Karl May's
Geſammelte Werke
— — Band 39 munmmnmmun
Das Vermächtnis des Inka
Karl⸗May⸗Verlag
Radebeul bei Dresden
Das
Vermächtnis des Inka
Erzählung aus Südamerika
von
Karl May
II
Karl⸗May⸗Verlag
Radebeul bei Dresden
938
A ! 4 5 U
. Inhalt
Seite
1. Der Eſpadzt ae R 1
2. Corrida de toroos 2.0. . . . 38
8. „Vater Jaguar > rk 63
4. Eine neue Bebanntfchaft - - - 2 2 222 nn 81
5. Ein Pamparitt 00 0 nenn 132
6. Der Letzte der Inkas 193
7. Eine nächtliche Befreiunn zz 214
8. Die Blutegel des Don Parmeſa n 242
9. Auf dem Kriegspfadu. 279
10. Vater Jaguars Erzählunnn U n 323
11. Bei den Cam bas 816
12. Den Krokodilen zur Beute - » 2. r 382
13. Des Stierkämpfers Geheimniss 414
14. Ein Urwald kame 433
15. Doktor Morgenſtern am Ziel 465
16. Die Säfte des Senor Sererere nn 498
17. Unerwartete Begegnungen 512
18. Das Vermächtnis des Inkl. 539
Alle Rechte, insbeſondere das Recht der Überſetzung, Verfilmung.
Rundfunkſendung, vorbehalten
Copyright 1892 by Karl⸗May⸗Verlag, Radebeul bei Dresden
Zur Verfolgung des Reiſewegs dieſer Erzählung dient unfre
Landkarte „Beiderſeits vom Aquator“, auf der alle in dem
Werk erwähnten Orte, Flüſſe, Berge uſw. eingezeichnet ſind.
Deu der Spamer A.-. in Leipzig
* 1 7
R SS). MAULCA
T N De
Erſtes Kapitel.
Der Eipada.
„Corrida de toros, corrida de toros!“ ertönte es
aus dem Munde der Ausrufer, welche, mit bunten
Schleifen und Bändern geſchmückt, die rechtwinklig ſich
kreuzenden Straßen von Buenos Aires durchzogen.
Corrida de toros war das Thema, das ſeit mehreren
Tagen alle Blätter der Stadt ausführlich behandelten,
und Corrida de toros bildete den Gegenſtand des Ge⸗
ſprächs in allen öffentlichen und Privatlokalen.
Corrida de toros, zu deutſch Stiergefecht, iſt ein
Wort, das jeden Spanier und jeden, dem ein Tropfen
ſpaniſchen Blutes in den Adern fließt, zu begeiſtern
vermag. Er bekümmert ſich nicht um die Einwände,
welche die Gegner dieſer ſeiner Lieblingsvergnügung
Hvorbringen, um zu beweiſen, daß ſie nicht nur mora⸗
G liſch, ſondern auch anderweit verwerflich iſt; er eilt zur
3 Arena, um der Tierquälerei aus voller Kehle zuzu⸗
= jauchzen, und gerät vor Entzücken gar außer ſich,
a wenn ein mannhafter Stier einem Pferd den Leib auf⸗
5 ſchlitzt oder einen der Toreadores auf die Hörner ſpießt.
Ja, Corrida de toros! Wie lange hatte man in
Buenos Aires kein Stiergefecht geſehen; ſeit welcher
Zeit war in der Plaza de toros das Wiehern der Pferde,
das Brüllen der Stiere, das Geſchrei der mu und
May, Das Vermächtnis des Inka.
— 2 —
das Jauchzen der Zuſchauer nicht mehr vernommen
worden! Es war eine ganze lange Reihe von Jahren
her, ſeit das letzte Stiergefecht ſtattgefunden hatte. Und
daran waren die leidigen politiſchen Verhältniſſe des
Landes ſchuld.
Der Krieg, in welchen Lopez, der Diktator von Pa⸗
raguay, die argentiniſche Konföderation gezogen, hatte
der letzteren bis jetzt vierzig Millionen Dollars und
fünfzigtauſend Menſchenleben gekoſtet, ganz abgeſehen
von den zweimalhunderttauſend Opfern, welche die in⸗
folge des Krieges eingeſchleppte Cholera noch forderte.
Da war an Vergnügungen nicht zu denken geweſen.
Das argentiniſche Heer befand ſich gegen Lopez ſtets im
Nachteil; in voriger Woche aber hatte es einen bedeu⸗
tenden Erfolg errungen. Dieſer wurde in Buenos
Aires durch Illumination und feſtliche Umzüge ge⸗
feiert, und um ſich bei der Bevölkerung beliebt zu
machen, ergriff der neu erwählte Präſident Sarmiento
dieſe Gelegenheit, die Erlaubnis zu einem Stiergefecht
zu erteilen.
Obgleich es zur Vorbereitung nur wenig Zeit ge⸗
geben hatte, waren zufälligerweiſe günſtige Umſtände
eingetreten, welche erwarten ließen, daß dieſe Corrida
de toros eine ungewöhnlich feſſelnde ſein werde. Buenos
Aires beſaß nämlich ſelbſt mehrere Stierkämpfer, die
ſich einen Namen erworben hatten und noch von keinem
toro (Stier) geworfen worden waren. Voller Eifer⸗
ſucht gegeneinander, brannten ſie darauf, zu entſcheiden,
welcher von ihnen der geſchickteſte ſei. Da meldete ſich
ein Fremder, ein Spanier aus Madrid, der ſeit einigen
Tagen im Hotel Labaſtie wohnte, und bat um die Er⸗
lanbnis, ſich mit um den Preis bewerben zu dürfen.
Als er ſeinen Namen nannte, waren die Herren des Ko⸗
8
mitees mit Freuden bereit, ihre Einwilligung zu er⸗
teilen, denn dieſer Mann war kein andrer als Sedor
Cruſada, der berühmteſte Eſpada im ganzen ſpaniſchen
Königreich.
Die Kunde davon war geeignet, die Einwohner⸗
ſchaft der Stadt in Erregung zu verſetzen, und doch ſollte
es noch viel beſſer kommen. Es meldeten ſich nämlich
noch zwei Señores, deren Anerbietungen dieſe Erregung
auf das höchſte ſteigerten. Der eine war der Beſitzer
großer Viehherden. Er hatte vor einiger Zeit unter be⸗
deutendem Koſtenaufwand mehrere nordamerikaniſche
Biſons kommen laſſen, um zu verſuchen, ob eine Kreu⸗
zung derſelben mit der einheimiſchen Rinderraſſe zu er⸗
zielen ſei; aber dieſe mächtigen Tiere hatten ſich als ſo
wild und unzähmbar erwieſen, daß er zu dem Entſchluß
gekommen war, ſie erſchießen zu laſſen. Er erbot ſich,
den ſtärkſten dieſer Biſons koſtenfrei zum Stiergefecht zu
liefern. Der andre Senor war Beſitzer einer Hacienda
in der Gegend von San Nicolas. Seine Peons
Enechte) hatten, um einen Jaguar, welcher feine Schaf⸗
herde lichtete, zu fangen, Gruben gegraben und waren
ſo glücklich geweſen, das Raubtier lebendig und unver⸗
letzt in ihre Hände zu bekommen. Um es an einen
Händler verkaufen zu können, hatte man es nicht ge⸗
tötet, und nun erklärte der Haciendero, daß er den Ja⸗
guar bringen laſſen werde, um ihn dem Komitee zu
ſchenken. |
Es läßt ſich denken, daß dieſe Umſtände, die An⸗
weſenheit des berühmten Stierkämpfers und die Ausſicht
auf einen Kampf mit dem Büffel und dem Jaguar nicht
allein für das Publikum, ſondern vor allen Dingen auch
für die einheimiſchen Toreadores von höchſtem Inter⸗
eſſe war. |
SER
Toreadores oder Toreros werden die Stierfechter
im allgemeinen genannt. Das Wort leitet ſich von
toro, der Stier, her. Sie gliedern ſich in mehrere be⸗
ſondere Abteilungen, von denen jede ihre eigene, be⸗
ſtimmte Aufgabe zu löſen hat. Da ſind zunächſt die
Picadores, welche, auf Pferden ſitzend, den Stier mit
ihren Lanzen zu reizen haben. Sodann die Chulos
oder Banderillos, denen es obliegt, falls ein Picador
in Gefahr kommen ſollte, die Aufmerkſamkeit des Stie⸗
res durch bunte Schärpen von jenem ab⸗ und auf ſich
zu lenken und ihm dünne, mit Widerhaken verſehene
Stäbe in den Nacken zu ſtoßen. Endlich die Eſpadas,
die eigentlichen Kämpfer, die den Stier mit dem Degen
zu erlegen haben. Sie haben ihren Namen von dem
Worte espada, Degen, erhalten. Zu erwähnen ſind
noch die Matadores, nach dem Worte matar, ſchlachten,
ſo genannt. Dieſe Schlächter gehören nicht zu den
eigentlichen Stierkämpfern; ſie ſind Zirkusknechte und
haben dem Stier, falls er von dem Eſpada nicht tödlich
getroffen wird, aber doch niederſtürzt, den Gnadenſtoß
zu geben.
Wie bereits erwähnt, durchzogen Ausrufer die
Straßen von Buenos Aires, um zu verkünden, daß der
Stierkampf morgen ſtattfinden werde. Zuweilen
blieben ſie ſtehen, um den Paſſanten mit weithin ſchal⸗
lender Stimme das Programm und alle nähern Um⸗
„ ſtände mitzuteilen. Es war gegen Abend. Wer es
tun konnte, der ſchloß fein Geſchäft, um eine Reftau-
ration, ein Café oder eine Confiteria aufzuſuchen und
dort ſich über das Ereignis des Tages auszuſprechen.
Confiterias ſind öffentliche Lokale, in denen man nur
Kuchen und Eis genießt.
Das Café de Paris, welches als das feinſte in
1
5 ee
Buenos Aires gilt, war fo von Gäſten gefüllt, daß fall
fein leerer Stuhl zu ſehen war. Es ging da ſehr leb⸗
haft her, beſonders an einem Tiſche, zu dem die Blicke
der Anweſenden immer und immer wiederkehrten, denn
dort ſaßen die drei argentiniſchen Eſpadas, welche mor⸗
gen ihre Geſchicklichkeit zu zeigen hatten. Unter ſich
voll gegenſeitiger, heimlicher Eiferſucht, zeigten ſie ſich
in ihren Worten darin einig, daß es ein geradezu un⸗
verzeihlicher Fehler des Komitees ſei, den Spanier zu⸗
gelaſſen zu haben. Sie nahmen ſich vor, alles mögliche
zu tun, ihm ſeinen bisherigen Ruhm zu entreißen.
Einer von ihnen, der das große Wort führte, vermaß
ſich, den nordamerikaniſchen Biſon gleich mit dem erſten
Stoße zu erlegen, und wendete ſich an die Anweſenden,
indem er ſich erbot, mit jedem zu wetten, daß er ſein
Wort halten werde.
