnen folgen zu können!“ 

„Gern, wenn Sie nicht zu langſam gehen. Ich 
habe nämlich Eile.“ 

„Wir gehen ſchnell.“ 

„So kommen Sie!” 


— 205 — 


Er ritt in ziemlich ſchnellem Schritt weiter, und ſie 
waren ſo gute Läufer, daß es ihnen nicht ſchwer wurde, 
ſich an ſeiner Seite zu halten. Dabei meinte er, ſie 
noch genauer als bisher betrachten: „Sie kennen 
meinen Namen und meine edle Abſtammung, Seüores. 
Darf ich nun auch wiſſen, wie ich Sie zu nennen habe?“ 

„Ich heiße Anciano, und der Name meines Enkel⸗ 
ſohnes iſt Haukaropora. Wem dieſer Name zu lang iſt, 
der pflegt gewöhnlich nur Hauka zu ſagen.“ 

„Das werde auch ich tun, denn es findet da eine 
Amputation der letzten drei Silben ſtatt, und ich liebe 
ſolche Operationen. Ich bin nämlich Chirurg. Was 
ſagen Sie zu einer operativen Entfernung der Knie⸗ 
ſcheibe? Wird der Patient dann noch gehen können?“ 

„Wohl ſchwerlich, Senor.“ 

„Schwerlich? Sehr leicht ſogar, Senor Anciano. 
Man muß es nur richtig zu machen verſtehen. Ein 
Schnitt zur rechten Zeit und in der richtigen Weiſe. Mir 
würde er ſicher gelingen, denn ich ſäble bekanntlich alles 
herunter!“ 

Der Alte ſtrich ſich das lange Haar aus der Stirn 
und ſah den Sprecher mit einer gewiſſen Befangenheit 
an, da er nicht wußte, was er von deſſen Worten denken 
und darauf antworten ſolle. Der Chirurg bemerkte das 
und fragte: „Sie glauben es vielleicht nicht? O, ich 
habe Operationen ausgeführt, bei denen es eine wahre 
Wonne war, die Knochenſäge arbeiten zu hören! Was 
halten Sie vom Klumpfuß? Iſt er durch eine Opera⸗ 
tion zu heilen?“ | 

„Das kann ich leider nicht ſagen, Senor.“ 

„Nicht Seüor, ſondern Don! Ein folder Edel⸗ 
mann, wie ich, wird Don genannt. Sagen Sie alſo ein⸗ 


— 206 — 


fach Don Parmeſan. Wie es ſcheint, kennen Euer Gna⸗ 
den den Vater Jaguar?“ 

„Ja; ich habe ihn nicht nur ſchon geſehen, ſondern 
auch mit ihm geſprochen.“ 

„Das iſt mir lieb! Ich lerne alſo in Ihnen einen 
Bekannten von ihm kennen. Glauben Sie, daß er bereit 
fein wird, zwei deutſche Senores zu retten?“ 

„Deutſche? Was iſt das?“ 

„Leute aus Deutſchland.“ 

„Das kenne ich nicht.“ 

„Da ſcheint es mit Ihren geographiſchen Kennt⸗ 
niſſen ſchlecht zu ſtehen, Seüor Anciano. Deutſchland 
iſt ein Land, das jenſeits des Meeres liegt, weſtlich von 
Spanien, nördlich von Rußland, öſtlich von England 
und ſüdlich von Italien. Da haben Sie ſeine Grenzen. 
Die Leute dort ſind des Teufels darauf, Rieſentiere aus⸗ 
zugraben. Bei einem ſolchen Geſchäft ſind wir von den 
Abipones erwiſcht worden.“ 

„Von den Abipones? Wo war das?“ 

„Jenſeits des Rio Salado, aber diesſeits der La⸗ 
guna Porongos.“ 

„Auch dort waren Abipones? Seltſam! Wie 
viele?“ 

„Vielleicht fünfzig.“ 

„Gerade ſo viele, wie auch wir geſehen haben.“ 

„Wo?“ 

„Da hinter uns im Walde.“ 

„Das iſt kein gutes Zeichen. Sollten dieſe Kerls 
etwa einen Einfall planen? Ich wünſche ſehr, den 
Vater Jaguar zu finden, damit der lateiniſche Deutſche 
und ſein Diener baldigſt gerettet werden.“ 

Er erzählte den beiden in ſeiner Weiſe das erlebte 
Abenteuer. Dabei gelangten ſie wieder in den Wald 


— 207 — 


und wurden von der Fährte, der ſie folgten, an deſſen 
Saum hingeführt, bis er eine kleine Bucht bildete, vor 
der ſie überraſcht halten blieben, denn auf ihr graſten 
wohl über zwanzig Pferde, und ebenſo viele Männer 
lagen in den verſchiedenſten Gruppierungen umher. Sie 
waren wohlbewaffnet und alle, ohne Ausnahme, ganz 
und gar in Leder gekleidet. Als ſie die Ankömmlinge er⸗ 
blickten, ſprangen ſie auf, und einer, der von rieſiger 
Geſtalt war und einen dichten, weißen Bart trug, kam 
auf ſie zu. 

„Das iſt der Vater Jaguar,“ flüſterte Anciano dem 
Chirurgen zu. 

Der Genannte bildete heute eine ganz andre Er⸗ 
ſcheinung als in Buenos Aires. Dort hatte er einen 
feinen Anzug nach franzöſiſchem Schnitt getragen und 
auch ſchon ſo einem jeden mit ſeiner gewaltigen Figur 
imponiert. Hier aber in dem Lederanzug und in den 
langen Stiefeln ſah er noch ganz anders aus. Es war, 
als ob die Geſtalt gar nicht ohne dieſes Gewand geſehen 
werden dürfe. Er nahm zunächſt keine Notiz von dem 
Chirurgen, ſondern wendete ſich an deſſen Begleiter und 
rief ſichtlich erfreut, indem er ihnen die Hände entgegen⸗ 
ſtreckte: „Anciano und Hauka! Hier unten im Chaco! 
Was hat denn euch bewogen, von euren Bergen herab⸗ 
zuſteigen, und welcher Zufall führt euch gerade heut an 
dieſen Ort?“ 

Sie drückten ihm die Hände, und Anciano antwor⸗ 
tete: „Davon ſpäter, Seüor. Es gibt Notwendigeres zu 
beſprechen. Sie ſollen zwei gefangene Männer retten.“ 


„Wie? Zwei Gefangene retten? Das klingt ja 
ſehr nach Abenteuer! Wer ſind die Leute?“ 


„Don Parmeſan wird es Ihnen ſagen.“ 


— 208 — 


Der Vater Jaguar wendete ſich jetzt dem Genann⸗ 
ten zu. Seine Augenwinkel zogen ſich ein wenig miß⸗ 
mutig zuſammen, als er zu ihm ſagte: „Don Parme⸗ 
ſan? Dieſen Namen habe ich ſchon gehört, und ich 
denke, Sie äuch ſchon geſehen zu haben. Werden Sie 
nicht zuweilen El Carnicero genannt?“ 

„Allerdings,“ antwortete der Gefragte; „aber ich 
dulde es nicht, daß man mir dieſen Namen gibt. Ich 
bin der Doktor Parmeſan Rui el Iberio de Sargunna 
y Caſt — — — —“ | 

„Schon gut!“ unterbrach ihn der Vater Jaguar. 
„Sie wollen mir ſagen, wer die Männer ſind, die meiner 
Hilfe bedürfen?“ 

„Es find zwei deutſche Senores.“ 

„Deutſche? Iſt's möglich?“ 

„Ja. Sie wollten Ihnen nach, um im Chaco alte 
Tiere auszugraben.“ 

„Alte Tiere? Meinen Sie etwa vorweltliche?“ 
fragte der Rieſe, indem er die Brauen in mißmutiger 
Erwartung höher zog. ö 

„Ja, vorweltliche; das ſtimmt. Es war eine Gi- 
gantochelonia.“ 

„Dieſen Namen habe ich noch nicht gehört; mein 
Latein ſagt mir aber, daß es ſich wahrſcheinlich um eine 
Rieſenſchildkröte handelt.“ | 

„Richtig, Senor! Bei der Schale der Kröte war 
es, wo wir erwiſcht wurden.“ 

„Wie hießen dieſe Deutſchen?“ 

„Der Kuckuck kann ſich ſolche Namen merken! 
Einer war Doktor und der andre ſein Diener.“ 

„Doktor Morgenſtern?“ 

„Ja, ja, ſo klang es.“ 

„Und Fritze Kieſewetter?“ 


— 209 — 


„Ganz recht, ganz recht! Kieſe — — war'', 
Kieſe — —' 

„Welche Menſchen! Ich glaube, die ſind mir von 
Buenos Aires bis hierher nachgelaufen!“ 

„Das nicht; aber per Dampfer nachgefahren und 
dann von Santa Js aus nachgeritten. Dieſer Doktor 
Mor — Mor — oder wie er heißt, iſt ein ganz lieber 
Senor, hat aber feine Schrullen. Er will nur von 
ſeinen Tierknochen hören und iſt auf nichts andres zu 
bringen. Mit der Chirurgie zum Beiſpiel darf man 
ihm gar nicht kommen, und das iſt doch das intereffan- 
teſte Feld, das es nur geben kann. Was ſagen Sie wohl 
zu einer Operation des Zungenkrebſes in Komplikation 
mit Naſenpolypen. Das müßte doch ein — — —“ 

„Laſſen wir den Krebs und die Polypen!“ fiel ihm 
der Vater Jaguar in die Rede. „Erzählen Sie mir in 
Kürze, was geſchehen iſt!“ 

Der Chirurg gehorchte dieſer Aufforderung. Wäh⸗ 
rend er ſprach, traten die Gefährten des Vater Jaguar 
herzu, um ihm zuzuhören. Es waren lauter kräftige 
Geſtalten, denen man es anſah, daß ſie ſchon manches 
erlebt hatten und wohl vor keiner Anſtrengung und 
keiner Gefahr zurückſchreckten. Die drei, die mit ihm in 
Buenos Aires geweſen waren, befanden ſich auch dabei. 
Auch ſie machten jetzt einen ganz andern Eindruck als 
damals, wo ſie im Geſellſchaftsanzug ſteckten. Als Don 
Parmeſan ſeinen Bericht beendet hatte, trat zunächſt 
tiefe Stille ein. Keiner wollte reden, bevor der An⸗ 
führer das Wort ergriffen hatte. Dieſer ſah eine kleine 
Weile nachdenklich vor ſich nieder und fragte dann, ſich 
direkt an einen ſeiner Gefährten wendend: „Was meinſt 
du dazu, Geronimo? Haſt du dir die Sache ſchon zu⸗ 
rechtgelegt?“ 

May, Das Vermächtnis des Inka | 14 


— 210 — 


Dieſer Geronimo war ein nicht zu hoher, aber ſehr 
breitſchulteriger Mann mit dichtem ſchwarzem Vollbart 
und einer bedeutenden Habichtsnaſe. Er hätte für das 
Urbild eines Räuberhauptmanns genommen werden 
können, war aber ein ſehr ehrlicher Kerl und der Lieb⸗ 
ling des Vater Jaguar. Er zuckte leicht die Achſel und 
antwortete: „Zunächſt kommt es wohl darauf an, ob 
du denkſt, daß wir dieſe unvorſichtigen Leute ſtecken 
laſſen ſollen oder nicht.“ 


„Sie müſſen heraus aus der Falle, in die fie ge⸗ 
raten ſind. Sie ſind Landsleute von mir. Ich habe 
dieſem Doktor Morgenſtern wohl fünfzigmal geſagt, daß 
ich ihn nicht mitnehme, und konnte unmöglich ahnen, 
daß er mir dennoch folgen werde. Eine kleine Strafe 
könnte ihm nichts ſchaden; aber befreien muß ich ihn, 
ſonſt kann ihm ſeine Aehnlichkeit mit dem Oberſten, den 
ich noch nie geſehen, verhängnisvoll werden.“ 

„So fragt es ſich, ob ſich die Abipones noch dort be⸗ 
finden. Wäre dies der Fall, ſo ritten wir einfach hin.“ 

„Sie ſind wohl nicht mehr dort,“ fiel der alte An⸗ 
ciano ein. „Die Señores müſſen mir verzeihen, wenn ich 
mir dieſe Bemerkung erlaube. Ich habe Gründe dazu.“ 

Er erzählte von den Abipones, die er geſehen hatte, 
und beſchrieb die Stelle, wo er an ſie geſchlichen war. 

„Befanden ſich Weiße bei ihnen?“ fragte der Vater 
Jaguar. 

„Nein.“ 

„Dennoch möchte ich überzeugt ſein, daß die beiden 
Indianertrupps zuſammengehören. Es handelt ſich 
ſehr wahrſcheinlich um ein Pronunciamiento. Die Abi⸗ 
pones ſollen aufgewiegelt werden. Man hat Verſtecke 


— 211 — 


angelegt, um fie genügend bewaffnen zu können. Die 
Schutzdecke eines ſolchen Magazins hat der Doktor für 
das Rückenſchild ſeiner wunderbaren Gigantochelonia 
gehalten. Selbſt wenn man ſich überzeugt, daß er nicht 
der Oberſt iſt, hat er ſo viel geſehen und erfahren, daß 
man ſich leicht veranlaßt ſehen kann, ihn ſchweigſam zu 
machen. Hier zu Lande gilt ein Menſchenleben nichts, 
und das eines Ausländers noch weniger als dasjenige 
eines Inländers. Und alſo Antonio Perillo war dabei? 
Dieſer Stierkämpfer und notoriſche Schurke iſt alſo auch 
mit in die Revolte verwickelt. Ich habe ein Wort mit 
ihm zu reden. Der Hauptmann Pellejo iſt ein Ver⸗ 
räter. Und der Dritte? Wer war er? Wie wurde er 
genannt?“ 


„Wie er heißt, das weiß ich nicht, denn ſein Name 
blieb verſchwiegen,“ antwortete der Chirurg. 

„Beſchreiben Sie ihn mir.“ 

„Er war von langer und ſtarker Geſtalt, wenn auch 
nicht jo ſehr wie Sie, Seüor Jaguar.“ 

„Alt oder jung?“ 

„Aelter als die andern.“ 

„Welche Rolle ſchien er zu ſpielen? Diejenige eines 
Untergebenen?“ 

„Nein, ganz und gar nicht. Er ſchien vielmehr der 
Vornehmſte von allen zu ſein. Er ſprach ſo, als ob er 
es ſei, der zu befehlen habe.“ 

„Was er iſt, ein Offizier, ein Eſtanziero, ein 
Gaucho, das konnten Sie wohl nicht erraten?“ 

„Nein. Er ſah ganz wie einer aus, der ſich ſtets 
im Freien bewegt, wie ein Yerbatero, ein Cascarillero 
oder ein Sambuf — — —” 


— 212 — 


Er hielt inne und beſann ſich wie einer, dem etwas 
Wichtiges einfällt. 

„Nun, was iſt's? Warum ſchweigen Sie? Wollten 
Sie Gambuſino ſagen?“ 


„Ja, ja, Gambuſino. Da fällt mir doch noch ein, 
daß er von dem Kapitän der größte Gambuſino genannt 
wurde.“ 


„Der größte Gambuſino!“ fiel da Geronimo ein. 
„Sollte es etwa gar Benito Pajaro ſein, den man El 
gambusino maestro nennt?“ 


„Möglich,“ antwortete der Vater Jaguar. „Ich 
bin dieſem Mann noch nicht begegnet, habe aber gehört, 
daß er von langer und ſtarker Geſtalt iſt. Nun, jeden⸗ 
falls werden wir erfahren, mit wem wir es zu tun 
haben, denn ich bin ſehr entſchloſſen, dieſen Senores 
einen Strich durch ihre Rechnung zu machen. Sie 
wollen ſich gegen Mitre empören, einen General, den ich 
achte und ſehr wertſchätze. Schon deshalb möchte ich ein 
Wort mit ihnen reden. Dazu kommt, daß ſie ſich an 
meinen Landsleuten vergriffen haben. Ich hoffe, ihr 
ſeid mit von der Partie und werdet mich nicht im Stich 
laſſen!“ | 

„Nein, nein; das verſteht ſich ganz von ſelbſt!“ rief 
es im Kreiſe. 


„So will ich euch ſagen, wie ich mir die Sache 
denke. Die beiden Trupps gehören zuſammen. Die In⸗ 
dianer, welche die Deutſchen gefangen genommen haben, 
werden den andern Trupp aufſuchen, und zwar höchſt⸗ 
wahrſcheinlich noch heute. Sie werden alle da lagern, 
wo dieſer unſer Senor Anciano die Roten beobachtet 
hat, und die Gefangenen befinden ſich natürlich bei 


— 213 — 


ihnen. Wir reiten jetzt hin und kommen dort an, wenn 
es Abend geworden iſt. Die Waldesöffnung wird trotz 
der Dunkelheit zu finden ſein, und dann werden uns die 
Lagerfeuer als Führer dienen. Was wir tun werden, 
um die Gefangenen zu befreien, weiß ich jetzt noch nicht; 
aber wenn ich mich an ſie geſchlichen und ſie beobachtet 
habe, wird ſich leicht ergeben, in welcher Weiſe wir zu 
handeln haben. Alſo auf, zu den Pferden!” 


Siebentes Kapitel 


Eine nächtliche Befreiung 


Die Sonne berührte ſchon den Horizont, als die 
Männer ihre Pferde ſattelten. Anciano und Hauka 
waren zu Fuß gekommen; ſie mußten alſo hinter zwei 
andern Reitern aufſteigen. Anton, der Neffe des Ban⸗ 
kiers, hatte ſofort eine Zuneigung zu dem jungen, hüb⸗ 
ſchen Inka gewonnen; er kam zu ihm und ſagte in der 
höflichen ſpaniſchen Weiſe: „Senor, Sie werden ge⸗ 
zwungen ſein, zu zweien zu reiten. Darf ich Ihnen 
einen Sitz bei mir anbieten?“ 

Ueber das ernſte Geſicht des Inka, auf dem ge⸗ 
wöhnlich der den ſüdlichen Indianern eigentümliche 
wehmütige Zug zu beobachten war, glitt ein freund⸗ 
liches, dankbares Lächeln, und er antwortete: „Ich 
werde Ihnen beſchwerlich fallen, Seüor, nehme aber Ihr 
Anerbieten an. Vielleicht iſt es mir möglich, Ihnen 
einen andern Dienſt zu erweiſen. Ich heiße Hauka; wie 
darf ich Sie nennen?“ 

„Mein Name iſt Antonio. Sie werden mir nicht 
läſtig fallen; ich freue mich im Gegenteil darauf, mit 
Ihnen reiten zu dürfen. Sie werden wohl beſſer zu 
Pferde ſitzen als ich; e bitte ich Sie, mir den Sattel 
zu überlaſſen.“ 


— 215 — 


Er ftieg auf, und Hauka ſprang hinter ihm flink 
auf das Pferd. Anciano leiſtete einem der andern Reiter 
Geſellſchaft. Dann ging der Ritt an dem Rande des 
Waldes hin, ganz denſelben Weg zurück, den die beiden 
gekommen waren. Die Sonne ſenkte ſich hinter dem 
Horizont hinab, und der kurzen Dämmerung folgte der 
Abend. 

Der alte Anciano ritt mit ſeinem Sattelgefährten 
neben dem Vater Jaguar voran. Ihnen folgten Anton 
Engelhardt und der junge Inka mit Geronimo, dem 
Liebling des Vaters Jaguar. Man bemühte ſich, alles 
Geräuſch zu vermeiden, und da der Boden weich und 
graſig war, ſo drang der Hufſchlag nicht weit, und es 
war nur hie und da das Schnauben eines Pferdes zu 
vernehmen. So ging es weiter und weiter, bis Anciano 
halten blieb und den Inka in ſpaniſcher Sprache, ſo daß 
die andern es verſtehen konnten, mit unterdrückter 
Stimme fragte: „Ich denke, wir müſſen den Einſchnitt 
ſofort erreichen. Was meinſt du, mein Sohn?“ 

„Eben wollte ich dich darauf aufmerkſam machen, 
mein Vater,“ antwortete der Gefragte. „Ich ſehe trotz 
des Dunkels hier links einen hohen Laureliabaum, der 
mir auffiel, als wir aus dem Einſchnitt kamen. Er iſt 
nicht weit von dem letzteren entfernt.“ 

„So werden wir abſteigen und die Pferde etwas 
zurückſchaffen müſſen. Ihr Schnauben könnte uns ver⸗ 
raten, denn wir wiſſen nicht, ob die zweite Truppe, bei 
der ſich die Gefangenen befinden, ſchon da iſt oder erſt 
noch ankommen wird.“ 

Dieſe Worte zeigten, daß der alte Indianer ein ſehr 
um⸗ und vorſichtiger Mann war, und da der Vater Ja⸗ 
guar keine Einwendung machte, ſo ritten die Männer 
eine kleine Strecke zurück und ftiegen dann ab, um ihre 


— 216 — 


Pferde an die den Waldesrand bildenden Bäume und 
Sträucher zu binden. Während dies geſchah, hörte man 
die zwar leiſe, aber doch allen vernehmliche Stimme des 
Indianerknaben: „Still, Seüores, ich höre etwas.“ 

Keiner bewegte ſich. Der Inka lag auf der Erde, 
das Ohr feſt auf dieſe gelegt. 

„Es kommen Reiter,“ meldete er. „Sorgen Sie 
dafür, daß unſre Pferde nicht ſchnauben!“ 

Jeder trat zu ſeinem Tier, um ihm die Nüſtern 
mit der Hand zu bedecken. Ja, es kamen Reiter. Zu⸗ 
nächſt hörte man den im Graſe dumpf klingenden Huf⸗ 
ſchlag ihrer Pferde; ſodann vernahm man auch die 
Stimmen derer von ihnen, die miteinander ſprachen. 
Sie kamen von rechts, vom Fluß her und ritten dem 
Wald entgegen. 

„Wirſt du uns richtig führen, Brazo valiente?“ 
hörte man jemand fragen. „Es iſt kein Vergnügen, des 
Nachts eine ſchmale Lücke des Waldes zu ſuchen.“ 

„Das war Antonio Perillo,“ flüſterte der Vater 
Jaguar ſeinem Geronimo zu. „Ich kenne ſeine Stimme.“ 

„Ich kenne jeden Pferdeſchritt in dieſer Gegend,“ 
antwortete ein zweiter in gebrochenem, aber deutlichem 
Spaniſch. „Wir ſind genau in der Richtung. Eine 
hohe Laurelia ſteht da, wo der Wald ſich trennt. Wir 
müſſen ſie ſofort ſehen.“ | 

Jetzt waren die Reiter jo nahe, daß fie, obgleich es 
ziemlich finſter war, den Wald erkennen konnten. 

„Da iſt das Holz,“ rief die zweite Stimme, „und 
da iſt die Laurelia. Sie ſehen, daß ich die Richtung ge⸗ 
rade wie eine Schnur genommen habe. Einige Schritte 
nach rechts, und wir werden auf den Einſchnitt treffen.“ 

Sie lenkten nach der angedeuteten Richtung ein und 
waren dann nicht mehr zu ſehen und zu hören. 


— 217 — 


„Wie gut, daß wir nicht dort bei der Laurelia hal⸗ 
ten geblieben ſind!“ ſagte Geronimo. „Sie hätten uns 
ertappt. Was tun wir jetzt?“ 

„Warten!“ antwortete der Vater Jaguar. „Wir 
können nicht eher handeln, als bis der eine Trupp zu 
dem andern geſtoßen iſt und ſie ſich alle gelagert haben. 
Kannteſt du die zweite Stimme, die wir hörten?“ 

„Es war mir freilich ſo, als ob ich ſie ſchon einmal 
vernommen hätte, aber ich weiß nicht, wo und von wem.“ 

„So will ich es dir ſagen. Der, welcher Antonio 
Perillo antwortete und den Weg ſo genau kannte, war 
El Brazo valiente, der tapfere Arm‘, der Häuptling 
der Abipones.“ 

„Caramba! Das iſt wahr; jetzt beſinne ich mich. 
Es war der tapfere Arm“. Wir haben doch ſchon einige 
Male mit ihm geſprochen. Alſo er iſt es, der die 
Deutſchen gefangen genommen hat! Er gibt ſie nicht 
freiwillig heraus.“ 

„Nein. Früher waren wir mit ihm befreundet; da 
hätte er ſie mir zuliebe losgelaſſen; jetzt aber wird es 
ihm nicht einfallen, dies zu tun.“ 

„So zwingen wir ihn!“ 

„Zunächſt nicht zwingen, keine Gewalt anwenden. 
Wozu Blut vergießen, wenn uns die Liſt viel leichter, 
viel ſicherer und ohne alle Verluſte zum Ziel zu führen 
vermag.“ 

„Du meinſt alſo, daß wir ſie heimlich herausholen 
werden?“ 

„Wir werden wenigſtens den Verſuch machen. Es 
kommt ganz auf die Oertlichkeit an und auf die Art und 
Weiſe, wie ſie lagern.“ 

„Und wenn es uns gelingt? Was dann?“ 

„Dann reiten wir ruhig weiter.“ 


— 218 — 


„So! Denkſt du nicht an das Pronunciamiento, 
an die Revolution, welche ſie planen?“ 

„Die geht uns eigentlich nichts an!“ 

„O doch! Wir ſind gute und treue Untertanen 
unſres Präſidenten. Wollen wir ruhig zufehen; daß er 
abgeſetzt, vielleicht gar getötet wird?“ 

„Dazu kann es nicht kommen. Ich weiß zwar 
nicht, wer an der Spitze dieſer Meuterer ſteht, keines⸗ 
falls aber iſt es ein Burſche, der es mit Mitre aufzu⸗ 
nehmen vermag.“ 

„Möglich, ſogar ſehr wahrſcheinlich; aber ſelbſt den 
Fall geſetzt, daß die Empörung niedergedrückt wird, ſo 
ſteht es doch feſt, daß ſie vielen, vielen Menſchen das 
Leben und das Eigentum koſten wird. Alſo dürfen wir 
uns nicht ſo heimlich davonſchleichen, ſondern wir müſ⸗ 
ſen dieſen Burſchen eine ſcharfe Lehre und eine nach⸗ 
drückliche Warnung geben.“ 

„Das kann doch nur dadurch geſchehen, daß wir 
unſre Waffen brauchen?“ 

„Ja. Wir ſchießen einige von ihnen nieder.“ 

„Nein. Das tue ich nicht. Wenn es nicht unbe⸗ 
dingt notwendig iſt, töte ich keinen Menſchen.“ 

„Das iſt wieder eine jener Anſichten und Meinun⸗ 
gen, die du aus dem Norden mitgebracht haſt. Es tut 
dir leid um die dortigen roten Völker, die ſo elendiglich 
umkommen müſſen. In Beziehung auf ſie magſt du 
recht haben, denn es iſt wirklich ſchade um die tapfern, 
kühnen Männer, von denen du uns erzählt haſt. Aber 
unſre ſüdlichen Indianer beſitzen dieſe Tugenden nicht; 
fie ſind feig, mutlos und niederträchtig. Sie brechen 
aus ihren Wäldern hervor, um nächtlicherweile zu ſteh⸗ 
len und die Schläfer zu ermorden. Finden ſie aber Ge⸗ 
genwehr oder werden fie gar ſelbſt angegriffen, fo 


— 219 — 


rennen fie davon wie geprügelte Hunde. Leute, die mit 
vergifteten Pfeilen ſchießen, kann man weder achten 
noch bemitleiden. Es juckt mich wirklich in den Händen, 
ihnen zu zeigen, was es heißt, ſich mit dem Vater Ja⸗ 
guar und ſeinen Männern zu verfeinden.“ 

„Laß es jucken! Heute wollen wir froh ſein, wenn 
es uns gelingt, die beiden unſchuldigen Menſchen frei 
zu machen. Iſt das geſchehen, ſo wollen wir ſehen, was 
weiter zu tun ſein wird.“ 

„Wie viele Leute nimmſt du mit?“ 

„Zunächſt nur dich. Die andern bleiben hier. Je 
weniger wir ſind, deſto ſchwerer werden wir bemerkt.“ 

Obgleich dieſe Unterhaltung ſo laut geführt wor⸗ 
den war, daß alle dieſe letzte Beſtimmung zu hören ver⸗ 
mochten, fiel es doch keinem ein, ſich dagegen aufzu⸗ 
lehnen. Die Geſellſchaft hatte zwar kein eigentliches 
Oberhaupt, und ein jeder beſaß dasſelbe Recht wie der 
andre, aber die Perſönlichkeit des deutſchen Rieſen, der 
nicht nur körperlich, ſondern auch geiſtig alle überragte, 
brachte dennoch den Eindruck vor, daß jeder ihn ſchwei⸗ 
gend als den Führer, dem man Gehorſam ſchuldete, an⸗ 
erkannte. 

Alſo ſeine Leute erklärten ſich durch ihr Schweigen 
mit ſeinen Worten einverſtanden; aber ein andrer ſprach 
dagegen, nämlich der alte Anciano. Er ſagte: „Senor, 
warum wollen Sie allein gehen? Nehmen Sie mich 
und meinen Enkelſohn mit! Sie kennen uns und 
wiſſen, daß wir Ihnen keinen Schaden bereiten werden!“ 

Der Vater Jaguar ſchwieg eine Weile überlegend; 
dann antwortete er: „Ja, ich kenne euch. Ihr verſteht 
es, das wilde Lama zu beſchleichen und den Kondor faſt 
auf ſeinem Neſte zu fangen. Zwar habe ich noch nicht 
geſehen, ob Ihr es auch vermögt, Euch einem Menſchen 


— 220 — 


unbemerkt zu nähern, aber es iſt Nacht, und dieſe Abi⸗ 
pones ſind nicht ſo ſcharfſinnig wie die Sioux oder Apat⸗ 
ſchen und Komantſchen Nordamerikas. Sodann wißt ja 
gerade ihr beide, wo dieſe Menſchen lagern. Alſo 
wollen wir euch mitnehmen. Macht euch fertig!“ 

„Sollen wir unſre Flinten oder die Lanzen und 
Pfeile mitnehmen?“ 

„Nur die Meſſer. Schießen werden wir nicht, und 
zur Abwehr werden, falls uns einer anfällt, die Meſſer 
genügen.“ 

Die beiden Indianer legten ihre Waffen und auch 
die Silberlöwentaſchen ab, um ſich leichter und freier 
bewegen zu können. 

„Und euer langes Haar?“ meinte der Vater Ja⸗ 
guar. „Wir werden zwiſchen und unter den Sträu⸗ 
chern, Dornen und Schlingpflanzen hinkriechen müſſen. 
Da bleibt ihr hängen.“ 

Statt aller Antwort nahm Anciano ſein langes, 
graues Haar halb rechts und halb links nach vorn und 
band es unter dem Kinn in einen Knoten zuſammen. 
Der Inka tat mit dem ſeinigen ebenſo, und dann 
brachen ſie auf. 

Anciano ging voran. An der Laurelia angeloms 
men, wendete er ſich nach links, wo der Einſchnitt den 
Wald teilte. Indem ſie leiſe durch das Dunkel ſchritten, 
flüſterte der Inka dem Vater Jaguar zu: „Senor, Sie 
denken, daß es Ihnen gelingen wird, dieſe Männer zu 
befreien?“ 

„Ja, wenn nicht jetzt durch Liſt, dann ſpäter mit 
Gewalt.“ | 

„Dann müſſen wir uns auch noch etwas andres 
holen.“ 

„Was?“ 


— 221 — 


„Pferde.“ 

„Dachte es, daß du das bringen würdeſt, du kleiner, 
liſtiger Held. Wir brauchen vier Pferde.“ 

„Ja. Für Ihre beiden Landsleute, für Anciano 
und für mich. Holen Sie mit Geronimo die Menſchen, 
und ich nehme mit Anciano die Tiere!“ 

„Nicht ſo ſchnell! Jetzt läßt ſich eine ſolche Ein⸗ 
teilung noch nicht treffen. Wir müſſen uns nach den 
Verhältniſſen richten, die wir vorfinden.“ 

Sie ſchritten unhörbar weiter. Nach einer Weile 
tauchte Lichtſchein vor ihnen auf. Sie mußten nun 
noch vorſichtiger als bisher ſein und hielten ſich ſo dicht 
am Rande des Einſchnitts, daß ſie im Schatten der 
Bäume unſichtbar blieben. 

Es wurde bereits erwähnt, daß dieſer Einſchnitt 
eine nur geringe Breite beſaß; aber da, woher der Licht⸗ 
ſchein kam, buchtete er ſich nach rechts aus und bildete 
eine Art kleiner Waldwieſe, die von ſehr dicht ſtehenden 
Bäumen und Sträuchern umgeben war. Am Eingang 
zu dieſer Wieſe und im Hintergrund rechts weideten die 
Pferde. Vorn links lagerten die Menſchen an einigen 
Feuern, denn es war kühl geworden. Der Unterſchied 
zwiſchen der Tages⸗ und Nachttemperatur beträgt in 
jenen Gegenden oft bis zehn, ja ſogar zuweilen mehr 
als zwanzig Grad nach Celſius. 

Die vier Anſchleicher hatten ſich auf die Erde gelegt 
und krochen auf Händen und Füßen näher; jetzt war 
nicht mehr Anciano, ſondern der Vater Jaguar voran. 
Ihre von Sonne, Wind und Wetter dunkel gegerbte 
Kleidung ſtach nicht im mindeſten von ihrer Umgebung 
ab; nur das lange, graue Haar des Alten hätte, wenn 
man in Nordamerika und auf einer Streife gegen die 
dortigen Indianer oder weißen Jäger geweſen wäre, 


— 222 — 


zum Verräter werden können; aber die Leute, mit denen 
man es hier zu tun hatte, beſaßen nicht ſo ſcharfe Augen. 

Jetzt hatte man die Einbuchtung erreicht. Das 
nächſt graſende Pferd ſtand kaum ſechs Schritte von 
dem Vater Jaguar entfernt. Es mußte die Fremden 
ſehen oder wenigſtens riechen; es wedelte mit dem 
Schwanze und warf die Ohren hin und her, gab aber 
kein hörbares Zeichen der Unruhe, des Verdachts oder 
gar der Warnung von ſich. 


„Dumme Geſchöpfe!“ flüſterte der Deutſche Gero⸗ 
nimo zu. „Ein Komantſchenpferd würde ſo laut ſchnau⸗ 
ben und ſo auffällig zurückweichen, daß wir ſicher entdeckt 
wären. Dennoch aber müßten dieſe Kerle es ſehen, daß 
es den Schwanz und die Ohren in einer Weiſe bewegt, 
die auf etwas Ungewöhnliches ſchließen läßt. Wir wer⸗ 
den leichtes Spiel haben.“ 

„Denke es auch,“ antwortete der andre. „Siehſt 
du, wie es ſteht?“ er: 

„Freilich! Die Feuer brennen ja fo hell, daß man 
an jedem einen Ochſen braten könnte.“ 

Es war allerdings ſo hell, daß die kleine Lichtung 
wie am Tage vor den acht ſcharf ausſchauenden Augen 
lag. | 

Die Abipones mochten gegen hundert Mann zäh⸗ 
len. Sie waren teils mit Blasrohren, Lanzen, Bogen 
und Pfeilen, teils auch mit Gewehren bewaffnet. Dieſe 
letzteren ſtammten jedenfalls aus dem Verſteck, wo Dok⸗ 
tor Morgenſtern feine berühmte Gigantochelonia ges 
ſucht hatte. Es gab ſechs Feuer. An dem einen lagerten 
die Weißen und ein Indianer, an den andern fünf die 
übrigen Roten. Die erſteren ſaßen ſo, daß man die 
Geſichter des Indianers, Antonio Perillos, des Haupt⸗ 


— 223 — 


manns Pellejo und zweier Soldaten ſehen konnte. Die 
andern zwei Soldaten kehrten den Lauſchern die Rücken 
zu, und der Gambuſino ſaß nicht, ſondern er hatte ſich 
niedergelegt und den Hut tief in das Geſicht gezogen, 
um nicht von dem Schein der Feuer geblendet zu wer⸗ 
den. Diejenigen, die zu dem ſchon vorher hier lagernden 
Trupp gehörten, mochten bereits gegeſſen haben; die 
Neuangekommenen aber waren noch damit beſchäftigt, 
das mitgebrachte harte Dürrfleiſch mühſam mit den 
Zähnen zu zerkleinern. Dabei unterhielten ſie ſich ſo 
laut, daß man jedes Wort hätte verſtehen können, wenn 
nicht zu viele auf einmal geſprochen hätten. 

Zufälligerweiſe war das Feuer, wo die Weißen la⸗ 
gerten, dasjenige, das dem Rande der Lichtung am 
nächſten lag, und das hatte ſeinen guten Grund. An 
dieſem Rand nämlich ſtanden zwei halbſtarke Bäume 
nebeneinander, an die man Doktor Morgenſtern und 
ſeinen Diener mit Hilfe zweier Laſſos gebunden hatte, 
ſo daß ſie zwar aufrecht ſtanden, aber weder Arme noch 
Beine bewegen konnten. 

Als der Vater Jaguar dieſe Sachlage überblickt 
hatte, gab er ſeinen drei Gefährten mit der Hand ein 
Zeichen, ſich noch tiefer ins Gezweig zu drücken, drehte 
ſich zu ihnen um, damit ſie ihn leichter verſtehen könn⸗ 
ten, und ſagte: „Es wird gehen; dieſe Leute haben 
keine Ahnung davon, daß ein menſchliches Weſen ſich 
hier in ihrer Nähe befinden könne. Es würden zwei 
von uns genügen, die Gefangenen zu befreien, dennoch 
iſt es gut, daß Anciano mit Hauka ſich uns angeſchloſſen 
hat. Habt ihr Feuerzeug?“ 

„Ja, dasjenige, das bei uns gebräuchlich iſt.“ 

„Das genügt. Nun höre! Ich möchte die Leute 
erſchrecken und verwirren. Du haſt alles abgelegt, An⸗ 


ciano, zu meiner Freude aber ſehe ich, daß du das Pul⸗ 
verhorn noch bei dir haſt. Iſt es leer?“ 

„Nein, Seüor, es iſt bis an die Spitze gefüllt.“ 

„Das iſt gut. Ihr kehrt um und geht, wenn ihr 
aus dem Bereich des Feuerſcheins gelangt ſeid, auf die 
andre Seite des Waldeinſchnitts und ſchleicht euch dann 
wieder nach der Lichtung hin. Dort angekommen, 
kriechſt du, Anciano, immer an deren Rande hin. Siehſt 
du das abgeſtorbene, hohe, vorjährige Gras? Es iſt ſo 
dürr, daß es wie Papier brennen wird. Biſt du weit genug 
darin vorgedrungen, ſo ziehſt du dich wieder zurück und 
ſchütteſt einen dünnen, aber zuſammenhängenden Strei⸗ 
fen Pulver in dieſes Gras. Iſt das Pulverhorn leer, 
ſo nimmſt du ein Zündholz und brennſt das Gras an, 
worauf du ſchnell zu Hauka eilſt. Dieſer hat indeſſen 
vier Sättel zuſammengetragen, was ihm ſehr leicht ſein 
wird, da fie da drüben alle, und zwar ohne Aufficht, 
liegen. Wenn du Feuer machſt, mußt du deinen Rücken 
den Feinden zukehren, damit — — —“ 

„Weiß ſchon, Seüor,“ unterbrach ihn der Alte. 
„Ich werde keinen Fehler begehen. Wenn das kleine 
Flämmchen die Pulverſchnur erreicht und daran weiter⸗ 
läuft, werde ich ſchon ſo weit fort ſein, daß ſie mich nicht 
ſehen können und alſo gar nicht wiſſen, woher das Feuer 
kommt, das plötzlich viele Schritte lang hoch empor⸗ 
lodern wird. Man wird hinzueilen, um es auszulöſchen. 
Ich begreife Ihren Plan, Senor.“ 

„Ja. Während du das Pulver ſchütteſt und Hauka 
die Sättel holt, wird Geronimo ſich um die Pferde be⸗ 
kümmern. Indeſſen ſchleiche ich mich zu den Bäumen 
hin. Sobald dein Pulver Feuer fängt und das alte 
Gras in Brand ſetzt, wird man, wie du richtig ſagſt, hin⸗ 
zueilen, um es auszulöſchen. Dieſen Augenblick der all⸗ 


— 225 — 


gemeinen Verwirrung benutze ich, die zwei Gefangenen 
loszuſchneiden. Wir kommen bierhergeſprungen;, jeder 
nimmt einen Sattel und ein Pferd und — — — 


„Und zwei nehmen die Pakete, die da drüben 
liegen,“ fiel ihm der junge Inka in die Rede. 

„Welche Pakete? Wozu?“ fragte der Vater Jaguar. 

„Als der Mann, den Ihr den Carnicero nennt, 
von der Gefangennahme ſeiner Gefährten erzählte, ſagte 
er auch, daß der gelehrte kleine Mann ſeine Bücher und 
andern Sachen in zwei Paketen bei ſich habe. Dort 
liegen nun zwei Pakete, von denen ich vermute, daß ſie 
die ſeinigen ſind, denn es gibt weiter kein Gepäck. Wenn 
wir ihn befreien, ſoll er auch ſein Eigentum erhalten.“ 

„Falls wir Zeit dazu haben, dann meinetwegen ja, 
obgleich ich es nicht für bequem halte, Bücher und ähn⸗ 
liche Sachen im Gran Chaco herumzuſchleppen. — 
Nun gut! Es weiß alſo ein jeder, welche Aufgabe er zu 
löſen hat. Gehen wir jetzt an das Werk.“ 

Er drehte ſich wieder um und kroch am Rande der 
Lichtung weiter. Es war das keine leichte Arbeit, da er 
dem bereits erwähnten Feuer ſo nahe kam, daß er, um 
nicht von deſſen Schein beleuchtet zu werden, in das Ge⸗ 
büſch eindringen mußte, und dies war ſo dicht, daß er 
nur höchſt langſam vorwärts kam. 

Endlich hatte er ſein Ziel erreicht. Er lag hinter 
den beiden Bäumen, vor denen der Doktor und ſein 
Fritze angebunden ſtanden, und konnte hören, was an 
dem Feuer geſprochen wurde. Was er vernahm, bezog 
ſich auf das heutige Ereignis. 

„Es war doch eigentlich ein Fehler, daß wir den 
Sarnicero laufen ließen,“ ſagte Kapitän Pellejo. „Er 
wird ſpäter alles erzählen.“ 

May, Das Vermächtnis des Inka 15 


— 226 — 


„Was ſchadet das?“ antwortete Antonio Perillo. 
„Erſtens fragt es ſich, ob man ihm glaubt, und wenn 
dies der Fall ſein ſollte, ſo mache ich mir gar nichts dar⸗ 
aus, wenn man mir nachrühmt, daß ich dieſen Colonel 
Glotino unſchädlich gemacht habe.“ 

„Wenn unſer Vorhaben gelingt, ja; gelingt es aber 
nicht, ſo wird das, was Sie jetzt einen Ruhm nennen, 
eine Schande für uns werden.“ 
| „Es muß gelingen, denken Sie, daß unſer roter 
Freund hier, der ſich den Ehrennamen Brazo Valiente 
erworben hat, uns mehrere tauſend Abiponeskrieger ver⸗ 
ſpricht.“ 

„Ich habe ſie verſprochen und werde ſie bringen,“ 
erklärte da der Häuptling, „wenn auch Sie die Bedin⸗ 
gungen erfüllen, die ich Ihnen geſtellt habe.“ 

„Wir erfüllen ſie.“ 

„Sie zeigen mir alle Waffenverſtecke, die Sie ange⸗ 
legt haben, und ſchenken uns alles, was drinnen liegt?“ 

„Ja.“ 

„Und Sie unterſtützen mich jetzt gegen unſre Tod⸗ 
feinde, die Cambas, indem Sie Ihre Soldaten von der 
Grenze holen und an dem Lago*) mit uns zuſammen⸗ 
treffen?“ 

„Gewiß! Ich habe ja einige meiner Leute ſchon 
bis hinauf nach El Bracho geſchickt, um alle verfügbaren 
Kräfte zuſammenzurufen.“ 

„Dann ſchlagen wir los, die Cambas ſind die 
Freunde des weißen Regenten; ſie wiſſen, daß wir ſeine 
Feinde ſind, und tun uns immerwährend Schaden. 
Sind ſie gezüchtigt, und haben wir ihnen alles abge⸗ 
nommen, ſo ſind wir reich, alle andern Stämme werden 


) See 


— 227 — 


zu uns eilen, und dann habe ich ſo viele Krieger bei⸗ 
ſammen, daß der weiße Regent vor mir erbeben wird. 9 

Das Geſpräch ſtockte für kurze Zeit. 1 

Was der Vater Jaguar da hörte, war für ihn, den 
großen und erfahrenen Kenner aller Verhältniſſe des 
Landes, höchſt wichtig. Gern hätte er noch mehr gehört; 
aber er hatte keine Zeit, länger zu lauſchen, zumal er 
nicht wußte, wie lange die jetzige Pauſe dauern werde. 
Gern hätte er auch das Geſicht des Mannes geſehen, 
der da lang ausgeſtreckt am Feuer lag. Allem Ver⸗ 
muten nach war er der berühmte Goldſucher, den man 
El gambusino maestro nannte. Alle Welt kannte ihn, 
alle Welt hatte ihn geſehen; nur er allein war ihm noch 
nicht begegnet. Aber er konnte nicht warten, bis dieſer 
Mann ſich aufrichtete oder doch wenigſtens einmal den 
Hut vom Geſicht nahm. In jedem Augenblick konnte 
drüben auf der andern Seite Ancianos Feuergarbe auf⸗ 
leuchten, und dann war es leicht möglich, daß die beiden 
Gefangenen Dummheiten machten, oder wenigſtens ſich 
falſch verhielten, wenn ſie nicht vorher von dem, was ſie 
zu tun hatten, unterrichtet waren. Darum ſchob der 
Vater Jaguar ſich jetzt ſo nahe wie möglich an die beiden 
Bäume hin, richtete ſich an dem Strauch, der dahinter 
ſtand und ihm Deckung gab, empor und ſagte in ge⸗ 
dämpftem Ton und zwar in deutſcher Sprache: „Herr 
Doktor, bewegen Sie ſich nicht! Es iſt ein Retter hinter 
Ihnen.“ 

Der Angeredete war nicht geübt, in einer ſolchen 
Lage bewegungslos zu bleiben; er zuckte zuſammen und 
wendete den Kopf halb zur Seite. Auch Fritze machte 
eine kleine Bewegung, doch nicht ſo weit, wie ſeine 
Feſſeln ihm wohl zugelaſſen hätten. Er beſaß mehr 
Selbſtbeherrſchung als ſein Herr. 


— 228 — 


„Still, keinen Laut! Stehen Sie gerade und ſtarr, 
und wenden Sie nicht den Kopf!“ fuhr der Vater Ja⸗ 
guar fort. „Sie haben mir nichts zu antworten als ‚ja‘ 
oder ‚nein‘. Zucken Sie leiſe die rechte Achſel, jo heißt 
das ‚ja‘; zucken Sie die linke, fo heißt es ‚nein‘. Ich bin 
Karl Hammer, der Vater Jaguar, den Sie beim Bankier 
Salido in Buenos Aires kennen gelernt haben. Ver⸗ 
ſtehen Sie, was ich ſage?“ 

Beide zuckten die rechte Achſel. 

„Sind Sie ſo feſt angebunden, daß die Riemen 
Ihnen Schmerzen verurſachen?“ 

Zucken links, alſo „nein“. 

„So iſt Ihr Blutumlauf alſo nicht geſtört, und Sie 
werden ſich leicht und raſch bewegen können, falls ich 
Sie losſchneide?“ 

Rechts gezuckt bedeutete „ja“. 

„Das iſt gut. Ich habe bereits das Meſſer in der 
Hand. Ein Gefährte von mir wird drüben am Saum 
der Lichtung ein Pulverfeuer aufleuchten laſſen, welches 
das hohe, dichte und trockene Gras ſofort in hohen Brand 
verſetzt. Die Leute hier werden erſchrocken hineilen, um 
das Feuer auszulöſchen, und für einige Augenblicke wird 
man ſich nicht um Sie kümmern. Verſtehen Sie mich 
auch jetzt?“ fragte er, da am Feuer wieder laut ge⸗ 
ſprochen wurde. | 

Beide zudten die rechte Achjel zum Zeichen der Be⸗ 
jahung. 

„In der ſo entſtehenden Verwirrung ſchneide ich 
Sie los und nehme Sie bei der Hand. Wir ſpringen 
hier am Rande rechts hin bis dahin, wo Sie jetzt vier 
Pferde nebeneinander ſtehen ſehen, die, wie ich zu meiner 
Genugtuung bemerke, ein andrer Gefährte von mir un⸗ 
bemerkt zuſammengelockt hat. Unweit davon ſehen Sie 


— 229 — 


vier Sättel liegen, von denen jeder einen nimmt 
und n 

Er konnte nicht ausſprechen, denn er ſah da drüben, 
wohin er den alten Anciano geſchickt hatte, ein kleines, 
kleines Flämmchen blitzen; dieſes Flämmchen fraß ſich 
einige Fuß weiter, bis es das Pulver erreichte; ein lauter 
FIfffffffft⸗ähnlicher Laut wurde hörbar, und in demſelben 
Augenblick ſtieg eine wohl zehn Ellen lange Feuerwand 
kerzengerade in die Höhe. 

Zunächſt gab es einen Augenblick lautloſen Schrek⸗ 
kens. Dann ſprangen alle Roten und Weißen ſchreiend 
auf, der Häuptling war der einzige, der ruhig blieb. 

„Schlagt es mit den Ponchos aus!“ rief er laut. 

Jeder beeilte ſich, dieſer Weiſung augenblicklich 
nachzukommen, aber der erwartete Erfolg war nicht ſo 
leicht zu erreichen, denn hoch über das junge, grüne Gras 
hinaus ragte das alte verdorrte; es brannte wie Papier, 
und wenn man an einer Stelle die Flamme nieder 
hatte, ſtieg ſie im nächſten Augenblick wieder empor. Die 
Pferde wurden unruhig und ſchnaubten ängſtlich; kein 
Menſch achtete auf ſie. Kein Menſch achtete auch auf 
die Gefangenen. 

Sobald der erſte Schreckensruf erſchollen war, war 
der Vater Jaguar aufgeſprungen, hatte die beiden Ge⸗ 
fangenen losgeſchnitten und ſie, einen rechts und einen 
links an die Hand nehmend, in eiligem Lauf mit ſich 
fortgezogen, dahin, wo die vier Pferde ſtanden. Dort 
tauchte Geronimo hinter den Tieren auf und rief: 
„Habe die Pferde zuſammengebunden; nehme ſie alle 
mit. Bringen Sie die Sättel nach!“ 

Er ſprang auf eins der Tiere und jagte mit ihnen 
davon. Der ſtarke Vater Jaguar nahm zwei Sättel 
mit dem dazu gehörigen Riemenzeug vom Boden auf. 


— 230 — 


„Meine Bücher, meine Bücher!“ rief der Doktor, 
das Paket an ſich reißend. 

„Und die Hacken und Schaufeln!“ fügte Fritze 
hinzu, indem er das andre Paket ſich über die Achſel 
warf. 

Anciano nahm einen Sattel und der junge Inka 
auch einen. Als dies der Vater Jaguar ſah, meinte er: 
„Nun gut, ſo haben wir alſo vier; mehr ſind u 
nötig. Nun fort, ſcharf hinter mir her!“ 


Er warf einen Blick auf das Lager zurück. Dort 
kämpfte man noch tapfer mit dem Feuer, und niemand 
ſah, was indeſſen auf der andern Seite vorgegangen 
war. Die Fliehenden eilten fort. Noch waren ſie nicht 
allzu weit gekommen, da klang ihnen eine mächtige 
Baßſtimme vom Lager aus nach: „Tormenta!l Wo 
ſind die Gefangenen? Sie ſind fort!“ 

Beim Klang dieſer Stimme blieb der Vater Ja⸗ 
guar wie gebannt ſtehen und lauſchte. Die andern 
hielten infolgedeſſen auch im Laufe inne. 

„Sie ſind entflohen!“ ertönte dieſelbe Stimme nach 
einigen Sekunden. „Man hat ſie befreit, man hat ſie 
losgeſchnitten; ich ſehe es hier an den Laſſos.“ 

„Welch eine Stimme!“ ſagte der Vater Jaguar. 
„Die muß ich kennen; das iſt ja — —“ 

Was er weiter ſagen wollte, blieb unausgeſprochen, 
denn vom Lager her erklang es wieder: „Das Feuer 
iſt ausgelöſcht. Auf, zu den Waffen! Da links hin⸗ 
aus können ſie nicht ſein; da brannte ja die Flamme. 
In den Wald hinein konnten ſie auch nicht, denn er iſt 
zu dicht; alſo ſind ſie nach rechts fort. Ihnen nach! 
Zwanzig bleiben bei den Pferden. Die andern kom⸗ 
men mit!“ 


— 231 — 


Zurückblickend, gewahrte man ein wirres Durch⸗ 
einander von Perſonen, worin die einzelne nicht zu 
unterſcheiden war. 


„Fort, fort!“ mahnte Geronimo. „Warum bleibit 
du ſtehen, Carlos?“ 


Der Sprecher hatte unterwegs halten bleiben 
müſſen, weil eins der zuſammengekoppelten Pferde ihm 
nicht gehorchen wollte. 

„Dieſe Stimme, dieſe Stimme!“ antwortete der 
Vater Jaguar. „Ihr Klang geht mir durch das —“ 

„Ach was, Stimme! Laß ſie doch ſchreien, wie fie 
will! Wir müſſen fort, ſonſt holen ſie uns ein.“ 

„Aber ich muß ihn ſehen, muß —“ 

Der ſonſt ſo bedachtſame Mann wollte die beiden 
Sättel weglegen, aber Geronimo herrſchte ihn, wohl 
zum erſtenmal, ſeit er ihn kannte, in ſtrengem Ton an: 
„Was fällt dir ein! Biſt du toll! Willſt du dein 
Leben wagen, jo tue es; aber das unſrige bringe nicht 
in Gefahr. Auf mich kannſt du nicht rechnen!“ 

Er trieb ſeine Pferde von neuem an, und jetzt ge⸗ 
horchte das widerſpenſtige; er galoppierte weiter. 

„Er hat recht!“ meinte der Vater Jaguar wie aus 
tiefem Sinnen erwachend. „Ich täuſche mich wohl; 
aber ich werde dieſe Sache nicht ununterſucht laſſen. 
Eilen wir weiter!“ 

Er ſchoß jetzt förmlich in ſo langen Schritten da⸗ 
von, daß die andern die größte Mühe hatten, ihn nicht 
aus den Augen zu verlieren, zumal ihnen jetzt, nach⸗ 
dem ſie die Feuer geſehen, die Dunkelheit viel tiefer als 
vorher vorkam. Der kleine Gelehrte hatte den ſchwer⸗ 
ſten Pack, die Bücher, erwiſcht. Er keuchte unter ihrer 


— 232 — 


Laſt atemlos dahin, bis er die Bürde niederwarf und 
ausrief: „Fritze, ich kann nicht mehr. Er wird mir 
zu ſchwer. Wollen tauſchen; gib mir die Werkzeuge!“ 

„Jut,“ antwortete dieſer. „Hier haben Sie die 
Schlüſſel zu die Vorwelt, und ick nehme mich die 
jedruckte Jelehrſamkeit. Aber ſputen Sie Ihnen, denn 
da hinten kommen fie ſchon anjepfiffen.” 

Sie eilten weiter, ſo ſchnell ſie mit ihren Laſten 
vermochten, aber doch nicht ſchnell genug, denn als ſie 
den Ausgang des Waldeinſchnitts erreichten, waren die 
vorderſten der Verfolger ſchon nahe hinter ihnen. Ein 
Schuß krachte und noch einer, glücklicherweiſe ohne zu 
treffen. 

Die beiden hatten noch geſehen, daß Anciano und 
der Inka ſich rechts gewendet hatten; ſie folgten alſo 
dieſer Richtung auch. Aber ganz nahe hinter ihnen kam 
einer geſprungen, der ſie in tiefem Baßton anrief: 
„Halten bleiben, ihr Halunken, ſonſt ſchieße auch ich!“ 

„Der Gambuſino!“ ſchrie der Doktor auf. „Ich 
bin verloren!“ 

„Nein, noch nicht!“ antwortete Fritze. „Laufen 
Sie fort; ick werde Ihnen retten, indem ick ihm ein 
Hindernis in die hohle Gaſſe werfe, durch die er kom⸗ 
men muß.“ 

Bei dieſen Worten blieb er ſtehen, ließ ſeinen 
Herrn vorüber und warf, als die hohe, breite Geſtalt 
des Gambuſino aus dem Dunkel tauchte, dieſem das 
Bücherpaket entgegen; dann rannte er weiter. Der 
Gambuſino ſtrauchelte über den Pack und ſtürzte hin; 
er raffte ſich zwar raſch wieder auf und wollte weiter; 
da aber hörte er eine gebieteriſche Stimme vor ſich: 
„Halt! hier fteht der Vater Jaguar mit feinen Leuten. 
Wer ohne meinen Willen naht, bekommt eine Kugel.“ 


— 233 — 


Das veranlaßte ihn, den Schritt anzuhalten. 
Wollte man ihn mit dem Namen des berühmten Man⸗ 
nes täuſchen? Er duckte ſich nieder und kroch mehrere 
Schritte vorwärts. Da ſah er allerdings eine ganze 
Schar von Männern vor ſich halten. Wenn man an 
einem Gegenſtande empor nach dem Himmel ſieht, ſo 
kann man dieſen Gegenſtand, obgleich er ganz im Fin⸗ 
ſtern ſteht, ſelbſt in dunkler Nacht erkennen. Auf dieſe 
Weiſe ſah der Gambuſino, daß dieſe Männer ganz in 
Leder gekleidet waren und breitrandige Hüte aufhatten, 
was in den Pampas und den angrenzenden Gegenden 
eine Seltenheit iſt. Daran erkannte er, wen er vor 
ſich hatte. 

„Alle Wetter, ich irre mich nicht,“ ſagte er ſich. 
„Es iſt wirklich dieſer verwünſchte Vater Jaguar! 
Wenn ich weiter gehe, läßt er Feuer geben; das iſt ge⸗ 
wiß. Ich muß zurück; aber er ſoll mir den Streich, den 
er mir heute ſpielte, entgelten. Es iſt der erſte, ſoll 
aber auch der letzte ſein.“ 

Er kroch wieder rückwärts, erhob ſich dann vom 
Boden und kehrte um die Waldecke zurück, als eben die 
vorderſten ſeiner Leute, denen er in ſeinem Verfol⸗ 
gungseifer vorangerannt war, ihm nachkamen. 

„Zurück!“ gebot er ihnen. „Es iſt nichts zu 
machen.“ 

„Nichts?“ fragte Pellejo, der ſich bei ihnen be⸗ 
fand. „Warum?“ 

„Sie ſind fort und für uns verloren, N 
für heute.“ 

„Wieſo?“ 

„Wißt Ihr, welcher Halunke ſie losgeſchnitten 
hat? Der Vater Jaguar!“ 

„Unmöglich! Das muß ein Irrtum ſein.“ 


— 234 — 


„Nein. Ich habe ſeine Leute geſehen und auch 
ſeine Stimme gehört. Kommt raſch zurück! Wir 
müſſen uns beraten, dabei aber alle Vorkehrungen 
treffen, daß wir nicht überraſcht werden, denn dieſer 
Menſch iſt imſtande, uns heut noch zu überfallen.“ 

„Schwerlich!“ 

„Sie glauben es nicht? Warum nicht?“ 

„Er hat nur die Gefangenen befreien wollen. 
Hätte er es auf einen Ueberfall abgeſehen, ſo würde er 
ihn ja vorhin ausgeführt haben.“ 

„Mag ſein; aber ich traue ihm nicht. Ich kenne 
ihn nicht ſo, wie Sie ihn kennen, ſondern etwas näher 
und genauer. Und er — na, er kennt mich auch ein 
wenig — — von früher her. Ich weiß ſogar, daß er 
meine Stimme kennt. Wenn er mich an dieſer erkannt 
hat, ſo iſt es gewiß und zehnfach, hundertfach gewiß, 
daß er ſich an meine Ferſen heftet.“ 

„Haben Sie eine Rechnung miteinander?“ 

„Ja, und keine gewöhnliche. Kommen Sie alſo! 
Ich weiß, daß wir keine Zeit zu verlieren haben.“ 

Man ging ſchleunigſt nach dem Lager zurück, wo 
der Gambuſino den Befehl gab, ſchnell zu ſatteln und 
dann die Feuer auszulöſchen, da man aufbrechen müſſe. 

„Fort ſollen wir?“ fragte Antonio Perillo. „Iſt 
das notwendig?“ 

„Ja, wir müſſen fort, mindeſtens ſo weit, daß 
dieſer Vater Jaguar uns während der Nacht nicht 
finden kann.“ 

„Er wird es nicht wagen, ſich an uns zu machen!“ 

„Pah! Ich ſage Ihnen, daß er es zwar nicht 
wagen, aber doch tun wird, denn für ihn iſt ſo etwas 
kein Wagnis.“ 


— 235 — 


| Da nahm der Häuptling, ihm beipflichtend, das 
Wort: „Wenn der Jaguar es iſt, der die Gefangenen 
befreit hat, ſo müſſen wir fort. Ich kenne ihn. Und 
nur dieſer Jaguar konnte es fertig bringen, dieſe beiden 
weißen Männer fortzuholen. Er hat noch mehr Leute 
bei ſich gehabt und von ihnen das Feuer mit Pulver 
anbrennen laſſen. Während wir es auslöſchten und 
nicht auf die Gefangenen achteten, hat er ſie wegge⸗ 
nommen. Er weiß, daß ich ihm den Tod geſchworen 
habe. Wir müſſen fort, da wir uns hier nicht verteidi⸗ 
gen können. An einem beſſeren Ort werden wir an⸗ 
halten, um uns zu beraten.“ 

Hierauf ließ ſich nun nichts mehr ſagen. Man 
ſattelte die Pferde und bemerkte nun erſt, daß vier der⸗ 
ſelben ſamt dem Lederzeuge und den beiden Paketen des 
Gefangenen fehlten. Glücklicherweiſe hatte man einige 
Reſervepferde. Als die Feuer ausgelöſcht worden wa⸗ 
ren, ſetzte ſich der Zug in Bewegung, indem nach In⸗ 
dianerart ein Reiter hinter dem andern ritt. 

Der Weg führte immer tiefer in den Einſchnitt 
hinein, der nach und nach immer breiter wurde. Hätte 
er eine Sackgaſſe gebildet, ſo hätte die Schar dem Vater 
Jaguar in die Hände fallen müſſen. Aber der Häupt⸗ 
ling „Tapferer Arm“ kannte die Gegend zu genau, als 
daß er ſich hätte irren können. Nach Verlauf von zwei 
Stunden wich der Wald zu beiden Seiten zurück, und 
man kam auf einen weiten, offenen Kamp, in den man 
eine Viertelſtunde hineinritt, um dann zu einer kurzen 
Beratung anzuhalten. Die Reiter ſtiegen von den 
Pferden und bildeten einen Kreis, worin die Weißen 
mit dem Häuptling Platz nahmen. | 

„Selbſt wenn der Vater Jaguar uns bis an das 
Ende des Waldes gefolgt wäre,“ ſagte der letztere, 


— 236 — 


„hier würde er uns nicht finden. Es iſt dunkel, und er 
kann nicht ſehen, nach welcher Richtung wir uns ge⸗ 
wendet haben. Die Señores mögen beraten, was ge⸗ 
ſchehen ſoll.“ 

„Eine Beratung nach Eurer langen und lang⸗ 
ſamen Weiſe werden wir nicht halten,“ antwortete 
ihm der Gambuſino. „Wir werden kurz ſein und dann 
gleich wieder aufbrechen, um einen möglichſt weiten 
Weg zwiſchen ihn und uns zu legen.“ 

„So denken Sie wirklich, daß dieſer gefährliche 
Mann uns folgen wird?“ 

„Auf jeden Fall, wenn er mich nämlich an der 
Stimme erkannt hat.“ 

„Er hat Sie erkannt.“ 

„Demonio! Woher willſt du das wiſſen?“ 

„Er braucht Sie gar nicht an der Stimme erkannt 
zu haben, denn er hat Sie doch geſehen, als er die Ge⸗ 
fangenen befreite.“ 

„Nein, denn wie ich mich beſinne, hatte ich mein 
Geſicht mit meinem breiten Hut bedeckt.“ 

„Kennt er nicht Ihre Geſtalt, Senor?“ 

„Ja; aber ſolche Geſtalten gibt es viele, und ich 
bin viel anders gekleidet als damals, wo wir uns ſahen. 
Um mich wirklich zu erkennen, mußte er mein Geſicht 
erblicken oder meine Stimme hören.“ 

„Und meinen Sie, daß dieſes letztere geſchehen iſt?“ 

„Ja, denn ich habe leider nur allzu laut geſchrien. 
Hätte ich gewußt, daß dieſer Menſch ſich in der Nähe 
befand, ſo hätte ich freilich geſchwiegen. Ich bin über⸗ 
zeugt, daß er mir folgen wird.“ 

„Und wenn er nicht Ihnen folgt, ſo folgt er uns, 
den Abipones.“ 

„Warum habt ihr euch mit ihm verfeindet?“ 


— 237 — 


„Wir waren bei den Cambas eingefallen, als er 
ſich bei ihnen befand. Er kam zu uns, um Frieden an⸗ 
zubieten; aber wir wollten die Beute, die wir gemacht 
hatten, nicht herausgeben. Ja, wir wollten noch mehr 
Beute machen, und ſo kam es, daß wir ihn fortſchickten. 
Er ging im Zorn und einer von uns blies ihm einen 
Giftpfeil nach, der aber in ſeinem Rock ſtecken blieb, 
denn ſeine Lederkleidung iſt ſo ſtark, daß kein Pfeil hin⸗ 
durchdringt. Dann töteten wir zwei Häuptlinge der 
Cambas und viele ihrer Untergebenen. Wir töteten alle 
Alten, alle Männer, Kinder und Knaben und nahmen 
nur die Frauen und Töchter mit uns. Da ſtellte er ſich 
an die Spitze der andern Cambasſtämme und fiel über 
uns her.“ 

„Wer ſiegte?“ 

„Er, denn er iſt unüberwindlich, wenn er zur 
Waffe greift. Sein Zorn hat vielen, ſehr vielen von 
uns das Leben gekoſtet, und die Cambas haben nicht nur 
das wiederbekommen, was wir ihnen abgenommen 
hatten, ſondern noch mehr dazu. So ſind wir Todfeinde 
geworden. Darum ſollt ihr uns Flinten und Pulver 
geben, damit wir uns rächen können, denn die Krieger 
der Abipones ſind voller Begierde, die Cambas zu züch⸗ 
tigen. Falls ihr das tut, werdet ihr treue Verbündete 
an uns gewinnen.“ 

„Ihr werdet bekommen, was wir euch verſprochen 
haben. Wir befinden uns ja auf dem Weg nach unſern 
heimlichen Magazinen. Wenn es ſo ſteht zwiſchen euch 
und ihm, bin ich allerdings überzeugt, daß er ſchnell 
hinter uns her ſein wird.“ 

„Und wäre dies nicht der Fall, ſo würde er mich 
verfolgen,“ fiel Antonio Perillo ein. „Ihr wißt ja, 
was in Buenos Aires geſchehen iſt. Er hat nicht nur 


— 238 — 


mich, ſondern auch die andern Eſpadas blamiert. Wenn 
ich ihn in die Hand bekomme, ſo hat er auf keine Nach⸗ 
ſicht zu rechnen, zumal es bekannt iſt, daß er ein An⸗ 
hänger von Mitre iſt.“ 

Da meinte der Kapitän Pellejo: „Ich habe von 
dieſem Mann ſchon viel gehört, aber nie etwas mit ihm 
zu tun gehabt. Mir läuft er nicht nach. Soviel ich 
jedoch von Ihnen, Seßores, vernehme, bin ich freilich 
überzeugt, daß er Luſt haben wird, auf unſrer Spur zu 
bleiben. Ich denke aber, daß dies nichts Leichtes ſein 
wird.“ 

„Warum?“ fragte der Gambuſino. 

„Spuren vergehen.“ 

„So! Hm! Sie ſcheinen keinen großen Begriff 
von der Kunſt des Fährtenleſens zu haben. Ich will 
Ihnen ſagen, Seüor, daß ein Mann wie Vater Jaguar 
jede Fährte findet, die er ſucht, und ſie dann gewiß nicht 
wieder verliert, außer er hat es mit einem ebenſo er⸗ 
fahrenen Gegner, zum Beiſpiel mit mir, zu tun. Ich 
bin imſtande das zu tun, was keiner von Ihnen ver⸗ 
mag, nämlich dieſen Mann irre zu führen oder ihm 
wenigſtens ein Schnippchen zu ſchlagen.“ | 

„Wir werden durch die Sandwüſte, durch Wälder, 
über Sümpfe und Flüſſe reiten. Uns da überall zu 
folgen, ohne uns noch einmal zu verlieren, dazu gehört 
mehr, als ein Menſch vermag.“ 

„Dazu gehört nichts weiter als Schlauheit und Er⸗ 
fahrung; und dieſe beide beſitzt der Jaguar in hohem 
Grade. Aber wir brauchen uns ja darüber, ob er unſre 
Spuren finden wird, gar nicht zu ſtreiten. Er braucht 
uns gar nicht nachzuſpüren, denn er weiß genau, wohin 
wir wollen.“ 


— 239 — 


„Unmöglich! Wer ſollte es ihm geſagt haben? 
Unter den Leitern unſres Planes gibt es keinen Ver⸗ 
räter, und die tiefer Geſtellten wiſſen nichts.“ 

„Ich habe darüber nachgedacht, und es iſt mir ein⸗ 
gefallen, worüber die Seüores kurz vor dem Ausbruch 
des Feuers geſprochen haben. Ich ſelbſt habe geſchwie⸗ 
gen und mich an dieſem verräteriſchen Geſpräch, das doch 
ſicherlich von ihm belauſcht wurde, nicht beteiligt.“ 

„Nun, worüber ſprachen wir? Ich entſinne mich 
nicht, ein Wort geſprochen zu haben, das zum Verräter 
hätte werden können.“ 

„O doch! Sie ſprachen von unſern Waffenver⸗ 
ſtecken.“ 

„Aber nicht davon, wo dieſe liegen!“ 

„Sodann ſprachen Sie davon, daß Sie Boten an 
die Grenzorte geſandt hätten, um Ihre Soldaten nach 
dem Lago zu beordern.“ | 

„Habe ich den Namen dieſes Lago genannt?“ 

„Nein.“ 

„Nun, es gibt ſehr viele Lagos; er mag ſich den⸗ 
jenigen, den ich meinte, herausſuchen!“ 

„Sie vergeſſen, daß unſre Gefangenen jetzt bei ihm 
ſind. Wir waren ihrer leider ſo ſicher, daß wir in ihrer 
Gegenwart mehr als genug von Dingen geſprochen ha⸗ 
ben, die nicht für fremde Ohren, am allerwenigſten au 
für das Ohr eines ſolchen Feindes find.” 

„Kennen ſie den Namen des Lago?“ 

„Sehr genau, Sie ſelbſt haben ihnen damit ge⸗ 
droht, daß ſie in dem Waſſer dieſes Sees erſäuft werden 
ſollen.“ 

„Teufel! Das iſt freilich unangenehm! Aber wer 
konnte wiſſen, daß ſie uns ſchon nach kurzer Zeit wieder 


— 240 — 


entkommen würden! Nun wird er wohl ſchleunigſt nach 
dieſem Lago de los Carandayes reiten.” 

„Das würde er allerdings, wenn ich nicht wäre. 
Ich werde ihn irre führen. Wir ſind von Süden her 
über den Fluß gekommen, um nach dem Norden oder 
Nordweſt zu gehen. Wir werden aber wieder umkehren, 
um über den Fluß zurückzugehen.“ 

„Welcher Einfall, welcher Umweg!“ 

„Kein Umweg. Wenn wir jetzt gleich aufbrechen 
und uns einen andern Einſchnitt ſuchen, durch den wir 
den Wald wieder hinter uns legen können, ſo ſind wir 
am Morgen am Fluß, reiten hindurch und eine Strecke 
in das Land hinein. Das wird ein Parforceritt bis 
heute abend. Da ruhen wir nur zwei oder drei Stun⸗ 
den aus und kehren auf einem andern Wege wieder 
nach hier zurück.“ 

„Wieder ein Tagesritt, alſo zwei Tage Verluſt!“ 

„Was bedeutet dieſer Verluſt, wenn wir dadurch 
den Vater Jaguar von uns abſchütteln!“ 

„Wird uns das gelingen?“ 

„Unbedingt. Der Jaguar kann erſt am Morgen 
ſeine Verfolgung aufnehmen; da ſind wir aber ſchon 
am Fluſſe, den er, da er langſam reiten muß, um ſeine 
ganze Aufmerkſamkeit auf die Fährte zu richten, erſt 
am Abend erreicht. Am zweiten Abend würde er an 
die Stelle kommen, wo wir wieder umkehren wollen; 
aber er wird ſie gar nicht finden, da die Spur inzwiſchen 
verweht oder ſonſt unkenntlich geworden iſt.“ 

„Glauben Sie? Das wäre allerdings höchſt vor⸗ 
teilhaft für uns. Ich wollte es ſehr gern gut heißen, 
wenn ich wüßte, daß es auch gelingen wird.“ 

„Es gelingt.“ 


— 241 — 


„So könnten wir doch nach Fort Tio gehen, um uns 
friſch zu verproviantieren!“ 

„Ja, das können wir. Ich bin einverſtanden.“ 

Antonio Perillo hatte nichts dagegen einzuwenden, 
und der Häuptling erklärte: „Der Plan des Gambu⸗ 
ſino iſt ſehr ſcharfſinnig erdacht. Wir werden den Ja⸗ 
guar irre leiten und ſeinen Tatzen entgehen. Wie viele 
Männer hat er denn bei ſich?“ 

„Genau kann ich das nicht ſagen. Soviel ich in der 
Dunkelheit zu erkennen vermochte, werden es zwiſchen 
zwanzig und dreißig ſein.“ 

„Das ſind genug für ihn. Wir zählen zwar zehn⸗ 
mal zehn Krieger, aber ſeine Männer ſind waffenge⸗ 
übter als die meinigen. Da iſt es auf alle Fälle beſſer, 
wir kommen erſt dann mit ihm zuſammen, wenn noch 
andre Horden der Abipones zu uns geſtoßen ſind. Laſſen 
Sie uns alſo aufbrechen, damit wir ihn baldigſt irre 
leiten. Ich weiß weiter oben einen andern Durchbruch 
im Wald, der uns nach dem Fluß führen wird.“ 

Man ſaß wieder auf und ritt von dannen, in einem 
ſpitzen Winkel mit der zuletzt eingehaltenen Richtung 
dem Wald entgegen. Den armen Pferden dieſer Men⸗ 
ſchen ſtand eine ungeheure Anſtrengung bevor. 


May, Das Vermchtnis des Inka 16 


Achtes Kapitel 
Die Blutegel des Don parmeſan 


Der Mann, deſſen der Gambuſino und ſeine Leute 
ſo eifrig gedachten, der Vater Jaguar, machte ſich in 
dieſem Augenblick keineswegs ſo viele Sorgen um ſie, 
wie fie geglaubt hatten, denn er — — ſchlief fo gemüt⸗ 
lich und ruhig, als ob er ſich in einem Bette zu Buenos 
Aires oder Montevideo befunden hätte. 

Als der Gambuſino ſich zurückgezogen hatte, ſchritt 
der Vater Jaguar auf den Einſchnitt zu und horchte. 
Er hörte ihn von weitem mit den andern ſprechen, 
konnte aber die Worte nicht verſtehen. Da bemerkte ſein 
ſcharfes Ohr, daß ſie ſich entfernten. Hierauf rief er 
zwei zuverläſſige Leute herbei und ſchickte ſie hundert 
Schritte in den Einſchnitt hinein, wo ſie ſich poſtieren 
ſollten, einer am rechten und einer am linken Waldes⸗ 
rand. Sie ſollten ſcharf aufpaſſen und bei der gering⸗ 
ſten gegen ſie gerichteten Bewegung der Feinde ihre Ge⸗ 
wehre abſchießen. 

Er glaubte, damit alles getan zu haben, was die 
Klugheit und Vorſicht für geboten hielt. Es fiel ihm 
gar nicht ein, die Feinde anzugreifen, wenigſtens nicht 
heute, und noch viel weniger dachte er daran, allen ſeinen 
Leuten den Schlaf zu rauben, den ſie ſo notwendig 


— 243 — 


brauchten, um für den morgenden, vielleicht anſtren⸗ 
genden Tag friſch geſtärkt zu erwachen. 

Darauf kehrte er zu ſeiner Schar zurück, um nun 
erſt Doktor Morgenſtern und Fritze vorzunehmen. Er 
tat das in ſpaniſcher Sprache, damit ſeine Gefährten 
das Geſprochene verſtehen könnten. 

„Senor, ich weiß nicht, was ich von Ihnen denken 
ſoll,“ ſagte er. „Ich bin gern höflich, beſonders gegen 
einen Herrn von Ihrer Bildung und Ihren Kennt⸗ 
niſſen, dennoch aber kann ich Ihnen nicht verhehlen, 
daß Sie weit beſſer getan hätten, in Buenos Aires zu 
bleiben.“ 

„Was ſollte ich dort, Seßor?“ fragte der kleine 
Rote. „Ich wollte ein Glyptodon, ein Megatherium 
oder ein Maſtodon haben. Sind ſolche Tiere in Buenos 
Aires auszugraben?“ 

„Sie konnten in die Pampas gehen.“ 

„Das habe ich auch getan.“ 

„Nein. Oder meinen Sie, daß wir uns hier auf 
einer Pampa befinden?“ 

„Ja, auf einer Pampa zwiſchen Fluß und Wald, 
Fluvius und Silva, wie der Lateiner ſagt.“ 

„Aber wie kommt es, daß Sie dieſelbe Richtung ge⸗ 
nommen haben, die auch ich einſchlug?“ 

„Ich wollte Sie treffen.“ 

„Aber ich hatte Ihnen geſagt, daß ich Sie nicht ge⸗ 
brauchen kann! Sie bringen nicht nur mich in Ver⸗ 
legenheit, ſondern ſind auch ſelbſt in eine große Gefahr 
geraten.“ 

„Meinen Sie? Die Seßores, die uns gefangen 
nahmen, befanden ſich in einem Irrtum, den ſie jeden⸗ 
falls ſehr bald eingeſehen hätten.“ 


— 244 — 


„Glauben Sie das ja nicht! Ihr Leben ſchwebte 
in Gefahr.“ 

„Mein Leben, lateiniſch Vita genannt? Das glaube 
ich kaum.“ 

„Weil Sie ein lieber, guter, harmloſer Silber⸗ 
larpfen find, der keine Ahnung davon hat, was für 
Hechte es im Teiche gibt. Sie paſſen überall mehr und 
beſſer hin als in den Gran Chaco.“ 

„Und ich bin vom Gegenteil überzeugt, da Sie ſelbſt 
mir angedeutet haben, daß hier die Reſte vorweltlicher 
Tiere zu finden ſind.“ 

„Wenn Sie dieſe längſt zu ihren Vätern verſam⸗ 
melten Kreaturen in den Pulverkammern unſrer Partei- 
führer ſuchen, fo können Sie ſehr leicht einmal ein 
wenig in die Luft geſprengt werden. Wie Sie gefangen 
genommen worden ſind, das habe ich von dem braven 
Don Parmeſan gehört, dem Sie Ihre Rettung zu ver⸗ 
danken haben. Ich bitte Sie, mir zu erzählen, was ſich 
dann weiter ereignet hat.“ 

„Ereignet? Gar nicht viel, Senor Hammer. Man 
ſchüttete das Loch, worin meine Gigantochelonia geſteckt 
hatte, wieder zu, nachdem man den Inhalt herausge⸗ 
nommen hatte, um ihn zu verteilen. Dann band man 
uns auf die Pferde und ritt mit uns davon. Ich gab 
herzliche gute Worte, man möge doch das Rückenſchild 
der Gigantochelonia mitnehmen, was mir aber rund⸗ 
weg abgeſchlagen wurde.“ 

„Sie glauben alſo noch immer, daß es ſich um eine 
Schildkröte gehandelt hat?“ 

„Ich bin überzeugt davon, und zwar war es int 
von wirklich riefigen Dimenſionen. Was aber das fer⸗ 
nere Erlebnis betrifft, ſo ritten wir durch den Wald, 
und mittels einer ſeichten Furt über den Fluß wieder in 


— 245 — 


den Wald, wo wir bei andern Indianern anhielten. Ich 
und mein Fritze erhielten jeder ein Stück Fleiſch, das 
wir eſſen durften. Dann band man uns an die Bäume, 
bis Sie kamen und uns heimholten. Das iſt alles, was 
ich erzählen kann, eine höchſt einfache und proſaiſche Ge⸗ 
ſchichte.“ 

„Das nennen Sie einfach und proſaiſch?“ lachte 
der Vater Jaguar nun wider Willen auf. 

„Natürlich! Es war keine Spur von Poeſie dabei. 
Ich wollte dem Geſpräch wiederholt eine anheimelndere 
Wendung geben und begann von dem Diluvium, von 
dem Höhlenbären, vom Mammut und andern mir ſym⸗ 
pathiſchen Gegenſtänden zu ſprechen, fand aber kein 
Ohr dafür.“ 

„Das glaube ich! Man hat Sie gebeten, den 
Mund zu halten?“ 

„Nun, gebeten eigentlich nicht. Es wurde das 
vielmehr in einer Weiſe geſagt, die auf etwas mehr 
Schärfe und Energie ſchließen läßt.“ 

„Ich weiß genug, Seüor, brechen wir davon ab! 
Was haben dieſe Leute miteinander geſprochen?“ 

„Nichts von Bedeutung. Ich habe darum auch 
nicht darauf geachtet. Sie ſprachen von Revolution, 
von Kavallerie und Kanonen, von Ausfällen und 
Ueberfällen der Indianer, lauter Sachen, die unſereinen 
doch nicht im mindeſten feſſeln können.“ 

„Revolution, Artillerie, Kavallerie, Aus⸗ und 
Ueberfälle? Und das nennen Sie bedeutungslos? 
Senor, das alles iſt von ungeheurer Wichtigkeit geweſen!“ 

„Für Sie vielleicht, nicht aber für mich. Ich habe 
mir kein Wort gemerkt. Uebrigens ſteckte mir noch das 
Rückenſchild meiner Gigantochelonia im Kopf. Wenn 
Sie etwas Eingehenderes über die Geſpräche dieſer 


— 246 — 


Leute hören wollen, ſo will ich Sie an meinen Fritze 
adreſſieren. Er iſt Laie und hat alſo für dieſe Kleinig⸗ 
keiten mehr Aufmerkſamkeit gehabt, als ich ihnen zu 

widmen vermochte.“ 

Fritze hatte bis jetzt kein Wort geſagt, jetzt aber 
meldete er ſich ſchnell, und zwar in deutſcher Sprache: 
„Dat it wahr, Herr Hammer; ick habe ausjezeichnet 
aufjepaßt und kann Sie mit allens dienen, wat Sie 
wiſſen wollen. Aber tun Sie mich den Jefallen, ſich 
mit meine Mutterſprache zu bedienen. Wenn ick ge⸗ 
zwungen bin, mit einem Deutſchen ſpaniſch zu diskurrie⸗ 
ren, ſo jibt es mich allemal einen Meſſerſtich ins treue 
deutſche Herz.“ 

„Wenn Sie es wünſchen, ganz gern,“ lächelte der 
Vater Jaguar. „Wir können den andern dann ja ſpa⸗ 
niſch ſagen, was wir deutſch geſprochen haben. Vor 
allen Dingen möchte ich wiſſen, ob Sie erfahren haben, 
was dieſe wenigen Weißen bei den Indianern wollen.“ 

„Damit kann ick erjebenſt aufwarten. Die Kerls 
glaubten, daß wir ihnen nicht mehr ſchaden könnten, 
und redeten, nur um uns zu ärjern, janz offen über 
ihre Jeheimniſſe. Sie jehen in den Chaco, um die 
Abipones jejen die Rejierung aufzuwiejeln und ſie zu 
einem Einfall zu bewejen. Der Häuptling aber, der 
alte Brazo valiente, iſt ein Schlaukopf und hat alſo ſeine 
Bedingungen jeſtellt. Er will vorher die Cambas 
überfallen, die Sie, Herr Hammer, jejen ihn komman⸗ 
diert haben, und dabei ſollen ihm die Weißen helfen. 
Er verlangt Waffen und Soldaten.“ 

„Ach! Hat man ihm beides zugeſagt?“ 

„Verſteht ſich! Die Soldaten trommelt der Ka⸗ 
pitän Pellejo zuſammen. Er täuſcht dat Vertrauen 
ſeiner Vorgeſetzten. Sie haben ihn an die Irenze 


— 247 — 


jeſchickt, um die längs derſelben angelegten Jarniſo⸗ 
nen zu inſpizieren; es fällt ihm aber jar nicht ein, hin⸗ 
zujehen, ſondern er hat vertraute Boten hinjeſchickt, die 
den Befehl überbringen, daß dieſe Militärs ſich nach 
dem Chaco zu bewejen haben, um an einem beſtimm⸗ 
ten Tag an einem beſtimmten Ort dort zuſammenzu⸗ 
treffen. Dieſe Leute ſollen den Abipones jejen die 
Cambas helfen.“ 

„Welch ein Plan! Auf dieſe Weiſe werden alſo 
dem Häuptling die Soldaten geliefert. Wie aber 
wollen ſie ihn in den Beſitz der verſprochenen Waffen 
ſetzen?“ 

„Die Sache iſt ſchon von langer Hand her vorbe⸗ 
reitet. Man hat längſt zu dieſem Zweck heimliche Ma⸗ 
gazine anjelegt und mit Waffen und Munition voll⸗ 
jeſtopft. Unſre Schildkrötenhöhle ift fo ein Magazin 
jeweſen. Die werden nun jeöffnet. Auf dieſe Weiſe 
werden die Abipones bewaffnet und jejen die Cambas 
jeführt. Haben ſie ſich an dieſen jerächt, ſo werden ſie 
dann, mehrere tauſend Mann ſtark, über die Irenze 
lommen und dat Pronunciamiento jemütvoll unter⸗ 
ſtützen.“ 

„So muß ich freilich ſagen, daß dieſer Plan ent⸗ 
ſetzlich iſt. Tauſende von Roten hereinzubringen, um 
Mord und Brand loszulaſſen, damit einige wenige aus 
dem Blut ihrer Mitbürger Reichtümer und Aemter 
fiſchen! Wer ſteht an der Spitze dieſes grauſigen Un⸗ 
ternehmens?“ 

„Dat iſt mich unbewußt. Aber der Oberſte von 
die jetzige und hieſige Jeſellſchaft, dat iſt der Jambu⸗ 
ſino, wie mich der Augenſchein bewieſen hat. Er iſt 
der Admiral von dat janze Jeſchwader, dem die an⸗ 
dern alle jehorchen müſſen.“ 


„Haben Sie etwas Näheres über ihn gehört, über 
ſeinen Namen, ſeine Heimat, ſeinen eigentlichen 
Stand, ſein früheres Leben?“ 

„Dat ſind viele Fragen in eine einzije zuſammen⸗ 
jeleimt. Ick werde ſehen, ob es mich jelingt, Ihnen 
auseinander zu addieren. Heißen tut er Benito Pa⸗ 
jaro, was zu deutſch bekanntlich Benedictus Vogel 
heißt. Seine Heimat iſt mich rätſelhaft; wo ſich ſein 
eijentlicher Stand befindet, weiß ick nicht.“ 

„Wurde von mir geſprochen?“ 

„Und ob! Der Vater Jaguar war allemal dat 
zweite Wort. Man hat es auf Ihnen abjeſehen. Je⸗ 
raten Sie in die Hände dieſer Halunken, ſo jeht es 
Ihnen ſchlecht.“ 

Hammer ſah eine Weile ſchweigend vor ſich nieder 
und erkundigte ſich dann weiter: „Konnten Sie viel⸗ 
leicht in Erfahrung bringen, wo ſich die Soldaten zu⸗ 
ſammenfinden ſollen?“ 

„Ja. Es war ein See, Lago de los Carandayes, 
alſo Palmenſee jeheißen.“ 

„Wo liegt er?“ 

„Dat wurde nicht jeſagt.“ 

„Auch ich kenne ihn nicht, will mich aber erkun⸗ 
digen.“ 

Er fragte feine Gefährten, auch den alten An⸗ 
ciano, den jungen Inka und ſogar den Chirurgen; aber 
keiner hatte von dieſem See gehört, und noch viel ur 
niger wußte einer deſſen Lage anzugeben. 

„Sollte er im Innern des Chaco, vielleicht in der 
Wüſte liegen?“ meinte Hammer nachdenklich. 

„Dat iſt möglich,“ fiel Fritze ein. „Als nämlich 
von die Jewehre und die Magazine die Rede war, wurde 
davon jeſprochen, daß ſie alle nacheinander in die 


— 249 — 


Wüſte hineinjelegt worden ſind, und nach dem letzten 
Magazin kommt man an den Palmenſee. Die Namen 
von dieſe Magazine habe ick alle jehört.“ 

„So? Wie heißen ſie?“ 

„Da muß ick mir erſt 'mal beſinnen. Es waren 
lauter Quellen, vier Stück, und daran hing allemal 
ein Tier, an der vierten aber ein Zwilling. Welche 
Tiere dat jeweſen ſind — — da, ick hab's jefunden! 
Die erſte war die Fuente de los pescados*), die 
zweite die Fuente de los sangui-juelas**), die dritte 
die Fuente de los crocodilos***) und die vierte die 
Fuente gemela f).“ 

Da ſprang der Vater Jaguar freudig überraſcht 
vom Boden auf und rief aus: „Prächtig, prächtig! 
Dieſe Namen kenne ich ja alle, und ich bin an jedem 
dieſer Orte geweſen. Aber auch Sie ſelbſt kennen eine 
von dieſen Quellen. Sie haben da, wo Sie nach der 
Schildkröte gruben, viel Fiſche gefangen. Sie waren 
an der Fuente de los pescados, an der Fiſchquelle. 
Die zweite liegt jenſeits des Waldes in der Nähe des 
Lago honda; das Baſſin, wohin ſie fließt, iſt voller 
Blutegel; daher ihr Name. Die dritte fließt am Ende 
der undurchdringlichen Waldung in eine Sumpflagune, 
die voller Krokodile iſt, und die vierte beſteht aus zwei 
Einzelquellen, die ſich bald nach ihrem Austritt ver⸗ 
einigen, daher der Name Zwillingsquelle. Jede dieſer 
Quellen iſt von der andern anderthalb Pferde⸗Tage⸗ 
reiſen entfernt, und ſie liegen in einer ſchnurgeraden 
Linie. Wenn man dieſe Linie nach Nordweſt verlän⸗ 
gert, muß man unbedingt an den Palmenſee kommen, 
den wir nicht kennen, und wo die Soldaten zuſammen⸗ 


7 
ſchquelle. — *9 Blutegelquells. — % Krokodillquelle. — 
7 Zwidinssaualle a 1 


mu “ 


— 250 — 


treffen ſollen. Wie ſchlau, die Verſtecke an dieſen 
Quellen anzulegen! Man kann von einer zur andern 
durch die Wüſte gelangen, ohne daß die Reit⸗ und 
Transporttiere übermäßig durſten müſſen. Fritze, ich 
danke Ihnen! Nun iſt mein Plan fertig. Wir reiten 
dieſen Roten nach den Quellen voraus und nehmen die 
Neſter aus, ehe ſie hinkommen. Und dann geht es nach 
dem Palmenſee, um die Soldaten feſtzunehmen. Dieſer 
Ort ſcheint ſehr gut gewählt zu ſein, da dort oben die 
zahlreichſten und wohlhabendſten Stämme der Cambas 
wohnen. Der Gambuſino würde alſo mit ſeinen Abi⸗ 
pones und den weißen Soldaten eine große Beute 
machen. Aber wir werden ihnen das Handwerk legen!“ 


„Ja, dat werden wir,“ ſtimmte Fritze fröhlich ein. 


„Wollen Sie zujeben, Herr Hammer, dat fo eine Gi- 
gantochelonia auch ihre juten Seiten hat? Ohne 
dieſes Rieſentier wären Sie nicht hinter dat Jeheimnis 
jekrochen. Sie wollten uns nicht mitnehmen; nun aber 
hoffe ick von Ihrer dankbaren Zärtlichkeit, daß Sie uns 
zwei Sitzplätze an Ihrem Herzen jönnen.“ 

„Ja. Sie ſollen mit, und wenn Sie nichts im Di⸗ 
luvium entdecken, ſo ſoll die Schuld nicht an mir liegen. 
Ich ſchaffe Ihnen den größten Rieſenfroſch zur Stelle, 
den es zu Noahs Zeiten gegeben hat!“ 

„Und ich,“ verſprach der begeiſterte Morgenſtern, 
„werde nun auf das ſorgfältigſte auf alle Geſpräche 
achten, die ſich auf Revolution und Totſchlag beziehen, 
denn ich ſehe ein, daß man dadurch zu großen paläonto⸗ 
logiſchen Errungenſchaften gelangen kann.“ 

„Gut, lieber Landsmann! Nun aber rate ich 
Ihnen, ſich ſchlafen zu legen, denn Sie bedürfen der Er⸗ 
holung. Morgen früh wird mit Tagesgrauen aufge⸗ 
ſtanden, und dann erwartet uns wohl ein Ritt, der für 


— 251 — 


Sie anſtrengend ſein dürfte. Zur guten Nacht aber 
will ich Ihnen noch das offene Geſtändnis machen, daß 
ich mich freue, Ihre Werkzeuge gerettet zu haben. Wir 
können ſie jetzt ſehr gut gebrauchen, da wir die Maga⸗ 
zine aufzugraben haben.“ 

Dieſes Geſtändnis machte den Gelehrten ſo ſtolz, 
daß er ſeinem Diener freudig zuflüſterte: „Haſt du es 
gehört, Fritze, ſie brauchen mich und meine Sachen; haſt 
du es auch wirklich gehört? Du wirſt immer mehr ein⸗ 
ſehen, daß kein Menſch ohne die Wiſſenſchaft, lateiniſch 
Scientia genannt, zu exiſtieren vermag.“ 

Er ſchlief ſo befriedigt ein, wie ſeit langen Zeiten 
nicht. Auch die andern gaben ſich der tieſſten Ruhe hin, 
und nur von Stunde zu Stunde wurden zwei geweckt, 
um die ſchon erwähnten Wächter abzulöſen. 

Kaum graute der Morgen, ſo riefen die letzten 
Poſten ihre Gefährten wach, denn man mußte den Um⸗ 
ſtand mit in Betracht ziehen, daß der Gambuſino mit 
ſeinen Indianern noch in der Lichtung ſtecken und dieſe 
Stunde zu einem Ueberfall für geeignet halten könne. 
Man nahm ſich vorläufig noch nicht Zeit zu einem Im⸗ 
biß, ſondern der Vater Jaguar gab den Befehl, zu 
Pferd zu ſteigen und gegen die Lichtung vorzurücken. 
Er war zwar vollſtändig überzeugt, daß dieſe während 
der Nacht geräumt worden ſei, hielt aber doch die Vor⸗ 
ſichtsmaßregel für angezeigt, einige Mann zu Fuß als 
Aufklärer vorausgehen zu laſſen. 

Dieſe ſchritten, immer gute Deckung ſuchend, dem 
geſtrigen Lagerplatz der Indianer zu. Als ſie ihn leer 
fanden, gaben ſie ihren Kameraden ein Zeichen, her⸗ 
beizukommen, und dann ging es in geſtrecktem Galopp 
in dem Einſchnitt weiter fort, bis der Wald ein Ende 
hatte, 


— 252 — 


Hier ſah man die Spuren der Indianer, die hin⸗ 
aus in den Camp führten. Sie lieferten den Beweis, 
daß die Feinde den Wald ſchon geſtern abend verlaſſen 
hatten. Ob dieſe die jetzige Richtung eingehalten hatten 
oder ob dieſelbe nur eine Finte ſei, das wußte man jetzt 
noch nicht; jedenfalls aber war es angezeigt, ſich auf 
einen Ritt durch die dürre Wüſte gefaßt zu machen. 
Man brauchte alſo Waſſer. Glücklicherweiſe kannte der 
Vater Jaguar gar nicht weit von hier eine Stelle, wo 
am Waldesrand ein Wäſſerchen erſchien, um ſchon einige 
Schritte davon wieder in den Boden einzudringen. Wer 
in der Wildnis lebt, der merkt ſich ſolche Orte nur zu 
gut und vergißt nie einen derſelben. Man trank ſich 
ſatt, ließ auch die Pferde zur Genüge trinken und 
machte ſich dann mit der Ueberzeugung auf den Weg, 
anderthalb Tagesreiſen weit keinen Tropfen wieder zu 
ſehen zu bekommen. 

Man folgte natürlich den noch ſichtbaren Spuren 
der Abipones und gelangte in kurzer Zeit an die Stelle, 
wo der Trupp gelagert hatte. Der Vater Jaguar ließ 
da anhalten, um die Stelle zu unterſuchen. Auch Gero⸗ 
nimo betrachtete das niedergelagerte Gras ſehr genau 
und gab dann ſein Urteil ab. 

„Hier haben ſie bis zum Anbruch des Tages ge⸗ 
legen. Sie ſind alſo vor noch nicht gar langer Zeit erſt 
fort, aber ſonderbarerweiſe wieder nach dem Wald 
zurück. Welchen Grund können ſie dazu gehabt haben?“ 

„Es gibt zwei Gründe, die man ſich denken kann,“ 
antwortete der Vater Jaguar. „Nämlich entweder iſt 
ihre Rückkehr nur eine einfache Liſt, die den Zweck hat, 
uns irre zu führen und von ihrer Spur abzubringen, 
oder ſie iſt eine taktiſche Maßregel, um die geſtrige 
Schlappe . 


— 253 — 


„Inwiefern eine ſolche Maßregel?“ 

„Sie wollen uns vielleicht dadurch, daß ſie den 
Wald an einer andern Stelle durchqueren, in den Rücken 
kommen, um uns plötzlich zu überfallen.“ 

„Das iſt allerdings denkbar. Sie wollen ſich em⸗ 
poören, und wenn fie noch wie vorher bei der Dummheit 
beharren, deinen Landsmann für den Oberſt Glotino 
zu halten, ſo werden ſie freilich alles tun, ihn unſchäd⸗ 
lich zu machen. Es iſt darum leicht möglich, daß ſie 
einen Ueberfall planen. Sie mögen kommen! Es 
würde mich freuen, wenn ſie ſich an uns wagen ſollten. 
Unſre Kugeln würden tüchtig unter ihnen aufräumen.“ 

„Ich bin überzeugt, daß ſie uns nicht offen an⸗ 
greifen werden. Wir müſſen zwar mit der Möglichkeit 
rechnen, daß ſie uns jetzt ſuchen; ich halte es aber für 
wahrſcheinlicher, daß ſie zurückgekehrt ſind, um uns von 
ihrer Fährte abzubringen und uns zu der Anſicht zu 
verleiten, daß ſie es aufgegeben haben, nach dem Pal⸗ 
menſee zu gehen. Aber es wird ihnen nicht glücken, uns 
zu täuſchen!“ 

„Du meinſt alſo, daß wir jetzt weiterreiten und die 
Richtung, die ſie von hier eingeſchlagen haben, gar nicht 
berückſichtigen?“ 

„Berückſichtigen muß und werde ich ſie, aber nicht 
in der Weiſe, wie ſie es wahrſcheinlich erwarten. Ich 
muß erfahren, was ſie vorhaben, und werde alſo dieſer 
Fährte ſo weit nachreiten, bis ich weiß, woran ich bin. 
Du begleiteſt mich, die übrigen mögen hier bleiben, um 
auf uns zu warten.“ 

Er ſtellte Wachen aus und ritt mit Geronimo da⸗ 
von, indem beide in geſtrecktem Galopp den Hufſtapfen 
folgten, welche die Pferde der Abipones im Graſe zurück⸗ 
gelaſſen hatten. Die beiden Reiter erreichten den Wald 


— 254 — 


und die Blöße, durch welche die Gegner ihnen voran⸗ 
geritten waren, und jagten über dieſelbe hin, bis ſie an 
den jenſeitigen Ausgang des Waldes kamen. Da lag 
der offene Campo wieder vor ihnen, und man ſah deut⸗ 
lich, daß die Spuren quer über ihn nach dem Fluß führ⸗ 
ten. Der Vater Jaguar zügelte ſein Pferd und ſagte: 
„Es iſt ſo, wie ich dachte. Hätten ſie uns verfolgen 
wollen, ſo wären ſie hier links eingebogen, um am Rand 
des Waldes hin die Gegend zu erreichen, wo ſie uns ver⸗ 
muten mußten. Daß ſie das nicht getan haben, ſondern 
nach dem Fluß gegangen ſind, läßt mich mit Sicherheit 
darauf ſchließen, daß ſie die alberne Abſicht hegen, uns 
irre zu leiten.“ 

„Uns irre zu leiten! Wie wäre das möglich, da 
wir ihre Spur doch ſtets vor Augen haben werden!“ 

„Nicht ſtets. Gerade weil wir dieſer Fährte eine 
immerwährende Aufmerkſamkeit widmen müſſen, könn⸗ 
ten wir nicht ſo ſchnell reiten, wie dieſe Leute jedenfalls 
geritten ſind. Wir müßten am Abend anhalten, da wir 
in der Nacht die Spur nicht ſehen können. Falls ſie 
dann des Abends weiterritten, würden ſie einen ſolchen 
Vorſprung vor uns bekommen, daß am nächſten Tag 
die Fährte wohl ſchwerlich noch zu erkennen ſein würde. 
Wir laſſen uns freilich nicht täuſchen. Wir wiſſen, daß 
ſie nach dem Palmenſee wollen, und wenden uns ſtracks 
dieſer Richtung zu. Kehren wir alſo jetzt um!“ 

Sie ritten zurück, und als ſie bei den Ihrigen an⸗ 
langten, wurde nach dem Lago de los Carandayes 
aufgebrochen. Das erſte Ziel, die erſte Station dorthin 
war, wie bereits erwähnt, die Fuente de los sangui- 
juelas, die Blutegelquelle, die in nordweſtlicher Rich⸗ 
tung lag und mit anderthalbem Tagesritt erreicht wer⸗ 
den konnte. 


— 255 — 


Der Boden war durchweg eben und zunächſt mit 
dem bekannten Camposgras bewachſen. Je weiter man 
ſich aber von dem Fluß entfernte, deſto ſpärlicher wurde 
dieſes Grün, und endlich hörte es ganz auf; der Boden 
wurde ſandig und glich ſpäter einer Wüſte, worin keine 
Spur von organiſchem Leben vorhanden zu ſein ſchien. 
Der Sand beſaß angenehmerweiſe eine ſo geringe Tiefe, 
daß er die Schnelligkeit des Rittes nicht beeinträchtigte. 

Der Vater Jaguar hatte zunächſt die Beſorgnis, 
daß Doktor Morgenſtern, der kein guter Reiter ſein 
konnte, Veranlaſſung zu Verzögerungen geben werde, 
doch erwies dieſe Befürchtung ſich nicht als ſtichhaltig. 
Der kleine rote Gelehrte nahm ſich zuſammen; er ſaß 
zwar keineswegs ſchön zu Pferde, hielt ſich aber doch 
ganz leidlich und begann erſt gegen Abend über Müdig⸗ 
keit zu klagen. Als dann zum Nachtlager mitten in der 
Wüſte angehalten wurde, zeigte es ſich, wie wacker er 
ſich gehalten und alle Widerwärtigkeiten ſtill und ſtand⸗ 
haft ertragen hatte. Er war nämlich ſo ſteif, daß man 
ihn aus dem Sattel heben mußte; er wurde, da er nicht 
ſtehen konnte, in den Sand gelegt. 

Der Vater Jaguar freute ſich über dieſen Herois⸗ 
mus des kleinen Mannes und ſagte in freundlichem 
Ton zu ihm: „Warum haben Sie mir nicht geſagt, daß 
Sie ſich ſo angegriffen fühlen? Wir hätten doch etwas 
langſamer reiten können.“ 

„Danke, Herr Hammer!“ antwortete der Kleine. 
„Ich habe eingeſehen, daß es ſich je ſchneller deſto glatter 
reitet, und da ich mir einmal vorgenommen habe, 
Ihnen nicht beſchwerlich zu fallen, ſo ſollen Sie keine 
Klage von mir hören. Uebrigens haben Sie verſpro⸗ 
chen, mir zu einem Rieſentiere zu verhelfen, und je 
eher wir dahin kommen, wo es zu finden iſt, um ſo 


— 256 — 


beſſer iſt es. Meine Beine ſind zwar ſteif und haben 
alles Gefühl verloren, aber ich denke, daß ſchnell eine 
Beſſerung, lateiniſch Emendatio genannt, eintreten 
wird.“ 

Dieſe Hoffnung ging bald in Erfüllung, ſo daß 
Morgenſtern die Dienſte, die der Chirurg ihm anbot, 
zurückweiſen konnte. 


Leider gab es für die Pferde keine Weide; ſie muß⸗ 
ten ſogar auf das Waſſer verzichten. Die Reiter ver⸗ 
zehrten jeder ein Stück Dürrfleiſch und legten ſich dann 
ſchlafen, da mit dem erſten Morgengrauen aufgebrochen 
werden ſollte. Um dieſe Zeit ging es weiter, gerade wie 
geſtern immer über Sand, bis gegen Mittag am Hori⸗ 
zont ein dunkler Streifen auftauchte. Der Vater Ja⸗ 
guar verkündete, indem er auf ihn deutete: „Dort iſt 
die Blutegelquelle. Der Name hat zwar keinen guten 
Klang, doch gibt es hier reines Trinkwaſſer mehr als 
genug, auch grüne Bäume und Sträucher, und wie ihr 
ſeht, reiten wir ſchon über Gras, das bei jedem weiteren 
Schritt dichter ſteht und ſaftiger wird.“ 


Er hatte recht. Der Gran Chaco war früher als 
eine ſterile, unfruchtbare Gegend verrufen, und es gibt 
allerdings bedeutende Strecken, die der Sandwüſte 
Afrikas gleichen; aber wo Waſſer vorhanden iſt, ent⸗ 
wickelt ſich eine reiche, ja üppige Vegetation. Die Flüſſe 
treten im November aus und ſetzen große Flächen unter 
Waſſer, bei ihrem Rücktritt ſo viel Feuchtigkeit zurück⸗ 
laſſend, daß ſich der Pflanzenwuchs entwickeln und bis 
weit in die trockene Jahreszeit hinein erhalten kann. 
An den Ufern dieſer Flüſſe gibt es Wälder, die den Ur⸗ 
wäldern Braſiliens gleichen, und ſelbſt in der Wüſte 
findet man zahlreiche ſtehende Gewäſſer, die ſo viele 


— 257 — 


Pflanzen ernähren, daß dadurch auch die Tierwelt ange⸗ 
zogen wird. | 

Ein ſolches Gewäſſer war auch die Fuente de los 
sangui-juelas. Es gab da in der Sandwüſte eine 
Lehm⸗Oaſe, deren Durchmeſſer mehrere tauſend Schritte 
betrug. Inmitten dieſer Oaſe lag ein kleiner Süß⸗ 
waſſerſee, der durch eine ziemlich reich fließende Quelle 
geſpeiſt wurde. Da dieſe am Rande der Oaſe ent⸗ 
ſprang, hatte ſie bis zum See eine Strecke zurückzu⸗ 
legen, auf der ſie einen Graben mit ſehr wenig Gefälle 
bildete. Dieſer Graben war halb angefüllt von verwe⸗ 
ſenden Pflanzenreſten, die einen moorartigen Boden 
bildeten, worin zahlloſe Blutegel ihre Entwickelung ge⸗ 
funden hatten. Daher war dieſe Quelle die Blutegel⸗ 
quelle genannt worden. Uebrigens hielten ſich dieſe 
Tiere nur in dem Graben und nicht in der Quelle ſelbſt 
auf, infolgedeſſen deren Waſſer ſich trinken ließ. Auch 
in dem See, der nicht ſehr tief war, gab es keine Egel, 
deſto mehr aber Fiſche, die den in dieſer Gegend ſchwei⸗ 
fenden Roten oder Weißen ein willkommenes Mahl 
bieten konnten. 

Um den See und an den beiden Ufern des Grabens 
hin zogen ſich breite Ränder von Bäumen und Sträu⸗ 
chern, meiſt Channjars und Algaroten, in deren Laub 
eine muntere Vogelwelt ihr Weſen trieb. Und ſo weit 
der Einfluß der durchſickernden und verdunſtenden 
Feuchtigkeit reichte, hatte ſich auch außerhalb der Oaſe 
im Sande ein Graswuchs entwickelt, der zwar je weiter 
entfernt, um ſo ſpärlicher wurde, aber in der Nähe der 
Bäume ein ſaftiges Grün bildete, das den Pferden der 
Truppe mehr als reichlich Nahrung bot. 

Hier hielten die Reiter an. Sie tranken ſich zu⸗ 
nächſt ſelbſt erſt ſatt und führten dann auch ihre Pferde 

May, Das Vermächtnis des Inka 17 


— 258 — 


zu der Quelle, um ihnen die ſeit geſtern früh entbehrte 
Labung zu bieten. „Don Parmeſan“ hatte ebenſo wie 
die andern dürſten müſſen, aber noch entzückter als über 
das erſehnte Waſſer war er über die Blutegel, die er in 
dem Graben ſah. 

„Welch ein Fund!“ rief er aus, indem er ſich an 
Doktor Morgenſtern wendete. „Hier könnte man tau⸗ 
ſend fieberkranken Menſchen in einer halben Stunde 
tauſend Liter Blut abzapfen. Freuen Sie ſich nicht auch 
über dieſe prächtigen, allerliebſten Geſchöpfe?“ 

„Wenn es lauter Mammuts oder Maſtodons wä⸗ 
ren, würde es mich freuen,“ antwortete der Gefragte; 
„aber ein Blutegel, lateiniſch Hirudo genannt, kann 
mich nicht in Wonne verſetzen.“ 

„Weil Sie mehr vor als nach der Sintflut leben, 
Senor. Denken Sie ſich irgend einen entzündeten Zu⸗ 
ftand. Welches Glück, wenn man da Blutegel bei der 
Hand hat! Jede Geſchwulſt wird dadurch gehoben, daß 
man einige Dutzend dieſer nützlichen Geſchöpfe an dieſe 
legt. Ich ſetze den Fall, Ihre Zunge oder Ihr Zahn⸗ 

fleiſch wäre geſchwollen, ſo würde ich Ihnen mit Ver⸗ 
gnügen zwanzig oder dreißig Blutegel in den Mund 
ſtecken.“ 

„Danke ſehr, Seüor — — —“ 

„Don, Don Parmeſan, nicht Senor!“ unterbrach 
ihn der andre in ſtrafendem Tone. 

„Schön! Verzeihen Sie, Don Parmeſan! Ich 
danke für das Vergnügen, einen Egel in den Mund zu 
nehmen! Und nun gar zwanzig! Nein, niemals!“ 

„Nicht? Nun, ſo wünſche ich von ganzem Herzen, 
Ihre Zunge läge Ihnen ſo dick wie ein Ochſenfroſch im 
Munde! Dann würden Sie mit Vergnügen die Egel 
nehmen.“ 


4 


— 259 — 


„Ich muß bemerken, daß dies kein ſehr humaner 
Wunſch iſt, Don Parmeſan. Einem Freunde wünſcht 
man keinen Ochſenfroſch in den Mund. Uebrigens iſt 
es noch gar nicht erwieſen, ob dies auch die wirklichen 
mediziniſchen Blutegel ſind.“ 

„Sie ſind es. Ich werde es Ihnen gleich beweiſen.“ 

Er brach einen Zweig ab und ſchlug damit auf das 
Waſſer, um einige der gleich herbeiſchwimmenden Blut⸗ 
egel mit ſeinem Hut herauszufiſchen. Als er einen da⸗ 
von in die Hand nahm, formte ſich dieſer ſofort in 
Kugelgeſtalt. 

„Sehen Sie, daß er echt iſt!“ rief er aus. „Sobald 
ſich der Egel zu einer Kugel zuſammenrollt, iſt er 
brauchbar. Ich werde Ihnen das noch weiter beweiſen. 
Bitte, ſtecken Sie einmal die Zunge heraus! Ich will 
Ihnen dieſe Egel daran ſetzen, und Sie werden ſehen, 
daß ſie ſofort anbeißen.“ 

„Warum gerade die Zunge, Don Parmeſan?“ 

„Weil ſie der blutreichſte Teil Ihres Körpers iſt, 
den Sie augenblicklich zur Verfügung haben.“ 

„So erſuche ich Sie ergebenſt, dieſes Experiment 
an Ihrer eigenen Zunge, lateiniſch Lingua genannt, 
vorzunehmen.“ 

Er wich vor dem Chirurgen zurück. Dieſer be⸗ 
merkte kopfſchüttelnd dazu: „Ich kann nicht begreifen, 
wie ein Naturforſcher, ein Zoolog, eine ſolche Scheu vor 
dieſen reinlichen Tierchen haben kann. Ich werde dieſe 
ſchöne Gelegenheit benutzen, mir einen Vorrat zu fangen 
und aufzubewahren. Ich habe glücklicherweiſe geſehen, 
daß einer von unſern Leuten einige leere Weinflaſchen 
bei ſich hat. Er wollte ſie hier mit Waſſer füllen; aber 
ich hoffe, daß er ſie mir um des guten Zweckes willen 
ablaſſen wird.“ 


— 260 — 


Er ſprach mit dem betreffenden Mann, der ihm 
ſeine Bitte gewährte. Dann zog er ſeine Stiefel aus, 
ſetzte ſich an den Rand des Grabens und ſtellte die 
nackten Füße in das Waſſer. Sie bedeckten ſich ſehr 
ſchnell mit Blutegeln, die er ablas und in die 
Flaſchen tat. 

Während er ſich auf dieſe Weiſe beſchäftigte, ſchritt 
der Vater Jaguar die ganze Oaſe ab, um deren Boden 
ſehr ſorgfältig zu unterſuchen. Andre halfen ihm dabei. 
Da, wo der Strauch- in den Graswuchs überging, fiel 
ihm eine Stelle auf, die nur ſpärlich mit Grün über⸗ 
wachſen war. Als er mit dem Fuß darauf ſtampfte, 
klang ſie hohl. 

„Ich wette, hier iſt das Verſteck, das ich ſuche!“ 
ſagte er. 

„Ick bin derſelbigen Meinung,“ antwortete Fritze, 
der daneben ſtand; „denn dieſe Stelle ſieht jrad ſo aus 
wie diejenige, wo wir die Gigantochelonia ausjraben 
wollten. Dat Iras war dort auch ſo dünn.“ 

„So graben wir nach. Holen Sie die Werkzeuge, 
Kieſewetter!“ 

Fritze brachte dieſe herbei und wollte ſich ſogleich 
bereitwillig an die Arbeit machen; aber Hammer wehrte 
ab, indem er ſagte: „Halt! Nicht in dieſer Weiſe! So, 
wie Sie es an der Fiſchquelle gemacht haben, dürfen wir 
es nicht machen. Sie haben dort doch wohl die ganze 
Decke rund umgraben?“ 

„Allerdings.“ 

„Und dabei die Erde tief aufgewühlt?“ 

„Natürlich! Wir haben jedacht, wir hätten ein 
Rieſentier herauszubuddeln. Da au dat Loch fo jroß 
wie möglich ſind.“ 


— 261 — 


„Dies werden wir nicht tun. Nicht wahr, es gab 
in dem Lehmboden eine ſandige Stelle?“ 

„Ja. Dat war der verſchüttete Eingang zu dat 
Jeheimnis.“ 

„So brauchen wir doch nur den Eingang zu öffnen, 
um hinabzukommen. Und dies werden wir ſo vorſichtig 
tun, daß ſpäter niemand bemerken wird, daß man das 
Verſteck geöffnet hat.“ 

„Aber dann, wenn ſie die Jeſchichte herausnehmen 
wollen, werden ihnen die Augen aufjehen!“ 

Vater Jaguar bückte ſich, um den Boden zu unter⸗ 
ſuchen, und fand bald die ſandige Stelle, die noch weniger 
Gras trug als ihre Umgebung. Sie wurde ſehr ſorg⸗ 
fältig, zunächſt mit dem Spaten umſtochen und ausge⸗ 
hoben. Dann grub man in die Tiefe. Der Vater Ja⸗ 
guar ließ eine Anzahl Ponchos ausbreiten, auf die das 
Erdreich geworfen wurde, damit nichts davon im Gras 
liegen bleibe und dann zum Verräter werden könne. 

Als man einige Fuß tief gekommen war, brach der 
Boden des Loches ein, und der Sand fiel, ganz wie un⸗ 
längſt an der Fiſchquelle, nach innen. Das Loch wurde 
ſo erweitert, daß Hammer hinabſteigen konnte. Als er 
unten anlangte, befand er ſich in einer kleinen Höhle, 
die genau derjenigen glich, bei deren Oeffnen Don Par⸗ 
meſan, Doktor Morgenſtern und Fritze ſo unangenehm 
überraſcht worden waren. Jetzt galt es, deren Boden 
aufzuheben. Als dies geſchehen war, erfuhr man, was 
das Verſteck enthielt. Da gab es kleine Pulverfäſſer, 
die, um die Erdfeuchtigkeit abzuhalten, in Leder einge⸗ 
näht waren, Gewehre, Meſſer und eine Anzahl andrer 
eiſerner Waffen und Werkzeuge. 

Dieſe Gegenſtände wurden an das Tageslicht ge⸗ 
bracht. Man zählte hundert Gewehre und doppelt ſo 


— 262 — 


viele Meſſer. Auch Speer⸗ und Pfeilſpitzen waren vor⸗ 
handen. 

„Das alles iſt für die Abipones beſtimmt, wird aber 
den Cambas, unſern Freunden, zu gute kommen,“ 
meinte der Vater Jaguar erfreut. „Schütten wir das 
Loch wieder zu!” 

Die Erde wurde von den Ponchos ſo in die Oeff⸗ 
nung geſchüttet, daß kein Krümchen daneben fiel, und 
feſtgeſtampft. Dann legte man den ausgeſtochenen Ra⸗ 
ſen darauf und begoß ihn mit Waſſer, damit die beſchä⸗ 
digten Halme nicht abſterben möchten. Während dieſe 
Arbeit beendet worden war, hatten einige andre im See 
gefiſcht und reiche Beute gemacht. Die Pampas ſind bei 
weitem nicht ſo wildreich wie die Prärien Nordameri⸗ 
kas, aber überall liegen Lagunen und kleine Seen zer⸗ 
ſtreut, die, ſoweit ſie nicht Salzſeen ſind, meiſtens Fiſche 
enthalten, weshalb die Pampasjäger meiſt mit Angeln 
und Netzen verſehen ſind. 

Zur Zubereitung der Beute wurden Feuer ange⸗ 
brannt, aber nicht auf der Oaſe, ſondern draußen auf 
dem nackten Sande. Dort konnten die Spuren leicht 
verwiſcht werden, während ſie im Gras verkohlte Stellen 
zurückgelaſſen hätten. Dann begann ein Backen und 
Braten, daß der leckere Duft die ganze Oaſe erfüllte. 
Man mußte für Vorrat ſorgen, denn man durfte nicht 
hoffen, morgen auf ein jagdbares Tier zu treffen, und 
an der Krokodilsquelle, wohin man wieder anderthalb 
Tage zu reiten hatte, war auch kein Fang zu erwarten. 

Die Pferde taten ſich während des ganzen Nach⸗ 
mittags am Graſe gütlich, und ihre Herren aßen ſich 
mehr als ſatt. Dennoch zeigte es ſich, da der Fiſchzug ſo 
reich ausgefallen war, daß man einen Vorrat von wohl 
fünf Mahlzeiten beſaß. Die Zubereitung der Fiſche war 


— 263 — 


eine höchſt einfache. Sie wurden einzeln mit trockenem 
Schilf umwickelt und dieſes angezündet; war es ver⸗ 
brannt, ſo war der Fiſch ſo ſchön durchbraten, daß das 
Fleiſch ſich leicht von den Gräten löſte. 

So wurde es Abend, und man ſaß noch einige Zeit 
an den Feuern beiſammen, um ſich zu unterhalten. Die 
Deutſchen hatten ſich zuſammengefunden, um ſich ihrer 
Mutterſprache bedienen zu können, was ihnen die Ar⸗ 
gentinier gar nicht übelnahmen. Unter dieſen letzteren 
zeichnete ſich ein junger, lebhafter Menſch durch ſeine 
Sprachfertigkeit und die Witze aus, die er unaufhörlich 
zum beſten gab. So oft er den Mund öffnete, brachte 
er etwas vor, worüber die andern lachen mußten. Er 
war der Witzbold der Geſellſchaft und wurde darum nicht 
bei ſeinem eigentlichen Namen gerufen, ſondern El 
Picaro, der Schalk, genannt. 

Später legte man ſich zur Ruhe. Obgleich man 
nicht zu befürchten brauchte, überraſcht zu werden, wur⸗ 
den einige Wachen ausgeſtellt. Die Pferde brauchten 
nicht beaufſichtigt oder gar angebunden zu werden, da 
man ſicher ſein konnte, daß ſie nicht über die Oaſe hin⸗ 
aus und auf den dürren Sand gehen würden, der ihnen 
kein Futter bot. 

Am andern Morgen wurde zunächſt ein kurzes 
Mahl gehalten. Den Fleiſchvorrat wickelte man ſorg⸗ 
fältig in Decken. Die Beute, die dem Verſteck entnom⸗ 
men worden war, ließ Hammer ſo verteilen, daß kein 
Pferd zu viel zu tragen hatte. Nachdem darauf alle 
Spuren auf das ſorgfältigſte verfilgt worden waren, 
brach man auf. 

Der heutige Ritt ging in derſelben Richtung wie 
der vorherige: nach Nordweſten. Es gab wieder Sand⸗ 
wüſte, und zwar den ganzen Tag. Einigemale 
kam man an kleinen Seen vorüber, die Salzwaſſer ent⸗ 


— 264 — 


hielten. An den Ufern ſtanden einige kümmerliche 
Salzpflanzen Zur Mittagszeit wurde eine Stunde ge⸗ 
raſtet und am Abend mitten in der Wüſte Lager ge⸗ 
macht, natürlich ohne Feuer, da kein Material zu einem 
ſolchen vorhanden war. Gegen Morgen, als es noch 
dunkel war, brach man ſchon wieder auf. 

Intereſſant war es, den Chirurgen zu beobachten, 
welche Aufmerkſamkeit er ſeinen Blutegeln widmete. 
Daß er ſie überhaupt mitgenommen hatte, dafür gab es 
feinen beſtimmten Grund. Es waren eben mediziniſche 
Tiere, und da er ſich für einen berühmten Arzt hielt, 
wollte er auf ſeine Gefährten damit Eindruck machen. 
Er durfte die Flaſchen, worin ſie ſich befanden, nicht 
luftdicht verſchließen, da ſie ſonſt erſtickt wären. Darum 
hatte er die Ecken ſeines Kopftuchs abgeriſſen und dieſe 
Fetzen um die Flaſchenhälſe gebunden. Er war ferner 
der Anſicht, daß ſeine Schützlinge vor jeder größeren Er⸗ 
ſchütterung zu bewahren ſeien, und hatte infolgedeſſen 
die Flaſchen in ſeinen Gürtel geſteckt, aus dem ſie wegen 
ihrer glatten Oberfläche immer unten herausrutſchen 
wollten. Darum war er unqusgeſetzt damit beſchäftigt, 
ſie immer und immer wieder in die Höhe zu ſchieben; er 
hatte die Hände nie zu etwas anderm frei, und da ſein 
Pferd nicht das beſte war und er es an der Zügelführung 
mangeln laſſen mußte, wurde er tüchtig zuſammenge⸗ 
rüttelt und war, als man die Krokodilquelle erreichte, 
ſo ermüdet, daß er ſogleich aus dem Sattel ſprang, die 
Flaſchen in das Gras ſtellte und ſich daneben niederlegte. 

Dieſe Quelle trug ihren Namen mit vollem Recht. 
Mitten in der Sandwüſte lag eine große Lagune, deren 
Waſſer außerordentlich trüb und ſchlammig war. Sie 
wurde von einem breiten Schilfrand umſäumt, der 
ſeinerſeits wieder von Tamarinden, Breas und baum⸗ 


— 265 — 


artigen Kakteen umgeben war. Dieſer Gürtel wurde an 
verſchiedenen Stellen durch graſige Lichtungen unter⸗ 
brochen, die den Pferden willkommenes Futter boten. 
Auf einer dieſer Lichtungen drang die Quelle aus dem 
Boden, um ihr Waſſer in nicht allzugroßer Entfernung 
in die Lagune zu ſenden, wo es ſofort ſeine Helligkeit 
verlor und trüber wurde. 

Dieſer letztere Umſtand hatte ſeinen Grund darin, 
daß das Waſſer der Lagune nie ſtill ſtand, ſondern un⸗ 
ausgeſetzt bewegt wurde, und zwar von Krokodilen, 
welche Jagd auf ihresgleichen und auf andere Tiere 
hielten und dabei den Schlamm fortwährend aufwühl⸗ 
ten. Es war geradezu erſtaunlich, zu ſehen, in welcher 
Menge dieſe häßlichen Tiere hier vorhanden waren. Als 
Doktor Morgenſtern ſie erblickte, rief er erſchrocken aus: 
„Iſt ſo etwas möglich! Das iſt ja entſetzlich! Da ſieht 
man ja dreißig, vierzig, ſechzig auf einmal, die überein⸗ 
ander wegſtürzen! Was ſagſt du dazu, Fritze?“ 

„Wat ick ſage? Jar nichts. Da bleibt mich jradezu 
der Mund offenſtehen, und ick werde ihm wohl erſt dann 
wieder zumachen, wenn mich eins hineinjefahren iſt. Ick 
möchte nur wiſſen, wovon ſie ihren Appetit befriedigen.“ 

„Wenn Sie aufpaſſen, werden Sie es baldigſt 
ſehen,“ bemerkte der Vater Jaguar. „Wir haben uns 
dem Rio Salado wieder genähert und befinden uns in 
einer Gegend, die von ſeiner jährlichen Ueberſchwem⸗ 
mung erreicht wird. Das iſt die beſte Zeit für dieſe 
Beſtien, die dann vollauf Fraß finden. Iſt die Ueber⸗ 
ſchwemmung vorüber, ſo tritt Faſtenzeit für ſie ein. Zu⸗ 
nächſt freſſen ſie Fiſche und andres Getier, das aus dem 
Fluß in die Lagune gelangt iſt. Hat das aufgehört, ſo 
treibt fie der Hunger, ſich untereinander zu bekriegen. 
Die großen freſſen die kleinen.“ 


— 266 — 


V uUnd wenn keine kleinen mehr vorhanden find, wat 
tun dann die jroßen?“ 

„Dann wiſſen ſie ſich nicht anders zu helfen, als 
daß — — — Da,“ unterbrach er ſich, „werden Sie es 
gleich ſehen. Paſſen Sie auf!“ 

Gar nicht weit von ihnen waren in der Nähe des 
Ufers zwei mächtige Krokodile in Kampf geraten. Sie 
warfen ſich gegen⸗ und aufeinander, daß Schlamm und 
Waſſer hoch aufſpritzten. Nach kurzem Ringen hatten ſie 
ſich gegenſeitig an den ſcharf bewehrten Kinnladen ge⸗ 
packt und ſo ineinander verbiſſen, daß ſie nicht ausein⸗ 
ander zu können ſchienen. Da ſchoß ein drittes heran 
und riß dem einen ein Bein aus dem Leibe, worauf es 
mit feinem Raub im Waſſer verſchwand. Das verletzte 
Untier ließ einen ganz eigenartigen, nicht zu beſchreiben⸗ 
den Schmerzenston hören, worauf ſogleich mehrere andre 
herbeigeſchoſſen kamen, aber nicht etwa, um ihm zu hel⸗ 
fen, ſondern um ſich ſeiner zu bemächtigen. Es wurde 
förmlich in Stücke zerriſſen, wobei ihm ſeine Rücken⸗ 
ſchilder nicht den mindeſten Schutz gewährten. 

„Da ſehen Sie, wovon ſie leben“, ſagte Hammer. 
„Hat eins von ihnen, und wenn es das größte und 
ſtärkſte wäre, einmal eine Verwundung erhalten, ſo iſt 
es verloren; es wird von den andern aufgefreſſen. Und 
dabei ſind dieſe Tiere von einer Feigheit, die ihres⸗ 
gleichen ſucht. Ich will es Ihnen beweiſen.“ 

Er nahm ſein Gewehr vom Rücken und drückte ab. 
Als der Schuß ertönte, verſchwanden ſämtliche Kroko⸗ 
dile wie mit einem Schlag; die Waſſer kräuſelten noch 
einige Augenblicke und ſtanden dann ſo ruhig, als ob in 
ihnen niemals irgend ein Leben geherrſcht habe. Von 
den Ufern aber erhoben ſich ſchreiend einige Stelzvögel, 
die trotz der Krokodile im Schlamm nach Beute geſucht 


\ 


— 267 — 
hatten, und aus den Zweigen der Bäume flog kreiſchend 
eine Schar von Papageien auf. 

Fritze riß ſein Gewehr an die Wange und wollte 
auf die letzteren ſchießen, Hammer aber ſchob es ihm 
weg und fragte: „Was wollen Sie? Etwa Ihr Pulver 
unnütz verſchwenden?“ 

„Unnütz? Ick wollte mich zu unſerm Fiſch einen 
Jeflügelbraten ſchießen.“ 

„Laſſen Sie das! Wenn Sie keine Krokodilzähne 
haben, rate ich Ihnen nicht dazu. Der Papagei wird 
ungeheuer alt, und ſelbſt in jungen Jahren iſt ſein 
Fleiſch ſo zähe, daß es kaum genoſſen werden kann.“ 

„Etwa wie der ſchöne Vogel Strauß, von dem wir 
uns auch ſo 'nen Braten leiſten wollten, wie ick Sie er⸗ 
zählt habe?“ 

„Ja. Wir müſſen uns mit unſern Fiſchen begnü⸗ 
gen. Später, wenn wir wieder in Wälder und zu den 
mir befreundeten Cambas kommen, werden wir beſſer 
leben.“ 

Die Pferde wurden abgeſattelt, getränkt und auf 
die Weide gelaſſen. Die Reiter nahmen ihr Mittags⸗ 
mahl ein und dann wiederholte ſich genau das, was ſich 
an der Blutegelquelle zugetragen hatte: das Waffenver⸗ 
ſteck wurde geſucht, gefunden, ausgeleert und wieder zu⸗ 
gemacht. Während dieſer Arbeit war es Abend gewor⸗ 
den, und man brannte einige Feuer an. El Picaro, 
der Schalk, machte wieder ſeine Witze, und die Deutſchen 
ſaßen erzählend bei einander. 

Später wurden die Wachen ausgeſtellt, welche dies⸗ 
mal auch die Aufgabe hatten, die Feuer von Zeit zu Zeit 
zu ſchüren, da es kühl geworden war, dann legte man ſich 
ſchlafen. 


— 268 — 


Ehe Don Parmeſan ſich zur Ruhe in ſeinen Poncho 
hüllte, ſah er noch einmal nach ſeinen Blutegeln, denen 
er ſeit Mittag zweimal friſches Waſſer gegeben hatte. 
Er ſtellte die Flaſchen ſorgſam zwiſchen ſich und Fritze, 
der neben ihm lag, und wendete ſich dann auf die Seite, 
um einzuſchlafen. 

Die Nacht verging ohne Störung, ohne daß etwas 
Ungewöhnliches geſchah, außer man wollte das, was 
einer der Wachtpoſten gegen Morgen tat, ungewöhnlich 
nennen. Dieſer Poſten war El Picaro, der Schalk. 
Eben hatte er wieder einmal die Feuer geſchürt, da ging 
er nicht, wie vorher, wieder fort, ſondern er ſchlich ſich 
auf den Fußſpitzen nach der Stelle hin, wo der Chirurg 
ſorglos ſchnarchte. Er lauſchte eine Weile und griff, als 
niemand ſich regte, nach den Blutegelflaſchen; es waren 
ihrer drei. Er öffnete ſie, indem er den Baumwollenver⸗ 
ſchluß losband, und verſuchte ſodann, die Decke, worin 
Don Parmeſan ſich gewickelt hatte, unten auseinander⸗ 
zuſchlagen. Es gelang. Der Chirurg trug, wie ſchon 
früher erwähnt, lange Stiefel, deren Schäfte er heute 
nicht ganz emporgezogen hatte; ſie reichten ihm nur bis 
an die Knie und bildeten dort trichterähnliche Oeffnun⸗ 
gen, wohin El Picaro den Inhalt zweier Flaſchen ſchüt⸗ 
tete; dann ſchlug er die Decke wieder zuſammen. Mit 
der dritten kroch er zu Fritze Kieſewetter hin. Auch dieſer 
hatte ſich in ſeinen Poncho gewickelt, den El Picaro an 
einer Stelle auseinanderzog, um dort die Flaſche zu ent⸗ 
leeren. Hierauf band er die drei Flaſchen wieder zu, 
genau ſo, wie ſie vorher verſchloſſen geweſen waren, und 
ſtellte ſie an ihren Platz zurück. Dann ſchlich er zum 
andern Wachtpoſten zurück. 

„Nun, iſt's gelungen?“ fragte dieſer. 

„Ja, vollſtändig,“ kicherte der luſtige Burſche. 


— 269 — 


„Prächtig!“ lachte auch der andre. „Was wird ei 
ſagen, wenn er merkt, daß er die Sanguijuelas auf dem 
Leibe anſtatt in den Flaſchen hat!“ 

„Es gibt einen Hauptſpaß, zumal ich die Flaſchen 
wieder zugebunden habe. Dann kann er es ſich nicht er⸗ 
klären, wie ſie herausgekommen ſind.“ 

„Hat er ſie alle?“ 

„Alle nicht, obgleich ich die Flaſchen leer gemacht 
habe. Es war keine leichte Arbeit, dieſe klebrigen Din⸗ 
ger, nachdem ich das Waſſer abgegoſſen hatte, herauszu⸗ 
ſchütten. Ein andrer hat auch welche.“ 

„Ein andrer? Wer?“ 

„Federico mit dem unausſprechlichen deutſchen 
Namen, der Diener des Gelehrten.“ 

„Dieſer? Das hätteſt du nicht tun ſollen. Er iſt 
ein braver Burſche.“ 

„Ich beabſichtigte es eigentlich nicht; aber als ich 
ihn ſo ſchön nebenan liegen ſah, da zuckte es mir ſo lange 
in den Fingern, bis auch er ſein Teil erhielt.“ 

„Wie lange währt es, bis die Würmer angekrochen 
ſind?“ 

„Wer kann das ſagen! Ich bin kein Arzt und habe 
noch keinen Blutegel beobachtet. Vielleicht eine Stunde. 
Dann iſt es Tag, und es wird ſo hell, daß wir die Be⸗ 
ſcherung ſehen können.“ 

Die beiden flüſterten und lachten noch eine Weile 
und gingen dann auseinander. Sie hatten die letzte 
Wache übernommen und waren alſo diejenigen, die zu 
wecken hatten. Die Zeit verging, und der Tag begann 
zu grauen. Sie weckten noch nicht, ſondern begaben ſich 
in die Nähe der Schläfer, um, hinter zwei Bäumen ver⸗ 
ſteckt, die beiden Opfer ihres Scherzes zu beobachten. Die 
Blutegel hatten den Weg durch die Kleider gefunden und 


— 270 — 


ich feſtgeſaugt. Die von ihnen Ueberfallenen fühlten 

zwar den Angriff, der gegen verſchiedene ihrer Körper⸗ 
teile gerichtet war, waren aber vom Schlaf noch ſo feſt 
umfangen, daß ſie nicht erwachten. Sie drehten ſich von 
rechts nach links, von links nach rechts; ſie kratzten mit 
den Händen nach ihren Armen und Beinen; ſie kratzten 
ſich an allen Ecken und Enden und murmelten dabei 
leiſe Worte, die man nicht verſtehen konnte. 

Jetzt erſt riefen El Picaro und fein Kamerad die 
Schläfer wach, und dieſe ſprangen auf. Als der kleine 
Gelehrte ſeinen Diener erblickte, fragte er erſtaunt: 
„Fritze, was haſt du da im Geſicht? Ich denke, wir be⸗ 
finden uns an der Quelle der Krokodile und nicht an der⸗ 
jenigen der Blutegel!“ 

Freilich iſt dat richtig,“ antwortete der Gefragte. 
„Wir haben dat Vergnüjen, uns bei die Krokodils zu 
befinden.“ 

„Aber es iſt doch kein Krokodil, ſondern ein Blut⸗ 
egel, der dir an der Wange, lateiniſch Gena, hängt. Und 
über der Naſe haſt du dir einen zweiten zerdrückt! Greif 
nur an die rechte Wange! Da hängt einer, und was für 
einer! Er hat ſich vollſtändig dick geſaugt.“ 

Fritze wollte dieſer Aufforderung folgen und erhob 
die Hand. Da fiel ſein Blick auf dieſe; er ließ ſie wieder 
ſinken, ſtarrte ſie erſtaunt an und rief ſodann aus: 
„Wat iſt denn dat? Da hängt ein fremdes Jeſchöpf, das 
jar nicht zu mich jehört, an meine Hand! Iſt dat ein 
Polyp oder eine jebackene Rettichsbirne?“ | 

Er betrachtete den Egel, der allerdings in Birnen 
form von ſeiner Handoberfläche herniederhing. Er ſchüt⸗ 
telte die Hand, aber das Tier hing feſt. 

„Ein Blutegel iſt's,“ erklärte Morgenſtern. „Und 
der im Geſicht iſt noch viel größer und dicker.“ N 


— 271 — 


Fritze fuhr ſich in das Geſicht, fühlte das Tier, faßte 
es feſt, riß es los und warf es von ſich. Natürlich be⸗ 
gann die Stelle ſofort zu bluten. 

„Blutegel ſind's, wahrhaftig, Blutegel! Fui 
Spinne!“ ſchrie er auf. „Die habe ick an der letzten 
Quelle aufjeleſen.“ 

Die Argentinier lachten alle, obgleich ſie ſeine Worte 
nicht verſtanden. Er hatte am Halſe noch einen Egel und 
einen andern hinter dem Ohr ſitzen. Seitwärts hinter 
ihm ſtand Don Parmeſan. Dieſem hingen zwei Egel 
am Kinn. Er fühlte ſie nicht. Er ſah, um was es ſich 
handelte, trat raſch vor und ſagte zu Fritze, natürlich in 
ſpaniſcher Sprache: „Sie haben Sanguijuelas im Ge⸗ 
ſicht, am Halſe und am Ohr, Senor. Ich werde fie 
Ihnen abnehmen. Ich verſtehe das. e Sie ſtill; 
ich tue Ihnen nicht weh.“ 

Er griff nach dem Egel am Halſe des eder dieſer 
aber gab ihm lachend zurück: „Operieren Sie erſt ſich 
ſelbſt, Don Parmeſan! Sie haben ja auch zwei Stück 
am Kinn hängen.“ 

„Ich?“ fragte der Chirurg erſtaunt. Er griff nach 
der bezeichneten Stelle und fühlte die Anhängſel. Da 
fuhr er erfreut fort: „Das iſt gut! Die ſind mir ange⸗ 
krochen, als ich mit den Füßen im Waſſer ſaß. Ich habe 
ſie hierher getragen, ohne es zu wiſſen. Ich werde ſie 
abnehmen, ohne ihnen wehe zu tun, und ſie dann zu den 
andern in die Flaſche ſtecken. Warten Sie, Seßor! 
Dann befreie ich Sie auch von den Ihrigen.“ 

Er machte einen leiſen Verſuch, ſeine Blutſauger zu 
entfernen, und da ſie voll und ſatt waren, gelang es ihm 
ſehr leicht. Dann bückte er ſich nach ſeinen Flaſchen 
nieder, hob die eine empor, machte ein verblüfftes Ge⸗ 
ſicht, nahm die andre und auch die dritte auf und rief 


— 272 — 


dann beſtürzt aus: „Leer! Alle drei ſind leer! Wo 
ſind meine Sanguijuelas hin?“ 

Ein allgemeines lautes Gelächter antwortete ihm. 
El Picaro hatte ſeinen Gefährten ein heimliches Zeichen 
gegeben; ſie verſtanden ihn und wußten ſogleich, woran 
ſie waren. Darum antwortete Geronimo dem erſtaun⸗ 
ten Chirurgen: „Wohin ſie ſind? Das müſſen Sie doch 
fühlen, Don Parmeſan. Ich glaube, Sie tragen ſie an 
Ihrem Leibe. Und unfer lieber Seüor Federico mag 
auch einmal nachſehen, ob diejenigen, die wir bis jetzt an 
ihm ſehen, die einzigen ſind, die ſich für ihn intereſſieren.“ 

Er trat zu dem Genannten, nahm ihm den Gürtel 
ab, zog die Bruſtſchlitze des Hemdes auseinander und 
fuhr dann lachend fort: „Dachte es mir! Eine ganze 
Kolonie von Blutegeln, einer immer neben dem andern! 


Sesöor, die lieben Tiere müſſen eine ungemeine Zunei⸗ 


gung für Sie haben!“ 

„Danke für die Zuneigung!“ antwortete Fritze 
zornig, indem er nach ſeiner Bruſt griff, um die Egel 
abzureißen. Da aber fiel Don Parmeſan ihm in die 
Arme, hielt dieſe feſt und ſchrie entſetzt: „Halt, halt, 
Senor! Meine Flaſchen find leer; das find alſo meine 
Sanguijuelas, an denen Sie ſich nicht vergreifen dürfen! 
Sie ſind mir entſchlüpft, und ich muß ſie mir wieder ein⸗ 
fangen, einzeln und behutſam, damit ich keinen verletze.“ 

„Ach, was geht es mich an, wem dieſe Raubtiere 
gehören!“ erwiderte Kieſewetter erboſt. „Ich laſſe mich 
nicht von ihnen anfallen und auffreſſen. Herunter mit 
ihnen!“ 

Er wollte dieſen Vorſatz ausführen, doch der Chi⸗ 
rurg hielt ihm die Arme noch immer feſt und bat in fle⸗ 
hendem Ton: „Nein, nein, Seüor! Ich erſuche Sie in⸗ 


— 278 — 


ſtändigſt, mir den Gefallen zu tun. Ich leſe ſie Ihnen 
ab, und wenn alle an Ihnen hängen ſollten!“ 

„Alle? Das fehlte noch! Ich habe genug an dieſen 
da, und wenn — —“ 

Er hielt inne und machte ein Geſicht, als ob er auf 
etwas lauſche; dann ſchlug er ſich mit den Händen kräftig 
gegen die Oberarme, die Schenkel und andre Körperteile 
und wetterte, im höchſten Grade ergrimmt: „Ja, ich 
habe ſie alle, alle! Ich fühle es jetzt ganz deutlich!“ 

„Ich auch, ich auch!“ rief Don Parmeſan, von dem 
ſich Fritze losgeriſſen hatte. Er fuhr ſich mit der Hand 
unter das Gewand, um ſich von der Anweſenheit der 
Blutegel, die er nun auch fühlte, zu überzeugen. 

„Ich habe ſie am ganzen Leibe ſitzen“! fuhr Fritze 
fort. „An den Armen, an den Beinen, auf dem Rücken, 
auf dem Leibe!“ 

„Ich auch, ich auch!“ 

„Dieſe Beſtien, dieſe Vampyrs! Ich zerſchlage ſie, 
ich zerquetſche ſie alle, alle!“ 

Da fiel ihm Don Parmeſan abermals in die Arme 
und ſchrie: „Halten Sie ein! halten Sie ein! Sie er⸗ 
morden die Egel ja; Sie zerquetſchen ſie; Sie ſchlagen 
ſie tot. Halten Sie ſtill! Ich nehme ſie Ihnen ſo ſäu⸗ 
berlich ab, daß Sie Ihre Freude daran haben werden!“ 

„Still halten? Fällt mir gar nicht ein,“ antwor⸗ 
tete Fritze, ſich gegen den Chirurgen wehrend. „Sterben 
müſſen ſie, elendiglich umkommen!“ 

„Nein, nein, und abermals nein! Haben Sie Er⸗ 
barmen! Ich nehme ſie alle ab. Und wenn einer oder 
einige nicht wollen, ſo laſſen wir ſie hängen, bis ſie ſatt 
ſind; dann fallen ſie freiwillig und ganz von ſelber ab.“ 

„Bis ſie ſatt ſind? So lange ſoll ich warten? Soll 
ich mich verbluten, Sie Ungeheuer? Soll ich Ihrer 


May, Das Vermächtnis des Inka 18 


— 274 — 


Würmer wegen mein Leben auf das Spiel ſetzen? Fort 
mit Ihnen! Packen Sie ſich! Laſſen Sie los, ſonſt —!“ 


„Senor, Euer Gnaden, vergeſſen Sie nicht, daß jede 
Wiſſenſchaft ihre Opfer fordert. Haben Sie die Güte 
und — 


„Jort, ſage icht Opfer fordert! Sie ſind toll, wahn⸗ 


ſinnig! Ihrer Egelwiſſenſchaft zulieb opfere ich mich 
noch lange nicht!“ 


Sie zerrten hin und her; ſie ſtolperten über die 
Flaſchen und fielen zu Boden. Der eine wollte ſich von 
dem andern befreien, und dieſer wollte nicht loslaſſen; 
ſo kam es, daß ſie ſich überkugelten, ſich hin und her 
wälzten, ſich einmal halb aufrichteten und doch wieder 
niederzerrten. Dabei ſchimpfte Fritze in allen Tonarten 
auf den Chirurgen, und dieſer bat ebenſo in allen Ton⸗ 
arten um Mitleid für die Wiſſenſchaft und Blutegel. Die 
Argentinier, aber auch Doktor Morgenſtern, lachten, was 
ſie nur lachen konnten. Der alte Anciano und der Inka 
ſtanden zwar mit ernſten Geſichtern dabei, doch ſah man 
es ihren lachenden Augen an, daß ſie nur mit Anſtren⸗ 
gung ihre indianiſche Würde zu bewahren vermochten. 
Und was endlich den Vater Jaguar betraf, ſo warf er 
zwar dieſem ſchlimmen El Picaro einen ſtrafenden Blick 
zu, konnte ſich aber dennoch dem ſpaßhaften Eindruck 
nicht entziehen: Um ſeine Blutegel zu retten, hatte der 
„Don“ einen Kampf herbeigeführt, durch den ſie erſt recht 
vernichtet werden mußten. Sie wurden ja alle zer⸗ 
quetſcht und zerdrückt. Endlich aber, als die beiden ge⸗ 
rade im Begriff ſtanden, in das Waſſer der Quelle zu 
kollern, griff Hammer doch zu und zog fie auseinander, 
indem er ihnen zurief: „Nun hören Sie aber aufl Die 
Sache iſt doch eher ſpaß⸗ als ernſthaft zu nennen.“ 


— —— — — — 


— 275 — 


„Spaßhaft? Soll ich es einen Spaß nennen, daß 
dieſer Senor, der alles herunterſäbelt, fünfhundert Blut⸗ 
egel mit ſich ſchleppt, um ſie mir bei nachtſchlafender Zeit 
auf den Leib zu ſetzen?“ 

„Fünfhundert?“ rief Don Parmeſan. „Neunzig 
ſind es geweſen, nicht mehr als neunzig. Es waren ge⸗ 
rade nur dreißig in jeder Flaſchel“ 

„Iſt das etwa nicht genug? Neunzig, ſage neun⸗ 
zig Blutegel ſitzen mir auf der Haut. Sie nagen an 
meinem Leben; ſie entleeren meine Adern; ſie trinken 
den koſtbaren Saft meines deutſchen Blutes! Rechne 
ich auf jeden nur ein halbes Pfund, ſo habe ich in dieſer 
Nacht fünfundvierzig Pfund Blut verloren!“ 

„Der Menſch hat ja nicht mehr als zehn Pfund 
Blut, lateiniſch Sanguis genannt,“ fiel Morgenſtern be⸗ 
lehrend ein. | 

„Ja, zehn Pfund lateiniſches Sanguis!“ fuhr Fritze 
zornig auf. „Ich aber ſtamme vom Rummelsburger See, 
und dort hat das Blut ein ganz andres Gewicht. Wer 
gibt mir das Quantum, das ich verloren habe, wieder?“ 

Abermals miſchte ſich der Vater Jaguar beſchwich⸗ 
tigend ein, indem er freundlich mahnte: „Kommen Sie 
beide mit mir hinter das Geſträuch! Dort wollen wir 
einmal nachſehen, welchen Schaden die Tiere angerichtet 
haben.“ 

„Gut, ſehen wir nach!“ willigte Fritze ein. „Sie 
werden da erkennen, daß ich nicht nur angezapft, ſondern 
geradezu verzapft worden bin, De ein Bierfaß, das nicht 
mehr läuft.“ 

„Ja, ſehen wir nach!“ fannt auch der Chirurg 
bei. „Aber ſehen wir nicht nach, welchen Schaden meine 
Blutegel bei ihm verurſacht haben, ſondern welchen er 
unter ihnen angerichtet hat!“ 


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— 276 — 


Die drei entfernten ſich und verſchwanden hinter 
den Büſchen. Bald waren laute Ausrufe zu hören: 
dann kam Fritze plötzlich mit entblößtem Oberleib aus 
dem Geſträuch herbeigerannt und rief erboſt: „Señores, 
ſehen Sie mich an! Bin ich noch ein Menſch? Oder bin 
ich eine Haut, die ein Blutegelhändler als Muſterkarte 
vorzeigen kann?“ 

Und der Chirurg kam ihm mit ebenſo entblößtem 
Oberkörper nachgeſprungen und ſchrie: „Sie ſind alle 
hin, alle, alle! Es iſt kein einziger am Leben geblieben. 
Sehen Sie mich und dieſen Mörder an, Señores! Ich 
hätte ſie ihm und mir mit der größten Kunſtfertigkeit ab⸗ 
genommen. Er brauchte ihnen nur zu erlauben, ſich voll⸗ 
zufaugen. Er aber hat fie erſchlagen und ſich mit mir fo 
lange im Gras gewälzt, bis auch der allerletzte zerdrückt 
und zerquetſcht worden iſt. Wer erſetzt mir nun meine 
Egel?“ 

„Und wer mir mein Blut?“ fragte Fritze. „Und 
wer reinigt mich? Wer wäſcht mich ab? Wer macht 
mich aus dieſer Muſterkarte wieder zu einem Menſchen?“ 

„Don Parmeſan,“ ſagte der Vater Jaguar, der 
ihnen langſam nachgegangen kam. 

„Das will ich gelten laſſen; das iſt das erſte geſcheite 
Wort, das in dieſer Angelegenheit geſprochen worden iſt.“ 

„Und wer aber ſäubert mich?“ fragte der Chirurg 
dagegen. | 

„Ich,“ antwortete El Picaro. „Ich tue es aus 
Mitleid um die lieben Tiere, die ſo mitten in ihrem 
ſchönſten Lebensgenuß haben ſterben müſſen.“ 

„Hüte dich, daß ich dich nicht auch mitten aus deinem 
jetzigen Genuß reiße!“ warnte ihn der Vater Jaguar. 
„Es ſcheint, daß auch du in vollſter Wonne ſchwelgſt.“ 


— 277 — 


Jetzt erklärten ſich auch noch andre bereit, bei der 
Prozedur behilflich zu ſein. Die beiden „An⸗ und Abge⸗ 
zapften“ wurden an das Waſſer geſtellt und gehörig ein⸗ 
geweicht und abgerieben. Was fie dabei fühlten, bebiel« 
ten ſie für ſich, doch wurde es durch ihre ſchmerzlich be⸗ 
wegten Mienen genugſam verraten. Als es zu Ende 
war, meinte Fritze lachend: „Don Parmeſan, reichen Sie 
mir Ihre Hand! Wir haben miteinander gelitten und 
wollen uns verſöhnen. Hätten Sie Ihre Flaſchen beſſer 
zugebunden, ſo wären wir verſchont geblieben.“ 


„Ich konnte ſie nicht beſſer zubinden, als es ge⸗ 
ſchehen iſt,“ antwortete der Angeklagte, indem er ihm die 
Hand ſchüttelte. „Wie es gekommen iſt, daß die Tiere 
heraus — — —“ 


Er hielt inne. Er hatte bei dieſen Worten den Blick 
zufällig auf die Flaſchen gerichtet. Vorhin hatte er in 
der Eile nur bemerkt, daß ſie keine Egel mehr enthielten; 
jetzt aber ſah er, daß der Verſchluß nach da war. Er hob 
ſie auf, betrachtete ſie und fuhr dann in erſtauntem Ton 
fort: „Was iſt denn das? Sie ſind ja genau noch ſo 
feſt verſchloſſen, wie ich ſie zugebunden habe! Oder ſind 
etwa Löcher darin?“ 


Er nahm ſie von allen Seiten in Augenſchein und 
ſchüttelte den Kopf, als er nicht das kleinſte Löchlein zu 
bemerken vermochte. 

„Wundern Sie ſich nicht, Seüor,“ ſagte El Picaro, 
„Die Sache iſt ſehr einfach. Der erſte Egel, der heraus⸗ 
kam, hat die Flaſche aufgemacht, und der letzte hat ſie, 
wie ganz in der Ordnung war, wieder zugebunden.“ 

Alle lachten. Der Chirurg ſah den Sprecher nach⸗ 
denklich an; dann blitzte es wie ein Erkennen über ſein 


— 278 — 


Geſicht, und er fragte. „Sind vielleicht Sie dieſer letzte 
Egel geweſen, Senor? Hoffentlich erfahre ich bald mehr 
über dieſe Angelegenheit, und dann werden Sie mir Ge⸗ 
nugtuung geben müſſen!“ | 

„Sehr gern, Don Parmeſan, aber nur jetzt noch 
nicht, denn, wie ich ſehe, ſattelt Vater Jaguar ſchon ſein 
Pferd.“ 


Neuntes Kapitel 
Auf dem Kriegspfad 


Der nun folgende Ritt verlief genau ſo wie der vor⸗ 
hergehende. Man übernachtete des Abends in einſamer, 
ſandiger Gegend und kam am nächſten Mittag an der 
Fuenta gemela an. 

Dieſer Ort hatte, wie bereits erwähnt, ſeinen Na⸗ 
men daher, daß dort zwei Quellen nahe bei einander ent⸗ 
ſprangen, um dann bald ihr Waſſer zu vereinigen; es 
war eine „Zwillingsquelle“, die nach dem Zuſammen⸗ 
fließen einen kleinen Bach bildete, der ſeinen Lauf nach 
einem See von wunderbar klarem, reinem Spiegel nahm. 
Dieſer See war von beinahe kreisrunder Geſtalt und 
konnte einen Durchmeſſer von wohl tauſend Schritten 
haben. 

Man merkte hier, daß man in nordweſtlicher Rich⸗ 
tung geritten war und ſich alſo dem Aequator um einige 
Grade genähert hatte, denn die Umgebung des Sees 


zeigte ſchon eine mehr tropiſche Vegetation. Die Ufer 


waren von Tacuarasrohren umſäumt, die eine Höhe bis 
zu zehn Metern beſaßen. Daran ſchloß ſich eine Laurelen⸗ 
waldung, worin einzelne Cribobäume eine angenehme 
Unterbrechung bewirkten. Sogar Caranday⸗Palmen wa⸗ 
ren ſchon zu ſehen, und weiter zurück, wo der Boden weni⸗ 
ger Feuchtigkeit beſaß, konnte man die phantaſtiſchen Ge⸗ 


— 280 — 


ſtalten baumhoher Aloes erblicken. Dazwiſchen ſtand das 

Gras ſo hoch und dicht, daß es den Pferden bis an die 
Leiber reichte. Verſchiedene Vögel, beſonders Kolibris, 
bevölkerten die Zweige; im Gras gewahrte man die Fähr⸗ 
ten vierfüßiger Tiere, und an den See brauchte man nur 
zu treten, um zu ſehen, daß ſein Waſſer reich an Fiſchen 
war. . a ö 

„Hier brauchen wir nicht nur Fiſche zu eſſen,“ 
meinte Geronimo, indem er auf die Fährte eines Hirſches 
deutete. „Vielleicht gelingt es uns, einen beſſern Braten 
zu ſchießen.“ 

„Dieſe Fährte ſagt uns, daß die Wüſte zu Ende iſt,“ 
antwortete der Vater Jaguar, „denn der hieſige Hirſch 
geht nie weit über Wüſtenland. Aber ſie mahnt uns 
auch zur Vorſicht. Wo es ſolches Wild gibt, da kann man 
auch leicht größeren Raubtieren begegnen, die wir aber“ 
— fügte er lächelnd hinzu — „keineswegs fürchten. Seit 
Buenos Aires habe ich keinen Jaguar geſehen, und der 
dort in der Arena war ein feiger Burſche.“ 


Man entſattelte die Pferde und gab ſie zum Weiden 
frei. Dann wurden zwei Abteilungen gebildet, deren 
größere dem Fiſchfang obliegen ſollte, während die klei⸗ 
nere mit Hammer ging, um nach dem Waffendepot der 
Aufrührer zu ſuchen. Gerade die große Ueppigkeit der 
Vegetation erleichterte die Nachforſchung. Auf dem Ver⸗ 
ſteck war ſie jedenfalls nicht vorhanden, und ſo kam es, 
daß dieſes ſehr bald gefunden wurde, obgleich die Oaſe, 
die der See mit ſeiner grünen Umgebung in der Wüſte 
bildete, weit größer war als diejenigen, wo man bisher 
gelagert hatte. Die heimliche Niederlage wurde in der 
bereits beſchriebenen Weiſe geöffnet, ihrer Vorräte be⸗ 
raubt und dann wieder zugemacht. 


— 281 — 


Nun hatte man drei ſolcher Arſenale entleert, und 
die Waffen und Munitionsvorräte, die man infolgedeſſen 
jetzt beſaß, konnten nur auf die unbequemſte Weiſe noch 
weiter mitgeführt werden. Es mußte den Pferden ſchwer 
fallen, das alles nebſt den Reitern zu tragen. Wenigſtens 
war an einen Ritt von derſelben Schnelligkeit wie bisher 
nicht mehr zu denken. 

Der heutige Fiſchzug war auch ein ergiebiger, doch 
wurden nur die größten und beſten Fiſche den Netzen ent⸗ 
nommen; die andern gab man in den See zurück, da man 
von nun an auch auf andres Fleiſch rechnen konnte. Der 
Vater Jaguar erklärte: „Es fliegen hier zahlreiche Ko⸗ 
libris, die gewöhnt ſind, von Blüte zu Blüte zu gaukeln. 
Sie unternehmen zwar im Herbſt und Frühling weitere 
Reiſen, fliegen da aber nur durch Gegenden, wo ſie Nah⸗ 
rung finden. Außer dieſen Vögeln gibt es hier Vier⸗ 
füßler, die ſelten oder nie in die Wüſte gehen und ſich 
meiſt in dichten Waldungen aufhalten. Aus dieſem 
Grund ſteht zu erwarten, daß wir das öde Sandland 
hinter uns haben. Wenn auch nicht ſofort Waldland 
folgt, ſo dürfen wir wenigſtens auf graſigen und wohl 
gar blühenden Campo rechnen. Senor Morgenftern und 
Kieſewetter haben von unſern Feinden gehört, daß man 
über die Fiſch⸗, Blutegel⸗, Krokodils⸗ und Zwillingsquelle 
muß, um nach dem Palmenſee zu gelangen; es ſteht zu 
erwarten, daß wir ihn bald erreichen. Darum heißt es, 
doppelt Achtung geben und vorſichtiger ſein als bisher.“ 

„Warum das?“ fragte Geronimo. 

„Du haſt doch gehört, daß Kapitän Pellejo die Sol⸗ 
daten nach dem Palmenſee beordert hat. Vielleicht be⸗ 
finden ſie ſich ſchon dort, wenn wir kommen. Entdecken 
wir ſie aber nicht zur rechten Zeit, ſo können wir von 
ihnen ganz unverſehens überfallen werden. Ich bin 


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allerdings feit überzeugt, daß fie noch nicht angekommen 
ſind.“ 

„Aus welchem Grunde?“ 

„Weil ſie zu weit haben.“ 

„Das glaube ich nicht. Wenigſtens haben ſie nicht 
weiter als wir. Seit dem Zuſammentreffen an der 
Fiſchquelle ſind nun fünf Tage vergangen. Dieſe Zeit 
reicht ſehr gut aus, um von Matara, Cachipampa oder 
gar Miravilla nach der Gegend zu kommen, wo unſrer 
Vermutung nach der Palmenſee zu ſuchen iſt.“ | 

„Ganz richtig! Aber du mußt bedenken, daß dies 
nicht die einzigen Orte ſind, woher wir Soldaten zu er⸗ 
warten haben. In Cruz grande und ganz beſonders in 
Candelaria ſtehen auch welche, und dieſe haben einen viel 
längeren Weg.“ 

„So kommen dieſe vielleicht ſpäter; die andern aber, 
die ich vorhin nannte, ſind ſchon da.“ 

„Nein, eine ſolche Verfügung trifft kein Offizier. 
Es wird dem Kapitän nicht einfallen, in einer ſo ein⸗ 
ſamen Gegend, die noch dazu in der Nähe der feindlichen 
Grenze liegt, die einen auf die andern warten zu laſſen. 
Er hat jedenfalls die Ausmarſchbefehle ſo gegeben, daß 
die einzelnen Trupps, die übrigens nur aus wenigen 
Mann beſtehen können, zu gleicher Zeit am Verſamm⸗ 
lungsort eintreffen. Aus den fernliegenden Garniſonen 
rückt man eher, aus den näherliegenden aber ſpäter.“ 

„Hm! Alſo brauchen wir noch keine Sorge zu 
haben.“ 

„O doch! Wir haben bisher nur von den Soldaten 
geſprochen. Die fürchte ich am wenigſten. Unter einer 
Garniſon verſtehe ich etwas ganz andres, als was man 
am Rio Salado darunter verſteht. Du haſt da Orte, 
deren Beſatzung nicht zehn, ja oft nur fünf Köpfe zählt. 


Wir haben wohl kaum dreißig Mann zu erwarten, und 
mit dieſen werden wir auf alle Jälle leicht fertig. Ich 
denke aber auch an die Indianer. Wer gibt uns die Ge⸗ 
wißheit, daß dieſe nicht ſchon am Palmenfee verſammelt 
find? Ich bin überzeugt, daß fie die Weißen erwarten, 
um von ihnen die verſprochenen Gewehre zu bekommen. 
Vielleicht gehen ſie ihnen ſogar entgegen, um ihnen die 
Laſt, welche Pulver und Blei, Meſſer, Beile und Flinten 
bilden, noch eher abzunehmen.“ 

„Carlos, das iſt wahr! Wir müſſen gewärtig fein, 
heute und hier ſchon ihren Beſuch zu empfangen.“ 

„Wir müſſen wenigſtens mit dieſer Möglichkeit 
rechnen. Daher habe ich unſer Lager hier am nördlichen 
Ufer des Waſſers aufgeſchlagen, während das ſüdliche, 
wie ich weiß, dazu viel geeigneter wäre. Auch dürfen 
wir heute abend keine Feuer anzünden; fie könnten uns 
verraten. Die Fiſche müſſen ſchon jetzt am Tage ge⸗ 
baden werden, und zwar bei kleinen Feuern, die keinen 
dichten Rauch erzeugen.“ 

„Und doch dürfte alle dieſe Vorſicht vergeblich ſein, 
denn ich meine, daß die Roten dennoch gerade hierher 
kommen würden, und zwar ſehr einfach darum, weil die 
Quellen ſich auf dieſer Seite befinden. Dem Trinkwaſſer 
geht doch jeder nach.“ 

„Sehr wahr; aber ich habe vergeſſen, zu ſagen, daß 
drüben am andern Ufer ſich eine noch viel größere Quelle 
befindet. Der Ort hat ſeinen Namen zwar von dieſer 
Zwillingsquelle, die jenſeitige aber wird öfters aufge⸗ 
ſucht, weil ſie viel bequemer liegt und ſich an ihren Ufern 
ein Grasplatz erſtreckt, wo bedeutend mehr Menſchen la⸗ 
gern können als hier.“ 

„Zugegeben! Aber, Carlos, wir müſſen alles über- 
legen. Hier auf unſrer Seite befindet ſich der Ort, wo 


die Waffen verſteckt waren; alſo werden die Roten unbe⸗ 
dingt hierher kommen.“ 

„Nein. Die Weißen werden ſich gehütet haben, 
ihnen vorher mitzuteilen, wo die Magazine zu ſuchen 
find.“ 

„Da kann ich dir nicht unrecht geben. Doch was 
war das jetzt? Habt ihr es gehört?“ 

Man hatte ein kurzes, ſcharfes, dreifaches Klingen 
gehört, und in demſelben Augenblick war alle Anweſen⸗ 
den ein ganz eigentümliches Gefühl angekommen, einem 
leichten Schüttelfroſt ähnlich, der nicht länger als eine 
Sekunde anhielt. ö 

„Die Aria,“ antwortete der Vater Jaguar, indem 
er nach ſeinem Nacken griff und dabei verſuchte, ob er den 
Hals drehen und den Kopf frei bewegen könne. 


„Die Aria,“ ſtimmten die andern bei. Auch ſie 

machten die gleichen Bewegungen mit der Hand nach dem 
*. Nacken, mit dem Hals und dem Kopf. 

Was iſt Aria? Niemand vermag es genau zu ſagen. 
Sie tritt meiſt folgendermaßen auf: Man ſitzt bei einem 
Glas Wein oder bei einer Taſſe Tee; die Flaſche oder 
Kanne ſteht dabei. Da überkommt die Anweſenden jener 
kurze, aber nicht unangenehme Schüttelfroſt; zugleich er⸗ 
klingen Flaſche und Glas, Kanne und Taſſe. Sieht man 
nach, ſo ſind ſie zerbrochen, ohne daß jemand ſie ange⸗ 
rührt hat. Tiere, die vorher geſchwitzt haben, werden für 
längere Zeit an den Gliedern ſteif, und auch Menſchen 
können für mehrere Tage ein ſteifes Genick davontragen. 
Das iſt die Aria, eine elektriſche Erſcheinung, wie manche 
Forſcher und Reiſende ſagen. Wen ſie trifft, der pflegt 
ſich ſofort zu überzeugen, ob er den Nacken noch zu be⸗ 
wegen vermag. 


— 285 — 


Woher aber war hier der ſcharfe, kurze Klang ge⸗ 
kommen? Man forſchte danach. Don Parmeſan hatte die 
Flaſchen, worin die Blutegel geſteckt hatten, nicht wieder 
abgegeben, ſondern ſie in ſeiner Satteltaſche mit ſich ge⸗ 
führt. Der Sattel lag neben ihm, und als er die Taſche 
öffnete und nach den Flaſchen griff, zeigte es ſich, daß ſie 

mitten entzwei geſprungen waren. Das war glücklicher⸗ 
weiſe der einzige Schaden, den die Aria angerichtet hatte, 
denn kein Nacken war ſteif geworden. 


Doktor Morgenſtern hatte von dieſer Erſcheinung 
noch nichts gehört und erkundigte ſich darum bei dem 
Vater Jaguar nach ihr. Dieſer antwortete achſelzuckend: 
„Ich kann Ihnen leider mit keiner Erklärung dienen. 
Die Sache iſt mir ſelbſt auch unbegreiflich. Ich habe 
aber die Erfahrung gemacht, daß die Aria in dieſer Jah⸗ 
reszeit oft plötzlichen und ſtarken Regen mit ſich bringt.“ 

Er blickte bei dieſen Worten gegen den Himmel, der 
vollſtändig hell und wolkenlos war und nicht im min⸗ 
deſten ſo ausſah, als ob er heute noch Näſſe ſenden wolle. 
Kein Lüftchen regte ſich und die Oberfläche des Sees lag 
ſo ruhig und unbewegt wie feſtes Kriſtall vor den 
Augen da. 

Jetzt wurden alle Vorbereitungen getroffen, die 
nötig waren, wenn der Abend und die Nacht ohne Feuer 
zugebracht werden ſollte. Man aß ſich tüchtig ſatt und 
ſtreckte ſich dann im Gras aus, um zu ruhen. Andre 
ſaßen in Gruppen beiſammen, um ſich zu unterhalten, 
wobei El Picaro wie gewöhnlich die Hauptrolle ſpielte. 

Abſeits von allen andern ſaß Anton Engelhardt mit 
dem jungen Inka. Beide kannten ſich nur ſeit wenigen 
Tagen, hatten einander aber doch ſchon herzlich lieb ge⸗ 
wonnen; die Urſache beſtand jedenfalls in der Verſchie⸗ 


— 286 — 


denheit ihrer ſeeliſchen Eigenſchaften, die einander er⸗ 
gänzten. - 

Anton war warmblütig, leicht erregt, raſch und auf⸗ 
richtig; auf ſeinem Geſicht lag immerwährend der Aus⸗ 
druck herzlicher Zufriedenheit. Das Weſen des Peruaners 
aber war ſtill, ernſt, bedächtig, zurückhaltend, und die 
Schwermut, die ſich ſeinen jugendlich ſchönen Zügen auf⸗ 
geprägt hatte, wich keinen Augenblick. So waren ſie alſo 
vollſtändig verſchieden veranlagt, und die Verſchiedenheit 
zieht bekanntlich an. 

Sie waren ſeit dem erſten Abend ſtets nebeneinan⸗ 
der geritten und hatten ſich auch an den Lagerplätzen zu⸗ 
ſammengehalten. Da war natürlich viel geſprochen wor⸗ 
den; aber die Koſten der Unterhaltung hatte zumeiſt An⸗ 
ton getragen. Er hatte von allem, was er beſaß, kannte 
und wußte, erzählt und nach und nach ſein ganzes Herz 
ausgeſchüttet. Haukaropora hörte meiſt ſchweigend zu, 
ließ nur hier oder da eine kurze Frage, eine einſilbige Ant⸗ 
wort hören; aber wer ihn beobachtete, der ſah, daß aus 
ſeinem dunklen, tiefgründigen Auge nicht ſelten ein 
freundlicher, ja warmer Blick zu ſeinem jungen Gefähr⸗ 
ten hinüberflog. 

Das immer wiederkehrende Hauptthema aller ihrer 
Geſpräche war der Vater Jaguar. Anton erblickte in 
dieſem Mann einen Helden ohnegleichen und wünſchte 
ſehnlichſt, ihm einſt ähnlich werden zu können. Auch 
Hauka ſprach mit der größten Hochachtung, ja Verehrung 
von ihm, konnte aber leider die Neugierde Antons, der 
gern etwas aus dem früheren Leben des rieſenhaften 
Mannes erfahren hätte, nicht befriedigen. 

„Aber du haſt ihn ja viel eher gekannt,“ ſagte der 
deutſche Knabe, „und mußt alſo von ihm erzählen 
können!“ 


— 287 — 


„Ich kann nichts ſagen,“ antwortete der Inka. 
„Wenn er kam, hat er mit dem Vater geſprochen und 
nicht mit mir. Und wenn die Alten und Erfahrenen 
ſprechen, ſo müſſen die Jungen, Unerfahrenen von fern 
ſtehen. So iſt es bei uns Gebot.“ 

„Bei euch? Zu welchem Volk oder Stamm gehörſt 
du denn eigentlich?“ 

„Zu keinem.“ 

„Aber du mußt doch einer Nation angehören!“ 

„Mein Stamm iſt untergegangen. Wir leben mit 
einigen armen Familien hoch oben in den Bergen, wo 
der Kondor ſchreit.“ 

„Da wächſt kein Baum, kein Strauch. Wie könnt 
ihr lebend“ 

„Wir trinken Waſſer und eſſen das Fleiſch der wil⸗ 
den Tiere, die wir mit Lebensgefahr erlegen.“ 

„So ſeid ihr Helden, mit denen ich wohl tauſchen 
möchte. Erzähle mir von eurem Leben, euren Taten!“ 

„Von dem Leben und den Taten der Meinigen?“ 
Hauka legte die Hand an die Stirn und blickte düſter vor 
ſich nieder. Dann fuhr er fort: „Vielleicht, doch nein, 
ganz gewiß erzähle ich dir einmal davon; aber nicht heute, 
nicht jetzt. Du kommſt ja mit in unſre Berge. Dann 
wirſt du nicht nur hören, ſondern auch ſehen.“ 

Er ſtand auf und entfernte ſich, um unter den Bäu⸗ 
men zu verſchwinden. Die Fragen Antons hatten ihn an 
ſeiner wunden Stelle getroffen. Er kehrte erſt zurück, 
als es zu dunkeln begann, und ſtreckte ſich, als man ſich 
zur Ruhe legte, wie gewöhnlich neben Anton nieder. 
Dieſer hatte lange darüber nachgedacht, womit er den 
Freund betrübt haben könne, und ſchlief darüber ein. 
Wie lange er geſchlafen hatte, wußte er nicht, als er von 
einer Hand, die ihn leiſe ſchüttelte, aufgeweckt wurde. Der 


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Inka war es; er flüſterte ihm ins Ohr: „Still! Sprich 
nicht ſo laut! Du haſt gewünſcht, ein Held wie der Vater 
Jaguar zu ſein. Ich möchte dir Gelegenheit zu einer 
Tat geben. Willſt du mir folgen?“ 

„Wohin?“ 

„Davon nachher. Laß deine Waffen hier und nimm 
nur das Meſſer und die Bola mit! Schleich tief im Gras 
hinter mir, damit die Wächter uns nicht ſehen!“ 

Anton ſah, daß Hauka auf allen vieren von der La⸗ 
gerſtätte fortkroch, und folgte ihm in derſelben Weiſe. In 
den letzten Nächten hatten die Sterne geſchienen; heute 
aber war der Himmel dunkel. Da der Neumond kurz 
vorüber war, herrſchte hier unten eine faſt vollſtändige 
Finſternis. Man konnte kaum zehn Schritte weit ſehen, 
und ſelbſt der See, der am Tage ſo rein und hell geglänzt 
hatte, lag jetzt wie ein düſteres Geheimnis zu ihrer lin⸗ 
ken Hand. Sie ſchlichen langſam und unhörbar am 
Schilfrand hin, bis Hauka ſich aufrichtete und, mit noch 
immer leiſer Stimme, ſagte: „Jetzt ſind wir über die 
Wachen hinaus und können aufrecht gehen. Schau ein⸗ 
mal ſcharf über den See. Siehſt du etwas?“ 

„Nein,“ antwortete Anton, der ſeine Augen vergeb⸗ 
lich anſtrengte. 

„Oder riechſt du etwas?“ 

„Auch nicht.“ 

„Anciano und ich, wir leben mit bern Kondor in den 
Kordilleren; darum haben wir die Sinne des Adlers er- 
halten. Da drüben jenſeits des Waſſers lagern Leute.“ 

„Wie kannſt du das wiſſen?“ 

„Ich rieche den Rauch und ſehe den Schein des 
Feuers. Ein Weißer ſieht und riecht das nicht. Eigent⸗ 
lich ſollte ich es den Erfahrenen melden, aber weil du 
wünſcheſt, eine Tat zu tun, ſo habe ich ſie nicht geweckt.“ 


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„Und was willſt du jetzt tun?“ fragte der junge 
deutſche Peruaner. 

„Zunächſt will ich hinüber, um zu ſehen, wer dieſe 
Leute ſind und was ſie hierhergeführt hat. Dann wird 
es ſich zeigen, ob ich ſtill zurückkehre oder mich von den 
Umſtänden zu irgend einer Handlung bewegen laſſe. Gib 
mir deine Hand, damit ich dich führe, denn meine Augen 
find ſchärfer als die deinigen.” 

Er nahm ihn bei der Hand und ſchritt mit ihm 
langſam weiter. Das war nicht leicht, denn es ging 
zwiſchen Büſchen und Bäumen hin. Dann hörte der 
Wald plötzlich auf, und das Ufer lag baumlos vor ihnen. 
Haukaropora blieb nachdenklich ſtehen, überlegte eine 
kleine Weile und ſagte dann: „Da iſt eine Lücke in dem 
Gürtel, der ſich als Waldſtreifen um das Waſſer legt. 
Gehen wir innerhalb desſelben vorwärts, ſo befinden wir 
uns ſtets in der Finſternis, die unter den Bäumen 
herrſcht, was uns ſehr auſhalten muß. Darum denke ich, 
es iſt beſſer, wenn wir uns weiter rechts halten, um an 
dem Rande dieſes Gürtels hinzugehen. Da können wir 
viel ſchneller laufen und haben den freien Himmel über 
uns, der zwar auch dunkel iſt, aber doch nicht ſo finſter 
wie die Wipfel der Bäume.“ f 

„Ich denke, wir kommen da viel zu weit nach rechts?“ 

„Nicht zu ſehr, da der Wald ja nicht breit iſt. Uebri⸗ 
gens werden dieſe Leute an der Quelle lagern, von wel⸗ 
cher der Vater Jaguar ſprach. Wenn wir ſie erreichen, 
brauchen wir nur ihrem Waſſer zu folgen, um an das 
Ziel zu gelangen.“ 1 

Sie ſetzten ihren Weg fort, ſchneller als bisher. Ihr 
Lager hatte ſich in der Mitte des nördlichen Seeufers be⸗ 
funden; ſie bogen bald um den obern, weſtlichen Teil des 
Sees. Dann hörte die Lichtung auf und der Wald begann 

May, Das Vermächtnis des Inka 19 


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wieder. Er bildete hier einen dunklen Streifen, der einige 
hundert Schritte breit ſein mochte. Sie ließen ihn linker 
Hand liegen und eilten an ſeinem äußern Rande in öſt⸗ 
licher Richtung hin, denn ſie befanden ſich nun am ſüd⸗ 
lichen Ufer. Sie waren da noch gar nicht weit gekom⸗ 
men, ſo blieb der junge Inka mit vorwärts gebeugtem 
Oberkörper ſtehen. Er hatte die Haltung eines ange⸗ 
ſtrengt Lauſchenden eingenommen. Es hatte ſich ein 
ziemlich ſcharfer Wind erhoben, der ihnen gerade entge⸗ 
genwehte. 

„Hörſt du etwas?“ fragte Anton. 

„Ja. Ich glaube, es iſt eine Glocke geweſen.“ 

„Eine Glocke? Es gibt doch hier keine Stadt mit 
Kirchenglocken.“ 

„Dieſe Art meinte ich nicht. Komm noch eine kurze 
Strecke weiter, ſo wirſt du es auch hören.“ 

Sie ſchritten wieder vorwärts, diesmal aber lang⸗ 
ſamer als vorher. Bald war ein vom Winde herüber⸗ 
gewehter metallener Ton zu hören. 5 

„Horch!“ ſagte Anton. „Jetzt habe ich es gehört. 
Es klang beinahe wie die Glocke einer Madrina.“ 

Madrina iſt ein dem ſpaniſchen Amerika eigentüm⸗ 
licher Ausdruck. Man verſteht darunter die Stute, die 
bei Herden oder auf Reiſen die andern Tiere führt. Sie 
trägt eine Glocke am Halſe, deren Ton die übrigen ſtets 
folgen. 

„Ja, es kann nichts andres ſein, als eine Madrina,“ 
ſtimmte der junge Inka bei. 

„Sollten ſich Arrieros*) hier im Gran Chaco be⸗ 
finden?“ 

„Nein, gewiß nicht. Durch dieſe Gegend ziehen keine 
Handelskarawanen. Es werden die Indianer ſein.“ 

) Maultiertreiber 


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„Von welchem Stamme?“ 

„Ich weiß es nicht, denke aber, es zu erfahren.“ 

„Dann ſind dieſe Menſchen ſehr unvorſichtig. Die 
einzelnen Völker leben, wie wir gehört haben, jetzt in 
Feindſchaft miteinander. Da hängt man doch den Tieren 
keine Glocken an, die zu Verrätern werden müſſen!“ 

„Die Leute, die ſich hier befinden, werden ſich ſo 
ſicher fühlen, daß ſie nicht glauben, ſolche Vorſicht an⸗ 
wenden zu müſſen. Auch müſſen ſie ihre Tiere weiden 
laſſen und dürfen ſie alſo nicht anbinden. Hätten ſie 
keine Madrina dabei, ſo würden die Pferde nach allen 
Richtungen auseinander laufen.“ 

„Wieſo? Die unſrigen bleiben doch auch bei⸗ 
ſammen.“ 

„Das iſt eiwas ganz andres. Der Indianer iſt kein 
Pferdezüchter; er raubt und ſtiehlt die Tiere aus allen Ge⸗ 
genden zuſammen. Sie kennen ſich alſo nicht und da ſie 
nicht in Herden gehalten werden, ſo haben ſie keine An⸗ 
hänglichkeit zu einander. Treffen dann auf einem 
Kriegszug viele Reiter zuſammen, ſo müſſen ſie ihren 
Pferden eine Madrina geben, denn jedes Roß gehorcht 
der Glocke unbedingt. Das iſt von großem Vorteil für 
uns, denn der Ton, den wir gehört haben, wird uns als 
Wegweiſer dienen.“ 

Es war ſo, wie er ſagte, denn je weiter ſie kamen, 
deſto deutlicher war der Ton der Halsſchelle zu hören. 
Bald mußten ſie ihre Schritte noch mehr hemmen, da der 
Klang nun aus großer Nähe kam. Zugleich waren links 
die Stämme des Waldes zu ſehen, da hinter dieſen 
mehrere Feuer brannten, in deren Schein ſich die Bäume 
deutlich hervorhoben. 

„Sieh, wie leicht wir das Lager gefunden haben,“ 
flüſterte Haukaropora Anton zu. „Vor uns liegt der ſich 


— 


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um den Wald ziehende Grasſtreifen; auf ihm weiden die 
Pferde. Links von uns ſticht er in den Wald hinein und 
bildet da eine offene Stelle, wo ſich die Quelle befindet. 
Wir haben alſo die Pferde gerade vor uns und die Reiter 
links hinter den Bäumen.“ 

„So müſſen wir in dieſer letzteren Richtung weiter?“ 

„Ja, aber nicht ſogleich. Wir haben alle Urſache, 
vorſichtig zu ſein, und ſo will ich erſt ſehen, ob ſich Wäch⸗ 
ter bei den Pferden befinden. Warte hier, bis ich zurück⸗ 
kehre.“ 

Er ſchlich ſich davon, und Anton ſtand allein, wohl 
über eine Viertelſtunde lang, dennoch wurde ihm um den 
Inka nicht bange, denn er fühlte ein immer wachſendes 
Vertrauen zu deſſen Tüchtigkeit. Da tauchte der Inka 
wieder aus dem Dunkel auf und meldete mit leiſer 
Stimme: „Es war kein einziger Wächter da. Die Pferde 
waren alle fo zutraulich, daf fie ſich von mir ſtreicheln 
ließen. Sie gingen frei im Graſe, und nur der Madrina 
ſind die Vorderbeine leicht gefeſſelt, damit ſie keine weiten 
Schritte machen kann.“ 

„Wie viel Pferde waren es?“ 

„Ich konnte ſie natürlich nicht zählen, denn es ſind 
nicht wenige. Ich fand ſie alle mit den Köpfen nach der 
Madrina gerichtet und habe mich ſehr darüber gefreut.“ 

„Warum?“ | 

„Weil dies ein Zeichen iſt, daß fie ihr unbedingt 
folgen werden; wenn es etwa feindliche Indianer, alſo 
Abipones ſind, ſo möchte ich ihnen ihre Pferde nehmen.“ 

„Iſt das dein Ernſt? So viele Tiere können wir 
zwei unmöglich fortbringen!“ 

„Warum nicht? Wenn wir die Madrina mit uns 
führen, laufen die andern alle hinterdrein.“ 


„Aber die Indianer würden am Klang der Glocken 
hören, daß die Stute ſich entfernt!“ 

„Wenn man ſchläft, hört man das nicht, und ich 
vermute, daß ſie ſchlafen.“ 

„Ja; aber Wachen haben ſie jedenfalls ausgeſtellt.“ 

„Allerdings; aber da ſie ſich hier ſo ſicher fühlen, 
werden die Wächter nicht zahlreich ſein. Wir werden das 
gleich zu erfahren ſuchen. Komm und halte dich ſtets 
hinter mir! Wir dürfen nicht mehr gehen, ſondern 
müſſen kriechen, damit wir nicht bemerkt werden.“ 

Sie legten ſich auf die Erde nieder und bewegten ſich 
nun mit äußerſter Vorſicht von ihrer bisherigen Richtung 
ab nach links hinüber, um unter die erwähnten Bäume 
zu gelangen. Als ſie dieſe erreicht hatten, befanden ſie 
ſich zugleich ganz nahe dem Rand der offenen Waldlücke, 
wo der Inka das Lager vermutet hatte. Dieſe Lücke war 
nicht breit, und die Feuer leuchteten von einem Ende bis 
zum andern. Man ſah alſo genau, was dort vorging. 
Die beiden Jünglinge lagen hinter zwei nahe bei ein⸗ 
ander ſtehenden Bäumen und beobachteten mit ſcharfen 
Augen, was da vor ihnen vorging. 

Es war eine ſehr zahlreiche Schar von Indianern, 
die ihr Nachtlager aufgeſchlagen hatte. Da, wo die Lich⸗ 
tung ſich gegen das freie Land öffnete, drang die Quelle 
aus dem Boden, um ihr Waſſer links nach dem See zu 
ſchicken. Zu beiden Seiten dieſes Waſſerlaufes brannten 
acht Feuer, um die ſich wohl gegen achtzig Rote bewegten, 
denn ſie waren ſoeben beſchäftigt, ſich die bequemſten 
Stellen zum Schlafen zu ſuchen. Zwiſchen zwei Feuern, 
welche diesſeits des Waſſers brannten, lagen ſechs Ge⸗ 
ſtalten, die gefeſſelt zu ſein ſchienen. Fünf von ihnen 
waren wie Indianer gekleidet; den Sechſten konnte man 
ſeinem Anzug nach für einen Weißen halten. Da ſie mit 


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den Köpfen nach den zwei heimlichen Beobachtern zu 
lagen, war es dieſen unmöglich, die Geſichter zu ſehen. 

Dieſe Schar war indianiſch bewaffnet. Sie hatte an 
den in der Erde ſteckenden langen Lanzen ihre Köcher und 
Bogen aufgehängt. Daran lehnten die Blasrohre, deren 
kleine Geſchoſſe, wenn ſie vergiftet ſind, ſo ſchnell tödlich 
wirken. Drüben ſtand unter einem Baum der einzige, 
der ein Gewehr beſaß; er hatte es neben ſich auf ſeinem 
Poncho liegen und ſchien der Häuptling zu ſein, denn er 
erteilte ſoeben verſchiedene Weiſungen, denen ſofort nach⸗ 
gekommen wurde. Er bediente ſich dabei einer Sprache, 
die einen ſingenden Tonfall hatte. Anton verſtand kein 
Wort davon und fragte darum ſeinen Gefährten leiſe: 
„Das iſt nicht Ketſchua und auch nichts andres, was ich 
verſtehe. Welche Sprache redet der Mann?“ 

„Es iſt Abiponiſch; ich verſtehe es ziemlich. Er iſt 
der Anführer dieſer Leute, er ſagt ihnen, wie ſie lagern 
ſollen, und hat ſoeben befohlen, daß die Nacht in drei 
Wachen geteilt wird. Jede dieſer Wachen betrifft nur 
zwei Perſonen, von denen die eine den Pferden und die 
andre den Gefangenen ihre Aufmerſamkeit zu ſchenken 
hat.“ 

„Alſo doch Gefangene! Wer mögen ſie ſein?“ 

„Warte nur! Wahrſcheinlich erfahren wir es noch. 
Ich kenne den Häuptling nicht, habe ihn noch nie geſehen, 
aber ſeiner Sprache nach gehört er mit ſeinen Leuten den 
Abipones, alſo unſern Feinden an.“ 

„Daraus können wir ſchließen, daß die Gefangenen 
Freunde von uns ſind.“ 

„Ja, denn wer gegen ſie iſt, der muß für uns ſein.“ 

„Wenn wir ſie befreien könnten! Denkſt du, daß 
dies möglich iſt?“ 


— 295 — 


Der Inka wartete eine kleine Weile, ließ den Blick 
nachdenklich, aber ſcharf über die Szene gleiten und ant⸗ 
wortete dann: „Ich halte es für möglich und bin bereit, 
den Verſuch zu machen. Was ſagſt du dazu?“ 

„Einverſtanden!“ Anton hätte vor Freude faſt laut 
geſprochen und fügte nun deſto leiſer hinzu: „Aber wie 
wollen wir das anfangen, da wir nur zu zweien ſind? 
Wir haben nicht einmal unſre Gewehre mit.“ 

„Die würden uns ſchaden, anſtatt uns zu nützen. 
Du haſt gehört, wie oft der Vater Jaguar geſagt hat, daß 
in den meiſten Fällen die Klugheit der Gewalt vorzu⸗ 
ziehen iſt. Nach dieſem Rat werden wir handeln.“ 

„Ja, handeln werden wir; ich bin bereit dazu. Aber 
in welcher Weiſe, das weiß ich noch immer nicht.“ 

„Warte nur! Erſt müſſen dieſe Abipones einge⸗ 
ſchlafen fein; eher läßt ſich nichts tun. Wir werden dann 
erfahren, ob die Wächter vorſichtig genug ſind und ob 
man die Feuer verlöſchen läßt oder nicht.“ 

Jetzt kam der Häuptling über den Quell herüber, 
um perſönlich nach den Gefangenen zu ſehen. Er warf 
ihnen drohende und verächtliche Worte zu und ſtieß ſie 
dabei mit den Füßen. Sie wollten dieſen Mißhandlungen 
ausweichen und veränderten dabei ihre bisherige Lage. 
Dabei konnte man das Geſicht des einen deutlich er⸗ 
kennen. Er war wirklich kein Indianer, ſondern ein 
Weißer. Dann bäumte ſich ein zweiter halb empor, um 
einem nach ihm gerichteten Fußtritt zu entgehen. Er 
wendete während dieſer Bewegung ſein Geſicht nur für 
einen Augenblick zur Seite, doch war das für das ſcharfe 
Auge des Inka genug; er hatte ihn erkannt und flüſterte 
Anton zu: „Das war der Häuptling der Cambas, den 
die Weißen El Craneo duro, den harten Schädel, nennen. 
Haft du einmal von ihm gehört?“ 


— 296 — 


„Nein.“ 

„Man hat ihm dieſen Namen gegeben, weil er ein⸗ 
mal acht oder zehn Kolbenhiebe auf den Kopf erhielt und 
doch nicht daran ſtarb. Als die Feinde, die ihn für tot 
hielten, ſich entfernt hatten, ſtand er auf, rieb ſich den 
Kopf ein wenig und ging ihnen dann heimlich nach, um 
ſich zu rächen. Sie waren Abipones und ſind von ſeiner 
Hand getötet worden.“ 

„So iſt er ein Bekannter von dir?“ ö 

„Sogar ein Freund. Wir waren bei ihm, und er 
hat uns oft beſucht. Welch ein Glück, daß ich da drüben 
in unſerm Lager das Feuer ſah und den Rauch gerochen 
habe! Ich werde das Leben wagen, um ihn zu befreien.“ 

„Ich das meinige auch!“ raunte ihm Anton be⸗ 
geiſtert zu. „Sage nur, wie wir es anzufangen haben. 
Ich werde alles tun, was du für richtig hälſt.“ 

„Für jetzt haſt du nichts zu tun, als ſtill zu ſein und 
dich ſo hinter deinem Baum zu halten, daß kein Lichtſchein 
auf deinen Körper fällt.“ 

Die Abipones legten ſich in Kreiſen um die Feuer, 
daß ſie ihnen ihre Füße zukehrten. Sie hüllten ſich in 
ihre Ponchos, von denen viele zwei Stück beſaßen. Der 
Häuptling war über den Quell zurückgekehrt und legte 
ſich da drüben in derſelben Weiſe nieder. Es hatten ſich 
alle gelagert, die beiden Wächter ausgenommen, von 
denen der eine hinaus zu den Pferden ging, während der 
andre langſam auf und ab zu ſchreiten begann. Er hatte 
ſich gegen den ſcharf wehenden Wind in ſeine zwei Decken 
gehüllt. Die eine trug er wie einen Weiberrock um die 
Hüften, und in die andre hatte er den Kopf in der Weiſe 
gehüllt, daß ſie vorn nur die Augen frei ließ und ihm 
hinten lang über den Rücken herunterhing. 


— 297 — 


Der Wächter ſchritt hin und her, trat im Verlauf der 
erſten halben Stunde einigemal zu den Gefeſſelten, um 
nachzuſehen, ob dieſe eingeſchlafen ſeien. Das Lager war 
durch den Wald nicht vollſtändig vor dem Winde geſchützt; 
dieſer blies zuweilen ſo heftig in die Feuer, daß die Fun⸗ 
ken aufſtoben und auf die Decken der Schläfer fielen. Um 
ſie vor dem Verſengtwerden oder gar Anbrennen zu be⸗ 
wahren, ging der Poſten von Feuer zu Feuer und ſchob 
die brennenden Aeſte und Zweige ſo zuſammen, daß die 
Flammen bedeutend kleiner und niedriger brannten. Er 
legte kein neues Material dazu, ſo daß vorauszuſehen 
war, daß die Feuer bald erlöſchen würden. Nur einem 
von den beiden, zwiſchen denen die Gefangenen lagen, 
gab er neue Nahrung, um ſein Wächteramt treu aus⸗ 
führen zu können. 

Es war faſt eine Stunde vergangen, ſeit die Roten 
ſich niedergelegt hatten. Da wurde Anton das Schwei⸗ 
gen doch zu ſchwer, und er flüſterte ſeinem Gefährten, 
der während dieſer langen Zeit nicht die geringſte Bewe⸗ 
gung gemacht hatte, zu: „Ich glaube, ſie ſchlafen jetzt 
feſt, und wir dürfen nicht länger warten. Bedenke, 
welche Sorgen man drüben bei uns haben wird, wenn 
man unſre Abweſenheit bemerkt!“ 

„Man wird nur im erſten Augenblick bange um uns 
ſein,“ antwortete der Inka; „dann aber wird mein An⸗ 
ciano, der meine Vorſicht kennt, die andern beruhigen. 
Dennoch bin ich mit deinen Worten einverſtanden, wir 
müſſen handeln. Ich locke jetzt den Wächter hierher.“ 

„wie iſt das möglich?“ 

„Es iſt möglich.“ 

„Womit, wodurch?“ 

„Das wirſt du gleich hören. Paß genau auf, ob 
einer der Schläfer ſich bewegt, wenn ich mich vernehmen 


— 298 — 


laſſe! Wenn das, was ich vorhabe, vollſtändig gelingen 
ſoll, darf keiner von ihnen munter ſein.“. 

Er legte ſeine beiden Hände an den Mund und ließ 
ein leiſes, müdes Krächzen hören, wie man es wohl von 
einem Papagei vernimmt, der im Schlafe geſtört wor⸗ 
den iſt. 

Keiner der Schlafenden regte ſich; aber der Wächter 
blieb ſtehen, um zu horchen, woher der Ruf kam. 

„Sieh, er lauſcht,“ flüſterte der Inka. „Wahrſchein⸗ 
lich kommt er her. Haſt du etwas geſehen, daß ein Schlä⸗ 
fer wach wurde?“ 

„Nein.“ 

„Ich auch nicht. Kriech raſch noch um zwei Bäume 
zurück, und lege dich platt auf die Erde, ſonſt ſieht er dich, 
wenn er kommt!“ 

Anton gehorchte dieſer Aufforderung, und der Inka 
ließ das Krächzen zum zweitenmal hören. Der Poſten trat 
näher; beim drittenmal kam er unter die Bäume, und als 
es ſich dann wiederholte, bog er ſich zuſammen und kam 
leiſe und höchſt vorſichtig herbeigeſchlichen, die Augen mit 
Spannung auf den Punkt gerichtet, woher die Töne er⸗ 
ſchollen waren. 

Der Inka nahm ſeinen ſchweren Streitkolben von 
der linken Seite und krächzte noch einmal, und als der 
Poſten faſt den Stamm erreicht hatte, hinter dem er ſich 
befand, ſprang er blitzſchnell hervor und ſchlug auf ihn 
ein — ein einziger Hieb, und der Indianer brach zuſam⸗ 
men, um ſich nicht mehr zu bewegen. 

„Mein Gott, du haſt ihn erſchlagen!“ flüſterte 
Anton, indem er raſch herbeikam. 

„Wahrſcheinlich iſt er tot; dennoch iſt es möglich, daß 
er noch lebt. Bleib hier bei ihm. Wenn er erwacht, ehe 


— 299 — 


ich zurückkehre, ſtößeſt du ihm dein Meſſer in das Herz. 
Du haſt doch den Mut, dies zu tun?“ 

„Im Kampf, ja; aber einem Wehrloſen — — —!“ 

„Wir befinden uns im Kampf, und wenn er erwacht, 
iſt er nicht wehrlos. Seine Stimme iſt dann eine Waffe, 
wie es für uns gar keine gefährlichere geben kann. Ich 
verlange unbedingt, daß du mir gehorchſt!“ 

Der ſonſt ſo ſchweigſame Inka war während ihres 
abenteuerlichen Ganges ungewöhnlich mitteilſam gewe⸗ 
ſen, jedenfalls um ſeinen jungen Gefährten zu belehren. 
Jetzt zeigte er ſich von einer noch andern Seite. Er trat 
als Herr und Gebieter auf, und obgleich er nur leiſe 
ſprach, geſchah dies doch in einer Weiſe, die keine Wider⸗ 
rede duldete. 

Er nahm eilends die beiden Ponchos, die der Poſten 
getragen hatte, und hüllte ſich genau in derſelben Weiſe 
hinein. Dann ſchritt er langſam und würdevoll unter 
den Bäumen hinaus und ging dort ebenſo wie vorher der 
Wächter auf und ab. Wer nicht wußte, was geſchehen 
war, mußte ihn unbedingt für dieſen halten. 

Anton blieb mit gezogenem Meſſer bei dem gefalle⸗ 
nen Indianer ſitzen und beobachtete bald dieſen und bald 
ſeinen jungen mutigen Freund, deſſen jetziges Gebaren er 
freilich nicht ſofort begreifen konnte. 

Als Haukaropora eine Zeitlang den Poſten nachge⸗ 
ahmt hatte, ging er mit leiſen Schritten von einem Feuer 
zum andern, nicht um ſie zu ſchüren, ſondern um die 
Schläfer zu beobachten. Es war keiner von ihnen wach; 
dann begab er ſich zu den Gefangenen und ſetzte ſich bei 
ihnen nieder. Sie waren noch wach, denn die Lage, in 
der ſie ſich befanden, ſcheuchte den Schlaf von ihren Augen. 

Sie hielten ihn natürlich für den Indianer, der ſie 
bewachen ſollte, denn er hatte den Poncho ſo um den Kopf 


1 


und das Geſicht geſchlagen, daß nur ſeine Augen zu ſehen 
waren. Aus Rückſicht auf den Weißen mußte er ſpaniſch 
ſprechen. Dies tat er, indem er nach einer Weile den 
Poncho ſo weit lüftete, daß man ſein Geſicht nicht ſehen, 
aber ſeine Stimme hören konnte, und ſagte in halblautem 
Tone: „El Craneo duro iſt betrübt; bald aber wird er 
fröhlich ſein. Wenn er mir jetzt antwortet, mag er leiſe 
reden.“ 

Der Häuptling hatte halb von ihm abgewendet ge⸗ 
legen; jetzt wendete er ihm das Geſicht voll zu und ant⸗ 
wortete, wie ihm geboten war, mit leiſer Stimme: „Was 
ſprichſt du zu mir? Willſt du mich verhöhnen, indem du 
freundlich zu uns tuſt?“ 

„Es iſt nicht Hohn, ſondern Aufrichtigkeit. Laßt 
keinen Ton hören, der mich und euch verraten könnte! 
Ich bin da, um euch zu retten.“ 

„Du, der Abipone?“ 

„Ich bin kein Abipone, ſondern ich heiße Haukaro⸗ 
pora und bin der Sohn deines Freundes Anciano.“ 

„Du wärſt Haukaro — — —“ 

Der Name blieb ihm vor Verwunderung auf der 
Zunge hängen. 

„Ja, ich bin es,“ fuhr der Jüngling fort. „Ueber⸗ 
zeuge dich!“ 

Er öffnete jetzt den Poncho ſo, daß ſein Geſicht voll⸗ 
ſtändig zu ſehen war. Der Weiße beobachtete die Szene, 
ohne ſich zu regen, die Cambas erkannten den Inka, der 
ſein Geſicht ſchnell wieder verdeckte. Sie blieben aber 
ſtill, doch ſagte ein nicht zu beherrſchendes Zucken und Be⸗ 
wegen ihrer gefeſſelten Körper deutlich genug, wie freudig 
ſie überraſcht waren. 

„Habt ihr mich erkannt?“ fragte er ſie. 


— 801 — 


„Ja, ja,“ ſtieß der Häuptling hervor, „du biſt der 
Sohn unſres Freundes und ſelbſt unſer Freund. Es ge⸗ 
ſchehen große Wunder. Wie kommſt du unter die Abi⸗ 
pones? Ich habe dich bis jetzt noch gar nicht bemerkt.“ 

„Ich gehöre nicht zu ihnen und war nicht bei ihnen; 
ich bin erſt ſeit kurzer Zeit hier im Wald, um dieſe unſre 
Feinde zu beobachten. Ich lagerte mit Anciano und dem 
Vater Jaguar und mehr als zwanzig anderen weißen 
Männern drüben jenſeits des Sees und bemerkte eure 
Teuer. Da ſchlich ich mich, ohne daß jemand es bemerkte, 
mit einem jungen Freund herüber, um zu erfahren, von 
wem dieſe Feuer angezündet ſeien. Ich ſah die Abipones, 
und ich erkannte dich. Da nahm ich mir vor, euch zu 
befreien.“ 

„Das iſt außerordentlich kühn! Wo iſt denn unſer 
Wächter?“ 

„Er liegt erſchlagen dort unter den Bäumen. Ich 
habe mich in ſeine Decken gehüllt, um für ihn gehalten zu 
werden“. 

„Welche Klugheit, welche Liſt! Schneide uns los; 
ſchnell, ſchnell!“ 

„Wer zu viel eilt, kommt zu ſpät an. Ich zerſchneide 
jetzt eure Banden; aber bleibt trotzdem genau ſo liegen, 
wie ihr jetzt liegt!“ 

Er zog ſein Meſſer hervor und befreite ſie in der 
Weiſe von ihren Feſſeln, daß ein in dieſem Augenblick er⸗ 
wachender Abipone doch nicht bemerkt hätte, was vorge⸗ 
nommen wurde. Dabei ſprach er weiter: „Die Feuer ver⸗ 
löſchen, und nur dieſes eine brennt noch. Wir ſehen unſre 
Feinde nicht mehr genau; ſie aber können uns beobachten. 
Darum müſſen wir vorſichtig fein. Ich ſtehe jetzt auf und 
gehe wieder an den Bäumen hin und her; auch werde ich 
nach den Schläfern ſehen. Finde ich, daß keiner von 


„ 


— 802 — 


ihnen wach iſt, ſo werde ich leiſe huſten, und ihr kommt, 
einer hinter dem andern, nach der Stelle gekrochen, wo 
ich mich befinde. Unter den Bäumen dort wartet mein 
junger Freund Antonio. Sind wir bei dieſem ange⸗ 
langt, ſo gehen wir, um die Pferde zu holen.“ 

„Iſt nicht ein Wächter dort?“ fragte der Häuptling. 

„Ja, einer.“ 

„Den fürchten wir nicht. Ich habe zwar keine Waffe, 
aber ich erwürge ihn.“ 

„Du wirſt ihn mir überlaſſen. Hörſt du? Ich will 
euch ganz befreien; ihr ſollt nichts dazu tun. Waffen wer⸗ 
det ihr haben; es gibt hier Lanzen, Bogen, Pfeile und 
Blasrohre genug.“ n 

Da nahm der Weiße zum erſtenmal das Wort: 
„Was nützen mir Bogen und Pfeile! Ich möchte mein 
Gewehr, mein gutes Gewehr haben.“ 

„Wo iſt es?“ 

„Der Häuptling dort hat es bei ſich liegen. Er hat 
es mir abgenommen. Ich werde es mir holen.“ 

„Ich kenne dich nicht und weiß nicht, ob du vorſichtig 
genug ſein kannſt. Ich werde es ſelbſt holen.“ 

Da meinte El Craneo duro: „Du darfſt dieſen 
Senor nicht Du nennen, denn er iſt Offizier. Auch iſt er 
im Leben der Wildnis erfahren und ſehr wohl imſtande, 
ſich ſein Gewehr ſelbſt zu holen.“ 

„Und die Patronen dazu,“ ergänzte der Weiße, indem 
er mit den Zähnen knirſchte. „Dieſer Hund hat mir auch 
die Uhr und den Kompaß abgenommen. Er ſoll keinen 
Nutzen davon haben! Sein Schlaf wird lange dauern!! 
Er hat es gewagt, einen Offizier mit Füßen zu treten!“ 

Der Inka ſteckte ſein Meſſer wieder zu ſich, ſtand auf 
und patrouillierte wieder hin und her. Nach einiger Zeit 
ging er von Feuer zu Feuer und überzeugte ſich, daß alle 


— 88 — 


ſchliefen. Auch zum Häuptling begab er ſich. Dieſer 
ſchnarchte. Er hatte das Gewehr nicht neben ſich liegen, 
ſondern zu ſich in die Decke gewickelt. 