In ſeiner Nähe ſaßen an einem andern Tiſche vier
feingekleidete Herren, von denen beſonders einer in die
Augen fiel. Er war von beinahe rieſiger Geſtalt und
trug, obgleich er nicht viel über fünfzig Jahre alt ſein
konnte, einen langen, dichten Vollbart, welcher faſt die
Weiße des Schnees hatte. Sein Haupthaar beſaß die
gleiche Farbe. Infolge ſeines ſonnverbrannten Geſichts
hätte man ihn für einen Gaucho oder überhaupt einen
Mann halten ſollen, der nur im Freien, auf der
Pampa oder gar in der Wildnis lebe, aber ſein elegan⸗
ter, nach dem neueſten Pariſer Schnitt gefertigter
Anzug ſprach vom Gegenteil. Seine drei Nachbarn
waren ebenſo ſonnverbrannt wie er. Einer von ihnen
wendete ſich mit den Worten an ihn: „Haſt du den
Großſprecher gehört, Carlos?“
Der Weißbärtige nickte mit dem Kopfe.
„Was ſagſt du dazu?“
u
Der Gefragte zuckte mit der Achſel, indem ein
leichtes, geringſchätziges Lächeln über ſein ernſtes Ge⸗
ſicht glitt.
„Ganz deiner Meinung!“ fuhr der andre fort.
„Es gehört ſchon etwas dazu, einen hieſigen Toro, bevor
er abgemattet iſt, mit dem Degen zu erlegen. Du wirſt
beſſer wiſſen als wir, was ein nordamerikaniſcher
Büffel zu bedeuten hat, denn du biſt jahrelang dort
oben geweſen und haſt Biſons gejagt. Dieſer Eſpada
hier wird wohl ſchwerlich imſtande ſein, ſein Ver⸗
ſprechen zu halten.“
„Das meine ich auch. Mit dem Munde tötet man
keinen Büffel.“
Er hatte die Worte lauter geſprochen, als es von
ihm wohl beabſichtigt worden war. Der Eſpada hörte
ſie, ſprang von ſeinem Stuhle auf, trat herbei und ſagte
in faſt befehlendem Ton: „Senor, wollen Sie mir
wohl ſagen, wie Sie heißen?“
Der Weißbärtige maß ihn mit einem unendlich
gleichgültigen Blick und antwortete dann: „Warum
nicht, wenn ich vorher Ihren Namen kennen gelernt
habe.“ .
„Mein Name iſt weithin berühmt. Ich heiße
Antonio Perillo.“
Da leuchteten die Augen des Rieſen für einen
Augenblick ganz eigentümlich auf, doch ließ er ſchnell
die Lider ſinken und meinte in dem gleichen Tone wie
vorher: „Mein Name iſt ſchwerlich ſo berühmt wie der
Ihrige. Ich heiße Hammer.“
„Iſt das ein deutſcher Name?“
„Ja.“ |
„So find Sie ein Deutſcher?“
„Allerdings.“
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„So halten Sie gefälligſt den Mund, wenn es ſich
um hieſige Angelegenheiten handelt! Ich bin ein Por⸗
teno, verſtanden?“
Er ſagte dieſes Wort mit ſcharfer Betonung und
blickte dem andern dabei von oben herab ſtolz in das
Geſicht. Portenos nennen ſich die eingeborenen Be⸗
wohner des Landes im Gegenſatz zu den Eingewander⸗
ten. Wenn der Eſpada glaubte, mit dieſem Worte Ein⸗
druck zu machen, ſo hatte er ſich geirrt, denn der Rieſe
tat gar nicht, als ob er deſſen Bedeutung kenne. Dar⸗
um fuhr der Eſpada in noch zornigerem Tone fort:
„Sie haben mit Geringſchätzung von mir geſprochen.
Wollen Sie Ihren Ausdruck zurücknehmen?“
„Nein. Ich habe geſagt, daß man einen Büffel
nicht mit Worten tötet, und weil ich eben ein Deutſcher
bin, pflege ich ſtets zu wiſſen, was ich ſage.“
„Carracho! Das iſt ſtark! Ich, der berühmteſte
Eſpada dieſes Landes, ſoll mich von einem Deutſchen
verhöhnen laſſen! Mann, wenn ich Sie nun vor meine
Klinge fordre, was werden Sie da ſagen?“
„Nichts, gar nichts werde ich ſagen, da es ja der
Rede gar nicht wert iſt,“ antwortete Hammer, indem er
ſich auf ſeinem Stuhle zurücklehnte und dem Eſpada
einen Blick zuwarf, der auf alles andre, aber nur nicht
auf Furcht ſchließen ließ. Das erregte dieſen noch mehr.
Er trat mit vor Zorn funkelnden Augen noch einen
halben Schritt näher, hob den Arm wie zum Schlage
und rief: „Wie, Sie wollen mir die Beleidigung nicht
abbitten und mir auch keine Genugtuung geben?“
„Nein.“
„Gut, fo werde ich Sie als einen chrloſen Feigling
kennzeichnen. Hier haben Sie das!“
3
| Er wollte dem Deutſchen mit der Fauft in das Ge⸗
ſicht ſchlagen; dieſer aber parierte den Hieb von unten
herauf mit dem Arm, fuhr ſchnell empor, nahm den
Eſpada bei den beiden Armen, drückte ſie ihm an den
Leib, hob ihn in die Höhe und warf ihn, als ob er ein
federleichter Gegenſtand ſei, an die Wand, daß es
krachte.
Alle Gäſte erhoben ſich von ihren Sitzen, um zu
ſehen, was nun geſchehen werde. Der Eſpada war, wie
überhaupt alle Anweſenden, von denen keiner das Ge⸗
wand der Pampa trug, auf franzöſiſche Art gekleidet,
und es ſtand alſo nicht zu erwarten, daß er eine Waffe
bei ſich tragen werde, doch griff er, nachdem er ſich raſch
aufgerafft hatte, unter den Rock, zog ein langes Gaucho⸗
meſſer hervor und drang wutbrüllend auf den Deutſchen
ein. Dieſer wich keinen Zoll zurück, ſondern ſah ihm
mit ſcharfem Auge entgegen, packte ihn mit raſchem
Griffe an dem das Meſſer hochhaltenden Arm und
drückte ihm dieſen ſo, daß er die Waffe mit einem
Schmerzensſchrei fallen ließ. Dann gebot er ihm in
drohendem Ton: „Gib Ruhe, Antonio Perillo! Mir
kommt man nicht in dieſer Weiſe. Wir befinden uns
in Buenos Aires, nicht aber in der Salina del Condor.
Verſtanden?“ |
Bei diefen Worten nahm er feinen Gegner fo
ſcharf in das Auge, als ob er ihm in das innerſte Herz
blicken wolle. Perillo fuhr zurück und ſtarrte den
Sprecher erſchrocken an. Er war bleich, ſehr bleich ge⸗
worden; ſein Auge flimmerte in einem ungewiſſen
Schein, und ſeine Stimme zitterte beinahe, als er ant⸗
wortete: „Die Salina del Condor? Was iſt's mit
dieſer? Ich kenne ſie nicht.“
„Du kennſt ſie nur zu gut; ich ſehe es dir an.“
9,
„Ich weiß nicht, was Sie reden und was Sie
wollen. Ich mag mit Ihnen nichts zu tun haben.“
„Dazu haſt du allen Grund; hüte dich, Antonio
Perillo!“
Er griff in die Taſche, warf, um das Genoſſene zu
bezahlen, eine Anzahl von Papiertalern auf den Tiſch,
nahm den Hut vom Nagel und ſchritt der Türe zu, ohne
daß jemand es wagte, ihn anzuhalten. Seit er nicht
mehr auf dem Stuhle ſaß, ſondern ſich aufgerichtet hatte,
ſah jeder ein, daß mit dieſem Goliath nicht gut anzu⸗
binden ſei. Seine drei Gefährten folgten ihm.
Erſt als die Türe ſich hinter ihnen geſchloſſen hatte,
kehrte dem Eſpada der Mut zurück. Er wendete ſich an
ſeine Gefährten, um ſeine Niederlage zu beſchönigen,
denn einer derſelben rief ihm höhniſch zu: „Welch eine
Blamage, Antonio Perillo! Er hat dich geworfen!“
„Laufe ihm doch nach, und binde mit ihm an!
Gegen ſo einen Rieſen kann kein Menſch aufkommen.“
„Das mag ſein. Aber er nannte dich Du. Welche
Verächtlichkeit! Und du ließeſt es dir nicht nur ge⸗
fallen, ſondern nannteſt ihn Sie, wie vorher.“
„Ich habe auf das Du gar nicht geachtet.“
„Und was war es mit dieſer Salina del Condor?
Was meinte er damit?“
„Weiß ich es? Dieſer Aleman ſcheint an einer
fixen Idee zu leiden. Ihr wißt ja, daß die Deutſchen
alle Träumer oder mondſüchtig ſind. Sprechen wir
nicht mehr davon!“
Vielleicht hätte man dieſes Thema doch nicht fallen
laſſen, wenn nicht eben jetzt eine Perſon eingetreten
wäre, welche die Blicke aller auf ſich zog. Es war ein
Gaucho, aber von ſo kleiner, ſchmächtiger Geſtalt, wie
keiner der Anweſenden in ſeinem Leben jemals einen
— 10 —
Gaucho geſehen hatte. Das Männchen trug eine ſehr
weiße und ſehr weite Hoſe, die ihm nur bis an die
Knie reichte, und eine rote, baumwollene Chiripa. Das
iſt eine Decke, die der Bewohner der Pampa ſchräg um
die Hüften ſchlägt, vorn und hinten emporzieht und
dann um den Leib legt, wo ſie von einem Gürtel feſt⸗
gehalten wird. Die Aermel des Hemdes, das ebenſo
rein und weiß wie die Hoſe war, hatte der kleine Trä⸗
ger bis über die Ellbogen aufgewickelt, ſo daß ſeine
Vorderarme unbedeckt waren. Ueber den Gürtel war
eine rote Schärpe gebunden, deren Enden an der Seite
herunterhingen. Ein ebenfalls roter Poncho bedeckte
den Oberkörper; das iſt eine wollene Decke, in deren
Mitte ſich ein Schnitt befindet, wodurch man den Kopf
ſteckt. Die Unterſchenkel waren mit echten Gaucho⸗
ſtiefeln bekleidet, die folgendermaßen zubereitet werden.