Darauf ſchritt der Inka wieder nach der ee 
Seite, ſtellte ſich an dem Rande der Lichtung auf und 
winkte. Auf dieſes Zeichen kamen ſie herbeigekrochen, erſt 
der „harte Schädel“, dann ſeine vier Cambas und endlich 
der Offizier. Der Inka deutete auf die in der Erde 
ſteckenden Spieße und ſagte zu dem Weißen, als die Cam⸗ 
bas ſich beeilten, zu den Waffen zu gelangen: „Der 
Häuptling hat Ihr Gewehr zu ſich in die Ponchos ge⸗ 
wickelt.“ 

„Ich werde es mir nehmen, ohne ihn darum zu 
bitten.“ 

Er glitt unhörbar und doch blitzſchnell über den Platz 
hinüber. Man ſah, wie er ſich auf den Häuptling warf 
und daß er eine Minute lang auf ihm liegen blieb. Kein 
Laut war zu hören. Dann erhob er ſich und kam ebenſo 
gewandt herüber, ſein Gewehr in der Linken und ein 
bluttriefendes Meſſer in der Rechten. 

„Ich habe alles wieder, was er mir abgenommen 
hat!“ ſagte er grimmig. „Die Büchſe, das Meſſer, die 
Uhr, die Munition, alles, alles; dieſer Mann tritt keinem 
Offizier wieder mit den Füßen gegen den Leib. Aber nun 
weiter! Wo geht es jetzt hin?“ 

Der Inka ſchritt ihnen voran, unter die Bäume hin⸗ 
ein bis zu Anton, der alles mit angeſehen hatte. Der 
niedergeſchmetterte Abipone hatte ſich noch nicht geregt. 
Man ließ ihn natürlich liegen. Von hier aus wendete 
man ſich den Weg zurück, den Hauka und Anton gekom⸗ 
men waren, bis man die Glocke der Madrina hörte. Da 
blieb der Inka ſtehen und ſagte: „Wartet hier, bis ich 
den andern Wächter unſchädlich gemacht habel“ 


— 304 — 


„Nicht du! Das iſt meine Sache,“ entgegnete der 
„Harte Schädel“. 

„Nein, ſondern die meinige!“ fiel der Offizier ein. 
„Dieſe Hunde wollten mich morgen im See erſäufen. Nun 
können ſie die Leiche ihres Häuptlings hineinwerfen, und 
den Poſten da bei den Pferden will ich ihnen auch noch 
liefern.“ 

Hauka wollte das nicht gelten laſſen; aber der grim⸗ 
mige Menſch war bei dem letzten Wort ſchon fort. Die 
andern warteten und lauſchten in die Nacht hinein. Es 
war nichts zu hören, aber nach höchſtens zwei Minuten 
tauchte er wieder vor ihnen auf und berichtete: „Es iſt 
gut; der Burſche hat kein Wort dazu geſagt. Nun wollen 
wir uns Pferde nehmen, für jeden eins.“ 

„Nein,“ antwortete der Inka. „Wir nehmen alle.“ 

„Alle? Wie iſt das zu machen?“ 

„Es iſt doch eine Madrina dabei, der ſie folgen 
werden.“ 

„Qué pensamiento! Das iſt wahr! Dieſer Knabe 
iſt kein dummer Kerl; das können wir machen. Alſo jen⸗ 
ſeits des Sees lagert der Vater Jaguar? Werdet ihr ihn 
finden?“ 

„Ja,“ antwortete der Inka. 

„So ſteigſt du auf die Madrina, um voranzureiten, 
und wir andern treiben die ganze Herde hinterdrein.“ 

Er hatte etwas Rauhes, Befehlendes, was leicht ver⸗ 
letzen konnte, in ſeiner Ausdrucksweiſe und ſeinem Ton. 
Hauka nahm dies ſchweigend hin, ſuchte die Madrina auf, 
löſte ihr den Riemen von den Vorderbeinen, ſtieg auf und 
ritt langſam voran. Als die andern Pferde bemerkten, 
daß ihre Führerin ſich in Bewegung ſetzte, folgten ſie ihr 
ſofort. Der Offizier und die fünf Cambas ſprangen auf 
die letzten Tiere, um die Tropa (Herde) zu treiben; Anton 


— 805 — 


aber, der ſelbſtverſtändlich auch ein Pferd beſtiegen hatte, 
hielt ſich vorn zu dem Inka. Der Offizier wollte ihm 
nicht gefallen. In dieſer Ordnung ging es um den halben 
See, doch nicht durch den dichten Wald, den die beiden 
Jünglinge vorher mühſam durchſchlichen hatten; er war 
bei dieſer Finſternis für die Pferde unwegſam, darum 
wurde er umritten, da man auf dieſe Weiſe das Lager 
auch erreichen konnte. 

Dort war nicht alles ſo ſtill geblieben, wie Hauka und 
Anton es verlaſſen hatten. Der Vater Jaguar ließ die 
Poſten alle Stunden ablöſen und beſaß die Angewohnheit, 
falls er einmal erwachte, nachzuſehen, ob alles in 
Ordnung ſei. So auch heute. Das Zerſpringen der 
Flaſchen hatte ihn auf eine jähe Veränderung des Wetters 
aufmerkſam gemacht, und als er ſich ſchlafen legte, war 
der Himmel ſchon bewölkt. Die Sorge weckte ihn. Er 
ſah, daß der Himmel ganz ſchwarz geworden war, und 
fühlte, daß ſich ein eigentümlich ſcharfer und dabei doch 
hohler Wind erhoben hatte. Das deutete nach ſeiner Er⸗ 
fahrung auf einen Orkan, untermiſcht mit jenen Regen⸗ 
ſchauern des Gran Chaco, die ſo ſchwer herabfallen, daß 
ſie einen Menſchen zu Boden ſchlagen können. Was war 
da zu tun? Hier unter den Bäumen, die den Blitz an⸗ 
ziehen und im Sturme brechen konnten, zu bleiben, war 
nicht geraten. Aber das Unwetter draußen im offenen 
Campo oder der ebenſo offenen Wüſte abzuwarten, das 
hatte Bedenklichkeiten, die wenigſtens ebenſo groß waren. 
Er rief alſo die Schläfer wach, um mit ihnen zu beraten; 
dabei ſtellte es ſich denn heraus, daß Anton und der Ink 
fehlten. | 

Man rief nach ihnen; aber fie kamen nicht und ant⸗ 
worteten nicht. Anton war dem Vater Jaguar anver⸗ 
traut worden; darum verſtand es ſich ganz von ſelbſt, daß 

May, Das Vermächtnis des Inka 20 


— 306 — 


dieſer über das unbegreifliche Verſchwinden ſeines 
Schützlings in ungewöhnliche Beſorgnis geriet. Man 
ſtellte allerlei Vermutungen auf, von denen keine ſich als 
ſtichhaltig erwies, bis der Vater Jaguar auf den ſehr na⸗ 
türlichen Gedanken kam, mit Hilfe eines Feuerbrandes 
nach den Spuren der Vermißten zu ſuchen. Man wußte 
ja die Stelle, wo ſie gelegen hatten. 

Ein harziger Aſt diente als Fackel. Bei ihrem Schein 
entdeckte man, daß die beiden Knaben ſich heimlich in den 
Wald geſchlichen hatten. Die Fackel verlöſchte, und der 
Vater Jaguar, Geronimo und Anciano, welche dieſe Un⸗ 
terſuchung vorgenommen hatten, ſtanden im Dunkeln. 
Sie riefen wiederholt in den Wald hinein, doch ohne eine 
Antwort zu bekommen. 

„Welch eine Unvorſichtigkeit!“ meinte der Vater Ja⸗ 
guar faſt zornig. „Ich habe bei unſrer Ankunft geſagt, 
daß es hier Jaguars geben kann. Wie nun, wenn ſie 
einem ſolchen in die Klauen fallen! Sie haben ihre Ge⸗ 
wehre zurückgelaſſen, können alſo gar nicht ſchießen.“ 

„Unvorſichtigkeit?“ meinte Anciano. „Hauka iſt 
nicht unvorſichtig. Er weiß ſtets, was er tut und warum 
er es tut. Und daß er ſeine Waffen nicht mitgenommen, 
beweiſt nur, daß er ſie für überflüſſig oder hinderlich ge⸗ 
halten hat.“ 

„Ueberflüſſig ſind ſie in einer ſolchen Nacht nie⸗ 
mals,“ bemerkte Geronimo. 

„Aber hinderlich,“ fiel Anciano ein. „Hinderlich ſind 
ſie beim Gehen durch den Wald, bei einem heimlichen 
Schleichen an den Feind, bei — — —“ 

„Beim Schleichen an den Feind?“ unterbrach ihn der 
Vater Jaguar. „Das iſt's, das iſt's! Die verwegenen 
Knaben wollen ein Abenteuer haben, das ihnen das Leben 


— 807 — 


koſten kann. Wir müſſen fofort aufbrechen, um das zu 
verhindern.“ 

„Das Leben koſten? Wieſo? Vermuten Sie denn, 
wo ſie ſind?“ 

„Ich vermute es nicht nur, ſondern ich weiß es! 
Schaut einmal da rechts über den See hinüber! Da gibt 
es eine Art Dämmerſchein. Da brennt ein Feuer. Das 
haben die Knaben geſehen, und in ihrer jugendlichen 
Unbedachtſamkeit ſind ſie hinüber, um einmal ſo zu tun, 
als ob ſie Männer ſeien.“ 

„Ja, dort gibt's ein Feuer,“ ſtimmte Anciano bei. 
„Es iſt wirklich möglich, daß ſie hinüber ſind. Aber wenn 
dies der Fall iſt, ſo brauchen wir uns nicht zu ſorgen. 
Mein Hauka iſt außerordentlich vorſichtig. Ich kann ihm 
vollſtändig vertrauen.“ 

„Das weiß ich freilich auch. Er iſt erfahrener und 
vorſichtiger als mancher erwachſene Mann; heute aber hat 
er Anton mit, für deſſen Wohlergehen ich zu haften habe 
und — * 

Er hielt inne. Sie hatten während dieſes Gedanken⸗⸗ 
austauſches den Lagerplatz wieder erreicht, und ſoeben 
ließ ſich unweit davon ein heftiges Pferdegetrappel ver⸗ 
nehmen. Dann ſah man zwei Geſtalten, die, aus dem 
Finſtern tretend, ſich dem Feuer mit raſchen Schritten 
näherten. Es waren die beiden Vermißten. 

„Sie ſuchen uns? Da ſind wir,“ rief Anton mit 
lachendem Geſicht dem Vater Jaguar entgegen, während 
der Inka ſtill an die Seite ſeines Anciano trat, als ob es 
ihm gar nicht einfalle, ſich für die Hauptperſon des letzten 
Ereigniſſes zu halten. 

„Ja, da ſeid ihr! Gott ſei Dank, das ſehe ich! Aber 
wo ſeid ihr denn geweſen?“ 

„Drüben bei den Abipones.“ 


— 308 — 


„Bei den Abi — — —? Es find alſo welche da 

drüben?“ 
„Ja 4 

„und da habt ihr es gewagt, ohne meine Er⸗ 
laubnis — — —“ 

„Sechs Gefangene zu befreien ie eine ganze Herde 
von Pferden zu kapern,“ fiel eine Stimme ein. 

Der Vater Jaguar drehte ſich um und erblickte den 
Sprecher, der jetzt auch hinzugetreten war. Er trat einen 
Schritt zurück und rief aus, indem er die Stirn leicht in 
Falten zog: „Sie, Leutnant Verano? Wie kommen Sie 
an die Zwillingsquelle?“ 

„Wie ich überall hinkam, wo ich geweſen bin, zu Fuß 
oder im Sattel, Senor.“ 

„Sie wiſſen, daß ich auf meine Frage eine andre Ant⸗ 
wort erwartete. Ich will alſo jetzt lieber eine zweite Frage 
tun: Wohin werden Sie von hier aus gehen?“ 

„Wieder hinüber zu den Abipones, um ſie zu züch⸗ 
tigen. Natürlich begleiten Sie mich mit Ihren Leuten. 
Es darf keiner von dieſen Hunden am Leben bleiben!“ 

„Sie finden meine Begleitung ſo ſehr natürlich. Ich 
nicht.“ 

„Es iſt ja ſelbſtverſtändlich, daß Sie mir beiſtehen 
müſſen.“ 

„Selbſtverſtändlich? Müſſen? Ich ſage Ihnen, daß 
ich niemals muß. Aber wen haben wir denn noch da?“ 

Sein Geſicht heiterte ſich auf. Er ſah den „Harten 
Schädel“ kommen, der ſchnell auf ihn zutrat, ihm die 
Hand reichte und in ehrfurchtsvollem Ton, aber ſchlechtem 
Spaniſch antwortete: „Ich bin es, Seßor. Ich brauche 
Ihnen nicht zu ſagen, wie ſehr ich mich freue, Sie zu 
ſehen. Sie wiſſen das, ohne daß ich es Ihnen ſage. Nun 
Sie hier ſind, brauchen wir uns nicht zu fürchten.“ 


— 309 — 


„Vor wem?“ 

„Vor den Abipones, die ſich vorbereiten, von allen 
Seiten auf uns einzudringen. Dieſer Seüor, ich ſelbſt 
und vier meiner Leute, die ſich jetzt draußen am Walde bei 
den erbeuteten Pferden befinden, fielen ihnen heute früh 
in die Hände; fie ſchleppten uns nach der Zwillingsquelle, 
um uns morgen im See zu erſäufen. Haukaropora und 
der andre Knabe haben uns errettet.“ 

„Dieſe beiden? Wie iſt — — —“ 

Er hielt mitten in der Frage inne, denn er ſah, daß 
der dunkle Himmel im Süden eine Stelle zeigte, die eine 
ganz eigenartige ſchwefelgelbe Farbe angenommen hatte. 
Dann fuhr er haſtig fort: „Wie viele Abipones befinden 
ſich da drüben?“ 

„Sieben⸗ oder achtmal zehn,“ antwortete der 
Häuptling. „Und gerade ſo viel Pferde haben wir mit⸗ 
gebracht, denn wir nahmen ihnen alle weg, ſie liefen 
der Madrina nach.“ 

„Das iſt ein Abenteuer, das ich mir ſofort ausführ⸗ 
lich erzählen laſſen möchte; aber wir haben nicht die Zeit 
dazu. Häuptling, ſiehſt du im Süden den gelben Strich, 
und weißt du, was er bedeutet?“ 

Der Gefragte antwortete: „Ich habe ihn ſchon 
längſt geſehen, Seüor. Es naht ein Hurrikan, der die 
Wälder zerbricht und das Feuer in großen Ballen vom 
Himmel wirft. Auch die Pferde fühlen es; ſie werden 
unruhig und wollen nicht ſtehen.“ 

„Ja, wir befinden uns in Gefahr. Bleiben wir, ſo 
können wir von den Bäumen zerſchmettert werden; gehen 
wir fort, ſo rollt uns der Orkan wie Sandkörner über 
den Campo. Ich kenne die Gegend nicht. In zwei 
Stunden wird der Sturm losbrechen. Wir müſſen uns 
alſo ſchnell entſcheiden.“ 


— 310 — 


„Ich kenne die Gegend, Senor. Wir werden reiten, 
und wenn wir uns beeilen, werden wir uns noch vor 
dem Ausbruch des Hurrikans in Sicherheit befinden.“ 

„Wo ſoll unſer Zufluchtsort ſein?“ 

„Im Asiento de la mortand ad *).“ 

„Welch ein ſchlimmer Name! Ich habe ihn noch nie 
gehört, weil ich in dieſer Gegend noch nicht über die Zwil⸗ 
lingsquelle hinausgekommen bin. Doch darüber ſpäter. 
Du glaubſt alſo, daß wir dieſe Anſiedlung noch vor Aus⸗ 
bruch des Sturmes erreichen?“ 

„Ja.“ 

„Ob ihr ſie aber in dieſer Dunkelheit finden werdet?“ 

„Wir verfehlen die Richtung nicht, Senor. Sie wiſſen 
ja auch, daß es nicht mehr lange ſo finſter bleiben wird, 
wie es jetzt iſt. Der Himmel wird voll Feuer werden.“ 

„Das iſt wahr. Rüſten wir alſo zum ſchleunigen 
Aufbruch! Nehmt beſonders die Gewehre in acht, daß 

ſie nicht leiden!“ 

Nach dieſen Worten ließ er ſich von dem „Harten 
Schädel“ hinaus zu den erbeuteten Pferden führen, die 
von den vier Cambas kaum zuſammengehalten werden 
konnten, da ſie die Annäherung des Unwetters ſpürten. 

So viele Pferde bekommen zu haben, war ein Vor⸗ 
teil, der ſpäter ſehr günſtig in die Wagſchale fallen 
konnte; in dieſem Augenblick aber hätte der Vater Ja⸗ 
guar lieber darauf verzichtet. Sie waren zwar aufge⸗ 
zäumt, aber nicht geſattelt; man konnte ſie alſo nicht mit 
den Gegenſtänden beladen, die man mit ſich ſchleppen 
mußte. Darum entſchied er kurz: „Wir nehmen ſie 
mit, geben uns aber keine Mühe mit ihnen. Laufen ſie 
gutwillig, kann es uns lieb ſein; wo aber nicht, ſo mö⸗ 
gen ſie tun, was ſie wollen.“ 


) Anſiedlung der Niedermetzlung 


— 311 — 


Sechs von ihnen wurden von den Cambas und dem 
Leutnant Verano beſtiegen, und dieſe Männer erklärten 
ſich bereit, jeder noch zwei an den Zügeln nebenher zu 
führen. Als der letztere die Gewehre bemerkte, welche 
die Leute des Vater Jaguar aufgeladen hatten, fragte 
er, woher dieſe ſeien. 

„Wir haben ſie ausgegraben,“ antwortete Gero⸗ 
nimo. 

„Wo?“ 

„Unterwegs, an verſchiedenen Orten.“ 

„Tiempo tonitroso! So find es die, welche ich 
ſuche! Ich konfisziere fie!” 

„Aus welchem Grunde?“ 

„Sie gehören uns. Sie ſind aus dem Zeughaus 
geſtohlen worden.“ 

„Wirklich? Das klingt wie ein Kindermärchen. 
Erzählen Sie es dem Vater Jaguar; der wird Ihnen 
die Antwort geben, die ich doch lieber unausgeſprochen 
laſſen will.“ 

„Glauben Sie meinen Worten etwa nicht, Seüor?“ 

„Ich glaube alles, was ich ſehe. Bringen Sie mir 
das Zeughaus und die Spitzbuben hierher, ſo werde ich 
ſehen, was ich zu denken habe. Uebrigens haben wir 
jetzt auf andres zu achten. Horchen Sie da hinüber!“ 

Er deutete mit der Hand in der Richtung über den 
See. Dort war jetzt ein durchdringendes Geheul zu 
hören. Die Abipones hatten ihre Toten und den Ver⸗ 
luſt ihrer Pferde und Gefangenen entdeckt. Der Vater 
Jaguar konnte nicht auf ſie achten, denn die Gefahr 
drängte. Der nächtliche Ritt, mit den fünf Cambas an 
der Spitze, wurde begonnen. £ 

Die Führer hielten genau nach Norden zu, wo der 
Vater Jaguar eine weite, ununterbrochene Wüſte zu 


— 312 — 


finden gedacht hätte. Man ritt nicht Galopp, ſondern 
in vollſtem Laufe, und brauchte ſich um die ledigen 
Pferde der Abipones gar nicht mehr zu bekümmern, 
denn ſie kamen freiwillig mit. Ihr Inſtinkt ſagte ihnen, 
daß das Wetter aus Süden drohe und die Rettung alſo 
im Norden zu ſuchen ſei. 

Als man nach einer halben Stunde, um die Pferde 
nicht zu ſehr anzugreifen, eine etwas langſamere Gang⸗ 
art einhielt, war der gelbliche Streifen am ſüdlichen 
Himmel ſchon bedeutend breiter geworden; ſein unterer, 
breiter Teil begann rot zu flammen. Die Folge davon 
war, daß die Dunkelheit der Nacht weniger tief war als 
vorher. Nach Verlauf von abermals einer halben 
Stunde hatte der gelbe Streifen mit ſeiner Grundfläche 
die ganze Breite des ſüdlichen Horizonts eingenommen 
und bildete mit ſeiner bis an den Zenith reichenden 
Spitze ein Dreieck, in deſſen Mittelpunkt ſich ein dunkler 
Fleck zeigte. Dieſes Dreieck war ſo hell, daß unten eine 
Art von Dämmerung entſtand, bei der man mehrere 
hundert Schritte weit ziemlich deutlich ſehen konnte. 

„Das iſt das Loch, aus dem der Sturm kommen 
wird,“ ſagte der Vater Jaguar, indem er auf den dunk⸗ 
len Fleck deutete, zu Doktor Morgenſtern, der mit Fritze 
ihm zur Seite ritt. 

„Wird er gefährlich werden?“ antwortete der Ge⸗ 
nannte. | 

„Ob für uns, das kann ich nicht wiſſen; aber Scha⸗ 
den anrichten wird er ſicherlich. So ein Orkan türmt 
die Wogen bergeshoch auf, reißt große Lücken in die 
dichteſten Wälder und wirft die feſteſten Häuſer ein.“ 

„Und da wollen wir uns vor ihm in eine Anſiede⸗ 
lung, alſo in Häuſer, flüchten? Daß ſich Gott erbarm! 
Er wird ſie uns über dem Kopf zuſammenſtürzen, und 


— 818 — 


wir werden unter den Trümmern unſern unvermeid⸗ 
lichen Untergang, lateiniſch Exitium genannt, finden.“ 

„Eigentlich ſollte man das freilich denken; aber ich 
verlaſſe mich auf den Häuptling, der nicht nur die Ge⸗ 
walt des Orkans, ſondern auch die Verhältniſſe unſres 
Zufluchtsortes kennt.“ 

„Wat können uns die Verhältniſſe nützen, wenn ſie 
vom Sturm umjeworfen werden,“ meinte Fritze. „Ick 
habe ſchon manchen Pampero miterlebt; aber ſo ein 
Hurrikan ſoll noch wat janz andres ſind. Ick jebe in 
dieſem Augenblick vor mein Leben keinen roten Pfiffer⸗ 
ling. Sehen Sie Ihnen doch mal dat Himmelsjewölbe 
an! Iſt dat noch Himmel zu nennen? Nein, wie die 
reine Hölle ſieht es aus. Allen Reſpekt vor ein ſchönes 
Firmament; aber wenn es ſich mit Kupferrot und 
Schwefeljelb überzieht, ſo kann's mich bange werden. 
Ick habe auch kein Vertrauen zu die Anſiedlung. An⸗ 
ſiedlung von die Niedermetzelung! Wat haben wir dort 
zu erwarten?!“ 

Es war gar kein Wunder, daß ſelbſt Fritze ein 
Grauen verſpürte, der luſtige Kauz, der ſich ſonſt nicht 
ſo leicht aus der Faſſung bringen ließ. Der Himmel ſah 
jetzt wirklich hölliſch aus. Das Dreieck wuchs immer 
weiter nach Norden und wurde an ſeiner Grundfläche 
breiter und breiter. Dieſe nahm, als man anderthalb 
Stunden geritten war, ſchon die Hälfte des Horizonts ein. 

Bei dem jetzt herrſchenden Dämmerſchein war zu 
ſehen, daß der Ritt über eine mit kurzem Gras bewach⸗ 
ſene Fläche ging, die ſich hie und da zu niedrigen Hügeln 
erhob. Dieſe wurden nach und nach häufiger und höher. 
Meiſt waren ſie von ſanft abgerundeter Geſtalt, doch kam 
man auch an einigen vorüber, die ſchroffe Felſenbildung 
zeigten. f 


— 314 — 


„Das beruhigt mich,“ ſagte der Vater Jaguar. 
„Den beſten Schutz können wir an der Nordſeite eines 
feſten Felſens finden. Und da ein jeder, der ſich hier 
niederläßt, mit den Verhältniſſen des Landes, alſo auch 
mit den verheerenden Stürmen zu rechnen hat, ſo ſteht 
zu erwarten, daß die Anſiedlung, der wir entgegeneilen, 
an einer ſo geſchützten Stelle angelegt worden iſt.“ 

Es ſollte ſich bald zeigen, daß er ganz richtig ver⸗ 
mutet hatte. Man gelangte zwiſchen Hügeln hindurch 
in ein breites Tal, das auf der ſüdlichen Seite von einer 
hohen Felſenmauer und auf der nördlichen von ſanften, 
bewaldeten Höhen eingefaßt wurde. Auf der Talſohle 
wuchs niedriges Gebüſch und reiches Gras, und in der 
Nähe der Felſen ſtanden ſechs einzelne Gebäude, welche 
die frühere Niederlaſſung gebildet hatten. 

N Solche Anſiedlungen hat es im Gran Chaco früher 
viele gegeben. Man ſtößt noch heutigentags auf deren 
Trümmer. Die Weißen kamen in das Land der Roten, 
ſetzten ſich darin feſt und benahmen ſich als rechtmäßige 
Eigentümer, ohne an die Zahlung eines Kaufpreiſes 
oder an ſonſt eine Entſchädigung zu denken. Sie ſuch⸗ 
ten ſich natürlich die beſten, ſchönſten und fruchtbarſten 
Stellen aus und ſchoſſen jeden Roten, der es wagen 
wollte, ihnen ihr angemaßtes Recht ſtreitig zu machen, 
einfach nieder. Da aber der Nachſchub ausblieb, ſo 
waren ſolche einzelne Anſiedler doch zu ſchwach, ſich län⸗ 
gere Zeit oder gar für immer gegen die zahlreichen In⸗ 
dianer zu halten, und ſo zogen ſie ſich entweder noch 
rechtzeitig zurück oder wurden, wenn ſie hartnäckig auf 
der geraubten Scholle ſitzen blieben, ausgerottet. Das 
angebaute Land verwilderte wieder. Der Wind wehte 
die Pflanzenſamen in die Gebäude; die Keime entwickel⸗ 
ten ſich zu Sträuchern und Bäumen, welche die Mauern 


— 815 — 


und Dächer ſprengten. Schlinggewächſe krallten ſich an 
den Ziegeln und Balken feſt und überzogen ſie mit einer 
dicken, feuchten Blätterdecke, unter der ſie vermoderten 
und nach und nach in Staub zerfielen. 


In dieſer Weiſe ruinenhaft lag die „Anſiedlung 
der Niedermetzelung“ nun freilich nicht da. Sie war 
von neuerem Datum und außergewöhnlich gut erhal⸗ 
ten. Die Wände der Gebäude beſtanden nicht aus dem 
hier gewöhnlichen Material, ſondern aus feſten Holz⸗ 
ſtämmen, welche tief in die Erde gerammt worden wa⸗ 
ren. Die Dächer waren aus dicken Schilflagen zuſam⸗ 
mengeſetzt, die von Baſtſeilen von bedeutender Stärke 
getragen wurden. Dieſe Seile hatten ebenſo wie das 
Schilf der Witterung widerſtanden. Infolge ihrer 
Elaſtizität gaben ſie jedem Windſtoß nach, ſo daß ſelbſt 
der wildeſte Orkan, dem kein anderes Dach widerſtanden 
hätte, ihnen nichts anzuhaben vermocht hatte. Die 
Plankenwände hatten die gleiche Widerſtandsfähigkeit 
gezeigt. Sie waren zwar auch reich mit Schlinggewäch⸗ 
ſen und andern Pflanzen überwuchert, von ihnen aber 
nicht zerſtört, ja kaum angegriffen worden, vielmehr 
hatten dieſe eine lebendige, dicke Schutzmauer gebildet, 
durch die kein Wind und Regen zu dringen vermochte. 
Fenſter gab es nicht, und die Eingänge waren nicht mit 
Türen verſehen. Vor und zwiſchen dieſen Gebäuden 
ſtanden Sträucher, aus denen ſich uralte Bäume er⸗ 
hoben. Dieſe hatten manchen Sturm erlebt, wie die am 
Boden liegenden ſtarken Aeſte bewieſen, die abgeriſſen 
worden und dann verdorrt waren. 


Als die Reiter um die Felſen bogen und die ſechs 
Gebäude liegen ſahen, rief der Häuptling der Cambas, 
ihr Führer, aus: „Wir find an Ort und Stelle, Seüores. 


— 816 — 


Laßt die Pferde laufen, und dann ſchnell unter die 
Dächer; der Hurrikan kann uns dort nichts anhaben!“ 

„Nein, nicht ſo!“ widerſprach der Vater Jaguar. 
„Die Pferde dürfen wir nicht freilaſſen: ſie würden im 
Orkan davonlaufen. Sie müſſen mit in die Häuſer. 
Dieſe aber müſſen erſt gereinigt werden.“ 

„Wovon denn?“ fragte Leutnant Verano. 

„Das können Sie ſich nicht denken? Sie ſollen es 
ſogleich ſehen.“ 

Er beorderte hinter jedes Gebäude einige ſeiner 
Leute und gab ihnen den Auftrag, dort zu ſchreien, zu 
lärmen und mehrere Schüſſe abzugeben. Als dieſer Be⸗ 
fehl ausgeführt wurde, ſah man, was der Vater Jaguar 
mit dieſer Reinigung gemeint hatte. Der Dämmer⸗ 
ſchein war hell genug, um allerlei Getier erkennen zu 
laſſen, das durch das Lärmen und Schießen aufgeſchreckt 
worden war und nun aus den Türöffnungen hervorge⸗ 
ſchoſſen kam; ſogar ein Puma war dabei. 

„Nun ſind höchſtens noch Schlangen darin, vor 
denen wir uns zu hüten haben,“ bemerkte der umſich⸗ 
tige Anführer. „Treibt vorerſt die Pferde in die vier 
nächſten Gebäude! In den zwei andern finden dann 
wir Unterkunft. Nachher das dürre Holz geſammelt, 
damit wir Feuer machen können; aber ſchnell, denn das 
Unwetter ſcheint losbrechen zu wollen! 

Starke Windſtöße begannen durch das Tal zu pfei⸗ 
fen; ſie brachten große, ſchwere, jetzt noch vereinzelte 
Waſſertropfen mit ſich. Die Männer waren fieberhaft 
tätig; in kaum zehn Minuten waren die Weiſungen 
Hammers ausgeführt. Die Pferde, die ſogar noch abge⸗ 
ſattelt worden waren, ſtanden in den Räumen, und die⸗ 
jenigen Männer, die bei ihnen waren, um ſie zu beauf⸗ 
ſichtigen, brannten Feuer im Innern in der Nähe der 


— 317 — 


Türen an. Feuer brannten auch in den zwei Gebäuden, 
die zur Aufnahme der übrigen Perſonen beſtimmt waren. 
Aber es war die höchſte Zeit geweſen, denn jetzt brach 
das Wetter mit einer Gewalt los, die aller Beſchreibung 
ſpottete. 

Der vorhin gelbhelle Himmel hatte ſich mit einem 
Schlage ſchwarz gefärbt; ein Aechzen, Stöhnen, Dröhnen 
und Heulen wie von tauſend Teufeln ging durch das 
Tal; der Orkan war da; die Gebäude zitterten unter 
ſeiner Gewalt, wurden aber durch ihre Biegſamkeit ge⸗ 
halten. Und dann tat es plötzlich einen Krach, als ob 
ein Berg eingeſtürzt ſei. Das war der Regen, der mit 
einemmal, und zwar nicht in Tropfen, ſondern in ge⸗ 
ſchloſſener Maſſe wie ein See herniederſtürzte. 

Dieſer Regen ergoß ſich mit dem Getöſe eines 
großen Waſſerfalls, wurde aber dennoch von der Stärke 
der Donnerſchläge übertönt. Blitze zuckten durch die 
tiefdunkle Nacht oder vielmehr durch den Regenſee, und 
auch das Wort Blitze iſt nicht der richtige Ausdruck, denn 
es waren Feuerflammen, die aus der Erde aufzuckten, 
und Feuerklumpen, die aus den Wolken niederfielen. So 
ging es Schlag auf Schlag, Krach auf Krach, Feuerball 
auf Feuerball, eine ganze Stunde lang und auch noch 
eine zweite. Es war ganz unmöglich, ſich zu unterhal⸗ 
ten, denn niemand konnte ſein eigenes Wort verſtehen. 
Die Männer ſaßen ſtill am Boden, der aus geſtampfter 
Erde beſtand, und konnten ſich nur durch Fingerzeige die 
nötigen Mitteilungen machen. 

Noch ſchlimmer aber waren diejenigen daran, die 
ſich bei den Pferden befanden. Die Tiere hatten natür⸗ 
lich nicht angebunden werden können; ſoweit die vorhan⸗ 
denen Riemen, Stricke und Schnüre zureichten, hatte 
man ihnen die Beine gefeſſelt; aber dies war nicht bei 


= BI 


allen geſchehen, und To erhob ſich außer dem Schnauben 
und Wiehern ein Stampfen, Schütteln und Umſichſchla⸗ 
gen, das ganz wohl lebensgefährlich genannt werden 
konnte. 

Jetzt gab es noch einen entſetzlichen Donnerſchlag, 
den ſtärkſten von allen, aber auch den letzten; Himmel 
und Erde ſchienen nicht nur in Flammen zu ſtehen, ſon⸗ 
dern ein einziges Feuermeer zu bilden; dann trat eine 
Stille ein, die ſo plötzlich kam, daß ſie geradezu unheim⸗ 
lich wirkte. Keiner wagte ein Wort zu ſagen; die meiſten 
glaubten, daß der Aufruhr der Elemente nur einen 
Augenblick ausgeſetzt habe, um ſofort wieder zu begin⸗ 
nen; dem war aber nicht ſo. Der Vater Jaguar ſtand 
von dem Platz auf, wo er geſeſſen hatte, ging an dem 
Feuer vorüber nach der Tür, ſah hinaus, wo die Waſſer 
wie ein einziger, talbreiter Fluß vorüberrauſchten, und 
meldete dann: „Es iſt vorüber. Der Himmel ſteht 
voller Sterne. Gott ſei Dank!“ | 

„Ja, Gott ſei Lob und Dank!“ ſeufzte Doktor Mor⸗ 
genſtern erleichtert auf, indem er ſich mit beiden Händen 
über das todesbleiche Geſicht wiſchte. „So etwas habe 
ich doch noch nicht erlebt. Ich habe eine Angſt ausge⸗ 
ſtanden, die gar nicht zu beſchreiben iſt. Da war doch 
jeder Donnerſchlag ein Gebrüll, lateiniſch Rugitus oder 
auch Mugitus geheißen, und jeder Blitz eine Feuers⸗ 
brunſt, Incendium, die alles zu verzehren drohte!“ 

„Ja, dat iſt wahr,“ ſtimmte Fritze bei. „Mir wun⸗ 
dert es nur, daß wir nicht erſchlagen worden ſind, da 
wir bei dat Wetterleuchten und die vielen Blitze auch 
noch ſechs Feuer jebrannt haben!“ 

„Allerdings! Die Wiſſenſchaft hat bewieſen, daß 
der Blitz vom Feuer angezogen wird. Es iſt ein wahres 
Wunder, daß es hier nicht eingeſchlagen hat.“ 


— 819 — 


„Das war nicht wohl zu befürchten, da der Wald 
da droben ein ſehr guter Blitzableiter war,“ bemerkte der 
Vater Jaguar. „Nun aber will ich gleich einmal nach 
den Pferden ſehen, ob ſie ſich beſchädigt haben.“ 

Er ging hinaus und hatte jetzt bis an die Knie im 
Waſſer zu waten, obgleich es vorher ganz trocken geweſen 
war. Die Tiere ließen zwar noch Zeichen von Unruhe 
ſehen, ſtanden aber ſtill an ihren Plätzen. Nennens⸗ 
werte Beſchädigungen waren nicht zu bemerken. Einen 
ſo guten Ausgang hatte man kaum erhoffen dürfen. 

Als er von der Beſichtigung zurückkehrte, ſtand 
Leutnant Verano gerade im Begriff, ſein Abenteuer zu 
erzählen. Er ſah Hammer kommen und wendete 
ſich ihm mit den Worten zu: „Sie kommen gerade recht, 
Seüor, um zu hören, welche Anſprüche ich an die Ge⸗ 
wehre habe, die Sie ſich angeeignet haben.“ 

„Angeeignet? Daß ich nicht wüßte! Ich habe ſie 
in einſtweilige Verwahrung genommen,“ antwortete der 
Deutſche in ſehr zurückhaltender Weiſe. 

„Mit welchem Recht, wenn ich fragen darf?“ 

„Sie ſagen ganz richtig: wenn ich fragen darf. 
Welches Recht haben Sie, mich zu fragen?“ 

„Ich bin der Beauftragte des Generals Mitre.“ 

„Das würde ich gelten laſſen, falls Sie es be⸗ 
weiſen könnten.“ 


„Welche Beweiſe verlangen Sie?“ 

„Eine ſchriftliche Vollmacht.“ 

„Welche Zumutung! Meinen Sie, daß man ſolche 
Schriftſtücke mit ſich im Gran Chaco herumſchleppt?“ 

„Das iſt allerdings notwendig, wenn man als Be⸗ 
vollmächtigter anerkannt werden will.“ 


— 820 — 


„Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, Senor. Das 
wird doch hoffentlich genügen,“ fuhr Verano zornig auf. 
„Oder etwa nicht, dann — — —“ 

Er machte mit der Hand eine drohende Bewegung 
nach dem Meſſer. 

„Laſſen Sie das Ding ſtecken! Wer mir die Klinge 
zeigt, bekommt meine Fauſt zu fühlen. Ich erkläre 
Ihnen ganz gern, daß mir Ihr Ehrenwort genügt, denn 
Sie ſind zwar ein höchſt gewalttätiger Mann, aber daß 
Sie ſich einer ehrenrührigen Handlung ſchuldig gemacht 
hätten, das habe ich noch nicht gehört.“ 

„So ſind wir alſo einig?“ 

„Ja und auch nein. Verſtehen Sie mich nur rich⸗ 
tig! Zu glauben, daß Sie der Bevollmächtigte des 
Generals ſind, dazu genügt mir Ihr Ehrenwort aller⸗ 
dings. Welche Vollmachten aber haben Sie erhalten?“ 

„Nach den abhanden gekommenen Gewehren zu 
forſchen.“ 

„Nun, und wenn Sie den Dieb entdecken?“ 

„So habe ich Bericht zu erſtatten.“ 

„Und dann?“ 

„Dann — —? Nun, dann wird der General das 
Weitere verfügen.“ 

„Schön. Jetzt ſind wir freilich einig. Sie haben nach ge⸗ 
ſtohlenen Gewehren zu forſchen, im Entdeckungsfall Be⸗ 
richt zu erſtatten und dann das Weitere abzuwarten. Ich 
habe Gewehre gefunden; ob dieſe aber diejenigen ſind, 
die — —“ 

„Bitte, Senor!“ unterbrach ihn der Leutnant, „fie 
ſind es. Während Sie jetzt fort waren, habe ich mir 
eine Anzahl derſelben angeſehen. Es ſind die gleichen. 
die heimlich aus dem Zeughauſe fortgeſchafft worden 


— 821 — 


ſind. Der General hat den Verluſt entdeckt und ſofort, 
ohne daß jemand davon erfuhr, die eingehendſten 
Nachforſchungen anſtellen laſſen. Was ſich ergab, 
mußte überraſchen. Höchſt wahrſcheinlich hat der 
Zeugmeiſter ſich beſtechen laſſen. Er gab mehrere 
hundert Gewehre nebſt reichlicher Munition in die 
Hände von Leuten, die einen Aufruhr planen. Wer 
an ihrer Spitze ſteht, war noch nicht zu erfahren; ge⸗ 
wiß aber iſt, daß der Stierfechter Antonio Perillo da⸗ 
bei die Hand im Spiel hat. Dieſer Mann iſt kurz nach 
dem Diebſtahl, alſo vor einigen Monaten, mit Arbeitern 
und Werkzeugen und Waffen nebſt Schießbedarf über 
den Rio Salado gegangen und ſpäter nur mit den Ar⸗ 
beitern und Werkzeugen zurückgekehrt. Er hat die Waf- 
fen nicht verkauft oder verteilt, ſondern vergraben. Wo⸗ 
zu hätte er ſonſt Spaten und Schaufeln mitgenommen? 
Man wollte und mußte erfahren, wo dies geſchehen iſt. 
Und da ich den Chaco kenne, wurde mir der Auftrag, 
über den Salado zu gehen, um nachzuforſchen. Die 
Abipones ſind gegenwärtig regierungsfeindlich geſinnt; 
an ſie durfte ich mich nicht wenden; ich ſuchte alſo 
die Cambas auf und traf den Häuptling mit vier Krie⸗ 
gern, von denen der eine zur angegebenen Zeit weiße 
Männer an der Zwillingsquelle geſehen hatte. El Cra- 
neo duro war ſofort bereit, mit mir nach dieſem Orte 
zu reiten. Unterwegs trafen wir auf eine Schar von 
über achtzig Abipones, die, wie mir der Häuptling ſagte, 
vont Palmenſee zu kommen ſchienen. Sie behandelten 
uns feindlich; ich wehrte mich und ſchoß einige von 
ihnen tot, wurde aber mit meinen Begleitern über⸗ 
wältigt, entwaffnet, ausgeraubt und nach der Quelle 
geſchafft, wo wir heute früh ertränkt werden ſollten. 
Dieſe beiden Knaben hier haben uns gerettet. Ich 
May, Das Vermächtnis des Inka. 21 


— 822 — 


hörte, wo Sie die Waffen gefunden haben, und bin 
überzeugt, daß Sie mir dieſe ausliefern werden.“ 

„Nein, Senor! Berichten Sie an den General: was 
dieſer dann beſtimmt, das wird geſchehen. Zunächſt 
könnten Sie weder die Gewehre noch die Munition ver⸗ 
werten; ich aber brauche ſie höchſt notwendig.“ 

„Wozu?“ 

„Um die Cambas zu bewaffnen und mit ihrer Hilfe 
die Feinde des Generals zu ſchlagen. Ich weiß nämlich 
mehr, als Sie wiſſen, und werde es Ihnen mitteilen.“ 

Er erzählte ihm das bisher Erlebte. Als er das 
getan hatte, war der zwar rohe und gewalttätige, aber 
höchſt patriotiſche Offizier mit Freuden bereit, auf ſeine 
Forderung zu verzichten. Er bat, ſich der Schar an⸗ 
ſchließen zu dürfen, was ihm auch gewährt wurde, 
doch unter der Bedingung, daß er ſich dem Vater Ja⸗ 
guar unterzuordnen habe. 

Jetzt endlich konnte man ſich auch die Heldentat 
der beiden jungen Freunde genauer erzählen laſſen, was 
Anton Engelhardt an Stelle des ſtillen, ſcheuen Inka 
tun mußte. Während man das Abenteuer noch be⸗ 
ſprach, zog der alte Anciano ſeinen Zögling auf die 
Seite, umarmte ihn und ſagte, unbedachtſamerweiſe in 
ſpaniſcher Sprache: „Du biſt ein Held und haſt ge⸗ 
zeigt, was du biſt, el Hijo del Inka!“ 

Hammer ſtand nahe dabei, hörte dieſe Worte und 
ſagte im ſtillen zu ſich: „Ah! Alſo hat meine Ahnung 
mich nicht getäuſcht; das Dunkel wird ſchon heller. Er 
iſt ein Nachkomme der alten Herrſcher von Peru — — 
el Hijo del Inka, der Sohn des Inkal“ 


Jehntes Kapitel. 


vater Jaguars Erzählung. 


Nach dem nächtlichen Unwetter war ein heiterer 
Morgen angebrochen. Die Regenwaſſer hatten ſich ver⸗ 
laufen; der Hochwald dampfte und im Tal unten wogte 
zwiſchen dem Geſträuch das ſaftige Gras hoch wie ein 
Aehrenfeld. Die Pferde wurden aus den Gebäuden ge⸗ 
laſſen, um ſich an dieſem Grün zu laben, denn von 
einem Aufbruch konnte jetzt noch keine Rede ſein, da die 
Tiere ſich nach dem nächtlichen Gewaltritt ausruhen 
mußten. 

Die Männer nahmen von den mitgebrachten Vor⸗ 
räten ein Frühſtück, um ſich darauf zur notwendigen 
Beratung zuſammenzuſetzen. Dabei war zu bemerken, 
daß Leutnant Verano dem alten Anciano eine un⸗ 
gewöhnliche Aufmerkſamkeit ſchenkte. Seine Blicke kehr⸗ 
ten wieder und immer wieder zu dieſem zurück, ſo daß 
der Indianer endlich fragte: „Sie betrachten mich fort⸗ 
während, Senor. Hat dies einen beſonderen Grund?“ 

„Ja,“ antwortete der Offizier. 

„Darf ich erfahren, welchen? Komme ich Ihnen 
bekannt vor? Hätten Sie mich ſchon einmal geſehen?“ 

„Sie wohl nicht. Meine Aufmerkſamkeit gilt nur 
Ihrem langen, weißen Haar, das mich an einen Skalp 
erinnert, den ich einmal geſehen habe.“ 


— 324 — 


„Skalp? Was iſt das?“ 

„Die Indianer Nordamerikas haben die Gewohn⸗ 
heit, ihren getöteten Feinden die Kopfhaut abzuziehen 
und als Zeichen des Sieges und der Tapferkeit auf⸗ 
zubewahren. Eine ſolche Haut wird Skalp genannt. 
Es iſt ganz dasſelbe, was wir ſpaniſch ſprechenden 
Leute mit Piel del eräneo bezeichnen.“ 

„In welcher Beziehung ſtehe denn ich zu dieſer 
Kopſhaur?“ 

„Es iſt eine Aehnlichkeit. Der Skalp, von dem ich 
ſpreche, hatte ein ebenſo langes und dichtes weißes 
Haar, wie Sie es tragen.“ 

Anciano horchte auf. Seine Züge nahmen den 
Ausdruck der Spannung an, als er fragte: „Ein eben⸗ 
ſolches Haar? Das wäre doch höchſt merkwürdig! Ich 
glaube nicht, daß ein Weißer ſein Haar in meiner 
Weiſe trägt.“ | 

„Ich habe das allerdings auch noch nie geſehen. 
Uebrigens hatte die Kopfhaut einem Indianer angehört.“ 

„Wohl einem nordamerikaniſchen?“ 

„Nein, einem hieſigen.“ 

„Von welchem Stamme war er?“ 

„Das weiß ich nicht. Ich fragte zwar danach, 
doch gab mir der Beſitzer des Skalps keine genügende 
Antwort.“ 

„Wo ſahen Sie die Haut?“ 

„In Buenos Aires.“ 

„Bei wem?“ 

„Bei dem Stierkämpfer Antonio Perillo. Ich war 
einmal mit einem Freunde bei ihm. Er hatte ſein 
Zimmer mit allerlei Trophäen ausgeſchmückt, unter 
denen ſich dieſe Haut befand.“ 


— 825 — 


„Antonio Perillo, der Eſpada! Er iſt es ja, mit 
dem wir wahrſcheinlich zuſammenſtoßen werden! Man 
ſagt, daß er wiederholt im Weſten geweſen ſei. Hat 
er Ihnen mitgeteilt, auf welche Weiſe er zu dieſer Haut 
gekommen iſt?“ 

„Ja. Er hat mit einem Indianer auf Leben und 
Tod gekämpft und ihn beſiegt. Als Andenken an die⸗ 
ſen ſchweren, lebensgefährlichen Kampf hat er den 
Skalp ſeines Feindes mitgenommen.“ 

„Wo hat dieſer Kampf ſtattgefunden? Sagen Sie 
ſchnell, wo!“ bat Anciano im Ton außerordentlicher Er⸗ 
regung. 

„In der ſüdlichen Pampa. Das war alles, was 
ich erfahren konnte.“ 

„Da unten? Da iſt es freilich anders, als ich 
dachte.“ 

Er atmete bei dieſen Worten hörbar und wie er⸗ 
leichtert auf. Sein Geſicht nahm wieder den Ausdruck 
der Gleichgültigkeit an, veränderte ſich aber ſofort wie⸗ 
der, als der Leutnant bemerkte: „Das Haar war wirk⸗ 
lich prächtig, ſchöner noch als das Ihrige. Es wurde 
von einer Spange zuſammengehalten, und der, welcher 
es getragen hat, muß ein ſehr alter und wohl auch 
armer Mann geweſen ſein.“ 

„Von einer Spange?“ rief Anciano aus, indem er 
eine Bewegung der Ueberraſchung machte. „Wie ſah 
dieſe Spange aus? Und warum glauben Sie, daß der 
Mann arm geweſen iſt?“ | 

„Weil ſie von Eiſen war, während ein wohlhaben⸗ 
der Mann doch, wenn er ſich ſolcher Zieraten bedient, 
ſolche von wertvollerem Metall wählt. Die Spange 
hatte an ihrer vorderen Seite die Form einer Sonne 
mit zwölf Strahlen.“ 


— 526 — 


„Zwölf Strahlen!“ ſchrie Anciano förmlich, indem 
er aufſprang. „Senor, dieſe Spange war nicht aus 
Eiſen, ſondern vom reinſten Gold. Der Beſitzer hatte 
ſie aber künſtlich geſchwärzt, um nicht die Habſucht an⸗ 
derer zu erwecken.“ 

„Woher wiſſen Sie das? Haben Sie den Mann 
gekannt, dem dieſer Schmuck gehörte?“ 

„Ob ich ihn gekannt habe! Er war mein Gebieter, 

ein Herrſcher über — —“ 
Er war im höchſten Grad erregt. Seine Augen 
blitzten; er hatte ſein Meſſer aus dem Gürtel geriſſen 
und machte Bewegungen, als ob er einen vor ihm 
ſtehenden Feind erſtechen wolle. Er hätte noch mehr 
geſagt, vielleicht ſein ganzes Geheimnis verraten; aber 
Haukaropora war auch aufgeſprungen, legte ihm die 
Hand auf den Arm und unterbrach ihn in warnendem 
Ton: „Still, mein Vater! Der Mann war ein Indianer, 
weiter nichts; aber dennoch müſſen wir erfahren, ob er 
in rechtlichem Kampf getötet worden iſt. Wenn nicht, 
dann wehe ſeinem Mörder! Er war trotz ſeines Alters 
ſo ſtark und gelenkig, daß er niemals überwunden wurde. 
Soll ich da glauben, daß er von dieſem Antonio Perillo 
beſiegt worden iſt? Nein und abermals nein! Er iſt 
ermordet worden.“ 

„Ganz gewiß, ganz gewiß!“ ſtimmte der Alte bei. 
„Wir brauchen nach dem Mörder nicht zu forſchen; 
Perillo hat zugegeben, daß er ſelbſt ihn getötet hat. Wir 
wiſſen, daß er hinter uns herkommt; er wird in meine 
Hände fallen, und dann ſoll er uns Rede und Antwort 
geben!“ 

„Ja, reden ſoll er, und die Antwort gebe ich ihm 
mit dieſem da!” 


— 827 — 


Der Inka ſchwang ſeinen Streitkolben, auf den ſich 
ſeine Worte bezogen, um den Kopf. Er war faſt noch 
mehr erregt, als Anciano, beherrſchte ſich aber ſchnell, 
als er ſah, daß die Anweſenden ihn erſtaunt anblickten, 
nahm eine gleichgültige Miene an, ſetzte ſich wieder 
nieder und legte den Kolben neben ſich hin. 

Aber nicht nur dieſe beiden waren von der Mit⸗ 
teilung des Leutnants ſo tief berührt worden; es gab 
einen dritten, der ihr eine ebenſo große, wenn auch 
ruhigere Aufmerkſamkeit ſchenkte. Dieſer dritte war 
Vater Jaguar. Von da an, wo der Skalp erwähnt 
wurde, bis zum letzten Augenblick hatte er die Reden 

it der größten Spannung verfolgt. Er ſaß neben dem 
Inka und griff jetzt nach dem Streitkolben, um ihn zu 
betrachten. Die Waffe war ſchwarz, wie von einem 
dunkeln Firnis überzogen. Er beſah ſie ſehr genau, 
legte ſie dann wieder hin, ohne eine Miene zu verziehen, 
und ſagte: „Ich halte es nicht für notwendig, ſich jetzt 
über den Skalp zu ereifern. Noch wißt ihr nicht, ob 
es wirklich die Kopfhaut eures Bekannten iſt. Wir wer⸗ 
den es erſt ſpäter genau erfahren.“ 

„Nein, ich weiß es ſicher,“ antwortete Anciano; „die 
Spange iſt der Beweis, daß ich mich nicht irre.“ 

„Dennoch haben wir jetzt Notwendigeres zu be⸗ 
ſprechen,“ entgegnete Hammer, indem er dem Alten 
einen verſtohlenen Wink gab, zu ſchweigen. „Es gilt, 
zu beraten, wohin wir uns von hier aus wenden 
ſollen.“ 

„Doch jedenfalls nach dem Palmenſee,“ antwortete 
der Leutnant Verano. „Das war ja ſchon vorher Ihr 
Ziel und muß es nun erſt recht bleiben, da die Ver⸗ 
ſchwörer dort zuſammenkommen wollen.“ 


— 828 — 


„Ich glaube zwar nicht, daß ſchon jemand von 
ihnen dort iſt, möchte dieſen See aber dennoch ver⸗ 
meiden. Man könnte ſpäter durch einen Zufall ent⸗ 
decken, daß wir dort geweſen ſind, und das könnte zum 
Mißlingen meines Plans führen.“ 

„Haſt du denn ſchon einen Plan?“ fragte Gero⸗ 
nimo. 
„Beinahe. Wir wiſſen, daß die Abipones gegen die 
Cambas wollen, und könnten dieſes Vorhaben vielleicht 
ſchon im Keim zunichte machen. Ich ſage mit Abſicht: 
vielleicht; denn ich befürchte, daß wir zu ſchwach dazu 
ſind.“ 

„Das meine ich auch. Die Burſchen ſind zwar 
furchtſam und ſcheuen einen offenen Angriff; zu einem 
nächtlichen Ueberfall aber ſind ſie ſtets bereit, und da 
habe ich vor ihren vergifteten Pfeilen den größten Re⸗ 
ſpekt. Wir müſſen uns verſtärken, und das kann nur 
mit Hilfe der Cambas geſchehen.“ 

„Allerdings. Es fragt ſich, ob ſie ahnen, was ihnen 
bevorſteht.“ | 

Da antwortete der „Harte Schädel“: „Unſre Leute 
wiſſen nichts davon, daß ſie überfallen werden ſollen. 
Wir leben in Feindſchaft mit den Abipones, aber daß 
ſie jetzt einen Kriegszug gegen uns vorhaben, das war 
uns ganz unbekannt. Wir müſſen ſobald wie möglich 
aufbrechen, um ihnen die Nachricht zu bringen und ſie 
vorzubereiten. Der Zug wird gegen unſer größtes und 
reichſtes Dorf gerichtet ſein.“ 

„Woher weißt du das?“ 

„Die Abipones, die uns geſtern fingen, ſprachen da⸗ 
von. Da wir heute früh erſäuft werden ſollten, ſo 
glaubten ſie, ganz ſicher zu ſein, daß wir nichts verraten 
könnten.“ 


— 829 — 


„Wo liegt dieſes Dorf und wie weit iſt es von hier 
entfernt?“ 


„Es liegt an dem Waſſer, das die Weißen den 
Arroyſcharo“*) nennen, und wenn wir gut reiten, kön⸗ 
nen wir nach drei Tagemärſchen dort ſein.“ 

„Wie iſt die Gegend beſchaffen, durch die wir müſ⸗ 
ſen? Iſt ſie unbewohnt?“ 

„Es gibt Wald, offenes Feld und auch mehrere 
Dörfer der Abipones, die wir aber vermeiden können, 
wenn wir den Ritt von hier aus unternehmen. Wollten 
wir aber erſt den Palmenſee aufſuchen, ſo würden wir 
von dort aus längere Zeit durch feindliches Gebiet zu 
reiten haben.“ 


„Hm!“ brummte der Vater Jaguar nachdenklich in 
den Bart. Er blickte eine Weile vor ſich nieder und fuhr 
dann fort: „Und dennoch halte ich es für beſſer, erſt 
nach dem Palmenſee zu gehen. Vorhin wollte ich das 
vermeiden; nun ich aber genau erfahren, wohin die 
Gegner wollen, muß mir daran liegen, den Weg, welchen 
ſie einzuſchlagen haben, kennen zu lernen. Ich habe 
auch noch einen andern Grund. Unſer Fleiſchvorrat geht 
zu Ende, und uns drei Tage lang vom Ertrag der Jagd 
zu ernähren, dazu haben wir keine Zeit. Durch den 
dabei entſtehenden Aufenthalt könnten aus den drei 
leicht fünf oder ſechs Tage werden. Die Abipones aber 
beſitzen, wie ich weiß, Rinder, von denen wir eins oder 
gar einige heimlich wegfangen können. Da kommen 
wir ohne Mühe und Zeitverluſt zu Fleiſch. Wie weit 
iſt es von hier bis zu dem Palmenſee?“ 


„Einen halben Tagesritt.““ 


) Der klare Bach. 


— 830 — 


„Gut, dann brechen wir um die Mittagszeit von 
hier auf, ſo daß wir am Abend dort ankommen. Es 
iſt ja nicht notwendig, daß wir ganz bis zum See reiten.“ 

Es hatte keiner etwas dagegen einzuwenden, doch 
meinte Doktor Morgenſtern Grund zu der Bemerkung 
zu haben: „Ihre Abſicht und Ihren Plan in allen Ehren, 
aber ich habe doch auch Abſichten und Pläne, an die ich 
Sie erinnern muß. In welcher Richtung liegt denn der 
klare Bach“, zu dem Sie wollen?“ 

„Nach Nordweſten,“ antwortete der Häuptling. 

„Iſt die dortige Gegend eben oder bergig?“ 

„Es gibt Berge.“ 

„Dann erhebe ich Einſpruch, Seüores! Sie wiſſen, 
daß ich nicht wegen der Cambas, ſondern um Aus⸗ 
grabungen vorzunehmen in dieſes Land gekommen bin. 
Die Tiere, deren Ueberreſte ich ſuche, haben nicht auf 
den Bergen, ſondern in der Ebene gelebt. Je weiter 
ich mich von der letzteren entferne, deſto mehr ſchwindet 
mir die Hoffnung, etwas zu finden. Ich erhebe alſo 
Widerſpruch lateiniſch Contradictio oder auch Repu- 
gnantia genannt.“ 

„Ihr Widerſpruch wird leider ohne Erfolg ſein,“ 
antwortete der Vater Jaguar. „Wir können doch nicht 
Ihrer Ausgrabungen wegen die Cambas berauben oder 
gar ermorden laſſen!“ 

„Ebenſowenig kann ich dieſer Leute wegen auf mein 
Maſtodon oder Megatherium verzichten, das ich finden 
möchte. Ich beantrage, daß die Wiſſenſchaft berück⸗ 
ſichtigt werde!” | 

Der „Harte Schädel” hatte aufmerkſam zugehört. 
Es war ihm nicht klar, was der kleine Mann meinte, 
aber er ahnte es und erkundigte ſich jetzt: „Dieſer 
Sefior ſpricht von Tieren und vom Ausgraben. Gehört 


— 8831 — 


er vielleicht zu den ſonderbaren weißen Leuten, die in 
der Pampa nach Knochen graben, um dieſe in die großen 
Städte zu bringen und dort zuſammenzuſtellen?“ 

„Ja, er gehört zu ihnen,“ antwortete Hammer 
lächelnd. 

„So braucht er nicht hier zu bleiben und ſich in die 
Gefahr zu bringen, von den Abipones gefangen genom⸗ 
men oder gar getötet zu werden. Ich weiß, wo ſolche 
Knochen zu finden ſind.“ 

„Wo denn, wo?“ fragte der kleine Gelehrte ſchnell. 

„Ich kenne mehrere Orte. An einem derſelben 
werden wir vorüberkommen. Es iſt der Pantano de 
los Huesos*). Dieſer Name ſagt Ihnen, daß das Ge⸗ 
wünſchte dort zu finden iſt.“ 

„Wirklich, wirklich? Ein Knochenſumpf?“ erkun⸗ 
digte ſich Morgenſtern mit großem Eifer. „Welchem 
Tier gehören denn die Knochen an?“ 

„Das weiß ich nicht. Und dann kenne ich auch nicht 
— — —7. Er ſtockte für einige Augenblicke, fuhr dann 
aber fort: „Die Senores find gekommen, uns gegen 
unſre Feinde beizuſtehen, und aus Dankbarkeit dafür 
will ich ſagen, daß ich einen Ort kenne, wo ein Tier 
in der Erde ſteckt, das ſo groß geweſen ſein muß, wie es 
jetzt keins mehr gibt. Wir haben es zufällig gefunden 
und wollten es an einen der Weißen, welche ſolche 
Knochen ſuchen, gegen Geld verhandeln. Da Sie uns 
aber gegen die Abipones helfen wollen, werde ich es 
Ihnen ſchenken.“ 

„Was? Wie? Ein ſo großes Tier, wie es fetzt 
keins mehr gibt?“ fragte Morgenſtern ſchnell. „Was 
iſt das für eins? Vielleicht ein Glyptodon?“ 


) Sumpf der Knochen 


— 632 — 


„Das kann ich nicht ſagen. Ich habe dieſen Namen 
noch nie gehört.“ | 

„Wie groß iſt es denn? Wie lang und wie hoch?“ 

„Auch das weiß ich nicht, denn wir haben es nicht 
ganz geſehen.“ 

„Nicht ganz? O wehl Dann ſind vielleicht nur 
einzelne Knochen vorhanden!“ 

„Nein; es iſt ganz. Wir haben gegraben, bis die 
ſämtlichen Rückenknochen zu ſehen waren.“ 

„Und dann? Dann habt ihr ſie wohl durcheinander 
geworfen?“ | 

„Nein, wir hatten erfahren, daß ein zerbrochenes 
Tier nicht ſo viel wert iſt, wie ein unverletztes. Darum 
ließen wir es, wie es war, und deckten es ſorgfältig mit 
Erde zu.“ 

„Bravo, bravo! Das war ſehr klug, ſehr geſcheit 
gehandelt! Ich erſehe daraus, daß ihr Indianer doch nicht 
ſo dumm ſeid, wie man euch uns geſchildert hat. Ich 
muß dieſes Tier haben! Wo ſteckt es? Wo iſt der Ort? 
Wann werden wir hinkommen? Doch ſo bald wie 
möglich?“ 

„Die Stelle befindet ſich einen ganzen Tagesritt 
hinter unſerm Dorf.“ 

„Das iſt mir gar nicht lieb, ganz und gar nicht! 
Ich beantrage, ſofort aufzubrechen, Seüores! Ich ſehe 
wirklich nicht ein, weshalb wir ſo lange hier ſitzen 
bleiben wollen.“ 

„Nur langſam, langſam!“ lachte der Vater Jaguar. 
„Erſt wollten Sie hier bleiben, und nun können Sie 
nicht ſchnell genug fortkommen. Wir haben noch ſo 
viel zu tun, daß wir vor Mittag nicht aufbrechen 
können.“ 


— 


— 883 — 


„Zu tun? Was denn? Ich wüßte nicht, was wir 
noch zu arbeiten hätten!“ 

„Denken Sie an die vielen Pferde, die wir fetzt 
haben, und an unſer Gepäck. Wir müſſen Packſättel 
anfertigen.“ 

„Packſättel? Wir haben ja weder Leder noch ſon⸗ 
ſtiges Material dazu?“ 

„Material iſt genug vorhanden. Man muß ſich 
nach den Umſtänden richten. Aus Zweigen, Laubwerk, 
Schilf und Gras laſſen ſich Sättel anfertigen, die länger 
als drei Tage zu gebrauchen ſind. Aus Schlingpflanzen 
drehen wir Seile, womit die Sättel befeſtigt und die 
Pferde aneinander gebunden werden. Haben wir auf 
dieſe Weiſe eine zuſammenhängende Tropa gebildet, ſo 
geht der Ritt viel leichter und ſchneller vonſtatten. Wir 
werden ſofort an die Arbeit gehen.“ 

Er ließ junges Gezweig, Gras und Schilf ſammeln, 
und bald waren alle Hände unter ſeiner Anleitung be⸗ 
ſchäftigt, die Pferde mit weichen Tragunterlagen und 
Halftern aus Schlinggewächſen zu verſehen. Als die 
Tiere ſich ausgeruht hatten, wurden ſie beladen und ſo 
aneinander gebunden, daß ſie eine zuſammenhängende 
Tropa bildeten. Dann konnte der Aufbruch vor ſich 
gehen. Es war gerade zur Mittagszeit, als man den 
Ort verließ, der einen ſo ſchlimmen Namen beſaß und 
doch ſo vielen Schutz vor dem verderblichen Unwetter 
geboten hatte. 

Das heutige Ziel war alſo der Palmenſee, der in 
ſüdweſtlicher Richtung von der Anſiedelung der Nieder⸗ 
metzelung lag. Der „Harte Schädel“ ritt mit ſeinen 
vier Cambas als Führer voran; dann folgten die Pferde 
in einer langen Reihe, die von den Reitern zu beiden 
Seiten in Ordnung gehalten wurde. Die Höhen, an 


denen man während der Nacht vorübergekommen war, 
blieben links liegen; die Gegend, durch die man ritt, 
konnte, obgleich man ſich mitten im Chaco befand, als 
Campo bezeichnet werden. Sie war eben und offen. 
Nur hier oder da wurde der weiche Raſen von einer 
ſandigen Stelle unterbrochen, bis man am Nachmittag 
wüſtes Land betrat, das, wie der Häuptling ſagte, erſt 
am Palmenſee ein Ende nahm. 

Der Vater Jaguar ritt heute hinter dem Zug. Er 
hatte Anciano und dem Inka einen Wink gegeben, ſich 
zu ihm zu halten. Als ſie dann zu ſeinen beiden Seiten 
ritten, ſagte er zu erſterem: „Dein Mund wäre heute 
früh beinahe mitteilſamer geworden, als in deiner Ab⸗ 
ſicht lag. Faſt hätteſt du dein Geheimnis verraten.“ 

„Sie meinen, daß ich ein Geheimnis habe? Was 
könnte das fein?” fragte Anciano. 

„Ich kenne es nicht, aber ich errate es. Hauka⸗ 
ropora iſt nicht dein Sohn und nicht dein Enkel.“ 

„Wie kommen Sie auf dieſen Gedanken, Senor? 
Sie haben ihn doch ſtets als meinen Enkel gekannt!“ 

„Ich ahnte längſt, daß euer Verhältnis ein andres 
ſei. Du teilteſt uns in deiner Aufregung mit, daß die 
Spange, wovon der Leutnant ſprach, nicht von Eiſen, 
ſondern aus reinem Gold iſt. Es gibt noch andre Gegen⸗ 
ſtände, die aus Eiſen zu ſein ſcheinen und doch aus Gold 
gefertigt ſind.“ 

„Welche, Senor?“ 

„Zum Beiſpiel der Streitkolben, den Hauka hier an 
ſeiner Seite trägt.“ 

„Der fol aus Gold fein, Seßor? Dann wären 
wir ja reiche Leute!“ 

„Pah! Verſtelle dich nicht! Ich bin dein Freund, 
und ihr wißt, daß ihr von mir nichts zu befürchten habt. 


— 335 — 


Ich mag nicht aufdringlich erſcheinen; aber wenn ihr 
euer Geheimnis wahren wollt, ſo müßt ihr vorſichtiger 
ſein. Hauka hat geſtern den feindlichen Indianer mit 
dem Streitkolben niedergeſchlagen. Die Waffe muß auf 
etwas Hartes oder Scharfes oder Spitziges getroffen 
ſein, wodurch der dunkle, harzige Ueberzug beſchädigt 
wurde. Die kleine Stelle glänzt goldig gelb. Seht ein⸗ 
mal nach!“ 

Haukaropora nahm den Kolben zur Hand, betrach⸗ 
tete ihn und hing ihn dann errötend wieder an ſeine 
Stelle. 

„Nun?“ fragte der Vater Jaguar lächelnd. 

Keiner von beiden antwortete. Der Fragende fuhr 
fort: „Wer allein hatte das Recht, einen goldenen 
Streitkolben oder Humantſchuay zu tragen? — Der 
Herrſcher von Peru! Und dieſer Streitkolben verrät mir, 
daß Hauka ein Abkömmling der Inkas iſt.“ 

„Senor, Sie irren!” entfuhr es dem alten Anciano. 

„Ich irre mich nicht. Gib dir keine Mühe, mich zu 
täuſchen! Das Geheimnis iſt bei mir ebenſo ſicher wie 
in deiner eigenen Bruſt bewahrt. Ueberhaupt habt ihr 
ja gar nicht nötig, ein Geheimnis aus der Abſtammung 
dieſes jungen Mannes zu machen.“ 

„O doch! Denken Sie an die Verfolgungen, die wir 
erlitten haben!“ 

„Ihr? Davon weiß ich nichts. Euern Vorfahren 
ſtellte man nach mit Feuer, Schwert und Gift; das iſt 
wahr. Seitdem haben ſich die Zeiten geändert, und kein 
Menſch wird euch eurer Abſtammung wegen nach dem 

Leben trachten.“ 

„Das denken wohl Sie; wir aber ſind vom Gegen⸗ 
teil überzeugt.“ 


— 336 — 


„So haſt du einen beſonderen Grund zur Vorſicht 
und Verſchwiegenheit. Der Umſtand, daß Hauka ein 
Kind des Inkas iſt, bringt ihn in keine Gefahr; aber 
gefährlich könnte ihm etwas anderes werden.“ 

„Was wäre das, Senor?“ 

„Wenn ihr infolge ſeiner Abſtammung gewiſſe, Hoffe 
nungen heget, die nie in Erfüllung gehen können.“ 

„Nie? Wirklich nie?“ 

„Niemals, ſage ich euch! Ihr lebt in euren Erinne⸗ 
rungen, wißt nichts von der übrigen Welt, von dem 
Leben. Ihr träumt. Laßt dieſen Traum einen Traum 
bleiben, da er nie zur Wirklichkeit werden kann! Weiter 
in euch zu dringen, habe ich weder die Abſicht, noch das 
Recht. Ich wollte etwas andres erfahren. Was iſt 
es mit der Spange? Ich bin überzeugt, daß du richtig 
geraten haſt, daß der Tote, deſſen Skalp Antonio Perillo 
beſitzt, dein Bekannter war. Wer iſt dieſer Mann ge⸗ 
weſen?“ 

Anciano zögerte zu antworten, darum fügte der 
Vater Jaguar hinzu: „Ich frage in einer beſtimmten 
Abſicht und nicht etwa aus müßiger Neugier. Eine 
Antwort würde für dich wahrſcheinlich von Vorteil ſein.“ 

„Wollte ich antworten, ſo müßte ich Ihnen eben 
unſer Geheimnis mitteilen.“ 

„Es würde euch nichts ſchaden, wenn du das 
täteſt. Sage mir wenigſtens, wo der Betreffende den 
Tod gefunden hat.“ 

„Ich kenne den Ort nicht genau. 2 

„Auch nicht die Gegend im allgemeinen?“ 

„Die weiß ich allerdings; ſie wird Ihnen aber un⸗ 
bekannt ſein.“ 

„Was mich betrifft, ſo bin ich weiter herumgekom⸗ 
men, als du denkſt.“ 


— 537 — 


„So ſagen Sie, iſt Ihnen ein Ort bekannt, den man 
die Barranca del Homicidio*) nennt?“ 

„Nicht nur bekannt, ſondern ich bin zweimal dort 
geweſen. Ich ſtieg von der Salina del Condor hinauf.“ 

„Ja, von der Salina del Condor. Sie liegt nicht 
weit davon, und ich war viele, viele Male dort.“ 

„Und du biſt überzeugt, daß dein Bekannter ſeinen 
Tod dort gefunden hat?“ 

„Ja.“ 

„Welchen Grund haſt du dazu?“ 

„Ich begleitete ihn bis in die Nähe und mußte zu⸗ 
rückbleiben, um auf ihn zu warten; er wollte das ſo; 
er befahl es mir.“ 

„Ah, er befahl es dir? Wer befiehlt, iſt der Herr, 
und wer gehorcht, iſt der Untergebene, der Diener. Du 
warteteſt vergeblich auf ſeine Wiederkehr?“ 

„Ja. Ich wartete zwei volle Tage lang. Dann 
wurde es mir angſt um ihn. Ich ging ihm nach bis 
an den Ort, den er hatte aufſuchen wollen. Ich ſah ihn 
nicht und fand ihn nicht. Ich ſuchte in allen Tälern und 
Schluchten, auf allen Bergen und Höhen. Ich ging 
heim und holte meine Freunde, damit ſie mir helfen 
ſollten, nachzuforſchen; es war alles vergeblich. Wir 
ſuchten wochenlang und mondenlang, ohne das kleinſte 
Zeichen von ihm zu entdecken. Er mußte verunglückt 
ſein. Heute früh habe ich die Spur gefunden. Er iſt 
ermordet worden.“ 

„Glaubſt du nur deshalb an einen Mord, weil du 
ihn für unüberwindlich gehalten Haft? Oder wüßteſt 
du noch einen weiteren Grund?“ 

„Ja, ich habe einen.“ 

„Welchen?“ 


6) Nordſchlucht. 
May, Das Vermichtnis des Inka. 22 


. ö 


— 8338 — 


„Er hatte Gegenſtände bei ſich, die geeignet waren, 
die Habſucht anzulocken.“ 

„Welcher Art Gegenſtände waren es?“ 

„Das darf ich nicht ſagen.“ 

„Du haſt es nicht nötig, denn ich weiß es: der 
Mann trug Gegenſtände bei ſich, die aus der Zeit der 
Inkas ſtammten und aus Gold oder Silber gefertigt 
waren.“ 

„Senor, wie könnten Sie das wiſſen?“ 

„Ich will aufrichtiger mit dir ſein, als du gegen 
* mich biſt, und dir etwas zeigen.“ 
| Er öffnete fein Lederkoller und zog einen kleinen, 
goldglänzenden Gegenſtand hervor, den er an einer 
Schnur am Halſe hängen hatte. Er band ihn los und 
reichte ihn Anciano hin. Es war eine kleine, außer⸗ 
ordentlich kunſtvoll gearbeitete Schale, die einen Durch⸗ 
meſſer von höchſtens drei Zoll beſaß. 

„Ein Taubecher!“ rief Anciano betroffen aus. „In 
dieſer Schale wurde der Morgentau aus den Kelchen 
der Tempelblumen geſammelt und der Sonne, damit 
fie ihn trinken möge, zum Opfer gebracht.“ 

„Das wußte ich nicht. Der Zweck dieſer Schale 
war mir unbekannt,“ antwortete der Vater Jaguar. 

„Seßor, es iſt ein heiliges, ein ſehr heiliges Gefäß!” 

„Das weißt du ſo beſtimmt? Damit beweiſeſt du, 
daß deine Vorfahren Peruaner waren.“ 

„Ja, das waren ſie,“ geſtand der Alte. 

„Die meinigen waren die Herrſcher des Volkes,“ 
fügte Haukaropora hinzu. „Ich bin der einzige Nach⸗ 
komme von ihnen, und nur ſehr wenig treue Menſchen 
wiſſen davon.“ 

„Ich dachte es. Du beſitzeſt die verborgenen Schätze 
deiner Ahnen?“ 


f 
7 


— 339 — 


„Warum fragen Sie ſo?“ 

„Dieſe Opferſchale ſagt es mir.“ 

„Woher haben Sie dieſe?“ fragte Anciano. „Wie 
ſind Sie in ihren Beſitz gelangt?“ 

„Ich habe fie gefunden.“ 

„Wo?“ 

„Zwiſchen der Salina del Condor und der Bar- 
ranca del Homieidio.“ 

„Dort, alſo dort! Welch eine Entdeckung! Wann 
iſt das geweſen?“ 

„Vor fünf Jahren.“ 

„In welcher Mondeszeit? Können Sie ſich darauf 
beſinnen?“ 

„Ganz genau. Es war am Tage nach dem Voll⸗ 
mond.“ 

„Das iſt richtig! Nur in der Nacht des Vollmonds 

pflegte mein Gebieter in die Schlucht hinabzuſteigen.“ 

Dieſe letzteren Worte waren an den Inka gerichtet. 
Dieſer hatte ſich die Schale geben laſſen, betrachtete ſie, 
küßte ſie und ſagte dann, indem ſein Auge in feuchtem 
Glanz ſchimmerte: „Alſo dieſe Schale hat mein Vater, 
der vorletzte Inka, in den letzten Stunden ſeines Lebens 
bei ſich getragen! Senor, Sie bekommen fie nicht wie⸗ 
der; Sie müſſen ſie mir laſſen. Ich werde Ihnen etwas 
viel Größeres und Wertvolleres dafür geben!“ 

„Behalte ſie! Ich mag nichts dafür, denn ſie hat 
in dir ſeinen rechtmäßigen Eigentümer gefunden.“ 

„Ich danke Ihnen! Aber haben Sie nur dieſe 
Schale gefunden? Nichts weiter, gar nichts weiter?“ 

„Noch mehr! Aber etwas Schreckliches! Vermagſt 
du es zu hören?“ 

„Sprechen Sie, Senor! Ich bin ſtark und immer 
gewöhnt, an den Tod meines Vaters zu denken.“ 


— 340 — 


„So will ich es ſagen: ich fand — ſeine Leiche!“ 

Der Inka ſah lange Zeit vor ſich nieder auf den 
Sattel. Keine Muskel ſeines Geſichts bewegte ſich; aber 
er war bleich, ſehr bleich geworden. Der alte Anciano 
fuhr ſich mit den Händen einigemal über die Augen und 
ſchwieg auch. So ritten die drei eine ganze Weile 
nebeneinander hin, bis der Alte endlich das Schweigen 
brach und den Vater Jaguar mit bebender Stimme 
fragte: „Es gab keine Spur von Leben mehr in ihm?“ 

„Er war tot!“ 

„Und wie war er geſtorben? Konnten Sie das 
ſehen? Konnten Sie entſcheiden, ob ein Mord vorlag 
oder ob ein ehrlicher Kampf ſtattgefunden hatte?“ 

„Es hatte keinen Kampf gegeben. Es lag ein Mord 
vor, ein heimtückiſcher Meuchelmord. Der Tote hatte 
eine Kugel in den Rücken bekommen.“ 

„Und das Haar, das Haar, ſein ſchönes, herrliches 
Haar, das viel länger war als das meinige?“ 

„Es war weg, war fort. Der Ermordete war 
ſkalpiert worden.“ 

Keiner von beiden, weder Inka noch Anciano, 
ſprach eine Klage aus. Sie ſchwiegen jetzt wie vorhin, 
um Herr ihrer Gefühle zu werden. Dann begann der 
Alte wieder: „Erzählen Sie uns, wie das gekommen 
iſt! Wir müſſen alles, alles erfahren, ſelbſt die geringſte 
Kleinigkeit!“ | 

„Es iſt da nicht viel zu erzählen. Ich kam damals 
nach der Salina del Condor, um mich und mein Maul⸗ 
tier da auszuruhen, denn ich war faſt die ganze Voll⸗ 
mondsnacht hindurch geritten. Während mein Maul⸗ 
tier von dem ſpärlichen Graſe naſchte und ich, an der 
Erde ſitzend, ein Stück Fleiſch verzehrte, hörte ich Huf⸗ 
ſchlag hinter mir. Ich drehte mich um und ſah einen 


— 341 — 


Reiter, der, von der Höhe herabkommend, um eine 
Felſenecke bog. Als er mich erblickte, ſtutzte er für 
einen Augenblick; dann gab er ſeinem Tier die Sporen 
und jagte weiter, an mir vorüber.“ 

„Und ſagte auch kein Wort, keinen Gruß?“ 

„Keine Silbe! Es fiel mir auf, daß er im Vorüber⸗ 
reiten das Geſicht von mir abwendete, gerade ſo, als 
ob ich es nicht ſehen ſolle.“ 

„Und Sie haben es auch nicht geſehen?“ 

„Nur zwei oder drei Sekunden lang, als er um die 
Ecke kam. Dann wendete er es, wie ſchon geſagt, von 
mir ab. Ich ſah, daß er die gewöhnliche, landläufige 
Kleidung trug und mit einem Gewehr bewaffnet war. 
Er hatte eine Decke hinter ſich aufs Pferd geſchnallt; 
dieſes Bündel war ſo dick, daß ich annehmen mußte, 
es beſtehe nicht aus der Decke allein. Es ſchien noch 
andre Gegenſtände zu enthalten. Welche, das konnte 
ich natürlich nicht wiſſen.“ 

„Kam er nahe an Ihnen vorüber?“ 

„Nein. Es waren wohl an die fünfzig Pferde⸗ 
längen. Er machte einen ſo unheimlichen Eindruck auf 
mich, daß ich froh war, als ich ihn nicht mehr ſah. 
Gegen Mittag, als mein Maultier ſich erholt hatte, ritt 
ich weiter, nach der Barranca del Homieidio hinauf. 
Ich mochte ungefähr die Hälfte des Weges zurück⸗ 
gelegt haben, als ich auf die Leiche ſtieß. Sie lag in 
einer Blutlache und machte mit dem ſkalpierten Schädel 
einen gräßlichen Eindruck. Ich unterſuchte ſie und war 
natürlich ſofort der feſten Überzeugung, daß der Menſch, 
den ich geſehen hatte, der Mörder ſei.“ 

„Wie war der Tote gekleidet?“ 

„Ganz in Leder, ſo, wie du und ich.“ 


— 842 — 


Das ſtimmt. Wir trugen ſtets ſolche Anzüge, 
weil leichtere im dichten Wald ſchnell zerreißen. Was 
hatte er ſonſt noch bei ſich?“ 

„Nichts, gar nichts. Er war vollſtändig RN 
worden. Aber als ich, um ihn zu unterfuchen, feinen 
Körper hin und her wendete, ſah ich etwas blinken, 
was unter ihm im Blute gelegen hatte. Es war dieſe 
Opferſchale, die ich ſeitdem ſtets bei mir getragen habe.“ 

„Was haben Sie mit der Leiche gemacht?“ 

„Ich konnte ſie nicht liegen laſſen; ſie wäre eine 
Beute der Raubtiere geworden. Ich ſchaffte ſie in eine 
nahe Felſenſpalte und verſchloß dieſe mit Steinen. Das 
Blut löſchte ich mit Sand aus. Dann aber machte ich 
mich auf, um den Mörder zu verfolgen.“ 

„Aber Sie holten ihn nicht mehr ein?“ 

„Nein. Als ich den Mann ſah, war es am frühen 
Vormittag. Zu Mittag ritt ich von der Salina fort, 
und mehrere Stunden ſpäter fand ich die Leiche. Ich 
konnte beim beſten Willen und bei der größten Eile an 
dieſem Tag nur bis zur Salina zurück und eine kurze 
Strecke weiter kommen. Ich ſah die Spur des Reiters 
und folgte ihr, ſolange es noch Tageslicht gab; beim 
Mondenſchein aber war es unmöglich, die Fährte zu er⸗ 
kennen, denn es gab kein Gras, ſondern nur Sand, 
Stein und Geröll. Als der Tag graute, ging es weiter. 
Ich brannte darauf, den Menſchen einzuholen, mußte 
aber ſehr bald einſehen, daß dies unmöglich war. Er 
hatte ſich wohl geſagt, daß ich die Leiche finden würde, 
und war die ganze Nacht geritten, um einen möglichſt 
großen Vorſprung zu bekommen. Dabei hatte er den 
Weg über felſiges Terrain genommen, um keine Spur 
zurückzulaſſen. Es gehörte meine ganze Übung und Auf⸗ 
merkſamkeit dazu, ſie feſtzuhalten. Das erforderte aber 


— 8343 — 


Zeit. Hundertmal mußte ich abſteigen, um das Geſtein 
zu unterſuchen, und zehnmal kehrte ich wieder um, weil 
ich eine falfhe Richtung eingeſchlagen hatte. Am 
Abend dieſes Tages fand ich, daß noch kein halber 
Tagesritt hinter mir lag. Während der darauf folgen⸗ 
den Nacht mußten die ſpärlichen Spuren vollends un⸗ 
ſichtbar werden. Ich ſah ein, daß ich ihn nicht ein⸗ 
holen könne, und mußte die Verfolgung aufgeben.“ 

„Schade, jammerſchade, Seüor! Wären Sie mit 
ihm nach der Salina zurückgekommen, ſo hätten Sie 
mich dort gefunden, und wir hätten zu Gericht über 
ihn geſeſſen. Sie hatten alle Spuren der Tat verwiſcht, 
und ſo konnte ich nichts entdecken. Halten Sie es für 
möglich, die Spalte zu finden, worin Sie die Leiche be⸗ 
graben haben? 

„Ja.“ 

„Ich höre, Sie wollen hinauf und über das Ge⸗ 
birge. Welchen Weg ſchlagen Sie ein?“ 

„Eigentlich wollte ich weiter nördlich; aber bei 
einem ſolchen Fall darf es auf einen kleinen Umweg 
nicht ankommen. Ich werde euch zu der Stelle führen.“ 

„Wir danken Ihnen von Herzen, Geüor. Der 
Tote darf nicht in dieſer Weiſe liegen bleiben; er muß 
nach der Art und Gebräuchen ſeiner Ahnen beſtattet 
werden.“ 

„Du gibſt alſo zu, daß er ein Inka, ein Nachkomme 
der Herrſcher war?“ 

„Ja. Nun wäre es die größte Undankbarkeit, dies 
Ihnen zu verſchweigen.“ 

„Und einen verborgenen Schatz hat er gehabt?” | 

„Ja. Als ſein Ahne mit dem meinigen und einigen 
Getreuen vor den Spaniern floh, gelang es ihnen, viele 
Koſtbarkeiten mit ſich zu nehmen. Dieſe wurden in der 


— 344 — 


Barranca del Homieidio verſteckt. Die Flüchtlinge 
und ihre Nachkommen lebten einſam in den Bergen, 
und zuweilen ging der Inka nach dem Verſteck, um eini⸗ 
ges Gold zu holen, das verkauft wurde, weil ſonſt er 
und die Seinigen nicht genug zu leben gehabt hätten. 
Das geſchah ſtets in einer Vollmondsnacht. Mein Herr 
ift von feinem letzten Gang nicht wiedergekommen.“ 

„Kennſt du das Verſteck?“ 

„Ja.“ 

„Biſt du ſeitdem dort geweſen?“ 

„Ich war dort, habe es aber nicht geöffnet, denn 
ich beſitze kein Recht dazu.“ 

„Aber Hauka beſitzt dieſes Recht?“ 

„Noch nicht. Erſt wenn die Erde ihren Lauf um 
die Sonne vollendet hat, darf er ſein Erbe antreten. 
Dies wird nach zwei Wochen der Fall fein.” 

„Aber wie kommt er da zu der koſtbaren Streit⸗ 
axt, die er beſitzt?“ | 

„Er hat fie von feinem Vater übernommen, der 
ſte damals daheim ließ, als er zum letztenmal nach der 
Barranka ging. Wir hatten noch einige andre, kleinere 
Gegenſtände, die wir verkauften, um die Reife machen 
zu können, von der wir jetzt heimkehren. Daß wir auf 
dieſer den Mörder entdecken würden, hätte ich nicht ge⸗ 
dacht. Seßor, haben Sie eine Abrechnung mit dieſem 
Antonio Perillo?“ 

„Nein.“ 

„Oder ein andrer von Ihren Begleitern?“ 

„Höchſtens Senor Morgenſtern, dem er nach dem 
Leben trachtete.“ 

„Dieſes kleine Männlein wird nicht nach ſeinem 
Blut dürſten. Darum bitte ich, den Mörder uns zu 
überlaſſen, wenn er in unſre Hände fällt!“ 


— 846 — 


„Ich habe nichts dagegen, vorausgeſetzt, daß wir 
uns nicht irren und er es wirklich geweſen tft.” 

„Wenn er das Kopfhaar meines Herrn beſitzt, ſo 
war er es. Und dieſer Leutnant Verano wird uns wohl 
nicht belogen haben.“ 

„Gewiß nicht. Übrigens war ich, ſchon ehe ich 
von dem Skalp hörte, überzeugt, daß Perillo der Mör⸗ 
der iſt. Ich habe ihn da droben an der Salina nur 
für einige Sekunden geſehen und es ſind ſeitdem fünf 
Jahre vergangen; aber als ihn mir der Zufall kürzlich 
in Buenos Aires vor die Augen führte, erkannte ich ihn 
ſofort wieder.“ 

„Haben Sie etwas zu ihm gejagt?“ 

„Ich habe ihn an die Salina del Condor erinnert 
und er zuckte zuſammen!“ 

„Auch wir werden ihn noch an die Salina del Con- 
dor erinnern!... ..“ ſagte der Inka. 


Elftes Kapitel 
Bei den Cambas 


Man war ſehr ſcharf geritten. Daher kam es, daß 
der „Harte Schädel“ ſchon zwei Stunden vor Abend 
meldete, daß man den Palmenſee ſehr bald zu Geſicht be⸗ 
kommen werde. 

„Wir reiten nicht ganz hin,“ entſchied der Vater 
Jaguar. „Es könnten doch ſchon Abipones dort ſein, 
und ich will nicht, daß wir geſehen werden. Die Feinde 
dürfen keine Ahnung davon haben, daß wir uns auf 
ihren Empfang vorbereiten. Wie weit iſt das erſte Dorf 
der Abipones von hier entfernt?“ 

„Wenn wir ſo ſchnell reiten wie bisher,“ ant⸗ 
wortete der Häuptling, „werden wir es bald nach Ein⸗ 
bruch der Dunkelheit erreichen.“ 

„Das iſt vortrefflich. Wir reiten im Finſtern vor⸗ 
über und machen erſt ſpäter Lager.“ 

Der Ritt wurde alſo fortgeſetzt, doch nicht in der bis⸗ 
herigen Richtung, die eine ſüdweſtliche geweſen war; 
man bog nach Nordweſten um. Es ging wohl noch eine 
Stunde lang über ſandige Wüſte, dann gelangte man 
wieder über Raſen, der nach und nach immer dichter und 
kräftiger wurde. Später ſah man zu beiden Seiten 
hochbäumige Waldung liegen. Der Führer fand mit 


* 


— 847 — 


ſtaunenswerter Sicherheit die von der Natur her⸗ 
geſtellten Durchgänge. 

Es war heute ſternenhell, was den Marſch ſehr er⸗ 
leichterte. Bei völliger Dunkelheit wäre es wohl ſchwer 
geweſen, die vielen Pferde in Ordnung zu halten. Viel⸗ 
leicht drei Viertelſtunden nach Sonnenuntergang hörte 
man eigentümliche Töne, die der Wind von rechts her⸗ 
überbrachte. Es klang wie Katzengeſchrei, untermiſcht 
mit Schlägen, als ob Teppiche ausgeklopft würden. 

„Wat mag dat fein?” fragte Fritze feinen Herrn. 
„Dat ſind keine menſchlichen Stimmen.“ ö 

„Von lebenden Weſen kommen dieſe Töne jeden⸗ 
falls,“ antwortete Morgenſtern bedächtig. „Nun ent⸗ 
ſteht die Frage, zu welcher Klaſſe und Ordnung dieſe 
Tiere gehören. Wenn ich die Höhe und Tiefe dieſer 
Stimmen und ihren Farbenklang richtig beurteile, ſo 
kann ich nicht umhin, mich der Anſicht zuzuneigen, daß 
ſie menſchlichen Kehlen allerdings wohl kaum zu ent⸗ 
ſtammen ſcheinen.“ 
| „Dieſe Anſicht iſt falſch,“ belehrte ihn der Vater 

Jaguar, der jetzt in der Nähe der beiden ritt. „Was 
wir hören, ſind die Kriegsgeſänge der Abipones.“ 

„Und die Hiebe, die es bei dieſe Jelejenheit zu ſetzen 
ſcheint?“ 

„Das ſind die Kriegspauken, welche geſchlagen 
werden.“ 

„Na, To 'ne Pauke möchte ick mich 'mal be⸗ 
trachten.“ | 

„Es find die einfachſten Inſtrumente, die man ſich 
denken kann: ausgehöhlte Kürbiſſe, über deren Oeffnung 
ein Fell geſpannt iſt. Wir wiſſen nun, daß ſie ſich zum 
Angriff rüſten und alſo von dem Kommen der Weißen 
ſchon unterrichtet find. Das tft wertvoll für uns. Wol⸗ 


— 848 — 


len doch einmal nachforſchen, wie viele Krieger un⸗ 
gefähr ſich in dieſem Dorf befinden.“ 

Er ließ den Zug halten und ſchickte zwei Kund- 
ſchafter ab, Geronimo, feinen Liebling, auf den er ſich 
verlaſſen konnte, und El Picaro, den Schalksnarren, 
der auch ſehr gut für ſolche Dinge geeignet war. Links 
dehnte ſich die dunkle Linie des Waldes hin; rechts lag 
offenes Land mit Strauchwerk, zwiſchen dem man fernen 
Feuerſchein bemerken konnte. Die beiden Kundſchafter 
blieben faſt eine Stunde lang fort; dann kehrten ſie 
zurück, und zwar nicht allein, ſondern in Begleitung. 
Dieſe Begleitung beſtand in zwei Rindern, von denen 
jeder eins hinter ſich herzog. Sie hatten nicht nur ge⸗ 
kundſchaftet, ſondern auch für Proviant geſorgt. Das 
Dorf war nicht groß: es konnte höchſtens hundert Ein⸗ 
wohner haben, die Frauen und Kinder mitgerechnet, und 
doch hatten dieſe beiden Lauſcher wenigſtens hundert be⸗ 
waffnete Krieger gezählt. Man ſchien ſich alſo von be⸗ 
nachbarten Dörfern hier zu verſammeln. 

„Schön!“ meinte der Vater Jaguar befriedigt. 
„Das beweiſt, daß wir uns auf der richtigen Fährte be⸗ 
finden. Die beiden Rinder ſind uns ſehr willkommen. 
Daß wir ſie nicht bezahlt haben, macht mir keine 
Schmerzen, denn die Abipones haben ſie ja doch unſeren 
Verbündeten geſtohlen. Nun aber raſch weiter!” 

Als man noch ein halbe Stunde geritten war, wurde 
angehalten und hinter einem Vorſprung des Waldes 
Lager gemacht. Da konnte man Feuer anbrennen, ohne 
befürchten zu müſſen, daß dieſe geſehen würden. Die 
beiden Rinder wurden geſchlachtet und zerlegt, um ver⸗ 
teilt zu werden. Es erhielt ein jeder ſo viel, daß er 
mehrere Tage davon zehren konnte. Die Pferde wurden 
freigelaſſen. Obgleich die Glocke der Madrina ſie zu⸗ 


— 849 — 


ſammenhielt, verſäumte Hammer es nicht, ihnen zwei 
Wächter zu geben. Später, als man ſich geſättigt hatte, 
wurden die Feuer ausgelöſcht, und man legte ſich zur 
Ruhe. 3 

Sobald der Tag zu grauen begann, wurde auf⸗ 
gebrochen. Von jetzt an zeigte ſich das Land ſehr ab⸗ 
wechſlungsreich, aber die Abwechſlung war ſtets die⸗ 
ſelbe: dichter Wald mit einzelnen offenen Durchbrüchen 
und dann wieder größere oder kleinere graſige Flächen, 
an deren Rändern die Dörfer lagen. 

Dieſe letzteren beſtanden durchweg aus mit Schilf 
und ähnlichem Material gedeckten Erdhütten, deren 
Inneres einen einzigen Raum bildete. Dabei gab es 
kleine Felder, auf denen Mais, Hirſe, Mandioca, Bohnen, 
Quinoa, Tomaten, Erdnüſſe, Bataten, Melonen und 
Kürbiſſe gebaut wurden. 

Man hielt ſich ſelbſtverſtändlich von dieſen Dörfern 
fern. Das Glück war den Weißen inſofern günſtig, als 
ihnen weder heute noch am nächſten Tage auch nur ein 
einziger Abipone begegnete; er wäre freilich ſofort ge⸗ 
fangen und mitgenommen worden. Einige der Dörfer, 
an denen man vorüberkam, ſchienen leer zu ſtehen. Die 
Bewohnerſchaft hatte ſich des geplanten Kriegszugs 
wegen an beſonderen Orten zuſammengezogen. 

Am Abend des zweiten Tages war das Gebiet der 
Abipones zurückgelegt und am nächſten Morgen erreichte 
man das erſte kleine Cambasdorf, deſſen Bewohner von 
der ihnen drohenden Gefahr benachrichtigt wurden. Der 
Häuptling ſandte die jungen Männer nach den verſchie⸗ 
denſten Richtungen aus, um die waffenfähigen Leute der 
andern Ortſchaften ſchleunigſt nach dem großen Dorf 
am „klaren Bach“ zu beordern. Die fernliegenden Dör⸗ 
fer hatten von den Feinden nichts zu befürchten; anders 


— 8350 — 


aber ſtand es mit denjenigen Orten, die in der Nähe der 
vorausſichtlichen Marſchroute der Abipones lagen. Dieſe 
mußten verlaſſen werden, und die Bewohner zogen ſich 
mit den Kriegern nach dem „klaren Bach“ hin, wobei ſie 
nicht verſäumten, ihr ganzes Eigentum mitzunehmen, 
was freilich nicht viel ſagen will. 

Am Vormittag dieſes dritten Tages gelangte der 
Reiterzug an ein großes, aber ſeichtes Waſſer, deſſen 
Ufer ſehr moraſtig waren. Wo es eine feſtere Stelle 
gab, hatten ſich Bäume und Sträucher entwickelt, ſonſt 
aber ſah man nur dichtes Schilf und Rohr, das eine 
Höhe von fünf Metern erreichte. Der Häuptling wen⸗ 
dete ſich an den Doktor Morgenſtern und ſagte, indem 
er nach dem Waſſer deutete: „Das iſt El Pantano de 
los Huesos, der Sumpf der Knochen, von dem ich Ihnen 
gefagt habe, Senor!“ 

„Das iſt er?“ antwortete der Kleine, von den 
Worten des Roten wie elektriſiert. „Kann man die 
Knochen ſehen?“ 

„Viele ſind vermodert; diejenigen aber, die zuletzt 
gefunden worden find, werden noch daliegen.” 

„So muß ich hin, fte zu betrachten. Wir müſſen 
halten. Hören Sie, Senores, halten, halten!“ 

Er hielt ſein Pferd an und rief die letzten Worte ſo 
laut, daß ſie vom Anfang bis zum Ende des Zuges zu 
hören waren. 

„Das geht nicht,“ antwortete der Vater Jaguar. 
„Wir können Ihrer alten Knochen wegen nicht unfre 
koſtbare Zeit verlieren.“ 

„O, die Knochen ſind weit koſtbarer als die Zeit, 
von der Sie ſprechen. Wenn Sie nicht warten wollen, 
ſo komme ich nach; aber ſehen muß ich die Knochen; 
eher zieht mich kein Elefant von hier fortl“ 


— 851 — 


Hammer ſah ein, daß es beſſer ſei, eine kleine Rück⸗ 
ſicht zu üben, und antwortete darum: „Gut, ſo bleiben 
Sie, aber ja nicht länger als höchſtens eine halbe Stunde; 
dann müſſen Sie doppelt ſchnell reiten, um uns ein⸗ 
zuholen. Der Häuptling mag Ihnen einen ſeiner Leute 
als Führer geben.“ 

Jetzt gab ſich der Kleine zufrieden. Er bekam einen 
der vier Cambas, der den Sumpf kannte und den Ort 
wußte, wo die Knochen zu ſehen waren. Selbſtver⸗ 
ſtändlich blieb Fritze bei ſeinem lieben Herrn zurück. 
Der Zug entfernte ſich und die drei waren allein. 

Der Camba ritt auf das Waſſer zu und wußte da⸗ 
bei alle trügeriſchen Stellen wohl zu vermeiden. Dort 
ſtieg er ab und band ſein Pferd an einen Strauch. Da⸗ 
bei ſagte er etwas, was jedenfalls eine Aufforderung 
an die beiden andern ſein ſollte, das gleiche zu tun, doch 
verſtanden ſie ihn nicht, da er ſich ſeiner Sprache be⸗ 
diente, deren ſie nicht mächtig waren. Es ſtellte ſich nun 
heraus, daß dieſer Mann zwar den „Sumpf der 
Knochen“ genau kannte, dafür aber nur ſehr wenige 
Worte Spaniſch verſtand. 

„Dat kann jut werden,“ meinte Fritze, indem er ſich 
vom Pferd ſchwang, um es anzubinden und dann ſeinem 
Herrn zu helfen, aus dem Sattel zu kommen. „Jetzt 
verſtehen wir kein Chineſiſch, und dieſer Herr Jevatter 
iſt nicht aufs Türkiſche einjeübt. Ick bin bejierig, wat 
dat vor ein inniges Verſtändnis ergeben wird.“ 

„Wir werden uns durch Pantomimen verſtändigen,“ 
tröſtete ihn der Doktor. „Mit Pantomimen kommt man 
durch die ganze Welt. Dieſe Erfahrung, lateiniſch 
Peritia geheißen, habe ich ſchon oft gemacht. Achte nur 
auf mich, dann braucht dieſer gute Mann nicht unfre 
und wir brauchen nicht ſeine Sprache zu verſtehen.“ 


— 852 — 


Als der Rote fah, daß die beiden ihre Pferde an⸗ 
gebunden hatten, winkte er ihnen, ihm zu folgen, und 
fchetrt in das Schilf hinein, wo, wie man deutlich ſah, 
vor ihm ſchon andre gegangen waren. Dabei deutete 
er nach rechts und links in die Schilfdichtung und 
fagte: „Precaucion — Crocodilos — Vorſicht — Kro⸗ 
kodile!“ 

„Wat? Hier ſollen Krokodile find?” meinte Fritze. 
„Da müßte man doch wat von ſie ſehen. Mir nu er 
nicht bange machen.“ 

Aber kaum hatte er dieſe Worte geſagt, fo en 
er mit einem Schreckensruf zur Seite, denn ganz nahe 
neden ihm kam der Kopf eines ſolchen Tieres aus dem 
Schilf zum Vorſcheine. Es glotzte ihn aus den kleinen 
Augen an, und ſchlug die offenen Kiefer zuſammen, daß 
es einen Ton gab, als ob zwei Bretter zuſammengeklappt 
wurden. 

„Er hat wirklich recht,“ fuhr er fort, als er ſich in 
Sicherheit befand. „Wenn wir nur nicht für die vor⸗ 
ſintflutlichen Knochen unſre eijenen herjeben müſſen!“ 

„Fürchte dich nicht,“ meinte ſein Herr, der, ſobald 
es ſich um fein Lieblingswerk handelte, keine Angſt 
kannte. „Dieſe Tiere ſind viel zu träge, als daß ſie uns 
beläſtigen könnten. Sie riechen ſchlecht; das iſt das ein⸗ 
zige an ihnen, was unangenehm iſt.“ 

„Na, der Rachen mit die Zähne iſt auch nicht an⸗ 
jenehm. Ick meinesteils will fo 'ne Kreatur lieber 
riechen, als von ihr jefreſſen werden.“ 


Sie gelangten durch das Schilf auf eine Art ſpitze 


Halbinſel, die in das Waſſer hineinragte. Sie ſchien 
aus feſtem Land zu beſtehen, denn ſie trug Bäume und 
Sträucher, und bildete ein ſcharf geſchnittenes und nicht 
ſumpfiges Ufer. Unter den Bäumen war die Erde an 


— 358 — 


einigen Stellen aufgewühlt, und da lagen ſie denn, die 
der kleine Gelehrte ſuchte — Knochen von allen Ge⸗ 
ſtalten und Größen, teils ganz, teils zerbrochen, teilweiſe 
noch hart und feſt, teilweiſe auch ſchon vom Moder an⸗ 
gegriffen. 

„Heureka!“ ſchrie der Kleine auf, indem er ſich 
förmlich auf die Knochen ſtürzte. „Da ſind ſie; da liegen 
ſie! Fritze, komm und ſieh die Zeugen und Ueberreſte 
einer Periode, in der an dich noch nicht zu denken war!“ 

„Dat finde ick ſehr vernünftig,“ antwortete der 
Stralauer gelaſſen; „denn wenn damals an mir zu 
denken jeweſen wäre, ſo könnten Sie mir heutigestags 
nun auch einſammeln und als verfloſſene Gigantoche- 
lonia aus. die einzelnen Gliedmaßen ins Janze zu⸗ 
ſammenſetzen.“ 

„Sei kein Tor und ſchwätze nicht ſolchen Unſinn!“ 
ſagte Morgenſtern, indem er ganz entzückt einen Knochen 
nach dem andern aufnahm, um ihn zu betrachten und 
zu betaſten. „Hier öffnet ſich ein großartiger Blick auf 
die Entwicklungsſtufen der Daſeinsformen. Schau ein⸗ 
mal dieſen Schädelteil! Ich wette, es iſt das Os occipitis 
eines Megatheriums. Wir werden alle dieſe Knochen 
einpacken und mitnehmen, damit ich ſie, wenn wir am 
klaren Bach“ angekommen find, noch heute unterſuchen 
und beſtimmen kann. Lieber Freund, hat man dieſe 
Knochen hier an dieſer Stelle gefunden oder ſind ſie von 
einem andern Ort hergeſchafft worden?“ 

Dieſe Frage war an den Indianer gerichtet, der 
aber nicht mehr zu ſehen war; dafür hörte man ſeine 
rufende Stimme. | 

„Er will uns bei ſich haben. Kommen Siel“ 
meinte Fritze. 

may, Des Bermäcteis des Inka 28 


— 354 — 


„Nein, noch nicht,“ antwortete ſein Herr. „Ich 
habe hier noch nicht alles geſehen.“ 

„So werde ick mal zu ihm jehen, um zu ſehen, 
wat er zu rufen hat. Verſtehen kann man ihn ja nicht.“ 

Er entfernte ſich in der Richtung, aus der die Rufe 
des Camba zu hören waren. Der Doktor ſah ſich gar 
nicht nach ihm um. Er war mit ſeinen Schätzen ſo be⸗ 
ſchäftigt, daß er für gar nichts andres Augen hatte. Er 
wühlte in den Überreſten und ſortierte herüber und 
hinüber, bis er hinter ſich die Stimme Fritzens hörte: 
„Laſſen Sie die Knöchelchens hier liejen! Da drüben 
jibt's eine ganz andre Sorte. Da habe ick eine Probe 
mitjebracht; ſchauen Sie ſich die mal an!“ 

Als Morgenſtern zu ihm aufblidte, ſah er in feinen 
Händen ein wirklich rieſiges und ſehr gut erhaltenes 
Schenkelbein. Er ſprang mit einem Jubelruf auf, riß 
es an ſich, betrachtete es mit weit geöffneten Augen erſt 
ſprachlos und ſchrie dann entſetzt: „Fritze, weißt du, 
was das iſt? Weißt du es?“ 

„Ja; natürlich iſt mich dieſer Jegenſtand bewußt. 
Wenn ick mir nicht irre, wird's wohl ein Knochen ſind.“ 

„Du biſt ein Idiot, ein reiner Idiot! Nur immer 
von Knochen und wieder von Knochen ſprechen! Ja, 
es iſt ein Knochen, aber was für einer! Denke dir, 
Fritze, wir haben hier das Os femoris von einem 
Glyptodon vor uns! Welch eine Entdeckung! Dieſes 
eine Bein iſt allerdings viel, viel wertvoller als alle 
Knochen, die hier beiſammenliegen.“ 

„So? Dann will ick jratulieren, denn da drüben 
jibt’3 noch mehrere ſolche Beine.“ 

„Wirklich? Wo, wo?“ 

„Da drüben, wo ick eben war.“ 


u FB 


Fritze deutete mit der Hand in die Richtung, die 
er meinte; ſein Herr eilte in derſelben fort, indem er 
ſagte: „Da muß ich hin, ſogleich, augenblicklich!“ 

„Halt!“ rief ihm der Stralauer nach. „Nicht jerade 
aus; Sie müſſen nach links umbiegen!“ 

Aber der kleine, begeiſterte Mann wollte keine Se⸗ 
kunde verlieren, ſondern möglichſt ſchnell an Ort und 
Stelle gelangen; darum drang er in gerader Richtung in 
das dichte Schilf ein. Einige Augenblicke ſpäter gab es 
ein nicht mißzuverſtehendes Geräuſch, und dann hörte 
man den Kleinen um Hilfe rufen. Auch Fritze war zu⸗ 
rückgegangen, aber auf dem ſicheren Weg; er ſah den 
Indianer jenſeits ſtehen und eifrig abwinken; darauf 
erſcholl der Hilferuf. Der treue Diener dachte nicht an 
die eigene Gefahr, ſondern ſprang ſchnell in das Schilf 
ein. Als er fünf oder ſechs Schritte zurückgelegt hatte, 
bot ſich ihm ein beängſtigender Anblick. Das Waſſer 
hatte eine ſchmale Bucht eingefreſſen, die durch Rohr, 
Schilf und Binſen ſo verdeckt worden war, daß Morgen⸗ 
ſtern ſie nicht bemerkt hatte. Er war hineingeſtürzt und 
ſteckte nun bis an den Hals im Waſſer und im Schlamm. 
Das war nicht das ſchlimmſte; gefährlicher, viel gefähr⸗ 
licher war ein andrer Umſtand. Nämlich es arbeitete 
ſich, von dem Geräuſch des Falles herbeigerufen, ein 
Krokodil in die Bucht, die glücklicherweiſe nur mit einem 
ſchmalen Graben zu vergleichen war. Dieſer Mangel 
an der nötigen Breite hatte zur Folge, daß das Tier 
ſich ſeiner Beute nur langſam nähern konnte; doch ar⸗ 
beitete und ſchob es ſich mit gefräßigem Eifer weiter und 
weiter heran, ſo daß es, als Fritze kam, mit der Spitze 
ſeines Rachens nur noch drei Fuß von Morgenſtern ent⸗ 
fernt war. Dieſer arbeitete zwar auch, wobei er immer⸗ 
fort ſchrie, mit den Armen und Beinen, um der ſchreck⸗ 


— 856 — 


lichen Gefahr zu entgehen, ſank aber deſto tiefer in den 
Schlamm ein, der ihn nicht loslaſſen wollte. Fritze ver⸗ 
lor keinen Augenblick die Geiſtesgegenwart. Er hatte 
zum Glück ſein Gewehr umhängen, während Morgen⸗ 
ſtern das ſeinige bei den Pferden gelaſſen hatte; er riß 
es vor, brach ſich ſchnell bis zur Unglücksſtätte Bahn, 
hielt die Mündung der Beſtie gerade vor das Auge und 
drückte ab. Der Schuß krachte, das Tier ſchnellte vorn 
empor, kam um einen Fuß weiter vorwärts, blieb dann 
aber liegen. Fritze gab ihm auch noch den Inhalt des 
zweiten Laufes in das ausgeſchoſſene Auge und rief dann, 
indem er tief aufatmete, aus: „Jelungen, vollſtändig 
jelungen! Dat war jerade der letzte Augenblick vons 
vierte Rejiment! Der Walfiſch ſitzt feſt; nun wollen wir 
den Jonas herausangeln. Faſſen Sie mein Jewehr, 
und jreifen Sie feſt zul Ick ziehe Ihnen aus dat Still⸗ 
verjnügen heraus.“ 


Morgenſtern hielt den ihm zugereichten Kolben des 
Gewehrs krampfhaft feſt, und Fritze zog aus allen Kräf⸗ 
ten an dem Lauf; aber der tückiſche Schlamm wollte ſein 
Opfer nicht ſo ſchnell hergeben. Da kam der Indianer 
und half mit. Den vereinigten Kräften gelang es nun, 
den verunglückten Gelehrten zu befreien. 


Aber wie ſah er aus, als er nun triefend und duf⸗ 
tend vor Fritze ſtand! Dieſer immer kurz entſchloſſen, 
nahm ihm den vorher ſo ſchön roten Poncho von den 
Schultern, um ihn aus⸗ und abzuſchütteln, und polterte 
dabei in liebevoll beſorgter Weiſe: „Wat iſt Sie denn 
einjefallen, da rinzuſpringen? Dat hätte noch lange 
Zeit jehabt. Man muß nicht ſogleich jede Jelegenheit 
ſofort benützen! Ick habe Ihnen doch zujerufen, nicht 
jeradeaus, ſondern nach links zu jehen!“ | 


— 837 — 


„Aber der Indianer winkte mir doch!“ entſchuldigte 
ſich der Paläontolog, indem er beide Arme und Hände 
mit den ausgeſpreizten zehn Fingern weit von ſich 
ſtreckte. N 

„Abjewinkt hat er, aber doch nicht zujewunken! 
Sie dachten mit den Pantomimen durch die janze Welt 
zu kommen, und wohin ſind Sie jeraten? Nun kann ick 
Ihnen waſchen und ſpülen und ausringen und an die 
Sonne hängen und mit Ohdekarnallje einſpritzen, um 
Ihnen zur früheren Sauberkeit und zum alten menſchen⸗ 
würdigen Odör zu verhelfen! Wiſſen Sie, wat ik Ihnen 
vorſchlagen werde?“ 

„Was denn, mein lieber Fritze?“ fragte der Dok⸗ 
tor kleinlaut. | 

„Wir haben gleiche Anzüge und find auch von der⸗ 
ſelbigen Jeſtalt. Sie werden mir Ihr Habit verehren, 
wofür ick Ihnen dat meinige offeriere.“ 

„Das geht nicht, Fritze. Das meinige iſt ja naß und 
ſchmutzig, lateiniſch mit udus und limosus ausgedrückt.“ 

„So! Und wenn der Herr naß iſt, ſo ſoll der Diener 
trocken ſind? Dat wäre mir eine ſchöne Dienſtboten⸗ 
und Jeſindewirtſchaft! Da hinten, wo wir vorhin 
waren, jibt's helles, reines Waſſer. Da will ick den 
Schlamm ſchon herunterbekommen. Ick habe Ihnen bis⸗ 
her jehorcht; nun können Sie auch mich einmal folgen.“ 

Er zog ihn mit ſich nach der Landzunge, wo der 
Umtauſch der Anzüge vor ſich ging. Bald hatte Fritze 
den zwar gereinigten, aber noch naſſen Anzug an, wäh⸗ 
rend Morgenſtern den trockenen trug. Dieſer letztere 
hatte erſt jetzt Zeit und Ruhe, das Krokodil genau zu 
betrachten; er ſchüttelte dem Stralauer die Hand und 
ſagte: „Ich verdanke dir mein Leben, Fritze; hoffentlich 
kann ich es dir vergeltenl“ 


— 358 — 


„Darauf war's nicht anjefangen. Wenn ick auch 
"mal in den Schlamm jerate, angeln Sie mir wieder her⸗ 
aus; dann ſind wir quitt. Wat aber wird nun mit die 
großen Knochens, wegen denen Sie in die Verſenkung 
jingen?“ 

„Die — die — werde ich mir natürlich anſehen 
müſſen, ſelbſt wenn ich fie dann für einſtweilen liegen 
laſſe.“ 
| Dieſer Zufag und der Ton, in dem er dieſe Worte 
ſprach, ließen vermuten, daß ſeine Begeiſterung um viele 
Grade geſunken ſei. Die Nähe des Krokodilrachens war 
nicht ohne Einfluß geblieben. Fritze führte ihn nach jener 
Stelle, wo ſich ihm allerdings ein Anblick bot, dem ſeine 
augenblickliche Niedergeſchlagenheit nicht zu widerſtehen 
vermochte. Dennoch fragte er in ungewöhnlich ruhigem 
Ton: „Meinſt du, daß es jetzt hier Leute gibt, die ſich 
heute oder morgen dieſer Knochen bemächtigen könnten?“ 

„Nein. Hier jibt's nur Indianer, und wat wollten 
die mit die Knochens machen?“ 


„So werde ich darauf verzichten, ſie heute mitzu⸗ 
nehmen. Auf alle Fälle aber kehre ich zurück, doch nicht 
allein, ſondern in Begleitung mehrerer Leute, die graben 
müſſen und zugleich dafür ſorgen können, daß ich nicht 
wieder von einer ſolchen Gefahr überraſcht werde. Die 
halbe Stunde, die uns erlaubt wurde, iſt längſt vor⸗ 
über. Wir wollen weiterreiten.“ 

Sie kehrten mit dem Indianer zu den Pferden zu⸗ 
rück und trieben dieſe ſodann zu ſolcher Eile an, daß ſie 
die Vorangerittenen nach zwei Stunden einholten. 
Morgenſtern ſprach nicht von ſeinem Unfall, und dem 
treuen Diener fiel es auch nicht ein, ſeinen Herrn durch 
deſſen Erzählung zu kränken. 


— 389 — 


Es war um die Mittagszeit, als die Bodenform 
eine andre wurde. Es gab niedrige, aber lange, wellen⸗ 
förmige Erhebungen, welche die Ebene nach verſchiedenen 
Richtungen durchſchnitten und ihr das Anſehen gaben, 
als ob hier eine Unzahl kleiner Seen und Teiche ge⸗ 
legen hätte, nach deren Austrocknung nun die früheren 
Dämme als Erhöhungen zu ſehen ſeien. Dieſe Dämme 
waren meiſt mit Büſchen beſtanden, während in den 
tiefer liegenden einſtigen Waſſerbetten Gras wuchs. Hin⸗ 
ter dieſer eigenartigen Landſchaft breitete ſich ein endlos 
ſcheinender Streifen Waldes aus, der gerade an dem 
Punkte, auf den der Führer zuritt, eine Oeffnung hatte. 
Rechts und links, ſo weit man zu ſehen vermochte, lief 
dieſer Wald in ebenes Land hinaus; gerade vorn aber 
ſtieg er hoch empor; er ſchien da einen Berg zu bedecken, 
in deſſen Inneres die erwähnte Oeffnung führte. Als 
der Vater Jaguar dies ſah, fragte er den Häuptling: 
„Warum bleiben wir nicht im ebenen Lande? Können 
wir durch den Berg kommen?“ 

„Ja,“ antwortete der Gefragte. „Der Berg iſt 
rund und hohl. Er birgt in ſeinem Innern ein Tal, das 
Valle del Lago desecado*) genannt wird. Da können 
wir hindurch, während hingegen der Wald ſo dicht iſt 
und ſeine Bäume ſo durch Schlingpflanzen verbunden 
ſind, daß kein Reiter, geſchweige denn eine ganze Schar, 
hindurch kann. Selbſt ein Fußgänger müßte ſich den 
Weg mit dem Beil oder dem Meſſer bahnen und würde 
in einem Tag höchſtens ſo weit kommen, daß er dieſen 
Weg in einer Viertelſtunde zurücklegen könnte.“ 

„Kann man den Wald nicht umreiten?“ 

„Ja; aber er tft nach beiden Seiten fo lang, daß wir 
einen Umweg machen müßten, der gewiß einen ganzen 

Tal des ausgetrockneten Sees 


— 360 — 


Tagesritt beträgt. Durch das Tal aber reiten wir nicht 
eine halbe Stunde lang, und dann kommen wir noch 
einmal ſo lang durch die Breite des Waldes, hinter dem 
wieder der Campo beginnt.“ 

„Und wie weit iſt's nachher bis zu deinem Dorf?“ 

„Wir werden dort ſein, noch ehe es dunkel ge⸗ 
worden iſt.“ 

„Wer von hier aus nach dem Dorfe will, muß alſo, 
um keinen Umweg zu machen, durch dieſes Tal des aus⸗ 
getrockneten Sees gehen?“ 


„Ja.“ 

„Das iſt gut, ſehr gut!“ 

„Warum?“ 

„Davon nachher, wenn ich das Tal geſehen habe. 
Ich vermute, daß wir ſeine Lage und Beſchaffenheit ganz 
vortrefflich gegen unſre Feinde ausnützen können.“ 

Von weitem hatte es geſchienen, als ob dieſe Oeff⸗ 
nung eine Art Tunnel ſei, denn die zu beiden Seiten 
ſtehenden Bäume ſchickten ſich ihre Aeſte zu und bildeten 
mit ihren Wipfeln ein geſchloſſenes Dach über dieſem 
Eingang zum Tale. Aber als man näher kam, war zu 
ſehen, daß man es mit einer Lücke zu tun hatte, die in 
einen länglichen Keſſel führte, den das Innere des 
Berges bildete. 

Als die Reiter darin anlangten, hielt der Vater 
Jaguar ſein Pferd an und ſchaute ſich um. Es war 
allerdings ſehr wahrſcheinlich, daß ſich hier einſt ein See 
befunden hatte. Es gab noch heute einen kleinen Bach, 
der durch das einſtige hintere Ufer kam und einen Weiher 
ſpeiſte, deſſen helle Fläche in der Mitte des Tales lag. 
Die Waſſer des Sees hatten das Ufer da, wo die Reiter 
jetzt hereingekommen waren, durchfreſſen und ſich hin⸗ 
aus in die Ebene ergoſſen; dann war der Wald, der ihn 


— 361 — 


umſäumt hatte, von der Höhe herabgeſtiegen und be⸗ 
deckte nun die Seiten des Tales vollſtändig und ſo dicht, 
daß man nur mit Mühe zwiſchen den Bäumen ein⸗ 
zudringen vermochte. 

Der Vater Jaguar gebot den andern, zu warten, 
und umritt das ganze Tal, um deſſen Rand genau in 
Augenſchein zu nehmen. Als er zurückkam, ſagte er im 
Tone der Befriedigung: „Für uns kann nichts vortreff⸗ 
licher liegen als dieſer Ort. Wir werden hier zu einem 
leichten Sieg kommen.“ 

„Wie jo, Seüor?“ fragte Leutnant Verano. „Meinen 
Sie etwa, daß wir die Feinde hier erwarten ſollen?“ 

„Ja.“ | 

„Das würde die größte Dumm — — wollte fagen, 
der größte Fehler fein, den wir begehen könnten.“ 

Der Leutnant mußte zwar anerkennen, daß der 
Vater Jaguar ein ſeltener Menſch und Charakter ſei, 
aber es widerſtrebte ihm, ſich unterzuordnen. Er hielt 
ſich als Offizier viel höher ſtehend als dieſer Mann; er 
hatte zwar verſprochen, ſich zu fügen, allein ſeine ge⸗ 
walttätige, eigenmächtige Natur kam bei vielen Gelegen⸗ 
heiten, ſo auch wieder hier, zum Vorſchein. 

„Freut mich, daß Sie das Wort nicht ausgeſprochen 
haben, Senor,“ ſagte Vater Jaguar in ernſtem Ton. 
„Ich bin nicht gewöhnt, mich in dieſer Weiſe kritiſieren 
zu laſſen. Ich habe meine Meinung geäußert und bin 
nicht dagegen, daß Sie uns die Ihrige auch kundgeben. 
Warum halten Sie das, was ich meine, für einen 
Fehler?“ 8 

„Weil wir hier aufgerieben würden.“ 

„Wieſo?“ 

„Das fragen Sie? Der gewöhnlichſte Menſch muß 
es einſehen.“ 


— 362 — 


„So habe ich vielleicht den großen Fehler, kein ge⸗ 
wöhnlicher Menſch zu ſein. Haben Sie alſo die Güte, 
meinem mangelhaften eee zu Hilfe zu 
kommen!“ 

Der Leutnant, der die Jronie nicht überſah, meinte 
in halb zorniger und halb überlegener Weiſe: „Wenn 
wir uns hier im Tale aufſtellen, find wir von den rings⸗ 
um liegenden Höhen eingeengt und werden, wenn der 
Feind hereindringt, erliegen müſſen.“ 

„So! Wir müſſen erliegen, wenn der Feind herein⸗ 
dringt. Wenn! Merken Sie wohl: Wenn! Kann er 
denn herein? Der Zugang zum Tal iſt, wie Sie ſehen, 
nur ſo breit, daß ihn höchſtens ſechs oder ſieben Menſchen 
nebeneinander paſſieren können. Außerdem ſtehen da 
Bäume, hinter die wir uns ſtecken können, um nicht 
von den feindlichen Kugeln oder Pfeilen getroffen zu 
werden. Wenn wir nur fünfzig wackere Kerls da ſtehen 
haben, ſo kann kein Feind herein, und wenn er tauſend 
Mann ſtark ſein ſollte. Sehen Sie das nicht ein?“ 

Der Offizier antwortete nicht. Darum fuhr der 
Vater Jaguar fort: „Sie ſagen, wir ſeien von den Höhen 
eingeengt. Dieſe Höhen treten wohl auseinander, wenn 
der Feind hereinkommt? Oder iſt es nicht ſo, daß er 
ebenſo eingeengt ſein würde wie wir? Dazu käme, daß 
ſtets derjenige im Vorteil iſt, der den Poſten zuerſt be⸗ 
ſetzt hat. Sind Sie noch immer der Meinung, daß man 
Taktik und Strategie ſtudiert haben muß?“ 

Verano zuckte verlegen die Achſeln. 

„Uebrigens,“ fügte der Vater Jaguar hinzu, „iſt es 
gar nicht meine Abſicht, dem Feinde den Eintritt in 
dieſes Tal ſtreitig zu machen. Ich will es vielmehr 
haben, daß er hereinkommt.“ 


— 363 — 

„Aber warum denn nur!“ fuhr der Offizier un⸗ 
geduldig auf. „Das würde doch heißen, uns ihm in die 
Hände zu liefern.“ 

„Nein, ſondern ihn in die unſrigen. Haben Sie 


wohl eine Ahnung, wann die Abipones ungefähr in 
dieſer Gegend eintreffen werden?“ 


„Das kann niemand wiſſen.“ 


„Warum nicht? Es iſt leicht zu erraten. Die 
Weißen, mit denen wir zuſammengetroffen ſind, haben 
Soldaten nach dem Palmenſee beſtellt. Sie werden nicht 
viel früher und nicht viel ſpäter dort eintreffen als dieſe. 
Das liegt in der Natur der Sache. Sie ſind, um ihre 
Spur für uns unſichtbar zu machen, über den Rio Sa⸗ 
lado zurückgegangen. Dieſe Abſicht zu erreichen, brauchen 
ſie zwei Tage. Wenn ſie dann ebenſo raſch reiten, wie 
wir geritten ſind, haben wir zwei Tage Vorſprung. Neh⸗ 
men wir an, daß ſie einen Tag brauchen, um ſich aus⸗ 
zuruhen, die aufſtändiſchen Indianer zu ſammeln und 
Beratung zu halten, ſo ergibt ſich noch ein dritter Tag. 
Wir haben drei Tage bis hierher gebraucht, weil wir 
gut beritten geweſen ſind und Pferde im Ueberfluſſe 
haben. Den Abipones aber fehlen die Pferde. Ihre 
Mannſchaften werden aus Kavallerie und Fußtruppen 
beſtehen; darum brauchen ſie wenigſtens vier Tage bis 
hierher. Wir haben alſo den Feind früheſtens in vier 
Tagen, von heute an gerechnet, zu erwarten. Das iſt 
Zeit genug, um unſre Vorbereitungen in einer Weiſe zu 
treffen, die uns den Kampf erleichtert und den Sieg 
ſichert.“ 

„Aber es iſt keine Erleichterung des Kampfes und 
keine Sicherung des Siegs, wenn wir den Feind hier 
zu uns hereinlaſſen!“ 


— 3 — 


„Aber, Senor, ſehen Sie denn nicht ein, daß dies 
eine Falle ſein ſoll?“ 

„Eine Falle?“ fragte Verano erſtaunt. „Dann wird 
es eine, worin wir uns ſelbſt fangen.“ 

Der Vater Jaguar wollte antworten, da aber fiel 
ihm der Doktor Morgenſtern in die Rede: „Nehmen Sie 
es mir nicht übel, Senor Verano! Sie find Offizier 
und begreifen dennoch nicht, was der Vater Jaguar 
meint? Die Falle oder der Fallſtrick, um den es ſich 
handelt, lateiniſch Lagneus genannt, iſt ſehr leicht zu 
begreifen.“ 

„So! Begreifen Sie ihn etwa?“ fragte der Offi⸗ 
zier zornig. „Haben Sie doch die Güte, ihn mir zu 
erklären!“ 

„Sehr gern, Senor. Ich ſetze den Fall, wir ver⸗ 
ſtecken uns da rundum im Wald, hinter den Bäumen, 
laſſen den Feind herein und beſetzen dann den Ein⸗ und 
Ausgang des Tales, ſo befindet er ſich in unſrer Mitte 
und iſt verloren, da er uns, die wir geſchützt ſtehen, nicht 
anzugreifen vermag, während er, der keine Deckung hat, 
allen unſern Kugeln ausgeſetzt iſt. Ich hoffe, das iſt 
Ihnen nun deutlich, lateiniſch perspicuus, geworden.“ 

Der Leutnant war wütend. Daß der kleine, deutſche, 
lächerliche Kerl es wagte, ihn zu belehren, das war viel 
ſchlimmer als alles Vorhergehende. Er rief entrüſtet 
aus: „Was reden Sie zu mir? Habe ich Sie um Rat 
gefragt?“ 

„Allerdings. Sie haben mich aufgefordert, es 
Ihnen zu erklären.“ 

„Das habe ich ganz anders gemeint. Bleiben Sie 
mir in Zukunft mit Ihren Erklärungen vom Leibe. Ich 
weiß genau, was ich zu tun habel“ 


— 865 — 


„Nein, das ſcheinen Sie nicht zu wiſſen,“ nahm der 
Vater Jaguar jetzt wieder das Wort. „Ich habe keine 
Luſt, mich mit jemand zu ſtreiten, und ſchlage vor, 
weiterzureiten. Wir haben vor allen Dingen danach zu 
trachten, noch vor Einbruch der Nacht unſer Ziel, den 
‚Haren Bach‘, zu erreichen.“ 


Dieſen Worten zufolge wurde aufgebrochen. Der 
Leutnant hielt ſich ſchmollend hinterher. Es ärgerte ihn 
gewaltig, daß er, der Beauftragte des Generals Mitre, 
eine ſolche Schlappe erlitten hatte. 


Der Berg, der, von vorn geſehen, anſcheinend die 
Geſtalt eines Kegels hatte, beſaß nach rückwärts eine 
längere Ausdehnung. Er hatte die Form eines Komma, 
deſſen in einen langen Schwanz auslaufender Teil von 
dem ſchon erwähnten Bach durchfloſſen wurde. Dieſer 
Bach entſprang auf der höchſten Stelle. Dann ſenkte 
ſich die Gegend wieder abwärts und ging endlich in die 
Ebene über. 

Man hatte bisher zu beiden Seiten immer Wald 
gehabt, der auch jetzt noch nicht aufhörte, ſondern ſich 
weit in die Ebene hinein erſtreckte. Er ſtand aber nicht 
mehr ſo dicht wie vorher, ſo daß man zwiſchen den Bäu⸗ 
men hindurchreiten konnte, während vorher die Ufer des 
Baches den Weg gebildet hatten. Das dann folgende 
Feld war graſig. Hier konnten die Pferde mehr aus⸗ 
greifen als bisher, und ſo flogen ſie jetzt im Galopp 
über den Campo hin. 

War dem kleinen Gelehrten früher das Reiten 
ſchwer geworden, ſo hatte er ſich jetzt ganz hübſch ein⸗ 
gerichtet und ſaß feſt im Sattel. Er ritt neben Fritze 
Kieſewetter, ſeinem treuen Diener, der ſich womöglich 
ſtets an ſeiner Seite hielt. 


— 866 — 


„Wie fteht es mit dem Anzug?“ fragte er ihn. „Er 
iſt jedenfalls noch naß, und du kannſt dir leicht eine Er⸗ 
kältung zuziehen.“ 

„Dat iſt nicht!“ antwortete Fritze. „Es iſt allens 
ſchon vollſtändig trocken, und von einer Erkältung kann 
keine Rede ſind. Als Sie den Leutnant ſo ſchön trocken 
ſtellten, iſt das Jewand vor Freude auch gleich mit 
trocken jeworden.“ 

„Er wird nun zornig auf mich ſein!“ 

„Dat iſt er allerdings; ick habe es jeſehen, aber wir 
machen uns nichts daraus. Iroße Jeiſter, die ſich nur 
mit Rieſentieren abjeben, bekümmern ſich nicht um ſo 
kleine Menſchen.“ 

Der Doktor blickte nachdenklich vor ſich nieder und 
ſagte dann: „Fritze, ich werde doch wohl einen Fehler 
gemacht haben!“ 

„Mit dem Leutnant?“ 

„Nein, ſondern mit dem Rieſentier, mit den 
Knochen, die wir da hinten an dem Sumpf gefunden 
haben. Ich hätte ſie nicht liegen laſſen, ſondern mit⸗ 
nehmen ſollen.“ 

„Warum?“ 

„Weil ſie mir in Verluſt geraten werden. Du haſt 
gehört, daß die Abipones hinter uns herkommen. Sie 
halten jedenfalls auch an dem Sumpf an, und dann iſt's 
jedenfalls um die ſchönen Knochen geſchehen.“ 

„Dat iſt mich unwahrſcheinlich. Wat wollen die 
Abipones mit die Knochen machen?“ 

„Dieſe nicht, aber die Weißen, die bei ihnen ſind.“ 

„Hm! Meinen Sie?“ 

„Ja. Die Soldaten wiſſen, daß ſolche Knochen für 
die Wiſſenſchaft einen großen Wert beſitzen, und werden 
ſie mitnehmen.“ 


— 867 — 

„Nein, dat werden ſie nicht; da kann ick Ihnen 
tröſten. Selbſt wenn ſie die Abſicht hätten, ſie mit⸗ 
zunehmen, würden ſie ſie doch einſtweilen liejen laſſen, 
um fie dann erſt auf dem Rückweg aufzuklauben.“ 

„Das iſt ganz dasſelbe. Ich meine, wir ſollten beide 
zurückreiten, um die Knochen zu holen.“ 

„Dat jeht nicht.“ 

„Warum?“ 

„Weil wir den Feinden in die Hände fallen 
würden.“ 

„Gewiß nicht! Der Vater Jaguar ſagte ja, daß ſie 
nicht eher als in vier Tagen hier ſein würden. So 
lange hätten wir alſo Zeit.“ 

„Jut; aber es jeht doch nicht, denn der Vater 
Jaguar würde es nicht erlauben.“ 

„Das iſt gar nicht nötig. Ich werde mich hüten, 
ihn um Erlaubnis zu fragen. Fritze, würdeſt du mit⸗ 
reiten?“ 

„Hm! Es kommt mich doch ein wenig unheim⸗ 
lich vor.“ 

„Ich denke, du biſt mir treu!“ 

„Herr, treu bin ick; darauf können Sie Ihnen ver⸗ 
laſſen!“ 

„So gehe doch mit, wenn ich dich darum bitte!“ 

„Bitte? Herr Doktor, wenn Sie mich befehlen, ſo 
jehorche ick; wenn Sie mir aber bitten, ſo muß ich Ihnen 
erſt recht den Willen tun. Es würde mich jeradezu un⸗ 
möglich ſein, Ihnen eine Bitte abzuſchlagen.“ 

„So iſt's recht! Das nenne ich Treue, lateiniſch 
Fidelitas geheißen!“ 

„Sagen Sie mich wenigſtens, wie wir die Knochen 
fortbringen wollen?“ 


— 868 — 


„Wie ſoll ich das wiſſen? Ich möchte mich da auf 
deinen Scharfſinn verlaſſen.“ 

„Ja, wenn mein Scharfſinn ein Roll⸗ oder Fracht⸗ 
wagen wäre, ſo könnten wir ſie darauf verladen. Hier 
jibt's überhaupt keine Wagens. Man kann ſich höchſtens 
der Laſtpferde bedienen.“ 

„Und da haben wir leider keinel“ 

„Nicht? Wat, wir hätten keine? Haben wir nicht 
über achtzig Pferde erbeutet?“ 

„Aber die gehören uns doch nicht!“ 

„Nicht? Wer hat dat behauptet? Wir waren dabei, 
als ſie erbeutet worden ſind. Sie ſind eijentlich Jemein⸗ 
gut und müſſen verteilt werden. Da kämen wenigſtens 
vier Stück auf uns beide. Ick mache mir jar kein Je⸗ 
wiſſen, einige Pferde wegzunehmen. Dat iſt kein Dieb⸗ 
ſtahl, denn wir bringen ſie doch wieder. Und Packſattels 
ſind auch vorhanden. Wir haben alſo alles, wat wir 
brauchen.“ 

„Und würdeſt du den richtigen Weg finden, damit 
wir uns nicht etwa verirren?“ 

„Glauben Sie nicht, daß ich mir verirren würde! 
Wo ick einmal geweſen bin, da bin ick zu Hauſe wie in 
meine Taſche. Wenn ick ein Bedenken habe, ſo iſt's ein 
janz andres.“ 

„Welches?“ 

„Von wejen die Krokodilers. Wenn es ſich um 
Knochen handelt, ſo jehen Sie zu forſch ins Zeug, und 
da können Sie leicht wieder an ſo 'ne Beſtie jeraten, 
ohne daß ick Ihnen dann ſo ſchnell helfen kann.“ 

„Ich nehme mich in acht. Ich verſpreche es dir.“ 

„Jut! Dann iſt die Sache abjemacht. Sagen Sie 
es mir nur, wenn es losjehen ſoll! Ick bin dabei.“ 


— 869 — 


Während dieſes Geſprächs war man eine tüchtige 
Strecke weitergekommen. Der Campo wurde zuweilen 
von kleinen Wäldchen unterbrochen, denen man es an⸗ 
ſah, daß fie von Menſchenhänden angelegt worden feien. 
In der Ferne bemerkte man Ackerland, hinter dem ein⸗ 
zelne Hütten erſchienen. Man ritt zwiſchen kleineren 
Anſiedlungen der Cambas hindurch. Gegen Abend kam 
man dann durch einen lichten Wald, der nicht ſehr groß 
war. Als man ihn zurückgelegt hatte, ſah man eine 
Lagune glänzen, woran mehrere langgeſtreckte Reihen 
von Hütten lagen. Sie waren zu beiden Seiten eines 
Baches erbaut, der aus dem Wald kam. Dieſer Bach 
war der Arroyo claro, und man befand ſich dem Ziel, 
dem Hauptdorf der Cambas, gegenüber. 

Auf der Lagune bewegten ſich einige Boote, deren 
Inſaſſen mit Fiſchen beſchäftigt waren. Hinter den 
Hütten ſah man Gärten und Felder, in denen Frauen, 
Männer und auch Kinder arbeiteten. Vor den Hütten 
ſaßen oder ſtanden andre, die ihre Arbeit getan hatten. 
Dieſes friedliche Bild aber veränderte ſich ſofort, als 
das erſte Auge die Ankömmlinge erblickte. Kaum war 
dies geſchehen, ſo ſtieß der Betreffende einen ſchrillen 
Ruf aus, der von Mund zu Mund ging, und von allen 
wiederholt wurde. Die Fiſcher ſchoſſen mit ihren Booten 
an das Ufer. Die auf den Feldern und in den Gärten 
Beſchäftigten flogen nach dem Dorf, wo alle in den Hüt⸗ 
ten verſchwanden, um nach einigen Augenblicken bewaff⸗ 
net wieder zu erſcheinen. 

Da ſtieß der Häuptling einen ähnlichen Ruf aus. 
Sie ſtutzten und wußten nun, wer der Ankömmling war, 
noch ehe ſie ihn deutlich erkennen konnten. Sie jubelten 
laut und kamen, ihre Waffen ſchwingend, dem Zug ent⸗ 
gegengeſprungen und getanzt, um die Gäſte zu begrüßen. 

May, Das Vermächtnis des Inka 24 


— 870 — 


Dieſe mußten, der dortigen Sitte gehorchend, an⸗ 
halten, um die Feier des Bewillkommens über ſich er⸗ 
gehen zu laſſen. Sie konnte nicht ſofort beginnen, denn 
es waren noch nicht alle Bewohner des Dorfes ver⸗ 
ſammelt. Viele befanden ſich im Wald und mußten 
herbeigerufen werden. Dies geſchah mit Hilfe eines 
Signalinſtruments, das aus einem ſtarken Bambusſtück 
beſtand, woran als Mundſtück ein dünnerer hohler 
Zweig befeſtigt war. Der Mann, der in dieſes Inſtru⸗ 
ment blies, brachte einen grauenhaften, dumpfen Ton 
hervor, der aber in große Ferne zu dringen ſchien, denn 
den vielen Schreien, welche die Antwort bildeten, hörte 


man es an, daß ſich die Betreffenden nicht in der Nähe 


r, 


befanden. Bald ſah man ſie aus dem Wald kommen, 
einzeln oder in kleinen Gruppen. Sie liefen ſo ſchnell 
wie nur möglich, woraus zu ſchließen war, daß dieſes 
Signal nur dann gegeben wurde, wenn große Eile nötig 
erſchien. 

Nach einiger Zeit waren wohl an dreihundert 
Männer verſammelt, die var den Ankömmlingen eine 
Doppelreihe bildeten. Hinter dieſer ſtellten ſich die 
Frauen auf, während die Kinder im Hintergrund die 
Zuſchauer bildeten. 

Nun begann zunächſt ein Tanz der Männer, der 
in Bewegungen der Hände und Köpfe beſtand, ohne 
daß die Füße ſich von der Stelle bewegten. Der zweite 
Teil beſtand in einem Vor⸗ und Rückwärtsſchreiten, wo⸗ 
ran ſich auch die Frauen beteiligten. Im dritten Teil 
wurden die Lanzen, Blasrohre und Meſſer geſchwungen, 
wozu die Frauen ein unbeſchreibliches Geſchrei in der 
Fiſtellage anſtimmten. Dann ſchien der Tanz zu Ende 
zu ſein. Da aber deutete der Häuptling auf Hammer 
und rief nur den einen Namen: „Der Vater Jaguar!“ 


— 5871 — 


laut aus. Einen kurzen Augenblick war alles ſtill, jeden⸗ 
falls vor Ueberraſchung, dieſen berühmten Mann hier 
zu haben. Dann aber brach ein Jubilieren los, daß man 
ſich hätte die Ohren verſtopfen mögen. Die Männer 
und Frauen ſprangen wie beſeſſen hin und her, und die 
Kinder folgten dieſem Beiſpiel. Viele kamen herbei, um 
dem Genannten die Hand zu geben, oder ihn auch nur 
zu betaſten. Er war noch nie hier am „klaren Bach“ ge⸗ 
weſen, doch wußte man recht wohl, daß er andern 
Cambasſtämmen gegen die Abipones ſiegreich bei⸗ 
geſtanden hatte. Als die Aufregung vorüber war, 
ordneten ſich die Indianer, um mit ihren Gäſten im 
Dorfe einzuziehen. Die Männer gingen zu dreien vor⸗ 
an; dann kamen die Kinder, und darauf folgten die An⸗ 
kömmlinge. Der Häuptling hatte ſich an die Spitze 
geſtellt. 

Das Dorf beſtand aus vielleicht achtzig Hütten, die 
durchweg aus geſtampfter Erde gebaut und mit Schilf⸗ 
dächern verſehen waren. In den Gärten gab es Blumen, 
und auf den Feldern wuchſen neben Getreide allerlei 
Gemüſe, von denen ſich dieſe Leute, welche wenig Fleiſch 
eſſen, meiſt ernähren. Hinter den Feldern gab es bis 
nach dem Walde hin einen ziemlich großen Plan, auf 
dem Rinder und Pferde weideten. Von den erſteren 
konnte man vielleicht ſechzig Stück, von den letzteren 
kaum dreißig, den ganzen Reichtum des Dorfes, zählen. 

Man ſtieg von den Pferden. Dann hielt der Häupt⸗ 
ling eine Rede, worin er ſeinen Untergebenen erzählte, 
was er erlebt hatte und daß die feindlichen Abipones im 
Anzuge ſeien. Als er geendet hatte, erhob der Vater 
Jaguar ſeine Stimme, um zu ſagen, daß er beabſichtige, 
die mitgebrachten Pferde und einen Teil der Gewehre 
als Geſchenke zu verteilen. Natürlich rief das einen 


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allgemeinen Jubel hervor. Der Leutnant Verano er⸗ 
laubte ſich dann zwar eine Bemerkung, daß niemand ein 
Recht beſitze, die erbeuteten Pferde, an denen er eigent⸗ 
lich auch einen Anteil habe, oder gar die Gewehre zu 
verteilen; Hammer achtete aber gar nicht darauf. 

Jetzt begann es dunkel zu werden. Man entlaſtete 
die Pferde, ließ ſie im „klaren Bach“ trinken und trieb 
ſie dann nach dem Weideplan, wo ſie ſich erholen ſollten. 
Von dort brachte man einige Rinder mit, die den Gäſten 
zu Ehren geſchlachtet und verſchmauſt werden ſollten. 
Feuer wurden angezündet, und bei ihrem Schein ent⸗ 
wickelte ſich ein eigenartiges Leben und Treiben. 

Die Cambas ſchienen zunächſt gar nicht an die Ge⸗ 
fahr, die ihnen von den Abipones drohte, zu denken. Sie 
hatten gehört, daß dieſe noch fern waren, und wußten 
den Vater Jaguar bei ſich. Die Anweſenheit dieſes 
Mannes ließ keine Sorge bei ihnen aufkommen. 

Das Fleiſch wurde ganz wie bei den Gauchos be⸗ 
reitet und verzehrt. Man trank dazu ein gegorenes Ge⸗ 
tränk, das aus den Früchten des Chaüar*) bereitet wird. 
Dazu genoß man Kuchen, den die Frauen aus Mais⸗ 
und andrem Mehl in der heißen Aſche buken. 

Nach dieſem Eſſen wurde eine Beratung gehalten, 
woran alle Weißen ſowie der Häuptling teilnahmen. 
Und nun gab Vater Jaguar ſeinen Plan bekannt. 

Morgen früh ſollten die Gewehre verteilt und die 
Cambas in deren Gebrauch unterwieſen werden. Zur 
geeigneten Zeit ſollte man nach dem „Tal des aus⸗ 
getrockneten Sees“ ziehen, hundert Cambas ſollten durch 
deſſen Eingang marſchieren, um ſich dann ſeitwärts im 
Wald zu verſtecken. Dieſe Leute mußten natürlich die 
Abipones kommen ſehen; ſie hatten zu warten, bis dieſe 


0) Prosopis dulcis 


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vorüber und im Tal verſchwunden ſein würden. Dann 
ſollten ſie aus ihrem Verſteck hervorkommen und den 
Eingang beſetzen, damit die Abipones nicht zurück 
könnten. 

Die andern Cambas ſollten ſich im Tal ſelbſt ver⸗ 
ſtecken, und zwar hinter den Bäumen, um im gegebenen 
Augenblick aus dieſer ſicheren Deckung heraus den Kampf 
zu beginnen. Die Einzelheiten konnten natürlich nicht 
genau vorherbeſtimmt werden. Darum ſollten die Cam⸗ 
bas ſo nahe bei einander ſtehen, daß der eine dem andern 
die von dem Vater Jaguar ausgehenden Weiſungen leiſe 
zurufen könne. Nach dieſen ſollte dann ganz genau ge⸗ 
handelt werden. 

Alle waren mit dieſem Plan einverſtanden, nur 
Leutnant Verano nicht. Er hatte geſchwiegen, bis alle 
ihre Zuſtimmung erteilten; dann aber ſagte er, gegen 
den Vater Jaguar gewendet: „Ihr Plan, Seüor, tft 
ganz gut, nämlich wenn er gelingt. Nur zweifle ich, 
daß dies der Fall ſein wird.“ 

„Das muß abgewartet werden,“ antwortete Ham⸗ 
mer in gleichmütigem Ton. 

„Warum abwarten! Die Force eines tüchtigen Sol⸗ 
daten beſteht im Angriffe, nicht aber im Zaudern. Der 
Angreifer iſt ſtets im Vorteil, was Sie aber nicht zu 
wiſſen ſcheinen.“ 

„Ich weiß es wenigſtens ebenſo gut wie Sie, 
Senor!“ 

„Nun, warum wollen Sie denn da nicht angreifen?“ 

„Ich will es ja; aber freilich erſt dann, wenn ich 
den Feind in der Falle habe.“ 

„Das iſt falſch. Sie dürfen ihn gar nicht ſo weit 
heranlaſſen. Sie müſſen ihm entgegengehen, um ihn 
zu ſchlagen, wo Sie ihn treffen. Oder getrauen Sie 


— 374 — 


ſich das nicht? Dann brauchen Sie nur mir die Füh⸗ 
rung zu übergeben; ich weiß, wie man ſolche Siege 
erkämpft.“ 

„Mit Blut natürlich, mit ſehr viel Blut, und das 
iſt es, was ich vermeiden will.“ 

„Das iſt falſch, grundfalſch. Dieſe Hunde von Abi⸗ 
pones müſſen niedergeworfen werden, vom erſten bis 
zum letzten. Es dürfen ihrer ſo wenig wie möglich ent⸗ 
kommen!“ | 

„Warum, Senor?“ 

„Das fragen Sie noch? Sind ſie nicht gegen uns? 
Beſtehlen Sie uns nicht?“ 

„Was tun denn Sie? Gehört Ihnen ein Fußbreit 
von dem Lande, in welchem Sie ſich befinden? Haben 
Sie oder Ihre Vorfahren den Indianern ehrlich be⸗ 
zahlt, was Sie ihnen genommen haben? Doch, ſtreiten 
wir uns nicht darüber! Wenn es ſo kommt, wie ich es 
wünſche, ſo fließt kein Tropfen Blutes. Ein einziger 
Blick oder auch nur eine kurze Ueberlegung wird den 
Feinden ſagen, daß ſie verloren ſind, falls ſie zur Gegen⸗ 
wehr greifen. Ich werde zu ihnen ſprechen und ihnen 
menſchliche Bedingungen ſtellen. Daraufhin werden wir 
einen ehrlichen Frieden mit ihnen ſchließen.“ 

„Einen Frieden? Einen Frieden mit dieſen Auf⸗ 
rührern? Sind Sie des Teufels, Senor! Werden Sie 
es verantworten können?“ 

„Ich möchte den ſehen, der es unternehmen wollte, 
mich darüber zur Verantwortung zu ziehen.“ 

„Der General, der Präſident!“ 

„Pah! Wir befinden uns nicht in Buenos Aires, 
ſondern im Gran Chaco. Die Stelle, wo Sie ſitzen, 
gehört dem Volke der Cambas; da hat der Präſident 
nichts zu ſagen.“ 


— 875 — 


„Nun, ſo mögen Sie wiſſen, daß ich mich dagegen 
ſträuben werde.“ 

„Das heißt, Sie werden unter Umſtänden gegen 
meinen Willen, gegen meine Anordnungen handeln?“ 

„Ja. Ich kenne hier keinen, deſſen Anordnungen 
ich zu befolgen habe.“ 

„So vergeſſen Sie, daß Sie durch uns von dem 
ſchmählichen Tod des Erſäufens errettet worden find! 
Und ich will Ihnen folgendes ſagen. Hören Sie wohl 
darauf! Wenn durch Sie ein einziger Tropfen Blutes 
gegen meinen Willen vergoſſen wird, gebe ich Ihnen 
eine Kugel in den Kopf.“ 

„Sie ſprechen wie toll, Senor!“ fuhr der Offizier 
auf. „Wiſſen Sie, wer und was ich bin?“ 

„Ein einfacher Leutnant ſind Sie, weiter nichts, und 
nebenbei ein gewalttätiger und blutdürſtiger Menſch. 
Ich aber bin der Vater Jaguar, dem ein braver In⸗ 
dianer mehr gilt als ein gewiſſenloſer Weißer. Was 
ich geſagt habe, das gilt; ich ſchwöre es Ihnen zu!“ 
| Er Stand von feinem Platz auf und ging. Der 

Leutnant ſtieß hinter ihm her noch einige groß⸗ 
ſprecheriſche Worte aus; da aber zog Geronimo, der 
Liebling des Anführers, ſein Meſſer und ſagte zu ihm: 
„Senor, ſchweigen Stiel Höre ich noch ein einziges un⸗ 
ehrerbietiges Wort gegen unſern Freund, ſo ſtoße ich 
Ihnen dieſe Klinge in den Leib, daß Ihnen das Reden 
ſofort vergeht! Wenn Sie etwa ſtolz darauf ſind, daß 
Sie ſich Leutnant nennen dürfen, ſo gehen Sie in das 
Vaterland des Vater Jaguar, und lernen Sie dort er⸗ 
kennen, daß allerdings ein dortiger Leutnant mehr wert 
iſt als bei Ihnen ein General! Mit Ihrer Charge impo⸗ 
nieren Sie ihm nicht!“ | 


— 376 — 


Hammer war zwiſchen zwei Hütten hindurch und 
an mehreren Gärtchen entlang gegangen. Er machte 
dieſen Spaziergang nur, um ſich zu beruhigen. Der 
Neumond war ſeit einigen Tagen vorüber, und am 
Horizont ſtand die dünne Mondſichel, um ein halbes, un⸗ 
gewiſſes Licht über den Weideplatz zu werfen. Der 
Vater Jaguar ſah die Pferde und die Rinder, und da 
fiel ihm die Stellung auf, welche dieſe Tiere einnahmen. 
Die Pferde ſtanden in Gruppen zuſammen, und zwar 
mit den Hinterbeinen nach außen. Die Rinder bildeten 
ihre Kreiſe in der entgegengeſetzten Weiſe, nämlich mit 
den Köpfen nach außen. Dies erklärt ſich dadurch, daß 
die erſteren ſich mit den Hinterhufen, die letzteren aber 
mit den Hörnern verteidigen. Es mußte ein Raubtier 
in der Nähe ſein und zwar ein größeres. Da er kein 
Gewehr bei ſich hatte, ſo rief er mit lauter Stimme in 
das Dorf zurück: „Cuidado, Seüores! Bringt die Ge⸗ 
wehre; es iſt ein Jaguar da!“ 

Er ſtieß dieſen Ruf nicht aus Furcht aus. Daß er 
ſich auch ohne Gewehr nicht fürchtete, bewies er dadurch, 
daß er ruhig weiterging. Nur hatte er das Dolchmeſſer 
gezogen, um im geeigneten Augenblick die Klinge bereit 
zu haben. Seine laute, weithin ſchallende Stimme war 
nicht nur in das Dorf zurück⸗, ſondern auch über den 
ganzen großen Weideplatz gedrungen und da an die 
Ohren von zwei Perſonen, denen das ſonderbare Ver⸗ 
halten der Tiere noch gar nicht aufgefallen war. 

Dieſe beiden Perſonen waren Anton Engelhardt 
und der Inka. Die Freundſchaft der beiden Jünglinge 
war während der letzten Tage womöglich noch inniger 
geworden, als ſie vorher geweſen war. Sie hielten, wie 
auch ſchon früher, ſtets zu einander. Da mußte Anton 
von ſeiner Heimat erzählen, nicht von Peru, ſondern von 


— 877 — 


Deutſchland, woher ſeine Eltern ſtammten, von andern 
Ländern, von deren Bewohnern und ihren Verhältniſſen. 
Er hatte einen ſehr guten Unterricht genoſſen und viel 
gelernt; darum konnte er dem Freund ſehr wohl die 
gewünſchte Auskunft geben. Sie hatten von den Reli⸗ 
gionen der verſchiedenen Völker geſprochen, von ihren 
Regierungsformen, ihren Herrſchern und deren Macht⸗ 
befugniſſen, von den Streitkräften und den Verheerungen, 
welche die gegenwärtigen Waffen anzurichten imſtande 
ſind. Je mehr der junge Inka gehört hatte, deſto ein⸗ 
ſilbiger und nachdenklicher war er geworden. Er be⸗ 
gann mehr und mehr einzuſehen, daß der Traum, den er 
bisher geträumt hatte, eben nur ein Traum ſei und ein 
ſolcher bleiben werde. 

Heute, als die Beratung begann, hatten ſie geglaubt, 
zu jung zu ſein, um daran teilzunehmen, und ſo hatten 
ſie einen Spaziergang unternommen. Sie kamen nach 
der Weide hinaus und gingen in nicht allzu großer 
Ferne vom Wald parallel mit deſſen Rand hin. Es 
war ihnen nicht eingefallen, ein Gewehr mitzunehmen. 
Anton hatte das Meſſer und den Revolver mit; der 
Inka trug auch ein Meſſer im Gürtel, und dazu hing 
ihm ſein Streitkolben, von dem er ſich nie zu trennen 
pflegte, an der linken Seite nieder. Der erſtere erzählte 
wie gewöhnlich, der letztere hörte ſtill zu und warf zu⸗ 
weilen eine wißbegierige Frage dazwiſchen. Da ver⸗ 
nahmen ſie von drüben herüber eine donnernde Stimme: 
„Cuidado, Senores! Bringt die Gewehre; es iſt ein 
Jaguar dal“ | 

„Das war der Vater Jaguar,“ ſagte Anton, indem 
er ſtehen blieb und unwillkürlich ſeinen Revolver zog. 
„Sollte eine Onze, ein Tiger, in das Dorf gedrungen 
fein?” 


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„Nein,“ antwortete Haukaropsra. „Die Stimme 
kam nicht aus dem Dorfe, ſondern von der andern Seite 
der Weide her. Wir haben uns zu weit entfernt. Laß 
uns zurückkehren!“ 


Sie wollten ſich dem Dorfe nähern, und kamen da⸗ 
bei an einer Rindergruppe vorüber. Als der Inka die 
Haltung dieſer Tiere ſah, ſagte er: „Wir müſſen uns 
beeilen. Dieſe Ochſen ſtehen zur Verteidigung bereit, 
und da ſie die Hörner tief ſenken, ſo iſt der Jaguar nicht 
nur da, ſondern er muß ſich hier in der Nähe befinden.“ 


Sie eilten mit raſchen Schritten vorwärts, dorthin, 
wo ſechs oder ſieben Pferde, die Kruppen nach auswärts 
gerichtet, mit zuſammengeſteckten Köpfen einen Ver⸗ 
teidigungskreis bildeten. Die Tiere ſchnaubten und 
ſtanden mit den Hinterhufen keinen Augenblick ſtill. 
Haukaropora ging links, Anton aber rechts vorüber, weil 
er da glaubte, näher zu kommen. Eben war er um 
die Pferdegruppe gebogen, als er ſeitwärts von dieſer 
und vor ſich etwas Dunkles im Graſe liegen ſah. Was 
es war, konnte er nicht erkennen, da die Sichel des 
Mondes nicht hell genug ſchien. Er hielt den Gegen⸗ 
ſtand oder das Tier für ein junges, an der Erde lie⸗ 
gendes Kalb oder Füllen und wollte an ihm vorüber. 
Da erhob es ſich und nun ſah er allerdings, wen er vor 
ſich hatte: es war der Jaguar, der zwar aufgeſprungen 
war, ſich aber zum Sprung ſofort wieder niederduckte. 
Flucht wäre da das ſchlimmſte geweſen. Anton blieb 
alſo ſtehen, ſpannte den Revolver und zog mit der lin⸗ 
ken Hand ſein Meſſer. Was er in dieſem Augenblick 

fühlte, das war eigentlich nicht Furcht, ſondern eine 
Empfindung, wofür es keine Bezeichnung gibt. 


„Hauka,“ rief Anton, „der Jaguarl“ 


— 879 — 


Eben kam der Inka um die andre Seite der Pferde⸗ 
gruppe. In demſelben Augenblick tat der Jaguar den 
Sprung auf Anton zu. Dieſer jagte ihm eine Kugel 
entgegen, wurde aber von dem Tier niedergeriſſen. Er 
fühlte die ſchwere Laſt der Beſtie auf ſich liegen und roch 
ihren ſtinkenden Hauch. Er war ſicher, nun von den 
Krallen zerfleiſcht, von den Zähnen zermalmt zu werden; 
da aber hörte er über ſich einen Krach, wie wenn man 
mit einer Axt auf den Hackſtock ſchlägt; der Jaguar rich⸗ 
tete ſich halb auf und rollte dann, ohne einen Laut aus⸗ 
zuſtoßen oder nur zu röcheln, zur Seite. Anton fühlte 
ſich von der Laſt frei; es war ihm aber, als ob er es 
noch gar nicht glauben dürfe; darum blieb er noch liegen. 
Da beugte ſich der Inka über ihn und fragte in liebe⸗ 
vollem Ton: „Biſt du verletzt, Antonio? Hat dich ſeine 
Kralle oder ſein Rachen getroffen?“ 


„Ich glaube nicht,“ antwortete der Gefragte. „Es 
tut mir nichts weh. Da liegt das Tier. Was iſt 
mit ihm?“ | 

„Es iſt tot; ich habe es mit meinem Humantſchuay 
erſchlagen. Eben als du mich gerufen, ſprang er auf 
dich ein. Du gabſt ihm eine Kugel und ich ſprang 
hinter ihm her, um ihm mit dem Kolben den Schädel 
einzuſchlagen. Steh auf, daß wir ſehen, ob du Schaden 
erlitten hajt!“ ö 

Anton erhob ſich. Es war ihm nichts geſchehen. 
Selbſt ſein Anzug war vollſtändig unverletzt. Ob der 
Schuß das Tier ſo überraſcht hatte, daß es ſeine ſcharfen 
Waffen nicht ſofort gebrauchte? 

Der Gerettete drückte ſeinen Retter innig an ſich 
und ſagte: „Ohne dich lebte ich jetzt nicht mehr; ich wäre 
zerfleiſcht. Wie kann ich dir danken?“ 


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„Dadurch, daß du mich immer ſo liebſt, wo du mir 
jetzt gewogen biſt. Das iſt mir lieber als alles. Doch 
laß uns nun zu den Unſrigen zurückkehren.“ | 

„Und was geſchieht mit dem Tiger?“ 

„Den laſſen wir einſtweilen liegen; die Cambas 
mögen ihn holen.“ 

Sie kamen aber noch nicht von der Stelle fort, eben 
jetzt nahte der Vater Jaguar. Er hatte den Ruf Antons 
und den Revolverſchuß gehört und war dem Bedrängten 
zugeeilt. Als er den Fall überſah, bückte er ſich zu dem 
Raubtier nieder, unterſuchte es und ſagte dann: „Ein 
Weibchen, ein gewiß fünfjähriges Weibchen. So einen 
großen Jaguar habe ich noch ſelten geſehen. Hauka, du 
biſt ein junger Held! Welch ein gewaltiger Hieb! Du 
haſt ihm den Schädel eingeſchlagen. Hier nimm meine 
Hand! Ich muß dir die deinige drücken und ſchütteln, 
denn ich bin überzeugt, daß du einſt ein tüchtiger Mann 
ſein wirſt.“ | 

Die drei kehrten nach dem Dorfe zurück. Als die 
Cambas das Abenteuer erfuhren, brachen ſie alle, Män⸗ 
ner, Weiber und Kinder, auf, um den Jaguar im 
Triumphzuge heimzuholen. Er wurde ſofort aus der 
Haut geſchält. Das Fell gehörte natürlich dem Inka, 
da dieſer das Tier erlegt hatte; er ſchenkte es ſeinem 
Freund Anton als Andenken an das gefährliche Aben⸗ 
teuer. 

Die Bewohner des Dorfes räumten mehrere Häuſer, 
damit ihre Gäſte einmal unter Dach ſchlafen konnten. 
Die Folge davon, daß der Häuptling Boten ausgeſandt 
hatte, war noch vor morgens zu bemerken, denn es ſtell⸗ 
ten ſich ſchon während der Nacht viele Krieger aus den 
näher liegenden Dörfern ein. Im Laufe des Vormittags 
kamen noch viel mehr und dann auch mit Sack und Pack 


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diejenigen Familien, die vor den Abipones hatten 
weichen müſſen, weil ihre Wohnungen auf der be⸗ 
drohten Strecke lagen. 

Die Weißen verteilten den Reſt der erbeuteten Ge⸗ 
wehre unter die Häuptlinge, welche mitgekommen 
waren, und deren gab es nicht wenige, weil jedes Dorf 
einen Häuptling hat; ſie werden Kaziken genannt. 
Schließlich befanden ſich über ſechshundert junge, rüſtige 
Cambaskrieger in dem Dorf. Da gab es natürlich zu 
backen und zu braten die Hülle und die Fülle. Die 
armen Leute mußten faſt alles hergeben, was ſie an 
Nahrungsmitteln im Vorrat beſaßen. Mußten doch die 
Krieger, wenn ſie auszogen, ſich für mehrere Tage mit 
Proviant verſehen, da man die Ereigniſſe nicht vorher⸗ 
zuſehen vermochte. Der Vater Jaguar vertröſtete ſie 
aber mit der Verſicherung, daß der Beſiegte gezwungen 
ſein werde, alle Kriegskoſten zu bezahlen und vielleicht 
auch noch mehr zu erſtatten. Waren die Verbündeten 
doch ſchon jetzt in den Beſitz von guten Gewehren und 
außerdem von achtzig Pferden gekommen! 


ZSwölftes Kapitel 


Den Krokodilen zur Beute 


Am dritten Tag verließ der Vater Jaguar mit 
dem Inka und dem alten Anciano das Dorf, um dem 
Feind als Kundſchafter entgegenzureiten; er nahm dieſe 
beiden mit, weil er wußte, daß ſie Vortreffliches leiſteten. 
Am folgenden Morgen ſollten die Krieger der Cambas 
dann nach dem „Tal des ausgetrockneten Sees“ ziehen, 
um dort diejenige Aufſtellung zu nehmen, die er ihnen 
ebenſo deutlich und beſtimmt wie ausführlich beſchrieben 
hatte. Angeführt ſollten dieſe Leute während ſeiner Ab⸗ 
weſenheit von dem treuen und geſchickten Geronimo 
werden, ein Umſtand, der den Aerger des Leutnants 
Verano von neuem auflodern ließ. 

Als der Anführer mit ſeinen beiden Begleitern 
fortgeritten war, ſagte Doktor Morgenſtern zu ſeinem 
Fritze: „Jetzt iſt er nicht mehr da. In ſeiner Anweſen⸗ 
heit konnte ich unmöglich wagen, meinen Plan aus⸗ 
zuführen. Er hat die Augen überall und hätte unſer 
Verſchwinden ſofort bemerkt. Dann wäre er uns nach⸗ 
geeilt, um uns zurückzuholen.“ 

„Und dat wäre eine Blamage jeweſen, die mir 
tüchtig jeärgert hätte,“ bemerkte Fritze. „Alſo Sie den⸗ 
ken noch oft und manchmal daran, ihren Plan aus⸗ 
zuführen?“ 


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„Ja. Je länger ich es mir überlegte, deſto mehr 
habe ich eingeſehen, daß ich ſonſt um dieſe herrlichen 
Knochen komme. Wirſt du mich im Stich laſſen?“ 

„Fällt mir nicht im Traum ein! Lieber laſſe ich 
mir ſelbſt im Stich als Ihnen; dat wiſſen Sie ja.“ 

„Nun gut, ſo wird es ausgeführt. Aber wann 
denkſt du wohl? Am Tage wird es nicht möglich ſein?“ 

„Nein, denn dieſer Jeronimo, mit die jroße Ha⸗ 
bichtsnaſe, würde uns nicht fortlaſſen. Wir können alſo 
nur des Nachts ausrücken. Da wird es auch nicht be⸗ 
merkt, wenn wir die Pferde beiſeite führen und auch 
die Sattels unbemerkt mitjehen heißen. Riemen zum 
Feſtbinden der Knochen werde ick mich auch verſchaffen. 
Laſſen Sie dat allens nur mich über!“ 

Der ſchlaue Patron beſchäftigte ſich den ganzen Tag 
mit den Vorbereitungen; am Abend ging man ſehr 
zeitig ſchlafen, da morgen früh ausmarſchiert werden 
ſollte, und ſo kam es, daß er um Mitternacht ſeinem 
Herrn ſagen konnte, daß alles bereit und fertig ſei. Er 
hatte im Laufe des Abends drei Packſättel und zwei 
Reitfättel nach dem Walde geſchafft und dann auch die 
Pferde heimlich hingeführt und angebunden. Jetzt 
nahmen ſie ihre Waffen an ſich und huſchten fort. Als 
fie bei den Pferden ankamen, ſattelten fie dieſe, hingen 
die Packpferde aneinander, um ſie nebenher zu führen, 
ſtiegen dann auf und ritten davon. 

„Ob wir den Knochenſumpf finden werden?“ 
fragte der kleine Gelehrte beſorgt. 

„Janz ſicher,“ tröſtete Fritze. 

„Der Mond iſt ſo dünn wie ein Meſſerrücken und 
man ſieht kaum, wohin man reitet!“ 

„Ick verlaſſe mir nicht auf den Mond, ſondern auf 
mein Jedächtnis. Ick weiß die Richtung ſo jenau, als 


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ob ick hier zwanzig Jahre lang Briefträger jeweſen 
wäre.“ 

Ja, die Richtung kannte er und hielt ſie auch ein, 
aber als ſie dann den Wald vor ſich hatten, bildete dieſer 
eine dunkle, zuſammenhängende Maſſe, und es war 
ihnen ganz unmöglich, die Stelle zu finden, wo ſie vor 
drei Tagen unter ſeinen Bäumen heraus und auf die 
freie Ebene gekommen waren. Sie mußten alſo ab⸗ 
ſteigen und warten, bis die Sonne aufgegangen war. 
Selbſt dann ſuchten ſie längere Zeit, hielten verſchiedene 
Stellen für die richtige und mußten mehrmals um⸗ 
kehren. Es war wohl ſchon zwei Stunden lang Tag, 
als ſie ganz zufällig auf die Fährte des Vater Jaguar 
trafen, die ihnen nun als Richtſchnur dienen konnte. 
Dieſe Fährte war nach ſo langer Zeit noch erhalten, 
weil hier das Gras hoch und dicht ſtand und die Reiter 
es nicht für nötig gehalten hatten, vorſichtig zu fein. 
Indem die beiden dieſer Spur von fetzt an folgten, 
kamen ſie glücklich durch den Wald bis an den kleinen 
Bach und, dann dieſen zum Führer nehmend, hinab 
in das Tal des ausgetrockneten Sees. 

Hier ließen ſie ihre Pferde trinken und ein wenig 
verſchnaufen, und dann ſetzten ſie ihren Weg fort. Sie 
ſahen auch jetzt noch ſehr deutlich die Fährte des Vater 
Jaguar und ſeiner beiden Begleiter. Als ſie das Tal 
hinter ſich hatten, blieb Fritze nachdenklich halten, ſah 
vom Pferd herab auf dieſe Spur nieder und ſagte: 
„Wenn ick mir nicht irre, ſo hat der Vater Jaguar 
ſich jeirrt.“ 

„Wieſo? Was meinſt du damit?“ fragte der 
Doktor. 

„Er iſt zu weit nach links jeritten. Der richtje 
Weg jeht mehr da nach rechts hinüber.“ 


„Du wirſt dich täuſchen. Der Vater Jaguar iſt 
nicht der Mann, ſich im Weg, lateiniſch Via oder Trames 
genannt, zu irren.“ 

„Aber ick kann alle meine fünf Jedanken zuſammen⸗ 
nehmen, ſo komme ick doch auf keine andre Ahnung. Als 
wir hierher kamen, ſind wir ſchnurjerade auf dieſes Tal 
zujeritten, wir hatten es jerade der Naſe nach vor uns 
liejen. Und wenn ick mir jetzt auf dieſe Spur ſtelle, ſo 
liegt es von mich aus zu viel nach links. Wie wollen 
wir nun reiten?“ 

„Gerade ſo wie er. Dann kommen wir ganz ſicher 
nach dem Sumpfe der Knochen.“ 

„Jut, ick will Ihnen jehorchen. Mir ſoll's man 
recht ſind.“ 

Sie folgten der Spur alſo auch noch fernerhin. Es 
vergingen einige Stunden, und dann gab es ſandigen 
Boden und die Fährte war nicht mehr zu ſehen. Sie 
hielten die bisherige Richtung genau feſt, obgleich die 
Gegend ihnen vollſtändig unbekannt vorkam. Wieder 
verging eine längere Zeit; da zügelte Fritze die Pferde 
und ſagte: „Ick habe mir doch nicht jeirrt; wir ſind 
falſch jeritten. Wir müßten nun längſt an dem Sumpf 
fein.” . 

„Das iſt wahr. Aber der Vater Jaguar kann ſich 
doch nicht im Wege täuſchen!“ ö 

„So hat er eine Abſicht jehabt, einen Irund, den 
Sumpf zu vermeiden.“ 

„Und wir haben eine koſtbare Zeit verloren. Was 
iſt zu tun, lieber Fritze? Müſſen wir umkehren und 
etwa wieder nach dem ‚Tal des ausgetrockneten Sees‘ 
zurück?“ 

„Das tue ick nicht, auf keinen Fall. Wir find zu 
weit links, alſo brauchen wir nur nach rechts zu reiten. 

May, Das Vermächtnis des Inka 25 


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Und weil wir zu weit vorgekommen ſind, müſſen wir 
uns jetzt zurückhalten, in Summa alſo rückwärts nach 
rechts. Wenn wir auch dann nicht an den Sumpf kom⸗ 
men, fo laſſe ick mir in Butter braten und auffreſſen.“ 

Sie folgten der vorgeſchlagenen Richtung und wirk⸗ 
lich ſahen ſie nach längerer Zeit die Uferbäume des 
Knochenſumpfes vor ſich liegen. Leider aber war nun 
der Tag faſt verſtrichen, und die Sonne befand ſich ſchon 
im letzten Achtel ihres Tagebogens. 

An dem Sumpf angekommen, ſtiegen ſie ab und 
führten die Pferde vorſichtig in die Nähe der Stelle, wo 
ſie die Knochen liegen gelaſſen hatten. 

„Nun heißt's ſchnell machen,“ meinte Fritze. „In 
einer Stunde wird es Nacht. Bis dahin müſſen wir die 
Fracht im Sattel haben. Dann wieder fort!“ 

„Nicht hier bleiben?“ | 

„Nein. Es ift ja heute der letzte Tag, und da könn⸗ 
ten die Abipones kommen. Dat wäre ein Jaudium for 
ihnen, wenn ſie mir und Ihnen erwiſchten! Jehen wir 
fix an die Arbeit; aber nehmen Sie Ihnen vor die Kro⸗ 
kodile in acht! Heute ſehe ick erſt, wie maſſenhaft ſie hier 
vorhanden ſind.“ 

Tatſächlich konnte man, wenn man aufmerkſam 
über die Waſſerfläche, ganz beſonders in der Nähe der 
Ufer, blickte, wohl Hunderte von dieſen Eidechſen ſehen. 
Die Knochen lagen noch da, wie ſie verlaſſen worden 
waren. Die beiden Männer machten ſich daran, ſie in 
Bündel zuſammenzuſchnüren. Das ging aber nicht ſo 
raſch, wie Fritze es wünſchte, denn ſein Herr hatte ihm 
allerlei zu zeigen, zu erklären und hundertmal zu bitten, 
doch ja die größte Behutſamkeit anzuwenden, damit 
nichts beſchädigt werde. Da gab es bald hier eine Klei⸗ 
nigkeit abzukratzen, bald mußte eine Stelle mit einer 


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Handvoll Waſſer gereinigt werden. Die Zeit verging 
und die beiden achteten nicht auf das, was in der Nähe 
des Sumpfes geſchah. Da hörten ſie plötztlich eine laute 
Stimme ſprechen. Sie hatten im Schilf gekauert und 
fuhren empor, um zu ſehen, wer ſo unerwartet hier an⸗ 
weſend ſein könne. Sie befanden ſich hinter einem 
Buſchwerk, das ſie verdeckte, konnten aber zwiſchen deſſen 
Zweigen hindurchſehen. Was ſie da erblickten, war ge⸗ 
eignet, ſie im höchſten Grad beſorgt zu machen. 

Da draußen kam nämlich ein ganzes Heer von Rei⸗ 
tern und Fußgängern angezogen. Man ſah, daß dieſe 
Leute in einiger Entfernung vom Sumpf Halt machen 
wollten. Jedenfalls beabſichtigte man, die Nacht da zu⸗ 
zubringen und in der Nähe des Sumpfes zu lagern. 
Einige Reiter, vielleicht zwölf oder vierzehn, waren ganz 
herangekommen, denn ſie hatten von weitem die fünf 
Pferde geſehen, bei denen ſie jetzt hielten. Einer von 
ihnen war ein Indianer; die andern gehörten der weißen 
Raſſe an. Sie ſtiegen von ihren Pferden und begannen 
nach rechts und links im Schilf nach Spuren zu ſuchen. 
Da ſie höchſtens vierzig Schritte entfernt waren, konnte 
man ihre Geſichtszüge deutlich erkennen. 

„O Jerum, iſt dat eine Weihnachtsbeſcherung!“ 
raunte Fritze ſeinem Herrn zu. „Warum haben Sie 
doch ſo lange geplaudert und gezaudert! Ick habe mich's 
doch faſt jedacht! Kennen Sie dieſe Kerls?“ 

„Leider ja,“ antwortete der Doktor, dem es höchſt 
ungemütlich zu werden begann. „Wenn ich mich nicht 
irre, ſo ſehe ich dort jenen Antonio Perillo, der auf 
mich geſchoſſen hat, und auch den Kapitän Pellejo, der 
uns bei der Gigantochelonia überraſchte.“ 

„Und auch den langen, ſtarken Menſchen, welchen 
ſie den Jambuſino nannten! Herr Doktor, ſchauen Sie 


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hinaus ins Land! Dat ſind doch wenigſtens achthundert 
bewaffnete Menſchen. Und wer ſind ſie? Die Abi⸗ 
pones!“ ' 

„Können wir nicht fliehen, mein lieber Fritze?“ 

„Wohin denn? Hinaus zu die Kerls oder hinein in 
dat Waſſer? Dort fangen uns die Roten, und hier 
freſſen uns die Krokodile.“ 

„So bleiben wir hier hinter den Büſchen ſtecken. 
Vielleicht finden ſie uns nicht. Iſt es dann dunkel, was 
der Lateiner caliginosus oder obscurus nennt, ſo 
fliehen wir.“ | 

„Dat bilden Sie Ihnen ja nicht ein, denn ehe fünf 
Minuten in die Ewigkeit jefloſſen ſind, haben ſie uns 
beim Zopf und beim Schopf.“ 

„Dann wird's wohl gefährlich? Nicht?“ 

„Jemütlich auf keinen Fall.“ 

„Wat ſagen wir, wenn ſie uns fragen, was wir 
hier wollen?“ 

„Jut, dat Sie dieſe Frage ausſprechen! Sie ant⸗ 
worten jar nichts Dat Reden wird meine Aufjabe 
ſind. Am allerwenigſten aber dürfen dieſe Leute 
wiſſen, daß der Vater Jaguar hier iſt und daß die Cam⸗ 
bas von dem Ueberfall wiſſen. Wir ſind janz allein 
hierher jeritten. Dabei bleiben wir, ſelbſt wenn ſie uns 
erſt pfählen, dann ſpießen, nachher aufhängen, endlich 
verjiften und ſchließlich zuletzt jar ermorden wollen. 
Paſſen Sie auf! Jetzt haben ſie unſre Spur. Alle 
juten Jeiſter! Jetzt jeht der Vorhang in die Höhe. 
Wie wird's ſein, wenn er wieder niederfällt!“ 

Die Suchenden waren jetzt endlich ſo weit gekom⸗ 
men, die alten Spuren von den neuen zu untericheiden; 
indem ſie den letzteren folgten, näherten ſie ſich raſch 
und kamen hinter den Buſch. Der Gambuſino ſchritt 


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ihnen voran. Als er die beiden kleinen Roten erblickte, 
machte er eine Gebärde der Ueberraſchung und rief dann 
aus: „Ay maravilla — o Wunder! Wen treffen wir 
hier? Das ſind ja alte, liebe Bekannte! Willkommen, 
Senores! Was treiben Sie denn hier? Haben Sie 
etwa wieder eine Rieſenſchildkröte gefunden? Wahr⸗ 
haftig, ſie haben es mit alten Knochen zu tun! Nun, 
die Ihrigen werden bald ebenſo ausſehen, wie dieſe 
hier!“ 

Er ſtieß ein höhniſches Gelächter aus, in das die 
andern einſtimmten. Die beiden wurden gepackt und 
bis hin zu ihren Pferden gezogen, wo der Boden feſt 
und trocken, alſo ſicherer und zuverläſſiger war als dort 
am Waſſer. Man bildete zunächſt einen Kreis um ſie; 
dann ſuchte man ihre Taſchen aus. Alles, was dieſe 
enthielten, wurde ihnen nun zum zweitenmal ge⸗ 
nommen. 

Breitſpurig pflanzte ſich der Gambuſino vor ihnen 
auf, indem er an Doktor Morgenſtern die höhniſche 
Frage richtete: „Nun, mein lieber Freund, was iſt 
denn mit dem Vater Jaguar geworden?“ 

„Der iſt hinter Ihrer Fährte her,“ antwortete 
Fritze ſchnell, damit die Fragen an ihn gerichtet werden 
möchten. N 
„Was haſt du zu reden, vorlauter Burſche! Aber 
ich will es geſtatten, denn vielleicht biſt du aufrichtiger 
als dein Herr, der ſchon damals zu keinem Geſtändnis 
zu bringen war. Auch du haſt dein Leben verwirkt, 
kannſt es aber retten, indem du uns die Wahrheit ſagſt. 
Sft der Vater Jaguar uns am andern Morgen wirklich 
nachgeritten?“ 

„Ja.“ 

„Wie weit?“ 


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„Das wiſſen wir nicht, weil wir nicht dabei waren.“ 

„Was wollte er eigentlich im Gran Chaco?“ 

„Er wollte mit ſeinen Yerbateros Tee holen.“ 

„In welcher Gegend?“ 

„Das weiß ich nicht. Er war überhaupt ſehr ver⸗ 
ſchwiegen gegen uns, und wir erfuhren nur das eine, 
daß er Ihnen ſchnell nach wollte, um zu erfahren, wo⸗ 
hin Sie gehen würden.“ 

„Wieviel Leute hatte er bei ſich?“ 

„Vielleicht zwanzig Mann.“ 

„Wie kommt ihr aber zu dieſen Pferden und Waf⸗ 
ſen? Wir hatten euch doch alles genommen.“ 

„Er gab ſie uns, weil er meinte, daß der Bankier 
Salido ihn dafür bezahlen würde.“ 

„Dachte es mir! Und wie kommt ihr nun in dieſe 
Gegend?“ 

„Wir wiſſen, daß im Gran Chaco Reſte von alten 
Tieren gefunden werden, und ſind aufs Geratewohl hin⸗ 
eingeritten. Hier haben wir auch gefunden, was wir 
ſuchten.“ | 

„Wo habt ihr Cambas getroffen?“ 

„Nirgends. Als wir geſtern durch einige Dörfer 
kamen, waren ſie leer.“ 

„Warum?“ 

„Wie kann ich das willen, Seßor?“ 

Da legte ihm der rieſiege Gambuſino die Fauſt 
ſchwer auf die Achſel und ſagte in grimmigem Ton: 
„Höre, Menſch, du biſt entweder der größte Dummkopf, 
den es gibt, oder ein höchſt verſchmitzter Menſch. In 
beiden Fällen aber iſt es nicht ſchade, wenn du das 
Schickſal deines Herrn teilſt. Wir willen nun durch 
dich, daß wir den Vater Jaguar hinter uns haben und 
nicht vor uns, wie wir bereits glauben wollten. Das 


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ift genug. Schnürt die Kerls feſt an die Bäume! Dann 
werde ich mitteilen, welchen Spaß ich euch mit ihnen 
mache.“ 

Dieſe letzten Worte waren an ſeine Umgebung ge⸗ 
richtet. Die beiden Deutſchen wurden ſo, wie er es be⸗ 
fohlen hatte, angebunden, und dann ſprach er leiſe mit 
dem Gefolge, das einen Kreis um ihn gebildet hatte. 
Das häßliche Gelächter, womit man ihm zuſtimmte, 
ließ Schlimmes erraten. Er trat wieder zu ihnen und 
ſagte: „Damit es für euch ja keine Möglichkeit gibt, 
uns abermals zu entkommen, habe ich euch ein zwei⸗ 
faches Todesurteil geſprochen. Ihr ſollt gehängt und 
zu gleicher Zeit von den Krokodilen gefreſſen werden. 
Nur der Teufel allein kann euch da noch Hoffnung 
machen.“ 

Der Doktor wollte antworten, um etwas zu ſeiner 
Verteidigung zu ſagen, Fritze aber ließ ihn nicht dazu 
kommen, indem er ſchnell, und zwar in deutſcher 
Sprache, bemerkte: „Schweigen Sie, Herr! Es würde 
jedes Wort verjeblich ſind.“ 

„Dann ſind wir freilich verloren, lieber Fritzel“ 

„Denken Sie dat nicht! Wenn Sie uns nicht in 
dieſem Augenblick ermorden, werden wir jerettet werden.“ 

„Von wem?“ 

„Vom Vater Jaguar.“ 

„Unmöglich! Er iſt ja nicht da.“ 

„O doch! Irad als dieſer Jambuſino endete, 
blickte ick zufälligerweiſe da über den kleinen Waſſerarm 
hinüber, und da fuhr eine Jeſtalt aus dem Schilf em⸗ 
por, die mich winkte und dann ſchnell wieder verſchwand. 
Es war der Vater Jaguar; ick habe ihn erkannt.“ 


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„Wahrſcheinlich haſt du dich geirrt. Die Sonne, 
lateiniſch Sol genannt, iſt ſchon untergegangen, und die 
Dämmerung tritt ein.“ N 

„Dennoch habe ick mir nicht jeirrt. Es war ſeine 
hohe, breite Jeſtalt und auch der lederne Anzug, den er 
trägt. Er winkte mich heimlich zu und verſteckte ſich 
raſch wieder.“ 

Sie hatten ſich in dieſer Weiſe ungeſtört aus⸗ 
ſprechen können, weil ihre Widerſacher ſich kurze Zeit 
entfernt hatten, um die Abipones zu dem beabſichtigten 
Schauspiel herbeizuholen. Die Roten hielten in ihren 
Vorbereitungen zum Lagern inne und kamen, um die 
beiden zu betrachten und zu verhöhnen. Benito Pa⸗ 
jaro, der Gambuſino, ließ ſie erſt einige Zeit gewähren 
und trieb ſie dann zurück, indem er ſagte: „Gebt jetzt 
Raum, damit wir beginnen können! Brennt dort 
unter dem Aliſobaum ein Feuer an! Dann könnt ihr 
ſehen, wie dieſe beiden Halunken zappeln werden.“ 

Der Aliſo ſtand ſo nahe am Waſſer, daß die Hälfte 
ſeiner Krone ſich über dieſem befand. Seine untern Aeſte 
waren ſo ſtark, daß ſie das Gewicht eines erwachſenen 
Mannes leicht zu tragen vermochten. Man gehorchte 
der Aufforderung und zündete in der Nähe des Stam⸗ 
mes ein Feuer an, wodurch die Krokodile vertrieben 
wurden, die ganz nahe am Ufer im Waſſer gelegen 
hatten. 

„Sie werden bald wiederkommen,“ rief der Gam⸗ 
buſino dem Doktor in höhniſch⸗tröſtendem Ton zu. 
„Habt alſo keine Sorge! Ihr werdet ihre Bekanntſchaft 
baldigſt machen. Was denkt ihr wohl, was wir mit 
euch beginnen werden?“ 

Die Gefragten verſchmähten es, ihm auf dieſe Frage 
eine Antwort zu geben, und fo fuhr er fort: „Wir hän⸗ 


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gen euch an den Aeſten auf, die da über das Waſſer 
ragen, und machen die Riemen fo lang, daß die Kroko⸗ 
dile euch mit den Zähnen erreichen können. Auf dieſe 
Weiſe werdet ihr gehängt und gefreſſen zu gleicher Zeit.“ 


Die beiden Deutſchen überlief ein Schauder, und 
doch war die Todesart einem ihrer Feinde nicht ſchreck⸗ 
lich genug, nämlich Antonio Perillo, dem Stierkämpfer. 
Dieſer ſtand neben dem Gambuſino und ſagte: „Das 
iſt nichts, gar nichts für dieſe Halunken! Dieſer Menſch, 
der vorgibt, ein Deutſcher zu ſein, iſt meiner Kugel ent⸗ 
gangen; dann gelang es ihm, aus unſrer Gefangenſchaft 
zu entrinnen. Er hat uns alſo ſchon zweimal um das 
Schauspiel, ihn fterben zu ſehen, betrogen, und dafür 
ſoll er uns heute entſchädigen. Wenn wir ihn wirklich 
und regelrecht hängen, ſo iſt er in einigen Augenblicken 
tot. Was nützt es da, wenn ihn dann die Krokodile 
freſſen? Die Kerls müſſen viel, viel länger in Todes⸗ 
angſt fchweben!“ 


„Was willſt du denn da vorſchlagen?“ fragte der 
Gambuſino. 


„Wir hängen ſie auf, ja; aber nicht am 
Hals, ſondern unter den Armen, und laſſen ſie ſo tief 
herab, daß ſie von den Krokodilen beinahe erreicht wer⸗ 
den, nicht ganz, ſondern beinahe. Welche Luſt, wie ſie 
zappeln werden, wenn die Beſtien nach ihnen ſchnappen!“ 


„Aber wenn ſie dabei noch zu hoch hängen, werden 
fie doch nicht zerriſſen!“ 

„Einſtweilen, einſtweilen nur,“ lachte der Stier⸗ 
kämpfer. „Erſt ſtehen ſie die Angſt des Todes aus, und 
dann, wenn wir ein Ende machen wollen, laſſen wir ſie 
an den Riemen tiefer herunter.“ 


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Dieſer Vorſchlag fand allgemeinen Beifall, und 
man ſchickte ſich an, die nötigen Vorbereitungen zu 
treffen. | 

„Gräßlich!“ flüſterte der Doktor feinem Diener zu. 
„Sind das Menſchen? Da wollte ich doch lieber, ſie 
würfen uns den Krokodilen ſofort vor!“ 

„Nein,“ antwortete Fritze, „denn da wäre es ſo⸗ 
gleich um uns jeſchehen; ſo aber jewinnen wir Zeit. 
Nur Mut, Herr Doktor, nur Mut! Ick bin überzeugt, 
daß der Vater Jaguar uns nicht im Stiche laſſen wird. 
rad dieſe ausjeſuchte Irauſamkeit wird unſre Rettung 
ſind.“ 

Es war mittlerweile dunkel geworden, und das 
lodernde Feuer warf flackernde Schatten auf die Büſche 
und das Geſchilf und blutrote Lichter auf die Fläche des 
ſumpfigen Waſſers, aus dem man die Köpfe oder 
Rachen der Krokodile hervorragen ſah. Man holte vier 
Laſſos, von denen je zwei feſt zuſammengebunden wur⸗ 
den. Dann kletterten zwei Indianer auf den Baum, 
jeder auf einen andern ſtarken Aſt, um die Laſſos da ſo 
anzubringen, daß ſie ſich in einer Aſtgabel wie auf einer 
laufenden Rolle bewegten. Dann kamen ſie, die Enden 
der Laſſos feſthaltend, wieder herunter. 

Hierauf wurden die Gefangenen von den Bäumen, 
an die man ſie gefeſſelt hatte, losgemacht. Man band 
ihnen die Hände auf dem Rücken und zog das eine, 
äußere Ende des Laſſos unter den Armen durch, um es 
ihnen auf dem Rücken feſtzuknebeln. Dann wurden die 
andern Enden von mehreren kräftigen Männern ange⸗ 
zogen und, als die Gefangenen in der Luft ſchwebten, 
an dem Stamm des Baumes feſtgeſchlungen. 

Da die beiden Aeſte über das Waſſer ragten, ſo 
hingen die beiden Gefangenen nunmehr auch über 


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dieſem. Sie ſchwangen an den Laſſos hin und her, und 
dadurch wurden die in der Nähe befindlichen Krokodile 
herbeigelockt, um mit lautem Zuſammenſchlagen der 
Kinnladen nach ihnen zu ſchnappen. 

Man hatte, dem Vorſchlag des Stierfechters ge⸗ 
mäß, die Laſſos ſo weit angezogen, daß die Tiere die 
Füße der Gefangenen nicht ganz erreichen konnten; 
dennoch warfen die letzteren, ſo oft ſich ein Rachen unter 
ihnen öffnete, die Beine krampfhaft empor, ſo daß ſie 
nicht ſtill hingen, ſondern ſich an den Riemen immer in 
ſchleudernder Bewegung befanden. Es konnte ſich eins 
der Tiere doch einmal ſo hoch emporſchnellen, daß es mit 
den Zähnen ſein Ziel erreichte. Falls ein Laſſo riß, ſo 
war der daran Hängende verloren; es war ihm gewiß, 
augenblicklich zerfleiſcht zu werden. 

Die Stimmung, in der ſich die beiden Deutſchen be⸗ 
fanden, läßt ſich natürlich nicht beſchreiben. Ob ſie ſtill 
waren oder ſchrien, das konnte man nicht ſagen, denn 
die Indianer ſtießen ein Freudengeheul aus, das jeden 
andern Ton oder Laut unhörbar machte, und die Weißen 
ſtimmten in dasſelbe ein. Wollte dieſes Heulen je ein⸗ 
mal aufhören, ſo fing es, wenn ein Krokodil zuſchnappte, 
immer wieder von neuem an. Das währte wohl über 
eine halbe Stunde lang, bis die Kehlen doch ermüdeten 
und nun einige verlangten, daß ein Ende gemacht wer⸗ 
den ſolle. Dagegen aber ſtimmte der Stierfechter, indem 
er rief: „Nein, jetzt noch nicht! Sie müſſen die Todes⸗ 
angſt noch ſtundenlang empfinden.“ 
| „Aber wir haben keine Zeit, uns hierher zu ſtellen,“ 
warf ein andrer ein. „Wir müſſen das Lager bereiten 
und eſſen.“ 

„Wer verlangt denn, daß wir uns hierher ſtellen? 
Dieſe Kerls hängen gut. Tun wir alſo unſre Arbeit! 


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Wenn wir dann zurückkehren, kann das Theater von 
neuem beginnen.“ 

Man ſtimmte ihm bei und bald waren die beiden 
Gefangenen allein. Keiner der Feinde blieb am Waſſer. 
Dieſer letztere Umſtand war es, dem die ſo fürchterlich 
Gequälten ihre Rettung zu verdanken haben jollten. 

Fritze hatte ſich nämlich nicht geirrt, als er den 
Vater Jaguar geſehen zu haben glaubte. Dieſer war, 
wie ſchon erzählt, mit dem Inka und dem Anciano von 
dem Arroyo claro fortgeritten, um die nahenden Abi⸗ 
pones zu erkundſchaften. Sein Weg hatte ihn nach dem 
„Tal des ausgetrockneten Sees“ geführt. Er war über⸗ 
zeugt, daß der Marſch der Feinde nach dieſem Ort ge⸗ 
richtet ſein werde. Ritt er ihnen in gerader Richtung 
entgegen, ſo begab er ſich in die Gefahr, auf der ebenen 
und meiſt offenen Landſchaft von ihnen geſehen zu wer⸗ 
den. Darum war er von dieſer Richtung nach links 
abgewichen. Doktor Morgenſtern war mit Fritze dieſer 
abweichenden Spur gefolgt, infolgedeſſen beide den be⸗ 
reits erwähnten Umweg gemacht hatten. 

Der Vater Jaguar war bis über die Grenze, die 
das Gebiet der Cambas von demjenigen der Abipones 
trennte, zurückgekehrt und dann auf einen weiten, 
baum- und ſtrauchloſen Campo gekommen. Von hier 
bog er nach rechts ab, um auf ſolche Weiſe hinter die 
Feinde zu gelangen und aus ihren Spuren zu erſehen, 
wie groß die Zahl der Gegner war. 

Man ritt alſo jetzt nach Süden, nicht allzu ſchnell, 
ſondern in leichtem Trab, um Zeit zur ſcharfen Beobach⸗ 
tung des Horizonts zu haben. Es war wohl zwei Stun⸗ 
den lang weder ein Menſch, noch eine Spur zu ſehen. 
Dann aber kamen die drei Reiter an eine ungemein 
breite Fährte, die rechtwinklig quer über ihre Richtung 


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lief. Man ſah, daß ſowohl Reiter als auch Fußgänger 
hier vorübergekommen waren, aber wieviel es geweſen 
waren, das konnte höchſtens geſchätzt, nicht aber genau 
beſtimmt werden, da die hinteren die Eindrücke der vor⸗ 
derſten ausgetreten hatten. 

„Es ſind die Abipones,“ meinte Anciano. „Sie 
müſſen ſich ſehr ſicher fühlen, da ſie ſo breit marſchiert 
ſind und eine ſo ſehr unvorſichtige Fährte zurückgelaſſen 
haben. Ihre Zahl kann ich nicht ſagen.“ 

„Und doch möchte ich dies ſehr gern wiſſen,“ ſagte 
der Vater Jaguar. „Wenn wir ihnen nachreiten, ſo 
finden wir vielleicht einige Zeichen, die uns als Anhalt 
dienen können. Ich ſehe am Gras, daß wir ſie wenig⸗ 
ſtens vier Reitſtunden vor uns haben. Ihre Schnellig⸗ 
keit kann die unſrige zwar nicht erreichen, aber wir 
müſſen uns trotzdem ſputen, da wir gezwungen ſind, vor 
ihnen im ‚Tal des ausgetrockneten Sees anzukommen.“ 

Einige Zeit ſpäter gelangten die drei an eine 
Stelle, wo die Abipones gelagert hatten. Die Pferde 
waren ſeitwärts auf die Weide gelaſſen worden, und 
nun konnten die einzelnen Eindrücke beſſer auseinander 
gehalten werden. Der junge Inka gab ſich Mühe, den 
Platz zu unterſuchen. Der Vater Jaguar wollte ihm 
Gelegenheit bieten, feinen Scharfſinn zu zeigen, und 
fragte ihn: „Nun, Hauka, wie viele Feinde werden wir 
vor uns haben?“ 

„Vielleicht fünfzig Reiter und fünfzehnmal mehr 
Männer, welche keine Pferde haben,“ antwortete der 
Jüngling mit großer Beſtimmtheit. 

„Deine Schätzung hat das Richtige getroffen, ſie 
wird ziemlich genau ſtimmen.“ 

„Was tun wir nun?“ fragte Anciano. „Reiten wir 
noch weiter hinter ihnen her?“ 


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„Nein; wir wiſſen, woran wir ſind; wir haben 
unſern Zweck erreicht und kehren zu unſern Cambas 
zurück. Wir halten uns jetzt wieder nach Norden und 
reiten, ſobald wir unſre Fährte erreichen, auf ihr zurück.“ 

Die drei ritten alſo nunmehr nördlich von der 
Linie, und zwar parallel mit derſelben, auf der die Abi⸗ 
pones marſchierten. Stunden vergingen und wieder 
Stunden. Der Weg hatte faſt zwei Tage in Anſpruch 
genommen, denn die drei waren geſtern früh ausge⸗ 
ritten, und jetzt war der Mittag längft vorüber. Plötz⸗ 
lich hielt der Vater Jaguar ſein Pferd an und ſah über⸗ 
raſcht zur Erde nieder. Die drei befanden ſich jetzt an 
der Stelle, wo Morgenſtern und ſein Diener zu der Ein⸗ 
ſicht gekommen waren, daß fie falſch geritten ſeien. 
„Sonderbar!“ antwortete er. „Da ſind fünf Reiter 
hinter uns hergekommen und nach Süden abgebogen!“ 


„Vom ‚Tal des ausgetrockneten Sees“ her,“ er⸗ 
gänzte Anciano. 

„Es ſind jedenfalls Freunde von uns, da es dort 
noch keine Abipones geben kann. Sie ſind nach dem 
Sumpf der Knochen hinüber. Was hat das zu be⸗ 
deuten? Welch eine Unvorſichtigkeit von dieſen Cambas!“ 

Haukaropora war der Spur eine kleine Strecke ge⸗ 
folgt. Als er zurückkehrte, hörte er dieſe Worte und 
ſagte: „Es ſind keine Cambas, welche dieſe Unvorſich⸗ 
tigkeit begangen haben. Ich ſollte nicht ſprechen, weil 
ich ein Knabe bin, aber wenn mich nicht alles trügt, 
ſo iſt der kleine, gelehrte Mann mit ſeinem Diener hier 
geritten.“ 

„Das wären nur zwei Perſonen; ich ſehe aber die 
Spuren von fünf Pferden im Gras.“ 

„Sie haben die Fährte noch nicht genau betrachtet. 


— 89 — 


Wenn Sie das tun, ſo werden Sie bemerken, daß zwei 
Reiter drei ledige Pferde neben ſich geführt haben.“ 

Als der Vater Jaguar hierauf aus dem Sattel 
ſtieg, überzeugte er ſich ſehr leicht, daß der junge Inka 
ſich nicht geirrt hatte. 

„Zwei Reiter mit drei ledigen Pferden, alſo wohl 
mit Packpferden!“ dachte er. „Es iſt dem Doktor aller⸗ 
dings zuzutrauen, daß er nicht an die Gefahr, ſondern 
nur an dieſe alten Knochen denkt! Er hat Packpferde 
mitgenommen, um ihnen die Knochen aufzuladen.“ 

„So wundert es mich nur, daß Senor Geronimo 
ihnen erlaubt hat, ſich zu entfernen.“ 

„Der? Es ihnen erlaubt? Würde ihm nie ein⸗ 
fallen! Sie haben ſich heimlich entfernt, bei Nacht und 
Nebel, ohne daß es jemand bemerkt hat. Darum ſind ſie 
erſt vor ſo kurzem hier geweſen. Es bleibt uns wirklich 
nichts andres zu tun, als höchſt vorſichtig nach dem 
Sumpf zu reiten, um zu ſehen, ob wir die Gefahr von 
den Unvorſichtigen abwenden können.“ 

Sie folgten nun der Spur der beiden Miſſetäter. 
Es war notwendig, Galopp zu reiten, denn der Sumpf 
lag zwei Reitſtunden entfernt, und gerade ſo lange hatte 
man noch bis zum Anbruch der Finſternis Zeit. 

Während ſie über die Ebene flogen, hielten ſie die 
Augen ſcharf nach der Gegend gerichtet, woher die Feinde 
zu erwarten waren. Es verging eine Stunde und noch 
eine halbe, der Sumpf konnte nicht mehr weit entfernt 
ſein. Da deutete der Inka nach Oſten und ſagte: „Dort 
kommen Reiter. Sie bilden einen großen Punkt; darum 
ſehe ich ſie: ſie aber bemerken uns noch nicht, da wir nur 
drei Perſonen ſind.“ 

„Wir ſind gezwungen, einen Bogen zu ſchlagen, um 
ihnen aus der Sehweite zu kommen,“ riet Hammer. 


— 400 — 


„Wenn wir den Sumpf zwiſchen ſie und uns bringen, 
werden ſie uns wahrſcheinlich nicht entdecken.“ 

Nach einigen Sekunden ſchon war der Punkt, den 
Haukaropora geſehen hatte, verſchwunden. Die drei 
ſchlugen einen weiten, nach Weſten gerichteten Bogen 
und verlängerten ihn zu einem Halbkreis, der ſie wieder 
öſtlich führte. Da ſahen ſie in der Ferne Bäume ſtehen, 
dann auch die niedrigeren Sträucher, und hielten nach 
wenigen Minuten am weſtlichen Ende des Sumpfes, ſo, 
daß dieſer ſich zwiſchen ihnen und den heranziehenden 
Abipones befand. Die Sonne begann jetzt hinter dem 
Horizont zu verſchwinden. 

Sie ſtiegen ab und banden ihre Pferde an. Der 
Vater Jaguar nahm ſein Fernrohr aus der Taſche und 
kletterte auf einen Baum, da er von da oben aus weiter 
ſehen konnte. Ja, da hinten kamen ſie, die Abipones, 
voran die Reiterſchar, die aus lauter Weißen zu beſtehen 
ſchien, und hinter ihr die Indianer zu Fuß. Hammer 
ſuchte mit ſeinem Rohr das Schilf ab, konnte aber nie⸗ 
mand entdecken, da Morgenſtern und Fritze in gebückter 
Haltung an ihrem wertvollen Fund arbeiteten. 

Der junge Inka hatte auch einen Baum beſtiegen 
und rief dem Vater Jaguar ſchon nach wenigen Augen⸗ 
blicken zu: „Fünf Pferde, Senor! Ich ſehe fie.“ 

„Wo?“ 

„Da drüben an den Bäumen hinter dem Gebüſch. 
Von Ihrer Stelle aus kann man ſie nicht ſehen.“ 

„Da müſſen ſie doch von den Abipones bemerkt 
werden?“ 

„Ja. Die Reiter galoppieren Beate auf fie los. 
Jetzt ſteigen fie bei ihnen ab.“ 

„O wehe! Man wird die Unglüclichen ſogleich 
entdecken.“ 


— 101 


Leider dämmerte es jetzt ſo raſch, daß die fernere 
Beobachtung unmöglich wurde. Der Vater Jaguar ſtieg 
alſo, ebenſo wie der Inka, vom Baum herab und ſagte: 
„Ich werde mich hinüberſchleichen.“ 

„Das iſt gefährlich,“ warnte Anciano, 

„Ich fürchte die Abipones nicht!“ 

„Ich meine nicht dieſe, ſondern die Krokodile, die 
im Schilf verſteckt ſind.“ 

„Jetzt iſt es noch hell genug, dieſe Tiere zu ſehen. 
Horch!“ 

Man hörte laute Stimmen von drüben herüber⸗ 
ſchallen. 