Man zieht beim Schlachten eines Pferdes von den
unteren Beinen die Haut, doch ohne ſie zu zerſchneiden,
noch lebenswarm herunter und legt ſie in heißes Waſ⸗
ſer, um die Haare leichter abſchaben zu können. Man
ſteckt, während dieſe Häute noch naß ſind, die Füße hin⸗
durch und zieht ſie wie Strümpfe an. Sobald das
Leder trocken wird, legt es ſich feſt um die Waden und
bildet eine ſehr wetterfeſte Bekleidung, die man freilich
niemals ablegen kann, ſondern tragen muß, bis ſie von
ſelbſt zerreißt und von den Beinen fällt. Natürlich
ſind da nur die Unterſchenkel und der obere Teil des
Fußes bedeckt; die Zehen aber ſehen vorn heraus und
auch die Fußſohle bleibt nackt. Der Gaucho, der ſolche
Stiefel trägt, geht alſo barfuß — wenn er nämlich
geht. Von Gehen iſt bei ihm nur dann die Rede, wenn
er ſich im Innern ſeiner Hütte befindet, ſonſt aber ſitzt
er ununterbrochen im Sattel. Daß die Zehen nackt
find, kommt ihm bei der Beſchaffenheit feiner Steig⸗
bügel zu ſtatten, denn dieſe ſind ſo klein, daß er nur die
große Zehe hineinzuſtecken vermag. Deſto größer ſind
die Sporen, die er trägt. Auch der kleine Mann, der
jetzt in das Café getreten war, hatte ein paar Räder
angeſchnallt, welche die Größe eines ſilbernen Fünf⸗
markſtückes beſaßen. Ein graues Filzhütchen, von dem
eine Troddel hing, ſaß ihm auf dem Kopfe, und unter
dieſem Hute trug er ein rotſeidenes Tuch, deſſen hinten
herabgehenden Zipfel er vorn am Halſe feſtgebunden
hatte. Solche Tücher trägt der Gaucho unter dem
Hute, da ſie den Nacken vor dem Sonnenbrand ſchützen
und zugleich eine angenehme Kühlung gewähren, weil
ſie beim Reiten vorn die Luft auffangen und dem
Nacken zuführen. In dem Gürtel unter der Schärpe
ſteckte ein langes Meſſer und eine zweiläufige Piſtole,
und über die Achſel hing an einem breiten Riemen eine
Doppelflinte, die nicht viel kürzer als der Mann ſelber
war. In den Händen trug er zwei Bücher.
Dieſer letztere Umſtand war es beſonders, der die
Augen auf ihn zog. Ein Gaucho mit Büchern! Das
hatte man noch nicht geſehen. Dazu war er vollſtändig
glatt raſiert, was ebenſo auffallen mußte. Auch blieb
er vorn an der Tür für einen Augenblick ſtehen und
grüßte, was keinem andern jemals eingefallen wäre,
mit einem lauten „Buenos dias — guten Tag!“ Dann
ſchritt er auf den Tiſch zu, der ſoeben leer geworden
war, ſetzte ſich daran nieder, ſchlug beide Bücher auf
und begann, gerade ſo, als ob er ganz allein ſei, höchſt
eifrig darin zu blättern und zu leſen. Es waren zwei
Abhandlungen der königlichen Akademie der Wiſſen⸗
ſchaften in Berlin, von E. d' Alton und von Weiß.
== 19...
Der vorhin herrſchende Lärm hatte ſich in die
tiefſte Stille verwandelt. Der Kleine überraſchte die
Leute alle. Sie wußten nicht, was ſie von ihm und
über ihn denken ſollten. Das kümmerte ihn aber nicht
im mindeſten; ja, er bemerkte es gar nicht; er las und
fühlte ſich auch nicht geſtört, als man wieder lauter
wurde und von neuem auf das Stiergefecht zu ſprechen
kam. Nur als einer der Kellner, ein ebenſo kleiner
Burſche wie er ſelbſt, zu ihm trat, um ihn zu fragen,
was er wünſche, blickte er auf und fragte im reinſten
Spaniſch: „Haben Sie Bier? Ich meine nämlich
Cerevisia, wie es lateiniſch heißt.“
„Ja, Señor, Bier haben wir, die Flaſche zu ſechs
Papiertalern.“
„Bringen Sie mir eine Flaſche, eine Ampulla oder
Lagena auf lateiniſch.“
Der Kellner ſah ihn verwundert an, brachte
Flaſche und Glas und goß das letztere aus der erſteren
voll. Der Gaſt trank aber nicht und ſah nicht von den
Büchern auf. Man beſchäftigte ſich, einen ausgenom⸗
men, nicht mehr mit ihm, und dieſer eine war Antonio
Perillo, der Eſpada. Er ließ ihn faſt nicht aus den
Augen; er ſchien ſich innerlich nur mit ihm zu beſchäf⸗
tigen und beteiligte ſich gar nicht mehr an der Unter⸗
haltung. Endlich ſtand er gar auf, kam herbei, ver⸗
beugte ſich und ſagte in ſehr höflichem Ton: „Ent⸗
ſchuldigung, Seüor! Wir ſcheinen uns zu kennen?“
Der kleine, rote Gaucho blickte überraſcht von
ſeiner Lektüre auf, erhob ſich und antwortete in ebenſo
höflicher Weiſe: „Es tut mir leid, Seßor, Ihnen
ſagen zu müſſen, daß Sie ſich irren. Ich kenne Sie
nicht.“
— 13 —
„So müſſen Sie Gründe haben, dies jetzt zu ſagen.
Ich bin überzeugt, daß wir uns oben am Fluſſe ſchon
begegnet ſind.“
„Nein, denn ich bin gar nicht da oben geweſen.
Ich befinde mich erſt ſeit einer Woche hier im Lande
und habe Buenos Aires noch mit keinem Schritt ver⸗
laſſen.“
„So darf ich vielleicht fragen, wo Sie eigentlich zu
Hauſe ſind?“
„In Jjterbogk, welches auch Jüterbog oder Jũü⸗
terbock geſchrieben wird. Es iſt bis jetzt unentſchieden
geblieben, welche Schreibweiſe die richtige iſt. Ich ent⸗
ſcheide mich aber unbedingt für Jüterbogk, weil da bog
und bock vereinigt iſt.“
„Dieſer Ort iſt mir vollſtändig unbekannt. Wür⸗
den Sie die Güte haben, mir Ihren Namen zu ſagen?“
„Ganz gern. Morgenſtern, Doktor Morgenſtern.“
„Und Ihr Stand?“
„Ich bin Gelehrter, oder, genauer ausgedrückt,
Privatgelehrter.“
„Und womit beſchäftigen Sie ſich?“
„Mit Zoologie, Senor. Gegenwärtig bin ich nach
Argentinien gekommen, um das Glyptodon, das Mega⸗
therium und das Maſtodon aufzuſuchen.“
„Das verſtehe ich nicht. Ich habe dieſe Worte noch
nie gehört.“
„Ich meine das Rieſengürteltier, das Rieſenfaul⸗
tier und den Rieſenelefanten.“
Der Eſpada machte ein langes Geſicht, ſah den
Kleinen mit prüfendem Blick an und fragte dann:
„Sprechen Sie im Ernſt, Senor?“
„Natürlich!“
„Und wo wollen Sie dieſe Tiere ſuchen?“
ae 1
„Natürlich in der Bampasformation, von der man
leider noch nicht genau ſagen kann, ob ſie ſich ſchon vor
oder gleichzeitig mit dem Diluvium gebildet hat.“
„Diluvium? Seßsor, ich verſtehe! Sie bewegen
ſich in dieſer unverſtändlichen Sprache, um mir anzu⸗
deuten, daß ich Ihnen unbequem bin.“
„Dieſe Sprache iſt keineswegs ſo unverſtändlich,
wie Sie meinen. Sehen Sie in dieſe beiden Bücher,
deren Verfaſſer ſehr tüchtige Kenner des Diluviums
find! Weiß und d' Alton; ſie müſſen Ihnen unbedingt
bekannt ſein, und — — —'
| „Nein, gar nicht, gar nicht,“ unterbrach ihn der
Stierkämpfer. „Dieſe beiden Herren kenne ich nicht.
Von Ihnen aber möchte ich ſelbſt jetzt noch behaupten,
daß ich Sie kenne, und zwar genauer noch, als Sie
denken. Geben Sie zu, daß der Anzug, den Sie jetzt
tragen, eine Verkleidung iſt?“
„Eine Verkleidung? Hm! Wenn ich wahr ſein
will, ſo muß ich allerdings zugeben, daß ich ſonſt nicht
gewohnt bin, als Gaucho zu gehen.“
„Aber Sie reiten doch ausgezeichnet, wie ich ge⸗
ſehen habe!“
„Das iſt ein Irrtum, Senor. Ich habe zwar
ſchon einigemal Gelegenheit gehabt, ein Roß, lateiniſch
Equus, zu beſteigen; was aber der Lateiner equo vehi
nennt, nämlich die Kunſt des Reitens, iſt mir doch zu
vollen neun Zehnteilen fremd geblieben.“
Perillo konnte ſich eines Kopfſchüttelns nicht er-
wehren. Er zog ſein Geſicht in ein diplomatiſches
Lächeln und meinte, indem er ſich verbeugte: „Ich
darf nicht weiter in Sie dringen, Senor, denn jedes
Ihrer Worte ſagt mir, daß Sie unerkannt bleiben
wollen. Haben Sie die Güte, meine Zudringlichkeit zu
u. HR:
verzeihen! Ich bin überzeugt, daß die Zeit kommt, wo
Sie Ihre gegenwärtige Maske fallen laſſen werden!“
Er begab ſich nun an ſeinen Tiſch zurück. Der
rote Gaucho ſchüttelte nun ſeinerſeits den Kopf, ſetzte
ſich nieder und murmelte: „Maske! Fallen laſſen!
Dieſer Senor ſcheint ſehr zerſtreut zu fein.“
Dann beugte er ſich wieder über ſeine Bücher.
Aber er ſollte bald geſtört werden, denn der kleine Kell⸗
ner, der in der Nähe geſtanden und die Unterhaltung
gehört hatte, kam näher und ſagte: „Senor, wollen
Sie nicht trinken? Es iſt ſchade um das Bier, es ſo
lange offen ſtehen zu laſſen.“
Der Gaucho blickte zu ihm auf, griff nach dem
Glaſe, tat einen Zug und meinte dann in freundlichem
Ton: „Ich danke Ihnen, Seüor. Man ſoll ſich ges
wöhnen, über dem Notwendigen nicht das Angenehme
zu vergeſſen. Und das Trinken, lateiniſch potio, iſt
nicht nur angenehm, ſondern ſogar notwendig.“
Er wollte weiter leſen, da er aber bemerkte, daß
der Kellner noch ſtehen blieb, fragte er: „Belieben Sie
noch eine Bemerkung, Senor?“
„Wenn Sie geſtatten, ja. Sie ſprachen vorher von
Jüterbogk. Sollten Sie ein Deutſcher ſein?“
„Der bin ich allerdings, wie auch mein Name
Morgenſtern beweiſt. Wäre ich ein Römer, ſo würde
ich lateiniſch Jubar heißen.“
„Das freut mich ungeheuer, Senor. Darf ich
deutſch mit Ihnen reden?“
„Deutſch? Sind Sie denn ein Deutſcher?“
„Na, und wat for einer! Ick bin in Stralau bei
Berlin jeboren, alſo een näherer Landsmann von Sie,
Herr Doktor. Denn dat Sie ooch Doktor find, dat habe
ick vorhin jehört.“
5 IOL'e
„Ein Stralauer! Wer hätte das gedacht! Ich
habe Sie für einen Argentinier gehalten. Wie kommen
Sie denn über die See herüber?“
„Als jeborene Waſſerjungfer, wat man ſo 'ne Li⸗
belle nennt. Sie wiſſen doch, von wejen dem Stra⸗
lauer Fiſchzug und dem Rummelsburger See. Da iſt
man dat Waſſer jewöhnt und jeht dem Waſſer nach.