„Die Unvorſichtigen ſind erwiſcht worden,“ fuhr 
Hammer fort. „Ich muß erfahren, was mit ihnen ge⸗ 
ſchieht.“ 

„So gehe ich mit!“ ſagte Anciano. 

„Und ich auch!“ ſtimmte Hauka ein. 

„Einer muß hier bei den Pferden bleiben. Anciano 
mag mit mir gehen.“ 

Hammer und der Alte entfernten ſich, um in geduck⸗ 
ter Haltung durch das Schilf zu ſchleichen. Solange es 
Sträucher gab, hinter denen ſie Deckung fanden, war 
dies nicht ſchwer; bald aber waren ſie gezwungen, ſich 
niederzulegen. Sie mußten ſich dabei in acht nehmen, 
das Schilf nicht zu bewegen; die ſcharfen Halme ſchnitten 
ihnen in die Hände, was ſie jedoch nicht beachteten. Oft 
mußten ſie durch eine übelriechende Lache kriechen, deren 
Jauche ihnen bis an die Ellbogen reichte. So kamen ſie 
näher und näher und befanden ſich höchſtens noch ſechzig 
Schritte von der Stelle entfernt, wo Hauka die fünf 
Pferde angebunden geſehen hatte. 

Bis jetzt waren ſie ſo vorſichtig geweſen, die Köpfe 
nicht über die Spitzen des Schilfes zu erheben; nun aber 

May, Das Vermächtnis des Inka 2 


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galt es, den letzten Reſt des Tageslichts zu benutzen. Der 
Vater Jaguar hatte ſeinen Hut längſt abgenommen und 
zwiſchen den Zähnen getragen; jetzt riß er ein Bündel 
Schilf aus, hielt es wie einen Fächer in die Höhe und er⸗ 
hob dann hinter ihm den Kopf ſo weit, daß er beobachten 
konnte, ohne ſelbſt geſehen zu werden. 

Da ſtand der Doktor mit ſeinem Diener bei den 
Weißen, die mit den Abipones gekommen waren, und 
etwas weiter zurück waren die Roten in verſchiedenen 
Gruppen zu ſehen. Fritze hielt ſein Geſicht gerade nach 
der Stelle gerichtet, wo ſich die beiden Lauſcher befanden, 
während die andern alle in eine andre Richtung blickten, 
nämlich auf die beiden Gefangenen. Da erhob ſich der 
Vater Jaguar raſch zu ſeiner vollen Höhe, aber nur für 
einen einzigen Augenblick, gab Fritze einen Wink und 
ließ ſich darauf ſchnell wieder nieder.“ 

„Was wagen Sie, Senor!“ flüſterte ihm Anciano 
zu. „Dieſe Bewegung kann uns das Leben koſten.“ 

„Nun nicht, denn man hat ſie nicht bemerkt; aber 
Fritze hat mich geſehen und wird ſeinem Herrn ſagen, 
daß er hoffen darf.“ 

„Was werden ſie mit den beiden unbedachtſamen 
Menſchen machen?“ 

„Das werden wir bald ſehen, denn es ſcheint, daß 
ſie Beratung halten. Ziehe Schilf aus dem Boden und 
ſtecke es vor dich hin! Dann kannſt du bequem beobach⸗ 
ten, was geſchieht.“ 

Anciano befolgte dieſen Rat. Die beiden ſahen, 
daß der Gambuſino auf ſeine Gefährten einſprach; aber 
ſie konnten die Geſichter ſchon nicht mehr deutlich er⸗ 
kennen. Dann hörten ſie laute, zuſtimmende Rufe, 
ohne aber die einzelnen Worte verſtehen zu können. Es 
wurde dunkel, und man brannte unter einem Aliſo⸗ 


— 403 — 


baum ein Feuer an. Die beiden Gefangenen wurden 
in deſſen Nähe geſchafft. Die Flamme warf ihren 
Schein auf die Geſtalten und auf die Geſichter. Da 
entfuhr dem Vater Jaguar ein kurzer Schrei, den ſeine 
Feinde jedenfalls gehört hätten, wenn ihre eigenen 
Stimmen weniger laut geweſen wären. N 

„Was iſt's? Was gibt's?“ fragte Anciano. 

Hammer antwortete nicht. Sein Auge haftete mit 
einem wilden Blick auf der Männergruppe, die dort am 
Feuer ſtand. 

„Warum riefen Sie?“ fuhr der Alte fort. „Wenn 
man Sie gehört hätte! Was haben Sie geſehen?“ 

Er hörte, daß der Vater Jaguar ſchwer, faſt 
röchelnd, atmete, und wiederholte ſeine letzten Worte. 
Da endlich antwortete der Gefragte: „Siehſt du den 
langen, ſtarken Menſchen, der wie ein Rieſe unter den 
andern ſteht? Er ſpricht eben jetzt auf die Gefangenen 
. ein.“ 

„Natürlich ſehe ich ihn, und ich kenne ihn gar wohl.“ 

„Was? Wie? Wirklich?“ ſtieß Hammer ſchnell 
hervor. „Du kennſt ihn? Wer — wer iſt er?“ 

„Benito Pajaro, den ſie den Gambuſino nennen.“ 

„Ah! O! Der — der — — der! Er iſt es, den 
ich ſeit Jahren ſuche!“ 

Er hatte bei dieſen Worten ſeine Stimme ſo er⸗ 
hoben, daß Anciano ſchnell einfiel: „Nicht ſo laut, 
Senor, nicht ſo laut! Sie verraten uns ja! Was iſt 
mit Ihnen? Sie, der vorſichtigſte Mann, den ich 
kenne, bringen uns in eine ſolche Gefahr! Haben Sie 
etwas mit dem Gambuſino?“ 

„Ob ich etwas mit ihm habe!“ 

Er ſprach nur dieſe Worte; ſie kamen dumpf 
zwiſchen ſeinen Lippen hervor, und dann hörte der Alte 


— 404 — 


ihn mit den Zähnen knirſchen. Darauf blieb er ſtill. 
Das war um die Zeit, wo die Laſſos aneinander ge⸗ 
knüpft wurden; dann ſtiegen, wie ſchon erwähnt, die 
beiden Indianer auf den Baum. Als Anciano dies 
ſah, fragte er mehr ſich ſelbſt als ſeinen Gefährten: 
„Was haben ſie vor? Wozu ſchaffen ſie die Riemen 
auf die Aeſte?“ 

„Ich vermute es,“ antwortete der Vater Jaguar, 
jetzt wieder in der ruhigen Weiſe, welche ihm ſo eigen⸗ 
tümlich war. 

„Will man die Gefangenen etwa aufhängen?“ 

„Ja.“ 

„So können wir ſie nicht retten!“ 

„Vielleicht doch. Man will die Gefangenen nicht 
am Hals aufhängen. Wollte man das tun, ſo hätte 
man es bequemer und brauchte nicht die Aeſte zu wäh⸗ 
len, die über das Waſſer ragen. Paß auf!“ 

Es folgte die ſchon beſchriebene Szene. Als die 
beiden Gefangenen an den Aeſten hingen und die Kro⸗ 
kodile herbeigeſchoſſen kamen, flüſterte Anciano: „Welche 
Grauſamkeit, Seßor! Sehen Sie nur, wie die Tiere 
nach ihnen ſchnappen! Was raten Sie uns zu tun?“ 

„Jetzt noch nichts. Wir müſſen noch warten. Die 
Lage der armen Teufel iſt zwar ſchrecklich, aber keines⸗ 
wegs ſchon lebensgefährlich. Die um die Bruſt gelegten 
Riemen drücken ein wenig; das iſt auszuhalten.“ 

„Ich möchte am liebſten mitten unter die Halun⸗ 
ken hineinſpringen!“ 

„Das würde nichts helfen, ſondern nur uns mit 
denen verderben, die wir retten wollen. Alſo Geduld!“ 

Sie machten ſich dieſe Mitteilungen in ziemlich 
lautem Ton, da die Abipones ein Geheul wie die Teufel 
erhoben hatten. Dies verſtummte nach und nach; eine 


— 405 — 


kleine Weile verging, und dann ſahen die beiden, daß 
die Abipones mit ihren weißen Verbündeten den Platz 
verließen und ſich um die am Baume Hängenden nicht 
mehr zu kümmern ſchienen. 

„Jetzt hin, Senor!“ flüſterte Anciano dem Vater 
Jaguar zu. „Die Zeit zum Handeln iſt da!“ 

Er wollte auf. Hammer drückte ihn nieder und 
antwortete in befehlendem Ton: „Bleib! Willſt du 
alles verderben? Siehſt du denn, wo unſre Feinde ſich 
befinden?“ 

„Nein; es iſt ja dunkel; aber fort ſind ſie doch!“ 
W Vielleicht; ja ſogar wahrſcheinlich. Sie laſſen die 
Gefangenen hängen, um fie fo lang wie möglich zu quä- 
len und erſt ſpäter den Krokodilen zu überlaſſen. Jetzt 
werden ſie Material zuſammentragen, um da draußen, 
wo ſie lagern wollen, Feuer anzuzünden; ſie ſind alſo 
noch in der Nähe. Dann, wenn ihre Feuer brennen, 
können wir ſie ſehen, und dann iſt die Gefahr für uns 
nicht ſo groß wie jetzt.“ 

„Sie werden Wächter bei dem Baum laſſen!“ 

„Denen geben wir unſre Meſſer. Gerade ihre 
Grauſamkeit, die Todesqual der Gefangenen zu verlän⸗ 
gern, läßt vermuten, daß ſie ſich ganz ſicher fühlen. 
Wir haben Zeit, das verſichere ich dir.“ 

„Und ich möchte das Gegenteil behaupten, Seüor. 
Die Feinde müſſen ſich doch ſagen, daß wir uns in der 
Nöhe befinden!“ 

„Wer weiß, was dieſer Fritze ihnen geſagt hat! 
Wenn es ſich um einen Wunſch ſeines Herrn handelt, 
kann er die größte Dummheit begehen; ſonſt aber iſt er 
ein ſehr pfiffiger Burſche, und ich glaube nicht, daß er 
ſich verraten hat.“ 


— 406 — 


Jetzt ſah man draußen auf der Ebene ein Feuer 
nach dem andern aufleuchten. Das Lager wurde in 
ziemlicher Entfernung von dem Sumpfe aufgeſchlagen, 
und der Vater Jaguar ſah zu ſeiner Genugtuung, daß 
der Baum, woran die Gefangenen hingen, gegen das 
Lager hin durch ein Geſträuch gedeckt war, das die Ret⸗ 
tung der mit dem Tode Bedrohten außerordentlich be⸗ 
günſtigte. 

Noch immer liefen Indianer hin und her, um 
Schilf und Holz nach den Feuern zu tragen. Dies 
mußte man vorüberlaſſen. Noch ſo lange zu warten, 
dieſe Aufgabe ging faſt über die Kräfte des alten An⸗ 
ciano. Er geſtand: „Senor, wenn es nicht bald los⸗ 
geht, ſo werde ich auch Dummheiten machen! Ich 
möchte dieſe Hunde alle erwürgen!“ 

„Sei ſtill! In mir kocht es noch weit ärger als in 
dir. Du haſt keine Ahnung von dem, was ich ſeit einer 
Viertelſtunde empfinde. Ich muß mich noch viel mehr 
zwingen als du, ruhig zu ſein. — Aber wie ich ſehe, 
wird jetzt Fleiſch verteilt. Das zieht die Leute an und 
hält ſie jedenfalls ſo lange von hier fern, bis wir fertig 
find.” 

Man ſah, daß die Abipones ſich alle an einem 
Punkt des Berges verſammelten; auch diejenigen, die 
noch mit Zutragen des Feuerungsmaterials beſchäftigt 
waren, eilten dorthin. Der Rand des Sumpfes war 
von Beobachtern frei. Das Feuer, das unter dem 
Baum brannte, hatte keine Nahrung erhalten und 
brannte nicht mehr hell genug, die Umgebung ſo zu er⸗ 
leuchten, daß ſie vom Lager aus deutlich geſehen werden 
konnte. Der Vater Jaguar ſprang auf und rannte aun 
den Baum zu; der alte Anciano folgte ihm augenblick⸗ 
lich. Die ſchon erwähnten Büſche ſtanden zwiſchen ihnen 

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und dem Lager. Nun galt es, ſchnell, aber auch beſon⸗ 
nen zu handeln. 

Der Vater Jaguar ſchlang ſich ſeinen Laſſo vom 
Gürtel, rollte ihn wurffertig zuſammen und rief dabei 
den an dem Baume Hängenden mit gedämpfter Stimme 
zu: „Die Hilfe iſt da. Macht euch ſteif und unbeweg⸗ 
lich, bis ihr den feſten Boden erreicht!“ 

Er warf den Laſſo, und zwar ſo geſchickt, daß das 
freie Ende ſich um den Leib des Doktors ſchlang. Dann 
gebot er Anciano: „Binde den Riemen los, woran er 
hängt, und halte ihn aber feſt! Du läßt ihn in der 
Weiſe über den Aſt laufen, in der ich den Doktor an 
meinem Laſſo herüberziehe!“ 

Anciano tat, wie ihm befohlen worden war. Er 
band den Laſſo von dem Stamm los, hielt ihn aber feſt, 
damit der Doktor nicht in das Waſſer fiel; dann ließ er 
ihn laufen, während Hammer den zwiſchen Himmel und 
Erde Schwebenden aus der Luft und herüber an das 
Ufer zog. Ein Schnitt mit dem Meſſer, und die Arme 
des Geretteten waren frei. Er wollte ſprechen und ſich 
dabei den Laſſo von der Bruſt entfernen; da aber gebot 
der Vater Jaguar: „Stehen Sie ſtill und ſprechen Sie 
jetzt nicht! Der Laſſo bleibt vorerſt an Ihrem Leib!“ 

Er meinte damit nicht den ſeinigen, den er ſchon 
losgebunden hatte, ſondern denjenigen, woran der Dok⸗ 
tor gehangen hatte. Jetzt wieder eine Schlinge legend, 
warf er ſie dem Diener um den Leib, worauf Fritze ganz 
in derſelben Weiſe herunter⸗ und herübergeholt wurde. 
Darauf ſagte er: „Man muß denken, daß ihr von den 
Krokodilen herabgeriſſen und verzehrt worden ſeid; dar⸗ 
um darf ich euch nicht losbinden und auch nicht los⸗ 
ſchneiden, ſondern ich muß die Laſſos ſo entzwei machen, 
daß es ſcheint, als ob ſie abgeriſſen worden ſeien.“ 


— 408 — 


Er ſägte nahe an den Körpern der Geretteten die 
Riemen auseinander, indem er ſie mit der Meſſer⸗ 
ſchneide aufſchabte und dann alles zerriß. Dann wurden 
die Laſſos wieder an den Baumſtamm befeſtigt, wie ſie 
vorher daran gebunden geweſen waren. Die abgeriſſe⸗ 
nen Enden hingen nun ganz ſo von den Aeſten über 
dem Waſſer herab, als ob diejenigen, die daran gehan⸗ 
gen hatten, von den Krokodilen herabgezerrt worden 
ſeien. 


Dies war weit ſchneller geſchehen, als man es be⸗ 
ſchreiben kann, und während es geſchah, hatte der Vater 
Jaguar auch ein ſehr ſcharfes Auge mit auf das Lager 
gehabt. Dort fiel es jetzt keinem Menſchen ein, ſich um 
die Gefangenen zu bekümmern. Man war mit dem 
Eſſen beſchäftigt, und erſt als dies vorüber war, be⸗ 
merkte man zufällig, daß das Feuer unter dem Baum 
nicht mehr brannte. Der Gambuſino ſchickte einen 
Mann hin, um es von neuem anzuzünden; kaum aber 
hatte dieſer den ihm gewordenen Befehl erfüllt, ſo kam 
er eiligſt herbeigelaufen und meldete: „Seüores, denken 
Sie ſich, was geſchehen iſt! Die Krokodile haben unſre 
Gefangenen gefreſſen!“ 


Niemand wollte dieſes glauben, und der Gambu⸗ 
ſino und einige andere ſprangen auf, um ſich zu über⸗ 
zeugen, ob es wahr ſei. An Ort und Stelle angekom⸗ 
men, ſah man beim Schein des wieder brennenden 
Feuers die beiden Laſſoenden von den Aeſten hängen. 
Darunter lagen die Krokodile und glotzten mit ſtieren 
Blicken nach dem Ufer hin. 

„Wahrhaftig, ſie ſind weg, ſind fort!“ rief Antonio 
Perillo, der Stierkämpfer. „Wer hätte das gedacht? 
Wie kann das geſchehen ſein?“ 


— 409 — 


„Die Krokodile ſind doch jedenfalls hoch genug ge⸗ 
ſprungen, um ſie faſſen zu können,“ antwortete der Ka⸗ 
pitän Pellejo. 

„Schwerlich!“ meinte der Gambuſino. „So hoch, 
wie dieſe Kerls hingen, kann ſich kein Krokodil in die 
Höhe ſchnellen. Sollte ſich jemand hier befunden haben, 
der ſie abgeſchnitten hat?“ 

„Abſchneiden? Wer konnte ſo weit hinüber⸗ 
langen?“ 

„Hm! Das iſt wahr. Zieht doch einmal die Laſſos 
von den Aeſten herunter! Wir werden gleich ſehen, ob 
es mit dem Meſſer geſchehen iſt.“ 

Man holte die Enden herab und unterwarf ſie einer 
ſehr genauen Unterſuchung, wobei man jedoch feſtſtellen 
mußte, daß die Riemen wirklich zerriſſen und nicht zer⸗ 
ſchnitten ſeien. 

„So ſind dieſe Tiere doch ſo hoch geſprungen!“ 
meinte der Gambuſino. „Sie müſſen großen Hunger 
gehabt haben. Und geſchmeckt hat es ihnen jedenfalls 
ausgezeichnet, denn ſie liegen da, als ob ſie noch mehr 
haben wollten. Nun, ſo oder ſo, wir ſind die Feinde 
los; ſie haben ihren Lohn!“ 

„Was das betrifft,“ ſagte Perillo ärgerlich, „ſo bin 
ich ſehr enttäuſcht, daß das gar ſo ſchnell gegangen iſt. 
Sie ſollten länger hängen, viel länger! Und ich wollte 
dabei ſein, wenn ſie zerriſſen wurden! Wäre das Feuer 
nicht ausgegangen, ſo hätten ſich die Beſtien mehr ge⸗ 
ſcheut und wären nicht ſo zudringlich geworden. Das 
hätte ich bedenken ſollen!“ 

Morgenſtern und Fritze waren indeſſen von ihren 
beiden Befreiern nicht durch das Schilf — denn das war 
jetzt bei der Dunkelheit gar nicht nötig, vielmehr im Ge⸗ 
genteil ſehr gefährlich — ſondern um den Sumpf herum 


— 


— 410 — 


nach der Stelle geführt worden, wo der Inka wartete. 
Sie hatten bis jetzt geſchwiegen; nun aber meinte der 
Doktor, indem er tief Atem holte, in deutſcher Sprache 
zu dem Vater Jaguar: „Sie haben uns vorher das 
Sprechen verboten. Das war ſchrecklich! Nein, das 
war mehr als ſchrecklich; das war ganz unbeſchreiblich 
entſetzlich! Mir zittert jedes Glied meines Leibes noch 
im gegenwärtigen Augenblick!“ 

„Und mich auch!“ ſtimmte Fritze bei. „Erſt war ick 
ziemlich juten Mutes; aber als ick am Baum hing und 
unter mich die Krokodilers ſo ſchadenfroh lächeln ſah, da 
jab ick mir verloren.“ 

„Hatten Sie mich geſehen?“ fragte der Vater Jaguar. 

„Ja,“ entgegnete Fritze, „ick hatte Ihnen erkannt 
und dachte bei mir ſelbſt, daß Sie uns nicht verlaſſen 
würden.“ | 

„Jetzt Tagen Sie mir vor allen Dingen, ob Sie dar⸗ 
über, wie Sie an den Sumpf gekommen ſind, ausgefragt 
wurden!“ 

„Natürlich hat man uns Triminalifiert; ick habe 
aber nichts geſtanden.“ 

Er berichtete über das Verhör, das man mit ihm 
angeſtellt hatte. Darauf ſagte Hammer, der bisher in 
zornigem Ton geſprochen hatte, in etwas milderer Weiſe: 
„So haben Sie glücklicherweiſe doch nicht lauter Fehler 
gemacht. Wie aber ſind Sie denn auf die unglückliche 
Idee gekommen, nach dem Sumpf zurückzukehren?“ 

„Daran bin ich ſchuld,“ antwortete der kleine Ge⸗ 
lehrte. „Ich konnte die Knochen nicht vergeſſen. Sie 
lagen mir im Kopf; ich wollte und mußte ſie haben, 
und ſo ruhte ich nicht eher, als bis Fritze einwilligte, 
mit nach dem Sumpf, lateiniſch Palus genannt, zurück⸗ 
zukehren.“ 


— 41 — 


„Welche Unvorſichtigkeit! Sie werden mir ſpäter 
erzählen, wie das alles geſchehen iſt. Wir müſſen auf⸗ 
brechen. Sie haben keine Pferde mehr. Da Sie jeden⸗ 
falls ſehr angegriffen find, werden Sie reiten müſſen. 
Ich gehe mit Anciano zu Fuß nebenher.“ 

„Nein, ich laufe, Seßor,“ bemerkte der Inka. „Ich 
bin jung und nur ein Knabe; Sie aber und mein An⸗ 
ciano haben — —“ 

„Laß es gut ſein!“ unterbrach ihn Hammer. „Es 
bleibt bei dem, was ich geſagt habe.“ 

Erſt jetzt band er dem Doktor und deſſen Diener 
die Laſſoenden los, die er aber vorſichtigerweiſe nicht 
wegwarf, ſondern zu ſich ſteckte. 

Es war anzunehmen, daß die Feinde in gerader 
Linie nach dem ‚Tal des ausgetrockneten Sees“ reiten 
würden. Damit ſie nicht ſeine Spur bemerken möchten, 
hielt der Vater Jaguar es für geraten, ſich in gehöriger 
Entfernung, aber doch immer parallel mit dieſer Linie 
zu halten. Es wurde aufgebrochen, die beiden Deutſchen 
und der Inka zu Pferde; der Vater Jaguar ging mit 
Anciano mit langen, ausgiebigen Schritten voran, um 
den andern den Weg anzugeben. 

Als nach einiger Zeit die Mondesſichel erſchien, 
wurde es heller, als es vorher geweſen war, und ſo be⸗ 
merkte der alte Anciano, in welch gebückter und nach⸗ 
denklicher Haltung der Vater Jaguar jetzt an ſeiner 
Seite dahinſchritt. Den ſonſt ſo rüſtigen, kräftigen 
Mann ſchien irgend etwas ſchwer und tief niederzudrücken. 
Viertelſtunde um Viertelſtunde verging, ohne daß er ein 
Wort ſagte, und nur zuweilen war ein eigentümlicher, 
knirſchender Ton zu vernehmen, als ob ſeine Zähne 
hart aufeinander getroffen hätten. Darum unterbrach 
der Alte endlich das Schweigen, indem er halblaut 


— 412 — 


fragte: „Sie haben einen Gedanken, der Ihnen viel zu 
ſchaffen macht. Wollen Sie ihn mir mitteilen, Senor?“ 

„Du ſollſt ihn erfahren, Anciano,“ antwortete der 
Deutſche. „Ich habe dieſen Gambuſino während einer 
ganzen Reihe von Jahren mit Schmerzen geſucht, ohne 
ihn ein einziges Mal getroffen zu haben.“ 

„Das iſt ſonderbar! Hätten Sie mir dieſen Wunſch 
mitgeteilt, ſo wäre er Ihnen ſchon längſt in Erfüllung 
gegangen.“ 

„Eine ſolche Mitteilung hätte nichts gefruchtet, 
denn ich wußte nicht, daß der Gambuſino derjenige iſt, 
den ich ſuche. Aber jetzt habe ich ihn wiedererkannt. 
Ich habe ihn nicht nur heute mit dem Auge, ſondern 
ſchon vorher mit dem Ohr erkannt. Als wir uns zuerſt 
da unten am Rio Salado trafen und eine Stunde ſpäter 
die beiden, die wir heute vom Tod errettet haben, aus 
der Hand der Abipones befreiten, da hörte ich eine 
laute, befehlende Stimme. Ihr Klang machte, daß ich 
mitten in der größten Eile halten blieb; aber wir hatten 
Wald zur Rechten und zur Linken, wodurch die Stimme 
eine andre Klangfarbe erhielt. Aber jetzt — jetzt iſt er 
erkannt!“ | 

„Er iſt ein Feind von Ihnen?“ 

„Ich habe eine Rechnung mit ihm auszugleichen, 
und die Quittung wird mit Blut geſchrieben — — 
morgen ſchon, wie ich hoffe!“ 

„Es iſt alſo Blut gegen Blut?“ 

„Ja. Er hat meinen Bruder ermordet droben im 
Norden. Wie das geſchehen iſt, vermag ich nicht zu er⸗ 
zählen. Es war entſetzlich, ſo entſetzlich, daß mir das 
Haar darüber weiß geworden iſt. Ich verfolgte ihn; 
ich erfuhr, daß er ſich nach Südamerika gewendet hatte. 
Argentinien war ſeine Heimat. Ich kam hierher, um 


— 418 — 


ihn zu ſuchen. Ich durchritt das Land; ich befuhr alle 
Flüſſe; ich überkletterte alle Berge, ohne ihn zu treffen, 
heute aber habe ich ihn, und nun kommt er mir nicht 
wieder aus dem Auge, bis — die Quittung geſchrieben 
it!” | 

„So nehmen Sie den einen und ich nehme den 
andern!“ 

„Wen?“ 

„Den Stierkämpfer. Ich werde ihn nach dem 
Skalp fragen, den er dem Leutnant Verano gezeigt hat.“ 


Dreizehntes Kapitel 
Des Stierkämpfers Geheimnis 


Hm Sumpf waren die Feuer ausgegangen; die 
Roten und die Weißen ſchliefen, weil morgen mit dem 
früheſten aufgebrochen werden ſollte. Ein Wächter 
ſtand bei den Pferden; aber er war es doch nicht allein, 
der wachte, ſondern es gab außer ihm noch drei, die von 
dem Schlaf nichts wiſſen wollten, nämlich den Gambu⸗ 
fino, den Stierkämpfer und den Kapitän Pellejo. 

Dieſer letztere ſtand zu den beiden andern in ganz 
demſelben Verhältnis, in dem ſich der Leutnant Verano 
dem Vater Jaguar gegenüber fühlte: er war Offizier; 
die beiden andern waren nicht Militärs, und ſo glaubte 
er, höher zu ſtehen als ſie. Er war während der letzten 
Zeit oft mit ihnen in Streit geraten und hatte immer 
nachgeben müſſen, weil der Einfluß des Gambuſino auf 
die Abipones größer als der ſeinige war. Das hatte 
ihn tief verdroſſen und mißtrauiſch gemacht. 

Heute, als die beiden Gefangenen von dem Baum 
verſchwunden waren, und man den Lagerplatz wieder 
aufgeſucht hatte, ſaß er bei den Soldaten, die ſich am 
Palmenſee zuſammengefunden hatten und für deren 
Anführer er ſich hielt. Da trat der Gambuſino mit 
Perillo zu ihnen und ſagte: „Senor Kapitän, wir wer⸗ 
den morgen das große Dorf der Cambas erreichen und 


— 415 — 


ſofort angreifen; ich werde Ihnen jetzt Ihre Inſtruktion 
erteilen.“ 

„Meine Inſtruktion?“ fragte Pellejo verwundert. 
„Eine Inſtruktion hat man doch nur von dem Vorge⸗ 
ſetzten entgegenzunehmen!“ 

„Sie meinen nicht, daß ich der Ihrige bin?“ 

„Nein.“ 

„Ich wußte, daß dies Ihre Anſicht iſt, und habe 
bis jetzt geſchwiegen. Nun es aber morgen zum Kampf 
kommt, muß ich Sie aufklären. Ich bitte Sie, zu leſen!“ 

Er zog eine kleine Blechkapſel aus der Taſche, öff⸗ 
nete ſie, nahm ein zuſammengefaltetes Papier heraus, 
ſchlug es auseinander und gab es dem Kapitän. Dieſer 
las es beim Schein des Feuers, wurde bleich im Geſicht 
und gab es ihm wieder zurück. 

„Nun,“ fragte der Gambuſino, „wer iſt der Kom⸗ 
mandierende?“ 

„Ich habe mich überzeugt, daß ich Ihnen zu ge⸗ 
horchen habe.“ 

„Nicht nur Sie allein, ſondern auch alle Ihre Un⸗ 
tergebenen. Sagen Sie es ihnen!“ 

„Ich werde es tun, Senor,“ rief der Hauptmann, 
indem er aufſtand und, kaum imſtande, ſeinen Zorn zu 
beherrſchen, das Feuer verließ. 

Er ſchritt ein Stück in die Nacht hinein, um ſeiner 
Wut Herr zu werden. Als er ſpäter zurückkehrte, war 
das Feuer erloſchen. Dennoch bemerkte er, daß der 
Gambuſino und der Stierkämpfer ſich nicht an ihren 
Plätzen befanden. Er legte ſich neben ſeinem Korporal 
nieder und fragte dieſen, als er bemerkte, daß er noch 
nicht eingeſchlafen war, leiſe: „Wo iſt der neue Oberft 
oder gar General?“ 


— 46 — 


„Er ging nach dem Sumpf und wird dort mit Pe⸗ 
rillo ſitzen, um ungeſtört Pläne machen zu können.“ 

„Was geſchah, als ich fort war?“ 

„Nichts weiter, als daß er auch uns ſeine Voll⸗ 
macht zeigte.“ 

„Sie iſt echt?“ 

„Ja, ſie iſt vom Vizepräſidenten der Konfödera⸗ 
tion unterſchrieben und beſiegelt. Wir müſſen ihm ge⸗ 
horchen.“ 

„Und ich habe euch nichts mehr zu befehlen?“ 

„Senor Kapitän, ich ſagte, daß wir gehorchen 
müſſen. Wir ſind Soldaten, und der Ungehorſam würde 
uns den Kopf koſten.“ 

„Das iſt Treue! Wer hätte gedacht, daß es ſo 
komme!“ | 

Er hüllte ſich in feine Decke und verſuchte zu ſchla⸗ 
fen. Er hatte ganz vergeſſen, daß er jetzt ſelbſt Empörer, 
Aufrührer war und alſo gar kein Recht beſaß, auf ſeinen 
Untergebenen zornig zu ſein. Er hatte hier eine Rolle 
ſpielen wollen, um ſpäter ſchnell zu avancieren, und war 
nun ſo plötzlich kalt geſtellt worden. Das ließ ihn nicht 
ruhen. Er dachte an den Gambuſino und an Perillo. 
Dieſe beiden hatten jedenfalls etwas gegen ihn vor. Ob 
es möglich war, dies zu erfahren? Warum nicht? Viel⸗ 
leicht zeigte ſich der Zufall günſtig. Er hob den Kopf, um 
zu lauſchen. Alle ſchliefen; auch ſein Nachbar, der Kor⸗ 
poral, war jetzt eingeſchlafen. Er wickelte ſich aus der 
Decke und kroch fort, langſam und unhörbar, nach dem 
Sumpf hin. Es dauerte lange, ehe er die Bäume des 
Ufers im Mondenſchein ſtehen ſah. Er erreichte ſie, 
ohne die Geſuchten zu bemerken, und kroch auf gut Glück 
weiter, am Rande hin, immer möglichſt im Schutz der 
Sträucher und des Schilfes. Nach einiger Zeit hörte er 


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leiſe Stimmen. Noch einige Ellen weiter, und er ſah ſie 
ſitzen, eng nebeneinander, auf einem trockenen Grasplätz⸗ 
chen. Ein Wiſch hohen Schilfes erhob ſich ganz in ihrer 
Nähe. Er wagte es, hinzukriechen und ſich dort auf den 
Boden niederzuſtrecken. Wenn die beiden zufällig auf⸗ 
ſtanden, mußten ſie ihn ſehen. Sie ſprachen leiſe, aber 
doch ſo, daß er ſie, wenn er ſcharf aufmerkte, wohl ver⸗ 
ſtehen konnte. Eben ſagte der Gambuſino: „Es iſt mir 
immer, als ob ich es nicht glauben ſolle. Die Laſſos 
waren zwar abgeriſſen, aber ſo ein fünfzehnmal zuſam⸗ 
mengeflochtener Riemen hält doch viel, ſehr viel aus. 
Ein Krokodil kann dem, den es packt, das Bein abbeißen; 
aber einen Laſſo zu zerreißen, das erſcheint mir als un⸗ 
möglich.“ 

„Ich nehme es, wie es gekommen iſt, und mache mir 
keine Gedanken darüber,“ antwortete Perillo. „Wer 
könnte die beiden befreit haben?“ 

„Der Vater Jaguar!“ 

„Er iſt doch nicht hier! Der Kleine hat es ja geſagt.“ 

„Glaube ich nicht an den Tod dieſes Kleinen, ſo 
glaube ich auch ſeinen Worten nicht. Iſt er der Oberſt 
oder nicht? Wir halten ihn für Glotino. Wenn er dieſer 
iſt, ſo beſitzt er jedenfalls Klugheit genug, uns zu täu⸗ 
ſchen. Er ſagte, der Vater Jaguar ſei uns nachgeritten. 
Wenn er uns nun vorangeritten wäre?“ 

„Höre, das wäre eine verteufelte Sache! Wir müß⸗ 
ten da gewärtig ſein, daß wir, anſtatt anzugreifen, über⸗ 
fallen werden. Dieſer Vater Jaguar hat den Cambas 
ſchon einmal gegen die Abipones beigeſtanden, wenn 
auch in einer andern Gegend. Die Kerls, die er bei ſich 
hat, fürchten den Teufel nicht.“ 

„Wir müſſen vorſichtig ſein. Iſt er ſchon hier, ſo 
ſtellt er uns ſicherlich eine Falle.” 

May, Das Vermächtnis des Inka 27 


— 418 — 


„Wir hätten aber doch Spuren von ihm finden 
müſſen.“ 

„Haben wir ja! Zunächſt die leeren Dörfer und 
Hütten, die wir auf unſerm jetzigen Zug getroffen 
haben.“ 

„Das nennſt du eine Spur?“ 

„Natürlich! Die Bewohner ſind geflohen. Warum? 
Aus Furcht vor uns. Sie müſſen alſo gewußt haben, 
daß wir kommen. Wer aber hat ihnen das geſagt? 
Ich fürchte, der Vater Jaguar iſt es geweſen!“ 

„Meinſt du wirklich?“ 

„Ja. Ferner war es doch auffallend, daß alle 
unſre Waffenverſtecke ausgeleert waren; da ſie aber 
auch ganz zufälligerweiſe von Indianern entdeckt wor⸗ 
den ſein konnten, brachte ich dieſen Umſtand nicht in 
Beziehung zu dem Vater Jaguar. Heute nun kann 
ich, wenn ich näher darüber nachdenke, nicht glauben, 
daß unſre beiden Gefangenen durch die Krokodile von 
den Laſſos geriſſen worden ſind, und was ich bisher 
nur vermutete, iſt mir zur Gewißheit geworden: der 
Vater Jaguar iſt da!“ 

„Wie aber hat er es angeſtellt, dieſe beiden loszu⸗ 
bekommen? Die Riemen hingen doch noch vom Baum.“ 

„Das begreife ich auch nicht; dieſer Menſch aber 
bringt Sachen fertig, die für andre Leute geradezu 
unmöglich ſind.“ 

„Wenn deine Rechnung richtig iſt, müſſen wir ge⸗ 
wärtig ſein, daß er die Cambas ſchon gegen uns zu⸗ 
ſammengerufen hat und nun mit ihnen irgendwo ſteckt, 
um uns plötzlich zu überfallen.“ 

„Das möchte ich nicht behaupten, da er dazu keine 
Zeit gehabt hat. Jedenfalls müſſen wir uns beeilen. 
Wenn wir mit dem Anbruch des Morgens aufbrechen, 


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fo kommen wir am Abend am „klaren Bache an und 
können das Dorf noch während der Nacht überfallen.“ 

„Aber wenn die Cambas gerüſtet ſind?“ 

„Dann iſt unſer Kriegszug vergeblich geweſen.“ 

„Damnacion! Er hat uns ſo viel Mühe und auch 
all unſer Geld gekoſtet! Wir würden als arme Leute 
zurückkehren, und ſtatt durch den Putſch, den wir beab⸗ 
ſichtigen, mit einem Schlag reich zu werden, müßten 
wir uns Bettler nennen.“ 

„Wir ſpielen Va banque. Verlieren wir, ſo bleibt 
uns nichts übrig, als von vorn anzufangen. Ich gehe 
wieder in die Berge, um eine Gold⸗ oder Silberader zu 
entdecken, und du mußt wieder zu deinem früheren Ge⸗ 
ſchäft als Stierkämpfer greifen.“ 

„Dann wirſt du eines ſchönen Tages im Gebirge 
umkommen, und mich erwartet das gleiche Schickſal in 
der Arena. Ich habe es jetzt in Buenos Aires ge⸗ 
merkt, daß ich nicht mehr der alte bin. Meine Knochen 
ſind weich und meine Gelenke ſteif geworden. Nein, es 
fällt mir nicht ein, wieder zum alten Handwerk zu 
greifen.“ | 

„Was aber wollteſt du ſonſt anfangen? Etwa mit 
mir auf Abenteuer gehen?“ 

„Damit man eines ſchönen Tages mein Gerippe 
in den Cordilleren findet? Nein, ich weiß etwas andres. 
etwas viel, viel Beſſeres.“ 

„Was?“ 

Der Gefragte zögerte eine ganze Weile; dann ant⸗ 
wortete er in geheimnisvollem Ton: „Ich habe zu 
keinem Menſchen davon geſprochen, und es ſollte nie 
jemand davon erfahren; aber es kommt zum Kampf mit 
den Cambas, und ich kann verwundet und gar getötet 
werden. Es wäre jammerſchade, wenn mein Geheim⸗ 


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nis mit mir ſterben ſollte. Du biſt mein beſter Kame⸗ 
rad, und ſo will ich es dir mitteilen.“ 

„Du machſt mich im höchſten Grad neugierig. Der 
feierliche Ton, in welchem du ſprichſt, läßt erraten, daß 
es ſich um etwas ganz Ungewöhnliches handelt.“ 

„Das iſt es auch! Ich ſpreche nämlich von Reich⸗ 
1 von einem Schatz, welcher ungeheuer zu ſein 
ſcheint. 

„Von einem Schatz? Höre, fait möchte ich denken, 
daß du im Traum redeſt!“ 

„Ich träume nicht, ſondern was ich dir ſage, iſt die 
volle, reine Wirklichkeit. Ich kann es dir durch einen Ge⸗ 
genſtand beweiſen, den du ſehr genau kennſt.“ ö 

„Welcher iſt das?“ 

„Der lange weiße Haarſchopf, den du bei mir ge⸗ 
ſehen haft.” 

„Ach, der Skalp des Indianers, der dich überfallen 
wollte, aber von dir getötet wurde?“ 

„Derſelbe. Doch iſt die Geſchichte anders, als ich 
ſie bisher erzählte. Dir kann ich die Wahrheit ſagen, 
da du ſchon oft Aehnliches getan haſt. Nämlich nicht 
ich wurde von dem Indianer überfallen, ſondern er von 
mir.“ 
| „Demoniol Iſt die Sache jo! Da will ich dir 
denn aufrichtig ſagen, daß ich deine Erzählung nicht 
etwa geglaubt habe. Du hatteſt damals gar nichts bei 
dir, was die Habſucht eines Indianers anlocken konnte. 
Alſo du haſt ihn überfallen, und ſein Haar ſteht im 
Zuſammenhang mit dem Schatz, von dem du ſprichſt? 
Soll ich etwa annehmen, daß jener Indianer der de 
figer dieſes Schatzes geweſen iſt?“ 

„Ja.“ 


— 41 — 


„Qus diablos! Erkläre dich deutlicher! Warum 
haſt du ihm den Schatz nicht abgenommen?“ 

„Weil er ihn nicht bei ſich hatte. Es waren nur 
einige Gegenſtände, welche zu dem Schatz gehörten, die 
ich bei ihm fand.“ 

„Hat er dir denn geſagt, wo ſich das übrige be⸗ 
findet?“ 

„Nein.“ 

„So weißt du alſo gar nicht, wo dieſer dein be⸗ 
rühmter Schatz zu ſuchen iſt?“ 

„Ja und nein, ich weiß es und weiß es doch auch 
nicht.“ 

„Sprich nicht in Rätſeln!“ 

„Ich meine, daß ich zwar die Gegend kenne, aber 
die betreffende Stelle nicht.“ 

„So brauchſt du dir auf den Schatz ganz und gar 
nichts einzubilden. Was nützt mir ein Schatz, den ich 
nicht finden kann? Vielleicht exiſtiert er gar nur in 
deiner Phantaſie.“ 

„Er exiſtiert in Wirklichkeit; ich kann es be⸗ 
ſchwören.“ 

„Wo denn?“ 

„Droben in den Bergen und zwar jedenfalls in 
einer Schlucht, die man Barranca del Homicidio 
nennt.“ 

„Die kenne ich genau. Es geht von ihr die Sage, 
daß dort die letzten Inkas ermordet worden ſind.“ 

„So iſt es. Und ich nehme an, daß dieſe Inkas 
vor ihrem gewaltſamen Ende ihre Schätze dort verſteckt 
haben.“ 

„Hm! Ich habe oft gehört, wie reich die Inkas 
geweſen ſind. Alles, was die Herrſcher berührten, hat 
von reinem Gold ſein müſſen. Die Spanier ſollen da⸗ 


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mals ganze Schiffsladungen von Gold und Silber 
heimgeſchafft haben. Doch, was hilft das unnütze 
Reden! Erzähle!“ E 

„Du ſollſt alles hören. Ich kam damals von Chile 
herüber, wo ich bei mehreren Stiergefechten mitgewirkt 
und mir einige Prämien erworben hatte; aber wie ge⸗ 
wonnen, ſo zerronnen; du weißt ja, wie ich bin. Ich 
aß gut, trank noch beſſer, ſpielte viel und hatte kein 
Glück; ich verlor alles, und als ich die Rückreiſe antrat, 
mußte ich, um nur herüberzukommen, mich an einen 
Kaufmann, der nach Mendoza wollte, als Diener ver⸗ 
mieten. Ich ſage dir, daß er nie dort angekommen iſt; 
warum, das kannſt du dir denken.“ 

Er ſtieß ein hämiſches Gelächter aus. Nach einer 
kleinen Pauſe fuhr er fort: „Ich war alſo ganz allein, 
als ich die diesſeitigen Hänge des Gebirges erreichte. 
Es war des Abends, als ich an der Barranca del Ho- 
micidio ankam. Da du auch dort geweſen biſt, ſo weißt 
du, daß es eine höchſt unwirtliche Gegend iſt. Gern 
wäre ich noch bis zur Salina del Condor weiterge- 
ritten, aber es war denn doch zu weit, und der Weg da 
hinunter iſt ſo ſchlecht, daß man ſelbſt beim hellſten 
Mondenſchein verunglücken oder irre gehen kann. Ich 
ſuchte mir alſo einen Felſen, um hinter ihm Schutz 
gegen den rauhen Nachtwind zu finden, band mein 
Maultier an einen Stein feſt und legte mich zum Schla⸗ 
fen nieder.“ 

„Konnteſt du denn ſchlafen?“ fragte der Gambu⸗ 
ſino mit eigenartiger Betonung. 


„Warum ſollte ich das nicht?“ 


„Des Kaufmanns wegen, der nie in Mendoza an⸗ 
gekommen iſt.“ 


— 228 — 


„Ich bin kein Kind oder altes Weib. Wer tot iſt, 
kommt nicht wieder. Dennoch wollte an jenem Abend 
der Schlaf nicht gleich kommen; dafür aber kam ein 
andrer.“ 

„Ah, ich vermute! Der Indianer?“ 

„Ja. Der Vollmond ſtand am Himmel, und kein 
Wölkchen war zu ſehen. Ich hörte Schritte und lauſchte. 
Ein Mann kam, ohne mich und mein Maultier zu 
ſehen, ganz nahe an dem Felsblock vorüber, hinter dem 
ich lag. Er blieb ſtehen und ſchaute nach dem Mond. 
Dabei bekam ich ſein Geſicht zu ſehen. Er war ein 
Greis, aber ein ſehr rüſtiger und ſehr ſchöner Greis. 
Er trug einen langen Bogen und einen Köcher auf der 
Schulter, und ein Meſſer ſteckte in ſeinem Gürtel; andre 
Waffen hatte er nicht und ſchien überhaupt gar nichts 
andres bei ſich zu haben. Auffallend war ſein langes, 
weißes und ſehr dichtes Haar, das ihm hinten bis an 
die Oberſchenkel vom Kopf hing und, wie ich ſpäter be⸗ 
merkte, durch eine Spange zuſammengehalten wurde. 
Er ſtand lange da, ohne ſich zu bewegen, ſtarrte den 
Mond an und flüſterte dabei leiſe Worte, als ob er be⸗ 
tete. Es ſchien, als ob er warten wolle, bis der Mond 
den höchſten Punkt ſeines Bogens erreicht habe; dann 
ging er weiter.“ 

„Und du folgteſt ihm heimlich?“ fragte der Gam⸗ 
buſino. 

„Ich wollte es tun, brachte es aber nicht fertig. 
Der ſcharfe Rand des Barranra befand ſich nämlich gar 
nicht fern von mir. Der Mann ging darauf zu und 
war dann verſchwunden. Ich ſage dir, daß mir bei 
dem, was ich ſah, ein Grauen ankam. Die Felswand 
ſtieg beinahe ſenkrecht hinab; ſie ſchien nicht die kleinſte 
Stelle zu haben, wo ein menſchlicher Fuß feſten Halt 


— 424 — 


faſſen könne, und doch glitt der weißhaarige Mann mit 
einer Sicherheit da hinab, als ob eine bequeme Treppe 
hinunterführe. Sein Haar glänzte im Mond, bis ich 
es nicht mehr ſehen konnte, ſo groß war die Tiefe, in 
die er hinunterſtieg. Wer war der Mann? Seinen 
Zügen nach jedenfalls ein Indianer. Was wollte er 
hier? Warum wartete er, um den gefährlichen Weg 
anzutreten, nicht, bis es Tag geworden war? Wo hatte 
er ſein Maultier? Ich blieb am Rand der Schlucht auf 
der Lauer liegen, um auf ſeine Rückkehr zu warten. Ich 
lag die ganze Nacht; er kam nicht wieder; aber am 
Morgen, eben als die Sonne im öſtlichen Tiefland 
aufſtieg, ſah ich ihn jenſeits langſam emporklettern. 
Er hatte jetzt ein Paket auf dem Rücken hängen. Als 
er oben angekommen war, breitete er die Arme gegen 
die Sonne aus, als ob er ſie begrüßen wolle, und ging 
dann weiter. Ich beobachtete ihn, ohne daß er mich 
ſehen konnte. Von der Höhe, wo er ſich jetzt mir gegen⸗ 
über befand, ging eine felſige Lehne allmählich abwärts; 
er ſchritt dieſe hinunter und bog dann um den Fuß 
einer zweiten Höhe, worauf er mir aus den Augen 
ſchwand. | 

„Du biſt ihm natürlich ſofort nach?“ fragte der 
Gambuſino. 

„Ja. Ich mußte unbedingt wiſſen, wer der Mann 
war und was er nächtlicherweile aus der Barranca ge⸗ 
holt hatte, denn das Paket, das er jetzt trug, hatte er 
am Abend nicht gehabt. Ich band mein Maultier los, 
ſtieg auf und ritt ihm nach. Ich brauchte dabei keinen 
Umweg zu machen, denn die Richtung, die er eingeſchla⸗ 
gen hatte, führte nach der Salina del Condor, wohin 
auch ich wollte. Ich war ſehr ſchnell die Lehne hinab 
und bog dann um die Stelle, hinter der er verſchwun⸗ 


— 423 — 


den war. Von da lief ein ziemlich ſteiler Abhang in ein 
ſchmales Tal hinunter. Der Indianer war ſchon unten. 
Er ſchien es eilig zu haben, denn er ging ſchneller, als 
mein Maultier bis jetzt gegangen war. Ich ſpornte es 
alſo an. So folgte ich ihm in das Tal, durch dieſes auf 
eine Ebene, dann wieder über einen felſigen Abhang in 
ein zweites Tal, wo ich ihm ſo nahe kam, daß er den 
Hufſchlag meines Tieres hörte. Er blieb einen Augen⸗ 
blick ſtehen, um ſich umzublicken. Als er mich ſah, eilte 
er viel ſchneller weiter, als er bisher gegangen war. Er 
wollte mir ausweichen. Ich gab meinem Tier die Spo⸗ 
ren, daß es zu galoppieren begann. Er hörte das und 
blickte nach rechts und nach links, um einen Ausweg zu 
entdecken, aber die Seitenwände des Tales waren ge⸗ 
rade hier ſo ſenkrecht eingeſchnitten, daß er nicht hinauf 
konnte. Jedoch da öffnete ſich das Tal, noch ehe ich ihn 
ganz erreicht hatte, und er wollte ſich ſeitwärts wenden. 
Ich rief ihm zu: „Bleib ſtehen, ſonſt ſchieße ich!“ Er 
hörte nicht; darum ſchickte ich die Kugel des einen Lau⸗ 
fes hinter ihm her. Ich traf ihn nicht, wollte ihn über⸗ 
haupt nicht treffen; er hörte die Kugel neben ſich auf 
den Felſen ſchlagen und mochte nun doch denken, daß es 
geraten ſei, meinem Befehl zu gehorchen. Er blieb 
alſo ſtehen und drehte ſich nach mir herum. Das 
Doppelgewehr noch in der Hand, kam ich an ihn heran. 
Da fragte er mich: „Senor, was habe ich Ihnen getan, 
daß Sie auf mich ſchießen? 

„„Warum läufſt du davon, wenn ich dir Halt ges 
biete?“ antwortete ich. 

„Da richtete er ſich hoch auf, ſchüttelte ſein langes, 
weißes Haar wie der Löwe ſeine Mähne und entgegnete 
in einem Ton, als ob er ein König ſei: „Wer hat hier 
zu gebieten? Sie etwa? 


— 4286 — 


„Dabei funkelten mich ſeine Augen nur ſo an; 
aber ſie waren es nicht allein, welche funkelten, denn 
das Paket, das er auf dem Rücken trug, beſtand aus 
einem Baſtnetze, zwiſchen deſſen Maſchen es wie reines, 
pures Gold hervorſchimmerte. Und bei der Bewegung, 
die er gemacht hatte, gab die glänzende Bürde einen 
leiſen Ton von ſich, wie er nur vom Gold hervorge⸗ 
bracht wird. Wie es ſo ſchnell kam, das weiß ich auch 
jetzt ſelbſt noch nicht; kurz und gut, ich richtete mit einer 
blitzſchnellen Bewegung den zweiten Lauf auf ihn und 
drückte ab. Der Schuß krachte, und der Mann ſtürzte 
zu Boden.“ 

„Vorn durch die Bruſt geſchoſſen?“ fragte der 
Gambuſino. 

„Nein, ſondern von hinten in das Herz getroffen. 
Als ich den Lauf auf ihn richtete, machte er nach der 
Seite hin eine ſchnelle Drehung um ſich ſelbſt, damit 
ich ihn nicht treffen ſolle; aber mein Auge war ſchneller 
als er; ich folgte ſeiner Bewegung und ſchoß ihn von 
hinten nieder. Das Netz glitt von ſeinem Rücken und 
fiel neben ihm hin, wobei es ſich öffnete; einige Stücke 
des Inhalts rollten heraus. Es waren kleine, goldene 
Gefäße und andre Gegenſtände, deren Zweck ich nicht 
zu erraten vermochte. Der Indianer war tot, und dieſe 
Sachen gehörten mir. Ich wickelte ſie in eine Decke, die 
ich hinter mir an den Sattel zu ſchnallen pflegte — —“ 

„Und biſt natürlich nach der Barranca zurückge⸗ 
ritten?“ fiel der Gambuſino ihm ins Wort. 

„Nein. Ich hatte ſeit faſt zwei Tagen kein Waſſer 
gehabt, und mein Maultier mußte trinken, wenn es 
nicht liegen bleiben wollte. Daher mußte ich zunächſt 
nach der Salina del Condor, in deren Nähe, wie du 
weißt, einige Quellen ſind; dann erſt wollte ich wieder 


— 427 — 


nach der Barranca zurück, um den Ort zu ſuchen, wo 
der Indianer die Koſtbarkeiten geholt hatte.“ 


„Vorher aber nahmſt du ihm ſeinen Skalp?“ 


„Ja. Wie ich auf den Gedanken kam, dies zu tun, 
kann ich freilich nicht ſagen. Ich hatte daheim eine 
Sammlung von allerlei Kleinigkeiten, Andenken an 
meine früheren Reiſen und Erlebniſſe, und als ich ſchon 
vor dem Toten ſtand und ſein Haar betrachtete, fielen 
mir die Indianerſkalpe ein, die man in ſo vielen 
Sammlungen findet, und ich dachte, daß dieſer Schopf 
es wohl wert ſei, mitgenommen zu werden. Ich ſchnitt 
die Kopfhaut alſo vom Schädel los und wickelte ſie mit 
in die Decke.“ 

„Hm! Alſo auf dieſe Weiſe biſt du zu der Haut 
gekommen!“ ſagte der Gambuſino langſam und in 
nachdenklichem Ton. „Ich hätte ſie wohl nicht mitge⸗ 
nommen.“ 

„Warum nicht?“ 

„Weil ſie zur Verräterin an dir werden kann.“ 

„Möchte wiſſen, wie?“ 

„Eben durch ihre Seltenheit. Haſt du etwa ſchon 
viele Perſonen geſehen, die ihr Haar in dieſer Weiſe 
tragen? Und nun noch dazu eine ſolche Fülle ſchönen, 
langen, grauen Haares! Dieſer Indianer hat Ver⸗ 
wandte und Bekannte, die ihn vermißt und nach ihm 
geforſcht haben. Wenn nun einer derſelben erfährt, daß 
du dich im Beſitz dieſes Skalps befindeſt? Vielleicht 
gibt es Mitwiſſer des Geheimniſſes von dem Schatz. 
Ich würde zu keinem Menſchen von der Kopfhaut 
ſprechen und ſie noch viel weniger jemand zeigen.“ 

„Pah! Es ſind ſeit jenem Ereignis fünf Jahre 
vergangen; ich habe nichts mehr zu befürchten.“ 


— 4286 — 


„Dennoch fordere ich dich zur Vorſicht auf. Ich 
denke da an einen alten Indianer, der ſein Haar ganz 
ähnlich trägt und einſam droben in den Bergen hauſt. 
Dieſe Aehnlichkeit der Haartracht läßt ganz wohl den 
Gedanken aufkommen, daß er zu jenem Toten in irgend 
welcher Beziehung geſtanden hat. Dieſer Mann zum 
Beiſpiel dürfte durch Zufall von dem Skalp hören, und 
dann wäre es, falls er den Toten gekannt hat, um dich 
geſchehen.“ 

„Wie heißt der Mann?“ 

„Er iſt über hundert Jahre alt und wird darum 
allgemein der alte Anciano genannt. Er iſt trotz dieſes 
Alters noch ſo rüſtig und gewandt wie ein Vierziger 
und hat ſich durch ſeine Kühnheit und Verſchlagenheit 
berühmt gemacht.“ 

„Ich kenne ihn nicht, und er geht mich nichts an. 
Iſt er arm oder reich?“ 

„Arm.“ 

„So weiß er von dem Schatz nichts, und deine 
Warnung iſt überflüſſig.“ 

„Mag ſein. Es war eben nur ſo ein Gedanke von 
mir. Erzähle jetzt weiter!“ 

„Es kam leider ganz anders, als ich erwartet hatte. 
Ich wollte an der Salina mein Maultier tränken, ſelbſt 
auch trinken und dann nach der Barranca zurückkehren. 
Aber als ich bei der Salina anlangte und um die Ecke 
bog, ſah ich einen Menſchen daſitzen, der mich verwun⸗ 
dert anſtarrte. Jedenfalls war er von unten gekommen 
und wollte hinauf in die Berge; dies machte mein 
ganzes Vorhaben zunichte. Zurück durfte ich nicht, 
denn er wäre mir gewiß gefolgt und hätte den Toten ge⸗ 
ſehen. Mich zu ihm ſetzen, fiel mir noch viel weniger 
ein, da er mich nicht genau ſehen durfte, um mich ſpäter 


— 429 — 


nicht verraten zu können. Ich ritt alſo raſch an ihm 
vorüber.“ 

„Dumme Sache! Warum haſt du ihn nicht nieder⸗ 
geſchoſſen?“ 

„Dieſer Gedanke kam mir auch; aber er hatte, als 
er mich ſah, ſchnell zum Gewehr gegriffen, und ſeine 
Kugel wäre jedenfalls ſchneller als die meinige geweſen. 
Ich ſtutzte nur einen Augenblick und wendete mein Ge⸗ 
ſicht dann ſchnell von ihm ab. Im Galopp durch die 
Salina jagend, kam ich eine halbe Stunde ſpäter auf 
einem Platz an, wo es Waſſer gab. Da hielt ich für 
kurze Zeit an und ritt dann weiter. Eine Ahnung ſagte 
mir, daß der Mann mich verfolgen werde.“ 

„Woher dieſe Ahnung? Du hatteſt ja gar nicht 
mit ihm geſprochen.“ 

„Eben das mußte ihm auffallen. Wenn er dann 
die Leiche fand, mußte er mich für den Mörder halten.“ 

„Wie ſah er aus? Du haſt ihn natürlich ſcharf 
betrachtet?“ 

„Nein, denn da hätte ich ihm mein Geſicht länger 
zukehren müſſen, was ich aus gutem Grund vermeiden 
wollte. Seine Züge konnte ich nicht erkennen, doch ſah 
ich ſo viel, daß er nicht mehr jung war, denn ſein Haar 
war grau.“ 

„Und ſeine Geſtalt?“ 

„Er ſaß an der Erde; darum konnte ich mir kein 
Urteil über ſeine Figur bilden; er ſchien mir aber nicht 
klein zu ſein.“ 

„Ha! Du biſt unvorſichtig geweſen. Dieſer Mann 
kann in jedem Augenblick auftauchen und dich zur 
Rechenſchaft ziehen. Du hätteſt dich zu ihm ſetzen 
ſollen, um ihn dann in einem geeigneten Augenblick 
niederzuſchießen.“ 


— 430 — 


„Das habe ich mir ſpäter auch geſagt, und heute 
bereue ich ſehr, es nicht getan zu haben, denn es hat den 
Anſchein, daß der Kerl mich genauer angeſehen hat, als 
ich dachte.“ 

„Wieſo? Biſt du ihm etwa ſpäter wieder be⸗ 
gegnet?“ 

„Es ſcheint ſo. Es wurde mir eine Drohung ins 
Geſicht geworfen, die ſich nur auf dieſes Ereignis be⸗ 
ziehen konnte.“ 

„Von wem?“ 

„Vom Vater Jaguar.“ 

„Valgame Dios! Von dem? Hat dieſer Menſch 
etwa ſeine Hand auch hier im Spiele?“ 

Perillo erzählte von jenem Zuſammentreffen in der 
Reſtauration in Buenos Aires, wo der Vater Jaguar 
ihn an die Salina del Condor erinnert hatte, worauf 
der Gambuſino ſo laut, daß die Schläfer beinahe auf⸗ 
wachten, ausrief: „Er iſt's geweſen; jedenfalls war 
er's! Nimm dich vor ihm in acht! Jetzt haben wir 
einen Grund mehr, ihn baldigſt wegzuräumen. Er⸗ 
zähle weiter!“ 

„Ich bin damals einen Tag und eine Nacht ge⸗ 
ritten, ohne länger als einige Minuten anzuhalten, und 
habe mir alle Mühe gegeben, meine Spur unſichtbar zu 
machen. Natürlich war ich begierig darauf, die Bar⸗ 
ranca nach Gold zu unterſuchen, mußte dies aber unter 
dieſen Umſtänden auf einige Wochen verſchieben. Dieſe 
Zeit brachte ich in Chicoana zu, wo ich ſo glücklich war, 
einen Althändler zu finden, der mir die goldene Beute 
abkaufte und leidlich bezahlte, ohne viel danach zu 
fragen, wie ich zu dieſen Gegenſtänden gekommen war. 
Die Summe, die ich erhielt, verlockte mich, nach Salta 
zu gehen. Dort fand ich Gelegenheit zum Spiel und 


— 43831 — 


verlor ſo viel, daß mir kaum das verblieb, was ich 
brauchte, um mich für den Ritt nach der Barranca aus⸗ 
zurüſten.“ 

„Er war aber ohne Erfolg?“ 

„Leider! Als ich an die Stelle kam, wo ich den 
Indianer erſchoſſen hatte, war keine Spur mehr von 
ihm zu ſehen. Die Kondors hatten ſogar ſeine Knochen 
verſchleppt. Dann in der Barranca angekommen, habe 
ich ſie Fuß für Fuß, Zoll für Zoll durchſucht, ohne das 
geringſte zu finden. Auch ſo oft ich ſpäter wieder hinge⸗ 
kommen bin, iſt mein Nachforſchen vergeblich geweſen. 
Und doch bin ich überzeugt, daß dort Koſtbarkeiten ver⸗ 
borgen liegen, die einſt den Herrſchern von Peru gehört 
haben.“ 

„Das iſt allerdings leicht möglich. Du haſt deine 
Nachforſchungen jedenfalls nicht ſorgfältig genug ange⸗ 
ſtellt. Zu ſo etwas gehört ein Scharfſinn, der eine weit 
längere Uebung und Schulung durchgemacht hat, als 
die deinige iſt.“ 

„Das habe ich mir auch ſchon geſagt, und darum 
denke ich, in dir den rechten Mann gefunden zu haben. 
Du würdeſt alſo bereit ſein, mit hinauf nach der 
Schlucht zu gehen?“ 

„Ja. Und je eher wir dies tun können, deſto 
beſſer wird es ſein. Man ſoll nicht zaudern, wenn es 
ſich um ſo wertvolle Sachen handelt. Der Zufall könnte 
gar leicht einen andern hinführen, welcher das entdeckt, 
was du trotz aller Mühe nicht geſehen haſt. Sollte unſer 
Zug gegen die Cambas aus irgend einem Grund eine 
andre Wendung nehmen, als wir erwarten, ſo können 
wir nichts Beſſeres tun, als ſchleunigſt nach den Bergen 
reiten, um uns die Schätze deines toten Indianers an⸗ 
zueignen.“ 


— 432 — 


„Meinſt du denn, daß wir ſie finden werden?“ 

„Ich hoffe es. — Und jetzt möchte ich einen Rund⸗ 
gang machen, um mich zu überzeugen, ob wir hier ſicher 
liegen. Ich kann mich nicht von dem Gedanken los⸗ 
machen, daß dieſer Vater Jaguar ſich doch hier in der 
Nähe befindet und uns umſchleicht.“ 

Als der Lauſcher dieſe Worte hörte, kroch er ſchleu⸗ 
nigſt zurück und ſchlich nach ſeiner Lagerſtelle. 


Dierzehntes Kapitel 


Ein Urwaldkampf 


Kaum graute der nächſte Tag, ſo wurden die 
Schläfer geweckt und man rüſtete zum Aufbruch. Da 
von achthundert Kriegern nur fünfzig beritten waren, 
kam beinahe der Mittag heran, bevor in der Nähe der 
undurchdringliche Wald erſchien, der das „Tal des aus⸗ 
getrockneten Sees“ nach beiden Seiten begrenzte. Als 
der Gambuſino dieſes Gelände erblickte, winkte er den 
„tapfern Arm“, den Häuptling der Abipones, zu ſich 
heran und fragte: „Iſt das der Wald, worin das Tal 
liegt, durch das wir müſſen.“ 

„Ja, Senor,“ antwortete der Rote. 

„Und wir können nicht zur Seite ausweichen?“ 

„Wir können es, wenn wir den Wald ganz um⸗ 
gehen; aber das würde viele, viele Zeit erfordern.“ 

„Die haben wir nicht übrig, denn wir müſſen heute 
abend beim Dorfe der Cambas ankommen, um in der 
Nacht darüber herfallen zu können. In dieſem Tal 
gibt es Waſſer?“ | 

„Fließendes Waſſer, das ſich in einen kleinen See 
ergießt.“ 

„So machen wir da Halt, um uns auszuruhen.“ 

Dieſe Worte hörte auch der Hauptmann Pellejo, 
der jetzt an die Spitze des Zuges gekommen war und 

May, Das Vermächtnis des Inka 28 


— 434 — 


mit nachdenklichem Blick den Wald muſterte. Als Mi⸗ 
litär fühlte er ſich zu der Bemerkung veranlaßt: „Senor, 
das vor uns liegende Gelände fordert uns zur Vorſicht 
auf. Wir können weder nach rechts noch nach links 
weichen und müſſen durch ein Tal, deſſen Wände wohl 
nicht niedrig ſind. Wie nun, wenn der Feind uns darin 
erwartet?“ 

„So würde ich mich außerordentlich über dieſe ſeine 
Unvorſichtigkeit freuen,“ antwortete der Gambuſino in 
wegwerfendem Ton. „Wir können in das Tal dringen 
und ihn, der nicht entkommen könnte, einfach nieder⸗ 
rennen.“ 

„Das iſt leichter geſagt als getan, und ich möchte 
raten, in dieſem — —“ 

„Ich habe keinen Menſchen um Rat gefragt, auch 
Sie nicht!“ fiel ihm der andre barſch in die Rede. „Be⸗ 
halten Sie Ihre Meinung gefällig ſo lange für ſich, bis 
ich Sie darum frage!“ 

Der Hauptmann wendete ſich entrüſtet ab, ohne 
aber ein Wort zu entgegnen, und der Zug ſetzte ſich 
wieder in Bewegung. Nach einiger Zeit ſah man die 
Fährte, die von links herkam und gerade nach dem Tal 
führte. Es war diejenige des Vater Jaguar, der 
natürlich nach dem Tal gemußt hatte, ohne eine Mög⸗ 
lichkeit zu haben, ſeine Spur unkenntlich zu machen. 
Der Gambuſino ſtieg vom Pferd, unterſuchte ſie und 
ſagte: „Es hat hier einige Pferde und auch einen oder 
zwei Fußgänger gegeben, doch iſt dies kein Grund, uns 
bedenklich zu machen. Dieſe Leute kommen von Süden 
her, während wir von Oſten kommen; ſie können alſo 
gar nichts von uns wiſſen.“ 

Infolge dieſer Anſicht ritt und marſchierte man ge⸗ 
troſt weiter, ohne Kundſchafter voranzuſenden. Haupt⸗ 


— 435 — 


mann Pellejo erkannte das als einen großen Fehler, 
doch ſchwieg er zunächſt; aber als man ſich dem Wald 
ſo weit genähert hatte, daß man den Eingang zum Tal 
ſich öffnen ſah, konnte er nicht umhin, warnend zu 
bemerken: „Ich würde doch einige Leute voranſenden, 
um nachſehen zu laſſen, ob das Tal für uns ſicher iſt.“ 

„Und ich habe Ihnen bereits geſagt, daß ich nur 
wünſche, daß es voller Tambas wäre,“ antwortete der 
Gambuſino. „Wenn Sie ſich fürchten, ſo bleiben Sie 
zurück.“ 

„Ja, wer ſich fürchtet, mag umkehren,“ ſtimmte 
Antonio Perillo ein. „Wir hrauchen keine Feiglinge bei 
uns.“ 

„Senor, meinen Sie damit mich?“ fuhr der Offi⸗ 
zier auf. ' 

„Denken Sie, was Sie wollen!“ 

„Gut, dann denke ich mir nur das eine, daß es 
feig iſt, ahnungsloſe Menſchen niederzuſchießen, um 
ihnen ihre Koſtbarkeiten abzunehmen und dann vor dem 
erſten Mann, den man an der Salina del Condor 
fiten ſieht, davonzulaufen.“ 

Dieſe zornigen Worte waren ihm kaum entfahren, 
ſo bereute er, ſie ausgeſprochen zu haben. Der Gam⸗ 
buſino und Antonio Perillo ſtarrten ihn betroffen an. 
Der erſtere faßte ſich am ſchnellſten und antwortete 
lachend: „Sie ſprechen wohl im Traum? Was wollen 
Sie mit einer ſo unverſtändlichen Rede?“ 

„Das werden Sie ſpäter jedenfalls erfahren,“ er⸗ 
widerte der Hauptmann, indem er ſein Pferd ab⸗ und 
auf die Seite wendete. „Von mir werden Sie keinen 
Rat mehr hören.“ 

Die beiden warfen ſich im Weiterreiten bedeutſame 
Blicke zu, und der Gambuſino flüſterte Perillo zu: 


— 136 — 


„Dieſer Schurke hat uns geſtern abend belauſcht. Es 
iſt gar nicht anders möglich. Was meinſt du, was wir 
tun?“ 

„Ihn ſchweigſam machen, und zwar ſo bald wie mög⸗ 
lich, bevor er Gelegenheit findet, das, was er gehört hat, 
auszuplaudern.“ 

„Richtig! Er lebt heute feinen letzten Tag! Im 
Grunde genommen hatte er mit ſeiner Mahnung zur 
Vorſicht gar nicht unrecht; nur fällt es mir nicht ein, 
einen ſolch aufdringlichen Rat zu befolgen. Meine Perſon 
werde ich auf keinen Fall in Gefahr bringen. Wir 
bleiben am Eingang des Tales halten und laſſen unſre 
Leute hineinmarſchieren. Dann wird es ſich ergeben, 
ob es von den Cambas beſetzt iſt.“ 


Dieſe Abſicht wurde ausgeführt. Er ritt mit Pe⸗ 
rillo und dem „tapfern Arm“ voran, bis ſie den Ein⸗ 
gang erreichten, und blieb dann halten, um die andern 
an ſich vorüber zu laſſen. Der „tapfere Arm“ aber gab 
der Schar, indem er ſich rückwärts wendete und die 
Hand hoch emporhob, ein Zeichen, noch zu warten, und 
galoppierte dann zwiſchen den Talwänden hinein. Als 
er nach kurzer Zeit zurückkehrte, meldete er: „Es iſt kein 
Menſch im Tal. Wir können getroſt weiter.“ 


„Dann vorwärts!“ kommandierte der Gambuſino, 
indem er ſein Pferd auf die Seite drängte, um, mit Pe⸗ 
rillo dort wie ein Feldherr haltend, den Kriegszug an 
ſich vorüber zu laſſen. Der Häuptling ritt voran; ihm 
folgten ſeine Abipones, hinter denen die weißen Sol⸗ 
daten kommen jollten. — — — 

Der „tapfere Arm“ hatte ſich geirrt, als er das 
Tal für unbeſetzt hielt, und ſollte ſeinen Irrtum nur zu 
bald erkennen. 


— 187 — 


Als der Vater Jaguar das „Tal des ausgetrock⸗ 
neten Sees“ erreicht hatte, bemerkte er zu ſeiner Ueber⸗ 
raſchung, daß die Talränder noch nicht beſetzt waren. 
Er rief deshalb Geronimo, der ihm auf halbem Wege 
entgegen kam, ſchon von weitem zu: „Ich will doch 
hoffen, daß die Krieger alle da ſind?“ 

„Alle,“ antwortete Geronimo. 

„Wo?“ 

„Da, hinter mir am Bache.“ 

„Warum vermeidet ihr das Tal?“ 

„Weil dieſe deine beiden gelehrten Landsleute, die 
ich glücklicherweiſe jetzt bei dir ſehe, uns ausgeriſſen 
ſind. Ich befürchtete, ſie würden von den Abipones er⸗ 
griffen werden und unſern Plan ausplaudern. Darum 
hielt ich es für beſſer, deine Rückkehr zu erwarten, be⸗ 
vor ich das Tal beſetzen ließ. Iſt das richtig oder falſch 
geweſen?!? 

„Richtig. Ich muß dich loben.“ 

Er war jetzt bei ihm angekommen und reichte ihm 
die Hand. Die Weißen drängten ſich herbei, ihren 
zurückgekehrten Anführer zu begrüßen. Morgenſtern 
und Fritze ſchlichen ſich kleinlaut zur Seite. Es wäre 
ihnen lieb geweſen, für jetzt verſchwinden zu können, 
um nicht durch Fragen beläſtigt zu werden; aber es gab 
einen, der nichts Eiligeres zu tun hatte, als ſofort an fie 
heranzutreten und ihnen lachend zuzurufen: „Aber, 
Señores, was iſt Ihnen denn eingefallen, daß Sie uns 
ſo ohne allen Abſchied verlaſſen haben! Wir machten 
uns viel Sorge um Sie. Wie leicht konnten Sie von 
einer Rieſenſchildkröte verſchlungen werden!“ 

Doktor Parmeſan, der Chirurg, war es, der ſie auf 
dieſe Weiſe empfing. Morgenſtern zog es vor, zu ſchwei⸗ 
gen; Fritze aber antwortete: „Selbſt wenn wir ver⸗ 


— 388 — 


ſchlungen worden wären, hätten wir keine Angſt gehabt. 
Sie wären doch jedenfalls gekommen, um uns dem 
Tier aus dem Leib zu ſchneiden.“ 

„Ja, das hätte ich ſicher getan, vorausgeſetzt, daß 
ich zu rechter Zeit von Ihnen benachrichtigt worden 
wäre. Sie wiſſen ja, mir iſt kein Schnitt und keine 
Operation zu ſchwer; ich ſäble alles herunter! Natür⸗ 
lich ſind Sie am Sumpf der Knochen geweſen, Senor?“ 

„Ja. Eigentlich wollten wir hinauf in den Mond 
reiten, da aber ſein erſtes Viertel noch nicht voll iſt, 
hätte es uns am nötigen Platz gemangelt.“ 

„Da Sie ſich in ſo fröhlicher Stimmung befinden, 
muß es Ihnen unterwegs ſehr gut gegangen ſein. Und 
wir befürchteten ſchon, daß Sie in die Hände der Abi⸗ 
pones gefallen ſeien. Aber ein kleiner dunkler Punkt 
ſcheint doch dabei vorhanden zu ſein: Wo ſind denn 
nun eigentlich die Pferde, die Sie mitgenommen 
hatten?“ 

„Die ſind von der Rieſenſchildkröte gefreſſen wor⸗ 
den, von der Sie glaubten, daß ſie uns verſpeiſt habe. 
Wollen Sie Ihre berühmte Operation noch ausführen, 
ſo können Sie die armen Tiere vielleicht noch retten.“ 

Mit dieſen Worten wendete er ſich ſchnell ab und 
folgte ſeinem Herrn, der ſich abſeits unter einem Baum 
niedergeſetzt hatte. Er nahm neben ihm Platz und ſagte 
in deutſcher Sprache: „Dieſer Chirurjius wollte mir 
ärjern; aber es fällt mich jar nicht ein, mir in Harniſch 
bringen zu laſſen. Freilich, daß wir die Pferde ver⸗ 
loren haben, dat kann mir leid tun. Wat mir wundert, 
iſt, daß der Vater Jaguar uns eijentlich noch gar nicht 
richtig ausjezankt hat. Iſt Ihnen dat nicht aufjefallen?“ 

„Warte nur! Er wird es ſchon nachholen, ſobald er 
Zeit dazu findet.“ 


— 499 — 


„Leider wird dat wohl richtig ſind. Aber grämen 
Sie Ihnen nicht! Ick werde allens auf mir nehmen. 
Ick werde ſagen, dat ick es bin, der die Jeſchichte anje⸗ 
ſtiftet hat. Mir haben die Rieſenknochen im Kopf 
jelegen, und ick habe nicht jeruht, bis Sie mit mich 
davonjeritten ſind.“ 

„Das geht nicht, Fritze. Ein ſolches Opfer kann 
ich von dir nicht annehmen. Es iſt gegen meine Ehre, 
lateiniſch Honor genannt. Ich könnte mich nicht mehr 
ſelbſt achten.“ 

„Wat? Wie? Wer verlangt es, daß Sie Ihnen 
ſelber achten? Kein Menſch! Die Hauptſache iſt, daß 
ick Ihnen achte und daß Sie auch von andern jeachtet 
werden.“ 

„Laß es gut ſein, lieber Fritze! Man würde deinen 
Worten doch keinen Glauben ſchenken. Freilich, wenn 
ich gewußt hätte, wie es kommen würde, ſo wäre es 
nicht geſchehen. Es war eine Dummheit, die wir wohl 
ſchwerlich wieder gutmachen können.“ 

„Nicht? Dat fragt ſich ſehr. Ick weiß jenau, wie 
wir unſre Ehre wieder herſtellen können.“ 

„Nun, wie?“ 

„Durch Tapferkeit.“ 

„Du meinſt, daß wir an dem Kampfe, der zu er⸗ 
warten iſt, teilnehmen ſollen?“ 

„Natürlich! Oder wollen Sie tapfer ſein, wenn er 
vorüber iſt?“ 

„Hm. Ich bin nicht furchtſam; aber ein tapferer 
Menſch iſt zugleich ein blutiger Menſch, und Blut, latei⸗ 
niſch Sanguis genannt, möchte ich doch nicht gern ver⸗ 
gießen.“ 

„So? Sie wollen die Menſchen ſchonen, die uns 
über den Zähnen der Krokodile aufjehängt haben? Ick 


— 440 — 


erinnere mir nicht, jemals ein Menſchenfreſſer jeweſen 
zu ſind; aber ſolche Halunken müſſen aus dieſes Leben 
in dat jenſeitige verſchwinden!“ 

Während Fritze ſich in dieſer Weiſe Mühe gab, die 
Kampffreudigkeit ſeines Herrn anzuregen, ſaßen die 
Weißen mit den Führern der Cambas beiſammen, um 
zu erfahren, was der Vater Jaguar erkundſchaftet hatte. 
Als ſie von ihm darüber aufgeklärt worden waren, 
fügte er hinzu: „Ich bin überzeugt, daß ſie uns in die 
Hände laufen werden. Wir brauchen uns keineswegs 
zu beeilen, denn nach meiner Anſicht können ſie vor 
Mittag nicht hier eintreffen. Es bleibt dabei, daß hun⸗ 
dert Mann von uns durch das Tal gehen und draußen 
vor demſelben ſich am Waldesrand verſtecken; Gero⸗ 
nimo wird dieſe Leute anführen. Im Tal ſelbſt be⸗ 
fehlige ich. Ich werde in der Mitte des Randes Stel⸗ 
lung nehmen. Jedenfalls lagern ſie ſich, um auszu⸗ 
ruhen. Dann komme ich hervor und gehe zu ihnen, 
um die Anführer aufzufordern, ſich zu ergeben.“ 

„Wenn ſie dich aber nicht hören wollen oder dir 
nicht glauben?“ fiel Geronimo ein. 

„So mag geſchehen, was geſchehen ſoll, ich habe 
dann meine Pflicht getan.“ 

„Sie werden dich natürlich nicht fortlaſſen, ſondern 
dich feſtnehmen!“ 

„Pah! Man nimmt mich nicht ſo leicht gefangen! 
In dieſem Fall würde ich den Gambuſino und Antonio 
Perillo augenblicklich niederſchießen, und dieſe Schüſſe 
werden für euch das Zeichen ſein, loszubrechen.“ 

„Und dabei ſtehſt du mitten unter ihnen! Nein, 
es iſt zu kühn, zu verwegen!“ 

„Auch ich bin dieſer Anſicht,“ ſagte Leutnant Ve⸗ 
rano. „Ich habe dem Senor Jaguar meine Meinung 


l 


bereits geſagt, bin aber von ihm zurückgewieſen worden. 
Wozu dieſe Kerls ſchonen, noch dazu, wenn ſich einer 
von uns in die offenbarſte Lebensgefahr begeben muß! 
Das ſind ſie alle nicht wert. Schießt ſie nieder, wie ſie 
kommen, und laßt keinen von ihnen am Leben! Die 
Abipones ſind wilde Tiere, und die Weißen, die ſich bei 
ihnen befinden, ſind Schufte, und gegen Schufte und 
reißende Tiere darf man keine Nachſicht haben, ſonſt 
ſticht und ſchneidet man ſich in das eigene Fleiſch. Was 
mich betrifft, ſo werde ich ſchießen, ſobald die Kerls 
kommen.“ 

„Nein, das werden Sie bleiben laſſen!“ antwortete 
der Vater Jaguar in ſtrengem Ton. „Sie haben meine 
Meinung bereits gehört. Ich hoffe, daß es mir glückt, 
die beiden bisher feindlichen roten Stämme miteinander 
zu verſöhnen; außerdem möchte ich den Gambuſino und 
Antonio Perillo lebendig fangen, würde aber ſehr wahr⸗ 
ſcheinlich beides nicht erreichen, wenn geſchoſſen wird, 
bevor ich es befohlen habe.“ 

„Und wenn ich dennoch ſchieße?“ 

Hammer zog die Brauen finſter zuſammen und 
entgegnete: „So kommt das dann fließende Blut über 
Sie, und ich gebe Ihnen eine Kugel in den Kopf.“ 

„Das heißt, Sie wollen mich ermorden?“ 

„Nein, ſondern beſtrafen. Handeln Sie gegen 
meinen Willen, ſo ſind Sie ein Mörder, und ich brauche 
mir kein Gewiſſen daraus zu machen, Sie niederzu⸗ 
ſtrecken.“ 

Der Leutnant wendete ſich ab und ſchritt unmutig 
von dannen. Als er außer Hörweite gekommen war, 
ballte er die Fauſt und murmelte zornig vor ſich hin: 
„Einem ſolchen Menſchen gehorchen zu müſſen! Alle 
die Kerls vergöttern ihn, und er gebärdet ſich mir gegen⸗ 


— 442 — 


über wie ein General, der einen Rekruten vor ſich hat. 
Die Indianer ſchonen zu wollen, welch ein Blödſinn! 
Aber ich werde dennoch tun, was ich will. Niederge⸗ 
ſchoſſen müſſen ſie werden! Iſt's vorüber, dann können 
ſie es nicht ändern, dieſe menſchenfreundlichen Schwach⸗ 
köpfe. Der erſte Schuß ſoll das Zeichen zum Beginn 
des Kampfes ſein: dieſer erſte Schuß wird aus meinem 
Gewehr kommen.“ 

Der Vater Jaguar erläuterte nun ſeinen Plan 
in eingehender Weiſe und ging dann zu dem Baum, 
unter dem Doktor Morgenſtern und Fritze ſaßen. „Es 
iſt die Zeit gekommen, unſre Stellungen einzunehmen,“ 
ſagte er zu dem kleinen Gelehrten. „Ich werde Ihnen 
die Ihrige anweiſen.“ 

„Dat iſt ſchön!“ antwortete Fritze an Stelle ſeines 
Herrn. „Und wiſſen Sie, wohin wir ſo jern poſtiert 
ſein wollen?“ 

„Nun?“ 

„Dorthin, wo es am jefährlichſten iſt.“ 

„Warum? Woher dieſe plötzliche Kühnheit?“ 

„Plötzlich? Jott bewahre! Ick bin ſtets kühn und 
tapfer. Und heut wollen wir die Scharte auswetzen, die 
in uns hineinjeſprungen iſt. Uns mang die Krokodile 
aufzuhängen! Dat muß jerächt werden. Ick werde 
unter ihnen hineinfahren, wie die Katze unter die Sper⸗ 
linge, und der Herr Doktor will mich dabei hilfreich bei⸗ 
ſtehen.“ 

„Unter die Feinde hineinfahren? Das werden Sie 
nicht. Ich will Ihnen vielmehr einen Poſten geben, wo 
Sie höchſt wahrſcheinlich keinen Schaden anrichten 
können. Ich ſage: höchſt wahrſcheinlich, denn gewiß iſt 
es keinenfalls, daß Sie nicht auch da etwas ee 
aushecken.“ 


— 443 — 


„So! Wo ſoll ſich dieſer Poſten denn befinden?“ 

„Bei den Pferden, die wir nicht mit in das Tal 
nehmen können. Dieſe ſollen Sie bewachen.“ 

„Bei die Pferde!“ rief Fritze ganz enttäuſcht aus. 
„Hirten ſollen wir ſind, aber keine Helden! Wat ſagen 
Sie dazu, Herr Doktor?“ 

„Daß ich mich nur ungern füge,“ antwortete der 
Genannte. „Wir wollten kämpfen und wären gewiß ſo 
tapfer geweſen wie jeder andre.“ 

„Möglich,“ meinte der Vater Jaguar gleichmütig; 
„aber nach allem, was ich bisher von Ihnen geſehen und 
erfahren habe, könnte Ihre. Tapferkeit den Freunden ge⸗ 
fährlicher werden als den Feinden. Gerade darum trage 
ich Ihnen ein ſo friedliches Geſchäft auf.“ 

„Und meinen Sie, daß wir zwei eine ſo große An⸗ 
zahl von Roſſen zuſammenhalten können? Ich weiß 
nicht, ob ich behaupten darf, das Talent dazu zu beſitzen.“ 

„Sie werden nicht allein ſein, denn ich erteile ſechs 
Cambas den gleichen Auftrag. Hoffentlich kann ich 
mich, wenigſtens dieſes Mal, auf Sie verlaſſen, Herr 
Doktor?“ 

„Jawohl. Obgleich wir viel lieber als Krieger ge⸗ 
kämpft hättten, werden wir, da Sie es ſo gern wollen, 
dieſe unſre Pflicht, lateiniſch Officium genannt, erfüllen.“ 

„Gut! Sie haben nichts weiter zu tun, als darauf 
zu achten, daß keins der Pferde nach dem Tal läuft. 
Schwer kann Ihnen das nicht werden, da Sie auf die 
Unterſtützung der Cambas rechnen können.“ Br 

Er ging. Es war aber klar, daß er nur die Abſicht 
hegte, ſie von dem Schauplatz des Zuſammenſtoßes fern⸗ 
zuhalten. Er traute ihnen nicht, ſondern befürchtete, daß 
ſie leicht wieder auf einen Schwabenſtreich geraten könn⸗ 
ten. Das fühlte Fritze ſehr wohl, und er ärgerte ſich ſo 


— 444 — 


darüber, daß er ſeinem Herzen unbedingt Luft machen 
mußte. 

„Sie haben doch ſtudiert, Herr Doktor,“ fragte er, 
„und ſind auf einer Univerſität jeweſen?“ 

„Auf dreien ſogar.“ 

„Und jetzt ſollen Sie die Pferde hüten! Laſſen Sie 
dat Ihnen jefallen?“ 

„Was ſoll ich dagegen tun?“ 

„Welche Frage! Wir tun einfach ſo, als ob er uns 
jar nichts jeſagt hätte. Wir laſſen die Pferde Pferde 
ſind und jehen heimlich mit in den Kampf.“ 

„Ich würde gern, ſehr gern mittun; aber ich habe 
dem Vater Jaguar doch versprochen, bei den Pferden zu 
bleiben.“ 

„Dat war ja nur Vorwand von ihm. Um die 
Pferde handelt es ſich jar nicht, denn für die ſind die 
Cambas da. Wir ſollen nur vom Kampf fernjehalten 
werden. Wat vor eine Blamage! Wat müſſen die Ro⸗ 
ten von Sie und von mich denken!“ 

„Alle Teufel, das iſt wahr!“ meinte Morgenſtern 
mit bedeutend mehr Feuer als bisher. „Die Indianer 
müſſen uns wirklich für alte Weiber halten. Fritze, ich 
mache mit!“ 

„Jut! Wir werden wie die Löwen fechten! Wehe 
dem, der an meinem Mut zweifelt; ſein letzter Lebenstag 
hat ausjeſchlagen!“ — 

Ungefähr eine Stunde vor Mittag wurde Aufſtel⸗ 
lung genommen. Die Weißen ſetzten ſich mit achtzig 
Cambas zunächſt in Bewegung, um unter Geronimos 
Anführung draußen vor dem Tal ſich zu verſtecken. Die 
graſige Mitte des Talkeſſels durfte nicht betreten wer⸗ 
den, damit die Abipones keine Spur ſehen möchten. 
Die Krieger gingen, einer hinter dem andern, an dem 


— 445 — 


Rand des Keſſels unter den Bäumen hin und blieben 
auch, als ſie das Tal verließen und ſich rechts nach dem 
Wald wendeten, ſtets ſo hinter den Büſchen, daß man 
von außen ihre Spuren nicht ſehen konnte. Erſt als der 
letzte von ihnen ſich wohl zweihundert Schritte weit von 
dem Eingang entfernt hatte, blieben ſie ſtehen, um die 
Ankunft der Feinde zu erwarten und dann die Falle zu 
ſchließen. 

Die übrigen, lauter Rote, zählten über fünfhundert 
Mann. Sie hatten den Rand des Tales rundum zu 
beſetzen, die eine Hälfte rechts und die andre links. 
Darum mußten ſie zwei Abteilungen bilden, die inner⸗ 
halb des Tales nach beiden Seiten abbogen. Der Vater 
Jaguar befand ſich auf der rechten Seite; darum ge⸗ 
ſellten Morgenſtern und Fritze ſich heimlich zu denen, 
welche die linke Seite zu beſetzen hatten. 


Die beiden kleinen Ungehorſamen drängten ſich in 
ihrem Eifer ſo weit vor, daß ſie, als die lange Linie ſich 
nach einiger Zeit entwickelte und ein jeder ſeine Stel⸗ 
lung genommen hatte, ſich an der Spitze befanden. Sie 
ſtanden ganz vorn, nahe dem Eingang des Tales, ohne 
daß der Vater Jaguar ihre Anweſenheit ahnte. 

Außer ihnen gab es noch einen Weißen, welcher 
nicht mit Geronimo hinausmarſchiert war, nämlich den 
Leutnant Verano. Als man ſich allgemein in Bewe⸗ 
gung geſetzt hatte, war der Vater Jaguar zu ihm ge⸗ 
kommen, um ihn zu fragen: „Sie wiſſen, Seüor, was 
ich Ihnen geſagt habe. Wollen Sie ſich dennoch an 
unſrer Aufſtellung beteiligen?“ 

5 Ss a.” 

„So erſuche ich Sie, von jetzt an an meiner Seite 
zu bleiben.“ 


Be | 


„Ich verſtehe, Senor. Sie wollen meine Perſon in 
Beſchlag nehmen und unter Ihre Auflicht ſtellen, weil 
Sie mir nicht trauen. Nun, ich will nicht widerſtreben 
und gehe mit Ihnen.“ 


Er hielt ſich neben dem Vater Jaguar und blieb, 
als dieſer die Mitte der rechten Stellung erreicht hatte, 
bei ihm ſtehen. Sein Geſicht hatte einen ſo gleichgül⸗ 
tigen Ausdruck, daß es ſehr leicht täuſchen konnte, doch 
war er feſt entſchloſſen, im paſſenden Augenblick den ver⸗ 
hängnisvollen Schuß zu tun. 


Fritze drüben auf der andern Seite ließ ſich von 
einem der Cambas ein Meſſer geben und ſchnitt zwei 
ſtarke Knüppel aus einem Strauch, von denen er einen 
ſeinem Herrn gab. Dies waren ihre einzigen Waffen, 
da ihnen die Gewehre am Knochenſumpf abgenommen 
worden waren. 


„So,“ ſagte er mit vergnügtem Lächeln, „wer mit 
dieſem Ausrufe⸗ und Erinnerungszeichen einen Hieb auf 
den Kopf bekommt, der findet ſicher keine Zeit, ſich dafür 
zu bedanken.“ 

Die Roten wußten nicht, welche Aufgabe die beiden 
erhalten hatten, und waren ihnen darum nicht hinder⸗ 
lich geweſen, mit ihnen zu gehen. Fritze brannte vor 
Begierde, ſeine hölzerne Waffe in Anwendung zu brin⸗ 
gen, und auch der Doktor wünſchte ſehr, ſeinen Mut bald 
beweiſen zu können. Darum kamen ihnen die wenigen 
Minuten, die ſie warten mußten, faſt wie Stunden vor, 
und Fritze meinte ſchließlich, indem er die dichten Büſche 
betrachtete, die ſich hinter ihm zur Höhe zogen: „Mich 
wird die Zeit zu lang und die Jeduld zu kurz. Wat 
meinen Sie? Könnten die Abipones nicht ein wenig 
raſcher laufen?“ 


— 447 — 


„Allerdings. Dieſe geſpannte Erwartung iſt unan⸗ 
genehm.“ 

„Wenn wir wüßten, ob ſie bald kommen! Gleich 
neben uns iſt der Einjang zum Tal. Könnten wir da 
auf die Höhe ſteigen, ſo müßten wir die Feinde kommen 
ſehen.“ 

„Das iſt wahr. Aber die Büſche ſcheinen zu dicht 
zu ſtehen.“ 

„Wollen's doch mal verſuchen. Wir ſind kleine 
Kerls und kommen wohl leichter durch als andre, die wie 
Ihre Gigantochelonia jebaut ſind.“ 

„Sprich nicht wieder von dieſem Tier; ich mag 
nichts davon hören!“ 

Fritze kroch voran, um Bahn zu brechen, und ſein 
Herr folgte ihm. Es war ſehr ſchwer, durch das feſte 
Dickicht zu kommen, aber doch nicht unmöglich. Nach 
längerer Anſtrengung erreichten die beiden, freilich mit 
ziemlich zerfetzten Anzügen, die Höhe des Felſens, der die 
eine Seite des Eingangs bildete. Oben ſtanden auch 
Bäume und Sträucher; aber die auswärts nach der 
Ebene gerichtete Seite des Felſens war ziemlich kahl. 
Kaum oben angelangt und die Blicke nach Oſten ge⸗ 
richtet, ſahen ſie die Erwarteten kommen, langſam, ſo, 
wie Fußgänger marſchieren, die ſich nicht übermäßig er⸗ 
müden wollen. 

„Da ſind ſie! Jott ſei Dank, da ſind ſie endlich!“ 
rief Fritze aus, indem er vor Freude ſeine Hände wie 
ein Kind zuſammenſchlug. „Nun wird der Tanz bald 
losjehen, Herr Doktor!“ 

Von da oben aus, wo die beiden Lauſcher hinter 
den Sträuchern lagen, konnte man nicht nur weit hin⸗ 
aus in die Ebene blicken, ſondern auch nach innen das 
ganze Tal überſehen. Dieſes letztere lag fo ſtill, ruhig 


— 448 — 


und unbelebt da, als ob ſich kein einziges menſchliches 
Weſen in der Nähe befinde. Draußen kamen die Abi⸗ 
pones immer näher, voran die fünfzig Reiter. Schon 
konnte man die einzelnen Geſichter unterſcheiden. 

„Können Sie die Leute ſehen?“ fragte Fritze. 
„Sehen Sie, wer an der Spitze reitet? Kennen Sie 
ihn, den oberſten aller Halunken?“ 

„Ja; es iſt der Gambuſino.“ 

„Und rechts neben ihm?“ 

„Antonio Perillo, der Stierkämpfer. Aber wir 
müſſen leiſer reden, ſonſt hören ſie uns, wenn ſie da 
unten anjekommen ſind.“ 

Dieſe Mahnung war ganz am rechten Platz, denn 
die Felſen, die das Tor zum Tal bildeten und auf deren 
einem ſich die beiden befanden, waren höchſtens zwanzig 
Ellen hoch. Wie bereits erwähnt, hielt der Zug am 
Tor an und der Häuptling ritt ein Stück in das Tal 
hinein, um zu unterſuchen, ob es leer ſei. Seine Un⸗ 
terſuchung war eine höchſt oberflächliche. Er kehrte 
zurück und meldete, daß das Tal unbeſetzt ſei. Dann 
führte er ſeine Roten in den Keſſel des ausgetrockneten 
Sees. 

Sie folgten ihm bis an den kleinen See, der in der 
Mitte lag, und breiteten ſich an deſſen Ufer aus. Keiner 
von ihnen ahnte, daß er ſich in einer Falle befand, aus 
der es kein Entrinnen gab. Als der letzte der Roten 
durch den Eingang geſchritten war, folgten die Reiter. 

„Der Gambuſino will den Letzten machen,“ flüſterte 
Fritze dem Doktor zu. „Schade, daß wir zu hoch hier 
liejen! Ick möchte ihm jar zu jerne einen Klaps auf 
die Naſe jeben!“ 

Er ſchwang ſeinen Knüppel, als ob er zuſchlagen 
wolle. Der Buſch, hinter dem ſie lagen, hatte ſeine 


— 449 — 


Wurzeln jahrelang tief in den Boden eingeſchlagen; 
durch den Einfluß des Wetters war der Boden riſſig und 
brüchig geworden. Gerade unter ihnen hielt der Gam⸗ 
buſino auf ſeinem Pferd; jetzt drängte es ſich näher an 
den Felſen; der Reiter war nicht mehr zu ſehen; darum 
ſchob ſich Morgenſtern neugierig noch weiter vor, wobei 
er leiſe fragte: „Ob er ſchon durch den Eingang iſt?“ 

Die Antwort auf dieſe Frage ſollte ihm ganz an⸗ 
ders werden, als er gedacht hatte und ihm lieb ſein 
konnte. Er hatte ſich nämlich zu weit vorgeſchoben 
und dem lockeren Boden zu viel Vertrauen geſchenkt; 
dieſer letztere kam ins Rutſchen und zwar ſo ſchnell, daß 
von einem rechtzeitigen Zurückweichen gar keine Rede 
mehr ſein konnte; der Doktor ruſchte mit. 

„Halt, halt! Um Jottes willen!“ rief Fritze vor 
Angſt ſo laut, daß man es weithin hörte. „Wohin ſoll 
die Reiſe jehen? Doch nicht etwa da hinunter! Dat 
jebe ick nicht zu!“ 

Er faßte ſeinen Herrn an den beiden Beinen, um 
ihn zu halten; da aber die Erde nun auch unter ihm 
nachgab, kam auch er ins Rutſchen, und ſo glitten, roll⸗ 
ten und kugelten ſie, ohne daß ſie losließen, bald hier 
an einen Buſch, bald dort an einen Baumſtamm 
ſtoßend, den Felſen, der auf dieſer Seite glücklicherweiſe 
nicht ſteil war, hinab und blieben gerade vor dem Pferd 
des Gambuſino liegen. | 

Diefer war mit Antonio Perillo und dem Haupt⸗ 
mann Pellejo noch allein zurück, da auch die andern 
Weißen ſchon innerhalb des Eingangs verſchwunden 
waren. Er hörte den Angſtruf des Dieners über ſich, 
blickte empor und ſah die beiden verunglückten Lauſcher 
von oben heruntergeflogen kommen. Sie blieben, wie 
bereits geſagt, gerade vor ihm liegen und vergaßen in⸗ 

May, Das Vermächtnis dee Inka 29 


— 450 — 


folge der kräftigen Stöße, die ſie erlitten hatten, für 
kurze Zeit das Aufſtehen. 

„Wer iſt denn das?“ fragte er erſtaunt. „Die 
ſollte ich doch kennen!“ i | 

„Que sorpresal“ rief Antonio Perillo. „Ich will 
des Teufels fein, wenn das nicht unſre Gefangenen 
ſind, die wir geſtern vergeblich aufgehängt haben. Heda, 
ihr Halunken, ſeid ihr tot oder lebt ihr noch?“ 

Er ſtieß fie vom Pferd herab mit feinem Gewehr⸗ 
kolben ſo derb an, daß ſie aus ihrer augenblicklichen Be⸗ 
täubung erwachten. Fritze nahm ſich am ſchnellſten zu⸗ 
ſammen; er befühlte ſeine Glieder und hob, als er dieſe 
unzerbrochen fand, ſeinen Herrn auf. 

„Wie iſt's abjelaufen?“ fragte er ihn, die Todfeinde 
gar nicht beachtend. „Hat Ihr Körper jut zuſammen⸗ 
jehalten, oder ſind ein paar Jelenke zerriſſen?“ 

Der Doktor befühlte ſich auch und antwortete dann: 
„Es ſcheint nichts zerbrochen zu ſein, aber der Kopf 
brummt mir wie eine Pauke, lateiniſch Tympanum 
genannt.“ 

„Dat jibt ſich wieder. Wie ſind Sie nur ins 
Rollen jekommen?“ | 

„Ganz fo wie du, der du doch auch —* 

„Schweigt!“ fuhr ſie der Gambuſino an. „Jetzt 
habe nur ich mit euch zu ſprechen! Wo ſeid ihr denn 
geſtern abend hingekommen?“ 

„Hierher,“ antwortete Fritze. 

„Das ſehe ich! Aber wer hat euch losgebunden?“ 

„Niemand. Wir haben uns losgebiſſen.“ 

„Menſch, wenn du ſo gute Laune haſt, daß es dir 
beikommt, Scherz mit uns zu treiben, ſo will ich dich 
bald in eine andre Stimmung bringen! Ich will 
wiſſen, wer euch befreit hat!“ 


— 1 


„Und ich kann nichts andres antworten, als was 
ich ſchon geſagt habe. Wir haben uns ſelbſt losgemacht.“ 

„Auf welche Weiſe?“ 

„Fällt mir nicht ein, dies zu verraten! Wenn ich 
es erkläre, und ihr hängt uns wieder auf, könnten wir 
dann nicht herunter, denn ihr würdet euch beſſer vor⸗ 
ſehen.“ 

„Iſt das etwa wieder Hohn? Ich frage, wer euch 
befreit hat. Iſt's nicht der Vater Jaguar geweſen?“ 

„Seid jetzt nicht ſo neugierig! Später werden wir 
es Euch erzählen.“ 

Er nahm ſeinen Herrn bei der Hand und eilte mit 
ihm fort, zum Felſentor hinein. Antonio Perillo zog 
ſeine Piſtole, aber der Gambuſino meinte, indem er 
höhniſch auflachte: „Laß ſie nur! Sie entgehen uns 
nicht. Sie ſcheinen nicht zu wiſſen, daß ſich die Krieger 
ſchon hier befinden und werden arg erſchrecken, wenn ſie 
dieſe ſehen.“ 

Sie folgten den Vorangeflohenen. Der Hauptmann 
Pellejo machten den Letzten. Als ſie das Tor hinter 
ſich hatten, ſahen ſie den Doktor und ſeinen Diener eben 
rechts hinter den nächſten Büſchen verſchwinden. Zu 
gleicher Zeit aber erblickten ſie zu ihrer Beſtürzung 
einen anderen ihrer Feinde: ſoeben trat der Vater Ja⸗ 
guar am linken Rande des Tals unter den Bäumen 
hervor. | 

„Todos los diablos!“ rief der Gambuſino. „Das 
iſt der Vater Jaguar.“ 

Er hielt unwillkürlich ſein Pferd an, und die 
beiden andern taten mit den ihrigen dasſelbe. Da 
ſahen ſie hinter dem Vater Jaguar ein leichtes Rauch⸗ 
wölkchen erſcheinen, und im nächſten Augenblick krachte 


— 452 — 


ein Schuß. Was nun geſchah, kann unmöglich in der 
zehnfachen, ja nicht in der fünfzigfachen Zeit erzählt wer⸗ 
den, in der es ſich abſpielte. 

Der Vater Jaguar hatte durch das Gebüſch den 
Anmarſch der Feinde beobachtet. Aber eben dieſes Ge⸗ 
büſch, das ſo dicht ſein mußte, daß es ihn verbarg, ver⸗ 
hinderte ihn, genau zu ſehen. Er konnte die Geſichts⸗ 
züge der einzelnen, oft ſogar ſelbſt ihre Geſtalten, nicht 
erkennen. Er ſah erſt die Roten kommen, dann die 
weißen Reiter, und als hierauf der Zuzug ſtockte, weil 
der Gambuſino, Perillo und Pellejo draußen geblieben 
waren, glaubte er, daß nun alle im Tale verſammelt 
ſeien. Darum hatte er dem Leutnant Verano noch eine 
Warnung zugerufen und war aus dem Geſträuch her⸗ 
vorgetreten. Zwar ſah er in dieſem Augenblick erſt den 
Gambuſino mit ſeinen beiden Begleitern erſcheinen; 
aber er konnte unmöglich wieder zurück. Verano aber 
hielt ſeine Zeit für gekommen. Er hob ſein Gewehr, 
legte es an, zielte auf den Häuptling der Abipones und 
drückte ab. Der Schuß krachte und der Häuptling 
ſtürzte, durch den Kopf getroffen, am Waſſer nieder. 
Eine halbminutenlange Pauſe des Entſetzens folgte; 
dann erhoben die Abipones ein Geheul, das von den 
Wänden des Tales wiederhallte. Der Vater Jaguar 
wendete ſich, als der Schuß hinter ihm krachte, blitz⸗ 
ſchnell um. Er ſah den Leutnant mit noch erhobenem 
Gewehr ſtehen und ſtand 959 einigen raſchen Sprüngen 
neben ihm. 

„Schurke, Verräter, Mörder!“ donnerte er ihn an. 
„Iſt das der Gehorſam, den ich von dir forderte?“ 

„Ich habe keinem Menſchen zu gehorchen,“ ant⸗ 
wortete der Mann trotzig. 

„Auch Gott nicht, der den Mord verboten hat? 


— 4583 — 


Und du biſt nicht ein einfacher, ſondern ein Maſſen⸗ 
mörder!“ 

„Ich habe nur den Häuptling erſchoſſen!“ 

„Nein, denn dein Schuß iſt das Signal zu ſechs⸗ 
hundert andern. Horch!“ 

Von beiden Seiten des Tales krachten die Schüſſe 
der Cambas unter den Bäumen hervor. Man ſah die 
Abipones in Maſſe niederſtürzen, und vorn am Ein⸗ 
gang rief eine laute, donnernde Stimme: „Flieht, 
rettet euch! Ihr ſeid von allen Seiten umzingelt!“ 

Es war der Gambuſino, der dieſe Worte mit ſolcher 
Stimme rief, daß ſie über das ganze Tal hin ſchallten. 
Dann warf er ſein Pferd herum und jagte hinaus. An⸗ 
tonio Perillo folgte ihm. Dabei kamen ſie an Kapitän 
Pellejo vorüber, der ſoeben als Letzter das Tal hatte 
betreten wollen. Ein teufliſches Lachen entrang ſich den 
Lippen des Stierkämpfers. Er riß ſein Meſſer aus 
dem Gürtel, bäumte ſich hoch auf im Sattel und ſtieß 
es dem Offizier im Vorüberjagen in die Bruſt. „Du 
wirſt nicht plaudern können, du Spion!“ rief er, wäh⸗ 
rend er mit dem Gambuſino enteilte. 

Im gleichen Augenblick fuhr der Vater Jaguar 
den Leutnant Verano an: „Schon ſind wenigſtens hun⸗ 
dert tot, und dort entkommen diejenigen, die ich haben 
wollte und haben muß. Ich habe dir geſagt, wie ich 
einen ſolchen Mord beſtrafen würde! Din nimm 
deinen Lohn!” 

Er riß den Revolver hervor, hielt ihn ben Leut⸗ 
nant blitzſchnell an die Schläfe und drückte ab. Der Un⸗ 
gehorſame brach augenblicklich tot zuſammen. Dann 
warf der gewaltige Mann einen ſchnellen Blick über das 
Tal. Eben krachte eine neue Salve der Cambas, die 


— 464 — 


zehnfach gefährlich waren, weil ſie von den Abipones 
nicht geſehen werden konnten; die letzteren ſtürzten zu 
zehn und zwanzig zuſammen. Was ſollte er tun? Den 
Gambuſino und Antonio Perillo entkommen laſſen oder 
hier bleiben, um dem Morden Einhalt zu tun? Da 
eben kam Geronimo mit den Seinen durch den Ein⸗ 
gang geſtürmt; das brachte ihn ſchnell zur Entſcheidung. 
Er rannte auf eins der Abiponespferde zu, die von den 
Schüſſen erſchreckt, ſcheu im Tal herumrannten, und 
ſprang auf. Zu gleicher Zeit mit ihm kam der alte An⸗ 
ciano mit geſchwungenem Gewehr geſprungen, warf ſich 
auf ein zweites und rief ihm dabei zu: „Senor, An⸗ 
tonio Perillo, der Mörder meines Inka, entkommt. Ich 
muß ihm nach, muß ihn haben!“ 

„Ich reite mit,“ antwortete er. „Halte dich zu 
mir!“ 

Sie jagten nebeneinander nach dem Eingang zu. 
Dort hielt der Vater Jaguar ſein Pferd für einen 
Augenblick an und rief Geronimo zu: „Haſt du die 
zwei fliehenden Reiter geſehen?“ | 

„Ja. Wir konnten fie nicht halten, da wir keine 
Pferde hatten.“ 

„Nach welcher Seite haben ſie ſich gewendet?“ 

„Nach links, vom Tal aus.“ 

„Tu ſchnell dem Blutvergießen Einhalt! Der 
Kampf mag ruhen, bis ich wiederkomme!“ 

Dann ſchoß er mit dem alten Anciano zwiſchen den 
beiden Felſen hindurch und riß ſein Pferd nach links 
herum, wo er die Spuren der Flüchtigen im Gras ſah. 

Von dem Augenblick an, wo der Gambuſino feine 
Warnung ausgerufen und das Tal verlaſſen hatte, bis 
zum gegenwärtigen Zeitpunkt waren höchſtens zwei Mi⸗ 
nuten vergangen, und doch waren die Geſtalten der 


— 455 — 
beiden Reiter ſchon faſt am nördlichen Horizont zu 
ſehen. 

„Wir holen ſie nicht ein, denn wir haben fremde 
Pferde, die nichts taugen,“ knirſchte der alte Anciano. 

„Wir holen fie ein, denn wir müſſen fie haben,“ 
knirſchte der Vater Jaguar. 

Die beiden ſtanden, um ihre Laſt zu verringern, 
mit vorgebeugten Oberkörpern hoch in den Bügeln und 
trieben ihre Pferde durch Schläge und Sporen an. Der 
Zwiſchenraum verringerte ſich langſam. Nicht nur Ans 
ciano, ſondern auch Hammer, der ſonſt keinem Tier 
etwas zu Leid tun konnte, preßte jetzt dem Pferd die 
Sporen in die Weichen, daß es ſich vor Schmerz bäumte. 
Sie flogen nur ſo über den ebenen, graſigen Plan, pa⸗ 
rallel mit dem Rande des Waldes, der ſich von dem Tal 
des ausgetrockneten Sees aus nach Norden erſtreckte. 
Der Zwiſchenraum verringerte ſich mehr und mehr und 
die Fliehenden verloren zuſehends den Vorſprung, den 
ſie gehabt hatten. 

„Wenn man ihnen die Pferde unter den Beinen 
wegſchießen könnte!“ keuchte Anciano. 

„Leichtigkeit!“ antwortete der Vater Jaguar. 

„Leichtigkeit? Ich halte es für unmöglich.“ 

„Ich könnte es; aber gerade dann würden ſie ent⸗ 
kommen. Sie würden ſich zu Fuß in den Wald retten 
und dieſer iſt ſo dicht, daß wir die Verfolgung ſogleich 
aufgeben müßten. Ich begreife überhaupt nicht, warum 
ſie nicht ſchon längſt die Pferde preisgegeben und ſich in 
den Wald gerettet haben. Solange ſie im Sattel blei⸗ 
ben, bin ich ſicher, ſie einzuholen. Wir müſſen alſo ver⸗ 
ſuchen, ſie vom Wald abzubringen und in den offenen 
Campo hinauszutreiben.“ 

Leider glückte es nicht, dieſen Plan auszuführen. 


— 456 — 


Der Gambuſino hatte das beſſere Pferd; da er aber 
viel ſchwerer war als Perillo, ſo blieb er nicht im Vor⸗ 
ſprung, ſondern die beiden Pferde jagten Kopf an Kopf 
nebeneinander hin. Mit Bangen bemerkten die Flücht⸗ 
linge, daß ſich die Strecke zwiſchen ihnen und den Ver⸗ 
folgern mehr und mehr verringerte. Vergebens bohr⸗ 
ten ſie ihren armen Tieren die Meſſer in die Weichen, 
um ſie zur äußerſten Kraftentfaltung anzutreiben. Jetzt 
ſah der Gambuſino ſich wieder um und erſchrak. 

„Cascaras!“ ſchimpfte er grimmig. „Die Schufte 
ſind uns auf den Ferſen und wollen uns vom Wald ab⸗ 
bringen. Stecke alles, was du in den Satteltaſchen haſt, 
zu dir und dann herab von den Pferden und ins Ge⸗ 
ſträuch hinein!“ 

Perillo ſagte kein Wort, denn er wußte, daß der 
andre recht hatte. Sie leerten die Satteltaſchen, lenkten 
ihre Pferde ſchräg dem Wald zu, ſprangen, als ſie dieſen 
erreicht hatten, ab und jagten in das Dickicht hinein. 
Perillo wollte raſch tiefer eindringen; der Gambuſino 
aber hielt ihn am Arm zurück und gebot: „Bleib! 
Hier ſind wir ſo ſicher wie in Abrahams Schoß. Meinſt 
du, daß dieſer Vater Jaguar ſich heranwagt und ſich 
unſern Kugeln ausſetzt?“ 

Sie ſtanden alſo hinter dem vorderen Gebüſch, 
hielten ihre Gewehre ſchußbereit und lauſchten ange⸗ 
ſtrengt zurück, ob ſie die Nahenden ſehen oder hören 
würden. Sie bekamen aber nichts zu ſehen, und es 
blieb draußen ſtill und ruhig. 

„Siehſt du, daß ich recht habe,“ meinte der Gam⸗ 
buſino. „Sie büten ſich ſehr, heranzukommen.“ 

„Dann ſcheinen wir gerettet zu fein. Wir können 
bier rubig abwarten, bis die beiden Kerls ſich entfernt 
daben, und reiten dann weiter.“ 


— 457 — 


„Weiterreiten? Darauf müſſen wir verzichten.“ 

„Wieſo?“ 

„Weil wir keine Pferde haben werden.“ 

„Sie ſtehen doch draußen! Ich ſehe ſie von hier. 
Sie ſind, als wir abſprangen, nur eine kleine Strecke 
weiter gelaufen.“ 


„Das weiß ich wohl, denn ich ſehe ſie ebenfo gut 


wie du. Aber denke ja nicht, daß der Vater Jaguar ſo 
dumm fein wird, fie uns zu laſſen! Wir werden den 
größten Teil des weiten Weges nach der Barranca del 
Homikidio zu Fuß zurücklegen müſſen. Es war ein 
kluger Gedanke, daß du den Kapitän um die Ecke ge⸗ 
bracht haſt; jetzt haben die Kerls keine Ahnung, wohin 


wir uns wenden. Horch! Da ſiehſt du, daß ich recht 


gehabt habe.“ 

Es waren nämlich draußen ſoeben zwei Schüſſe ge⸗ 
fallen, worauf die beiden Pferde, von den Kugeln Ham⸗ 
mers getroffen, tot niederſtürzten. Der Gambuſino 
hatte den Vater Jaguar ganz richtig beurteilt. Als die 
beiden Flüchlinge von ihren Pferden ſprangen und im 


Wald verſchwanden, hatte der alte Anciano fröhlich 


ausgerufen: „Sie ſehen ein, daß wir ſie einholen wer⸗ 
den und verſtecken ſich in den Büſchen. Jetzt haben wir 
ſie. Wir müſſen ihnen nach, ſchnell hinter ihnen her!“ 

Er wollte ſein Pferd zu möglichſt noch größerer 
Eile antreiben, um die Stelle, wo die beiden verſchwun⸗ 
den waren, ſchnell zu erreichen; aber Hammer, der eng 
neben ihm ritt, griff ihm in die Zügel, und es gelang 
ihm, die Pferde nach einigen Sätzen anzuhalten. 

„Was fällt dir ein?“ ſagte er. „Willſt du in den 
Tod reiten? Wir müſſen anhalten.“ 

„Anhalten? fragte der Alte erſtaunt. „Dann ent⸗ 
gehen ſie uns ja! Sie werden trotz der Dichtheit des 


— 458 — 


Waldes ſo tief darin eindringen, daß es uns unmöglich 
iſt, ſie zu finden.“ 

„Nein, das werden ſie nicht. Ich wette, ſie ſind am 
Rande des Gebüſches ſtehen geblieben, um uns, mit den 
Gewehren in den Händen, zu erwarten. Wenn wir uns 
ihnen nähern, bekommen wir ihre Kugeln.“ 


„Das iſt wahr, Senor; daran dachte ich nicht. Aber 
ſollen wir dieſe Halunken entkommen laſſen?“ 

Der Vater Jaguar antwortete nicht ſofort. Sein 
Geſicht nahm den Ausdruck grimmiger Entſagung an. 
Er blickte eine Weile finſter vor ſich nieder und ſagte 
dann, indem das zornige Knirſchen ſeiner Zähne zu 
hören war: „Es bleibt uns wohl nichts andres übrig, 
als zurückzureiten.“ 


„Aber ich will und muß dieſen Antonio Perillo, 
dieſen Mörder, haben.“ a 


„Und ich will und muß den Gambuſino erreichen; 
aber wenn wir uns zur Unvorſichtigkeit hinreißen laſſen, 
werden ſie uns bekommen, anſtatt wir ſie.“ 


„Gibt es denn kein Mittel, keinen Weg, Senor? 
Sie ſind ſo erfahren, ſo liſtig. Sie ſind niemals um 
eine Auskunft verlegen. Sollten Sie gerade jetzt, wo es 
ſich um alles handelt, wo wir ſchon ſo nahe am Ziel 
waren, von Ihrem Scharfſinn verlaſſen werden?“ 

„Nein, doch nicht ſo ganz, wie du denkſt,“ antwor⸗ 
tete Hammer, indem ſein Geſicht ſich wieder aufzuheitern 
begann. „Wir müſſen ſie laufen laſſen, doch nur einſt⸗ 
weilen. Wir kennen den Ort, wo ſie ſich jetzt befinden, 
und werden ihrer Fährte folgen.“ 


„Aber dies können wir doch nicht jetzt, ſondern erſt 
ſpäter tun!“ 


— 459 — 


„Allerdings. Jetzt müſſen wir nach dem Tal 
zurückkehren, wo meine Anweſenheit zunächſt notwendi⸗ 
ger ſein wird als hier.“ 

„Dann kommen die beiden Schurken hervor, ſetzen 
ſich auf ihre Pferde, die dort vor dem Gebüſch ſtehen, 
und reiten davon, ſie erhalten dadurch einen Vorſprung, 
den wir nicht einholen können.“ 


„Sie werden nicht reiten können, e gehen 
müſſen. Dafür ſorge ich jetzt.“ 

Er legte ſein Doppelgewehr an und richtete es nach 
der Stelle, wo die Pferde der Flüchtlinge ſtanden. Die 
beiden Kugeln trafen ſo genau, daß die Tiere ſofort 
niederſtürzten. Der Vater Jaguar wendete ſein Pferd, 
ohne noch einmal zurückzublicken. Anciano aber folgte 
ihm nicht eher, als bis er die Fauſt drohend gegen die 
Stelle geſchüttelt hatte, wo die entkommenen Feinde zu 
vermuten waren. Der ſonſt ſo ruhige und bedächtige 
Greis zitterte vor Grimm darüber, daß die . 
ein ſolches Ende genommen hatte. 

Als ſie am Tale des ausgetrockneten Sees inte 
men, wurden fie von einer Cambasſchar empfangen, die 
den Eingang des Tales zu beaufſichtigen hatte. Der 
„Harte Schädel“ befehligte ſie. Von dem Vater Jaguar 
befragt, wie es im Tale ſtehe, antwortete dieſer: „Es 
ſteht gerade fo, wie wir es erwartet haben, Senor. Wir 
ſind Sieger geblieben.“ 

„Das verſteht ſich ganz von ſelbſt, denn uns zu be⸗ 
fiegen, war für die Abipones gar keine Möglichkeit vor⸗ 
handen. Wenn ich fragte, ſo geſchah es um dieſer 
letzteren willen. Ihr habt nach meiner Entfernung doch 
nicht wieder geſchoſſen?“ f 

„Noch einigemal, Sehor.“ 


— 460 — 


„Warum?“ fuhr Hammer auf. „Das iſt der reine 
Mord!“ 


„Sie waren und find unſre Feinde und hätten uns, 
wenn ſie Sieger geblieben wären, bis auf den letzten 
Mann getötet.“ 

„So müßt ihr ſie ja faſt alle erſchoſſen haben! Ich 
befahl doch Geronimo, dem Morden Einhalt zu tun. 

Komm, Anciano, wir wollen ſehen!“ 

| Die beiden ritten durch den Eingang in das Tal. 
Was ſie da ſahen, war ſehr traurig. Die Cambas, 
welche vorher unter den Bäumen verborgen geweſen 
waren, hatten ihre Verſtecke verlaſſen, um ihren Geg⸗ 
nern ſich und ihre Uebermacht zu zeigen. Sie hatten, 
jetzt vor den Bäumen ſitzend und ihre Waffen noch 
immer bereit haltend, den ganzen Rand des Tales 
rundum eingenommen. Rechts, wo vorher der Vater 
Jaguar poſtiert geweſen war, ſtand jetzt Geronimo mit 
ſeinen weißen Gefährten. Doktor Morgenſtern und ſein 
Fritze waren auch dabei. 


Die Abipones befanden ſich noch am Ufer des 
kleinen Sees; ſie wagten es nicht, einen Vorſtoß zu 
unternehmen, und hatten ihre Toten und Verwundeten 
zuſammengetragen. Der Augenſchein lehrte, daß wohl 
mehr als die Hälfte von ihnen gefallen war. Das er⸗ 
regte den Zorn des Vater Jaguar. Er galoppierte zu 
Geronimo hin, ſchwang ſich aus dem Sattel und fragte 
in ſcharfem Ton: „Wie kommt es, daß ich ſo viele 
Leichen ſehe, von den Verwundeten gar nicht zu 
ſprechen? Ich hatte dir doch geſagt, daß bis zu meiner 
Rückkehr nicht mehr geſchoſſen werden ſollte!“ 

„Ich trage nicht die Schuld, daß es anders gekom⸗ 
men iſt,“ antwortete Geronimo. „Man gehorchte mir 


— 14681 — 


nicht, und ich habe geradezu drohen müſſen, ehe man 
Einhalt tat.“ 

„Dann wollen wir den Ueberlebenden wenigſtens 
nicht die härteſten Bedingungen ſtellen. Leider hat 
Leutnant Verano den Oberhäuptling der Abipones er⸗ 
ſchoſſen; wir werden alſo mit den Unterhäuptlingen zu 
verhandeln haben. Sende einen Boten an fie! Sie mö- 
gen zu mir kommen. Ich ſichere ihnen freies Geleit zu. 
Aber ohne Waffen müſſen fie fein.” 

Während der Bote abging, wendete ſich Hammer, 
natürlich in deutſcher Sprache, an Morgenſtern: „Ich 
hatte Ihnen doch angedeutet, draußen vor dem Tal bei 
den Pferden zu bleiben. Wie find Sie denn eigentlich 
auf die entgegengeſetzte Seite des Tales und noch dazu 
in die Hände der Feinde gekommen?“ 

Der Kleine antwortete: „Infolge unſrer Tapfer⸗ 
keit, lateiniſch Fortitudo oder auch Strenuitas genannt.“ 

„Alſo Ungehorſam! Es iſt doch ſonderbar, daß 
Ihre Tapferkeit ſtets Schaden zur Folge hat! Es muß 
ſich alſo bei Ihnen beiden um eine ganz unglückliche Art 
von Fortitudo oder Strenuitas handeln.“ 

In dieſem Augenblick kam einer ſeiner Gefährten, 
um ihm mitzuteilen, daß der ſterbende Kapitän Pellejo 
ihn zu ſprechen wünſche. Raſch eilte er, gefolgt von An⸗ 
ciano, zu der Stelle, wo man den Schwerverletzten auf 
Laub gebettet und notdürftig verbunden hatte. Durch 
den Verband rann das Blut, und er hielt die Hand auf 
die Wunde, als ob er dadurch das entfliehende Leben 
zurückhalten könne. Der Vater Jaguar ſah es ſeinem 
todesbleichen Geſicht und den ſchon ſtarr werdenden 
Augen an, daß jede Hilfe hier unmöglich ſei; dennoch 
kniete er bei dem Verwundeten nieder, um die Wunde 
zu unterſuchen. 


— 462 — 


„Geben Sie ſich keine Mühe, Senor,“ ſagte Pellejo 
mit ſchwacher Stimme. „Ich fühle, daß der Stich im 
Leben ſitzt.“ 

„Ich ſehe leider, daß es keine Rettung für Sie gibt. 
Sie haben nur noch wenige Minuten zu leben. Wollen 
Sie Ihr Gewiſſen erleichtern? Haben Sie einen Wunſch, 
den ich Ihnen vielleicht erfüllen kann?“ 


| „Einen Wunſch — — —? Ja!“ antwortete der 
Gefragte, indem ſein Auge für einige Sekunden neues 
Leben bekam. „Rächen Sie meinen Tod, Senor!“ 

„Ich will es tun. Auch ich habe eine ſchwere Rech⸗ 
nung mit den Entflohenen und werde den an Ihnen 
begangenen Mord dazu addieren. Aber unterſtützen Sie 
mich! Kennen Sie die Pläne dieſer beiden Männer?“ 

„Ja,“ antwortete Pellejo, indem er die Hand 
krampfhaft auf die Wunde drückte. „Meine Augen⸗ 
blicke ſind gezählt, aber ſie werden ausreichen, Ihnen 
mitzuteilen, was ich erlauſcht habe. Der Gambuſino 
und Perillo wollten durch den jetzigen Kriegszug und 
das darauf folgende Pronunciamiento reich werden. Sie 
hofſten, reiche Beute zu machen. Darauf müſſen ſie 
nun verzichten. Dafür aber wollen ſie ſich den ge⸗ 
wünſchten Reichtum aus den Bergen holen.“ 

„Ach! Kennen Sie den Ort?“ 

„Ja. Er liegt in der Nähe der Salina del Condor.“ 

„Kennen Sie den Namen?“ 

„Ich kenne ihn; aber ich bin ſchon ſo ſchwach, daß 
— daß ich mich erſt noch beſinnen muß.“ 

„War es vielleicht die Barranca del Homicidio?“ 

„Ja, ja, die war es!“ antwortete der Sterbende 
lebhafter als bisher. 


„Soll es denn dort Schätze geben?“ 

„Große Reichtümer aus der Inkazeit!“ 

„Woher weiß das der Gambuſino?“ 

„Antonio Perillo erzählte es ihm. Dieſer hat 
einen Indianer belauſcht, der in einer Vollmondnacht 
in die Barranca ſtieg und am nächſten Morgen mit 
Koſtbarkeiten beladen wieder herauf kam. Er iſt dem 
Indianer nach und hat ihn ermordet, um ihn zu be⸗ 
rauben. Sogar ſeine Kopfhaut hat er mitgenommen.“ 


Der alte Anciano ließ einige dumpfe, unverſtänd⸗ 
liche Worte hören. Der Vater Jaguar fragte weiter: 
„Iſt Perillo ſpäter wieder in der Barranca geweſen?“ 

„Ja. Er hat nach den Schätzen geſucht, aber nichts 
gefunden. Nun will er jetzt mit dem Gambuſino hin⸗ 
auf, weil dieſer erfahrener und ſcharfſinniger iſt.“ 

„Sie wiſſen das genau?“ 

„Ich hörte es von ihnen ſelbſt. Ich belauſchte ſie 
geſtern, ohne daß fie es ahnten und — — —“ 

Er hatte nur in kurzen Abſätzen geſprochen und die 
Worte oft einzeln und mühſam hervorgeſtoßen; ſeine 
Stimme war dabei immer ſchwächer geworden. Jetzt 
riß es ihm mitten in der Rede die Hand von der Wunde 
weg; er bäumte ſich mit einem gurgelnden Schrei empor 
und ſank dann wieder nieder. Seine Augen ſchloſſen 
ſich; er röchelte leiſe und immer leiſer; ſeine Glieder 
ſtreckten fi in krampfhaften Zuckungen aus — — — 
er war tot. 

„Vorüber!“ ſagte der Vater Jaguar, indem er ſich 
aufrichtete. „Er war ein Empörer, ein Verräter und 
hat hier den gerechten Lohn gefunden. Seine letzten 
Worte aber ſind von der größten Wichtigkeit für uns.“ 


— 464 — 


„Ja,“ nickte Anciano ernſt. „Antonio Perillo iſt 
mir heute entkommen; aber ich werde mich wie ein 
Hund auf ſeine Fährte legen, bis ich ihn ergriffen habe.“ 

„Was ſeine Fährte betrifft, ſo werden wir dieſe 
nicht berückſichtigen. Da wir erfahren haben, daß die 
Barranca del Homicidio das Ziel der Mörder iſt, 
brauchen wir ja nur dorthin zu reiten, um ſie dort zu 
erwarten.“ 


Fünfzehntes Kapitel 


Doktor Morgenſtern am Stiel 


Jetzt kamen die Unterhäuptlinge der Abipones her⸗ 
bei, und vom Eingang her näherte ſich der „Harte Schä⸗ 
del“, und ſo war es Zeit, die Verhandlungen zu be⸗ 
ginnen, zumal der Nachmittag ſich zur Rüſte zu neigen 
begann. 

An dieſer Verhandlung nahmen nur die Weißen 
und die Häuptlinge teil. Der Vater Jaguar hielt 
einige begütigende Reden, worin er die Forderungen 
der Cambas zu mäßigen ſuchte und den Abipones be⸗ 
wies, daß ihre Freundſchaft mit dem Gambuſino und 
ſeinem Anhang ihnen nur Unglück gebracht habe und 
daß es für ſie am geratenſten ſei, mit ihren roten Brü⸗ 
dern in Eintracht und Frieden zu leben. Seine Worte 
brachten nach beiden Seiten den beabſichtigten Eindruck 
hervor und dann begann eine Art Handel in Beziehung 
der Kriegsentſchädigung, welche die Abipones den Cam⸗ 
bas zu zahlen hatten. Es ging dabei ſehr erregt her, 
doch brachte der Vater Jaguar nach einiger Zeit die be⸗ 
abſichtigte Einigung zuſtande. 

Die Cambas hatten heute keinen Mann verloren, 
Grund genug, ihre Forderungen nicht zu übertreiben. 
Die Abipones waren durch die große Zahl ihrer Toten 

May, Das Vermächtnis des Inda 30 


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und Verwundeten hart beſtraft. Sie mußten alle ihre 
Waffen abgeben und dann Frieden ſchwören. Es war 
dem Vater Jaguar gelungen, eine Straflieferung von 
Pferden und Rindern zu hintertreiben, da die Abipones 
dieſe Tiere doch, um ſie den Cambas bringen zu können, 
den weißen Anſiedlern vorher hätten rauben müſſen. 

Die Cambas jubelten und fanden kaum Worte, 
dem Vater Jaguar ihre Dankbarkeit zu bezeigen. Die 
Abipones aber waren ſelbſtverſtändlich im höchſten 
Grad niedergeſchlagen. Sie ſaßen klagend bei ihren 
Leichen und kühlten mit Waſſer die Wunden ihrer Bleſ⸗ 
ſierten. Heute blieben alle, Sieger und Beſiegte, im 
Tal. Morgen ſollten die letzteren waffenlos abziehen, 
natürlich nur die Geſunden und Leichtverwundeten, 
während die Schwerverwundeten von den Cambas ge⸗ 
pflegt würden und dann nachkommen ſollten. 

Kein Menſch freute ſich darüber, daß ſo viel Blut 
gefloſſen war, in der Weiſe, wie Don Parmeſan Rui el 
Ibario, denn er glaubte, nun das Licht ſeiner chirur⸗ 
giſchen Kenntniſſe und Geſchicklichkeit leuchten laſſen zu 
können. Er wendete ſich an die Häuptlinge der Abi⸗ 
pones, um die Erlaubnis zu erhalten, ihre Kranken be⸗ 
handeln zu dürfen, wurde aber kalt und ohne Dank ab⸗ 
gewieſen, da dieſe Roten ſich auf die Behandlung der 
Wunden weit beſſer als mancher weiße Arzt verſtehen. 
Er kehrte darum ganz erboſt von ihnen zurück und ſagte 
zu Morgenſtern, dem er ſich am liebſten mitzuteilen 
pflegte: „Sind dieſe Kerls nicht Prügel wert, Senor? 
Sie weiſen mich ab, obgleich ich ihnen meine Hilfe an⸗ 
geboten. Sie meinen doch auch, daß ich viele ihrer 
Bleſſierten gerettet hätte?“ 

„Ich bin überzeugt davon,“ antwortete der Ge⸗ 
fragte in höflicher Weiſe. 


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„Ja, viele, viele hätte ich gerettet! Ich ſah ſie 
liegen, blutend und mit zerſchoſſenen Gliedern. Dieſe 
Glieder müſſen herunter, ſonſt kommt der Brand dazu. 
Und wer kann ſie kunſtgerechter herunterbringen als 
ich? Sie find doch vollſtändig überzeugt, Senor, daß ich 
alles, alles herunterſäble?“ 

„Ich bezweifle es nicht im mindeſten.“ 


„Dann wollte ich, daß Sie einen Schuß in den 
Arm, in das Bein oder in den Leib bekommen hätten. 
Sie ſollten ſtaunen, mit welcher Meiſterſchaft ich Ihnen 
die Kugel und alle Knochenſplitter aus der Wunde 
ziehen und nötigenfalls das verletzte Glied abſchneiden 
würde. Es iſt wirklich jammerſchade, daß niemals ein 
verſtändnisinniger Mann einen Schuß bekommt!“ 


Der Abend brach herein und mit ihm kamen Gäſte, 
nämlich die Frauen und größeren Kinder der Cambas. 
Sie wußten, für welche Zeit man den Kampf vermutet 
hatte, und kamen nun, deſſen Ausgang zu erfahren, erſt 
einzeln und verzagt, dann aber in hellen Haufen. Sie 
hatten reichlich Speiſe und Trank mitgebracht, und da 
Friede geſchloſſen war, ſo durften auch die Beſiegten an 
dem Mahl teilnehmen. Es brannten viele Feuer, an 
denen Freunde und Feinde in den verſchiedenſten Grup⸗ 
pierungen lagerten. 

Obgleich von einer Gefahr keine Rede mehr ſein 
konnte, hatte der Vater Jaguar doch einen Doppelpoſten 
an den Eingang des Tales poſtiert. Es war das mehr 
eine Folge der Gewohnheit. Das mochten die beiden 
Indianer, denen dieſer Auftrag geworden war, auch 
denken, denn als ſie einige Zeit allein geſtanden hatten, 
wurde ihnen die Zeit lang und ſie kehrten, ohne daß der 
Vater Jaguar dies bemerkte, an ihr Feuer zurück. 


=. AB8: 


Dieſer Ungehorſam, ſcheinbar nur eine kleine Nach⸗ 
läſſigkeit, ſollte von ſchweren Folgen ſein. 

Der Gambuſino hatte nämlich mit Antonio Perillo 
wohl eine Stunde lang im Gebüſch N ehe er es 
wagte, hervorzulugen. 

„Ich ſehe niemand,“ ſagte er. 

„So ſind ſie fort,“ meinte ſein Genoſſe. 

„Das möchte ich doch nicht als ſo gewiß annehmen. 
Wie nun, wenn ſie in der Nähe in den Büſchen ſtecken, 
um zu warten, bis wir wiederkommen!“ 

„Dann müßten wir doch die Pferde ſehen.“ 

„Nein. Der Wald iſt zwar ſehr dicht, aber der 
Rand hat doch hie und da eine dünnere Stelle, wo man 
zwei Pferde verſtecken kann.“ 

„Wenn du ſo übermäßig vorſichtig ſein willſt, können 
wir bis zum jüngſten Tage hier ſtecken bleiben!“ 

„Gar ſo lange doch nicht ganz. Jetzt möchte ich 
nicht hinaus auf den freien Campo treten; ich könnte 
ſogleich eine Kugel bekommen. Aber wenn es finſter 
geworden iſt, gibt es kein Wagnis dabei. Es iſt dann 
ſogar möglich, daß wir nach dem Tal des ausgetrock⸗ 
neten Sees zurückkehren.“ 

„Biſt du toll? Sollen wir uns ergreifen laſſen?“ 

„Fällt mir gar nicht ein. Es iſt mir nur ein Ge⸗ 
danke gekommen, den ich für einen ſehr glücklichen halte.“ 

„Welcher?“ 

„Wir haben keine Pferde und können auch auf viele 
Tagereiſen weit keins bekommen. Im Tal aber gibt es 
welche.“ 

„Die du dir holen willſt?“ 

„Nicht alle, ſondern nur zwei.“ 

„Das wäre Tollkühnheit!“ 


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„Pah! Wir wiſſen genau, daß die Cambas Sieger 
ſind, und ich befürchte, daß ſie unſre Verbündeten bis 
auf den letzten Mann aufgerieben haben. Nach einem 
ſolchen Erfolg ſind dieſe ſüdamerikaniſchen Roten wie 
betrunkene Kinder. Sie werden ſchreien und jubeln, 
eſſen und trinken und an nichts andres denken, als daß 
ſie uns überwunden haben. Da vergißt man es viel⸗ 
leicht, den Eingang zum Tal zu bewachen. Und ſtellt 
man ja einen Wächter hin, ſo wird er unſchädlich ge⸗ 
macht, worauf es ſehr ſchlimm zugehen müßte, wenn wir 
nicht zu zwei Pferden kämen.“ 

„Und wenn ſie nicht geſattelt ſind?“ 

„Dummkopf! Schau da hinaus! Siehſt du denn 
nicht, daß der Vater Jaguar unſre Pferde zwar er⸗ 
ſchoſſen, aber ihnen nicht das Sattel⸗ und Zaumzeug ge⸗ 
nommen hat. Finden wir zwei ungeſattelte Pferde, ſo 
reiten wir hierher, um das zu finden, was wir 
brauchen.“ 

Perillo brachte noch einige Einwendungen vor, die 
ihm aber der Gambuſino widerlegte. Darüber wurde 
es Abend und die beiden verließen vorſichtig ihr Ver⸗ 
ſteck. Sie wendeten ſich nicht am Waldesrand zurück, 
da ſie da leicht auf den befürchteten Hinterhalt ſtoßen 
konnten, ſondern ſchlichen ſich eine Strecke weit in den 
Campo hinein und bogen erſt dann, als ſie den Wald 
nicht mehr ſehen konnten, nach rechts ab, in welcher 
Richtung das Tal des ausgetrockneten Sees vor ihnen 
lag. 

Um dieſes zu erreichen, brauchten ſie jetzt viermal 
ſo viel Zeit, als am Nachmittag, da ſie es zu Pferde als 
Flüchtlinge verlaſſen hatten. Sie konnten es nicht ver⸗ 
fehlen, weil ſie ſich dem Wald nach und nach wieder 
näherten und endlich an ihm hinſchritten. Noch ehe ſie 


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in der Finſternis den Eingang ſehen konnten, hörten ſie 
den Lärm, der aus dem Tal drang. 

„Horch!“ ſagte der Gambuſino, indem er lauſchend 
ſtehen blieb. „Man bejubelt den Sieg. Verdammt, 
daß es ſo kommen mußte! Meine Ahnung, daß der 
Vater Jaguar uns voraus ſei, war alſo doch richtig.“ 

„So hätteſt du dich danach richten ſollen. Pellejo 
— Friede ſei ſeiner Aſche! — hatte recht, als er uns zu 
größerer Vorſicht aufforderte.“ 

„Schweig und ſprich mir nicht von dieſem Bur⸗ 
ſchen! Er wollte kommandieren. Es hat ſo ſollen ſein 
und iſt nun nicht zu ändern. Bleib jetzt einmal hier 
ſtehen! Ich will voranſchleichen, um zu ſpähen.“ 

Er huſchte fort. Als er nach ungefähr zehn Mi⸗ 
nuten zurückkehrte, berichtete er in freudigem Ton: „Es 
iſt ſo, wie ich dachte. Kein Menſch ſteht Wache. Wir 
können hinein, ohne bemerkt zu werden. Komm!“ 

Er nahm den andern bei der Hand und zog ihn mit 
ſich fort. Als ſie das Felſentor des Tales erreichten, 
glänzte ihnen der Schein von vielen Feuern entgegen, 
ſo daß ſie ſich ganz zur Seite im Schatten des Felſens 
halten mußten. Der Gambuſino deutete auf den 
letzteren und ſagte: „Hier war es, wo uns die beiden 
kleinen roten Kerls von oben herab vor die Füße flogen. 
Ich ließ ſie aber laufen, weil ich glaubte, daß ſie uns 
ſicher ſeien. Nun ſind ſie uns wieder entkommen!“ 

„Schadet nichts. Ich freue mich jetzt, daß wir ſie 
nicht getötet haben.“ 

„Warum?“ 

„Weil ſie doch vielleicht das ſind, wofür ſie ſich aus⸗ 
geben. So oft wir ſie trafen, haben ſie ſich ſo kindiſch 
albern benommen, daß es mir heute unmöglich iſt, noch 
zu glauben, daß der eine Oberſt Glotino ſein ſoll.“ 


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„Je länger ich mir den Kerl und feine Streiche ver⸗ 
gegenwärtige, deſto mehr kommt es auch mir ſo vor, als 
ob wir uns geirrt hätten. Wir haben uns durch eine 
Aehnlichkeit täuſchen laſſen. Wenn mir dieſe beiden 
Roten wieder begegnen ſollten, ſo wird es mir gar nicht 
einfallen, ſie als voll zu behandeln. Ich bedrohe keines⸗ 
wegs mehr ihr Leben. Was ſie von mir zu befürchten 
haben, das ſind einige derbe Ohrfeigen, die ich ihnen da⸗ 
für geben werde, daß ſie es wagen, mir wieder und im⸗ 
mer wieder wie Ungeziefer über den Weg zu laufen. 
Jetzt aber haben wir keine Zeit, von dieſen Knirpſen zu 
ſprechen. Da ſieh einmal, wie gut wir es getroffen 
haben!“ 

Er deutete nach dem Innern des Tales, wo beim 
Schein der Feuer alle dort befindlichen Perſonen leidlich 
zu erkennen waren. 

„Schau da nach links hinüber! Kennſt du ihn?“ 
fuhr er fort. 

„Der Vater Jaguar!“ 

„Ja. Oh, wenn ich dieſem Hund eine Kugel geben 
könnte! Aber wir wollen uns jetzt ſputen. Glücklicher⸗ 
weiſe laufen hier Pferde in Maſſe herum.“ 


Dieſes letztere war allerdings richtig. Wie bereits 
erwähnt, hatten die Cambas ihre Pferde anfänglich 
unter der Aufſicht einiger Männer am Bach draußen 
vor dem Tal gelaſſen. Jetzt war es da draußen dunkel, 
und da der Kampf vorüber war, hatte man die Pferde 
in das Tal gelaſſen, wo ſie ſich nach allen Richtungen 
frei herumtrieben. Der Vater Jaguar hatte das ge⸗ 
ſtattet, weil er überzeugt war, daß vorn am Eingang 
ein Doppelpoſten ſtehe. Hätte er geahnt, wer an deſſen 
Stelle jetzt dort ſpähte! 


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Während die beiden Lauſcher ihre Augen auf die 
Pferde richteten, die in ihrer Nähe weideten, meinte An⸗ 
tonio Perillo: „Wir haben doch ſchießen hören, und 
trotzdem hat es allen Anſchein, als ob gar kein Kampf 
ſtattgefunden habe.“ 

„Wieſo? Es iſt ſogar ein furchtbares Feuer gewe⸗ 
ſen, das man auf die Abipones eröffnet hat. Siehſt du 
denn nicht die Menge von Leichen, die dort am See 
liegen?“ 

„Aber wo ſind die andern Abipones hin?“ 

„Entflohen natürlich.“ 

„Unmöglich! Der Vater Jaguar hatte doch da 
draußen einen Hinterhalt geſtellt, der wohl an die hun⸗ 
dert Mann zählte. Es gelang uns nur mit Not, dieſen 
Leuten zu entgehen. Sie haben den Eingang beſetzt. 
Wie konnten da die Abipones entkommen?“ 

„Hm! Was du da vorbringſt, hat guten Grund. 
Sollten ſie wirklich alle aufgerieben worden ſein? Dann 
müßte man doch viel mehr Leichen ſehen.“ 

„Man wird ſie in das Waſſer geworfen haben.“ 

„Denke das ja nicht! Es wird den Cambas nicht 
im Traum einfallen, ſich dadurch dieſes koſtbare Waſſer 
zu verderben, denn — — —“ 

Er hielt inne, beſchattete ſeine Augen mit der 
Hand, blickte ſcharf nach einem der Feuer und fuhr 
dann in heftigem Tone fort: „Demonio! Ich habe 
mir bis jetzt noch keine Mühe gegeben, die Geſichtszüge 
zu erkennen. Jetzt aber ſehe ich, daß Abipones mit den 
Cambas zuſammen an den Feuern ſitzen.“ 

„Iſt das möglich?“ 

„Nicht möglich, ſondern wirklich. Sieh nur ſcharf 
hin!“ 


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Antonio Perillo überzeugte ſich, daß der Gambuſino 
recht hatte, und fragte: „Wie kann ſo etwas geſchehen? 
Man ſollte es nicht glauben!“ 

„Es iſt leicht zu begreifen. Die Abipones waren 
umzingelt. Sie hätten ſelbſt den letzten Mann verloren. 
Um ihr Leben zu retten, haben ſie um Gnade flehen 
müſſen.“ 

„Gnade? Das ſieht keineswegs ſo aus. Sie ſind 
ja nicht gefeſſelt; ſie eſſen mit und bewegen ſich wie freie 
Leute.“ 

„Tempesta! Das iſt wahr! Daran iſt dieſer 
Schurke, der Vater Jaguar, ſchuld. Er hat Frieden 
zwiſchen den Abipones und den Cambas geſchloſſen.“ 

„Den aber die Abipones jedenfalls teuer bezahlen 
müſſen!“ 

„Glaube dies ja nicht! Dieſer Menſch iſt klug. 
Durch eine ſchwere Kriegsbuße würde er die Rachgier 
erwecken und die Feindſchaft vergrößern. Ich wette, 
daß den Abipones alles geſchenkt und vergeben worden 
iſt. Man wird ihnen geſagt haben, daß ſie durch ihre 
Verluſte hart genug geſtraft worden ſind.“ 

„Eine ſolche Milde kann ich mir nicht als möglich 
denken.“ 

„Aber ich, da ich die Schlauheit dieſes Vater Ja⸗ 
guar kenne. Die Abipones ſind gewonnen und werden 
als Freunde behandelt. Wir können von heute an nicht 
mehr im Trüben fiſchen. Mit dem geplanten Pronun⸗ 
ciamiento iſt's vorüber, und es iſt nur gut, daß wir 
beide ein neues Ziel und einen neuen Zweck haben. Da 
haben wir zwei Tiere ganz nahe; ſie ſcheinen nicht 
ſchlecht zu ſein. Nehmen wir ſie, ich das rechts und du 
das links; aber vorſichtig! Bücke dich zum Boden 
nieder!“ 


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Sie legten ſich in das Gras und krochen auf die 
beiden Pferde zu, die zwar keine Sättel, aber doch die 
Zäume trugen. Bei ihnen angekommen, richteten ſie 
ſich auf, zogen die feſtgeknüpften Zügel aus den Backen⸗ 
riemen, nahmen deren Enden in die Hände, bückten ſich 
wieder nieder und krochen zurück, die Pferde langſam 
hinter ſich herziehend. Draußen vor dem Felſentor an⸗ 
gelommen, ſagte der Gambuſino, indem er froh aufat⸗ 
mete: „Siehſt du nun, daß es ſehr leicht gegangen iſt! 
Dadurch, daß wir uns beritten gemacht haben, erſparen 
wir eine Fußwanderung von vielen Tagen. Jetzt holen 
wir uns die Sättel; dann umreiten wir dieſen undurch⸗ 
dringlichen Wald, der uns ſo außerordentlich unbequem 
liegt, und hernach, wenn wir ihn hinter uns haben, 
geht's hinüber nach Tucuman, wo wir mit der Dili⸗ 
gence bis Salta fahren. Das geht ſchneller als im 
Sattel, weil an jeder Station die Pferde gewechſelt 
werden.“ 

„Und von Salta aus?“ 

„Nehmen wir Maultiere, da in den Bergen wegen 
der dünnen Luft nicht mit Pferden auszukommen iſt.“ 

„Das weiß ich gar wohl; aber woher nehmen wir 
das Geld für die Maultiere? Bei dem Zweck, den wir 
verfolgen, können wir uns keine mieten, ſondern müſſen 
welche kaufen, und ich ſage dir, daß ich nicht genug bei 
mir habe, einen alten Ziegenbock, geſchweige denn ein 
gutes Maultier zu kaufen.“ 

„Da laß dir ja nicht bange ſein. Ich bin zwar 
auch nicht bei vollen Taſchen, aber ich habe in Salta 
einen Freund, der mich mit allem Nötigen verſehen 
wird.“ 

„Wer iſt das? Vielleicht kenne ich ihn auch.“ 

„Er heißt Rodrigo Sereno.“ 


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„Meinſt du etwa den Spediteur draußen vor der 
Stadt, an der Straße, die nach Injuy führt?“ 

„Ja. Er hat zugleich ein großes Gaſthaus, ver⸗ 
leiht Pferde und Maultiere und treibt noch zehn oder 
zwanzig andre Geſchäfte.“ 

„Den kenne ich allerdings. Wenn er dein Freund 
iſt, brauchen wir freilich nicht bange zu ſein.“ 

„Ich ſage ja, er wird mir geben, was ich brauche. 
Jetzt laß uns aufſteigen. Wir haben in dieſer Nacht 
einen weiten Ritt.“ 

Sie ſchwangen ſich auf die Pferde und galoppierten 
fort. | 

Später kamen zwei Cambas nach dem Eingang, 
um den Doppelpoſten abzulöſen. Als ſie die beiden un⸗ 
treuen Wächter nicht ſahen, nahmen ſie zwar deren 
Stelle ein, verfielen aber nicht auf den Gedanken, dem 
Vater Jaguar zu melden, daß das Felſentor eine ganze 
Zeitlang unbeaufſichtigt geweſen ſei. Hammer kam 
ſpäter, den Poſten zu inſpizieren, fand alles in Ord⸗ 
nung und ahnte nicht, daß etwas geſchehen war, wo⸗ 
durch ſeine ganze Berechnung zunichte gemacht werden 
mußte. Man entdeckte nicht einmal, daß zwei Pferde 
fehlten, da dieſe den Abipones gehört hatten und alſo 
von den Cambas nicht vermißt wurden. 

Die letzteren blieben bis weit nach Mitternacht 
munter. Die Freude, einem ſo grauenhaften Ueberfall 
entgangen zu ſein, ließ ſie nicht ſchlafen. Und die 
Weißen, denen ſie ihre Rettung zu verdanken hatten, 
mußten mit ihnen munter bleiben. 

Doktor Morgenſtern und ſein Fritze ſaßen in gräm⸗ 
licher Laune abſeits im Dunkeln und ſprachen, nur mit 
ihrem Aerger beſchäftigt, ſelten ein Wort miteinander. 
Warum? Das konnte man eben jetzt hören, als Fritze 


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ſeinem Herrn zuraunte: „Inwiefern könnte es denn 
eine ſo jroße Dummheit jeweſen ſind?“ 

„Weiß ich's?“ antwortete Morgenſtern. „In Jü⸗ 
terbogk im Geſangverein werde ich anders anerkannt.“ 

„Dat mag die Möglichkeit ſind; aber hier im Gran 
Chaco wird mehr verlangt als nur eine jute, wohljefäl⸗ 
lige Baritonſtimme. Da muß man vor allem Haare 
auf die Zähne haben und ein jehöriges Quantum 
Tapferkeit beſitzen.“ 

„Sind wir denn nicht tapfer geweſen? Wir haben 
uns doch nicht nur in die vorderſte Reihe geſtellt, ſon⸗ 
dern ſind ſogar auf den Felſen geſtiegen, um den Feind 
aus erſter Hand zu haben!“ 

„Hm! Soll ick aufrichtig ſind?“ 

„Natürlich!“ 

„Jut! Es kommt mich jetzt vor, als ob wir nicht 
tapfer, ſondern voreilig jeweſen wären.“ 

„Voreilig, lateiniſch praeproperus genannt? Wieſo 
denn, mein Lieber?“ 

„Weil wir ſo raſch nach vorn jeeilt ſind, obwohl 
wir keine Erlaubnis dazu hatten.“ 

„Erlaubnis brauche ich nicht. Ich bin ein freier 
Mann!“ 

„Ick auch. Dennoch kommt es auf jewiſſe Verhält⸗ 
niſſe an. Im Gran Chaco muß man ſich anders be⸗ 
nehmen als in Stralau am Rummelsburger See. Dort 
bin ick dem Vater Jaguar über; hier aber iſt er mich 
über, und darum finde ick es jeraten, mir nach ſeine 
Weiſung zu verhalten.“ 

„Aber du biſt es ja doch geweſen, der den Vorſchlag 
gemacht hat, von den Pferden fort und in das Tal zu 
gehen!“ 


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„Es fällt mich jar nicht ein, dies fälſchlicherweiſe 
zu leugnen. Meine Abſichten ſind die beſten und tapfer⸗ 
ſten jeweſen. Ick wollte mir hervortun und auch Sie 
Jelegenheit jeben, Ihnen Ruhm und Ehre zu erwerben. 
Aber konnte ick wiſſen, daß der Felſen hier ſo locker und 
ſo mürbe iſt wie ein Eierkuchen? Konnte ick ahnen, 
daß er mir ſo verräteriſch hinunterſchicken würde, bis 
jerade vor die Fußzehen dieſes Jambuſino? Wäre dat 
nicht jeweſen, ſo wäre er nicht aufmerkſam jeworden, 
ſondern in dat Tal jekommen, und jefangen jenommen 
worden. Da muß ick dem Vater Jaguar vollſtändig 
recht jeben.“ 

„Wenn du die Sache ſo darſtellſt, kann ich dir nicht 
widerſprechen. Wir ſind wirklich blamiert!“ 

„Ja, wir ſind blamiert, trotz die ſchönen Knüp⸗ 
pels, die wir uns abjeſchnitten hatten. Sie ſind eben 
liejen jeblieben, während wir hinunterjekollert ſind. 
Umjekehrt wär's beſſer jeweſen. Wir konnten oben 
bleiben und die Prügel hinunterſchicken. Aber da es 
jeſchehen, iſt's nicht mehr zu ändern.“ 

„Zu ändern freilich nicht. Aber es geht mir doch 
zu Herzen. Könnten wir die Blamage nicht von uns 
abwaſchen? Könnten wir nicht eine tapfere Tat be⸗ 
gehen, die unſre befleckte Ehre, lateiniſch Dignitas oder 
Honor geheißen, wieder zu reinigen vermag? Nenne 
mir eine kühne Tat, Fritze, und ich führe ſie ſofort aus!“ 

„Und ick helfe Sie dabei. Hier in der Jejend 
fliejen die Taten in der Luft herum; fie kommen von 
ſelbſt. Nehmen wir die erſte beſte, die wir treffen, feſt, 
um ſie aus⸗ und durchzuführen! Dann wird man 
wieder Reſpekt vor uns haben.“ 

„Gut, ich bin dabei. Alſo die erſte kühne Tat, die 
uns in den Weg kommt, wird ausgeführt!“ 


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„Ja, ſie wird ausgeführt und ſollten wir dabei 
eine Gigantochelonia verſäumen.“ 

„Nein,“ fiel Morgenſtern ſchnell ein. „So weit 
würde ich mich von meiner Tapferkeit doch nicht hin⸗ 
reißen laſſen. Ein vorweltliches Rieſentier geht mir 
über alles. Uebrigens werden wir bald zu einem ſol⸗ 
chen freudigen Ziel gelangen. Du weißt doch, daß der 
Häuptling mir ein Rieſentier verſprochen hat.“ 

„Ob er es halten wird?“ 

„Jedenfalls. Wo nicht, ſo würde ich ihn zum 
Kampf auf Leben und Tod herausfordern, und dies 
würde zugleich die tapfere Tat ſein, womit ich meine 
verwundete Ehre herſtellen könnte.“ 

„Wenn ick an Ihre Stelle wäre, würde ick den 
Häuptling noch einmal fragen, zumal er ſoeben hier 
vorüberjehen wird.“ 

Es paßte wirklich ſo, daß der „Harte Schädel“ jetzt 
auf die beiden zugeſchritten kam. Sie ſtanden auf, und 
Morgenſtern fragte ihn, ob er ſich ſeines Verſprechens 
noch erinnere. 

„Ja,“ antwortete er. „Ich habe noch nie einem 
Freund eine Lüge geſagt.“ 

„So gibt es alſo wirklich ein ſolches Rieſentier?“ 

„Ja. Es liegt einen Tagesritt hinter dem Dorf 
des klaren Baches. Ich ſchwöre es Ihnen zu.“ 

„Und Sie wollen es mir verkaufen?“ 

„Nicht verkaufen, ſondern ſchenken, Senor. Ihre 
Kameraden haben uns einen großen Dienſt erwieſen 
und vielen von uns das Leben und das Eigentum ge⸗ 
rettet. Wie könnte ich da Bezahlung für die Knochen 
verlangen! Der Transport wird Ihnen ohnehin ein 
großes und vieles Geld koſten.“ 


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„Und wann werden Sie mir das Tier zeigen, 
Senor?“ 

„Morgen noch nicht, weil es da noch viel zu ordnen 
gibt; aber übermorgen bin ich gern bereit, mit Ihnen 
nach der Stelle zu reiten.“ 

„Was iſt's für ein Tier? Ein Glpptodon, ein 
Megatherium oder vielleicht ein Maſtodon?“ 

„Darauf kann ich nicht antworten, denn ich habe 
dieſe Namen noch nie vernommen. Sie werden es 
ſehen und dann wiſſen, wie Sie es zu nennen haben.“ 


Nach dieſen Worten entfernte er ſich, um ſich bei 
dem Vater Jaguar niederzuſetzen. Dieſer fragte ihn, 
was er mit dem kleinen Mann verhandelt habe, und 
als er es erfuhr, ſagte er, indem ein unternehmendes 
Lächeln über ſein Geſicht glitt: „Dieſer Doktor lebt und 
ſtirbt für ſeine Rieſentiere. Er iſt ein guter Menſch, 
und obgleich er mir ſchon manchen ſchlimmen Dienſt er⸗ 
wieſen hat, möchte ich ihm eine frohe Ueberraſchung be⸗ 
reiten. Wie weit habt ihr das Tier ausgegraben?“ 

„So weit, daß man den Kopf und die Knochen des 
Rückens bis zu denen des Schwanzes ſah. Dann deckten 
wir es wieder zu.“ 

„Sehr feſt, ſo daß es nur ſehr . auszugra⸗ 
ben iſt?“ 

„Nein, ſondern W weil wir es verkaufen 
wollten.“ 

„Wie lange würde man zubringen, um das Ge⸗ 
rippe vollſtändig freizulegen?“ 

„Wenn acht oder zehn Männer daran arbeiten, iſt 
es in einigen Stunden geſchehen, obgleich das Tier im 
harten Kalkboden ſteckt.“ 

„Habt ihr Werkzeuge dazu?“ 


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„Ja, Werkzeuge nach unſrer, wenn auch nicht nach 
eurer Art; aber ſie ſind faſt ebenſo gut wie die eurigen.“ 

„Und übermorgen willſt du ihn an die betreffende 
Stelle führen?“ 

„Ja.. 

„Gut! Willſt du mir morgen zehn Männer mit 
den nötigen Werkzeugen mitgeben? Ich möchte hin⸗ 
reiten und dafür ſorgen, daß er das Tier ganz ausge⸗ 
graben findet. Aber er darf vorher nichts davon 
wiſſen. Es ſoll eben eine Ueberraſchung für ihn 
werden.“ 

„Sie ſollen haben, was Sie brauchen. Auch einen 

Führer, der die Stellen genau kennt, ebenſo Riemen, 
um die einzelnen Knochen zuſammenzubinden. Stützen, 
um das Gerippe an Ort und Stelle aufzurichten, können 
Sie ſich dort abſchneiden. Es wächſt da Bambus und 
hohes Gebüſch in Menge.“ 
5 Das Verſprechen, daß er übermorgen das Rieſen⸗ 
tier zu ſehen bekommen ſolle, ließ den Doktor nicht ſchla⸗ 
fen. Er war übrigens nicht der einzige, welcher wachte. 
Die Abipones ſchliefen auch nicht, teils aus Aufregung 
über die erlittene Niederlage, teils wegen der Schmer⸗ 
zen, die ihre Wunden ihnen bereiteten. Es ſtarben 
während der Nacht noch mehrere von ihnen. 

Am andern Morgen erteilte der Vater Jaguar 
ſeinem Geronimo die nötigen Verhaltungsmaßregeln 
und ritt dann mit zehn Cambas fort, ohne zu ſagen, 
wohin er zu gehen beabſichtige und wann er wieder⸗ 
kehren werde. Er glaubte ſich im Tal entbehrlich, da er 
in Geronimo einen zuverläſſigen Vertreter hatte. 

Zunächſt war über die Frage zu entſcheiden, wo 
und wie die Leichen beerdigt werden ſollten. Es waren 
ihrer ſo viele, daß zum Begraben außerordentlich viele 


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Arbeitskräfte und auch eine lange Zeit gehörten. Dar⸗ 
um kam man auf Geronimos Vorſchlag darin überein, 
daß ſie draußen vor dem Tal verbrannt werden ſollten. 
Man ſchaffte die Toten hinaus und errichtete aus ihren 
Körpern und dürrem Holz hohe Scheiterhaufen, die in 
Brand geſteckt wurden. Als das vorüber war, war der 
Mittag vergangen, und die geſunden und leichtverwun⸗ 
deten Abipones mußten abziehen. Sie wären zwar 
gern noch bei ihren Schwerverwundeten zurückgeblieben, 
aber man traute ihnen denn doch noch nicht ſo recht, ob⸗ 
gleich ſie entwaffnet worden waren. Sie erhielten das 
Verſprechen, daß man ihre Zurückgelaſſenen gut ver⸗ 
pflegen werde, und marſchierten dann ab, denn ihre 
Pferde waren ganz ſelbſtverſtändlich als Beute zurück⸗ 
behalten worden. Ihre Meſſer hatte man ihnen mit⸗ 
gegeben, da ſie dieſe unterwegs unmöglich entbehren 
konnten. | 

Nun wollten die Cambas nach ihren verſchiedenen 
Dörfern und Wohnſitzen zurückkehren. Es wurde be⸗ 
ſchloſſen, daß eine Anzahl von ihnen im Tal des aus⸗ 
getrockneten Sees bleiben ſollte, um die Schwerverwun⸗ 
deten da zu pflegen, bis ſie ſtark genug ſeien, das Tal 
zu verlaſſen. Zu dieſem Zweck ſollten Hütten aus Laub 
und Zweigen errichtet werden. Mit all dieſen Ausein⸗ 
anderſetzungen und Vorbereitungen war man nach Ver⸗ 
lauf der erſten Nachmittagsſtunden fertig. Dann wurde 
zum allgemeinen Aufbruch geſchritten, woran ſich nur 
die Kranken und deren Wärter nicht beteiligten. Die 
Folge dieſes ſpäten Aufbruchs war, daß der Zug erſt 
nach angebrochener Dunkelheit das Cambasdorf am 
klaren Bach erreichte. Die Krieger zogen dort als 
Sieger ein und wurden als ſolche empfangen und ge⸗ 
feiert. Es verſtand ſich ganz von &, dod man ur 


May, Das Vermächtnis des Inka * 


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allen Dingen die Weißen ehrte, denen man ja doch die 
Rettung aus ſo großer Gefahr zu verdanken hatte. 

Die Feier des Sieges beſtand auch hier wieder in 
einem Schmauſe, der bis tief in die Nacht hinein währte. 
Am nächſten Morgen forderte der Häuptling den Doktor 
zu dem verſprochenen Ritt auf. Die Weißen beteiligten 
ſich ohne Ausnahme daran, und auch mehrere Cambas 
ritten mit. 

Der Weg führte nach Norden, durch Wälder und 
Wüſten, bis man gegen Abend einen Salzſee erreichte, 
der in einer tonigen Ebene lag, und von Wald und Ge⸗ 
büſch umgeben war. 

„Iſt es hier?“ fragte Morgenſtern, welcher vor 
Aufregung beinahe fieberte, den Häuptling. 

„Ja, in der Nähe,“ antwortete dieſer. 

„So führen Sie mich hin, ſchnell, ſchnell!“ 

„Haben Sie Geduld! Es iſt für heute zu ſpät. 
Die Sonne iſt ſchon hinter den Bäumen verſchwunden, 
und in wenigen Minuten wird es dunkel ſein. Da kön⸗ 
nen Sie doch nicht graben. Wir müſſen bis morgen 
warten.“ 

„Iſt dies der Fall, ſo Neige ich vor Aufregung. 
Wiſſen Sie, daß ich eigentlich das Recht habe, heute, ge⸗ 
rade heute die betreffende Stelle zu ſehen, wenn ich auch 
keine Zeit zum Nachgraben finde?“ 

„Warum?“ 

„Weil heute mein Geburtstag iſt, lateiniſch Natalis 
genannt.“ 

„Ihr Geburtstag? Wer hat das gewußt! Doch, 
da es fo ſteht, Senor, will ich Ihnen die Stelle heute 
noch zeigen. Aber nicht jetzt ſogleich, denn wir brauchen 
alle Hände, um noch vor der Dunkelheit genug Holz 
zum Feuer zu ſammeln. Daun, wenn wir für alles ge⸗ 


— 481 — 


Arbeitskräfte und auch eine lange Zeit gehörten. Dar⸗ 
um kam man auf Geronimos Vorſchlag darin überein, 
daß ſie draußen vor dem Tal verbrannt werden ſollten. 
Man ſchaffte die Toten hinaus und errichtete aus ihren 
Körpern und dürrem Holz hohe Scheiterhaufen, die in 
Brand geſteckt wurden. Als das vorüber war, war der 
Mittag vergangen, und die geſunden und leichtverwun⸗ 
deten Abipones mußten abziehen. Sie wären zwar 
gern noch bei ihren Schwerverwundeten zurückgeblieben, 
aber man traute ihnen denn doch noch nicht ſo recht, ob⸗ 
gleich ſie entwaffnet worden waren. Sie erhielten das 
Verſprechen, daß man ihre Zurückgelaſſenen gut ver⸗ 
pflegen werde, und marſchierten dann ab, denn ihre 
Pferde waren ganz ſelbſtverſtändlich als Beute zurück⸗ 
behalten worden. Ihre Meſſer hatte man ihnen mit- 
gegeben, da ſie dieſe unterwegs unmöglich entbehren 
konnten. | | 

Nun wollten die Cambas nach ihren verſchiedenen 
Dörfern und Wohnſitzen zurückkehren. Es wurde be⸗ 
ſchloſſen, daß eine Anzahl von ihnen im Tal des aus⸗ 
getrockneten Sees bleiben ſollte, um die Schwerverwun⸗ 
deten da zu pflegen, bis ſie ſtark genug ſeien, das Tal 
zu verlaſſen. Zu dieſem Zweck ſollten Hütten aus Laub 
und Zweigen errichtet werden. Mit all dieſen Ausein⸗ 
anderſetzungen und Vorbereitungen war man nach Ver⸗ 
lauf der erſten Nachmittagsſtunden fertig. Dann wurde 
zum allgemeinen Aufbruch geſchritten, woran ſich nur 
die Kranken und deren Wärter nicht beteiligten. Die 
Folge dieſes ſpäten Aufbruchs war, daß der Zug erſt 
nach angebrochener Dunkelheit das Cambasdorf am 
klaren Bach erreichte. Die Krieger zogen dort als 
Sieger ein und wurden als ſolche empfangen und ge⸗ 
feiert. Es verſtand ſich ganz von ſelbſt, daß man vor 


May, Das Vermächtnis des Inka 81 


— 482 — 


allen Dingen die Weißen ehrte, denen man ja doch die 
Rettung aus ſo großer Gefahr zu verdanken hatte. 

Die Feier des Sieges beſtand auch hier wieder in 
einem Schmauſe, der bis tief in die Nacht hinein währte. 
Am nächſten Morgen forderte der Häuptling den Doktor 
zu dem verſprochenen Ritt auf. Die Weißen beteiligten 
ſich ohne Ausnahme daran, und auch mehrere Cambas 
ritten mit. 

Der Weg führte nach Norden, durch Wälder und 
Wüſten, bis man gegen Abend einen Salzſee erreichte, 
der in einer tonigen Ebene lag, und von Wald und Ge⸗ 
büſch umgeben war. 

„Iſt es hier?“ fragte Morgenſtern, welcher vor 
Aufregung beinahe fieberte, den Häuptling. 

„Ja, in der Nähe,“ antwortete dieſer. 

„So führen Sie mich hin, ſchnell, ſchnell!“ 

„Haben Sie Geduld! Es iſt für heute zu ſpät. 
Die Sonne iſt ſchon hinter den Bäumen verſchwunden, 
und in wenigen Minuten wird es dunkel ſein. Da kön⸗ 
nen Sie doch nicht graben. Wir müſſen bis morgen 
warten.“ 

„Iſt dies der Fall, ſo eig ich vor Aufregung. 
Wiſſen Sie, daß ich eigentlich das Recht habe, heute, ge⸗ 
rade heute die betreffende Stelle zu ſehen, wenn ich auch 
keine Zeit zum Nachgraben finde?“ 

„Warum?“ 

„Weil heute mein Geburtstag iſt, lateiniſch Natalis 
genannt.“ 

„Ihr Geburtstag? Wer hat das gewußt! Doch, 
da es fo ſteht, Senor, will ich Ihnen die Stelle heute 
noch zeigen. Aber nicht jetzt ſogleich, denn wir brauchen 
alle Hände, um noch vor der Dunkelheit genug Holz 
zum Feuer zu ſammeln. Dann, wenn wir für alles ge- 


=. AB] 


Arbeitskräfte und auch eine lange Zeit gehörten. Dar⸗ 
um kam man auf Geronimos Vorſchlag darin überein, 
daß ſie draußen vor dem Tal verbrannt werden ſollten. 
Man ſchaffte die Toten hinaus und errichtete aus ihren 
Körpern und dürrem Holz hohe Scheiterhaufen, die in 
Brand geſteckt wurden. Als das vorüber war, war der 
Mittag vergangen, und die geſunden und leichtverwun⸗ 
deten Abipones mußten abziehen. Sie wären zwar 
gern noch bei ihren Schwerverwundeten zurückgeblieben, 
aber man traute ihnen denn doch noch nicht ſo recht, ob⸗ 
gleich ſie entwaffnet worden waren. Sie erhielten das 
Verſprechen, daß man ihre Zurückgelaſſenen gut ver⸗ 
pflegen werde, und marſchierten dann ab, denn ihre 
Pferde waren ganz ſelbſtverſtändlich als Beute zurück⸗ 
behalten worden. Ihre Meſſer hatte man ihnen mit⸗ 
gegeben, da ſie dieſe unterwegs unmöglich entbehren 
konnten. | 

Nun wollten die Cambas nach ihren verſchiedenen 
Dörfern und Wohnſitzen zurückkehren. Es wurde be⸗ 
ſchloſſen, daß eine Anzahl von ihnen im Tal des aus⸗ 
getrockneten Sees bleiben ſollte, um die Schwerverwun⸗ 
deten da zu pflegen, bis ſie ſtark genug ſeien, das Tal 
zu verlaſſen. Zu dieſem Zweck ſollten Hütten aus Laub 
und Zweigen errichtet werden. Mit all dieſen Ausein⸗ 
anderſetzungen und Vorbereitungen war man nach Ver⸗ 
lauf der erſten Nachmittagsſtunden fertig. Dann wurde 
zum allgemeinen Aufbruch geſchritten, woran ſich nur 
die Kranken und deren Wärter nicht beteiligten. Die 
Folge dieſes ſpäten Aufbruchs war, daß der Zug erſt 
nach angebrochener Dunkelheit das Cambasdorf am 
klaren Bach erreichte. Die Krieger zogen dort als 
Sieger ein und wurden als ſolche empfangen und ge⸗ 
feiert. Es verſtand ſich ganz von ſelbſt, daß man vor 


May, Das Vermächtnis des Inka 31 


— 482 — 


allen Dingen die Weißen ehrte, denen man ja doch die 
Rettung aus ſo großer Gefahr zu verdanken hatte. 

Die Feier des Sieges beſtand auch hier wieder in 
einem Schmauſe, der bis tief in die Nacht hinein währte. 
Am nächſten Morgen forderte der Häuptling den Doktor 
zu dem verſprochenen Ritt auf. Die Weißen beteiligten 
ſich ohne Ausnahme daran, und auch mehrere Cambas 
ritten mit. 

Der Weg führte nach Norden, durch Wälder und 
Wüſten, bis man gegen Abend einen Salzſee erreichte, 
der in einer tonigen Ebene lag, und von Wald und Ge⸗ 
büſch umgeben war. 

„Iſt es hier?“ fragte Morgenſtern, welcher vor 
Aufregung beinahe fieberte, den Häuptling. 

„Ja, in der Nähe,“ antwortete dieſer. 

„So führen Sie mich hin, ſchnell, ſchnell!“ 

„Haben Sie Geduld! Es iſt für heute zu ſpät. 
Die Sonne iſt ſchon hinter den Bäumen verſchwunden, 
und in wenigen Minuten wird es dunkel ſein. Da kön⸗ 
nen Sie doch nicht graben. Wir müſſen bis morgen 
warten.“ 

„Sit dies der Fall, jo vergehe ich vor Aufregung. 
Wiſſen Sie, daß ich eigentlich das Recht habe, heute, ge⸗ 
rade heute die betreffende Stelle zu ſehen, wenn ich auch 
keine Zeit zum Nachgraben finde?“ 

„Warum?“ 

„Weil heute mein Geburtstag iſt, lateiniſch Natalis 
genannt.“ Ä 

„Ihr Geburtstag? Wer hat das gewußt! Doch, 
da es fo ſteht, Senor, will ich Ihnen die Stelle heute 
noch zeigen. Aber nicht jetzt ſogleich, denn wir brauchen 
alle Hände, um noch vor der Dunkelheit genug Holz 
zum Feuer zu ſammeln. Dann, wenn wir für alles ge- 


— 483 — 


ſorgt haben, ſollen Sie den Ort beim Schein einer Fackel 
ſehen.“ 

Man begann Holz zu ſammeln, und zwar ſehr 
langſam, denn man war eingeweiht in das, was ge⸗ 
ſchehen ſolle. Der Häuptling hatte es allen außer Mor⸗ 
genſtern und Fritze geſagt. Es galt, die völlige Dunkel⸗ 
heit abzuwarten, um die Ueberraſchung wirken zu laſſen. 

Morgenſtern ſuchte mit allem Eifer nach dürrem 
Holz, damit der erſehnte Augenblick baldigſt eintrete. 
Dabei bemerkte er nicht, daß es in der Umgebung des 
Lagerplatzes Huf⸗ und Fußſpuren gab, die unmöglich 
von ihm und ſeinen Gefährten herrühren konnten. 
Ebenſowenig beobachtete er, daß der Häuptling mit Ge⸗ 
ronimo auf längere Zeit verſchwunden war. Sie hatten 
ſich zum Vater Jaguar begeben, um dieſem mitzuteilen, 
daß heute, gerade heute der Geburtstag des kleinen Vor⸗ 
ſintflutlers ſei, eine Kunde, die gar nicht beſſer zu ihrem 
Vorhaben paſſen konnte. 

Endlich war Holz genug vorhanden und es wurde 
ein Feuer angezündet. Erſt jetzt bemerkte Morgenſtern, 
daß die beiden Perſonen fehlten. 

„Es iſt doch grad, als ob man ſich gegen mich ver⸗ 
ſchworen hätte,“ klagte er gegen ſeinen Diener. „Nun, 
da alles in Ordnung iſt, fehlt der Häuptling, und doch 
weiß er, daß ich unmöglich länger warten kann.“ 

„Faſſen Sie Ihnen in Jeduld!“ tröſtete Fritze. 
„Wat lange währt, wird jut. Dat heißt mit andern 
Worten: Je länger Sie warten, deſto größer wird dat 
Tier, das aus der Unterwelt vor Ihre Augen kommen 
ſoll. Sehen Sie, da kommen die beiden und die Beſich⸗ 
tijung wird losjehen.“ 

Der Häuptling kam allerdings mit Geronimo 
zurück, aber die Neu⸗ oder Wißbegierde des Kleinen 


— 44 — 


wurde trotzdem noch nicht befriedigt, da die beiden be⸗ 
haupteten, daß man vorher erſt eſſen müſſe, eine Zu⸗ 
mutung, die Morgenſtern mit Entſetzen erfüllte. Er 
ahnte nicht, daß ſeines Geburtstags wegen noch erſt 
eine Vorbereitung zu treffen ſei. Man aß; er aber 
brachte keinen Biſſen über die Lippen. Da krachte aus 
nicht zu großer Entfernung ein Schuß. Morgenſtern 
ſprang erſchrocken auf und rief: „Was war das? Wer 
ſchießt da? Sollten etwa wieder Abipones in der Nähe 
ſein?“ 

„Nein, Senor,“ antwortete Geronimo. „Dieſer 
Schuß iſt das Zeichen, daß die Zeit gekommen iſt, wo 
Sie die Stelle ſehen ſollen, die Sie zu betrachten wün⸗ 
ſchen. Geben Sie mir Ihren Arm! Ich werde Sie 
führen.“ | 

Er ergriff ihn beim Arm und ging mit ihm voran; 
die andern folgten. Den Arm Fritzens hatte der Häupt⸗ 
ling in den ſeinigen genommen. So ging es mit würde⸗ 
vollen, ja feierlichen Schritten zwiſchen mehreren Buſch⸗ 
gruppen hindurch, bis man ſich vor einem Dunkel be⸗ 
fand, wo Geronimo ſtehen blieb und mit lauter Stimme 
ſagte: „Senor, heute an Ihrem Geburtstag befinden 
Sie ſich an einem Ort, wo Ihr Liebling ſich vor vielen 
tauſend Jahren an ſeinem Sterbetag niederlegte, um in 
Ihren zärtlichen Armen zu neuem Leben zu erwachen. 
La enhora buena, la enhora buena!“ 

„La enhora buena — wir gratulieren!“ ſtimmten 
alle andern ein. 

Zu gleicher Zeit ſah man vorn ein kleines Flämm⸗ 
chen leuchten. Es huſchte hin und her und auf und nie⸗ 
der; andre Flämmchen erſchienen, bei deren Schein man 
ein breites und wohl vier Ellen hohes Bambusgeſtell 
bemerkte, woran die aus dürren Bambusſtücken gefer⸗ 


— 483 — 


ſorgt haben, ſollen Sie den Ort beim Schein einer Fackel 
ſehen.“ 

Man begann Holz zu ſammeln, und zwar ſehr 
langſam, denn man war eingeweiht in das, was ge⸗ 
ſchehen ſolle. Der Häuptling hatte es allen außer Mor⸗ 
genſtern und Fritze geſagt. Es galt, die völlige Dunkel⸗ 
heit abzuwarten, um die Ueberraſchung wirken zu laſſen. 

Morgenſtern ſuchte mit allem Eifer nach dürrem 
Holz, damit der erſehnte Augenblick baldigſt eintrete. 
Dabei bemerkte er nicht, daß es in der Umgebung des 
Lagerplatzes Huf⸗ und Fußſpuren gab, die unmöglich 
von ihm und ſeinen Gefährten herrühren konnten. 
Ebenſowenig beobachtete er, daß der Häuptling mit Ge⸗ 
ronimo auf längere Zeit verſchwunden war. Sie hatten 
ſich zum Vater Jaguar begeben, um dieſem mitzuteilen, 
daß heute, gerade heute der Geburtstag des kleinen Vor⸗ 
ſintflutlers ſei, eine Kunde, die gar nicht beſſer zu ihrem 
Vorhaben paſſen konnte. 

Endlich war Holz genug vorhanden und es wurde 
ein Feuer angezündet. Erſt jetzt bemerkte Morgenſtern, 
daß die beiden Perſonen fehlten. 

„Es iſt doch grad, als ob man ſich gegen mich ver⸗ 
ſchworen hätte,“ klagte er gegen ſeinen Diener. „Nun, 
da alles in Ordnung iſt, fehlt der Häuptling, und doch 
weiß er, daß ich unmöglich länger warten kann.“ 

„Faſſen Sie Ihnen in Jeduld!“ tröſtete Fritze. 
„Wat lange währt, wird jut. Dat heißt mit andern 
Worten: Je länger Sie warten, deſto größer wird dat 
Tier, das aus der Unterwelt vor Ihre Augen kommen 
ſoll. Sehen Sie, da kommen die beiden und die Beſich⸗ 
tijung wird losjehen.“ 

Der Häuptling kam allerdings mit Geronimo 
zurück, aber die Neu⸗ oder Wißbegierde des Kleinen 


— 484 — 


wurde trotzdem noch nicht befriedigt, da die beiden be⸗ 
haupteten, daß man vorher erſt eſſen müſſe, eine Zu⸗ 
mutung, die Morgenſtern mit Entſetzen erfüllte. Er 
ahnte nicht, daß ſeines Geburtstags wegen noch erſt 
eine Vorbereitung zu treffen ſei. Man aß; er aber 
brachte keinen Biſſen über die Lippen. Da krachte aus 
nicht zu großer Entfernung ein Schuß. Morgenſtern 
ſprang erſchrocken auf und rief: „Was war das? Wer 
ſchießt da? Sollten etwa wieder Abipones in der Nähe 
ſein?“ 

„Nein, Senor,“ antwortete Geronimo. „Dieſer 
Schuß iſt das Zeichen, daß die Zeit gekommen iſt, wo 
Sie die Stelle ſehen ſollen, die Sie zu betrachten wün⸗ 
ſchen. Geben Sie mir Ihren Arm! Ich werde Sie 
führen.“ 

Er ergriff ihn beim Arm und ging mit ihm voran; 
die andern folgten. Den Arm Fritzens hatte der Häupt⸗ 
ling in den ſeinigen genommen. So ging es mit würde⸗ 
vollen, ja feierlichen Schritten zwiſchen mehreren Buſch⸗ 
gruppen hindurch, bis man ſich vor einem Dunkel be⸗ 
fand, wo Geronimo ſtehen blieb und mit lauter Stimme 
ſagte: „Seüor, heute an Ihrem Geburtstag befinden 
Sie ſich an einem Ort, wo Ihr Liebling ſich vor vielen 
tauſend Jahren an ſeinem Sterbetag niederlegte, um in 
Ihren zärtlichen Armen zu neuem Leben zu erwachen. 
La enhora buena, la enhora buena!“ 

„La enhora buena — wir gratulieren!“ ſtimmten 
alle andern ein. 

Zu gleicher Zeit ſah man vorn ein kleines Flämm⸗ 
chen leuchten. Es huſchte hin und her und auf und nie⸗ 
der; andre Flämmchen erſchienen, bei deren Schein man 
ein breites und wohl vier Ellen hohes Bambusgeſtell 
bemerkte, woran die aus dürren Bambusſtücken gefer⸗ 


— 485 — 


tigten Buchſtaben und Worte befeſtigt waren: „Zum 
Geburtstag!“ Die Buchſtaben wurden entzündet und 
brannten einige Minuten, ſo daß man die Worte deut⸗ 
lich leſen konnte. 

„Welche Ueberraſchung, Fritze!“ rief der Doktor 
aus, indem er ſich zu ſeinem Diener umwendete. „Hier 
im Gran Chaco bereitet man mir zum Geburtstag ein 
Feuerwerk. Aber das Rieſentier wäre mir doch noch 
lieber.“ 

„Hm!“ brummte Fritze mißtrauiſch. „Wenn dat 
nur kein Ulk iſt, der damit ein Ende nimmt, daß man 
Sie Ihre eigene werte Perſönlichkeit als Rieſentier be⸗ 
zeichnet! Ah, wat iſt dat?“ 

Die Buchſtaben waren verbrannt und der Bam⸗ 
busrahmen verſchwand. Dann leuchteten rechts und 
links wieder kleine Lichtpünktchen auf, die ſich ſchnell ver⸗ 
größerten und zu hohen Flammen anwuchſen. Es 
brannten ungefähr ſechzehn Schritt voneinander zwei 
mächtige Feuer und zwiſchen ihnen ſah man das weiße, 
vollſtändige Gerippe eines rieſigen Tieres ſtehen, das 
von ſtarken Bambusſchößlingen geſtützt wurde. Seit⸗ 
wärts ſtand lächelnd der Vater Jaguar mit den zehn 
Cambas, die ihm geholfen hatten, dieſes Werk zu vollen⸗ 
den. Morgenſtern aber ſah weder dieſen noch jene; ſein 
Auge hing ſtarr an dem Skelett; ſeine Bruſt rang nach 
Atem; er reckte beide Arme aus; er wollte ſprechen, 
rufen, brachte aber kein Wort hervor, bis er endlich mit 
Aufbietung aller ſeiner Kräfte in gellendem Ton und 
ſilbenweiſe fehrie: „Ein — Me — ga — the — ri — 
um! — Ein — Rie — ſen — faul — tier!“ — 

Die beiden Worte waren heraus und nun ſchien der 
Bann, der auf ihm laſtete, gebrochen zu ſein. Er ſprang 
auf das Gerippe zu, umarmte die ſtarken Schenkel⸗ und 


— 486 — 


küßte die andern Knochen; er ſtreichelte den Schädel wie 
den Kopf eines lieben Kindes und bückte ſich zur Erde 
nieder, um die an den Zehen befindlichen, ungeheuren 
Sichelkrallen zu liebkoſen, und rief und ſchwatzte dabei 
allerhand Zeug durcheinander, daß man hätte glauben 
mögen, er ſei verrückt geworden. Er zog ſeinen Fritze 
zu ſich heran und zeigte ihm alle Herrlichkeiten des Ske⸗ 
letts, „dieſen ſchönen, runden Schädel, die ſchönen, 
zylindriſchen Backzähne, die ſchönen kurzen, breiten 
Füße, die herrlichen, langen Sichelkrallen, die großartige 
Länge von wenigſtens vier und einem halben Meter, 
die gewaltige Höhe von dritthalb Meter!!“ 

Ohne ſich durch die ebenſo trockenen wie draſtiſchen 
Randgloſſen ſeines Fritze beirren zu laſſen, fuhr er be⸗ 
geiſtert fort: „Und denke dir, daß nicht das kleinſte 
Knöchelchen fehlt, während kein einziges Muſeum bis 
jetzt ein vollſtändiges Megatherium beſeſſen hat!“ 

„Auch dieſe Vollſtändigkeit kann mir nicht be⸗ 
jeiſtern,“ warf Fritze ein, „denn ſie kommt auch bei an⸗ 
dern Jeſchöpfen vor. Da ſehen Sie doch einmal mir 
jenauer an! Bei mich fehlt auch nichts; ſelbſt dat kleinſte 
Knöchelchen iſt da, und noch dazu mit Fleiſch und 
ſchöner Haut überzogen!“ 

„Fritze, du biſt ein Idiot. Dir kann man das 
Herrlichſte bieten, ohne daß du Geſchmack daran findeſt. 
Du biſt für die Wiſſenſchaft verloren.“ 

„Wenn ſie von weiter nichts als von Rieſenfaul⸗ 
tieren handelt, ſo kann ſie mich allerdings oft und 
manchmal jeſtohlen werden. Wat werden Sie denn 
nun mit dieſem toten Monſtrum anfangen?“ 

„Welche Frage! Ich ſchaffe es fort, nach Hauſe.“ 

„Auch jut. Wollen Sie es vor Jeld ſehen laſſen?“ 


— 485 — 


tigten Buchſtaben und Worte befeſtigt waren: „Zum 
Geburtstag!“ Die Buchſtaben wurden entzündet und 
brannten einige Minuten, ſo daß man die Worte deut⸗ 
lich leſen konnte. 

„Welche Ueberraſchung, Fritze!“ rief der Doktor 

aus, indem er ſich zu ſeinem Diener umwendete. „Hier 
im Gran Chaco bereitet man mir zum Geburtstag ein 
Feuerwerk. Aber das Rieſentier wäre mir doch noch 
lieber.“ 
„Fm!“ brummte Fritze mißtrauiſch. „Wenn dat 
nur kein Ulk iſt, der damit ein Ende nimmt, daß man 
Sie Ihre eigene werte Perſönlichkeit als Rieſentier be⸗ 
zeichnet! Ah, wat iſt dat?“ 

Die Buchſtaben waren verbrannt und der Bam⸗ 
busrahmen verſchwand. Dann leuchteten rechts und 
links wieder kleine Lichtpünktchen auf, die ſich ſchnell ver⸗ 
größerten und zu hohen Flammen anwuchſen. Es 
brannten ungefähr ſechzehn Schritt voneinander zwei 
mächtige Feuer und zwiſchen ihnen ſah man das weiße, 
vollſtändige Gerippe eines rieſigen Tieres ſtehen, das 
von ſtarken Bambusſchößlingen geſtützt wurde. Seit⸗ 
wärts ſtand lächelnd der Vater Jaguar mit den zehn 
Cambas, die ihm geholfen hatten, dieſes Werk zu vollen⸗ 
den. Morgenſtern aber ſah weder dieſen noch jene; ſein 
Auge hing ſtarr an dem Skelett; ſeine Bruſt rang nach 
Atem; er reckte beide Arme aus; er wollte ſprechen, 
rufen, brachte aber kein Wort hervor, bis er endlich mit 
Aufbietung aller ſeiner Kräfte in gellendem Ton und 
ſilbenweiſe ſchrie: „Ein — Me — ga — the — ri — 
um! — Ein — Rie — ſen — faul — tier!“ — 

Die beiden Worte waren heraus und nun ſchien der 
Bann, der auf ihm laſtete, gebrochen zu ſein. Er ſprang 
auf das Gerippe zu, umarmte die ſtarken Schenkel⸗ und 


— 486 — 


küßte die andern Knochen; er ſtreichelte den Schädel wie 
den Kopf eines lieben Kindes und bückte ſich zur Erde 
nieder, um die an den Zehen befindlichen, ungeheuren 
Sichelkrallen zu liebkoſen, und rief und ſchwatzte dabei 
allerhand Zeug durcheinander, daß man hätte glauben 
mögen, er ſei verrückt geworden. Er zog ſeinen Fritze 
zu ſich heran und zeigte ihm alle Herrlichkeiten des Ske⸗ 
letts, „dieſen ſchönen, runden Schädel, die ſchönen, 
zylindriſchen Backzähne, die ſchönen kurzen, breiten 
Füße, die herrlichen, langen Sichelkrallen, die großartige 
Länge von wenigſtens vier und einem halben Meter, 
die gewaltige Höhe von dritthalb Meter!!“ 

Ohne ſich durch die ebenſo trockenen wie draſtiſchen 
Randgloſſen ſeines Fritze beirren zu laſſen, fuhr er be⸗ 
geiſtert fort: „Und denke dir, daß nicht das kleinſte 
Knöchelchen fehlt, während kein einziges Muſeum bis 
jetzt ein vollſtändiges Megatherium beſeſſen hat!“ 

„Auch dieſe Vollſtändigkeit kann mir nicht be⸗ 
jeiſtern,“ warf Fritze ein, „denn ſie kommt auch bei an⸗ 
dern Jeſchöpfen vor. Da ſehen Sie doch einmal mir 
jenauer an! Bei mich fehlt auch nichts; ſelbſt dat kleinſte 
Knöchelchen iſt da, und noch dazu mit Fleiſch und 
ſchöner Haut überzogen!“ 

„Fritze, du biſt ein Idiot. Dir kann man das 
Herrlichſte bieten, ohne daß du Geſchmack daran findeſt. 
Du biſt für die Wiſſenſchaft verloren.“ 

„Wenn ſie von weiter nichts als von Rieſenfaul⸗ 
tieren handelt, ſo kann ſie mich allerdings oft und 
manchmal jeſtohlen werden. Wat werden Sie denn 
nun mit dieſem toten Monſtrum anfangen?“ 

„Welche Frage! Ich ſchaffe es fort, nach Hauſe.“ 

„Auch jut. Wollen Sie es vor Jeld ſehen laſſen?“ 


— 487 — 


„Nein. Ich werde es einer Univerſität, einem be⸗ 
rühmten Muſeum ſchenken, wo man ſeinem Namen 
dann den meinigen hinzufügen wird.“ 

„Da haben Sie aber ja die Jüte, zu bitten, daß 
nicht etwa auch der meinige mit anjehängt wird! Mit 
ſo 'nen Rieſenfaultier will Fritze Kieſewetter auf keinen 
Fall verewigt werden. Wenn Sie dat Vieh mit heim 
nehmen wollen, muß dies per Schiff jeſchehen. Wie 
aber wollen Sie es bis an die See bringen? Ja, wenn 
es noch laufen könnte!“ 

„Es wird auseinander genommen und jeder Knochen 
ſorgfältig einzeln verpackt. Dabei mußt du natürlich 
helfen.“ 

„Sehr jern. Wann ſoll dieſe Arbeit losjehen?“ 

„Am liebſten ſofort, aber das iſt leider unmöglich, 
da es vorher ſehr vieles zu beſchaffen gilt. Man muß 
das aus der nächſten Stadt beſorgen.“ 

„Das würde Tucuman ſein,“ ſagte der Vater Ja⸗ 
guar, indem er herbeitrat. „Ich ſtelle mich Ihnen dabei 
zur Verfügung, Herr Doktor. Wir reiten übermorgen 
nach Tucuman. Dort kann ich Ihnen alles Nötige be⸗ 
ſorgen. Einige Cambas, die wir mitnehmen, können 
Ihnen dann die Sachen bringen.“ 

„Verſtehen Sie ſich denn auf ſolche Einkäufe?“ 

„Ich denke wohl,“ lächelte der Vater Jaguar. „Se⸗ 
hen Sie ſich dieſes Megatherium genau an! Beſitzt 
irgend ein Teil oder auch das kleinſte Teilchen eine 
falſche, unrichtige Lage?“ | 

„Nein. Es iſt alles fo genau am Platze, als ob die 
Sintflut erſt geſtern geweſen wäre.“ 

„So ſage ich Ihnen, daß dieſes Gerippe, als wir 
es ausgruben, einen wirren Haufen von Knochen 
bildete.“ 


— 488 — 


„Wie? Sie haben es ausgegraben?“ 

„Ausgegraben und zuſammengeſtellt. Sie meinen 
doch nicht etwa, daß es ſeit der Sintflut hier zwiſchen 
den Büſchen geſtanden hat?“ 

„Dann — ſind — Sie ja — ein ausgezeichneter 
Geolog und Paläontolog!“ rief der Kleine aus, indem 
er zwiſchen den Wörtern Pauſen des Erſtaunens machte. 

„Wenn auch das nicht; aber wenn ich ein Megathe⸗ 
rium fehlerlos zuſammenzuſetzen verſtehe, bin ich wahr⸗ 
ſcheinlich auch imſtande, Ihnen in Tucuman alles ein⸗ 
zukaufen und zu ſenden, was zum Präſervieren und 
Verpacken dieſer Knochen gehört.“ 

„Davon bin ich vollſtändig überzeugt. Alſo Sie 
reiſen von hier ab? Schon übermorgen?“ 

„Ja.“ 

„Wohin?“ 

„Hinauf nach der Barranca del Homicidio.” 

„Wie gern möchte ich mit! Aber Sie ſehen ein, 
daß mir dies nun vollſtändig unmöglich iſt. Meine An⸗ 
weſenheit iſt hier ungeheuer notwendig, und auch Fritze 
muß hier bleiben.“ 

„Ich begreife es und werde Sie den Cambas emp⸗ 
fehlen, auf deren Freundſchaft Sie ſich verlaſſen können.“ 

Nach dieſen Worten entfernte er ſich und gab auch 
den andern einen Wink, den Gelehrten und ſeinen 
Diener jetzt bei dem Skelett allein zu laſſen. 

Es fiel Morgenſtern in ſeiner Freude gar nicht ein, 
ſich zu bedanken oder auch nur zu fragen, wie der Vater 
Jaguar denn eigentlich auf den Gedanken gekommen 
ſei, das Megatherium für ihn auszugraben. Er war ſo 
ſehr mit ſeinem wertvollen Fund und deſſen Einzel⸗ 
heiten beſchäftigt, daß er zunächſt für etwas andres gar 
keine Gedanken hatte. Er betrachtete und betaſtete die 


„Nein. Ich werde es einer Univerfität, einem be⸗ 
rühmten Muſeum ſchenken, wo man ſeinem Namen 
dann den meinigen hinzufügen wird.“ 

„Da haben Sie aber ja die Jüte, zu bitten, daß 
nicht etwa auch der meinige mit anjehängt wird! Mit 
ſo 'nen Rieſenfaultier will Fritze Kieſewetter auf keinen 
Fall verewigt werden. Wenn Sie dat Vieh mit heim 
nehmen wollen, muß dies per Schiff jeſchehen. Wie 
aber wollen Sie es bis an die See bringen? Ja, wenn 
es noch laufen könnte!“ 

„Es wird auseinander genommen und jeder Knochen 
ſorgfältig einzeln verpackt. Dabei mußt du natürlich 
helfen.“ 

„Sehr jern. Wann ſoll dieſe Arbeit losjehen?“ 

„Am liebſten ſofort, aber das iſt leider unmöglich, 
da es vorher ſehr vieles zu beſchaffen gilt. Man muß 
das aus der nächſten Stadt beſorgen.“ 

„Das würde Tucuman ſein,“ ſagte der Vater Ja⸗ 
gnar, indem er herbeitrat. „Ich ſtelle mich Ihnen dabei 
zur Verfügung, Herr Doktor. Wir reiten übermorgen 
nach Tucuman. Dort kann ich Ihnen alles Nötige be⸗ 
ſorgen. Einige Cambas, die wir mitnehmen, können 
Ihnen dann die Sachen bringen.“ 

„Verſtehen Sie ſich denn auf ſolche Einkäufe?“ 

„Ich denke wohl,“ lächelte der Vater Jaguar. „Se⸗ 
hen Sie ſich dieſes Megatherium genau an! Beſitzt 
irgend ein Teil oder auch das kleinſte Teilchen eine 
falſche, unrichtige Lage?“ ; 

„Nein. Es iſt alles jo genau am Platze, als ob die 
Sintflut erſt geſtern geweſen wäre.“ 

„So ſage ich Ihnen, daß dieſes Gerippe, als wir 
es ausgruben, einen wirren Haufen von Knochen 
bildete.“ 


— 48 — 


„Wie? Sie haben es ausgegraben?“ 

„Ausgegraben und zuſammengeſtellt. Sie meinen 
doch nicht etwa, daß es ſeit der Sintflut hier zwiſchen 
den Büſchen geſtanden hat?“ 

„Dann — ſind — Sie ja — ein ausgezeichneter 
Geolog und Paläontolog!“ rief der Kleine aus, indem 
er zwiſchen den Wörtern Pauſen des Erſtaunens machte. 

„Wenn auch das nicht; aber wenn ich ein Megathe⸗ 
rium fehlerlos zuſammenzuſetzen verſtehe, bin ich wahr⸗ 
ſcheinlich auch imſtande, Ihnen in Tucuman alles ein⸗ 
zukaufen und zu ſenden, was zum Präſervieren und 
Verpacken dieſer Knochen gehört.“ 

„Davon bin ich vollſtändig überzeugt. Alſo Sie 
reiſen von hier ab? Schon übermorgen?“ 

„Ja.“ 

„Wohin?“ 

„Hinauf nach der Barranca del Homicidio.“ 

„Wie gern möchte ich mit! Aber Sie ſehen ein, 
daß mir dies nun vollſtändig unmöglich iſt. Meine An⸗ 
weſenheit iſt hier ungeheuer notwendig, und auch Fritze 
muß hier bleiben.“ 

„Ich begreife es und werde Sie den Cambas emp⸗ 
fehlen, auf deren Freundſchaft Sie ſich verlaſſen können.“ 

Nach dieſen Worten entfernte er ſich und gab auch 
den andern einen Wink, den Gelehrten und ſeinen 
Diener jetzt bei dem Skelett allein zu laſſen. 

Es fiel Morgenſtern in ſeiner Freude gar nicht ein, 
ſich zu bedanken oder auch nur zu fragen, wie der Vater 
Jaguar denn eigentlich auf den Gedanken gekommen 
ſei, das Megatherium für ihn auszugraben. Er war ſo 
ſehr mit ſeinem wertvollen Fund und deſſen Einzel⸗ 
heiten beſchäftigt, daß er zunächſt für etwas andres gar 
keine Gedanken hatte. Er betrachtete und betaſtete die 


— 489 — 


einzelnen Knochen zum zehnten⸗ und zum hundertſten⸗ 
mal und ſprach dabei unaufhörlich erklärend auf Fritze 
ein, der die Feuer immerfort ſchüren mußte, damit das 
Faultier ja im hellſten Licht ſtrahle. 

Der Vater Jaguar aber ſagte zu Geronimo, als ſie 
mit den andern nach dem Lagerplatz zurückgekehrt waren 
und ſich dort niederließen: „Ich habe meinen Zweck er⸗ 
reicht. Dieſer Gelehrte wird uns mit ſeinem Diener 
keinen Schaden mehr machen. Die beiden bleiben hier 
feſt kleben. Wir können alſo ruhig hinauf in die Berge, 
ohne befürchten zu müſſen, daß ſie uns wieder einen 
ihrer Eulenſpiegelſtreiche ſpielen.“ 

„Und du willſt nicht direkt nach Salta, ſondern 
über Tucuman?“ 

„Ja. Ueber Salta müßten wir reiten; der weite 
Weg würde die Pferde ermüden, wodurch wir nur lang⸗ 
ſam vorwärts kämen. In Tucuman aber verkaufen wir 
die Pferde und fahren mit der Diligence weiter. Das 
geht wie ein Wetter, weil die Pferde oft gewechſelt wer⸗ 
den. In Salta aber nehmen wir Maultiere, die in den 
Bergen unvermeidlich ſind.“ 

„Von wem?“ 

„Von Rodrigo Sereno, der ſtets die beſtgepflegten 
Tiere hat. Auf dieſe Weiſe kommen wir mit einem 
ſolchen Vorſprung vor dem Gambuſino in die Berge, 
daß wir genug Zeit finden, alle unſre Vorbereitungen 
zu treffen, daß weder er noch Antonio Perillo uns ent⸗ 
gehen kann.“ 

„Nimmſt du auch Cambas mit?“ 

„Fällt mir nicht ein. Aber der alte Anciano und 
Hauka werden dabei ſein.“ 

„Eigentlich ſollte doch die Hälfte von uns im Chaco 
bleiben, um da Tee zu ſammeln!“ 


— 490 — 


„Das können dieſe Leute ſpäter nachholen. Jetzt 
brauche ich ſie, um die beiden Mordbuben zu fangen.“ 

„Und Don Parmeſan, der Chirurg?“ 

„Dieſen Menſchen können wir nicht gebrauchen. 
Ich werde es ſo einzurichten wiſſen, daß er hier bei 
Morgenſtern und Fritze bleibt.“ 

So waren alſo alle Rollen verteilt, und man legte 
ſich nieder, um zu ſchlafen, da frühzeitig nach dem Dorf 
zurückgekehrt werden ſollte. Morgenſtern hätte gewiß 
vor freudiger Aufregung nicht geſchlafen; aber da er 
ſchon geſtern kein Auge zugetan hatte, fand er heute doch 
für einige Stunden Ruhe. Die Sonne war jedoch noch 
nicht aufgegangen, ſo ſtand er ſchon wieder bei ſeinem 
Megatherium, um deſſen Größenverhältniſſe auszu⸗ 
meſſen und ſorgfältig in ſein Notizbuch einzutragen. 

Er erſchrak förmlich, als er hörte, daß aufgebrochen 
werden ſollte. Am liebſten wäre er hier geblieben, aber 
da dies denn doch nicht möglich war, mußte er ſich von 
ſeinem Schatze trennen. Aber er brachte es doch ſo weit, 
daß vorher über dem Skelett ein Schutzdach aus Bambus 
und Schilf errichtet wurde, damit es nicht durch Wind 
und Regen leiden möge. Dann begann man den Rück⸗ 
weg nach dem Dorf am klaren Bache, das am Abend er⸗ 
reicht wurde. 

Jetzt, da Morgenſtern das Megatherium nicht mehr 
vor ſich ſah, war er imſtande, ſich auch mit andern Din⸗ 
gen zu beſchäftigen. Er konnte nun auch daran denken, 
daß es ein ſehr reiches Geſchenk ſeitens der Cambas an 
ihn ſei, und daß er dem Vater Jaguar eine ſehr ſchöne 
und freudige Ueberraſchung verdanke. Das Verſäumte 
holte er nunmehr ein, indem er ſich bei dieſem und dem 
Häuptling auf das herzlichſte bedankte, er erhielt von 
dem letzteren die Verſicherung, daß die Cambas das 


— 489 — 


einzelnen Knochen zum zehnten⸗ und zum hundertſten⸗ 
mal und ſprach dabei unaufhörlich erklärend auf Fritze 
ein, der die Feuer immerfort ſchüren mußte, damit das 
Faultier ja im hellſten Licht ſtrahle. 