So bin ick nach Hamburg jekommen und dann weiter
ins Südamerika.“
„Was wollten Sie hier?“
„Reich werden wollte ick natürlich.“
„Nun, und?“
„Ja, nun, und! Das Reichwerden jeht nicht ſo
ſchnell, wie ick mich's jedacht hatte. Es kommen auch
arme Zeiten mit mang, und wenn die nicht wieder uff⸗
hören, da bringt man die Million, von der ick je⸗
ſchwärmt habe, eben nicht zuſammen.“
„Haben Sie Verwandte zu Hauſe?“
„Nee. Hätte ick ſo wen oder wat jehabt, ſo wäre
ick daheim jeblieben. Dann wollt' ick jern beis Mili⸗
tär, denn mein Herz iſt ſtets jut patriotiſch jeſtimmt
jeweſen; aber da ick um zwei Zoll zu kurz jeweſen bin,
haben ſie mir nicht jenommen, ſondern vor untauglich
erklärt. Darüber bin ick ſo ergrimmt jeweſen, daß ick
in die Fremde jegangen bin, um zu ſehen, ob man mir
da für tauglich halten wird.“
„Wie lange ſind Sie nun ſchon hier?“
„Fünf Jahre, wat mit die fünfundzwanzig Lenze
ſtimmt, die ich bisher in Blüte jeſtanden habe.“
„Und womit haben Sie ſich während dieſer Zeit
beſchäftigt?“
„Mit allem möglichen, wat ehrlich war, doch ohne
es zu wat zu bringen. Jetzt bin ick Kellner hier, doch
= 142
auch nicht feft, ſondern nur zur Aushilfe für heute, weil
man viel Jäſte erwartet hat. Zuletzt habe ick mir mit
Hafenarbeit beſchäftigt.“
„Waren Sie ſchon im Innern des Landes? Ich
frage nämlich nicht ohne Urſache.“
„Damit kann ick auch dienen. Ick bin ſchon zwei⸗
mal bis nach Tucuman hinein jeweſen, und zwar als
Pferdeknecht.“
„So können Sie reiten?“
„Wie im Löwenritt von Freiligrath. So wat
lernt ſich hier zu Lande oft und manchmal ſchneller, als
man's vorher jedacht hat.“
„Das iſt gut, ſehr gut! Und nun die Haupt⸗
ſache. Es ſoll hier in Argentinien ſehr viel Knochen
geben?“
„Maſſenhaft!“
„Ausgezeichnet! Ich ſuche welche.“
„Knochen? Weshalb?“
„Aus Intereſſe für die Sache.“
„So? Dat ift freilich ein Intereſſe, wie ick noch
keins jefunden habe. Aber da kann ick Ihnen tröſten.
Wenn Sie Knochen haben wollen, ſo kann ick Ihnen
lanze Schiffsladungen voll verſchaffen.“
„Antediluvianiſche?“
„Dat verſtehe ick nicht; ick ſage nur, dat ſie von
allen Sorten zu haben ſind.“
„Vom Maſtodon?“
„Von Maſtrindern? So viel Sie haben wollen.“
„Ich meine, ob vom Rieſenelefanten.“
„Dieſes Vieh kenne ich nicht.“
„Das iſt begreiflich, da es ſchon vor der Sintflut
gelebt hat.“
may, Das Vermächtnis des Juka 2
„Dann iſt's futſch und hat keine Knochen mehr.
Hier jibt's nach der Sintflut nur noch Knochen von
Rindern, Pferden und Schafen.“
„Sie verſtehen mich nicht. Ich ſuche nach Knochen
von vorweltlichen Tieren, wie man ſie im hieſigen na⸗
turhiſtoriſchen Muſeum findet.“
„Ah, ich verſtehe! Die ſtecken in der Erde, wo
man fie herausbuddeln muß. Habe ick ooch jeſehen.
Die ſind in der janzen Pampa zu finden. Alſo ſo 'ne
Sachens wollen Sie ſuchen und ausgraben?“
„Ja. Ich werde Gauchos in Dienſt nehmen und
habe deshalb, um ihnen gleich von vornherein als ein
ſympathiſcher Menſch zu erſcheinen, mich ſo wie ſie ge⸗
kleidet. Vor allen Dingen brauche ich einen Diener,
auf den ich mich verlaſſen kann. Sie gefallen mir, Sie
haben ein ehrliches und zugleich pfiffiges Geſicht und
ſcheinen nicht an Dummheit zu leiden, was der La⸗
teiner Vecordia nennt. Haben Sie nicht Luſt, mein
Diener zu werden?“
„Warum nicht, wenn Sie mir jut behandeln.“
„So kommen Sie morgen früh zu mir, damit wir
das Nötige beſprechen können. Kennen Sie den
Bankier Salido?“
„Ja. Er hat fein Jeſchäft hier janz in der Nähe,
wohnt aber in ſeiner Quinta draußen vor der Stadt.“
Da wohne auch ich, denn ich bin ihm empfohlen
und ſein Gaſt. Jetzt laſſen Sie mich weiter leſen.“
„Jut, leſen Sie man immer weiter, Herr Doktor.
Morjen werde ick mir einſtellen, und ick denke, daß wir
beide dabei ein jutes Jeſchäft machen werden. Ick
ſchaffe Ihnen jeden Knochen aus der Erde, und wenn er
noch x jroß iſt.“
er Inhalt dieſes Geſpräches ſchien Morgenſtern
=. 19
noch weiter zu befchäftigen, denn er las nun weniger
aufmerkſam als vorher und vergaß auch das Trinken
nicht. Als er ſeine Flaſche ziemlich geleert hatte, ſtand
Antonio Perillo auf, um zu bezahlen und fort zu
gehen. Einige Zeit ſpäter brach auch Morgenſtern auf.
Er bezahlte ſeine ſechs Papiertaler. Das klingt ſehr
hoch, iſt aber nicht ſo gefährlich, wie es ſcheint, da der
Papiertaler einen Wert von ſechzehn deutſchen Pfen⸗
nigen hatte. Dennoch aber tft der Preis von ſechsund⸗
neunzig Pfennigen für eine Flaſche Bier kein niedriger
zu nennen, aber das Bier, wenigſtens das aus Europa
eingeführte, galt damals noch mehr als heute als
Luxusgetränk.
Als er das Cafs verlaſſen hatte, wendete er ſich
links in die Straße, welche direkt und in ſchnurgerader
Richtung nach der Quinta des Bankiers führte. Er
war zu ſehr mit ſeinen gelehrten Gedanken beſchäftigt,
um die zwei Geſtalten zu ſehen, die gegenüber wartend
an den Pfeilern einer Tür lehnten. Es war nämlich
Antonio Perillo und ein andrer, der ſich vorhin im Cafe
befunden hatte. Dieſer andere war noch größer und
ſtämmiger als der Stierkämpfer und ſein mäch⸗
tiger Körperbau ließ auf eine ungewöhnliche Kraft
ſchließen. Seinem von Wind und Wetter gegerbten,
bartloſen Geſicht ſah man es an, daß er in den Pampas
und den Bergen daheim war. Doch war der Eindruck,
den dieſes Geſicht machte, kein günſtiger zu nennen.
Die ſchmale, ſcharf gebogene Naſe erinnerte unwillkür⸗
lich an den Schnabel eines Geiers. Unter den auf der
Naſenwurzel zuſammenſtoßenden Brauen blickten
ſtechende Augen hervor. Die ſchmalen, farbloſen Lippen
verſtärkten noch den Eindruck dieſes raubvogelartigen
— 20 —
Geſichts. Gekleidet war er in die Landestracht. Auf
dem Kopfe trug er einen breitrandigen Sombrero.
Als er die Züge des deutſchen Gelehrten im Lichte
der Fenſter des Cafés, an denen dieſer vorüberging,
deutlich erkannte, flüſterte er Perillo zu: „Gar kein
Zweifel; er iſt's, und wenn er noch ſo ſehr geleugnet
hat.“
„Er hat ſich nur den Bart ſcheren laſſen und die
Tracht eines Gaucho angelegt. Damit macht er doch
Leute, wie wir ſind, nicht irre. Ich muß wiſſen, wo er
wohnt. Schleiche ihm nach!“
„Gehſt du nicht mit?“
„Nein. Er könnte ſich umdrehen und mich er⸗
kennen. Dann würde er Verdacht faſſen. Ich trete in
„die Confiteria hier rechts, um auf deine Rückkehr zu
warten.“
Perillo ging in die Kuchenſtube, und der andre
folgte dem Deutſchen heimlich nach. Die Straße
führte, wie bereits geſagt, in ſchnurgerader Linie fort,
denn Buenos Aires iſt höchſt regelmäßig gebaut. Es
beſteht aus lauter Häuſervierecken, zwiſchen denen die
Straßen ſich genau rechtwinklig kreuzen. Man kann
alſo den Plan der Stadt mit einem Schachbrett ver⸗
gleichen.
Die Umgebung iſt landſchaftlich ganz und gar un⸗
bedeutend. Es gibt keine Abwechſelung, keine Höhen
und Täler, keine Büſche und Wälder. Hat man die
Stadt hinter ſich, ſo ſteht man auf der offenen, ebenen
Pampa, und am Horizont ſchwimmen Himmel und
Erde ſo zuſammen, daß von einer Grenzlinie zwiſchen
beiden keine Rede iſt. Der Hafen iſt ſchlecht, und das
Waſſer des Plata hat eine lehmige, ſchmutzige Farbe,
ſo daß auch er der Stadt keinen Reiz verleiht.
— 21 —
Buenos Aires bedeckt ungefähr den gleichen
Flächenraum wie Paris. Man kann ſich alſo denken,
wie weitläufig alles iſt. Es gibt mehrere ſehr ſchöne
Straßen und Plätze, kommt man aber über den Kern
der Stadt hinaus, ſo trifft man auf roh gemauerte Ma⸗
gazine, häßliche Hütten und Schuttplätze. Einige der
Außenſtraßen freilich haben ein elegantes Ausſehen,
da an ihnen die Villen der reichen Einwohner ſtehen.
Eine ſolche Villa wird hier Quinta genannt.
In den innern und belebteſten Vierteln der Stadt
findet man zwei⸗, drei⸗ und wohl auch vierſtöckige Häu⸗
ſer; ſonſt aber beſtehen die Gebäude nur aus dem Erd⸗
geſchoß; fie ragen nicht in die Höhe, dehnen ſich aber
deſto mehr in die Breite und Tiefe. Dieſe Gebäude
haben flache, mit Ziegelſteinen belegte Dächer, über
denen ſich kleine Warttürme erheben, die man Mira⸗
dores nennt. Die Dächer find ein klein wenig geneigt,
damit der Regen in den Hof und die darin befindliche
Ziſterne ablaufen kann.
Nur die ärmeren Leute haben einen einzigen Hof;
beſſere Häuſer aber werden von drei, vier und noch
mehr Höfen eingeſchloſſen. Steht man vor der in durch⸗
brochener Eiſenarbeit künſtleriſch modellierten Türe
eines ſolchen Gebäudes, ſo kann man durch dieſe eine
ganze Reihe von ſauberen, mit Springbrunnen und
Blumen geſchmückten Marmorhöfen ſehen. Denn
Marmor iſt das Material, woraus die Häufer der
Wohlhabenden gebaut werden.
Wird gefragt, warum es in Buenos Aires nur
flache Dächer gibt, ſo iſt die Antwort ſehr einſach. Zu⸗
nächſt erfordern ſchräge, hohe Dächer weit mehr Ma⸗
terial und ſind nur in ſolchen Gegenden notwendig, wo
eine durchſchnittlich große Regenmenge fällt; in Buenos
— 22 —
Aires aber fällt bedeutend weniger Regen als bei uns.
Sodann würden hohe Dächer und Giebel dem Pam-
pero, dem gewaltigen, verheerenden Sturm, der von den
Cordilleren niederſtreicht, viel zu große Flächen bieten.
Und endlich ſchaffen flache Dächer die Annehmlichkeit,
daß man auf ihnen des Abends ſpazieren gehen und
friſche Luft ſchöpfen kann.
Wer da glaubt, daß man auf den Straßen von
Buenos Aires eine Menge dahergaloppierender Gau⸗
chos ſehen kann, hat ſich ſehr geirrt. Man möchte viel⸗
mehr meinen, ſich in einer europäiſchen Stadt zu be⸗
finden. Alles kleidet ſich hier in franzöſiſcher Tracht.
Auch iſt die Zahl der Europäer, die hier wohnen, eine
ganz beträchtliche. Nur die Hälfte der Bevölkerung
ſind Argentinier. Es gab damals 4000 Deutſche,
15 000 Franzoſen, 20 000 Spanier und 50000 Ita⸗
liener, außerdem viele Engländer und noch mehr
Schweizer. Dieſes Durcheinander ſo vieler Nationali⸗
täten hat eine ungewöhnliche Sprachgewandtheit zur
Folge. Leute, ja ſogar junge Perſonen, die mit vollſter
Fertigkeit drei, vier und wohl noch mehr Sprachen
beherrſchen, finden ſich hier mehr als ſelbſt in Paris,
London und New Pork. |
Was nun den Namen der Stadt betrifft, jo trägt
fie ihn wohl kaum mit vollem Recht. Buenos Aires
heißt „gute Lüfte“, aber wenn die Sonne heiß auf die
platten Dächer der tiefliegenden Stadt brennt, ſo ver⸗
mag man es in den dumpfen, drückenden Räumen
kaum auszuhalten. Und Bäume, die eigentlichen Luft⸗
verbeſſerer, gibt es ja nicht, wenigſtens nicht das, was
man bei uns unter Baumwuchs verſteht. Schon Zitro⸗
nen und Apfelſinen gedeihen hier nicht mehr, Tropen⸗
früchte noch weniger. Für Aepfel, Pflaumen, Kirſchen
und andre Obftforten iſt das Klima zu heiß, und fo
trifft man nur Wein, Birnen, Pfirſiche und Aprikoſen
an, dieſe aber allerdings in vortrefflicher Güte. Wäl«
der aber gibt es in dem öſtlichen Teil des Landes gar
nicht. Höchſtens hat einmal hie oder da der reiche Be⸗
fiter einer Quinta den Garten, worin dieſe ſteht, fo
dicht bepflanzt, daß man unter den Bäumen eine wirk⸗
liche Kühlung verfpürt.
Eine der ſchönſten Quinten war diejenige des
Bankiers Salido, eines höchſt gaſtfreundlichen Man⸗
nes, der die Künſte und die Wiſſenſchaften liebte und
ſelbſt mit europäiſchen Jüngern derſelben in Brief-
wechſel ſtand. Infolge dieſes letzteren Umſtandes war
Doktor Morgenſtern an ihn empfohlen worden und
hatte eine freundliche Aufnahme bei ihm gefunden. Die
Quinta lag am ſüdlichen Ende der Stadt, ſo daß der
Gelehrte einen weiten Weg zurückzulegen hatte, in⸗
folgedeſſen Antonio Perillo ſehr lange auf die Rückkehr
ſeines Verbündeten warten mußte.
Die Zeit wurde ihm aber nicht lang, denn es
waren auch hier zahlreiche Gäſte vorhanden, denen das
morgen ſtattfindende Stiergefecht einen reichen Stoff
der Unterhaltung bot. Perillo kannte keinen dieſer
Leute, und ebenſowenig war er ihnen bekannt. Man
ſprach von Senor Cruſada, dem fremden Stierkämpfer;
und war überzeugt, daß ihn die hieſigen Eſpadas nicht
erreichen würden. Das ärgerte Perillo gewaltig, doch
hütete er ſich, zu ſagen, daß er einer dieſer Eſpadas ſei.
Man erwähnte natürlich auch den Jaguar und den
wilden Biſon und war der Meinung, daß die Kämpfer
einen ſchweren Stand haben würden.
„Blut wird auf alle Fälle fließen,“ meinte einer,
„und zwar auch Menſchenblut. Von dem Büffel will
— 24 —
ich nicht ſprechen, denn ich habe noch kein ſolches Tier
geſehen; aber der Jaguar iſt ein ſchlimmer Geſell, der
ein zähes Leben hat und nicht gleich beim erſten Streich
liegen bleibt.“
Da konnte Perillo ſich doch nicht enthalten, einzu⸗
werfen: „Ein Feigling iſt der Jaguar! Ich mache
mich anheiſchig, ihm nur mit dem Meſſer in der Hand
zu Leibe zu gehen.“
„Und dann von ihm zerriſſen zu werden,“ lachte
der andre. |
„Ich ſpreche im Ernſte. Habt Ihr denn noch
nicht gehört, daß der Jaguar flieht, wenn er einen
Menſchen ſieht, und daß es Gauchos gibt, die ihn mit
dem Laſſo fangen?“
Da antwortete ein alter, ſonnverbrannter Mann,
der allein ſaß und ſich bis jetzt nicht mit an dem Ge⸗
ſpräch beteiligt hatte: „Da haben Sie recht, Senor.
Der Jaguar flieht den Menſchen und iſt auch ſchon
von Gauchos mit dem Laſſo gefangen worden. Aber
welcher Jaguar war das? Der Jaguar des Fluſſes?“
„Gibt es denn auch andre Jaguare?“
„Mehrere Arten gibt es nicht, denn Jaguar iſt
Jaguar; aber vergleichen Sie einmal den am Fluſſe
wohnenden mit demjenigen, der über die Pampas
ſtreift oder gar droben in den Schluchten des Gebirges
wohnt. Der Fluß bietet Nahrung in Hülle und Fülle.
Da leben Tauſende von Waſſerſchweinen, an denen ſich
der Jaguar ſatt freſſen kann. Die Jagd auf dieſe
dummen Tiere fällt ihm nicht ſchwer; er frißt ſich ſatt
und wird faul und feig. Wenn er den Menſchen ſieht,
nimmt er Reißaus. Der Jaguar auf den Pampas
aber hat es nicht ſo leicht. Er hat mit den Rindern,
den Pferden und, wenn er ſich ein Schaf holen will,
mit den Hirten zu kämpfen; der iſt gewiß nicht feig.
Oder wohnt er gar in den Bergen, ſo muß er die wilden
Lamas jagen, die ſchneller ſind als er und ſich nicht ſo
leicht erwiſchen laſſen. Da muß er hungern, und Hun⸗
ger macht wütend. So ein Gebirgsjaguar fällt am
hellen, lichten Tage offen über den bewaffneten Men⸗
ſchen her. Das, Seüores, iſt die Sache, die ich gern
tichtigſtellen wollte.“
Da meinte Antonio Perillo in ſpöttiſchem Ton:
„Sie ſcheinen in dieſem Fache ſehr große Kenntniſſe zu
beſitzen, Seüor. Sind Sie denn ſchon einmal über die
Grenzen der Stadt hinausgekommen?“
„Zuweilen, ja.“
„Bis wohin denn?“
„Bis nach Bolivia hinauf und auch nach Peru
hinüber. Auch bin ich im Gran Chaco geweſen.“
„Bei den wilden Indianern?“
„Ja.“
„Und die Indianer haben Sie nicht aufgefreſſen,
wie der Jaguar das Waſſerſchwein auffrißt?“
„Entweder bin ich ihnen nicht fett genug geweſen,
oder fie haben ſich nicht an mich herangetraut, Senor.
Wahrſcheinlich hat der letztere Grund vorgelegen, denn
ich bin all mein Lebtag nicht der Mann geweſen, den
man fo leicht auffreſſen kann. Und ſelbſt jetzt in
meinen alten Tagen habe ich Kraft genug im Arm,
einen, der ſich über mich luſtig machen will, auf das
loſe Maul zu ſchlagen. Merken Sie ſich das, Senor!“
„Nur nicht gleich ſo hitzig, Alter! Es war ja gar
nicht ſo gemeint,“ lenkte Perillo ein, denn die Szene
im Café de Paris hatte ihn vorſichtig gemacht. „Ich
wollte nur ſagen, daß ich den Jaguar nicht für gefähr⸗
lich halte.“
„Er iſt gefährlich für jeden Menfchen, nur für
einen einzigen nicht.“
„Wer iſt das?“
„Das können Sie ſich denken. Es hat doch jeder
von ihm gehört, und ſein Name beweiſt das, was ich
von ihm behaupte.“
„So meinen Sie den Vater Jaguar?“
„Ja.“
„Man ſagt von ihm freilich, daß er dem wildeſten
Jaguar mit unbewaffneten Händen zu Leibe gehe, aber
ich glaube es nicht.“
„Und ich glaube es, denn ich habe es mit dieſen
meinen Augen geſehen.“
„So ſind Sie mit ihm im Gran Chaco zuſammen⸗
getroffen?“
„Nicht zuſammengetroffen, ſondern mit ihm hinge⸗
ritten. Er iſt unſer Anführer, und ich gehöre noch heute
zu ſeinen Leuten.“
Kaum hatte der Alte dieſe Worte geſagt, ſo wur⸗
den rundum Ausrufe des Staunens, der Verwunde⸗
rung laut. Man ſprang auf, um an ſeinen Tiſch zu
kommen und ihm die Hand zu drücken. Man wollte
aus mehreren zuſammengeſchobenen Tiſchen eine lange
Tafel bilden, woran er ſich mit ſetzen ſollte, um von
dem berühmten Manne zu erzählen, deſſen Namen und
Taten in aller Munde waren. Er aber wehrte ab mit
den Worten: „Der Vater Jaguar liebt es nicht, daß
wir von ihm ſprechen. Er hat es uns geradezu verbo⸗
ten, und Sie dürfen mir meine Weigerung nicht übel⸗
nehmen, Seßores.“
„Wie ſieht er denn eigentlich aus?“ erkundigte ſich
Perillo.
„Wie jeder andre Menſch.“
— 27 —
„Und wie alt iſt er?“
„Vielleicht fünfzig Jahre.“
„Ein Eingeborener?“
„Ich habe ſeinen Geburtsſchein noch nicht in der
Hand gehabt, Senor.“
„Darf man nicht erfahren, was er eigentlich treibt?