Der Vater Jaguar aber ſagte zu Geronimo, als ſie 
mit den andern nach dem Lagerplatz zurückgekehrt waren 
und ſich dort niederließen: „Ich habe meinen Zweck er⸗ 
reicht. Dieſer Gelehrte wird uns mit ſeinem Diener 
keinen Schaden mehr machen. Die beiden bleiben hier 
feſt kleben. Wir können alſo ruhig hinauf in die Berge, 
ohne befürchten zu müſſen, daß ſie uns wieder einen 
ihrer Eulenſpiegelſtreiche ſpielen.“ 

„Und du willſt nicht direkt nach Salta, ſondern 
über Tucuman?“ 

„Ja. Ueber Salta müßten wir reiten; der weite 
Weg würde die Pferde ermüden, wodurch wir nur lang⸗ 
ſam vorwärts kämen. In Tucuman aber verkaufen wir 
die Pferde und fahren mit der Diligence weiter. Das 
geht wie ein Wetter, weil die Pferde oft gewechſelt wer⸗ 
den. In Salta aber nehmen wir Maultiere, die in den 
Bergen unvermeidlich ſind.“ 

„Von wem?“ 

„Von Rodrigo Sereno, der ſtets die beſtgepflegten 
Tiere hat. Auf dieſe Weiſe kommen wir mit einem 
ſolchen Vorſprung vor dem Gambuſino in die Berge, 
daß wir genug Zeit finden, alle unſre Vorbereitungen 
zu treffen, daß weder er noch Antonio Perillo uns ent⸗ 
gehen kann.“ 

„Nimmſt du auch Cambas mit?“ 

„Fällt mir nicht ein. Aber der alte Anciano und 
Hauka werden dabei ſein.“ 

„Eigentlich ſollte doch die Hälfte von uns im Chaco 
bleiben, um da Tee zu ſammeln!“ 


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„Das können dieſe Leute ſpäter nachholen. Jetzt 
brauche ich ſie, um die beiden Mordbuben zu fangen.“ 

„Und Don Parmeſan, der Chirurg?“ 

„Dieſen Menſchen können wir nicht gebrauchen. 
Ich werde es ſo einzurichten wiſſen, daß er hier bei 
Morgenſtern und Fritze bleibt.“ 

So waren alſo alle Rollen verteilt, und man legte 
ſich nieder, um zu ſchlafen, da frühzeitig nach dem Dorf 
zurückgekehrt werden ſollte. Morgenſtern hätte gewiß 
vor freudiger Aufregung nicht geſchlafen; aber da er 
ſchon geſtern kein Auge zugetan hatte, fand er heute doch 
für einige Stunden Ruhe. Die Sonne war jedoch noch 
nicht aufgegangen, ſo ſtand er ſchon wieder bei ſeinem 
Megatherium, um deſſen Größenverhältniſſe auszu⸗ 
meſſen und ſorgfältig in ſein Notizbuch einzutragen. 

Er erſchrak förmlich, als er hörte, daß aufgebrochen 
werden ſollte. Am liebſten wäre er hier geblieben, aber 
da dies denn doch nicht möglich war, mußte er ſich von 
ſeinem Schatze trennen. Aber er brachte es doch ſo weit, 
daß vorher über dem Skelett ein Schutzdach aus Bambus 
und Schilf errichtet wurde, damit es nicht durch Wind 
und Regen leiden möge. Dann begann man den Rück⸗ 
weg nach dem Dorf am klaren Bache, das am Abend er⸗ 
reicht wurde. 

Jetzt, da Morgenſtern das Megatherium nicht mehr 
vor ſich ſah, war er imſtande, ſich auch mit andern Din⸗ 
gen zu beſchäftigen. Er konnte nun auch daran denken, 
daß es ein ſehr reiches Geſchenk ſeitens der Cambas an 
ihn ſei, und daß er dem Vater Jaguar eine ſehr ſchöne 
und freudige Ueberraſchung verdanke. Das Verſäumte 
holte er nunmehr ein, indem er ſich bei dieſem und dem 
Häuptling auf das herzlichſte bedankte, er erhielt von 
dem letzteren die Verſicherung, daß die Cambas das 


— 491 — 


Rieſenfaultier gern nach einem andern Ort bringen 
würden, von wo aus die Ueberführung nach einem Ha⸗ 
fenort leicht zu ermöglichen ſei. Als davon geſprochen 
wurde, daß der Vater Jaguar mit ſeiner Geſellſchaft 
morgen früh nach den Cordilleras aufbrechen werde, 
hatte dieſer gar nicht nötig, Don Parmeſan einen Wink 
zu geben, daß er ihn nicht gern bei ſich ſehe, denn der 
Chirurg kam zu Morgenſtern und fragte: „Senor, Sie 
reiten morgen nicht mit den andern?“ 
„Nein.“ 


„Sie bleiben alſo hier, um mit Ihrem vorwelt⸗ 
lichen Tier nach gebildeten Gegenden aufzubrechen?“ 


„Ja.“ 

„Ich habe eingeſehen, daß meine Kunſt im Chaco 
und in den Bergen weit weniger geachtet wird als in 
den Städten und in der Pampa. Sie wiſſen, ich bin 
ein berühmter Chirurg und verſtehe jeden Bruch und 
jede Verletzung zu heilen; ich ſäble alles herunter; aber 
wenn man ſich meiner Hilfe nicht bedient, ſo iſt alle 
meine Wiſſenſchaft und Fertigkeit ohne Nutzen. Dar⸗ 
um habe ich mich entſchloſſen, dem Vater Jaguar meine 
Geſellſchaft zu entziehen. Ich bleibe auch hier, um 
dann mit Ihnen nach Gegenden zurückzukehren, wo 
Menſchen wohnen, welche die Wiſſenſchaft und ihre 
Jünger zu würdigen verſtehen. Sind Sie damit ein⸗ 
verſtanden?“ 

„Jawohl. Ihre Geſellſchaft iſt mir ſehr angenehm, 
peramoenus oder pergratus, wie der Lateiner ſagt.“ 

Als die Geſellſchaft am andern Morgen aufbrach, 
waren alle Bewohner des Dorfes verſammelt, um ſich 
nochmals für die Rettung zu bedanken und von den 
Scheidenden Abſchied zu nehmen. Eine Abteilung von 


t 8 
“ 


— 492 — 


Kriegern gab ihnen unter der Führung des Häuptlings 
eine Strecke weit das Ehrengeleit, und zwei Cambas 
ritten ganz mit bis Tucuman, um die Gegenſtände zu 
bringen, die der Vater Jaguar dort für Morgenſtern 
kaufen ſollte. 

Gegen Mittag kam das Ehrengeleit zurück, und 
dann ritt der Häuptling nach dem „Tal des ausgetrock⸗ 
neten Sees“, um dort die verwundeten Abipones und 
deren Pfleger zu beſuchen. Er nahm einige ſeiner Leute 
mit, und da Morgenſtern nichts zu tun und alſo Lange⸗ 
weile hatte, bat er, ſich mit Fritze anſchließen zu dürfen, 
was ihm gern gewährt wurde. Sie fanden alles im 
beſten Zuſtand; ſeit ihrer Abweſenheit war nichts ge⸗ 
ſchehen, was die am See Zurückgebliebenen hätte beun⸗ 
ruhigen können. Nur einen Umſtand gab es, welcher 
das Bedenken des Cambas erregte, der den Befehl über 
die andern führte. Er erkundigte ſich nämlich bei dem 
Häuptling, wieviel Pferde von den Abipones und den 
Weißen erbeutet worden ſeien, und ſagte, als er die 
Zahl erfuhr: „Da fehlen zwei. Es ſind nur fünfzig 
Reiter geweſen, welche fünfundfünfzig Pferde gehabt 
haben. Diejenigen des Gambuſino und von Perillo ſind 
erſchoſſen worden, alſo müßten wir dreiundfünfzig er⸗ 
beutete Pferde haben; du ſagſt aber, daß es nur einund⸗ 
fünfzig ſeien. Wo ſind die beiden fehlenden?“ 

„Es wird auf einem Irrtum beruhen,“ meinte der 
Häuptling. 

„Nein, denn es ſind dreiundfünfzig Sättel dage⸗ 
weſen. Es fehlen zwei Pferde, die des Abends oder des 
Nachts abhanden gekommen ſind.“ 

„Wohin ſollten ſie ſein?“ 

„Der Gambuſino hat ſie geholt.“ 


— 491 — 


Rieſenfaultier gern nach einem andern Ort bringen 
würden, von wo aus die Ueberführung nach einem Ha⸗ 
fenort leicht zu ermöglichen ſei. Als davon geſprochen 
wurde, daß der Vater Jaguar mit ſeiner Geſellſchaft 
morgen früh nach den Cordilleras aufbrechen werde, 
hatte dieſer gar nicht nötig, Don Parmeſan einen Wink 
zu geben, daß er ihn nicht gern bei ſich ſehe, denn der 
Chirurg kam zu Morgenſtern und fragte: „Senor, Sie 
reiten morgen nicht mit den andern?“ 
„Nein.“ 


„Sie bleiben alſo hier, um mit Ihrem vorwelt⸗ 
lichen Tier nach gebildeten Gegenden aufzubrechen?“ 


„Ja.“ | 

„Ich habe eingeſehen, daß meine Kunſt im Chaco 
und in den Bergen weit weniger geachtet wird als in 
den Städten und in der Pampa. Sie wiſſen, ich bin 
ein berühmter Chirurg und verſtehe jeden Bruch und 
jede Verletzung zu heilen; ich ſäble alles herunter; aber 
wenn man ſich meiner Hilfe nicht bedient, ſo iſt alle 
meine Wiſſenſchaft und Fertigkeit ohne Nutzen. Dar⸗ 
um habe ich mich entſchloſſen, dem Vater Jaguar meine 
Geſellſchaft zu entziehen. Ich bleibe auch hier, um 
dann mit Ihnen nach Gegenden zurückzukehren, wo 
Menſchen wohnen, welche die Wiſſenſchaft und ihre 
Jünger zu würdigen verſtehen. Sind Sie damit ein⸗ 
verſtanden?“ 

„Jawohl. Ihre Geſellſchaft iſt mir ſehr angenehm, 
peramoenus oder pergratus, wie der Lateiner ſagt.“ 

Als die Geſellſchaft am andern Morgen aufbrach, 
waren alle Bewohner des Dorfes verſammelt, um ſich 
nochmals für die Rettung zu bedanken und von den 
Scheidenden Abſchied zu nehmen. Eine Abteil sd sun 


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Kriegern gab ihnen unter der Führung des Häuptlings 
eine Strecke weit das Ehrengeleit, und zwei Cambas 
ritten ganz mit bis Tucuman, um die Gegenſtände zu 
bringen, die der Vater Jaguar dort für Morgenſtern 
kaufen ſollte. 

Gegen Mittag kam das Ehrengeleit zurück, und 
dann ritt der Häuptling nach dem „Tal des ausgetrock⸗ 
neten Sees“, um dort die verwundeten Abipones und 
deren Pfleger zu beſuchen. Er nahm einige ſeiner Leute 
mit, und da Morgenſtern nichts zu tun und alſo Lange⸗ 
weile hatte, bat er, ſich mit Fritze anſchließen zu dürfen, 
was ihm gern gewährt wurde. Sie fanden alles im 
beſten Zuſtand; ſeit ihrer Abweſenheit war nichts ge⸗ 
ſchehen, was die am See Zurückgebliebenen hätte beun⸗ 
ruhigen können. Nur einen Umſtand gab es, welcher 
das Bedenken des Cambas erregte, der den Befehl über 
die andern führte. Er erkundigte ſich nämlich bei dem 
Häuptling, wieviel Pferde von den Abipones und den 
Weißen erbeutet worden ſeien, und ſagte, als er die 
Zahl erfuhr: „Da fehlen zwei. Es ſind nur fünfzig 
Reiter geweſen, welche fünfundfünfzig Pferde gehabt 
haben. Diejenigen des Gambuſino und von Perillo ſind 
erſchoſſen worden, alſo müßten wir dreiundfünfzig er⸗ 
beutete Pferde haben; du ſagſt aber, daß es nur einund⸗ 
fünfzig ſeien. Wo ſind die beiden fehlenden?“ 

„Es wird auf einem Irrtum beruhen,“ meinte der 
Häuptling. 

„Nein, denn es ſind dreiundfünfzig Sättel dage⸗ 
weſen. Es fehlen zwei Pferde, die des Abends oder des 
Nachts abhanden gekommen ſind.“ 

„Wohin ſollten ſie ſein?“ 

„Der Gambuſino hat ſie geholt.“ 


— 491 — 


Rieſenfaultier gern nach einem andern Ort bringen 
würden, von wo aus die Ueberführung nach einem Ha⸗ 
fenort leicht zu ermöglichen ſei. Als davon geſprochen 
wurde, daß der Vater Jaguar mit ſeiner Geſellſchaft 
morgen früh nach den Cordilleras aufbrechen werde, 
hatte dieſer gar nicht nötig, Don Parmeſan einen Wink 
zu geben, daß er ihn nicht gern bei ſich ſehe, denn der 
Chirurg kam zu Morgenſtern und fragte: „Senor, Sie 
reiten morgen nicht mit den andern?“ 
„Nein.“ 


„Sie bleiben alſo hier, um mit Ihrem vorwelt⸗ 
lichen Tier nach gebildeten Gegenden aufzubrechen?“ 


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„Ich habe eingeſehen, daß meine Kunſt im Chaco 
und in den Bergen weit weniger geachtet wird als in 
den Städten und in der Pampa. Sie wiſſen, ich bin 
ein berühmter Chirurg und verſtehe jeden Bruch und 
jede Verletzung zu heilen; ich ſäble alles herunter; aber 
wenn man ſich meiner Hilfe nicht bedient, ſo iſt alle 
meine Wiſſenſchaft und Fertigkeit ohne Nutzen. Dar⸗ 
um habe ich mich entſchloſſen, dem Vater Jaguar meine 
Geſellſchaft zu entziehen. Ich bleibe auch hier, um 
dann mit Ihnen nach Gegenden zurückzukehren, wo 
Menſchen wohnen, welche die Wiſſenſchaft und ihre 
Jünger zu würdigen verſtehen. Sind Sie damit ein⸗ 
verſtanden?“ 

„Jawohl. Ihre Geſellſchaft iſt mir ſehr angenehm, 
peramoenus oder pergratus, wie der Lateiner ſagt.“ 

Als die Geſellſchaft am andern Morgen aufbrach, 
waren alle Bewohner des Dorfes verſammelt, um ſich 
nochmals für die Rettung zu bedanken und von den 
Scheidenden Abſchied zu nehmen. Eine Abteilung von 


— 492 — 


Kriegern gab ihnen unter der Führung des Häuptlings 
eine Strecke weit das Ehrengeleit, und zwei Cambas 
ritten ganz mit bis Tucuman, um die Gegenſtände zu 
bringen, die der Vater Jaguar dort für Morgenſtern 
kaufen ſollte. 

Gegen Mittag kam das Ehrengeleit zurück, und 
dann ritt der Häuptling nach dem „Tal des ausgetrock⸗ 
neten Sees“, um dort die verwundeten Abipones und 
deren Pfleger zu beſuchen. Er nahm einige ſeiner Leute 
mit, und da Morgenſtern nichts zu tun und alſo Lange⸗ 
weile hatte, bat er, ſich mit Fritze anſchließen zu dürfen, 
was ihm gern gewährt wurde. Sie fanden alles im 
beſten Zuſtand; ſeit ihrer Abweſenheit war nichts ge⸗ 
ſchehen, was die am See Zurückgebliebenen hätte beun⸗ 
ruhigen können. Nur einen Umſtand gab es, welcher 
das Bedenken des Cambas erregte, der den Befehl über 
die andern führte. Er erkundigte ſich nämlich bei dem 
Häuptling, wieviel Pferde von den Abipones und den 
Weißen erbeutet worden ſeien, und ſagte, als er die 
Zahl erfuhr: „Da fehlen zwei. Es ſind nur fünfzig 
Reiter geweſen, welche fünfundfünfzig Pferde gehabt 
haben. Diejenigen des Gambuſino und von Perillo ſind 
erſchoſſen worden, alſo müßten wir dreiundfünfzig er⸗ 
beutete Pferde haben; du ſagſt aber, daß es nur einund⸗ 
fünfzig ſeien. Wo ſind die beiden fehlenden?“ 

„Es wird auf einem Irrtum beruhen,“ meinte der 
Häuptling. 

„Nein, denn es ſind dreiundfünfzig Sättel dage⸗ 
weſen. Es fehlen zwei Pferde, die des Abends oder des 
Nachts abhanden gekommen ſind.“ 

„Wohin ſollten ſie ſein?“ 

„Der Gambuſino hat ſie geholt.“ 


— 493 — 


„Sage das nicht!“ rief der „Harte Schädel“ er⸗ 
ſchrocken aus. „Wie wäre er in das Tal gekommen, da 
an deſſen Eingang ſtets ein Doppelpoſten geſtanden hat?“ 

„Frage dieſe Poſten, ob ſie ihre Pflicht getan oder 
etwa mit bei den Feuern geſeſſen haben! Mir fällt 
etwas auf, was ich mir nur dadurch erklären kann, daß 
der Gambuſino die beiden Pferde heimlich entführt hat.“ 

„Was?“ 

„Ich ſandte geſtern einige meiner Leute hinaus, 
um die Sättel der beiden vom Vater Jaguar erſchoſſenen 
Pferde holen zu laſſen. Da ſtellte es ſich heraus, daß 
dieſe Sättel fehlten. Iſt das nicht auffällig?“ 

„Nein, denn Perillo und der Gambuſino haben ſie 
jedenfalls abgeſchnallt und mitgenommen, um ſie zu 
brauchen, ſobald ſie zu neuen Pferden kommen werden.“ 

„Dann hätten ſie doch auch das Zaumzeug mitge⸗ 
nommen.“ | 

„War dies denn noch da?” 

„Ja, meine Leute brachten es mit.“ 

„Das iſt freilich unbegreiflich, denn wer den Sattel 
braucht, der braucht den Zaum noch notwendiger; ja, 
man kann ohne Sattel eher reiten als ohne Zügel.“ 

„Ich finde es nicht unbegreiflich, ſondern leicht er⸗ 
klärlich. Die Pferde, die wir erbeuteten, trugen die 
Zäume und Zügel noch. Es fehlen zwei von ihnen. 
Der Gambuſino hat ſie geholt, und weil ſie Zäume 
hatten, ſo brauchte er dann den erſchoſſenen Pferden nur 
die Sättel abzunehmen.“ | 

„Wie aber kann er in das Tal gekommen fein, da 
deſſen Eingang von zweien unſrer Krieger beſetzt war!“ 

„Ich fürchte, daß dieſe ihren Poſten verlaſſen ha⸗ 
ben! Höre weiter! Ich ritt nun ſelbſt hinaus und 
ſuchte nach Spuren. Ich fand die Fährte, welche die 


— 494 — 


beiden Flüchtlinge und ihre Verfolger zurückgelaſſen 
hatten. Ich fand auch die Spur, die der Vater Jaguar 
und der alte Anciano bei ihrer Rückkehr gemacht hatten; 
ſie führte nahe dem Walde hin. Dann aber ſah ich die 
Fährte zweier Fußgänger, die da begann, wo ſich die 
Flüchtlinge verſteckt hatten, eine Strecke hinaus in den 
Campo führte und dann nach dem Tal zeigte. Hierauf 
gab es noch zwei Pferdeſpuren, die aus dem Tal kamen 
und, von den andern Fährten etwas entfernt, nach der 
Stelle führten, wo die beiden toten Pferde lagen. Dort 
war angehalten und abgeſtiegen worden, worauf dieſe 
Doppelſpur dann immer am Wald entlang nach Norden 
weiter lief. Die Reiter haben den nal umreiten 
wollen. Was ſagſt du dazu?“ 

Jetzt machte der Häuptling ein ſehr bedenkliches 
Geſicht. Er ſchüttelte den Kopf, ſann eine Weile nach 
und meinte dann: „Wenn das ſo iſt, dann iſt der Gam⸗ 
buſino mit Antonio Perillo im Tal geweſen, um dort 
die beiden Pferde zu holen.“ 

„Das ſage ich auch. Und noch eins behaupte ich, 
nämlich daß der Vater Jaguar in großer Gefahr 
ſchwebt, denn der Gambuſino wird ihm nun zuvorkom⸗ 
men. Wann iſt der Vater Jaguar fort?“ 

„Heute früh.“ 

„So hat der Gambuſino einen Vorſprung von drei 
Tagen, ein Vorſprung, der gar nicht eingeholt werden 
kann.“ 

„Vielleicht doch, denn der Vater Jaguar iſt nach 
Tucuman, um von dort aus mit der Diligence zu fah⸗ 
ren, während der Gambuſino jedenfalls durch die Wäl⸗ 
der und Wüſten nach Salta iſt.“ 

„O, auch er iſt klug. Wie nun, wenn er auch nach 
Tucuman geritten iſt?“ 


— 493 — 


„Sage das nicht!“ rief der „Harte Schädel“ er⸗ 
ſchrocken aus. „Wie wäre er in das Tal gekommen, da 
an deſſen Eingang ſtets ein Doppelpoſten geſtanden hat?“ 

„Frage dieſe Poſten, ob ſie ihre Pflicht getan oder 
etwa mit bei den Feuern geſeſſen haben! Mir fällt 
etwas auf, was ich mir nur dadurch erklären kann, daß 
der Gambuſino die beiden Pferde heimlich entführt hat.“ 

„Was?“ 

„Ich ſandte geſtern einige meiner Leute hinaus, 
um die Sättel der beiden vom Vater Jaguar erſchoſſenen 
Pferde holen zu laſſen. Da ſtellte es ſich heraus, daß 
dieſe Sättel fehlten. Iſt das nicht auffällig?“ 

„Nein, denn Perillo und der Gambuſino haben ſie 
jedenfalls abgeſchnallt und mitgenommen, um ſie zu 
brauchen, ſobald ſie zu neuen Pferden kommen werden.“ 

„Dann hätten ſie doch auch das Zaumzeug mitge⸗ 
nommen.“ 

„War dies denn noch da?“ 

„Ja, meine Leute brachten es mit.“ 

„Das iſt freilich unbegreiflich, denn wer den Sattel 
braucht, der braucht den Zaum noch notwendiger; ja, 
man kann ohne Sattel eher reiten als ohne Zügel.“ 

„Ich finde es nicht unbegreiflich, ſondern leicht er⸗ 
klärlich. Die Pferde, die wir erbeuteten, trugen die 
Zäume und Zügel noch. Es fehlen zwei von ihnen. 
Der Gambuſino hat ſie geholt, und weil ſie Zäume 
hatten, ſo brauchte er dann den erſchoſſenen Pferden nur 
die Sättel abzunehmen.“ 

„Wie aber kann er in das Tal gekommen ſein, da 
deſſen Eingang von zweien unſrer Krieger beſetzt war!“ 

„Ich fürchte, daß dieſe ihren Poſten verlaſſen ha⸗ 
ben! Höre weiter! Ich ritt nun ſelbſt hinaus und 
ſuchte nach Spuren. Ich fand die Fährte, welche die 


— 494 — 


beiden Flüchtlinge und ihre Verfolger zurückgelaſſen 
hatten. Ich fand auch die Spur, die der Vater Jaguar 
und der alte Anciano bei ihrer Rückkehr gemacht hatten; 
ſie führte nahe dem Walde hin. Dann aber ſah ich die 
Fährte zweier Fußgänger, die da begann, wo ſich die 
Flüchtlinge verſteckt hatten, eine Strecke hinaus in den 
Campo führte und dann nach dem Tal zeigte. Hierauf 
gab es noch zwei Pferdeſpuren, die aus dem Tal kamen 
und, von den andern Fährten etwas entfernt, nach der 
Stelle führten, wo die beiden toten Pferde lagen. Dort 
war angehalten und abgeſtiegen worden, worauf dieſe 
Doppelſpur dann immer am Wald entlang nach Norden 
weiter lief. Die Reiter haben den Wald umreiten 
wollen. Was ſagſt du dazu?“ 

Jetzt machte der Häuptling ein ſehr bedenkliches 

Geſicht. Er ſchüttelte den Kopf, ſann eine Weile nach 
und meinte dann: „Wenn das ſo iſt, dann iſt der Gam⸗ 
buſino mit Antonio Perillo im Tal geweſen, um dort 
die beiden Pferde zu holen.“ 
„das ſage ich auch. Und noch eins behaupte ich, 
nämlich daß der Vater Jaguar in großer Gefahr 
ſchwebt, denn der Gambuſino wird ihm nun zuvorkom⸗ 
men. Wann iſt der Vater Jaguar fort!“ 

„Heute früh.“ 

„So hat der Gambuſino einen Vorſprung von drei 
Tagen, ein Vorſprung, der gar nicht eingeholt werden 
kann.“ 

„Vielleicht doch, denn der Vater Jaguar iſt nach 
Tucuman, um von dort aus mit der Diligence zu fah⸗ 
ren, während der Gambuſino jedenfalls durch die Wäl⸗ 
der und Wüſten nach Salta iſt.“ 

„O, auch er iſt klug. Wie nun, wenn er auch nach 
Tucuman geritten iſt?“ 


— 495 — 


„In dieſem Falle ſchwebt der Vater Jaguar frei⸗ 
lich in größter Gefahr. Ich muß ihm einen Boten 
nachſenden. Vorher aber will ich mich erkundigen, wer 
die Poſten geweſen ſind, die am Taleingang geſtanden 
haben.“ | 

Er ſtieg auf fein Pferd, um mit feinen Begleitern 
ſchnell davonzureiten; die Pferde wurden, als man den 
Wald hinter ſich hatte, angetrieben, daß ſie wie Pfeile 
über die Ebene flogen. Wenn dem Vater. Jaguar ein 
Bote nachgeſchickt werden ſollte, ſo hatte man keine Zeit 
zu verlieren. 

Der Häuptling ſprengte mit ſeinen Indianern vor⸗ 
an; die beiden Deutſchen folgten hinterdrein. Das, was 
ſie gehört hatten, ging ihnen im Kopf herum. Wäh⸗ 
rend ſie eng nebeneinander dahinritten, ſagte Morgen⸗ 
ſtern: „Fritze, wie lange meinſt du wohl, daß mein 
Megatherium unter dem Schutzdach ſtehen kann, bevor 
es Schaden leidet?“ 

„Jedenfalls monate⸗, vielleicht auch ſogar jahre⸗ 
lang.“ 

„Wirklich?“ | 

„Janz jewiß! Warum fragen Sie?“ 

„Weil ich einen Gedanken habe, den ich nicht wieder 
loswerden kann.“ 

„Welchen?“ 

„Den Gedanken an die Gelegenheit einer tapferen 
Tat. Weißt du, wir ſprachen davon!“ 

„Ick entſinne mir. Sobald ſich die Jelejenheit zu 
einer ſolchen Tat zeigt, wollten wir ſie ausführen, um 
unſre Ehre wieder herzuſtellen.“ 

„Nun, die Gelegenheit iſt da. Der Vater Jaguar 
befindet ſich in einer großen Gefahr, lateiniſch Peri- 
culum genannt.“ 


„Dat habe ick jehört, aber wat haben wir damit 
zu tun?“ 

Der ſchlaue Fritze zeigte ſich jetzt ſo ſchwerhörig, 
weil er ſich nicht wieder ſagen laſſen wollte, daß er 
ſeinen Herrn verleitet habe. 

„Das kannſt du mich fragen!“ wunderte ſich Mor⸗ 
genſtern. „Wir haben ihm viel, ſehr viel, ſogar unſer 
Leben zu verdanken, und jetzt fragſt du, was wir mit 
der Gefahr zu tun haben, in die er geraten wird?“ 

„Da müſſen wir ihm alſo nachreiten?“ 

„Allerdings.“ 

„Aber der Häuptling will ihm doch einen Boten 
nachſenden. Da ſind wir ja überflüſſig.“ 

„Nein. Wie nun, wenn der Bote ihn nicht mehr 
in Tucuman antrifft? Er wird umkehren, weil er 
meint, ſeine Pflicht getan zu haben.“ 

„Wir aber würden dem Vater Jaguar nachreiſen?“ 

„Ganz ſelbſtverſtändlich. Wir würden nicht ruhen, 
bis wir ihn gefunden und aus den Händen des Gambu⸗ 
ſino befreit hätten. Meinſt du nicht auch?“ 

„Sm! Ick möchte wohl, wenn nur eins nicht wäre.“ 

„Was?“ 

„Dat Megatherium.“ 

„Das geht doch dich nichts an; das iſt meine Sache. 
Wenn ich es einſtweilen ſtehen laſſe, brauchſt du dich 
nicht zu grämen; es bleibt uns ja gewiß.“ 

„Ja, fortlaufen wird es nicht. Tun Sie, wat Sie 
wollen. Ick richte mir janz nach Sie.“ 

„Aber wird der Häuptling uns fortlaſſen?“ 

„Wir brauchen ihm doch nur zu ſagen, daß Sie 
verjeſſen haben, dem Vater Jaguar verſchiedenes zu 
ſagen, wat Sie noch für dat Megatherium brauchen. 
Darum möchten wir mit dem Boten jern nach Tucuman 


— 495 — 


„In dieſem Falle ſchwebt der Vater Jaguar frei⸗ 
lich in größter Gefahr. Ich muß ihm einen Boten 
nachſenden. Vorher aber will ich mich erkundigen, wer 
die Poſten geweſen ſind, die am Taleingang geſtanden 
haben.“ 

Er ſtieg auf ſein Pferd, um mit ſeinen Begleitern 
ſchnell davonzureiten; die Pferde wurden, als man den 
Wald hinter ſich hatte, angetrieben, daß ſie wie Pfeile 
über die Ebene flogen. Wenn dem Vater Jaguar ein 
Bote nachgeſchickt werden ſollte, ſo hatte man keine Zeit 
zu verlieren. 

Der Häuptling ſprengte mit ſeinen Indianern vor⸗ 
an; die beiden Deutſchen folgten hinterdrein. Das, was 
fie gehört hatten, ging ihnen im Kopf herum. Wäh⸗ 
rend ſie eng nebeneinander dahinritten, ſagte Morgen⸗ 
ſtern: „Fritze, wie lange meinſt du wohl, daß mein 
Megatherium unter dem Schutzdach ſtehen kann, bevor 
es Schaden leidet?“ 

„Jedenfalls monate⸗, vielleicht auch ſogar jahre⸗ 
lang.“ 

„Wirklich?“ 

„Janz jewiß! Warum fragen Sie?“ 

„Weil ich einen Gedanken habe, den ich nicht wieder 
loswerden kann.“ 

„Welchen?“ 

„Den Gedanken an die Gelegenheit einer tapferen 
Tat. Weißt du, wir ſprachen davon!“ 

„Ick entſinne mir. Sobald ſich die Jelejenheit zu 
einer ſolchen Tat zeigt, wollten wir ſie ausführen, um 
unſre Ehre wieder herzuſtellen.“ 

„Nun, die Gelegenheit iſt da. Der Vater Jaguar 
befindet ſich in einer großen Gefahr, lateiniſch Peri- 
culum genannt.“ 


"dd 


— 496 — 


„Dat habe ick jehört, aber wat haben wir damit 
zu tun?“ 

Der ſchlaue Fritze zeigte ſich jetzt ſo ſchwerhörig, 
weil er ſich nicht wieder ſagen laſſen wollte, daß er 
ſeinen Herrn verleitet habe. 

„Das kannſt du mich fragen!“ wunderte ſich Mor⸗ 
genſtern. „Wir haben ihm viel, ſehr viel, ſogar unſer 
Leben zu verdanken, und jetzt fragſt du, was wir mit 
der Gefahr zu tun haben, in die er geraten wird?“ 

„Da müſſen wir ihm alſo nachreiten?“ 

„Allerdings.“ | 

„Aber der Häuptling will ihm doch einen Boten 
nachſenden. Da ſind wir ja überflüſſig.“ 

„Nein. Wie nun, wenn der Bote ihn nicht mehr 
in Tucuman antrifft? Er wird umkehren, weil er 
meint, ſeine Pflicht getan zu haben.“ 

„Wir aber würden dem Vater Jaguar nachreiſen?“ 

„Ganz ſelbſtverſtändlich. Wir würden nicht ruhen, 
bis wir ihn gefunden und aus den Händen des Gambu⸗ 
ſino befreit hätten. Meinſt du nicht auch?“ 

„Hm! Ick möchte wohl, wenn nur eins nicht wäre.“ 

„Was?“ 

„Dat Megatherium.“ 

„Das geht doch dich nichts an; das iſt meine Sache. 
Wenn ich es einſtweilen ſtehen laſſe, brauchſt du dich 
nicht zu grämen; es bleibt uns ja gewiß.“ 

„Ja, fortlaufen wird es nicht. Tun Sie, wat Sie 
wollen. Ick richte mir janz nach Sie.“ 

„Aber wird der Häuptling uns fortlaſſen?“ 

„Wir brauchen ihm doch nur zu ſagen, daß Sie 
verjeſſen haben, dem Vater Jaguar verſchiedenes zu 
ſagen, wat Sie noch für dat Megatherium brauchen. 
Darum möchten wir mit dem Boten jern nach Tucuman 


— 497 — 


reiten, um es zu holen. Dajejen kann ja kein Menſch 
wat haben.“ 

„Das iſt wahr. Du biſt ein Schlaukopf. Alſo as 
iſt abgemacht: wir reiten nach Tucuman.“ 

„Ja, wenn es ſich herausſtellt, daß die Jeſchichte 
von der Jefahr, worin der Vater Jaguar ſchwebt, wirk⸗ 
lich Br iſt.“ 

Leider ſtellte es ſich heraus, daß der Unteranführer 
im Tal des ausgetrockneten Sees ſich nicht geirrt oder 
verrechnet hatte. Die beiden Poſten wurden ermittelt 
und gaben zu, daß ſie den Eingang verlaſſen und ihre 
zwei Stunden am Feuer in der Geſellſchaft der andern 
zugebracht hatten. Der Häuptling hatte keinen Grund, 
die beiden Deutſchen von dem Ritt abzuhalten, und ſo 
jagten die drei Reiter noch vor Mitternacht zum Dorf 
hinaus, der Richtung nach Tucuman zu. Doktor Par⸗ 
meſan aber blieb zurück, um ihre — wie er glaubte — 
baldige Rückkehr zu erwarten. 


May Das Vermächtnis des Inka 32 


Sechzehntes Kapitel 


Die Gäſte des Senor Sereno 


Jalta, oder wie die argentiniſche Stadt vollſtändig 
heißt, San Miquel de Salta, liegt in einer von mehreren 
Bergwäſſern durchfloſſenen Ebene des Tales von 
Lerma, iſt ziemlich gut bevölkert und treibt einen lebhaf⸗ 
ten Speditionshandel mit Bolivia. Einer der bedeu⸗ 
tendſten Spediteure der Stadt war Senor Rodrigo Se⸗ 
reno, deſſen Anweſen vor dem nördlichen Tor von Salta 
lag und vielleicht noch heute liegt. Es beſtand aus 
weiten Stallungen und Lagerhäuſern, vor denen gerade 
an der Straße das langgeſtreckte Hauptgebäude lag, 
deſſen eine Seite die Wohnung des Beſitzers und ſeiner 
Familie bildete, während die andre Seite dem öffent⸗ 
lichen Verkehr und vornehmlich der Aufnahme von Rei⸗ 
ſenden und andern Gäſten diente. 

Es war am ſpäten Abend. Die Stadtbeſucher 
hatten das Lokal ſchon verlaſſen, und die fremden Gäſte 
und das Perſonal waren ſchlafen gegangen. Senor Ro⸗ 
drigo ſaß allein in der Stube und machte ſeinen heutigen 
Kaſſenabſchluß. Da ließen ſich draußen nähernde 
Schritte hören. Sofort warf er ein Tuch über das Geld 
und ſtand auf, um den Tiſch zu verlaſſen, damit man 
nicht bemerke, wo und womit er beſchäftigt geweſen war. 
Man kann in jenen Gegenden nicht vorſichtig genug 


— 499 — 


ſein. Sein Geſicht nahm einen mißtrauiſchen, zurück⸗ 
haltenden Ausdruck an. Da wurde die Tür geöffnet, 
und es traten zwei Männer ein, bei deren Anblick ſein 
Geſicht ſich augenblicklich wieder aufhellte. 

„Buenas tardes — guten Abend!“ grüßten ſie und 
reichten ihm die Hände, die er ihnen, ihren Gruß erwi⸗ 
dernd, kräftig ſchüttelte. Es war der Gambuſino und 
ſein Gefährte Antonio Perillo. | 

Der erſtere ließ fein Auge forſchend durch die Stube 
ſchweifen, blieb mit dem Blick an dem Tiſch und dem 
Tuch hängen, ging hin, hob es auf und fragte lachend: 
„Geld gezählt und vor uns verſteckt, Seüor Rodrigo? 
Seit wann haltet Ihr mich für einen Menſchen, dem 
man nicht trauen kann?“ 

„Redet nicht,“ antwortete der Wirt, „ihr wißt doch 
nur zu gut, daß ihr nicht gemeint ſeid. Als ich Schritte 
hörte, wußte ich nicht, wer eintreten werde. Seid will⸗ 
kommen; ſetzt euch, und befehlt, was ich euch bringen 
ſoll!“ 

„Zu eſſen, was Ihr habt, und zwei Flaſchen Wein. 
Dann macht uns ſo viel Proviant zuſammen, wie zwei 
Männer brauchen, die über eine Woche in die Berge 
wollen, ohne zu wiſſen, ob ſie ſich von der Jagd ernähren 
können.“ 

Der Wirt verſchwand und kehrte bald mit dem 
Eſſen und dem Wein zurück. Er ſetzte ſich zu ihnen, die 
wortlos aßen und tranken, und ſah zu, wie es ihnen 
ſchmeckte. Aber er war kein Freund von langem Schwei⸗ 
gen; darum fragte er ſchon nach einer kleinen Weile: 
„Woher, Seüore3?“ 

„Aus Tucuman,“ antwortete der Gambuſino. 

„Mit der Diligence?“ 


— 50 — 


„Ja. Soeben erſt angekommen.“ 

„Ihr werdet heut bei mir bleiben?“ 

„Nur die halbe Nacht, dann reiten wir weiter. Wir 
denken, daß Ihr zwei gute Maultiere für uns haben 
werdet?“ 

„Das verſteht ſich. Für Seüores, wie ihr feid, habe 
ich ſtets das Nötige bereit.“ 

„Wie teuer das Stück?“ 

„Ihr zahlt nicht mehr als zwanzig Bolivianos.“ 

Das waren achtzig Mark für ein gutes, ſtarkes, 
fußſicheres und ſchwindelfreies Maultier, gewiß ein ſehr 
niedriger Preis. 

„Aber wenn wir nun kein Geld haben?“ lachte ihm 
der Gambuſino in das Geſicht. 

„So iſt es auch nicht anders, als wenn ihr welches 
hättet. Ihr ſeid mir noch nie etwas ſchuldig geblieben.“ 

„Gut! Wir zahlen alſo, wenn wir wiederkommen. 
Sorgt für ein gutes Lager, denn die Diligence hat uns 
arg zuſammengeſchüttelt, und ſagt uns vor allen Din⸗ 
gen, wo die Mojosindianer jetzt zu treffen ſind!“ 

„Wollt ihr zu dieſen? Verwegene und unterneh⸗ 
mende Kerls! Möchte mich ihnen aber nicht anver⸗ 
trauen.“ 

„Weil ſie Euch nicht kennen; ich aber bin befreundet 
mit ihnen.“ 

„Ihr werdet ſie in der Gegend des Guanacotales 
finden, wo ſie gegenwärtig jagen.“ 

„Das iſt mir unlieb, denn ich muß dabei Zeit ver⸗ 
ſäumen, weil ich nach einer andern a wollte.” 

„Wohin?“ 

„In die Berge. Das möge Euch genügen. Ihr 
bekommt Euer Geld, auch ohne daß Ihr wißt, wohin 
wpir reiten.“ 


— 5301 — 


„Das weiß ich. Verzeihung, Seßores, ich wollte 
nicht zudringlich ſein.“ 

Damit war die kurze Unterhaltung zu Ende. Die 
Gäſte aßen ihre Portionen auf und legten ſich dann in 
einer Ecke nieder, wo der Wirt ihnen aus Decken und 
weichen Fellen ein Lager bereitet hatte. Er zählte ſein 
Geld vollends, ſchob es klirrend in die tiefe Taſche und 
verſchwand dann durch die Tür, um ſich auch niederzu⸗ 
legen. Es war dunkel in der Stube geworden. Die 
Schläfer ſchnarchten; eine halbe Stunde nach der andern 
verging; es wurde Mitternacht und dann ein Uhr. Da 
trat der Wirt wieder ein, mit dem Licht in der Hand; er 
ging zu den beiden Schlafenden und weckte fie: „Señores, 
erwacht! Die Zeit des Aufbruchs iſt gekommen.“ 

Sie ſtanden auf, bekamen jeder eine kleine Kala⸗ 
baſſe Mate zu trinken und einen warmen Brotkuchen zu 
eſſen. Dann ließen ſie ſich von dem Wirt in den Hof 
führen, wo die beiden Maultiere ſtanden. Sie waren 
trefflich aufgeſchirrt und in den Satteltaſchen ſteckte der 
Proviant, den der Gambuſino beſtellt hatte. Der Wirt 
beleuchtete die Tiere von allen Seiten und fragte dann: 
„Seid ihr zufrieden, Seüores? Das Geſchirrzeug leihe 
ich euch. Ihr könnt es mir wiederbringen, ſobald es 
euch paßt.“ N 

„Tie Tiere find gut, Seßor Rodrigo,“ antwortete 
der Gambuſino. „Das Riemenzeug bringen wir nach 
einer Woche, höchſtens einige Tage ſpäter zurück. Lebt 
wohl!“ 

„Lebt wohl! habt eine glückliche Reiſe!“ 

Sie ritten davon, und Sereno ſah ihnen mit einer 
Miene nach, als ob er ein ſehr gutes Geſchäft gemacht 
habe. Er hatte dem Gambuſino, wenn dieſer auf die 
Goldſuche ging, ſchon oft Pferde oder Maultiere, auch 


— 502 — 


Geld und andres geborgt und den Betrag immer mit 
guten Zinſen zurückerhalten. Als der Hufſchlag in der 
Stille der Nacht verhallt war, ging er wieder ſchlafen. — 

Am nächſten Abend war es faſt genau ſo, wie am 
vorhergehenden, nur daß ſich mehr als bloß zwei Gäſte 
einſtellten. Sereno hatte eben ſein Geld gezählt und 
eingeſchloſſen, jo hörte er die Fußtritte vieler Menſchen 
vor der Tür. Dieſe wurde geöffnet, und es traten ſechs⸗ 
undzwanzig wohlbewaffnete Männer ein, die alle vom 
Kopf bis zu den Füßen ganz gegen Landesſitte in Leder 
gekleidet waren und breitkrämpige Hüte trugen. Nur 
zwei von ihnen hatten keine Hüte. Sie gingen bar⸗ 
häuptig und hatten ihr Haar lang über den Rücken hin⸗ 
abhängen. Ihren Geſichtszügen nach ſchienen ſie In⸗ 
dianer zu ſein. Der eine war jung, der andre aber ſehr 
alt. 

Der Wirt kannte einige von den Männern und be⸗ 
grüßte insbeſondere den Vater Jaguar herzlich. Dieſer 
beſtellte Wein und fragte, ob er und ſeine Begleiter bin⸗ 
nen einer Stunde gut gebratenen Asado con cuero be- 
kommen könnten. 

„So viel Sie wollen, Senor.“ 

„Nur ſo viel, wie ſechsundzwanzig hungrige Män⸗ 
ner eſſen können. Und dann laſſen Sie Ihre Maul⸗ 
tiere in den Hof, denn wir werden ſie uns anſehen, um 
ſechsundzwanzig Stück zu kaufen.“ 

Sechsundzwanzig Stück! Und zwar ſofort bezahlen, 
ganz ſicher nicht borgen! Dazu ſechsundzwanzig Braten 
in der Haut und dreizehn Flaſchen Wein. Welch ein 
Geſchäft! Rodrigo Sereno duckte ſich vor Hochachtung 
zuſammen, daß es ausſah, als ob er eine Elle kleiner ge⸗ 
worden ſei. Dann fuhr er hinaus in die Küche und 
weckte ſein ganzes Perſonal, damit der Braten ſo ſchnell 


‘ 


— 508 — 


wie möglich fertig werde und es die Maultiere ſo blank 
putze, daß nicht ein Stäubchen mehr an ihnen hafte. 
Dann kehrte er in die Gaſtſtube zurück, um, in der Nähe 
der zuſammengeſchobenen Tiſche ſitzend, der Winke ſeiner 
Gäſte gewärtig zu ſein. 

Sie ſaßen nachdenklich und ſchweigend, und keiner 
ſprach ein Wort. Das konnte der neugierige und mit⸗ 
teilſame Rodrigo auf die Länge der Zeit nicht aushal⸗ 
ten. Er fuhr in immer wachſender Ungeduld auf ſeinem 
Stuhl hin und her und fragte endlich, freilich in höf⸗ 
lichſtem Ton, deſſen ſeine Stimmwerkzeuge fähig waren: 
„Darf ich vielleicht erfahren, Seüor Jaguar, woher Sie 
heute kommen?“ 

„Von Tucuman,“ lautete die zurückhaltende Ant⸗ 
wort. | 

„Aber doch nicht mit der Diligence?“ 

„Nein.“ 

„Ja, der Ankunftstag der Diligence iſt geſtern ge⸗ 
weſen. Es kehrten bei mir zwei Seüores ein, die mit 
ihr gefahren waren, zwei bekannte und ſehr berühmte 
Señores. Sie würden ſich wundern, wenn Sie ihre Nas 
men hörten.“ 

Die andern ſchwiegen, aber der luſtige Picaro, der 
nicht gern eine Gelegenheit zu einer Schalkhaftigkeit vor⸗ 
übergehen ließ, antwortete: „Wir würden uns nicht 
über ihre Namen wundern, ſondern nur darüber, dieſe 
von Ihnen zu hören; denn Sie ſcheinen der ſchweig⸗ 
ſamſte Mann der ganzen argentiniſchen Staaten zu ſein.“ 

„O, gar ſo ſchlimm ſteht es nun nicht mit meiner 
Zurückhaltung. Ich ſpreche zwar ſehr wenig, aber ſol⸗ 
chen Seßores gegenüber würde Schweigſamkeit zur 
Grobheit werden. Darum will ich Ihnen ſagen, daß einer 


— 504 — 


der Seßores der berühmte Stierkämpfer Antonio Pe⸗ 
rillo war.“ 

Er bemerkte in ſeiner Harmloſigkeit gar nicht, wel⸗ 
chen Eindruck dieſe Mitteilung auf ſeine Gäſte machte. 
Sie ſahen einander an, blickten ſich Schweigen zu, und 
dann meinte Hammer in gleichgültigem Ton: „Und der 
andere?“ 

„Das war der noch berühmtere Gambuſino Benito 
Pajaro.“ 

„So? Wirklich? Woher kamen die beiden?“ 

„Von Tucuman mit der Diligence. Es war die 
gegenwärtige Zeit. Sie kauften zwei Maultiere nebſt 
Proviant für eine Woche, und ich weckte fie eine Stunde 
nach Mitternacht, weil ſie da abreiſen wollten.“ 

„Wohin?“ 

„Zu den Mojosindianern, die ſich jetzt in der Ge⸗ 
gend des Guanacotals aufhalten.“ 

Jetzt wurde der Wirt in die Küche gerufen, und das 
gab den Gäſten Zeit, ihre Meinungen ungehört von ihm 
auszutauſchen. Der Vater Jaguar ſagte in unterdrück⸗ 
tem Ton: „Sollte man es glauben! Was meinſt du 
dazu, Geronimo?“ 

„Der Gambuſino und Antonio Perillo müſſen ſehr 
ſchnell zu Pferden gekommen ſein,“ antwortete der Ge⸗ 
fragte. „Das iſt die einzige Löſung dieſes Rätſels.“ 

„Das ſage ich auch. Wie gut, daß wir hier einge⸗ 
kehrt ſind, und wie gut, daß wir nicht auf die nächſten 
Diligencewagen warteten, ſondern Relaispferde nah⸗ 
men! Der Gambuſino iſt uns einen vollen Tag vor⸗ 
aus; aber wir werden dennoch eher an Ort und Stelle 
ankommen, weil er erſt zu den Mojos will und alſo 
eımen Umweg machen wird. Und zugleich iſt es ein 
großer Vorteil für uns, zu wiſſen, aus welcher Rich⸗ 


— 505 — 


tung er kommen wird. Wir haben ihn vom Guanaco⸗ 
tal her zu erwarten.“ 

„Was mag er bei den Mojosindianern wollen?“ 
fragte einer. 

„Seltſame Frage!“ antwortete Hammer. „Was er 
dort will, iſt ſehr leicht zu erraten. Er will mit An⸗ 
tonio Perillo in der Mordſchlucht nach einem Schatz 
ſuchen. Dazu gehört Zeit, viel Zeit, während welcher 
der Proviant leicht ausgehen kann. Dieſer muß durch 
die Jagd erneuert werden, und dazu ſind die Mojos 
engagiert. Ferner gehört dazu ein genügender Schutz, 
das Fernhalten jeder Störung, jeder Begegnung mit 
einem Reiſenden, Jäger oder andern Menſchen, der die 
beiden überraſchen und ihre Abſicht erraten könnte. 
Darum werden ſie Mojospoſten ausſtellen, die alle 
Störung abhalten müſſen.“ 

„Aber da können doch dieſe Poſten ſelbſt leicht er⸗ 
raten, was die beiden beabſichtigen.“ | 

„Mögen fie das, es ſchadet nichts, wenn der Gam⸗ 
buſino nur ſeinen Zweck erreicht. Er ſchießt die Mojos, 
die ihn beſchützen mußten, einfach nieder und verſchwin⸗ 
det dann mit dem Schatz auf Nimmerwiederſehen, um 
nicht der Rache ihrer Anverwandten zu verfallen.“ 

„Das wäre eine Niederträchtigkeit, die ihresgleichen 
ſucht! Er iſt ein gewiſſenloſer Menſch; aber ſo etwas 
ſollte man ihm doch nicht zutrauen.“ 

„Nicht!?“ fragte der Vater Jaguar. „Ich habe es 
bisher verſchwiegen, aber nun will ich es euch ſagen. 
Er hat an meinem Bruder genau ebenſo gehandelt. 
Mein Bruder war Gambuſino oder Proſpektor, wie die 
Goldſucher in den Vereinigten Staaten genannt wer⸗ 
den; er hatte einen ungewöhnlich reichen Fund gemacht. 
Da kam dieſer Gambuſino, ermordete ihn auf eine ent⸗ 


— 506 — 


ſetzliche, unmenſchliche Weiſe und verſchwand mit dem 
Gold. Das hat mein dunkles Haar gebleicht. Ich 
folgte der Fährte dieſes Menſchen, die nach Argentinien 
führte, konnte ihn aber nicht zu ſehen bekommen. Erſt 
jüngſt iſt er mir in die Arme gelaufen, ich habe ihn und 
er hat mich erkannt, und nun ſind die Stunden eines 
von uns beiden gezählt, entweder die meinigen oder die 
ſeinigen.“ 

„Die ſeinigen, die ſeinigen!“ rief es im Kreiſe, und 
die Fäuſte fielen dröhnend auf die Tiſche nieder. 

„Still!“ gebot der Vater Jaguar. „Keinen Lärm! 
Niemand braucht zu hören, wovon wir reden.“ 

Jetzt trat der Wirt wieder ein, und ihm folgten 
einige Bedienſtete, welche auf Platten den duftenden 
Asado con cuero brachten. Die Gäſte aßen und tran⸗ 
ken ſchweigend und zeigten dabei ſo ernſte Geſichter, daß 
dem Wirt der Mut entfiel, ein neues Geſpräch anzu⸗ 
knüpfen. Als das Mahl zu Ende und auch der Wein 
getrunken war, begaben ſich die Männer in den Hof, um 
ſich die Maultiere zeigen zu laſſen. Sie hatten in Tu⸗ 
cuman die hier in den Bergen unbrauchbaren Pferde 
verkauft und mußten ſich nun von neuem beritten 
machen. Tiere und Sattelzeug gab es bei Rodrigo Se⸗ 
reno mehr als genug. 

Beim Schein brennender Lichter und Laternen 
wurde die Auswahl getroffen, worauf der Wirt eben⸗ 
falls den billigen Preis von zwanzig Bolivianos für 
das Stück berechnete. Dann wurden die Sättel in die 
Stube geſchafft, weil die Taſchen dort mit Proviant ge⸗ 
füllt werden ſollten. Dies war nach Verlauf von einer 
halben Stunde geſchehen, und inzwiſchen forderte der 
Vater Jaguar den Wirt auf, ihm die Rechnung nieder⸗ 
zuſchreiben. Er griff in den Gürtel, zog eine Handvoll 


— 507 — 


Goldſtücke hervor und zählte ihm die ſchuldige Summe 
auf den Tiſch. 


Gleich darauf verließen die Männer das Gaſtzim⸗ 
mer, ſchwangen ſich auf die Maultiere und jagten in die 
Nacht hinaus, während Senor Sereno mit dem erheben⸗ 
den Gefühl zurückblieb, ein gutes Geſchäft gemacht zu 
haben. — — — 

Und ſchon am nächſten Morgen, als man kaum auf⸗ 
geſtanden war, gab es auch wieder fremde Gäſte. Ro⸗ 
drigo Sereno ſchlürfte ſoeben gemächlich ſeinen Mate 
aus der ſilbernen Röhre, da traten zwei kleine, überaus 
rot gekleidete Menſchen ein, die bis an die Zähne be⸗ 
waffnet waren. Der eine fragte ſofort, als er die Tür 
geſchloſſen hatte: „Sind Sie der Wirt Rodrigo Sereno, 
Senor?“ 

„Ja, Señores,“ antwortete der Gefragte. 

„So ſind wir in das richtige Haus, lateiniſch 
Domus oder auch Aedificium genannt, gekommen; ha⸗ 
ben Sie Maultiere zu verkaufen?“ 

„Gern, ſo viele Sie brauchen.“ 

„Und außerdem kann man bei Ihnen zu eſſen und 
zu trinken bekommen?“ | 

„Alles, was die Seüores wünſchen. Setzen Sie ſich 
nieder und teilen Sie mir Ihre Befehle mit!“ 


Er rückte ihnen zwei Stühle am Tiſche bequem und 
forderte ſie durch eine Handbewegung auf, ſich nieder⸗ 
laſſen. Seine Worte hatten einen Ton, der ein klein 
wenig ironiſch klang. Er ſchien die kleinen Männer 
trotz der Waffen, die ſie trugen, nicht für voll anzu⸗ 
ſehen. Sie bemerkten dies gar nicht, verlangten heißen 
Mate und Gebäck dazu und machten es ſich dann auf 
den Stühlen bequem, die er ſeinen Gäſten hinſtellte. 


— 508 — 


Als er ihnen das Verlangte gebracht und vorgeſetzt 
hatte, nahm er bei ihnen in der Weiſe Platz, wie man 
es bei Leuten tut, die man nicht ganz für ſeinesgleichen 
hält, muſterte ſie mit einem von oben herab gerichteten 
Blick und ſagte: „Darf man vielleicht erfahren, ob die 
Señores ſich hier in Salta aufzuhalten gedenken?“ 

„Wir kaufen Maultiere, alſo wollen wir fort,“ ant⸗ 
wortete Fritze Kieſewetter. 

„Wo kommen Sie her?“ 

„Aus Tucuman.“ 

„Auch aus Tucuman? Und natürlich auch nicht 
mit der Diligence?“ 

„Nein. Wir haben Poſtpferde geritten. Aus Ihrer 
Frage geht hervor, daß noch andre von dorther gekom⸗ 
men ſind, und zwar auch nicht mit der Diligence?“ 

„Ja. Geſtern abend kam eine ganze Geſellſchaft 
hier an, und vorgeſtern trafen auch ſchon zwei Männer 
ein. Wo wollen Sie hin, Seüores?” 

„Zunächſt hinauf nach der Salina del Condor. 
Aber wir kennen den Weg nicht. Iſt es wohl möglich, 
hier einen Führer zu bekommen, auf den man ſich ver⸗ 
laſſen kann?“ 

„Warum nicht? Wenn Sie ihn gut bezahlen, will 
ich Ihnen ſofort einen beſorgen. Ich habe einen Knecht, 
welcher früher einigemal da oben geweſen iſt und ſich 
wohl beſtimmen laſſen wird, Ihr Führer zu ſein. Sie 
werden ihn bei den Maultieren finden, die Sie ſich an⸗ 
ſehen können, ſobald es Ihnen beliebt.“ 

Der Peon, von dem er ſprach, war jedenfalls kein 
zuverläſſiger Knecht, ſonſt hätte er ihn nicht ſo bereit⸗ 
willig hergegeben. Als die beiden Reiſenden dann mit 
dieſem Mann ſprachen, erklärte er, daß er gern mit 
ihnen reiten werde, und ſtellte auch ſo günſtige Bedin⸗ 


— 509 — 


gungen, daß ſie ohne Handel darauf eingingen. Deſto 
teurer aber waren die Maultiere, die ſie kauften. Sie 
mußten für das Stück fünfzig Bolivianos bezahlen, alſo 
über noch einmal ſo viel, als der Wirt geſtern und vor⸗ 
geſtern erhalten hatte. Dazu kamen die Sättel und die 
Proviantvorräte, die ſie ſich mitnahmen. Während die 
letzteren im Zimmer eingepackt wurden, fragte Doktor 
Morgenſtern den Wirt im Lauf des Geſpräches: „Senor, 
Sie ſprachen von Leuten, die geſtern und vorgeſtern aus 
Tucuman hier angekommen ſeien. Kannten Sie dieſe 
vielleicht?“ 

„Allerdings. Es waren Männer von ſehr berühm⸗ 
ten Namen.“ 

„Darf ich dieſe Namen erfahren?“ 

„Warum nicht? Ich bin ſogar ſtolz darauf, Ihnen 
mitteilen zu können, daß ſolche Senores bei mir ver⸗ 
kehren. Am vorgeſtrigen Abend hatte ich den weitbe⸗ 
kannten Benito Pajaro mit noch einem Herrn als Gäſte 
bei mir.“ 

„Den Gambuſino? So ſind wir alſo auf der rich⸗ 
tigen Spur, lateiniſch Semita oder auch Vestigium ge⸗ 
nannt. Der andre iſt jedenfalls Antonio Perillo ge⸗ 
weſen?“ 


„Ja, er war es. Kennen Sie denn dieſe Seüores?“ 


„Beſſer, als Sie vielleicht denken. Und wer waren 
die Herren, die geſtern hier einkehrten?“ 


Der Wirt betrachtete die beiden jetzt abermals mit 
einem forſchenden Blick, wobei ſein Geſicht einen weni⸗ 
ger geringſchätzenden Ausdruck annahm. Wer den Gam⸗ 
buſino ſo gut kannte, der konnte nach ſeiner Anſicht denn 
doch kein ſo ganz gewöhnlicher Menſch ſein. Dann ant⸗ 


— 510 — 


wortete er fragend: „Sie ſprachen von einer Spur. 
Wollen Sie vielleicht dem Gambuſino nach?“ 

„Ja.“ 

„Und wiſſen Sie, wohin er iſt?“ 

„Sehr genau.“ 

„So müſſen Sie ſich ſputen, denn er ſchien große 
Eile zu haben. Noch weit größere Eile aber hatten die 
geſtrigen Seüores. Das waren über zwanzig Perſonen, 
die von dem berühmten Vater Jaguar angeführt wur⸗ 
den. Den werden Sie wohl ſchwerlich kennen.“ 

„Warum nicht? Wir gehören ja zu ſeiner Geſell⸗ 
ſchaft und wollen ihr nach.“ | 

„Was? Sie gehören zu ihm und wollen doch auch 
dem Gambuſino folgen? Daraus iſt zu ſchließen, daß 
der Vater Jaguar mit dem Gambuſino zuſammentreffen 
will?“ 

„Sie erraten es. Es handelt ſich nämlich um eine 
ſehr intereſſante Angelegenheit, lateiniſch Negotium ge⸗ 
nannt, die für uns von großer Wichtigkeit iſt. Näm⸗ 


4% 


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Ter kleine Mann ſtand im Begriff, dem Wirt eine 
voreilige Mitteilung zu machen. Fritze, der weit vor⸗ 
ſichtiger war, fiel ihm ſchnell in die Rede: „Es betrifft 
nämlich eine Silberader, die droben in den Bergen auf⸗ 
gefunden worden ſein ſoll, und alle die genannten 
Senores, auch wir beide, reiten hinauf, um dieſe, falls 
etwas Wahres daran iſt, auszubeuten.“ 

„Da gratuliere ich Ihnen,“ meinte der Wirt, und 
zwar jetzt im Ton der Hochachtung. „Ein Unternehmen, 
woran ſich der Vater Jaguar und der Gambuſino be⸗ 
teiligen, muß auf alle Fälle ein rentables werden. Ich 
hoffe, daß Sie, ſo oft Sie hier vorüberkommen, ſich 
meiner erinnern und bei mir einkehren. Empfehlen Sie 


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mich dem Vater Jaguar! Ich achte und bewundere ihn, 
wie ich Ihnen gleich beweiſen werde. Nämlich, da Sie 
zu ihm gehören, will ich Ihnen die Maultiere billiger 
laſſen, als Sie dieſe bezahlt haben; das Stück ſoll nicht 
fünfzig, ſondern dreißig Bolivianos koſten; ich zahle 
Ihnen den Ueberſchuß heraus.“ 

Er tat dies ſofort, ein Verfahren, worüber ſich die 
beiden Deutſchen nicht wenig wunderten. 


Siebzehntes Kapitel 
Unerwartete Begegnungen 


Wer von Oſten aus die Anden (Cordilleren) er⸗ 
ſteigt, um weſtwärts nach Chile oder Peru zu kommen, 
hat verſchiedene Gebirgsſtufen zu erklimmen, die ſich in⸗ 
folge der Verſchiedenheit ihrer Höhe auch im Klima 
unterſcheiden. 

Die erſte Stufe beſteht aus den Pungas, die bis 
1600 Meter anſteigen. Hier herrſcht die ganze Ueppig⸗ 
keit der Tropenregion mit ihren weiten, undurchdring⸗ 
lichen Urwäldern, die zuweilen von ſaftigen Grasfluren, 
die man Pajonales nennt, unterbrochen werden. Die 
Medio Pungas erreichen als zweite Stufe eine Höhe von 
durchſchnittlich 2900 Meter. Hier herrſcht noch das 
Klima der gemäßigten Zone, und man kommt durch un⸗ 
geheure Wälder, die beſonders reich an Cinchona⸗Arten 
ſind. Darauf folgen die Cabezeras de los valles*) bis 
3300 Meter Höhe. Sie ſind gegen die Stürme des 
oberen Gebirges geſchützt und infolgedeſſen auch noch 
reich an den verſchiedenſten Vegetationsformen. Bis 
hierher erſtreckt ſich der geſchloſſene Baumwuchs, alſo der 
Wald, während auf der nächſten Stufe Bäume nur ver⸗ 
einzelt und zwar nur in beſonders geſchützter Lage anzu⸗ 
treffen ſind. Dieſe nächſte Stufe, welche Buna genannt 


) Die oberen Talſtufen 


— 513 — 


wird, ſteigt bis zu 3900 Meter Höhe empor. Man trifft 
auf ihr außer den vereinzelten Bäumen nur Kräuter 
und Gräſer (Gentiana, Valeriana, Yereta uſw.) an, 
die den Tieren als Weidefutter dienen. Es herrſcht hier 
eine große Trockenheit, die nur in der Regenzeit unter⸗ 
brochen wird. Die nun folgende Stufe wird Puna brava 
genannt und umfaßt bis zu den höchſten Bergesſpitzen 
alles, was über 3900 Meter liegt. Dieſe Höhen ſind 
reich an wertvollen Erzen; hier führen die Päſſe zwiſchen 
den Bergesrieſen über das Gebirge. In dieſer Region 
verwandelt ſich ſelbſt im hohen Sommer der Regen ſehr 
oft in Schnee und Hagel; im Winter aber herrſchen wü⸗ 
tende Schneeſtürme, welche denjenigen Reiſenden, die ſo 
kühn ſind, in dieſer Jahreszeit den Uebergang über die 
Anden zu wagen, häufig verderblich werden. 

Da, wo jenſeits der argentiniſchen Grenze auf boli⸗ 
vianiſchem Gebiet die Puna an die obere Cabezera grenzt, 
zieht ſich ein ziemlich dichter Wald von Cinchona⸗Caliſaya⸗ 
Bäumen an den öſtlichen Berghängen hinab. Auf den 
freien Stellen, die dieſer Wald umſchließt, befinden ſich die 
Wohnſtätten der Mojosindianer. Etwas höher, jenſeits 
der Punagrenze, liegt das Guanacotal, das eine Abtei⸗ 
lung dieſer Indianer jetzt zur Jagd aufgeſucht hatte. 
Und weiter oben, beinahe in der Puna brava gelegen, 
breitet auf einem kleinen Hochplateau die Salina del 
Condor ihre ſalzigen Waſſer aus, höher noch liegt die 
Mordſchlucht. Nahe an ihr führt ein Pfad vorüber, 
der über einen Paß von Chile herüberkommt, hinab zur 
Salina del Condor ſteigt und dann über die argentini⸗ 
ſche Grenze hinunter nach Salta leitet. In der Nähe 
der genannten Grenze vereinigt ſich mit dieſem Pfad ein 
zweiter, der weiter nördlich her von Peru herüberkommt. 
Der Ausdruck Pfad iſt hier eigentlich falſch angewendet, 

May, Das Vermächtnis des Inka. 33 


— 514 — 


denn von dem, was wir unter Pfad und Weg oder gar 
Straße verſtehen, iſt hier keine Rede. Das Saumtier 
ſchreitet über Felſen und Steingetrümmer, durch Täler 
und Schluchten, ohne eine Spur, woraus ein wirklich 
ausgetretener Weg entſtehen könnte, zu hinterlaſſen. Nur 
der erfahrene Jäger oder Führer kennt die Gegend; der 
unerfahrene Reiſende aber verliert ſehr leicht die Rich⸗ 
tung und kann dann tage⸗ und wochenlang zwiſchen den 
Bergen umherirren, ohne den Weg, den Paß zu finden, 
der ihn zum Ziel bringen ſollte. Selbſt der Kenner 
kann, wenn er nicht ſcharf aufpaßt, die Stelle, wo die 
beiden erwähnten Saumpfade zuſammenſtoßen, leicht 
überſehen und infolgedeſſen den falſchen einſchlagen. 

So erging es dem Peon aus Salta, der die beiden 
Deutſchen nach der Salina del Condor bringen ſollte. 
Er war wohl in Geſellſchaft hier oben geweſen, hatte ſich 
aber nicht genug um die Einzelheiten der Gegend be⸗ 
kümmert, und wurde jetzt irre. 

Es war Mittag, und ſchon ſeit dem frühen Morgen 
hatte er ſich auf eine ganz eigentümliche Weiſe verhalten. 
Er war von der heute eingeſchlagenen Richtung oft abge⸗ 
wichen und nach rechts oder links eingeſchwenkt, um 
dann wieder nach links oder rechts umzubiegen. Er 
beobachtete die Gegend mit verlegenem Blick und gab ſich 
dabei Mühe, dieſe Verlegenheit nicht bemerken zu laſſen. 

Dem Doktor fiel dieſes Verhalten nicht auf; Fritze 
aber war ſcharfſinniger und hatte es gar wohl bemerkt. 
Die drei Reiter befanden ſich jetzt an einer Stelle, wo 
ſich zwei ſchmale Täler vor ihnen öffneten; das eine 
führte nach links und das andre geradeaus. Der Peon 
blieb halten, um ſich zu beſinnen. Er ſchaute bald nach 
links und bald vor ſich hin und wußte ſicher nicht, wohin 
er ſich wenden ſolle. Da verlor Fritze endlich die Geduld 


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und ſagte: „Warum halten Sie an, Senor? Es 
ſcheint, Sie haben den Weg verloren?“ 

„Wie kommen Sie auf dieſen Gedanken?“ antwor⸗ 
tete der Führer in beleidigtem Ton. „Meinen Sie, ich 
wüßte nicht, wo ich bin?“ 

„Sie wiſſen jedenfalls ganz genau, daß Sie ſich in 
den Anden befinden; aber auf welchem Punkt derſelben, 
das ſcheinen Sie leider nicht zu wiſſen.“ 

„Wollen Sie mich beleidigen, Senor? In dieſem 
Fall laſſe ich Sie hier halten und reite zurück!“ bemerkte 
er drohend. 

„Zurückreiten? Das würden Sie wohl nicht fertig 
bringen,“ antwortete Fritze gleichmütig. 

„Warum nicht?“ 

„Weil das Maultier, auf dem Sie ſitzen, uns ge⸗ 
hört. Sie würden alſo nur zurücklaufen können.“ 

„Und wenn ich es nicht hergebe?“ 

„Reden Sie nicht ſolch dummes Zeug! Sie ſehen, 
daß wir bewaffnet ſind. In dieſer Gegend pflegt man 
auf Diebe zu ſchießen, ohne zu fragen, ob ihnen das an⸗ 
genehm iſt. Sobald Sie wenden, um zurückzureiten, be⸗ 
kommen Sie meine Kugel! Und nun vorwärts, wenn 
Sie den Weg wirklich genau kennen, wie Sie behaupten!“ 


Der Peon hatte keineswegs das Ausſehen eines 
furchtſamen Menſchen, ließ ſich aber doch durch das ener⸗ 
giſche Verhalten des kleinen Deutſchen einſchüchtern und 
bog in das Tal ein, das nach links führte. Die andern 
folgten ihm. = 

Dieſes Tal hatte viele Schlangenwindungen; es 
führte bald in der einen und bald nach der andern Rich⸗ 
tung; dabei ſchien es endlos zu ſein und verengte ſich 


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mehr und mehr, bis es zur tiefen, ſchmalen Schlucht 
wurde, die man mit einem nordamerikaniſchen Canon 
vergleichen konnte. 

Der Peon ritt jetzt langſamer und immer lang⸗ 
ſamer voran. Er ſah ein, daß er noch niemals hier ge⸗ 
weſen ſei, denn eine ſo lange Schlangenſchlucht war ihm 
noch nie vorgekommen. Endlich hielt er an und ſagte: 
„Sie haben mich vorhin irre gemacht. Ich hätte nicht 
nach links einbiegen, ſondern geradeaus reiten ſollen. 
Das war der richtige Weg. Kehren wir alſo um, 
Senores!“ 

„Habe es gedacht!“ brummte Fritze unmutig. „Nun 
müſſen wir den weiten Weg zurück! Aber wiſſen Sie 
denn auch genau, daß dieſer der falſche und jener dann 
der richtige iſt?“ | 

„Ja. Wenden Sie getroft um! Wir find zu weit 
nach links gekommen und müſſen alſo mehr nach rechts 
hinunter.“ N 

„Wenn es richtig iſt, will ich es loben, denn — —“ 

Er hielt mitten im Satz inne und lauſchte. 

„Was gibt's?“ fragte der Doktor. „Hörſt du 
elwas?“ 

„Ja. Es war mir, als ob da vor uns ein Jeräuſch 
jeweſen wäre. Horch!“ 

Er hatte ſich nicht geirrt, denn das Geräuſch wieder⸗ 
holte ſich und kam näher. Es klang wie Hufſchlag. 

„Sollte ich mich dennoch auf dem richtigen Weg be⸗ 
funden haben?“ fragte der Peon, indem ſein beſorgtes 
Geſicht ſich aufheiterte. 

Die Schlucht machte vor ihnen abermals eine Bie⸗ 
gung. Um die Ecke, die dadurch gebildet wurde, kamen 
drei Reiter. Dem vorderſten ſah man es an, daß er ein 
Maultiertreiber, ein Arriero war. Hinter ihm kam ein 


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hochbeladenes Packtier, dem ein Reiter folgte, welcher 
der Beſitzer des Gepäcks zu ſein ſchien. Er war in die 
Tracht des Landes gekleidet, von hoher Geſtalt und ſehr 
gut bewaffnet. Sein Haar und Bart waren blond, und 
die Augen, die er überraſcht auf die drei Reiter vor ſich 
richtete, hatten die helle Farbe der Nordländeraugen. 
Hinter ihm ritt der dritte, der jedenfalls auch ein Ar⸗ 
riero war. 

Sie hielten an, und beide Parteien muſterten ſich 
einige Sekunden lang, ohne ein Wort zu ſagen. Dann 
rief der dritte Reiter, indem er ſeine Worte an den Peon 
richtete: „Iſt's möglich, oder irre ich mich? Iſt das 
nicht Malzeſo, der Peon von Rodrigo Sereno in Salta?“ 

„Der bin ich allerdings,“ antwortete der Angeredete. 
„Woher kennen Sie mich?“ 


„Von Salta her. Ich pflege bei Ihrem Herrn ein⸗ 
zukehren und habe Sie da geſehen. Sind Sie etwa der 
Führer der Señores, die ſich bei Ihnen befinden?“ 

„Gewiß.“ | 

„Cielo! Wie kommen Sie dazu, fremden Reiſenden 
den Weg über das Gebirge zeigen zu wollen! Das zu 
tun, iſt doch nur ein erfahrener Arriero imſtande!“ 

„Ich kenne das Gebirge beſſer, als Sie meinen,“ 
antwortete der Peon gekränkt. „Ueberdies wollen wir 
keineswegs über dasſelbe hinüber.“ 

„So bleiben Sie auf dieſer Seite? Das iſt etwas 
andres. Aber Sie haben doch die Grenze der Puna be⸗ 
reits überſchritten, und dieſer Weg führt nach der Puna 
brava, nicht aber nach einem bewohnten Ort. Darf ich 
fragen, wohin Sie wollen?“ 

„Dahin, woher Sie jedenfalls kommen, nämlich nach 
der Salina del Condor hinauf.“ 


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„Nach der Salina? Dios! Sie meinen, daß wir 
von dort herunterkommen?“ 

„Jedenfalls.“ 

„Da irren Sie ſich gewaltig, Seüor. Wir kommen 
von Peru herüber und wollen nach Salta. Es gibt hier 
nur zwei Wege. Der eine iſt der, auf dem wir uns be⸗ 
finden, und der andre kommt von Chile herüber, geht an 
der Salina del Condor vorbei und trifft mit dem erſteren 
an einem Punkt zuſammen, der über eine halbe Tage⸗ 
reiſe hinter Ihnen liegt.“ 

„Das ſtimmt allerdings; das weiß ich auch!“ 

„Und doch ſcheinen Sie nicht zu wiſſen, daß Sie irre 
geritten ſind! Sie haben die Stelle überſehen, wo die 
beiden Wege zuſammentreffen. Anſtatt ſich nach links 
zu wenden, ſind Sie immer weiter geritten.“ 

„Das iſt's, was ich dachte!“ rief Fritze jetzt dem 
Peon zu. „Wir mußten nach links, und doch haben Sie 
bis jetzt behauptet, daß wir uns mehr nach rechts halten 
müßten. Infolgedeſſen haben wir einen Umweg ge⸗ 
macht, den wir gar nicht wieder einholen können. Ich 
glaube, daß wir drei Viertel eines Tages verloren 
haben.“ 

„Nein, fo viel nicht, Senor,“ wendete ſich der Ar⸗ 
riero höflich an ihn. „Der Weg, den Sie hätten ein⸗ 
ſchlagen ſollen, zieht ſich weſtlich von hier in die Berge 
hinauf. Wenn Sie am Ende dieſer Schlucht gerade nach 
Sonnenuntergang reiten, werden Sie ihn in drei Stun⸗ 
den erreichen.“ 

„m!“ brummte Fritze nachdenklich. „Es iſt ein 
Glück für uns, daß wir Ihnen begegnet ſind. Wenn es 
auf dieſen unſern Führer angekommen wäre, ſo hätten 
wir leicht unſern Untergang finden können, denn er 
wollte hier umkehren und ſich dann noch weiter nach 


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rechts wenden. Auch klingt es ſehr tröſtlich, wenn Sie 
ſagen, daß wir binnen drei Stunden den richtigen Weg 
erreichen können, aber ob wir den Weg zu dieſem Weg 
finden, das iſt die Frage. Wie ich ſah, gibt es da hinauf 
einen Wechſel zwiſchen Bergen und Höhen, Tälern und 
Schluchten, die wohl nicht alle zu paſſieren ſind.“ 

„Das iſt wahr. Es kommt nur einer, der die Ge⸗ 
gend kennt, hinauf. Es wird Ihnen nichts andres übrig 
bleiben, als umzukehren und mit uns bis dahin zurück⸗ 
zureiten, wo die beiden Wege ſich vereinigen. Dann werde 
ich Ihnen genau beſchreiben, wie Sie reiten müſſen.“ 

„Das iſt ſehr gut, hilft uns aber nichts. Wir haben 
viel Zeit verloren, und wenn wir umkehren, verlieren 
wir noch viel mehr!“ 

„Iſt Ihre Zeit ſo kurz bemeſſen?“ 

„Freilich. Wir wollen in der Salina del Condor 
mit Leuten zuſammtreffen, von denen Sie vielleicht auch 
einige kennen, wenigſtens den Namen nach. Wir ge⸗ 
hören nämlich zu einer ee deren Anführer der Va⸗ 
ter Jaguar iſt.“ 

„Der Vater Jaguar? Den kenne ich! Er iſt der 
berühmteſte Mann des Gebirges, und ich bin einigemal 
mit ihm zuſammengetroffen. Tut mir doppelt leid, daß 
ich Ihnen nicht helfen kann. Wir ſind von dieſem 
Senor engagiert, ihn bis Salta zu begleiten, und fo wie⸗ 
derhole ich, was ich vorhin ſagte: Es iſt am beſten, Sie 
kehren mit uns um.“ 

Der blonde Fremde hatte aufmerkſam zugehört und 
dabei den Doktor und deſſen Diener mit prüfendem Blick 
betrachtet. Jetzt zog er ſeine Uhr hervor, ſah nach der 
Zeit und fragte dann den Arriero, der bisher geſprochen 
hatte: „Sie kennen alſo die Gegend ſo genau, daß Sie 


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dieſe Señores von hier aus auf den richtigen Weg brin- 
gen könnten?“ 

Ja. | 

„Und das würde bis zur Dämmerung geſchehen 
ſein?“ 

„Ja.“ 

„Der Weg da oben trifft nach Salta zu mit unſrem 
gegenwärtigen zuſammen?“ 

„Ja.“ 

„Nun, fo können wir ja dieſen Señores helfen, 
ohne daß Sie mich zu verlaſſen brauchen. Sie machen 
ihren Führer und ich reite mit. Die Zeit, die ich da⸗ 
durch verſäume, beträgt nur drei Stunden, die wir 
morgen wieder einbringen können; dieſe Herren aber 
würden mehr als einen Tag verſäumen. Haben wir ſie 
beim Einbruch des Abends auf den richtigen Weg ge⸗ 
bracht, ſo werden ſie uns vielleicht erlauben, die nächſte 
Nacht mit ihnen zu lagern; morgen früh reitet dann 
jedes ſeines Weges weiter. Wir wollen eilen!“ 

Er wendete ſein Pferd, ohne die Antwort abzu⸗ 
warten. Seine beiden Führer folgten ihm und ſo konn⸗ 
ten die beiden Deutſchen nichts beſſeres tun, als hinter⸗ 
herreiten. Die Enge der Schlucht hinderte ſie, ihre 
Tiere nach vorn zu drängen, um dem voranreitenden 
Fremden für ſeine große Freundlichkeit zu danken. Den 
Zug beſchloß der Peon, der kein weiteres Wort zu ſagen 
gewagt hatte und jetzt eine wahre Armeſündermiene 
zeigte. 

Noch war keine Viertelſtunde vergangen, ſo hatte 
man das obere Ende der Schlucht erreicht. Sie mün⸗ 
dete auf eine kleine Ebene, von wo aus ein freier Blick 
auf die weſtlich ſich erhebenden Berge gewonnen wurde. 
Nun ſank die Ebene in ein ſchmales Tal hinab, das ſich 


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nach und nach verbreiterte und zwiſchen hohe, ſchroff 
aufgebaute Berge hineinzog. Die Spitzen dieſer Berge 
waren kahl; an den Hängen gab es hie und da eine 
grüne Stelle, noch von der Regenzeit her; Waſſer aber 
war nirgends zu ſehen, nur da und dort ſtanden ver⸗ 
einzelte Büſche, bei denen die Arrieros und der Peon 
anhielten, um dürres Gezweig zu ſammeln. 

Jetzt endlich bot ſich die Gelegenheit, ſich dem lie⸗ 
benswürdigen Fremden vorzuſtellen und ihm zu dan⸗ 
ken. Morgenſtern lenkte ſein Pferd neben ihn heran 
und ſagte in ſpaniſcher Sprache: „Senor, Sie erweiſen 
uns eine Gefälligkeit, um die zu bitten wir nie gewagt 
hätten. Sie werden mir erlauben, mich Ihnen vorzu⸗ 
ſtellen. Ich heiße Morgenſtern, Doktor Morgenſtern, 
und bin aus Deutſchland nach Argentinien gekommen, 
um paläontologiſche Studien zu treiben. Und dies hier 
iſt mein Diener Fritze Kieſewetter.“ 

„Sie ſind Deutſche?“ erwiderte der Blonde in herz⸗ 
lichem Ton und im reinſten Hochdeutſch. „Wie mich das 
freut, Landsleuten gefällig ſein zu können!“ 

„So ſind Sie auch ein Deutſcher?“ 

„Ich bin ſtolz darauf, es zu ſein.“ 

„Drüben oder hüben geboren?“ 

„Drüben im Vaterlande. Ich heiße Engelhardt, 
und mein Stand — — eigentlich beſitze ich keinen mehr; 
ich wohnte bisher in Lima, alſo in Peru, habe aber 
mein Geſchäft verkauft und will nun auch nach Deutſch⸗ 
land hinüber. Zunächſt allerdings reiſe ich über Salta 
nach Buenos Aires, wo ich Verwandte habe.“ 

„Von Buenos Aires kommen wir,“ entgegnete der 
Doktor. „Ich wohnte dort bei dem Bankier Salido, 
den Sie vielleicht kennen.“ 

„Salido?! Wurde dort nicht mein Name genannt?“ 


1 


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Engelhardt ſprach dieſe Frage mit ſichtlicher Span⸗ 
nung aus. Der Doktor antwortete nachdenklich: „Als 
Sie vorhin ſagten, daß Sie Engelhardt heißen, war es 
mir ganz ſo, als ob ich dieſen Namen ſchon einmal ge⸗ 
hört haben müſſe; aber wo — — hm — — hm!“ 

„Herr Doktor, Herr Doktor,“ fiel da Fritze freudig 
ein. „Freilich kennen wir den Namen! Bejreifen Sie 
denn nicht, daß dieſer Herr Engelhardt der männliche 
Teil von die Eltern unſres Antons iſt?“ 

Der Doktor öffnete den Mund, ſah erſt Fritze und 
dann Engelhardt fragend an, ließ ſein Auge wieder und 
wieder von dem einen auf den andern ſchweifen und 
antwortete dann, indem er den Kopf ſchüttelte: „Du 
irrſt dich, Fritze. Würde der Vater von Peru über die 
Anden nach Argentinien gehen, wenn er weiß, daß ſein 
Sohn, lateiniſch puer oder filius geheißen, zu derſelben 
Zeit unterwegs hinüber nach Peru iſt?“ 

„Gewiß, Herr Doktor,“ ſagte Engelhardt, „ich bin 
der Vater Antons, den Sie im Hauſe Salidos kennen 
lernten. Aber mein Sohn iſt nicht unterwegs nach 
Lima, denn ich habe Salido telegraphiert, daß ich ſelbſt 
kommen würde, Anton abzuholen!“ 

„So iſt leider die Depeſche zu ſpät eingetroffen; 
denn der Junge iſt wirklich unterwegs. Wir find meh⸗ 
rere Tage mit ihm zuſammen gereiſt. Aber ich begreife 
nicht, weshalb Ihnen Salido nicht ſchnell zurücktele⸗ 
graphiert hat!“ 

„Das begreifen Sie nicht? Sie wiſſen doch jeden⸗ 
falls, daß zwiſchen Peru und Chile ein Krieg ausge⸗ 
brochen iſt?“ 

„Kein Wort!“ 

„Peru iſt durch Chile von aller Verbindung mit 
Argentinien abgeſchnitten. Mein Telegramm war, wie 


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ich nun erfahre, eins der letzten, die befördert wurden; 
die Antwort Salidos aber iſt nicht nach Lima gekom⸗ 
men. So bin ich bis heute der feſten Ueberzeugung ge⸗ 
weſen, daß Anton ſich noch bei ihm befindet. Eine böſe 
Verwicklung!“ 

„Sie haben Ihr Geſchäft verkauft, ſagen Sie?“ 

„Ich bin, wie Sie wiſſen werden, Bankier. Die 
Verhältniſſe lagen ſo, daß ich durch den Krieg mein 
Vermögen verlieren konnte; da ſich nun glücklicherweiſe 
eine Gelegenheit bot, ſehr günſtig zu verkaufen, habe 
ich dieſe augenblicklich benutzt. Aber nicht nur das Ge⸗ 
ſchäft, ſondern überhaupt alles, was ich drüben beſaß, 
habe ich veräußert, und ſo wurde es mir möglich, auf 
das ſchnellſte ein Land zu verlaſſen, deſſen politiſche 
Verhältniſſe einen ſicheren Beſitz und ein ruhiges Ge⸗ 
nießen nicht geſtatten. Ich telegraphierte an Salido, 
daß ich kommen würde, und zwar auf dem Landweg 
über die Anden, weil ich in Salta, Tucuman und Cor⸗ 
dova noch geſchäftliche Verwickelungen zu löſen habe. 
Meine Frau hat mit dem andern Sohn den Seeweg 
vorgezogen, wozu ich meine Einwilligung gab, weil ich 
ein gutes, neues Schiff fand, deſſen Kapitän ein 
Freund von mir iſt. In Buenos Aires werde ich mit 
ihnen zuſammentreffent. Dort hoffte ich natürlich, auch 
Anton zu treffen. Und nun iſt er fort! Welch ein Un⸗ 
glück! Er findet uns nicht in Lima; man wird ihn 
zwingen, Soldat zu werden, denn er iſt für ſein Alter 
ſehr gut entwickelt und — — — 

„Machen Sie Ihnen keine a fiel ihm Fritze 
in die Rede. „Ihr Anton kommt jar nicht über die 
Irenze. Die Leute, bei denen er ſich befindet, find 
ſchon ſo jeſcheit, ihm unter die jejenwärtigen Verhält⸗ 
niſſe nicht hinüber zu laſſen.“ 


— 524 — 


„Woher wiſſen Sie das? Wie können Sie das be⸗ 
haupten?“ 

„Weil ick dieſe Leute kenne.“ 

„So ſagen Sie ſchnell, wer dieſe Leute ſind, und 
wo ich ſie finde.“ 

„An der Salina del Condor! Ihr Herzensanton 
iſt beim Vater Jaguar, der über zwanzig tapfre Män⸗ 
ner bei ſich hat. Sie ſehen alſo ein, daß Sie Ihnen 
keine Sorje zu machen brauchen!“ 

Der Ausdruck der Beſorgnis wich aus Engelhardts 
Geſicht; er ſchlug erfreut die Hände zuſammen und rief 
aus: „So iſt es, ſo? Bei dem Vater Jaguar befindet 
er ſich? Alſo droben an der Salina del Condor, die 
gar nicht weit von hier liegt?“ 

„Ja, da oben. Der Vater Jaguar ſollte ihm über 
dat Jebirge bringen, wird ihm aber nun in Ihre 
Hände lejen.“ 

„Welch ein Zufall, oder vielmehr welch eine 
Schickung!“ | 

„Es iſt kein Zufall,“ nahm da der Doktor das 
Wort; „das haben Sie Ihrem gütigen Herzen zu ver⸗ 
danken. Wären Sie an uns vorübergeritten, ohne uns 
aus unſrer Verlegenheit zu helfen, ſo würden Sie die 
Trennung von Ihrem Sohne länger zu beklagen haben. 
Wir werden Ihnen alles erzählen.“ 

Der gute Doktor wollte eine lange Geſchichte be⸗ 
ginnen, die ſicherlich bei der Sintflut ihren Anfang ge⸗ 
nommen hätte; aber der bedächtigere Fritze legte Wider⸗ 
ſpruch ein, indem er ſagte: „Nicht jetzt, nicht jetzt, 
meine Herren. Sehen Sie doch, wie weit wir zurück⸗ 
jeblieben ſind! Da oben halten die andern und warten 
auf uns. Reiten wir alſo weiter! Wir können unter⸗ 


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wegs auch ſprechen, und wenn wir lagern, haben wir 
jenug Zeit, alles zu erzählen, wat jeſchehen iſt.“ 

Die beiden mußten ihm recht geben, und ſo folgten 
ſie ihm, als er ſein Maultier in raſche Bewegung ſetzte. 
Das Tal wand ſich zwiſchen zwei Bergen empor und 
ſchien ſich dann wieder abwärts zu ſenken. Droben 
hielten die beiden Arrieros mit dem Peon, um die 
Zurückgebiebenen zu erwarten. Als dieſe nachgekom⸗ 
men waren, ging es mit verdoppelter Schnelligkeit vor⸗ 
wärts, bald durch tiefe Senkungen und bald über 
Höhen, die ſo ſteil waren, daß ſie von Pferden gar nicht 
überwunden hätten werden können. Die Sonne ſank 
hinter den Bergen, und der Arriero, der den Führer 
machte, trieb zu noch größerer Eile an. Droben in den 
Lüften ſchwebte ein Condor. Der Arriero deutete zu 
ihm empor und ſagte: „Der ſucht ſein Neſt auf; tun 
auch wir dasſelbe, denn ehe eine halbe Stunde vergan⸗ 
gen iſt, wird es dunkel ſein.“ 

„Iſt denn der geſuchte Pfad noch nicht bald er⸗ 
reicht,“ fragte Engelhardt. 

„In wenigen Minuten werden wir dort ſein.“ 

„Und der Ort, wo wir übernachten können?“ 

„Iſt dann auch nicht weit. Nur liegt er leider 
nicht nach Süden, wohin wir morgen reiten werden, 
ſondern nach Norden, was wieder einen Zeitverluſt 
ergibt.“ 

„Alſo nach der Salina del Condor zu?“ 

„Ja.“ 

„So werden wir keinen Zeitverluſt haben, denn ich 
werde morgen früh nicht direkt nach Salta, ſondern 
vorher nach der Salina reiten. Denken Sie, Seßor, 
ſoeben erfahre ich, daß au mein Sohn beim Vater Ja⸗ 
guar befindet!“ 


— 526 — 


Nur einige Minuten ſpäter gelangte man auf 
einen ebenen, ſandigen Plan, welcher halb durchquert 
wurde. Dann hielt der Führer an, deutete auf den Bo⸗ 
den und ſagte: „Senñores, ſehen Sie die Spuren hier 
im Sande? Sie ſind alt und auch ſchon halb verweht, 
kaum mehr zu erkennen. Das iſt der Weg nach der Sa⸗ 
lina. Wir werden ihm noch eine Strecke folgen, aber 
ſchnell. Der Weg iſt gut; treiben wir unſre Tiere an!“ 

Er ſetzte ſein Maultier in Galopp, und die andern 
taten mit den ihrigen dasſelbe. Sie flogen raſch über 
den Plan und darauf am Fuß eines Berges hin, deſſen 
Seite aus tief zerklüfteten Felſen beſtand. Dann zü⸗ 
gelte der Arriero ſein Tier, deutete auf eine breite, aber 
nicht ſehr hohe Oeffnung im Geſtein und ſagte: „Hier 
iſt der Ort, wo wir übernachten werden, Seüoreg, eine 
Art Höhle, die zwei Eingänge hat. Der Wind trifft 
hier nicht an, und wenn wir ein Feuer anzünden und 
uns in unſre Decken hüllen, werden wir gerade ſo gut 
und angenehm ſchlafen, als ob wir uns im Innern 
eines Rancho befänden.“ 

Man ſtieg ab, um die Höhle zu beſichtigen. Sie 
hatte keinen Hintergrund, ſondern beſtand aus zwei un⸗ 
gefähr zwanzig Schritt voneinander in der Felſenwand 
befindlichen Eingängen oder Oeffnungen, die durch 
einen nach innen gebogenen leeren Raum verbunden 
waren. Sie beſaß alſo ungefähr die Geſtalt eines 
Halbrings, deſſen Enden ſich nach außen öffneten. 
Vor der Höhle wuchs niedriges aber dichtes Punagras, 
das den Maultieren eine vortreffliche Weide bot. Man 
ſchirrte ſie ab und feſſelte ihnen die Beine in der Weiſe, 
daß ſie zwar frei graſen, aber ſich nicht weit entfernen 
konnten. 

Die kurze Zeit des noch übrigen Tageslichts wurde 


— 527 — 


benutzt, die Höhle zum Lager einzurichten, indem man 
die Recadoſättel aufſchlug, damit ſie als Bettſtellen die⸗ 
nen ſollten. Als die Decken darüber gebreitet worden 
waren, bildeten ſie Lagerſtätten, die man ſich in dieſer 
Wildnis gar nicht beſſer wünſchen konnte. Inzwiſchen 
war es dunkel geworden, und das Feuer wurde ange⸗ 
brannt. Man hatte unterwegs ſoviel Brennmaterial 
geſammelt, daß es einige Stunden geſchürt werden konnte. 

Nun wurde zunächſt gegeſſen, und als dies vor⸗ 
über war, brannten ſich die Männer Zigaretten an, 
von denen Engelhardt einen kleinen Vorrat beſaß. An 
der einen Seite des Feuers, das in der Höhle brannte, 
ſaßen die beiden Arrieros und der Peon, welche ſpaniſch 
miteinander ſprachen, auf der andern die drei Deutſchen, 
die ſich ihrer Mutterſprache bedienten. Fritze und der 
Doktor erzählten dem Bankier abwechſelnd, was ſich ſeit 
jenem Tage in Buenos Aires ereignet hatte, und es iſt 
ſelbſtverſtändlich, daß Engelhardt ein Zuhörer war, der 
dem Bericht das allergrößte Intereſſe ſchenkte. Einen 
Wächter draußen auszuſtellen, daran dachte keiner. 
Wäre der Vater Jaguar mit hier geweſen, er hätte 
ſicher nicht verſäumt, dieſe in ſolcher Gegend unbedingt 
erforderliche Vorſichtsmaßregel zu treffen. — 

Der Gambuſino hatte ſich mit Antonio Perillo, 
wie bereits erwähnt, nach dem Guanacotal gewendet, 
um einige der dort jagenden Mojosindianer für ſeinen 
Ritt nach der Mordſchlucht zu engagieren. Er hatte 
zwar Mundvorrat in Salta mitgenommen, aber keines⸗ 
wegs ſo viel, wie unter Umſtänden gebraucht werden 
konnte. Es war ſeine feſte Abſicht, ſo lange in der 
Mordſchlucht zu bleiben, bis das Verſteck gefunden ſei. 
Dies konnte aber mehrere Tage, ja wochenlang dauern, 
und dann mußte der mitgebrachte Proviant ausgehen. 


— 528 — 


Es waren alſo Leute nötig, welche jagen mußten, um 
Fleiſch herbeizuſchaffen, und dazu ſollten die Mojos 
dienen. Außerdem mußte der Gambuſino, um nicht von 
zufällig Vorüberkommenden überraſcht zu werden, zwei 
Wächter aufſtellen, einen ober⸗ und einen unterhalb der 
Mordſchlucht, eine Aufgabe, deren ſich die Mojos auch 
zu unterziehen hatten. ö 

Selbſtverſtändlich mußte es dieſen Indianern ver⸗ 
boten ſein, ſelbſt in die Schlucht zu kommen. Aber mit 
welchen Gründen konnte man ihnen die geheimnisvolle 
und vielleicht lange währende Anweſenheit zweier Men⸗ 
ſchen in der Mordſchlucht erklären? Der Gambuſino 
ſann darüber nach und ſagte dann zu Perillo: „Dieſe 
Halunken ſind zu ſcharfſinnig, als daß wir ihnen mit 
gewöhnlichen Finten kommen dürfen. Wir müſſen nach 
einem Grund ſuchen, der mit der Religion zuſammen⸗ 
hängt; das iſt die einzige Möglichkeit, ſie zu täuſchen. 
Was meinſt du zu einem Gelübde?“ 

„Wahrhaftig! Da triffſt du gleich das allerbeſte. 
Wir haben in großer Todesnot das Gelübde getan, 
etwas Gott Wohlgefälliges, worauf wir ſchon noch kom⸗ 
men werden, in der Mordſchlucht vorzunehmen, wobei 
wir ungeſtört und einſam bleiben müſſen. Die Roten 
ſind alle außerordentlich abergläubiſch; ſie werden ſo 
voller Scheu und Ehrfurcht ſein, daß ſie ſicherlich nicht 
auf den Gedanken kommen, uns zu belauſchen.“ 

„Ja. Und wenn wir dann finden, was wir 
ſuchen, bringen wir ſie einfach um die Ecke. Das wird 
uns nicht viel Arbeit machen, da es vollſtändig genügt, 
wenn wir ihrer nur ſechs oder acht engagieren.“ 

Die beiden gewiſſenloſen Menſchen waren von den 
Mojos freundlich aufgenommen worden und hatten dem 
Häuptling ihren Wunſch mitgeteilt. Er war nicht nur 


— 529 — 


darauf eingegangen, ſondern ſogar bereit geweſen, ſich 
ſelbſt an dem Ritt nach der Mordſchlucht zu beteiligen. 
Das war ihnen freilich höchſt unangenehm; da aber eine 
Zurückweiſung für ihn eine große Beleidigung geweſen 
wäre und er dann gewiß auch ſeinen Leuten die Teil⸗ 
nahme verſagt hätte, ſo waren ſie wohl oder se ges 
zwungen, darauf einzugehen. 

Sie brachen alſo mit ihm und noch ſeben Mojos 
vom Guanacotal nach der Mordſchlucht auf, die ſo fern 
lag, daß ſie in einem Tage nicht erreicht werden konnte. 
Gegen Abend des erſten Tages waren ſie bis an den 
Saumpfad gekommen, der hinauf nach der Salina del 
Condor führte. Sie folgten ihm, bis es dunkel war, und 
dann wollte der Gambuſino an der erſten beſten Stelle 
Lager machen; da aber meinte das „ſpitze Meſſer“, der 
Häuptling: „Der ſcharfe Nordwind wird ſich bald er⸗ 
heben, und dann iſt es gut, wenn wir uns an einem 
Ort befinden, wo er uns nicht treffen kann.“ 

„Weißt du denn einen ſolchen?“ 

„Ja. Es iſt eine Höhle, die gar nicht weit von 
hier liegt, eine Höhle mit zwei Eingängen.“ 

„So führe uns hin!“ 

Sie ritten weiter, das „ſpitze Meſſer“ voran und 
die andern hinter ihm drein. Nach einiger Zeit blieb 
der Häuptling plötzlich halten und beugte ſich weit vor, 
um auszuſpähen. | 

„Was Haft du? Siehſt du etwas Verdächtiges?“ 
fragte ihn Perillo mit leiſer Stimme. 

„Ja,“ antwortete er. „Ich ſehe den Schein eines 
Feuers, das in der Höhle brennt.“ 

„So befinden ſich Menſchen drin! Wer mag es 
fein?” Ä 


May, Das Vermächtnis des Inka 34 


— 580 — 


„Ich werde es ſehen. Haltet mein Tier; bleibt 
hier und ſeid ſtill!“ 

Er glitt aus dem Sattel und huſchte weiter. Auch 
die Zurückgebliebenen ſtiegen von ihren Pferden. Es 
dauerte über eine Viertelſtunde, bevor er zurückkehrte: 
da meldete er: „Vor und ſeitwärts der Höhle weiden 
Maultiere, und drinnen ſitzen ſechs Männer am Feuer.“ 

„Indianer?“ fragte der Gambuſino. 

„Es ſind Weiße.“ 

„Wie bewaffnet?“ 

„Sehr gut.“ 

„Was treiben ſie?“ 

„Sie ſprechen miteinander. Drei reden Spaniſch, 
und die andern drei haben eine Sprache, von der ich 
kein Wort verſtehe.“ 

„Das iſt auffällig, höchſt auffällig. Ich werde 
ſelbſt nachſehen.“ 

Er winkte Perillo und ſchlich mit ihm vorwärts. 
Der Lichtſchein war ihr Wegweiſer, ſo daß ſie die Höhle, 
obgleich ſie dieſe nicht kannten, unmöglich verfehlen 
konnten. Als ſie in deren Nähe angekommen waren, 
legten ſie ſich nieder und krochen weiter, bis ſie den einen 
Eingang faſt erreicht hatten. 

„Wenn einer zufällig herauskommt, wird er uns 
ſehen!“ raunte Perillo dem Gambuſino zu. 

„Nein, außer er fällt über uns weg. Hier iſt es 
dunkel, drin aber hell; das blendet beim Heraustreten. 
Komm noch weiter heran!“ 

Sie ſchoben ſich noch ein wenig vor und lagen dann 
ſo, daß ſie in die Höhle ſehen konnten. Sie erblickten 
die beiden Arrieros und den Peon; die andern drei 
konnten ſie nicht ſehen, aber ſie hörten ſie ſprechen. 
Nach einigen Augenblicken zog der Gambuſino ſeinen 


Vi 


— 531 — 


Gefährten zurück, bis ſie ſich ſo weit entfernt hatten, 
daß ſie ſich wieder aufrichten konnten. 

„Haſt du ihn erkannt?“ fragte Perillo. 

„Wen?“ 

„Den Knecht des Wirtes in Salta.“ 

„Ja.“? 

„Aber die beiden andern kenne ich nicht.“ 

„Es ſind Arrieros, wie du ſchon an ihrer Kleidung 
ſiehſt. Ich habe ſie ſchon geſehen, kenne aber ihre Na⸗ 
men nicht. Haſt du eine Ahnung, was das für eine 
Sprache iſt, welche die drei andern ſprechen? Fran⸗ 
zöſiſch iſt es nicht, Portugieſiſch und Engliſch auch nicht.“ 

„Es klingt wie Deutſch. Ich habe in Buenos 
Aires oft Deutſche miteinander ſprechen gehört.“ 

„Demonio! Deutſch! Sollte etwa —“ 

„Wer? Was?“ 

„Still jetzt! Wir müſſen ſie unbedingt ſehen. Die 
Höhle hat noch einen Zugang. Wenn wir dorthin 
gehen, erblicken wir ſie wahrſcheinlich, weil ſie an der 
andern Seite des Feuers ſitzen. Komm!“ 

Sie ſchlugen einen Bogen, um nicht in den Bereich 
des Feuerſcheins zu gelangen, und näherten ſich dann 
von der andern Seite der zweiten Oeffnung, ebenſo krie⸗ 
chend wie vorher. 