Bald ſagt man, er ſei ein Yerbatero; bald nennt man
ihn einen Goldſucher, bald einen Sendador, der die
Karawanen über die Anden führt. Ich habe ſogar
ſchon gehört, daß er ein politiſcher Parteigänger ſei, der
fein Gewehr bald dieſem und bald jenem Aufrührer
leihe.“
Derbateros find Teeſammler, die in die Urwälder
ziehen, um den bekannten Paraguaytee zu ſuchen; ihr
Leben iſt mit vielen Gefahren verknüpft. Sendador
heißt Pfadfinder, bedeutet alſo genau dasſelbe, was das
nordamerikaniſche Wort Scout bedeutet. Der Alte ant⸗
wortete: „Was er eigentlich iſt, das kann ich Ihnen
wohl ſagen: Er iſt ein Mann, und zwar ein ganzer
Mann, wie es wohl ſelten einen zweiten gibt. Auf⸗
rührern hat er noch nie gedient und wird er auch nie
dienen. Er iſt ein Freund aller guten und ein Feind
aller ſchlechten Leute. Sollten Sie nicht zu den erſteren
gehören, ſo hüten Sie ſich ja, ihm einmal zu begegnen.“
„Sie werden immer ſchärfer und anzüglicher, mein
alter Seüor! Hat es Sie denn gar ſo verdroſſen, daß
ich den Jaguar für ein feiges Tier gehalten habe?“
„Das nicht. Aber daß Sie behaupteten, ihm nur
mit dem Meſſer zu Leibe gehen zu wollen, ſagte mir,
daß Sie entweder ein Aufſchneider oder ein unwiſſender
Menſch ſeien, und beide kann ich nicht leiden. Der
Jaguar, den wir morgen ſehen werden, hat wahr⸗
ſcheinlich am Fluſſe gewohnt, kann aber auch aus der
— 28 —
Pampa gekommen ſein. Wir werden ja erfahren, wie
er ſich benimmt. Was mich betrifft, ſo bin ich auf ihn
nicht im geringſten neugierig. Viel eher verlangt es
mich, ob ſich einer der Eſpadas an den Büffel wagen
wird.“
„Alle werden ſich an ihn wagen, alle; das ver⸗
ſichere ich Ihnen!“
„Wollen ſehen. So ein Biſon iſt, wenn er gereizt
wird, ein gefährliches Tier. Ich weiß es vom Vater
Jaguar, welcher Hunderte erſchoſſen hat.“
„Auf der Pampa etwa?“ lachte Perillo.
„Nein, ſondern in den Prärien von Nordamerika,
wo er früher gejagt hat.“
„Auch dort iſt er geweſen? So iſt er alſo kein
Porteno, ſondern ein Fremder? Das iſt ein Umſtand,
der mir freilich nicht zu gefallen vermag.“
„Nicht? Nun, was das betrifft, ſo glaube ich nicht,
daß der Vater Jaguar viel danach fragt, ob er Ihnen
gefällt oder nicht.“
„Weil er mich nicht kennt. Würde er aber meinen
Namen erfahren, ſo würde er es wohl für eine Ehre
halten, mir die Hand drücken zu können.“
„So? Wie lautet denn dieſer Ihr berühmter
Name?“
„Perillo.“
„Ah! Sind Sie etwa Antonio Perillo, der Eſpada,
der morgen mit auftreten wird?“
„Der bin ich allerdings.“
Er ſah den Alten mit einem Blick an, aus dem zu
erſehen war, daß er erwartete, jetzt eine ehrerbietige
Lobeserhebung zu hören. Aber die Worte, die er zu
hören bekam, waren ganz andre, nämlich: „So ſagen
— 29 —
Sie mir einmal, Sehor, warum Sie mit den Stieren
kämpfen!“
„Welch eine Frage! Um ſie zu töten natürlich.
Wir erſtechen ſie, um unſre Kunſt zu zeigen.“
„Eine ſchöne Kunſt! Es iſt nicht etwa ein Helden⸗
ſtück, einen vorher matt gehetzten Ochſen zu erſtechen.
Ich töte ein Tier, weil ich ſein Fleiſch brauche, um
leben zu können; aber es um einer ſo fadenſcheinigen
Ehre willen erſtechen, und gar vorher mit Stichen
quälen und halb zu Tode hetzen, das iſt Schinderei. Sie
ſollten ſich alſo nicht einen Eſpada, ſondern viel rich⸗
tiger einen Deſollador (Schinder) nennen.“
Da fuhr Perillo, wie von einer Feder geſchnellt,
von ſeinem Stuhl auf. Er wollte auf den Alten ein⸗
dringen. Glücklicherweiſe wurde gerade in dieſem
Augenblick die Türe geöffnet, und ſein Verbündeter
trat ein. Er beſann ſich eines andern, ſetzte ſich wieder
und warf dem Alten nur die Worte hin: „Sie wollen
ſich an mir reiben, können mich aber nicht beleidigen,
weil Sie tief unter mir ſtehen, daß es Ihnen unmög⸗
lich iſt, zu mir aufzuſehen.“
„Gerade ſo ſagte die Fliege zum Löwen, als ſie
über ihm ſummte. Da kam aber ein Vogel und ver⸗
ſchluckte ſie.“
Perillo tat ſo, als ob er dieſe Worte nicht höre.
Sein Kamerad ſetzte ſich zu ihm und flüfterte ihm zu:
„Schon wieder Streit? Nimm dich in acht! Unſer
ſtilles Handwerk erfordert Vorſicht. Zehn Freunde
können uns nicht jo viel nützen, wie ein einziger Feind
uns zu ſchaden vermag.“
„Schweig! Dieſer alte Schwätzer kann uns gar
nicht ſchaden. Sag mir lieber, was du erfahren haſt!“
— 80 —
Sie ſprachen natürlich ſo leiſe miteinander, daß ſie
von übrigen Gäſten nicht gehört werden konnten.
Trotzdem blickte der andre ſich vorſichtig um, und als
er ſah, daß jetzt niemand auf ſie achtete, ſagte er: „Er
iſt's wirklich, ganz gewiß. Und weißt du, wo er
wohnt? Bei Salido, dem Bankier.“
„Todos demonios! Bei Salido? Wer hätte das
geahnt! Das iſt ja ganz und gar gefährlich für uns!“
„Leider! Er wird ihm alles erzählen. Biſt du
überzeugt, daß er dich wieder erkannt hat?“
„Ich möchte darauf ſchwören. Warum verſtellt er
ſich? Doch nur, um mich in Sicherheit zu wiegen.“
„So müſſen wir nach einem Mittel ſuchen, ihn
zum Schweigen zu bringen.“ |
„Hm! Ich verſtehe dich: ein Stich mit dem
Meſſer oder eine Kugel in den Kopf. Und zwar darf
keine Zeit verloren werden. Morgen früh wäre es
vielleicht ſchon zu ſpät. Er darf gar nicht bis vor die
Polizei kommen. Wenn man erfahren könnte, welches
Zimmer er bewohnt!“
„Ich weiß es. Ich wartete, bis er in das Haus
getreten war, und ſtieg dann über den Zaun in den
Garten. Glücklicherweiſe hat die Quinta keine Höfe
und Mauern; ſie ſteht mitten im Garten, ſo daß man
rund um ſie gehen kann. Bald nachdem er in der Tür
verſchwunden war, wurde auf der hintern Seite des
Hauſes ein oberes Zimmer hell. Er hatte ſeine Lampe
angebrannt.“
„Das kann auch eine andre Perſon geweſen ſein.“
„Nein, denn er kam an das offene Fenſter, um es
zu verſchließen. Ich ſah ihn deutlich ſtehen.“
„Wie viele Fenſter hatte das Zimmer?“
„Zwei.“
er Bl
„Ließ er die Rolläden herab?“
„Nein.“ 5
„Ob irgendwo eine Leiter in der Nähe iſt?“
„Auch daran habe ich gedacht und ſah mich nach
einer ſolchen um. In der Ecke des Gartens ſteht ein
Baum, der verſchnitten worden iſt; die Leiter lehnte
noch daran. Sie tft lang genug, um an das Fenſter zu
reichen.“
„Schön, ſehr ſchön! Leider aber können wir jetzt
noch nicht an das Werk gehen. Es iſt zu früh. Die
Straßen ſind noch zu belebt. Man könnte uns ſehen.“
„Wir müſſen bis gegen Mitternacht warten. Aber
ob er dann noch wach fein wird!”
„Wach oder nicht, das bleibt ſich gleich. Er darf
den morgenden Tag nicht ſehen. Iſt er noch wach, ſo
bekommt er durch das Fenſter eine Kugel. Schläft er
ſchon, ſo ſteigen wir ein. Jetzt aber wollen wir gehen.
Es gefällt mir hier nicht.“
Perillo bezahlte das Eis, das er genoſſen hatte,
und dann entfernten ſich die beiden Menſchen, die ſo
leichten Herzens bereit waren, ein Menſchenleben zu
zerſtören, um die Entdeckung eines frühern Verbrechens
zu verhüten.
Die Straßen und öffentlichen Lokale waren heute
länger belebt als ſonſt. Der Bewohner von Buenos
Aires iſt häuslich und legt ſich gewöhnlich zeitig ſchla⸗
fen; heut aber hatte es elf Uhr geſchlagen, als der letzte
der Gäſte das Café de Paris verließ. Der deutſche
Lohnkellner erhielt ſein Tagesſalär und konnte gehen.
Draußen vor der Tür blieb er ſtehen. Es gab noch
Paſſanten in den Straßen. Es war Anfang Dezem⸗
ber, ein ſchöner, lauer Abend. Der Kellner hatte noch
nicht Luſt, ſchlafen zu gehen. Ihm lag die neue Stel⸗
— 82 —
lung im Sinn, und die Freude, einen deutſchen Herrn
gefunden zu haben, ließ keine Müdigkeit in ihm auf⸗
kommen. Er beſchloß, noch einen Spaziergang zu
unternehmen, und lenkte ſeine Schritte ganz unwillkür⸗
lich in die Richtung, wo er Doktor Morgenſtern wußte.
Das Handeln der Menſchen wird oft durch innere Vor-
gänge beſtimmt, worüber er ſich nicht ſelbſt klar wird,
und ſo kam es, daß der Deutſche plötzlich vor der
Quinta ſtand und ſelbſt ganz überraſcht darüber war.
Hier, fern vom Mittelpunkt des Verkehrs, brann⸗
ten keine Laternen mehr. Es war dunkel; nur die
Sterne verbreiteten einen ungewiſſen Schimmer, bei
dem man einige Schritte weit zu ſehen vermochte.
Schon wollte er umkehren, als es ihm war, als ob er
das Geräuſch ſchleichender Schritte vernehme. Das
kam ihm verdächtig vor. Warum ſo leiſe? Wer ein
gutes Gewiſſen hat, kann feſt auftreten. Er drückte ſich
eng an den Zaun und wartete.
Ein Menſch kam drüben mitten auf der Straße,
ging vorüber und blieb dann ſtehen; ein zweiter folgte
und hielt bei dem erſten an. Sie ſprachen leiſe mitein⸗
ander, näherten ſich dann dem Zaun und ſtiegen mit
großer Gewandtheit in den Garten.
„Alſo Diebe!“ dachte der Deutſche. Aber was
wollten ſie ſtehlen? Nur Gartenfrüchte? Oder galt es
gar einen Einbruch bei dem reichen Bankier? Er
mußte folgen und ſchwang ſich alſo auch ſo leiſe wie
möglich über den Zaun. Jenſeits davon gab es Raſen,
der die Schritte unhörbar machte. Er ſchlich zu der
Villa hin und an der ſchmalen Seite derſelben vorüber.
Da erblickte er an der Ecke einen der Männer und blieb
halten, um ihn zu beobachten. Er ſah, daß der Menſch
nach einiger Zeit um die Ecke auf die hintere Seite des
u 28h
Hauſes verſchwand. Er büdte ſich nieder und kroch auf
den Händen und Füßen zu der Ecke hin. Da ſtand der
Kerl und blickte nach zwei erleuchteten Fenſtern des
erſten Stockes empor. Und jetzt kam der zweite Geſell
von der Seite herbeigeſchlichen; er trug eine Leiter, die
ſo an die Mauer gelehnt wurde, daß ihr oberes Ende
an den Stock des einen Fenſters zu liegen kam.
Was beabſichtigten dieſe Menſchen eigentlich? Man
bricht doch nicht in eine erleuchtete Wohnung ein?
Sollte vielleicht nur ein Scherz beabſichtigt werden?
Dann wäre es Torheit geweſen, Lärm zu ſchlagen. Doch
hielt der Deutſche die Augen ſcharf auf die beiden
Männer. Jetzt ſtieg der eine empor, während der andre
die Leiter hielt. Oben angekommen, ſah jener in das
Zimmer, kam dann einige Sproſſen herab und raunte
dem Untenſtehenden einige Worte zu. Es ſchien dem
Kellner, als ob der Sprecher einen metalliſch glänzenden
Gegenſtand in der Hand halte. Dann gab es ein zwei⸗
maliges leiſes Knacken, wie wenn die Hähne einer
Doppelpiſtole aufgezogen werden. Nun wurde ihm
himmelangſt; er ſchlich ſchnell näher. Noch flüſterten
die beiden miteinander. Sie konnten ihn nicht ſehen,
weil er ſich tief an der Erde bewegte. Er hörte die
Worte: „Er ſitzt und lieſt.“
„In welcher Lage?“
„Die linke Seite dem Fenſter zugekehrt.“
„Iſt ſein Geſicht frei?“
„Ja. Er hat die andre Seite des Kopfes in die
Hand gelegt.“
„Dann ſchieße ihn in die Schläfe; das iſt die
ſicherſte Stelle.“
Alſo um einen Mord handelte es ſich! Der Kell⸗
ner erſchrak ſo, daß er ſich für einige en nicht
May, Das Vermächtnis des Inka
u. BR
zu bewegen vermochte. Und da ſtieg der Kerl wieder
aufwärts und richtete den Lauf der Piſtole, die er in
der Rechten hielt, in das Zimmer. Das gab dem
Lauſcher ſeine Beweglichkeit zurück. Er ſchrie laut auf,
ſprang zur Leiter, warf den Untenſtehenden zur Seite
und ſtieß ſie um, ſo daß der Obenſtehende, der ſoeben
abdrückte, gerade beim Krachen des Schuſſes jäh zum
Sturze kam. Der Kellner warf ſich auf ihn, um ihn
feſtzuhalten.
„Laß los, Hund, ſonſt erſchieße ich dich!“ knirſchte
der Mörder.
Der Schuß ging los, und der Deutſche fühlte einen
ſtechenden Ruck im linken Arm. Er war getroffen
worden und konnte den Menſchen nicht mehr halten,
welcher aufſprang und ſchnell in der Dunkelheit ver⸗
ſchwand. Der andre war ſchon vorher davongerannt.
Die beiden Schüſſe hatten die Bewohner des Hau⸗
ſes geweckt. Es begann darin lebendig zu werden.
Zugleich wurde droben in dem erleuchteten Zimmer
eines der Fenſter geöffnet; der Doktor ſteckte den Kopf
heraus und rief: „Welcher Mordbube ſchießt denn da
nach mir! Warum läßt man mich nicht ruhig leſen?“
Da erſchrak der Kellner von neuem und antwor⸗
tete: „O jerum, jerum! Sind denn Sie's Herr Dok⸗
tor, der umjebracht hat werden ſollen?“
„Wer iſt denn da unten? Dieſe Stimme kommt
mir bekannt vor.“ N
„Ick bin es, ick, Fritze Kieſewetter, Herr Doktor.“
„Fritze Kieſewetter? Mir iſt ein Individuum
dieſes Namens noch nicht vorgekommen.“
„O doch! Heute, im Caféè de Paris haben Sie
mir kennen jelernt. Sie wollten mir wegen die Sint⸗
flutsknochen engagieren.“
— 85 —
„Ah, der Kellner! Aber, Menſch, wie kommen
Sie denn auf die Idee, nach mir zu ſchießen?“
„Als wie ick? Das iſt ſtark! Da hört nun oft
und manchmal allens auf? Ick ſoll es jeweſen ſind,
der jeſchoſſen hat!“
„Wer denn? Oder ſind Sie nicht allein?“
„Ick bin janz allein, nach Schiller die einzige
fühlende Larve hier in dem Jarden.“
„Aber was wollen Sie da denn hier?“
„Ihnen retten. Und nun, da Sie mich dat Leben
zu verdanken haben, halten Sie mir für den reinen
Meuchelmord. Dat kränkt mir in die Seele!”
Er ſollte nicht von dem Doktor allein, ſondern auch
noch von andern verkannt werden. Die Hausbewohner
kamen mit Lichtern und Laternen, mit allen möglichen
Waffen in den Händen heraus, um den Miſſetäter zu
ergreifen. Da half kein Bitten und Reden; Fritze Kieſe⸗
wetter wurde feſtgenommen und hineingeſchafft, wobei
es nicht ohne kräftige Stöße abging, deren Spuren er
noch jpäter fühlte. Man wollte nach Polizei ſenden,
um ihn abholen zu laſſen, doch bat er, ihn doch erſt
ruhig anzuhören. Der Doktor unterſtützte dieſe Bitte
durch die Erklärung: „Der Menſch iſt ein vorzugs⸗
weiſe denkendes Geſchöpf; laſſen Sie uns alſo denken,
da wir Menſchen ſind. Ich habe dieſem jungen Mann
kein Leid getan, ihn vielmehr in meinen Dienſt nehmen
wollen. Iſt das ein Grund, mich zu erſchießen? Nein.
Auch hat er kein Mörder⸗, ſondern ein ehrliches Geſicht.
Und ſelbſt wenn er ein Meuchler wäre, ſo iſt das noch
kein Grund, ihm das Sprechen zu verbieten. Ich be⸗
antrage alſo, ihm die Erlaubnis zu erteilen, feine Ver-
teidigung, lateiniſch Defensio, vorzubringen.“
— 86
Der erzürnte Bankier war eigentlich dagegen,
mußte aber ſeinem Gaſt ſchon aus Höflichkeit zu Willen
ſein. Fritze erzählte den Hergang der Sache und ver⸗
langte, daß man die Spuren unterſuche. Man will⸗
fahrte ihm und kam da allerdings zu der Ueberzeugung,
daß er nicht gelogen hatte. Man ſah die Fußeindrücke
nicht nur an der Stelle, wo die Mörder über den Zaun
hereingeſtiegen waren, ſondern es wurden auch die
Stellen entdeckt, wo ſie wieder hinausgeſprungen waren.
Schließlich fand man hinter dem Hauſe den Hut des
einen, den er während des Sturzes oder beim Ringen
mit Fritze verloren hatte. Dieſer letztere blutete. Seine
Wunde wurde unterſucht; ſie war nicht gefährlich; die
Kugel hatte den Arm nur geſtreift.
Man wußte jetzt, daß zwei Menſchen eingeſtiegen
waren, um den deutſchen Doktor zu erſchießen; nur
durch das Eingreifen Fritzens hatte die Kugel eine
andre Richtung erhalten. Wer aber waren die Mörder,
und welchen Grund konnten ſie haben, einen Menſchen
zu töten, der ſich erſt eine Woche lang im Lande be⸗
fand und ganz gewiß niemand beleidigt hatte.
„Konnten Sie denn nicht wenigſtens eins der Ge⸗
ſichter erkennen?“ fragte der Bankier.
„Nicht vollſtändig,“ antwortete Fritze; „aber als
der eine auf der Leiter ſtand und die Piſtole nach dem
Zimmer richtete, befand ſich ſein Kopf im Lichte der
Lampe; ich konnte ſein Geſicht halb von der Seite
ſehen, und da kam es mir vor, als ob er Aehnlichkeit
mit dem Eſpada Antonio Perillo habe.“
Das machte die Angelegenheit nur noch verwickel⸗
ter. Perillo war zwar ein Mann ziemlich zweideutigen
Rufes, doch eines Mordes wollte man ihn nicht für
fähig halten. Und was hätte er für einen Grund haben
2
— 87 —
können, den Doktor mittels einer Kugel zu beſeitigen?
Er hatte im Café ſogar freundlich mit ihm geſprochen.
Allerdings gab der Umſtand zu bedenken, daß er ihn
offenbar für einen andern gehalten hatte. Aus dieſem
Grunde ließ der Bankier die Polizei benachrichtigen.
Sie ſtellte ſich in Geſtalt zweier Oberbeamten der blau
gekleideten Vigilantes ein; dieſe betrachteten die Spu⸗
ren, erwogen alle Tatſachen und meinten ſchließlich,
daß man zunächſt heimlich erfahren müſſe, wo Perillo
ſich zur Zeit der Tat befunden habe. Keinesfalls aber
könne vor dem Stiergefecht gegen ihn eingeſchritten
werden, da er als Eſpada unentbehrlich ſei und ſeine
Verhaftung auf das Publikum einen böſen Eindruck
machen könne.
Was Fritze Kieſewetter betrifft, ſo war es ganz
unzweifelhaft, daß er dem Doktor das Leben gerettet
hatte. Dieſer nahm ihn ſofort in Dienſt, und zwar
unter Bedingungen, welche vorteilhafter gar nicht hätten
ſein können. Er durfte gleich in der Quinta bleiben.
Zweites Kapitel
Corrida de torros
| Am andern Morgen war jedermann beftrebt, Ein⸗
trittskarten für die Vorſtellung zu erhalten. Die Kaſſe
wurde förmlich belagert. Der Bankier hatte für vier
Plätze zu ſorgen, drei für ſich, ſeine Gattin und ſeinen
Gaſt, den Doktor, und den vierten für einen jungen
Neffen, der bei ihm zu Beſuch war. N
Die Frau des Bankiers war nämlich eine Deutſche,
deren Bruder in Lima, der Hauptſtadt von Peru,
wohnte. Er hieß Engelhardt und hatte zwei Söhne,
denen ſpäter das Erbe des kinderloſen Bankiers zu⸗
fallen mußte. Aus dieſem Grunde hatte der letztere
gewünſcht, einmal einen der Brüder auf längere Zeit
bei ſich zu haben, und ſo war der jüngere, namens
Anton, zu ihm geſchickt worden. Der ſechzehnjährige
Knabe hatte die Reiſe zur See um Kap Horn gemacht
und eine ſehr unglückliche Ueberfahrt gehabt. Darum
ſollte eine zweite Seereiſe vermieden und die Heimkehr
zu Land über die Anden vorgenommen werden. Nun
galt es, eine paſſende Gelegenheit dazu zu finden. Eine
Reiſe quer durch Südamerika iſt mit ungewöhnlichen
Gefahren und Entbehrungen verknüpft, und nicht jeder
Maultiertreiber iſt der Mann, dem man für eine ſolche
Tour einen hoffnungsvollen Knaben anvertraut.