Die Vermutung des Gambuſino erfüllte ſich; die 
drei Deutſchen waren zu ſehen. Engelhardt ſaß ſo, daß 
er den Lauſchern das Geſicht voll zukehrte, natürlich 
aber ohne ſie zu bemerken; der Doktor und Fritze waren 
im Profil zu ſehen. 

Der Gambuſino griff nach dem Arm Perillos und 
drückte ihn in ſeiner Aufregung ſo, daß der Stier⸗ 
kämpfer hätte laut aufſchreien mögen. Sein Atem 
ging hörbar, faſt röchelnd; doch beherrſchte er ſich und 


— 532 — 


gab Perillo einen Wink, ſich mit zu entfernen. Als ſie 
in Sicherheit gelangt waren, ſchimpfte er, indem er mit 
den Zähnen knirſchte: „Verwünſcht ſeien dieſe beiden 
Kerle! Wie kommen die hierher in die Höhle?“ 

„Der Teufel iſt ihr Führer geweſen!“ 

„Das muß ſo ſein! Er führt ſie uns immer in den 
Weg. Wir haben uns zwar geirrt, als wir den einen 
für Glotino hielten, aber ſie ſind uns doch gefährlich, 
denn ſie begegnen uns immer grad dann, wenn wir 
etwas Wichtiges vorhaben.“ 

„O, das iſt noch lange nicht das Gefährlichſte! Am 
bedenklichſten iſt jedenfalls der Umſtand, daß ſtets da, 
wo ſie ſind, ſich auch der Vater Jaguar befindet.“ 

„Das iſt wahr. Ich will doch nicht hoffen, daß der 
Teufel auch ihn herbeigeführt hat!“ 

„Was das betrifft, ſo iſt dem Teufel und dieſem 
Vater Jaguar alles zuzutrauen!“ 

„Mich beruhigt allerdings der Umſtand, daß nur 
ſechs Reitſättel in der Höhle liegen. Daraus iſt zu 
ſchließen, daß ſich nur die ſechs Perſonen hier befinden. 
Den Vater Jaguar haben wir alſo wenigſtens jetzt noch 
nicht zu befürchten.“ 

„Was tun wir? Reiten wir etwa weiter? Ich 
möchte dieſen beiden kleinen Deutſchen endlich einmal 
einen Denkzettel anhängen.“ 

Der Gambuſino blickte eine Weile ſinnend vor ſich 
nieder und antwortete dann: „Ich habe einen Ge⸗ 
danken — —“ 

„Nun?“ 

„Sie ſind uns eigentlich ungefährlich, und wenn ich 
auch nicht ſo dumm bin, mir eines Menſchenlebens we⸗ 
gen ſchwere Gedanken zu machen, ſo halte ich es doch 
für überflüſſig, ſie zu töten. Wenn wir ſie feſtnehmen, 


— 533 — 


ſo beſitzen wir in ihnen zwei Geiſeln gegen den Vater 
Jaguar, falls er ſich wirklich hier befinden ſollte.“ 

„So meinſt du, daß wir ſie mit uns herumſchleppen 
ſollen?“ 

„Hm! Unbequem würde es fein; aber ich habe 
einen Grund, es dennoch zu tun: ſie ſind reich.“ 

„Meinſt du?“ 

„Ja. Wer ſolche Reiſen macht, muß reich ſein. 
Aber es gibt noch einen zweiten Grund. Kennſt du den 
Dritten, den blonden Deutſchen, der bei ihnen ſitzt?“ 

„Nein.“ 

„Und biſt doch in Peru drüben, in Lima geweſen!“ 

„Iſt er von dort?“ 

„Ja. Ich habe ihn wiederholt geſehen; er aber 
kennt mich jedenfalls nicht. Haſt du einmal den Namen 
Engelhardt gehört?“ 

„Meinſt du etwa den ſteinreichen Bankier in Lima, 
den Millionär?“ 

„Ja.“ 

„Iſt der es etwa?“ 

„Ja, er iſt's. Es gibt gar keinen Zweifel, denn ich 
kenne ihn genau. Denke, welch ein Löſegeld!“ 

„Hei, das iſt ein herrlicher Gedanke! Falls aus 
unſrem Schatze nichts wird, könnten wir uns durch 
dieſen Engelhardt entſchädigen. Er müßte zahlen, ſein 
halbes Vermögen hergeben, um wieder frei zu ſein.“ 

„Wieder frei? Damit er uns dann verraten kann? 
Dummheit! Erſt zahlt er, und dann — — verſchwindet 
er. Biſt du dabei? Selbſt wenn wir deinen Schatz 
finden, können wir das Löſegeld dieſes Burſchen noch 
mitnehmen.“ 

„Du haſt recht, vollkommen recht. Alſo wir neh⸗ 
men ihn und die beiden Kleinen?“ 


— 584 — 


„Ja.“ 

„Und was wird mit den andern?“ 

„Weggeputzt. Drei Kugeln oder Meſſerſtiche.“ 

„Diablillo! Du machſt kurzen Prozeß; aber es iſt 
ganz richtig ſo. Es fragt ſich nur, ob die Indianer mit⸗ 
machen werden.“ 

„Wir verſprechen ihnen Anteil an der Beute, ge⸗ 
ben ihnen aber ſtatt deſſen ſpäter die Kugel. Warte 
hier, bis ich wiederkomme!“ 

Er entfernte ſich vorſichtig, während Perillo ſich 
niederlegte und an die Erde ſchmiegte. Als der Gam⸗ 
buſino zurückkehrte, kam er nicht allein, ſondern brachte 
den Häuptling und ſechs Indianer mit; der ſiebente 
war bei den Tieren geblieben, um dieſe zu bewachen. 

„Sie ſind einverſtanden,“ flüſterte er Perillo zu. 
„Der Bankier für uns und die Kleinen für ſie. Aber 
töten wollen ſie niemand. Wir müſſen alſo die Ar⸗ 
rieros und den Peon auf uns nehmen; darum habe ich 
dir dein Gewehr mitgebracht.“ 

„Gib her! Von weſſen Kugeln die Kerls fallen, ob 
von den unſrigen oder von denen der Roten, das bleibt 
ſich gleich. Wann ſoll es losgehen?“ 

„Sofort. Wir beide ſchleichen uns hinüber auf die 
Seite, wo die Arrieros ſitzen, und die Indianer huſchen 
an die diesſeitige Oeffnung der Höhle. Sobald unſre 
Schüſſe fallen, dringen ſie in dieſe ein und werfen ſich 
auf die Deutſchen, die ſofort entwaffnet und gebunden 
werden. Es iſt alles verabredet. Komm!“ 

Sie begaben ſich nach der andern Seite und näher⸗ 
ten ſich dem Eingang ſo weit, daß ſie ihre Opfer ſitzen 
ſehen konnten. 

„Ich nehme die beiden Arrieros und du den Peon,“ 
flüſterte der Gambuſino ſeinem Mordgenoſſen zu. 


— 535 — 


„Wir ſchießen ſie durch die Köpfe; das iſt das aller⸗ 
ſicherſte. Wenn ich ‚drei‘ ſage, drückſt du ab. Biſt du 
bereit?“ N 

„Ja,“ antwortete Perillo, indem er ſein Gewehr 
anlegte. 

„So ziel gut! Alſo — eins — zwei — dreil“ 

Er rief das letzte Wort mit lauter Stimme und 
drückte dann ſchnell hintereinander ſeine beiden Läufe 
ab; Perillo ſchoß gleichzeitig. Die drei armen, nichts 
ahnenden Menſchen ſtürzten, durch die Köpfe getroffen, 
nieder. Zu gleicher Zeit erhoben die Indianer ein 
markdurchdringendes Geheul und drangen in die Höhle 
ein. Das geſchah alles in der Zeit von einigen Augen⸗ 
blicken, ſo daß die Deutſchen niedergeriſſen und gebun⸗ 
den waren, ehe ſie nur den Gedanken an eine Gegen⸗ 
wehr zu faſſen vermochten. Dann machten ſich die Ro⸗ 
ten über die Erſchoſſenen her und ſchleppten ſie ins 
Freie, wo ſie ihnen alles nahmen, was bei ihnen zu 
finden war. 

Der Gambuſino ſchürte das Feuer heller und ſtellte 
ſich dann mit Perillo ſo vor die Gefangenen, daß dieſe, 
die ſich von ihrem Schrecken noch nicht erholt hatten, 
ihre Feinde deutlich ſehen konnten. 

„Willkommen hier oben in den Bergen, Seßores!“ 
redete er ſie höhniſch an. „Ich bin ganz entzückt, Sie 
hier zu ſehen. Es ſcheint mir beſchieden zu ſein, mich 
immer wieder an Ihrem Anblick erquicken zu dürfen. 
Wie geht es Ihnen?“ | 

„Sehr gut, Senor,“ antwortete Fritze, der ſich zu⸗ 
erſt gefaßt hatte, und nun in dieſer Weiſe antwortete, 
um dem Gambuſino die Freude zu verderben, ihn klein⸗ 
laut und erſchreckt zu ſehen. „Wenn es Ihnen ſo ums 
Herz wäre, wie mir, könnte man Sie beneiden.“ 


— 536 — 


„Ihr Herz geht mich weniger an als Ihr Geld⸗ 
beutel. Wie ſteht es mit dieſem? Sind Sie reich?“ 

„Sehr.“ 

„So können Sie ein Löſegeld zahlen?“ 

„Ja.“ 

„Aber Sie haben kein Geld mit?“ 

„Leider iſt es ſo. Es liegt bei meinem Bankier.“ 

„Das tut nichts. Sie werden mir eine Anweiſung 
geben. Wie ſteht es mit Ihrem Gefährten?“ 

Damit war Doktor Morgenſtern gemeint; Fritze 
antwortete für ihn: „Der arme Teufel hat weiter 
nichts, als was in ſeiner Taſche ſteckt, eine Handvoll 
Bolivianos; das iſt alles.“ 

„So muß er ſterben. Ich könnte ihn nur gegen 
ein Löſegeld freigeben.“ 

„Fällt ihm nicht ein, zu ſterben, da er weiß, daß 
ich für ihn bezahle. Wie hoch ſoll die Summe ſein?“ 

„Zehntauſend Bolivianos für beide; das iſt die ge⸗ 
ringſte Summe, die ich fordern darf.“ 

„Schön! Sollen Sie haben! Geben Sie mir 
Tinte, Feder und gutes, weißes Papier, ſo ſoll die An⸗ 
weiſung ſofort geſchrieben werden!“ 

„Nur langſam! Es hat keine ſo große Eile. Ich 
muß doch auch mit dieſem Senor ſprechen.“ 

Er pflanzte ſich breitſpurig vor Engelhardt auf 
und fragte ihn: „Kennen Sie mich N Senor 
Engelhardt?“ 

„Nein,“ antwortete der Gefragte, der ſein Herz er⸗ 
leichtert fühlte, da es ſich nicht um ſein Leben, ſondern 
nur um ein Löſegeld zu handeln ſchien. 

„Nicht? Nun, das ſchadet nichts, denn Sie wer⸗ 
den mich kennen lernen, und wenn Sie ſich bereitwillig 
zeigen, wie dieſer kleine Seüor, der keinen einzigen von 


— 587 — 


den zehntauſend Bolivianos abgehandelt hat, jo wird 
unſre Bekanntſchaft eine für beide Teile ſehr angenehme 
ſein.“ 

„Wieviel verlangen Sie für meine Freiheit?“ 

„Das wird ſich finden, nachdem ich erfahren habe, 
wie hoch ſich Ihr Beſitz beläuft. Ich pflege nämlich 
nach Prozenten zu rechnen und — —“ 

Er wurde unterbrochen, und zwar von dem Häupt⸗ 
ling, der haſtig hereintrat und ihm einen Wink gab, auf 
die Seite zu kommen. Als er dieſem Wink gefolgt war, 
flüſterte ihm das „ſpitze Meſſer“ zu: „Wir ſind nicht 
ſicher; wir werden belauſcht. Einer meiner Leute hatte 
eine Geſtalt geſehen, die an der Erde herbeigekrochen 
kam.“ 

„Vielleicht irgend ein Tier!“ 

„Nein, Senor; es war ein Menſch, denn als er 
ſah, daß er bemerkt worden war, ſprang er auf und lief 
davon.“ 

„Habt ihr ihn nicht verfolgt?“ 

„Wer kann das in der Finſternis, die draußen 
herrſcht? Der Mann iſt in einem einzigen Augenblick 
verſchwunden geweſen.“ 

„Qué disgusto! So müſſen wir augenblicklich 
fort. Wer weiß, wer ſich hier herumtreibt.“ 

„Gewiß der Vater Jaguar,“ antwortete Antonio 
Perillo, der ſo nahe ſtand, daß er die Meldung des 
Häuptlings gehört hatte. 

„Nein, dieſer ſicher nicht, denn wenn er es wäre, 
ſo würde er nicht zögern, über uns herzufallen, um die 
Gefangenen zu befreien. Aber mag es ſein, wer es 
will; er ſoll uns nichts anhaben; wir führen ihn irre.“ 

Er trat das Feuer aus, damit es nicht zum Ver⸗ 
räter werden möge, und erteilte noch einige leiſe Be⸗ 


— 538 — 


fehle. Einige Indianer holten die Maultiere der Ge⸗ 
fangenen und Erſchoſſenen zuſammen, und andre nah⸗ 
men die gefeſſelten Deutſchen auf und trugen ſie nach 
der Stelle, wo der Indianer die Tiere bewachte. Dort 
gab es ein kurzes Durcheinander, und dann hörte man, 
daß ſich der Trupp entfernte, aber nicht in der Richtung 
der Salina del Condor, ſondern in die entgegengeſetzte. 
Der vorher ſo belebte Platz lag wieder ſtill und laut⸗ 
los da. 

Wirklich lautlos? Doch nicht ganz, denn gar nicht 
weit von der Höhle, wo ſie hart an die Felswand ge⸗ 
ſchmiegt gelegen hatten, erhoben ſich zwei dunkle Ge⸗ 
ſtalten, und eine Stimme flüſterte: „Sie haben dich 
geſehen; darum ſind ſie fort. Wie leicht konnten ſie 
dich ergreifen, o Herrſcher!“ 

„Mich niemals, lieber Anciano,“ antwortete Hau⸗ 
karopora, der Sohn des Inka. „Sie haben eine falſche 
Richtung eingeſchlagen, um uns irre zu leiten; aber wir 
laſſen uns nicht täuſchen. Unſre Füße ſind ſchneller 
als die Hufe ihrer Pferde. Sie reiten ſicher nach der 
Salina. Laß uns ihnen dorthin voraneilen, um dem 
Vater Jaguar ihr Nahen zu verkünden!“ 

Die beiden Nachkommen der alten Peruaner ver⸗ 
ſchwanden im Dunkel der Nacht. Sie waren vom Va⸗ 
ter Jaguar als Kundſchafter ausgeſandt worden, um 
ihm die Annäherung des Gambuſino zu melden. Dieſer 
letztere hatte zwar anfänglich einen Vorſprung von 
einem Tag gehabt; da er aber erſt zu den Mojos⸗ 
indianern geritten war, während der Vater Jaguar mit 
ſeinen Leuten das Ziel direkt hatte aufſuchen können, 
ſo war dieſer weit eher als der Gambuſino an der Bar⸗ 
ranca angekommen, in deren Nähe er jetzt mit ſeiner 
Schar lagerte. 


Achtzehntes Kapitel 


Das Vermächtnis des Inka 


Der Name Barranca del Homicidio, alſo Mord⸗ 
ſchlucht, war ein unheimlicher, und die Umgebung dieſes 
Ortes, die ganze Gegend, ſtand im Einklang mit dem 
Eindruck, den dieſe Bezeichnung machte. Die Vormit⸗ 
tagsſonne verſchwendete ihre Wärme an ein Bild troſt⸗ 
loſer Einſamkeit. Leblos und kahl erhoben ſich im 
Weſten die Rieſen des Gebirges; öde ſtanden rings die 
Felſenhöhen in der Nähe und weder an ihren Hängen 
noch in den Tälern war eine Spur von Vegetation zu 
bemerken. 

Was die Schlucht ſelbſt betraf, ſo fiel ſie ſo ſteil in 
die Tiefe hinab, daß nur Fußgänger, aber nicht Reiter, 
und ſelbſt erſtere nicht leicht, hinabkommen konnten. 
Auch hier gab es, weder an den Seiten noch auf dem 
Grunde der Schlucht, irgend eine Art von Pflanzen⸗ 
wuchs, und nur an deren Rand, da wo die Reiter ab⸗ 
geſtiegen waren, ſah man einige halb aus der Erde ge⸗ 
riſſene Wurzeln, deren Stengel von früher Dageweſenen 
als Feuerungsmaterial benutzt worden waren. Hier 
oben gab es nur glatten Fels, auf dem ſelbſt die Hufe 
der Maultiere kaum eine Spur zurücklaſſen konnten; 
die Tiefe aber war angefüllt von Geſteinstrümmern, die 
ſich im Lauf der Zeit von den Wänden abgelöſt hatten 


— 540 — 


und hinuntergeſtürzt waren. Nicht weit von den La⸗ 
gernden, vielleicht fünfzig Schritt von der Schlucht ent⸗ 
fernt, lag ein großer Felsblock, welcher auf der der 
Schlucht abgewendeten Seite überhing und ſo einen 
Raum zum Unterſchlüpfen bildete, worin eine Perſon 
bequem Schutz gegen Wind und Wetter finden konnte. 
Der Vater Jaguar ſagte zu Anciano, indem er auf 
dieſen Fels deutete: „Unter dieſem Stein hat wohl 
Antonio Perillo gelegen, als er den Inka belauſchte, ehe 
er ihn dann am folgenden Morgen weiter unten ermor⸗ 
dete. Es gibt hier oben keine andre Stelle, wo man ſich 
verbergen kann. Und dort unten in der Tiefe ruht 
ſchweigſam das Geheimnis des Schatzes.“ 

Die beiden ſprachen jetzt in Gegenwart aller an⸗ 
dern von dem Schatz, und bedienten ſich dabei des Wor⸗ 
tes Inka, denn der alte Anciano und Haukaropora 
hatten während der letzten Tage ihre ſcheue Zurückhal⸗ 
tung mehr und mehr aufgegeben. Anciano erwiderte 
bejahend: „Da drüben, unterhalb des jenſeitigen Ab⸗ 
grunds, iſt die Stelle, die der Gambuſino und Perillo 
ſuchen wollen.“ 

„Du kennſt ſie natürlich?“ fragte Hammer. 

„Ja.“ 

„Auch Hauka?“ 

„Nein. Für ihn iſt es bisher ein Geheimnis ge⸗ 
weſen, da er erſt ſeit kurzer Zeit das Alter erreicht hat, 
wo er nach dem Willen ſeines Vaters das Geheimnis 
vollſtändig erfahren ſoll.“ 

„Er erfährt es von dir?“ 

„J a.“ 

„So biſt du ganz darin eingeweiht?“ 

„Nur ſoweit es notwendig iſt, um Hauka den Weg 
zu zeigen.“ 


— 541 — 


„Liegt der Schatz vergraben in der Erde? Ich 
meine, ob man ein Loch gegraben und dann wieder zu⸗ 
geſchüttet hat?“ 

„Nein; er befindet ſich in einer Höhle, in einem 
alten Stollen, den unſre Vorfahren gegraben haben, um 
nach Gold oder Silber zu ſuchen. Sie haben aber nichts 
gefunden, und als ſie dann gar einen breiten, unter⸗ 
irdiſchen Querſpalt erreichten, der ſo tief war, daß man 
keinen hinuntergeworfenen Stein auffallen hörte, gaben 
ſie das Graben auf und ſchütteten den Eingang des 
Stollens zu. Die Lage des Stollens blieb aber bekannt, 
und als der Vorfahre Haukaroporas floh, wendete er 
ſich mit den Treuen, die bei ihm waren, hierher und ver⸗ 
barg darin alles, was er von ſeinen Schätzen gerettet 
hatte. Die Feinde folgten ihnen ſpäter und überfielen 
ſie. Alle wurden getötet, außer zweien, welche entka⸗ 
men; der eine war der Inka und der andre mein Ahne. 
Das Geheimnis erbte ſich auf die Nachkommen dieſer 
beiden, bis auf Haukaropora und mich, fort. Ich weiß, 
wo die Höhle liegt, bin aber noch nie in deren Innern 
geweſen, da nur mein Herr, der Vater Haukaroporas, 
das Recht hatte, ſie zu betreten. Heute werde ich Hauka 
den Eingang zeigen, und wenn er es mir erlaubt, darf 
ich dabei zum erſtenmal ſehen, welche Gegenſtände die 
Höhle birgt.“ 

„Natürlich erlaube ich es dir, mein alter, treuer 
Anciano,“ fiel da Haukaropora ein. „Du biſt mein 
zweiter Vater, und was mir gehört, das iſt auch dein 
Eigentum.“ 

„Ich danke dir,“ antwortete der Alte erfreut. „Ich 
wünſche mir nichts als die Fortdauer deiner Liebe. 
Dennoch habe ich einen großen Wunſch, um deſſen Er⸗ 
füllung ich dich bitte.“ 


— 642 — 


„Sage ihn!“ 

„Du ſollſt die Höhle nur nach der Erreichung eines 
gewiſſen Alters betreten, eines Alters, worin die Unvor⸗ 
ſichtigkeit der erſten Jugend überwunden iſt. Das hat 
einen ſehr triftigen Grund. Der Stollen iſt nämlich 
nicht ohne Gefahr zu betreten. Worin dieſe Gefahr be⸗ 
ſteht, das weiß ich nicht. Dein Vater, mein früherer 
Herr, wollte es mir noch mitteilen; da er aber ermordet 
worden iſt, hat er keine Zeit gefunden, dies zu tun.“ 

„So haſt du keine Ahnung davon?“ 

„Eine Ahnung allerdings, aber keine Gewißheit. 
Du weißt, daß unſre Vorfahren ein Feuer herzuſtellen 
verſtanden, das jahrhundertelang verborgen ruhen kann, 
dann aber, wenn es flüſſig gemacht wird, mit unwider⸗ 
ſtehlicher Gewalt alles zerſtört, was es ergreift. Viel⸗ 
leicht gleicht es dem jetzigen Schießpulver, von dem 
unſer Volk nichts wußte, bis es dasſelbe bei den Spa⸗ 
niern ſah. Aus einigen Andeutungen deines Vaters 
vermute ich, daß die Höhle von einem ſolchen Feuer be⸗ 
wacht wird, das jeden Unberechtigten, der den Stollen 
betritt, vernichten ſoll.“ 

„Dann iſt es allerdings gefährlich dem Schatz zu 

nahen!“ 
„Ja. Und darum möchte ich dich bitten, auch den 
Vater Jaguar mitzunehmen. Seine Augen ſind die 
ſchärfſten und erfahrenſten von allen, ſo daß er dieſes 
verborgene Feuer jedenfalls eher entdecken wird als 
wir.“ 

„Er ſoll mitgehen. Ich hätte ihn auch ohnedies 
darum gebeten. Und auch mein lieber Freund Antonio 
mag bei uns ſein, damit er zu den erſten gehört, die den 
Schatz ſehen. Oder fürchteſt du die Gefahr des verbor⸗ 
genen Feuers?“ 


— 543 — 


Dieſe Frage war an Anton Engelhardt gerichtet, 
der ſogleich antwortete: „Ich fürchte mich nicht. Wie 
das Pulver, ſo wird auch euer Feuer erſt dann gefährlich 
ſein, wenn es angezündet wird, alſo wenn man es mit 
andrem Feuer in Berührung bringt, und dies zu tun, 
werden wer uns doch hüten.“ 

„Wenn wir vorſichtig ſind, haben wir jedenfalls 
nichts zu befürchten,“ ſtimmte der Vater Jaguar bei, 
„Ihr wollt die Höhle alſo ſchon heute aufſuchen?“ 

„Ja,“ nickte Anciano. 

„Noch vor der Ankunft unſrer Feinde?“ 

„Noch vorher.“ 

„Ich möchte raten, zu warten. Wir würden Spu⸗ 
ren zurücklaſſen, wodurch wir leicht unſre Anweſenheit 
verraten könnten.“ 

„Haben wir denn nicht Zeit, dieſe Spuren ſo zu 
vertilgen, daß ſie nicht zu bemerken find, Senor? Der 
Gambuſino kann vor morgen nicht da ſein, und jetzt 
haben wir erſt Vormittag. Es ſteht zu erwarten, daß 
es morgen zum Kampf kommt; wenn ich dabei getötet 
würde, ſo könnte ich meinem jungen Herrn den Ort 
dann nicht zeigen und die ganze Erbſchaft würde ver⸗ 
loren gehen.“ 

„Du brauchſt dich nur am Kampf nicht zu be⸗ 
teiligen!“ | 

„Senor, was trauen Sie mir zu!“ rief da der Alte 
aus. „Wir wollen den Mörder meines ermordeten 
Herrn ergreifen, und ich ſollte dabei meine Arme und 
meine Waffen ruhen laſſen? Verlangen Sie von mir 
alles, aber nur dieſes nicht!“ 

„Gut! Ich kann begreifen, was du denkſt und 
fühlſt. Du magſt alſo deinen Willen haben. Aber ehe 
wir nach dem Stollen ſuchen, müſſen wir an andres 


— 544 — 


und Notwendigeres denken. Wir ſind vielleicht gezwun⸗ 
gen, mehrere Tage hier zu bleiben. Für uns iſt Pro⸗ 
viant genug vorhanden, aber wir müſſen auch für unſre 
Maultiere ſorgen. Waſſer und Gras gibt es nur unten 
an der Salina del Condor für ſie; leider dürfen wir dort 
nicht lagern, weil unſre Gegner über die Salina kom⸗ 
men werden. Wir müſſen alſo nach einem andern Ort 
ſuchen, und wenn er noch ſo ſehr entlegen von hier wäre, 
wo unſre Tiere trinken und weiden können.“ 

„Was das betrifft, da brauchen Sie ſich keine Sorge 
zu machen, Seßor. Eine Reitſtunde von hier liegt ein 
tiefes Loch, worin es immerfort Waſſer gibt und an 
deſſen Rand Gras wächſt. Haukaropora und ich ſind 
wohl die einzigen Menſchen, die dieſen Ort kennen. Ich 
werde Sie hinführen.“ 

„Ein tiefes Bergloch? Können denn da unſre 
Tiere hinab?“ 

„Für Pferde würde der Abſtieg unmöglich ſein; 
unſre Maultiere aber kommen gewiß hinunter. Wir 
wiſſen freilich nicht, ob wir ſie zur etwaigen Verfolgung 
unſrer Feinde hier in der Nähe bedürfen.“ 

„Dies abzuwarten, haben wir genugſam Zeit. 
Fürs erſte kannſt du, wenn wir uns ein wenig ausge⸗ 
ruht haben, die andern nach dem Bergloch führen; ich 
bleibe mit Haukaropora und Anton, die mit in die Höhle 
ſollen, hier, um deine Rückkehr zu erwarten.“ 

Es läßt ſich denken, daß auch die andern Mitglieder 
der Geſellſchaft ſich außerordentlich gern an der Auf⸗ 
ſuchung des Schatzes beteiligt hätten, doch ſprachen ſie 
dieſen Wunſch nicht aus, ſondern fügten ſich in die ge⸗ 
troffene Anordnung und ritten nach einer Weile unter 
der Anführung des alten Anciano fort, um den verbor⸗ 
genen Waſſer⸗ und Weideplatz aufzuſuchen. Der Vater 


— 545 — 


Jaguar ſah ihnen nach, bis ſie verſchwunden waren, 
und wendete ſich dann an Haukaropora, der mit Anton 
Engelhardt am Rand der Schlucht ſaß und nachdenklich 
hinabblickte: „Getrauſt du dir, den Stollen zu finden, 
ohne daß Anciano dir die Stelle zeigt?“ 


„Nein,“ antwortete der Sohn des Inka. „Mein 
Vater hat den Eingang jedenfalls ſo unkenntlich ge⸗ 
macht, daß ihn kein Menſch entdecken kann.“ 


„Wollen einmal ſehen! Nun ich weiß, daß in der 
Schlucht etwas verborgen iſt, halte ich es nicht für un⸗ 
möglich, die Stelle zu finden. Ich werde es verſuchen 
und jetzt hinabſteigen. Bleibt indeſſen hier! Es ſteht 
zwar nicht zu erwarten, daß jemand kommen wird, aber 
ihr dürft doch immerhin die Augen offen halten. Ihr 
könnt von hier aus die Gegend überſehen. Solltet ihr 
die Annäherung eines Menſchen bemerken, ſo ruft ihr 
mich; ich werde eure Stimme hören.“ 

Er ſtieg mit gewandten Schritten die ſteile Felſen⸗ 
böſchung hinab. Sie folgten ihm mit ihren Blicken, bis 
er unten angekommen war, und dann meinte Hauka, 
indem er verneinend den Kopf ſchüttelte: „Er findet 
den Ort nicht. Er iſt ein berühmter Mann, berühmter 
als alle, die ich kenne, aber die Stelle wird ſelbſt für ihn 
unkenntlich ſein.“ 

„Haſt du nicht ſein Lächeln geſehen, als du dieſes 
behaupteteſt?“ fragte Anton. „Er ſcheint überzeugt zu 
ſein, daß er die Höhle entdeckt, und ich glaube, daß dies 
wirklich geſchieht. Heute wirſt du reich werden, ſehr 
reich, jedenfalls noch viel reicher, wie ich bin oder viel⸗ 
mehr wie mein Vater iſt. Haben deine Vorfahren denn 
wirklich ſo viel Gold und Silber gehabt, wie erzählt 
wird und wie man in den Büchern lieſt?“ 

May, Das Vermächtnis des Inka. 385 


— 546 — 

„Gewiß. Damals, als die Inkas von den Spa⸗ 
niern überfallen und ausgeraubt wurden, haben viele, 
viele Reiche des Landes ihre Koſtbarkeiten vergraben 
oder in andrer Weiſe verſteckt, und nach ihrem Tode hat 
niemand gewußt, wo es verborgen iſt. So liegen nun 
Millionen und aber Millionen in der Erde verſteckt, die 
keinem Menſchen — — Schaden bringen können.“ 

„Schaden? Wollteſt du nicht Nutzen ſagen?“ ö 

„Nein, ſondern Schaden. Die großen Reichtümer 
meines Volkes ſind ſchuld, daß es untergegangen iſt. 
Wäre es arm geweſen, ſo hätten die Spanier, als ſie 
nach Peru kamen, ſich entfernt, ohne wiederzukommen. 
Weißt du, wie der unglücklichſte aller meiner Ahnen be⸗ 
trogen worden iſt?“ 

„Nein.“ 

„Als er gefangen war, wurde er in einen großen, 
weiten Saal gebracht, und Pizarro, der Eroberer, zog 
mit der Spitze ſeines Schwertes, ſo hoch er reichen 
konnte, einen Strich um die vier Wände hin und ver⸗ 
ſprach ihm die Freiheit, wenn er den Saal bis an den 
Strich hinauf mit Gold und Silber füllen werde. Der 
Inka kam dieſer Forderung nach, aber der Spanier hielt 
nicht Wort. Der Saal wurde zum zweitenmal bis an 
den Strich gefüllt, und auch da hielt der Lügner ſein 
Verſprechen nicht. Er war ein Chriſt, der dann die 
Lehre von der Wahrheit und von der Liebe gewaltſam 
im Lande verbreiten ließ. Du ſiehſt, daß der Reichtum 
mein Volk ins Verderben gebracht hat.“ 

„Ja, zwei große Säle voller Gold und Silber! 
Sollte man dies für möglich halten!“ 

„Du wunderſt dich? Dann weißt du nichts von 
den Schätzen, die in den beiden Sonnentempeln zu 
Kuzko und Tſchukitu, in den Tempeln von Huanakauri, 


— 547 — 


Katſcha, Vilikanota und an den vielen andern heiligen 
Orten, welche Huakas genannt werden, zu finden wa⸗ 
ren. Im Sonnentempel zu Kuzko gab es über vier⸗ 
tauſend Prieſter und Diener. Alle Türen hatten maſſiv 
goldene Pfoſten, und die Fenſteröffnungen waren mit 
Smaragden und andern Edelſteinen ausgekleidet. Alle 
Wände waren mit Goldplatten getäfelt. Da ſtanden 


die Bildſäulen der Götter und Göttinnen aus purem 


Gold und diejenigen der Inkas aus reinem Silber. Es 
gab da unzählige Gefäße und Gerätſchaften, alle aus 
edlen Metallen gefertigt. Aus den fünf Quellen der 
umliegenden Berge führten goldene Röhren das Waſſer 
in goldene oder ſilberne Becken, zum Trinken, zum Rei⸗ 
nigen der Gefäße und zum Baden der Opfertiere. Soll 
ich dir noch mehr erzählen? Haſt du eine Zahl, ein 
Maß für den Wert ſolcher Reichtümer?“ 

„Nein, nein! halt ein; es wird mir angſt dabei! 
Wenn du von ſolchen Gebäuden, Bildſäulen und Ge⸗ 
fäßen redeſt, muß es bei euch große Künſtler gegeben 
haben.“ 

„Es hat ſie gegeben, obgleich unſre Kunſt eine 
andre als die eurige war.“ 

„Und die Wiſſenſchaft?“ 

„Ich bin ein Knabe, in der Einſamkeit der Berge 
aufgewachſen, und kann nicht von dem ſprechen, was 
ihr Wiſſenſchaft nennt. Aber gelehrte Leute hatten 
auch wir. Denke nur an die Kippu⸗Kamayoks, von 
denen du wohl gehört haben wirſt.“ 

„Ja, das waren eure Schriftgelehrten; aber eure 
Schrift beſtand nicht aus Buchſtaben und Wörtern wie 
die unſrige, ſondern aus Schnüren, in welche Knoten 
geknüpft wurden. Wie iſt es möglich, ſolche Schnüre 


— 548 — 


ſo zu leſen, wie wir unſre Bücher, Zeitungen und an⸗ 
dern Schriften leſen!“ 

„Das war freilich eine nicht leichte Kunſt, und 
nicht jeder konnte wie bei euch das Leſen und Schreiben 
erlernen. Ein ſolcher Kippu konnte nur von einem 
Schriftgelehrten, welcher Kamayok genannt wurde, ge⸗ 
knüpft oder geleſen werden. Es wurden nur die zuver⸗ 
läſſigſten Leute zu Kippu⸗Kamayoks gewählt, und in 
jedem Dorf fanden ſich Kippuverwalter, die ihre Kunſt 
nur auf ihre Nachkommen vererbten. Mein alter An⸗ 
ciano ſtammt aus einer ſolchen Familie und würde 
heut noch jeden Kippu, den er fände, leſen und entzif⸗ 
fern können.“ 

„Kannſt du das auch?“ 

„Ja, denn ich bin der Nachkomme der Herrſcher, 
die vor allen Dingen dieſe Kunſt verſtehen mußten. 
Bring mir ein Schnurenbündel, und ich leſe es dir ſo 
vor, wie du die Worte eines Briefes vom Papier lieſeſt. 
Mein Vater hat mich in allem unterrichtet, was ein 
Inka wiſſen muß, denn er glaubte, unſer Reich könne 
wieder erſtehen und ich würde —“ 

Er hielt inne und blickte ſtill vor ſich nieder. Seine 
ſo ernſten Züge nahmen jetzt den Ausdruck düſterer 
Trauer an. Dann holte er tief Atem und fuhr fort: 
„Er glaubte es vordem, ſpäter aber nicht mehr, wie mir 
Anciano jetzt erſt mitgeteilt hat. Auch ich habe ſtets die 
Hoffnung gehegt, daß das Tote wieder lebendig werden 
könne, nun aber, ſeit ich dich kenne, habe ich dieſe Hoff⸗ 
nung aufgegeben.“ 

„Seit du mich kennſt?“ fragte Anton betroffen. 
„So meinſt du, ich ſei ſchuld daran?“ 

„Ja, doch ohne daß du es beabſichtigt haſt. Ich 
kannte nur meine Berge und die Wildnis der Wälder; 
ich hatte immer nur von meinem Volk, nicht aber von 


andern Völkern gehört. Da lernte ich dich kennen, und 
du erzählteſt mir von vielen Nationen und Reichen; ich 
weiß erſt jetzt, wie groß die Erde iſt, und wie klein da⸗ 
gegen ein Menſch, ein einſamer Knabe, obgleich ſeine 
Ahnen einſt mächtige Sonnenſöhne waren. Ich habe 
geträumt und bin erwacht und würde, ſelbſt wenn ich 
heute alle Reichtümer der Erde da unten in der Schlucht 
vorfände, nie wieder in den trügeriſchen Traum zurück⸗ 
verfallen. Die Geſchichte meines Volkes iſt zu Ende; 
die Vergangenheit geht mich nichts mehr an, und ich 
will nun nur noch vorwärts blicken. Ich möchte ler⸗ 
nen, was du gelernt haſt; ich möchte ein Mann werden, 
wie diejenigen waren oder ſind, von denen du mir er⸗ 
zählteſt. Darum werde ich meine Berge verlaſſen und 
dahin gehen, wo dieſer Wunſch Erfüllung findet. Der 
Vater Jaguar ſoll mir raten, und was er ſagt, das 
werde ich tun. Das könnte ich nicht, wenn ich arm 
wäre; darum freut es mich, jetzt das Vermögen und das 
Vermächtnis meines Vaters vor mir zu haben. Hätte 
es nicht dieſen Zweck, ſo würde ich alles Gold und Sil⸗ 
ber, das meiner wartet, verachten, denn es wäre leicht 
möglich, daß es auch mir das brächte, was es meinen 
Ahnen gebracht hat, das Verderben, den Tod, den Un⸗ 
tergang.“ 

Er hatte ſehr langſam und in verſchiedenen Ab⸗ 
ſätzen geſprochen. Jetzt ſtand er auf und entfernte ſich, 
als ob er in der Einſamkeit über das Geſagte weiter 
nachdenken wolle. Anton folgte ihm nicht; er fühlte 
trotz ſeiner Jugend, daß der Freund an einem bedeut⸗ 
ſamen Wendepunkt ſtehe und feine Entſchlüſſe aus 
ſeinem eigenen Innern ſchöpfen müſſe. 

Als der Inka nach einiger Zeit wiederkam, hatte 
ſein Geſicht einen beinahe heiteren Ausdruck angenom⸗ 


— 590 — 


men. Er reichte dem jungen, weißen Freund die Hand 
und ſagte: „Du willſt jetzt nach Lima und dann in das 
Land deiner Väter nach Deutſchland hinüber, um noch 
mehr zu lernen. Ich weiß von dir, welch ein Land 
dies iſt und welch ein Volk da wohnt. Würdeſt du mich 
mit hinübernehmen?“ 

„Gern, gar zu gern!“ antwortete Anton, indem er 
überraſcht aufſprang. „Haſt du dieſe Worte im Ernſt 
geſprochen?“ N 

„Ja; aber ich will vorher mit dem Vater Jaguar 
und mit Anciano reden. Ohne den treuen Alten ginge 
ich nicht fort von hier.“ 

„Er geht mit; er geht mit. Er betrachtet dich als 
ſeinen Gebieter und wird tun, was du beſtimmſt.“ 

„Aber er iſt ſo alt und verſteht die Sprache deines 
Vaterlandes ebenſowenig, wie ich ſie verſtehe.“ 

„Er iſt ſo rüſtig wie ein junger Mann, und wäh⸗ 
rend der langen Reiſe auf dem Schiff werdet ihr von 
mir ſo viel Deutſch lernen, als ihr für die erſte Zeit 
dort nötig habt.“ 

In dieſem Augenblick kam der Vater Jaguar aus 
der Schlucht geſtiegen, und zu gleicher Zeit hörten ſie 
das Getrab eines Maultieres. Anciano kam um die 
nächſte Berghalde gebogen und hielt dann vor ihnen an. 
Von ſeinem Tier ſpringend, ſagte er: „Ich habe ſie alle 
gut untergebracht, und nun wollen wir hinabſteigen, 
um die Höhle zu öffnen.“ 

„Der Vater Jaguar war bereits unten, um zu 
verſuchen, ob er ſie auch ohne dich fände,“ benachrich⸗ 
tigte ihn Hauka. 

„Wirklich?“ fragte der Alte, indem er ſich an Ham⸗ 
mer wandte. „Sie haben nachgeforſcht? Höchſtwahr⸗ 
ſcheinlich aber ohne Erfolg?“ 


ER 


„Bit du denn deiner Sache gar jo ſicher?“ 

„Ja, Senor.“ 

„Nun, ſo wollen wir ſehen, ob ich mich irre. Ich 
glaube nämlich, den Eingang zum Stollen gefunden zu 
haben.“ 

„Wo?“ 

„Im Hintergrund der Schlucht.“ 

„Das können Sie leicht ſagen, da Sie erfahren ha⸗ 
ben, daß ſich das Verſteck dort befindet.“ 

„Pah! Steigen wir hinab! Ich zeige euch die 
Stelle.“ 

Sie feſſelten ihren Maultieren die Füße und mach⸗ 
ten ſich dann an den Abſtieg. War dieſer beſchwerlich, 
ſo zeigte ſich, als ſie unten angelangt waren, das Gehen 
nicht weniger unbequem. Es war, als ob hier ein 
Berg zuſammen⸗ und in lauter kleine Stücke zerbrochen 
ſei, ſo wirr und tief oder hoch lagen die verſchieden 
großen Trümmer auf» und übereinander. 

Der Vater Jaguar ſchritt voran, über Stock und 
Stein, wie man ſich auszudrücken pflegt, ohne nach 
rechts oder nach links zu blicken, bis beinahe an die hin⸗ 
tere Wand der Schlucht. Da gab es eine Stelle, wo die 
rechte Seitenwand einige Meter weit vortrat. Dadurch 
entſtand eine Spitze, die mit der Felſenwand zwei 
ſtumpfe Winkel bildete. Hammer ſchritt nach dem hin⸗ 
teren Winkel, zeigte mit der Hand dort auf den Boden 
nieder und ſagte im Ton der größten Sicherheit: „Hier 
iſt die Stelle. Habe ich recht, Anciano, oder nicht?“ 

Der Alte machte ein Geſicht, worin ſich das größte 
Erſtaunen ausſprach, und antwortete: „Ja, hier iſt's, 
Senor. Aber wie können Sie das wiſſen? Wie konn⸗ 
ten Sie das entdecken? Sind Sie allwiſſend geworden? 

„Dazu gehört keine Allwiſſenheit.“ 


— 552 — 


„Nicht? So begreife ich wenigſtens Ihre Feinde, 
wenn dieſe behaupten, daß Sie ein außerordentlich ge⸗ 
fährlicher Gegner ſind. Wie nun, wenn Sie früher, 
ohne daß wir eine Ahnung hatten, das Verſteck entdeckt 
und ausgeräumt hätten!“ 

„Das war auf keinen Fall zu befürchten. Ich hätte 
hier ſtundenlang ſtehen oder ſitzen können, ohne zu be⸗ 
merken, worum es ſich handelt. Daß ich den Ort ge⸗ 
funden habe, verdanke ich ganz allein dem Umſtand, 
daß ich von dir erfuhr, daß ſich in der Schlucht ein 
Stollen befindet.“ a 

„Aber wie konnten Sie deſſen Stelle finden?“ 

„Die Höhle konnte ſich natürlich nicht in der Mitte, 
alſo auf der Sohle der Schlucht, ſondern ſie mußte ſich 
an einer Seite, und zwar im Hintergrund befinden. 
Der Stollen mußte in den Felſen gehauen ſein. Er 
war verſchüttet und maskiert worden, nicht durch die 
Natur, ſondern durch die Hand eines Menſchen, alſo 
künſtlich. Ich brauchte alſo nur nach einer Stelle zu 
ſuchen, wo im Gegenſatz zur Unregelmäßigkeit dieſes 
Steinwirrwarrs eine Spur von Regelmäßigkeit auf 
eine Arbeit von Menſchenhänden ſchließen ließ. Und 
das war hier der Fall.“ 

„Wieſo?“ | 

Der Vater Jaguar deutete auf mehrere Steine, die 
nahe an der Felſenwand lagen, und antwortete: „Bil⸗ 
den dieſe vier Steine nicht die Ecken eines ganz regel⸗ 
mäßigen Quadrats?“ 

„Allerdings.“ | 

„Sind fie nicht von ganz gleicher Größe und 
Schwere, nicht zu ſchwer für einen kräftigen Mann, 
aber auch nicht ſo leicht, daß ſie durch irgend einen Zu⸗ 
fall verſchoben oder gar ganz entfernt werden könnten?“ 


— 553 — 


„Auch das iſt richtig, Senor.“ 

„Warum liegen in dem Viereck, das ſie bilden, nur 
leichte Steine, keiner größer als eine Männerfauſt? 
Wenn dieſe kleinen Steine größer und ſchwerer wären, 
würden ſie die Decke des Schachtes eindrücken, die von 
den vier großen Steinen an den Ecken gehalten wird.“ 

Der alte Anciano ſchüttelte ſtaunend den Kopf und 
meinte: „Es iſt jo, genau fo, wie Sie jagen, Senor!“ 

„Ich wußte es. Die Sache wird durch das ein⸗ 
fachſte Nachdenken erklärt. Das Loch mußte zugedeckt 
werden. Ein großes Felsſtück war dazu nicht zu 
brauchen, weil ein einzelner Menſch es nicht hätte ent⸗ 
fernen können, um den Stollen zu öffnen. Bretter oder 
dergleichen gab und gibt es hier nicht; man hat alſo 
irgend eine Decke oder ein Fell genommen, über das 
Loch gebreitet und auf die vier Ecken vier Steine gelegt, 
die von einem Mann fortgerollt werden können, aber 
doch ſchwer genug ſind, das Fell zu halten und auch die 
kleinen Steine, die man daraufgelegt hat, um das Men⸗ 
ſchenwerk zu verbergen und dem Ort ein natürliches 
Ausſehen zu geben.“ 
| „Sehr richtig, ſehr richtig, Seüor! Auch das mit 

dem Fell ſtimmt ganz genau. Das Loch iſt früher unter 
den oben liegenden Steinen mit Holzſtangen zugedeckt 
geweſen; dieſe ſind aber morſch geworden, und als mein 
Herr den Stollen beſuchte, fand er deſſen Bedeckung ein⸗ 
geſtürzt. Um einen neuen Verſchluß zu haben, blieb 
ihm nichts andres übrig, als ſein Maultier zu er⸗ 
ſchießen und deſſen Haut mit Hilfe dieſer vier Steine 
über das Loch auszuſpannen. Er ſchüttete dann kleine, 
leichte Steine darauf, und dieſe Decke hat ſich lange 
Jahre und, wie Sie ſehen, bis heute bewährt. Es kann 
ſich ſogar ein Mann darauf ſtellen, ohne daß ſie auch 


— 554 — 


nur im mindeſten nachgibt. Ihr Scharfſinn iſt wirklich 
außerordentlich! Wollen wir jetzt öffnen?“ 

„Ja, denn es gibt nichts, was uns davon abhalten 
könnte.“ 

Die vier Perſonen kauerten ſich nieder, um die 
Lage kleiner Steine zu entfernen. Dieſe war nicht hoch 
und bald kam unter ihr das Fell zum Vorſchein, das die 
Härte und Steifheit eines Eiſenblechs angenommen 
hatte. Es wurde von den erwähnten vier Steinen aus⸗ 
geſpannt und feſtgehalten. Als dieſe fortgeſchoben wa⸗ 
ren, konnte man die Haut wegnehmen, und da kam ein 
Loch zum Vorſchein, das ſo groß war, daß ein ſtarker 
Mann hineinkriechen konnte. Es führte ſenkrecht hin⸗ 
ab. Darum meinte der Vater Jaguar: „Das iſt doch 
kein Stollen, ſondern ein Schacht!“ 

„Nur der Eingang geht ſenkrecht hinab,“ erwiderte 
Anciano, indem er einen kleinen Stein hinunterwarf. 
„Hören Sie, daß er nicht tief fällt? Das Loch iſt ge⸗ 
rade ſo tief, wie ein Mann hoch iſt; dann macht es 
einen Winkel und führt ein wenig abwärts wagrecht in 
den Felſen hinein. Ich werde hinunterſteigen.“ 

„Wie ſteht es mit der Beleuchtung?“ 

„Für dieſe hat mein Herr geſorgt. Es liegen Kerzen 
unten, die wir ſelbſt aus Talg gegoſſen haben.“ 

Er ließ ſich langſam in das Loch hinab. Als er 
mit den Füßen den Boden erreicht hatte, konnte er mit 
den ausgeſtreckten Händen den oberen Rand erfaſſen. 
Hammer reichte ihm einige Zündhölzer hinab, worauf 
man bald die Kerzenflamme unten erſcheinen ſah. Hau⸗ 
karopora ſtieg, von oben und unten unterſtützt, da er 
kleiner war, nach; ihm folgte Anton Engelhardt, worauf 
der Vater Jaguar den vierten machte. 


— 555 — 


Dieſer letztere mußte ſich bücken, um in den wag⸗ 
rechten Stollen zu gelangen, doch wurde derſelbe bald 
höher, ſo daß man aufrecht ſtehen konnte. Nach weni⸗ 
gen Schritten verbreiterte er ſich und bildete eine Art 
kleines Gemach, worin die vier Perſonen gerade Platz 
fanden. Sie blickten umher, fanden aber nichts als 
einen kleinen Holzpflock, der in eine Ritze eingetrieben 
war und von dem eine vielleicht 30 Zentimeter lange, 
ſtricknadelſtarke Schnur herniederhing. Sie war drei⸗ 
farbig und hatte mehrere Knoten; einige viel kürzere 
und dünnere Schnüre waren an ihr feſtgeknüpft; auch 
dieſe zeigten verſchieden entfernte Knoten. 

„Ein Kippu!“ rief Anciano, indem er das kleine 
Schnurbündel vom Pflock nahm und, es mit dem Licht 
beleuchtend, aufmerkſam betrachtete. Die Farben waren 
ziemlich verblichen, aber doch noch zu erkennen. 

„Kannſt du es entziffern?“ fragte der Vater 
Jaguar. | 

„Ja, Sehor. Dieſer Kippu ermahnt uns, keine 
andre Kerze anzubrennen, als bis wir den zweiten 
Kippu geleſen haben. Es iſt alſo noch einer da, wohl 
weiter hinten. Gehen wir!“ 

Auch Haukaropora unterſuchte den Kippu und be⸗ 
ſtätigte die Löſung des Alten. Sie ſchritten weiter vor, 
die beiden Männer jetzt tief gebückt, weil der Stollen 
niedriger wurde. Er war ſehr trocken; nur drückte die 
Luft ein wenig auf die Lungen. Nach ungefähr fünfzig 
Schritten wurde er nicht nur wieder höher, ſondern 
auch viel breiter als vorher und bildete einen ſtuben⸗ 
artigen Raum, der vier Ellen hoch, ſieben Ellen breit 
und ebenſo tief ſein mochte. Den Hintergrund bildete 
nicht die Felſenwand, ſondern eine dunkle, gähnende 
Kluft, die ſenkrecht in eine unbekannte Tiefe fiel. Aber 


An 


— 556 — 


nicht dieſe breite Felſenſpalte war es, worauf man zu⸗ 
nächſt achtete, ſondern die Aufmerkſamkeit der vier Per⸗ 
ſonen wurde von den Gegenſtänden, die ſich in dieſem 
Raum befanden, aufs mächtigſte angezogen. 

Es glänzte rechts und links wie pures Gold und 
Silber. Da ſtanden und lagen auf Unterlagen, die 
bankartig aus Steinen hergeſtellt worden waren, allerlei 
Gegenſtände, deren Metall- und Kunſtwert jedes Auge 
blenden mußte. Da gab es Götterfiguren, in Kinder⸗ 
größe aus blinkendem Gold hergeſtellt, Herrſcherſtatuen, 
in derſelben Größe aus maſſivem Silber gearbeitet, Gefäße 
in den verſchiedenſten Formen und Größen, Waffen 
aller Art, Schmuckſachen, Sonnen, Monde und Sterne. 
Ja, das war ein Reichtum, der nur von einem Inka 
oder einem königlichen Prinzen abſtammen konnte, denn 
im alten Peru gehörte alles Gold dem Herrſcher. Ohne 
ſeine Erlaubnis durfte kein andrer Gold oder Silber 
verwenden. 

Dieſe Metalle auszuführen, war bei Todesſtrafe 
verboten. Alles Silber und Gold mußte nach der 
Hauptſtadt geliefert und dem König zu Füßen gelegt 
werden. Da gab es Jahre, in denen nach ſicheren An⸗ 
gaben über zwölftauſend Zentner Silber und über vier⸗ 
tauſend Zentner Gold in der Schatzkammer des Inka 
zuſammenliefen, denn das edelſte der Metalle wuchs in 
zahlreichen Adern des Gebirgs und fand ſich in erſtaun⸗ 
licher Menge im Sand der Flüſſe und wurde durch 
billige oder gar nichts koſtende Fronarbeit gewonnen. 

Anton Engelhardt war wie geblendet; Anciano und 
. Haufaropora ſtanden in ſtaunender Andacht da, halb 
die hier befindlichen Reichtümer bewundernd und halb 
durchſchauert von einem Gefühl ehrfurchtsvoller Pietät 
für die einſtigen Götter und Herrſcher ihres Volkes. 


— 557 — 


Der Vater Jaguar war am wenigſten befangen. Er 
hatte dem Alten das Licht aus der Hand genommen und 
war zunächſt nach dem Hintergrund der Schatzkammer 
getreten, um hinab in den ſchauerlich und geheimnis⸗ 
voll gähnenden Schlund zu ſpähen. Beim matt flak⸗ 
kernden Kerzenſchein glaubte man unterhalb des Ran⸗ 
des dämoniſche Spukgeſtalten zu erblicken, die hin und 
her flogen, und zu winken ſchienen. Ein Stein, den 
Hammer hinabwarf, ſchlug vielfach an den Wänden 
auf, doch ließ ſich nicht erkennen, in welcher Tiefe er 
liegen blieb. 

Der Vater Jaguar trat vom Abgrund zurück, um 
jetzt ſorgfältig nach dem Sitz des verborgenen Feuers 
zu ſuchen. Seine Nachforſchung hatte bald Erfolg. 
Nämlich unten, in der Nähe des Bodens liefen an den 
Steinbänken ſchmale, tönerne Rinnen hin, die mit einer 
weißgelben, wachsartigen Maſſe gefüllt waren; aus 
dieſer ragten in gewiſſer Entfernung dochtartige Fäden 
hervor, die in Geſtalt von kurzen Lichtſtümpfen mit 
derſelben Maſſe umgeben waren. N 

„Das muß das gefährliche Feuer ſein,“ ſagte er zu 
Anciano, indem er auf dieſe Rinnen deutete, „von denen 
dein toter Gebieter geſprochen hat. Und dieſe mit Doch⸗ 
ten verſehenen Spitzen ſind die Lichte, von denen wir 
keins anbrennen ſollen, bevor wir den zweiten Kippu 
geleſen haben. Wo aber mag dieſer ſein? Wir müſſen 
ihn ſuchen.“ 

Sie brauchten gar nicht lange zu forſchen, denn er 
hing gleich vorn am Eingang an der Wand. Er hatte 
nicht die einfache Geſtalt des erſten Schnürbündels, 
ſondern beſtand aus einem ſehr kunſtvoll gearbeiteten 
Geflecht, das als Handgriff diente, und an deſſen Seiten 
mehrere Reihen von Schnüren franſenartig herabhin⸗ 


— 558 — 


gen. Dieſe Schnüre hatten verſchiedene Farben; fie 
waren von verſchiedener Länge und in viel hundert 
Knoten von verſchiedener Größe geknüpft. Der Alte 
griff ſchnell zu, um dieſes Kunſtwerk der Schriftknüpferei 
zu betrachten. Er tat dies eine ziemlich lange Zeit und 
erklärte dann: „Dieſer Kippu iſt ein ſehr langer und 
ausführlicher Brief, den ich aber hier nicht leſen kann, 
weil die Farben gelitten haben und das Licht der Kerze 
nicht hinreichend iſt.“ 

„Aber draußen im Licht der Sonne könnteſt du ihn 
leſen?“ fragte der Vater Jaguar. 

„Ich denke es.“ 

„So müſſen wir hinaus.“ 

„Schon fort von dieſen Schätzen, die wir ſo gern 
noch bewundern wollen?“ 

„Ja. Ihr dürft nicht eher einen dieſer Gegen⸗ 
ſtände anrühren, als bis wir den Inhalt dieſes Kippu 
erkennen. Die Gefahr, mit der die Hebung dieſer 
Schätze verbunden iſt, iſt uns noch unbekannt. Jede 
falſche Bewegung, jeder falſche Griff kann uns den Tod 
bringen. Ich warne euch alſo. Wollt ihr bleiben, ſo 
bleibt; ich aber entferne mich und ſteige nicht eher wie⸗ 
der hinab, als bis ich den Inhalt dieſes Briefes genau 
kennen gelernt habe.“ 

Der alte Anciano ſchien, geblendet von dem Gold 
und Silber, dennoch bleiben zu wollen; da nahm Hauka 
ihm den Kippu aus der Hand, unterſuchte ihn, ſoweit es 
hier unten möglich war, und erklärte dann: „Dieſer 
Kippu enthält das Vermächtnis meines Vaters, des er⸗ 
mordeten Inka. Er iſt mir teurer als alles, was ſich 
außer ihm hier befindet, und darum mag das Gold und 
Silber hier liegen bleiben, bis ich ihn geleſen habe. Ich 
gehe an das Tageslicht.“ 


— 559 — 


| Das entſchied. Die vier Perſonen verließen den 

unterirdiſchen Raum und begaben ſich durch den Stollen 
nach dem Eingang zurück, um in das Freie zu gelangen. 
Auf dem Boden des Schachtes, da, wo dieſer in den 
Stollen überging, lagen mehrere Talglichte, die Haukas 
Vater zum jeweiligen Gebrauch da niedergelegt hatte. 
Anciano löſchte ſein halb abgebranntes Licht aus und 
gab es wieder mit hinzu, ehe er ſich hinausſchwang. 


Draußen ſetzten ſich die vier auf die Steine, und 
Anciano und der junge Inka nahmen die Schnüre vor, 
um ſie zu entziffern. Das ging freilich nicht ſo ſchnell 
wie bei dem erſten und ſo einfachen Kippu. Es waren 
der Farben und Knoten, der Nebenſchnüre ſo viele, und 
die erſteren waren ſo verblichen, daß, wenn zwei von 
ihnen einander ähnlich geweſen waren, ſie jetzt kaum 
voneinander unterſchieden werden konnten. Es ver⸗ 
ging eine Viertelſtunde nach der andern; aus der halben 
wurde dann eine ganze Stunde; nachher verlief noch 
eine halbe, und doch waren die beiden Peruaner über die 
Bedeutung einzelner Knoten und Schnüre noch nicht im 
klaren oder miteinander einig. Der Vater Jaguar war 
vielleicht um elf Uhr mit ſeinem Trupp an der Schlucht 
angekommen; dann hatte es zwei Stunden gedauert, bis 
Anciano von dem neuen Lagerplatz zurückgekehrt war; 
jetzt zeigte die Uhr ſchon über drei am Nachmittag; dar⸗ 
um ſagte Hammer: „Es wird jetzt gefährlich, länger 
hier zu bleiben. Kommt zufälligerweiſe jemand da oben 
am Rand der Schlucht vorüber, ſo ſieht er uns hier 
unten am offenen Schacht ſitzen, und unſer Geheimnis 
iſt verraten. Wir wollen alſo das Loch wieder ver⸗ 
ſchließen und dann hinaufgehen. Dort könnt ihr eure 
Arbeit fortſetzen, und wir werden nicht überraſcht, weil 


— 560 — 


wir jede Annäherung ſchon von weitem bemerken 
müſſen.“ 

Man konnte nicht anders, als ihm beiſtimmen. 
Darum wurde die Haut wieder über den Eingang ge⸗ 
breitet, mit den vier ſchweren Steinen belegt und be⸗ 
feſtigt und dann mit kleinerem Geſtein und Gras be⸗ 
deckt. Hierauf ſtiegen ſie wieder hinauf zu ihren Maul⸗ 
tieren, wo Hauka und der Inka ſogleich ihre Arbeit 
fortzuſetzen begannen. 

Es war, als ob ihr Scharfſinn hier oben findiger 
ſei, als unten in der düſteren Schlucht, denn noch war 
keine halbe Stunde vergangen, ſo erklärten beide, daß 
ſie jetzt über die Bedeutung jedes Knotens einig und im 
klaren ſeien. 

„Darf ich vielleicht den Inhalt erfahren?“ fragte 
der Vater Jaguar. 

„Ja, Señor,“ antwortete Hauka. „Es iſt, wie ich 
ſchon ſagte, das Vermächtnis meines Vaters, lautet 
aber anders, als Sie gedacht haben werden, und auch ich 
gedacht habe. Anciano, lies es vor!“ 

Der Alte gehorchte. Er kniete aus Ehrerbietung 
vor dem letzten Willen ſeines einſtigen Herrn nieder, 
ließ Knoten nach Knoten, Schnur nach Schnur durch 
die Finger gleiten und entzifferte dabei langſam und in 
abgeriſſenen Sätzen folgendes: „Haukaropora, meinem 
Sohn, dem letzten Inka. — — Siehſt du dieſen Kippu, 
fo bin ich tot. — — Auch Völker fterben. — — Das 
unſrige iſt tot, wie ich geſtorben bin. — — Hoffe nicht, 
daß es wieder aufleben wird! — — Du wirſt niemals 
Herrſcher ſein. — — Es ſtarb an ſeinem Gold und 
Silber. Willſt du an dem deinigen fterben? — — 
Wäre es arm geweſen, ſo lebte und wirkte es noch. Sei 
du arm, ſo wirſt du leben und wirken. — — Sei nicht 


— 561 — 


reich an Metallen, ſondern werde reich am Geiſt und 
im Herzen, ſo wirſt du glücklicher ſein als alle deine 
Ahnen. — — Ich bitte dich; ich befehle dir nicht. Dieſes 
Gold gehört dir; nimm es, oder nimm es nicht! — — 
Nimmſt du es, ſo wirſt du ſein Sklave; verſchmähſt du 
es, jo wirft du frei. — — Du haſt den goldenen Streit⸗ 
kolben der Inkas. Verkaufe ihn, ſo haſt du genug, um 
zu lernen und ein Mann zu werden, den Arbeit ehrt; 
Genuß im Nichtstun aber ſchändet. — — Willſt du das 
Gold, ſo nimm es; doch hüte dich dabei vor dem Feuer 
in den Rinnen! — — Willſt du Ehre und wahres 
Glück, ſo gib das Metall der Erde wieder, der es geraubt 
worden iſt; dann wirſt du den wahren Reichtum er⸗ 
langen. Brenne da die erſte Kerze des ſchlafenden 
Feuers an und eile aus der Höhle! — — Nun wähle, 
aber wähle gut! Du beſitzeſt das Blut der Herrſcher; 
beherrſche alſo dich ſelbſt; es wird dir gelingen. — — 
Ich bin bei dir und bleibe bei dir. Mach, daß meine 
Seele ſich über dich freut! — — Dann ſchaut mein Geiſt 
wonnig auf dich nieder, bis du mir folgeſt dahin, wo 
weder Gold noch Silber gilt, ſondern nur die Schätze 
des Herzens gewogen werden. — — Handle als mein 
Sohn, denn ich bin dein Vater!“ ö 

Der alte Anciano hatte ſo geleſen, daß die Pauſen 
zwiſchen den einzelnen Sätzen immer länger geworden 
waren. Jetzt blickte er, auf den Knien liegen bleibend, 
erwartungsvoll zu ſeinem jungen Herrn auf. Das 
gleiche tat auch Anton, den der Inhalt des Vermächt⸗ 
niſſes tief ergriffen hatte. Der Vater Jaguar war 
voller Bewunderung über die Anſchauung, zu der ſich 
der Tote emporgeſchwungen gehabt hatte; aber ſeiner 
praktiſchen Natur ſagte das Opfer nicht zu, das dieſer 
von ſeinem Sohn erwartete. Haukaropora ſtand hoch 

Mah. Das Vermächtnis des Inta 36 


— 


— 562 — 


aufgerichtet da und blickte in die Sonne. Seine Ahnen 
hatten ſie verehrt, zu ihr gebetet. Jetzt wollte ſie hinter 
den Gipfeln der Berge verſchwinden. So war auch der 
Glanz des Inkareiches verſchwunden und dieſes ſelbſt 
untergegangen. Der letzte Reſt dieſes Glanzes ſtrahlte 
unten in der Felſenkammer, wo die Statuen der Götter 
und Herrſcher ſtanden, beim Schein einer armſeligen 
Kerze. Sollte dieſer letzte Schimmer auch erlöſchen? 
In dem ernſt⸗ſchönen Angeſicht des Jünglings regte ſich 
kein Zug. Er blickte in die Sonne, ohne daß die Augen 
ihn ſchmerzten, bis das höchſte Bergeshaupt ſie deckte; 
dann wendete er ſich zu Anciano, nahm ihm den Kippu 
aus der Hand, verbarg dieſen unter dem ledernen 
Jagdhemd auf der Bruſt und ſagte: „Stehe auf, An⸗ 
ciano! Es gibt keinen Inka mehr. Die Söhne der 
Sonne gingen dahin mit ihrem Reich, und ich gehorche 
dem Geiſt meines Vaters, der geglaubt hat, ich ſei ſtark 
genug, das Richtige zu wählen. Ich gebe das Gold der 
Erde zurück, denn es bringt nur als Lohn der Arbeit 
Segen, und meine Arbeit ſoll erſt noch beginnen.“ 

Da ſprang der Alte auf, ergriff ſeine beiden Hände 
und rief im Ton inniger Rührung und Liebe aus: „Sei 
geprieſen für dieſen Entſchluß, mein Sohn; ich habe 
von dir nichts andres erwartet. Du bedarfſt keiner 
ſchillernden Schätze, denn der größte Schatz, den es gibt, 
ruht in deiner Bruſt.“ 

Der Vater Jaguar aber fragte: „Wie? Du willſt 
dem Inhalt des Stollens da unten entſagen? Das 
war es doch, was du meinteſt?“ 


„Ja.“ 


„Das kann nur das Ergebnis einer vorübergehen⸗ 
den Stimmung ſein. Bedenke, was du von dir wirfſt, 


— 568 — 


und welch ein Leben vor dir liegt, wenn du die Erb⸗ 
ſchaft deines Vaters antrittſt!“ 

„Sein Vermächtnis liegt nicht da unten in der 
Höhle, ſondern hier auf meinem Herzen.“ 

Er deutete nach der Stelle, wo er den Kippu ver⸗ 
borgen hatte. 

„So willſt du in Wirklichkeit das verzehrende Feuer 
dort unten anbrennen und die Reichtümer zerſtören?“ 

„Ja.“ 

„Das iſt Wahnſinn! Wenn du ſie nicht willſt, ſo 
muß ich dich darauf aufmerkſam machen, wie viel Gutes 
du mit ihnen tun, wie viele Menſchen du mit ihnen 
glücklich machen kannſt. Dich ſelbſt magſt du berauben, 
andre aber nicht!“ 

„Das Erbe gehört nicht ihnen, ſondern mir; ich tue 
mit ihm, was ich will. Ich vernichte es, weil ich 
wünſche, meinen Nebenmenſchen andre und beſſere Ga⸗ 
ben zu bringen!“ N 

„Ueberſchwenglichkeit! Ich werde mich einem ſol⸗ 
chen Beginnen widerſetzen!“ 

Da nahm Haukaropora ſeinen goldenen Streitkolben 
von der Erde, wo er gelegen hatte, auf, richtete ſich ſtolz 
empor und antwortete: „Senor, ich achte und liebe Sie, 
aber in dieſer Sache gibt es nur einen Willen, und das 
iſt der meinige. Dieſen Kolben aber werde ich nach dem 
Wunſch meines Vaters verkaufen, um leben und lernen 
zu können; wollten Sie ſich mir wirklich widerſetzen, ſo 
würden Sie mich zwingen, ihn vorher im Kampf mit 
Ihnen zu erproben!“ 

Hammer warf den Kopf ſtolz zurück. Er wollte 
eine ſcharfe, vielleicht ironiſche Antwort geben, tat dies 
aber doch nicht, ſondern erwiderte beruhigend: „So war 
es nicht gemeint, mein junger Inka. Dein Entſchluß 


— 564 — 


iſt heroiſch und bewundernswert, wenn du den Wert 
des Geldes kennſt. Ich bezweifle aber, daß dies der Fall 
iſt. Uebrigens iſt das, was du ſagſt, noch nicht getan.“ 

„Ich werde es aber ſofort tun! Ich ſteige jetzt hin⸗ 
ab in den Stollen und zünde das Feuer an.“ 

„Um uns zu verraten und den Mörder deines Va⸗ 
ters entkommen zu laſſen? Ich kenne euer Feuer nicht, 
befürchte aber, daß es eine Exploſion hervorbringt. Das 
Geſtein wird auseinanderfliegen. Wenn dann der 
Gambuſino mit Perillo kommt, ſo werden ſie, wenn ſie 
die Spuren ſehen, ſich augenblicklich davonmachen.“ 

Hauka ſah ihm eine Weile forſchend ins Geſicht 
und antwortete dann: „Sie haben recht, Senor; ich muß 
noch warten. Zwar könnten wir dieſe Männer auf 
eine andre Weiſe und an einem andern Ort fangen; 
aber da die Mordſchlucht die beſte Falle für ſie iſt, ſo 
darf ich Ihrem Plan nicht entgegen handeln.“ 

„Das meine ich auch,“ nickte Hammer befriedigt. 
„Wir müſſen jedoch vorher genau erfahren, wann die 
Feinde kommen, und brauchen alſo einen tüchtigen 
Kundſchafter. Willſt du dieſen Poſten übernehmen?“ 

„Ja, ſehr gern,“ antwortete Hauka, der ſich ge⸗ 
ſchmeichelt fühlte, einen ſo wichtigen Auftrag zu bekom⸗ 
men. Er ahnte nicht, daß der Vater Jaguar zugleich die 
Abſicht verfolgte, ihn von hier zu entfernen, damit er 
ja keine Zeit und Gelegenheit fände, ſeinen offenbar 
übereilten Vorſatz auszuführen. Darum fuhr Hammer 
fort: „Du mußt aber ſofort aufbrechen, weil du nicht 
reiten darfſt und der Weg zu Fuß fehr weit iſt. Reitend 
würdeſt du Gefahr laufen, entdeckt zu werden.“ 

„Ich bin bereit, Senor. Sagen Sie mir nur, wie 
weit ich gehen ſoll!“ 


— 565 — 


„Zunächſt zurück bis zur Salina del Condor, wo 
der Gambuſino vielleicht ſchon heute abend ankommen 
wird.“ 

„Und wenn er nicht kommt?“ 

„So ſteht zu erwarten, daß er in einer Doppelhöhle 
lagert, die von der Salina rückwärts in der Richtung 
nach dem Guanacotal liegt, woher die Mojosindianer 
kommen müſſen.“ 

„Ich kenne dieſe Höhle und werde mitgehen,“ fiel 
da der alte Anciano ein. „Erlauben Sie das, Senor?“ 

„Sehr gern, denn vier Augen ſehen mehr als zwei.“ 

„Und wo werden wir Sie bei unſrer Rückkehr 
treffen?“ 

„Da eure Ankunft erſt morgen früh zu erwarten 
iſt, ſo werde ich dieſe Nacht bei den Gefährten zubrin⸗ 
gen, am Morgen aber wieder hier ſein, um euren Be⸗ 
richt zu hören. Nach ihm haben wir uns dann zu 
richten. Es iſt vor allem nötig, daß du deine Freunde, 
die Mojosindianer heimlich zu ſprechen und für uns zu 
gewinnen ſuchſt.“ 

Er erhielt von Anciano eine Beſchreibung des We⸗ 
ges nach dem Bergloch und ritt dann mit Anton Engel⸗ 
hardt davon, indem er die beiden Maultiere der Pe⸗ 
ruaner mit ſich führte. Dieſe letzteren aber ſtiegen zu 
Tal, indem ſie die Richtung nach der Salina del Condor 
einſchlugen. 

Sie kamen dort nach Einbruch der Dunkelheit an 
und gingen dann, da ſie niemand fanden, weiter, um 
die Höhle aufzuſuchen. Als ſie dieſe zu ſpäter Abend⸗ 
ſtunde erreichten, wurden ſie, wie bereits erwähnt, Zeu⸗ 
gen der Ermordung des Peon und der beiden Arrieros, 
worauf ſie nach der Salina zurückeilten. Dort warteten 
ſie und fanden nach einer Weile ihre Vermutung be⸗ 


— 566 — 


ſtätigt, denn der Gambuſino langte mit den Indianern 
dort an. Da er aber wegen Mangel an Holz kein Lager⸗ 
feuer machen konnte, ſo vermochten ſie nichts zu ſehen. 
Auch zu lauſchen gab es nichts, weil die Feinde ſich ſehr 
ſtill verhielten, und darum blieben ſie nur ſo lange, als 
geraten war, wenn fie mit Tages anbruch wieder bei der 
Mordſchlucht ſein wollten. 

Dort trafen ſie den Vater Jaguar bereits ihrer 
wartend und berichteten ihm das Ergebnis ihres Kund⸗ 
ſchafterganges. Das war viel und doch nicht viel. Sie 
wußten, daß drei Männer erſchoſſen worden und drei 
leben geblieben waren. Sie wußten auch, daß ſich bei 
den letzteren die zwei kleinen, rot gekleideten Deutſchen 
befanden, was Hammer ſehr in Harniſch brachte; aber 
wer der dritte war, das wußten ſie nicht. Da ſie vor 
allen Dingen verſuchen ſollten, die heranziehenden In⸗ 
dianer unvermerkt zu ſprechen, ſo mußten ſie ſich hinter 
einem nahen, felſigen Hügel poſtieren, um dieſe bei 
ihrer Ankunft zu beobachten, während Hammer zurück⸗ 
ritt, um die Gefährten näher heranzuholen und ihnen 
die ganz unerwartete Mitteilung zu machen, daß der 
unvermeidliche deutſche Gelehrte mit ſeinem Diener 
ihnen wieder nachgefolgt und dabei abermals in die 
Hände des Gambuſino gefallen ſei. 

Dieſer letztere kam am frühen Vormittag mit An⸗ 
tonio Perillo, den acht Indianern und ſeinen drei Ge⸗ 
fangenen angeritten und machte an dem Rand der 
Schlucht Halt, wo er die Maultiere entlaſten ließ. Die 
Habgier trieb ihn, ſofort eine Unterſuchung der Schlucht 
vorzunehmen, und da die Gefangenen doch auch Wert 
für ihn hatten und er ſie den Indianern nicht anver⸗ 
trauen wollte, ſo mußten ſie mit in die Schlucht ge⸗ 
nommen werden. Man gab ihnen alſo die Beine frei, 


— 567 — 


daß ſie hinabklettern konnten. Unten aber, und zwar 
im Hintergrund angekommen, wurden ihnen die Füße 
wieder gefeſſelt; man band ſie an Steine, damit ſie ſich 
auch nicht einmal durch Wälzen von der Stelle bewegen 
konnten. Dann entfernten ſich der Gambuſino und Pe⸗ 
rillo, allerdings nicht weit, um ihre Nachforſchung zu 
beginnen. Die Indianer waren oben zurückgeblieben, 
da ihnen verboten worden war, die Schlucht zu betreten. 


Zufälligerweiſe waren die Gefangenen gerade nach 
der vorſpringenden Felſenſpitze, in deren hinterem Win⸗ 
kel der Eingang zum Stollen lag, gebracht und an drei 
von den vier erwähnten großen Steinen gebunden wor⸗ 
den. Doktor Morgenſtern lag zufällig genau auf dem 
Steingries, der die verborgene Maultierhaut bedeckte. 
Als ſie ihre Peiniger ſo weit entfernt ſahen, daß ſie von 
ihnen nicht gehört werden konnten, ſagte Fritze Kieſe⸗ 
wetter: „Da ſind wir nun bei unſrem Ziel anjelangt, 
aber als Jefangene. Wenn der Vater Jaguar ſchon da 
iſt, werden wir uns bald wieder auf unſre freien Füße 
befinden.“ | 

„Das gebe Gott!“ ſeufzte Engelhardt. „Es handelt 
ſich um unſer Leben, denn ich bin überzeugt, daß dieſe 
Schufte uns ermorden werden, ſobald ſie das Löſegeld 
empfangen haben.“ 

Er riß vor Grimm an ſeinen Feſſeln und zerrte an 
dem Stein, woran er hing. Dabei zog er ihn nach und 
nach von der Stelle, wo er lag. 

„Das glaube ich nicht,“ antwortete der Doktor. 
„Sie haben uns ſchon einigemal gefangen genommen, 
ohne einen Mord, lateiniſch Homicidium genannt, an 
uns zu begehen.“ 

„Weil uns der Vater Jaguar immer raſch heraus⸗ 


— 568 — 


jeholt hat,“ erklärte Fritze. „Läßt er uns diesmal 
ſitzen, ſo iſt's um uns jeſchehen.“ 

„Gefangen zu ſein, während ich meinen Sohn in 
der Nähe weiß!“ knirſchte der Bankier. „An Händen 
und Füßen gefeſſelt und an einen Stein gebunden, wie 
ein wildes Tier!“ 

Er zog wieder an dem Stein, der auf einer Ecke der 
Haut lag und jetzt weiter verrückt wurde, ſo daß dieſe 
nachgab. Sie begann ſich langſam unter Doktor Mor⸗ 
genſtern zu ſenken. Darum meinte dieſer: „Ich ſcheine 
weich zu liegen, obgleich meine Unterlage aus Steinen 
beſteht; denn ſie gibt nach. Ich ſinke tiefer.“ 

„Und ich wollte, ich könnte auch ſinken, tief in die 
Erde hinein!“ fuhr Engelhardt grimmig fort. „Hätte 
ich nur eine Hand frei, ich wollte mich bald meiner 
Feſſeln entledigen, und dann wehe den Halunken!“ 

Er zog, zerrte und riß, daß der Stein immer weiter 

rutſchte. 
„Jeben Sie ſich keine Hoffnung hin!“ antwortete 
Fritze. „Wen dieſer Jambuſino feſſelk, der kommt nicht 
los; ich kenne das. Nicht wahr, Herr Doktor, wir haben 
das erlebt?“ | 

„Leider ja,“ antwortete der Gefragte. „Wir find 
ſogar noch ſchlimmer daran geweſen als jetzt. Wir 
haben ſchon am Baume gehangen und — — Herr — 
Himmel — Jemineh — —!“ 

Er ſchrie vor Schreck laut auf, denn Engelhardts 
Stein war jetzt vom Fell heruntergerutſcht; dieſes gab 
nach, und der kleine Gelehrte fuhr mit den Beinen und 
dem Oberleib in das Loch. 

„Wat iſt denn los! Wohin wollen Sie verreiſen?“ 
fragte Fritze. „Soll dat etwa eine Abfahrt in die Unter⸗ 
oder Urwelt ſein?“ 


— 


— 569 — 


„Scherze nicht!“ jammerte der Kleine. „Ich ſtecke 
in einem fürchterlichen Loch, lateiniſch Puteus genannt; 
ich ſchwebe über einer entſetzlichen Tiefe, lateiniſch Vorago 
oder Barathrum geheißen, und wenn der Strick zerreißt, 
ſo bin ich verloren!“ 

Der kleine Gelehrte wog wohl nicht mehr als 
neunzig Pfund, und. da der Stein, woran er mit dem 
Strick befeſtigt war, weit über die Schwere eines Zent⸗ 
ners hatte, ſo wurde er von dieſem feſtgehalten. Den⸗ 
noch zeterte er ſo laut, daß der Gambuſino und Perillo 
es hörten. Sie kamen herbei und waren nicht wenig 
erſtaunt, ihren Gefangenen halb in der Erde verſchwun⸗ 
den zu ſehen. Sie zogen ihn heraus, und dabei kam ein 
Teil der Maultierhaut zum Vorſchein. 

„Was iſt das?“ fragte Perillo. „Ein Leder, womit 
dieſes Loch bedeckt iſt! Am Ende haben wir — — —“ 
ö „Schweig!“ raunte ihm der Gambuſino zu. „Wir 

ſind am Ziel. Das haben wir dem Zufall zu verdan⸗ 
ken. Die Gefangenen brauchen nicht zu ſehen, was wir 
hier treiben. Schaffen wir ſie fort!“ 

Sie ſchleppten die drei Gefeſſelten eine genügende 
Strecke fort, um unbeobachtet zu ſein, und kehrten dann 
wieder nach dem Loch zurück, um es zu unterſuchen. 
Sie fanden das Fell und entfernten es. Sie warfen 
Steine in das Loch und hörten, daß es nicht tief war. 
Darum ließ ſich der Gambuſino hinab. Schon nach 
einigen Augenblicken rief er herauf: „Wir ſind am 
rechten Ort. Es iſt gelungen! Hier liegen Talglichte. 
Komm ſchnell herab, während ich eins anbrenne.“ Als 
Perillo unten ankam, war das Licht ſchon in Brand 
geſteckt. Sie achteten des Umſtandes nicht, daß auch ein 
halbes dalag, dem man es leicht anſehen konnte, daß es 
erſt vor kurzem im Gebrauch geweſen war, und drangen 


— 570 — 


langſam in den wagrechten Stollen ein. Indem ſte 
vorſichtig weiterſchritten, teilten ſie ſich ihre Bemerkun⸗ 
gen und Hoffnungen mit. Sie befanden ſich in einer 
fieberhaften Aufregung, die ſich faſt bis zum Wahnſinn 
ſteigerte, als ſie endlich die hintere Kammer erreichten 
und deren Inhalt erblickten. Sie ſtanden zunächſt 
wie ſprachlos da und ließen ihre wonneglänzenden 
Augen über alle dieſe Gegenſtände ſchweifen. Dann 
rief der Gambuſino: „Entdeckt, entdeckt! Hier liegen 
Millionen. Das haſt du mir zu danken.“ 

„Nein, du mir, mir, mir!“ entgegnete Perillo. 
„Laß uns abſchätzen. Hier ſtecken viele Lichte in dieſen 
Rinnen, jedenfalls, damit man bei ihrem Glanz dieſe 
ungeahnten Reichtümer beſſer funkeln ſehen kann. Soll 
ich ſie anbrennen?“ 


f 


„„Ja, denn bei diefem einen Talgſtummel ift gar 
nichts, gar nichts zu ſehen.“ 

Perillo riß dem Gambuſino das Licht aus der 
Hand und hielt es an einen der bereits beſchriebenen 
Dochte, der wie ein ganz gewöhnlicher Docht anbrannte. 
Das kleine Flämmchen hatte zunächſt einen ruhigen, 
hellen Schein; dann begann es zu flackern, wobei es eine 
blaue Farbe annahm; hierauf ſprühte es plötzlich nach 
allen Seiten Funken, an denen ſich die andern Dochte 
entzündeten, und ſchoß alsdann gar zu einer bis an die 
Decke reichenden Feuergarbe auf. Ein ſcharfer, unaus⸗ 
ſtehlicher Geruch oder vielmehr Geſtank verbreitete ſich 
in den Raum. Schon brannten zehn, fünfzehn, zwan⸗ 
zig und noch mehr Lichte in den Rinnen. Sie flacker⸗ 
ten, glühten, ſprühten, pufften und lärmten. 

„Was iſt das?“ fragte Perillo ganz betroffen. „Wer 
hat ſchon einmal ſolche Lichte geſehen?“ 


8 — 571 — 


„Was es iſt?“ antwortete der Gambuſino. „Unſer 
Verderben iſt es, wenn wir nicht augenblicklich fliehen. 
Dieſe Lichte ſind für unberufene Eindringlinge ange⸗ 
bracht. Alſo müſſen — —“ 

Er wurde von einem Knall unterbrochen, worauf 
den Lichten feurige Schlangen entfuhren, die wie 
zuckende Blitze in der Kammer umherfuhren und die 
Kleider der beiden Männer ſogleich in Brand ſetzten. 

„Fort, augenblicklich fort!“ ſchrie er und eilte in 
den Stollen hinein, um ſo ſchnell wie möglich das Freie 
zu erreichen. Perillo folgte ihm. Ihre Anzüge brann⸗ 
ten. Sie nahmen ſich aber nicht Zeit, ſie zu löſchen, 
ſtießen rechts und links mit den Köpfen oben an dem 
Stollen an. Noch hatten ſie dieſen nicht erreicht, ſo gab 
es einen lauten Knall, unter dem die Erde erbebte. 

„Ich brenne, ich verbrenne!“ brüllte Perillo. 

„Ich auch,“ ſchrie der Gambuſino, indem er vor⸗ 
wärts ſtürmte. f 

„Rette mich! Löſch meine Flammen!“ 

„Habe keine Zeit. Fort, fort, der Felſen explo⸗ 
diert!“ 

Er ſtürmte vorwärts, erreichte den Schacht und 
ſchwang ſich hinaus ins Freie. Perillo folgte ihm auf 
dem Fuße. Unten im Gang hatten ihre Anzüge mehr 
geglimmt als gebrannt; jetzt aber in der freien Luft ent⸗ 
ſtanden helle Flammen, die ſofort über ihnen zuſam⸗ 
menſchlugen. Vor Entſetzen brüllend warfen ſie ſich 
nieder und wälzten ſich auf dem Boden herum, um die 
Flammen zu erſticken. Da tat es im Innern einen 
zweiten Knall, einen dritten, vierten, fünften und ſechs⸗ 
ten, einer immer ſtärker als der andre. Die Schlucht 
ſchien förmlich hin und her zu ſchaukeln; es war, als ob 
alle ihre Felswände zuſammenbrechen wollten. Dann 


— 572 — R 


ſchoß ein ſchwerer, dicker, dunkler Rauch aus dem 
Schachtloch hervor, begleitet von einem Ziſchen wie von 
hundert Lokomotiven, worauf ein dumpfes Poltern 
folgte, wie von unter der Erde dahinpolternden Kegel⸗ 
kugeln. Hierauf wurde es ſtill, aber der Rauch ſchoß 
noch mächtig aus dem Mundloch des Schachtes und 
hüllte das ganze hintere Tal in fiinfende Wolken, die 
keine Geſtalt, keinen Gegenſtand erkennen ließen. Deſto 
deutlicher aber hörte man das Schmerzgebrüll der beiden 
noch immer ſich am Boden windenden und wälzenden 
Menſchen. 

Und der Vater Jaguar mit ſeinen Leuten? 

Er hatte mit ihnen, ſie herbeiführend, eine Stelle 
erreicht, die nur noch zehn Minuten von der Schlucht 
entfernt war, als ihm Anciano und der Inka entgegen⸗ 
kamen. Erſterer meldete: „Senor, es iſt das „ſpitze 
Meſſer“, der Häuptling der Mojos, mit ſieben Mann, 
ein ſehr guter Freund von mir. Soll ich mit ihm 
reden?“ 

„Ja; aber natürlich nur auf eine Weiſe, daß der 
Gambuſino es nicht merkt.“ 

„Der kann es weder ſehen noch hören, denn er iſt 
nach ſeiner Ankunft mit Perillo und den drei Gefan⸗ 
genen ſofort in die Schlucht hinab.“ 

„Meinſt du, daß das ſpitze Meſſer“ mit ſich reden 
laſſen wird?“ 

„Ja. Ich bin überzeugt, daß er ſofort zu uns über⸗ 
geht, wenn er mich ſieht und zudem erfährt, daß Sie bei 
mir find.“ | 

„So lauf voran; wir kommen langſamer nach, da- 
mit du einige Worte mit ihm reden kannſt, ehe er uns 


ſieht.“ N ö 


— 573 — 


Anciano eilte fort, und die andern folgten ihm, feſt 
überzeugt, heute gewiß zum Ziel zu gelangen. Noch 
ehe ſie die Schlucht erreichten, kam ihnen der Alte wieder 
entgegen. Er führte den Häuptling der Mojos an der 
Hand und rief dem Vater Jaguar zu: „Hier iſt er, 
Senor, hier iſt er. Er freut ſich, den berühmten Vater 
Jaguar, den er noch nie geſehen hat, kennen zu lernen, 
und will ſich gern auf unſre Seite ſchlagen.“ 

„Haſt du nur die ſieben Mann bei dir?“ fragte 
Hammer den Häuptling. 


„Ja, Senor.“ 


„Die zwei kleinen Gefangen kennen wir. Wer iſt 
der dritte?“ 


„Ein reicher Seüor aus Lima, welcher Engelhardt 
heißt und Bankier iſt.“ 

„Mein Vater, mein Vater!“ ſchrie da Anton auf, 
indem er von ſeinem Maultier ſprang. „Aber es iſt 
nicht möglich. Warum könnte er herübergekommen 
fein?” 

„Um feinen Sohn in Buenos Aires zu ſehen.“ 

„So iſt er's doch; er iſt's! Hinab, hinab, ihn zu 
erretten!“ : 

Sein Gewehr ſchwingend, eilte er der Schlucht zu 
und war gleich darauf von deren Rand verſchwunden. 
Die andern wollten ihm nach, doch der Vater Jaguar 
gebot: „Halt! Nicht alle hier hinab. Sechs Mann 
reiten um die Schlucht und ſtellen ſich jenſeits auf, da⸗ 
mit da drüben niemand entkommen kann.“ 

Daraufhin galoppierten ſechs Reiter fort. Die 
übrigen ließen ſich aber nun nicht länger halten; ſie 
ſprangen aus den Sätteln und kletterten, Hammer und 


— 574 — 


die Indianer mit ihnen, fo ſchnell wie möglich in die 
Schlucht hinab. Noch waren ſie nicht unten, ſo ſahen 
ſie zwei brennende Geſtalten aus dem Schacht klettern; 
ſie hörten deren Gebrüll und darauf mehrere Explo⸗ 
ſionen. 


„Die Hunde haben den Stollen entdeckt und das 
Feuer angezündet,“ rief der Vater Jaguar ergrimmt. 
„Jetzt iſt der Schatz verloren!“ 


Alle rannten, ſo ſchnell ſie konnten, nach dem von 
Rauch erfüllten hinteren Teil der Schlucht, ihnen voran 
Anton und der Inka, der ihm am ſchnellſten gefolgt 
war. Die beiden Knaben ſahen die Gefangenen liegen 
und ſprangen zu ihnen hin. 


„Mein Vater, mein Vater!“ rief Anton, indem er 
ſich neben dem Bankier niederwarf, um ihn zu um⸗ 
armen und zu küſſen, und dann ſeine Feſſeln zu durch⸗ 
ſchneiden. | 


Niemand hatte ein Auge für diefe Begrüßungs⸗ 
ſzene, denn die Blicke aller waren auf die hintere Fel⸗ 
ſenwand gerichtet, wo zwei Geſtalten mühſam und unter 
vor Schmerz zuckenden Bewegungen emporklimmten. 
Der Gambuſino und Perillo waren es. Sie hatten die 
Nahenden bemerkt und trotz ihrer halb verbrannten 
Leiber an die Flucht gedacht, die nur nach dieſer Rich⸗ 
tung möglich zu ſein ſchien. Aber da erſchienen jetzt die 
ſechs Reiter oben, und der Vater Jaguar rief befriedigt: 
„Haltet ein! Laßt die Schurken immer ſteigen! Sie 
werden oben in Empfang genommen.“ 


Er wendete ſich zu den Gefangenen, um zunächſt 
Engelhardt zu begrüßen, und dann die beiden Kleinen 
im Ton des Zornes zu fragen: „Welcher Teufel hat Sie 


— 575 — 


uns denn abermals nachgeſchickt? Konnten Sie es 
denn ſelbſt bei Ihrem Rieſentier nicht aushalten?“ 

| „Nein,“ antwortete der allezeit fertige Fritze. „Der 
Rieſenſpitzbube, den wir fangen wollten, war noch viel 
jrößer.“ 

„Aber er hat euch wieder gefangen, anſtatt ihr 
ihn!“ 

„Dat war nur Verſtellung von uns. Wir taten 
nur ſo, um ihn hierher in dat Loch zu bringen, wo er 
in Brand jeraten iſt. Fragen Sie meinen Herrn! Der 
hat ihm voran in dat Loch jeſteckt.“ 

„Jawohl!“ beſtätigte der Privatgelehrte. „Die 
Erde tat ſich unter mir auf, und ich verlor den Grund 
und Boden, lateiniſch Solum genannt — — —“ 

„Sie ſind ein unverbeſſerlicher Faſelhans,“ unter⸗ 
brach ihn Hammer, „und faſſen jedes Ding, lateiniſch 
Res genannt, beim falſchen Ende an. Meine Geduld 
mit Ihnen, lateiniſch Placabilitas, Clementia und 
auch Mansuetudo geheißen, iſt nun zu Ende. Ich mag 
von Ihnen nichts mehr wiſſen!“ f 

Morgenſtern ſtand mit offenem Mund da, als er 
unerwartet lateiniſche Brocken an den Kopf geworfen 
bekam. Hammer aber hatte ſeine Worte zuletzt nicht 
mehr ernſt gemeint und wendete ſich, innerlich lachend, 
von dem Verblüfften ab. 

Der Gambuſino und Perillo hatten jetzt die Höhe 
erſtiegen und ſahen da zu ihrem Entſetzen die ſechs 
Männer ſtehen, von denen fie wieder zurück- und hinab⸗ 
getrieben wurden. Unten angekommen, wurden ſie zu dem 
Vater Jaguar gebracht. Sie widerſtrebten nicht, denn der 
fürchterliche Schmerz, den ihre entſetzlichen Brandwun⸗ 
den verurſachten, machte jeden Widerſtand völlig un⸗ 


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möglich. Ihr Anblick war grauenhaft. Alle ihre Klei⸗ 
dungsſtücke waren ihnen bis auf einige Zunderfetzen 
vom Leibe gebrannt, und ſchwere, unheilbare Wunden 
bedeckten alle ihre Glieder. Es gehörte gar nicht das 
Auge eines erfahrenen Arztes dazu, um einzuſehen, daß 
dieſe Verletzungen tödlich ſeien. 

„Benito Pajaro, kennſt du mich noch?“ fragte Ham⸗ 
mer den Gambuſino. 

„Ja,“ antwortete dieſer, von Qualen gefoltert. „Ich 
bin der Mörder deines Bruders. Töte mich, aber ſo 
raſch wie möglich!“ 

„Das wäre eine Wohltat für dich. Wieviel Men⸗ 
ſchen haſt du auf deinem Gewiſſen? Erſt geſtern abend 
wieder drei! Gott hat gerichtet; ich bin gerächt und 
greife ihm nicht vor. Du biſt frei und kannſt gehen, 
wohin du willſt.“ 

„Töte mich, töte mich!“ bat der Gefangene, denn 
auch er ſah ein, daß ein ſchneller Tod eine Gnade für 
ihn ſei. 

„Nein!“ antwortete Hammer feſt. 

„So fahre ſelbſt auch zum Teufel, und ſei ver⸗ 
flucht!“ 

Indem er dieſe grauſigen Worte ausſprach, entriß 
er dem unvorſichtig neben ihm ſtehenden Anton Engel⸗ 
hardt das geladene Doppelgewehr, legte blitzſchnell auf 
den Vater Jaguar an, drückte ab und jagte dann ſich 
ſelbſt, ehe man es verhindern konnte, die zweite Kugel 
durch den Kopf. Zum Tod getroffen, brach er zuſam⸗ 
men; er hatte als beiſpielloſer Böſewicht gelebt und als 
ſolcher geendet, aber doch ſeine letzte Abſicht nicht er⸗ 
reicht, denn Hammer war ebenſo ſchnell, wie auf ihn 
gezielt worden war, zur Seite geſprungen und der 


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Kugel entgangen. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, 
deutete er auf Antonio Perillo und ſagte zu Haukaro⸗ 
pora: „Hier ſteht der Mörder deines Vaters. Er iſt 
dein.” 

„Er gehört auch mir!“ fiel da der kleine Gelehrte 
ein. „Er hat in Buenos Aires auch meine Ermordung, 
lateiniſch Trucidatio, geplant.“ 

Niemand hörte auf ihn. Der Inka ſah dem Stier⸗ 
kämpfer finſter in das angſt⸗ und ſchmerzverzerrte Ge⸗ 
ſicht und ſagte dann: „Ich will nicht hart, ſondern 
gnädig ſein. Er ſoll nicht lange Qualen erleiden, ſon⸗ 
dern raſch ſterben.“ 

Er legte ſein Gewehr auf den Mörder an. Da 
ſank dieſer vor ihm in die Knie und flehte ihn an: 
„Nicht töten, nicht töten! Laß mich leben!“ 

„Gut, ſo lebe noch, um nach zwei oder drei Tagen 
wie ein Hund zu ſterben,“ antwortete Hauka, indem er 
ſein Gewehr ſenkte und ſich verächtlich von ihm wendete. 7 

Kein Menſch bekümmerte ſich um den Feigling, 
der zwiſchen den Steinen zuſammenbrach und da wim⸗ 
mernd liegen blieb. Man wollte gern erfahren, welche 
Vernichtung das Feuer in der unterirdiſchen Kammer 
angerichtet hatte. Es hatte deren Decke zerſprengt und 
da einen Riß in den Felſen getrieben, durch den noch 
jetzt der Rauch ausſtrömte. Dadurch war eine Venti⸗ 
lation entſtanden, die den Stollen von ſchädlichen Gaſen 
reinigte, und es ermöglichte, daß man ihn ſchon nach 
einer Stunde betreten konnte. In die Schatzkammer 
aber vermochte niemand den Fuß zu ſetzen; deren Boden 
war verſchwunden und durch die Gewalt der Explo⸗ 
ſionen mit allen Schätzen, die ſich da befunden hatten, 
im den gähnenden Schlund des erwähnten Felſenſpaltes 

May, Das Vermächtnis des Inka 37 


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gedrückt und geſchleudert worden. Haukaropora ſagte 
ruhig lächelnd zum Vater Jaguar: „Sie ſehen, Senor, 
daß die Vorſehung mir recht gegeben hat. Das Erbe iſt 
fort; das Vermächtnis meines Vaters, des Inka, aber 
trage ich wohlverwahrt hier auf der Bruſt. Sein letzter 
Wunſch und Wille wird in Erfüllung gehen.“ 

Der Schacht wurde mit Steinen verſchüttet; dann 
ſtiegen die Männer nach oben, um da zu lagern und 
das Geſchehene zu beſprechen. Am meiſten hatten ſich 
Anton und ſein Vater zu erzählen, da ſie ſo lange ge⸗ 
trennt geweſen waren. Als der letztere hörte, welchen 
Plan der Inka in Beziehung auf ſeine Zukunft gefaßt 
hatte, erbot er ſich, ihm den maſſiv goldenen Streit⸗ 
kolben abzukaufen und nach deutſchem Geld für das 
Pfund 1400 Mark zu zahlen, was bei der Schwere der 
Waffe eine Summe ergab, durch deren Benutzung ſich 
der Abkömmling der Sonnenſöhne eine ſichere Zukunft 
zu gründen vermochte. 

Man blieb bis zum andern Morgen oben lagern. 
Während der ganzen Nacht war das Wimmern und 
Stöhnen Antonio Perillos zu hören; nach Tagesanbruch 
fand man ihn zuſammengekrümmt und tot zwiſchen den 
Steinen liegend. Die Leichen der beiden Mörder wur⸗ 
den unter dem Geröll begraben; dann brachen die Reiter 
auf, um über Salta und Tucuman zu den befreundeten 
Cambas zurückzukehren. Engelhardt und ſein Sohn 
hatten eigentlich von Tucuman aus einen andern Weg, 
ſchloſſen ſich aber gern den Freunden an, die bei den 
Cambas natürlich einen ſehr freundlichen Empfang 
fanden. 

Dort hatte der Doktor Parmeſan Rui el Ibario 
auf ſie gewartet. Als er erfuhr, was geſchehen war, 
rief er bedauernd aus: „Wie ſchade, daß ich nicht mit 


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den beiden deutſchen Gelehrten nachgekommen bin! Die 
beiden verbrannten Mörder wären am Leben geblieben, 
denn ich hätte die große und einzig daſtehende Operation 
gemacht, ihnen die verſengte Haut vom Körper zu ſchnei⸗ 
den und dadurch der unterbrochenen Transſudation 
Luft zu machen. Sie wiſſen ja, ich ſäble alles herunter.“ 


Der Aufenthalt bei den Cambas wurde benutzt, 
dem Doktor Morgenſtern beim Zerlegen und Verpacken 
ſeines Rieſentieres beizuſtehen. Die einzelnen Teile 
ſollten auf Packpferden befördert werden. Dann zog die 
Hälfte der Truppe des Vater Jaguar in die Wälder, um 
Paraguaytee zu ſammeln, während die andern, unter 
Anführung Hammers, Engelhardt, ſeinen Sohn, Mor⸗ 
genſtern und Fritze nach Buenos Aires begleiteten. Der 
Inka war mit ſeinem Anciano auch dabei, da der 
letztere ſeine Bereitwilligkeit erklärt hatte, die Seereiſe 
nach Deutſchland mit ihm zu unternehmen. 


Jahre ſind ſeitdem vergangen. Leider ſoll der 
Name der deutſchen Stadt nicht genannt werden, wo 
Doktor Morgenſtern ſeinen Studien lebt. Er iſt durch 
ſein Megatherium berühmt geworden und unternimmt 
mit ſeinem treuen Fritze zuweilen eine Reiſe in ferne 
Gegenden, um das Skelett eines Urmenſchen zu ent⸗ 
decken. Nächſtens wird er zu dieſem Zweck nach Si⸗ 
birien gehen. Der Inka hat die Forſtakademie in Tha⸗ 
randt beſucht und iſt Forſtmann und Jäger geworden, 
in welchem Beruf ihn der nun uralte Anciano noch 
immer rüſtig unterſtützt. Engelhardt lebt als Rentier 
am ſchönen grünen Rhein, wo Anton mit ſeinem Bru⸗ 
der eine bedeutende Weinhandlung gegründet hat. Der 
Vater Jaguar aber ſtreift noch immer durch die Pam⸗ 
pas und den Gran Chaco, die ihm zur zweiten Heimat 


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geworden ſind, ohne daß er jedoch ſein deutſches Vater⸗ 
land vergeſſen kann. 

Alle dieſe Perſonen aber korreſpondieren lebhaft 
und freundſchaftlich miteinander, und ſtets bezieht ſich 
ein Teil des Inhalts der Briefe auf die gemeinſchaft⸗ 
lichen Erlebniſſe, denn das Haupt⸗ und Lieblingsthema 
iſt und bleibt bei ihnen für alle Zeit 


„Das Vermächtnis des Inka.“