FE
tn
— 39 —
Das Stiergefecht ſollte punkt ein Uhr beginnen;
die Plaza de Toros, wie der Zirkus genannt wird, hatte
ſich aber ſchon zwei Stunden vorher ſo gefüllt, daß es
für keinen Zuſchauer Raum mehr gab. Nur die Logen
des Präſidenten und der oberen Behörden waren
noch leer.
Auf rieſigen Plakaten war in fußlangen Buch⸗
ſtaben das Programm zu leſen. Mehrere Muſikkapellen
konzertierten, indem ſie einander ablöſten. Die Mata⸗
dores glätteten mit Rechen und Beſen den Sand der
Arena, und zuweilen erſchien aus irgend einer Tür ein
bunt gekleideter Kämpfer, der langſam und gewichtig
über die Bühne ſchritt, um ſich bewundern zu laſſen.
Die Arena war von dem Zuſchauerraum durch
eine Bretterwand getrennt, die ſtark genug war, den
Stößen eines Stieres zu widerſtehen, doch nicht zu hoch,
damit es den Toreadores, welche in Gefahr kamen,
möglich war, ſich darüber hinwegzuſchwingen. Vorn
war die Tür, woraus man die Stiere, hinten diejenige,
woraus man den Jaguar zu erwarten hatte. Es wurde
erzählt, daß man betreffs des nordamerikaniſchen Bi⸗
ſons zu ganz ungewöhnlichen Vorſichtsmaßregeln ge⸗
zwungen geweſen ſei. Jetzt konnte man das Tier zwar
noch nicht ſehen, aber man hörte es brüllen, und dieſe
Stimme ließ gar wohl ahnen, daß es ſich nicht ohne
Widerſtand abſchlachten laſſen werde.
Diejenigen Plätze, die hinter der erwähnten Bret⸗
terwand begannen, waren die billigen; da ſaß Fritze
Kieſewetter, der von ſeinem neuen Herrn ein Billet
geſchenkt bekommen hatte. Die höher liegenden Plätze
waren bedeutend teurer; da ſaßen die reichen Leute,
unter ihnen der Bankier mit ſeinen drei Begleitern.
Der Zufall hatte es gefügt, daß der weißbärtige Herr,
— 0 —
der ſich geſtern im Café de Paris Hammer genannt
hatte, nebſt feinen geſtrigen Kameraden die neben-
liegenden Sitze erhalten hatte. Er ſaß neben Doktor
Morgenſtern, der ſich Mühe gab, ſeinem Nachbar, dem
jungen Peruaner, das Ungebührliche und Verwerfliche
ſolcher Tierkämpfe zu demonſtrieren.
„Haben Sie ſchon einmal einen ſolchen Kampf
mit angeſehen, mein lieber, junger Senor?“ fragte er.
Anton Engelhardt verneinte.
„Dann muß ich Ihnen ſagen, daß dieſe Tierquäle⸗
reien nichts Neues ſind. Sie fanden ſchon bei den
alten Griechen, namentlich in Theſſalien, und bei den
Römern unter den Kaiſern ſtatt. Das waren Heiden,
die man entſchuldigen kann. Wir aber ſind Chriſten
und ſollten ſolche Abſcheulichkeiten unterlaſſen.“
„Aber, Senor, Sie find ja ſelbſt auch mitgekom⸗
men, um ſie ſich mitanzuſehen!“
Dieſe Bemerkung des Knaben brachte den Ge⸗
lehrten ſichtlich in Verlegenheit; er rettete ſich aber durch
die Antwort: „Würde das Gefecht unterbleiben, wenn
ich nicht mit hier ſäße?“
„Nein.“ |
„So iſt mir alfo kein Vorwurf zu machen. Außer⸗
dem bin ich gekommen, um Studien zu machen; ich
habe alſo eine doppelte Entſchuldigung, Excusatio, wie
der Lateiner ſagt. Ich bin Zoolog, und es iſt ein zoo⸗
logiſches Schauſpiel, das uns erwartet. Ein reichlicher
Fund im Diluvium würde mir aber doch weit lieber
ſein.“ | |
„Hat es vor der Diluvialzeit auch ſchon ſolche
Tiergefechte gegeben?“ fragte Anton, indem er ein
ſchelmiſches Lächeln kaum zu unterdrücken vermochte.
u ‚4 >
Der Doktor warf ihm einen forſchenden Seiten⸗
blick zu und antwortete: „Dieſe Frage läßt ſich nicht ſo
ohne weiteres mit einem kurzen Ja oder Nein abtun.
Man ſpricht von einem antediluvianiſchen, ja von
einem ſogar noch älteren Menſchen. Hat es dieſen
wirklich gegeben, ſo iſt bei der damaligen niedrigen ſitt⸗
lichen Bildungsſtufe anzunehmen, daß dieſer Menſch
allerdings die Saurier gegeneinander und das Maſto⸗
don auf das Megatherium gehetzt haben kann. Es iſt
das ſehr beklagenswert, aber wir leben in einer zu
ſpäten Zeit, um es ändern zu können. Wir haben
u
uns — — —
Er wurde unterbrochen, denn die Muſik blies
einen ſchmetternden Tuſch; der Präſident hatte ſeine
Loge betreten und mit der Hand das Zeichen gegeben,
daß das Kampfſpiel beginnen möge. Waren vorher die
Stimmen der miteinander ſprechenden Zuſchauer wie
ein dumpfes Brauſen erklungen, ſo trat jetzt mit einem⸗
mal eine Stille ein, daß man den Nachbar Atem holen
hörte. Ein abermaliger Wink des allgebietenden Herrn,
die Muſik begann einen Marſch zu blaſen, und es öff⸗
nete ſich ein Tor, um zunächſt die Picadores einzulaſſen.
Sie ritten ſchlechte Pferde, da man wertvollere Tiere
den Hörnern der Stiere nicht ausſetzen mag. Ihnen
folgten zu Fuße die Banderilleros und Eſpadas, um
einmal rund um die Arena zu ziehen. Dann nahmen
die Picadores in der Mitte des Platzes dem Tore,
woraus die Stiere erwartet wurden, gegenüber Auf⸗
ſtellung, da fie den erſten Angriff an- oder vorzu-
nehmen hatten. Die Banderilleros und Eſpadas zogen
ſich hinter Pfeiler und in die Niſchen zurück, die zu
dieſem Zwecke angebracht waren. Nun gab der Prä⸗
ſident einen dritten Wink, als Zeichen, daß der erſte
— 42 —
Stier eingelaſſen werden ſolle. Die Barriere wurde
geöffnet, und er kam.
Es war ein Rappſtier mit ſpitzen und nach vorn
gebogenen Hörnern. Plötzlich aus dem engen Pferch
befreit, wollte er die Freiheit genießen und kam in
weiten Sätzen angejagt. Da erblickte er die Picadores,
ſtutzte einen Augenblick und rannte dann gerade auf ſie
zu. Sie ſtoben auseinander, aber er nahm doch das
Pferd des einen von der Seite und ſchlitzte ihm den
Leib auf. Der Reiter wollte abſpringen, blieb aber mit
dem Fuße im Bügel hängen und wurde von ſeinem
Pferde mit niedergeriſſen. Er ſchien verloren zu ſein,
denn ſchon ſenkte der Stier den Kopf zum zweiten
Stoß, da waren aber auch ſchon die Banderilleros zur
Hilfe. Sie warfen dem Stier mit blitzartiger Ge⸗
ſchwindigkeit drei, vier buntſeidene Schärpen über den
Kopf und die Augen. Er ſtutzte, und das gab dem Pi⸗
cador Zeit, ſich zu retten, während ſein Pferd mit her⸗
austretenden Eingeweiden ſich ſchnaubend am Boden
hinſchob und dann ſtöhnend liegen blieb.
Dies war ſo ſchnell geſchehen, daß man die ein⸗
zelnen Bewegungen kaum voneinander zu unterſcheiden
vermochte. Die Picadores waren in altſpaniſche Rit⸗
tertracht gekleidet, während die Banderilleros modern
ſpaniſche, mit vielen Treſſen und Bändern geſchmückte
Anzüge trugen. Sie waren nur mit den Schärpen und
den ſchon erwähnten Stäben mit Widerhaken, welche
Banderillas genannt werden, verſehen.
Der ſchwarze Stier ſchüttelte den Kopf, um die
Schärpen loszuwerden, und als ihm dies nicht ſofort
gelang, brüllte er vor Wut. Es war vorauszuſehen,
daß ſein nächſter Angriff ein ſehr gefährlicher ſein
1
werde. Da ertönte hinter den Banderilleros eine helle
Stimme: „Weg mit euch! Laßt mich heran!“
Es war Cruſada, der Eſpada aus Madrid. Sie
zögerten, ihm zu gehorchen, denn das Wagnis, das er
unternahm, war ein großes; aber auf ein zweites ge⸗
bieteriſches Wort von ihm wichen ſie zurück. Er war,
um den Stier zu reizen, ganz in roten Sammet ge⸗
kleidet, natürlich nach ſpaniſchem Schnitt. In der
linken Hand hielt er die Muleta, ein Stück glänzendes
Seidenzeug, das an einem Stabe hing, und in der
rechten den blanken, blitzenden Degen. So ſtand er auf
zehn Schritt Entfernung dem Stier gegenüber, eine
große Kühnheit, da das Tier noch nicht ermattet war.
Er ſchien gleich am Anfang ſeine hieſigen Kollegen
durch dieſen Bavourſtreich ſchlagen zu wollen. Jetzt
bekam der Rappſtier das Geſicht frei und ſein erſter
Blick fiel auf den Feind, der herausfordernd die Mu⸗
leta ſchwang. Er ſenkte den Kopf und ſtürmte auf ihn
zu, um ihn aufzuſpießen. Der Eſpada blieb ſtehen, bis
die Hörnerſpitzen ihm bis auf zwei Zoll nahe waren;
dann ſchwang er ſich leicht zur Seite und ſtieß dem vor⸗
überſchießenden Stier mit erſtaunenswerter Sicherheit
und Leichtigkeit den Degen in die Bruſt. Das Tier
lief nur eine kurze Strecke weit und brach dann tot zu⸗
ſammen. Der Eſpada zog ihm den Degen aus der
Bruſt und ſchwang ihn unter den brauſenden Beifalls⸗
rufen der entzückten Menge über ſeinem Haupt. Er
hatte ein Meiſterſtück gezeigt.
Nun kamen die Matadores, üm die Tierleiche und
das noch immer ſtöhnende Pferd hinauszuſchleifen.
Dann gab der Präſident das Zeichen, den zweiten Stier
einzulaſſen. Es ſei nur geſagt, daß er einen Bande-
rillero und einen Eſpada verwundete und dann von
— 4 —
dem Spanier erlegt wurde. Der nächſte Stier riß zwei
Pferde über den Haufen und verwundete Antonio Pe⸗
rillo leicht. Der bisherige Sieger tötete auch ihn. Er
hatte ſeine hieſigen Konkurrenten geſchlagen und wurde
bejubelt und von den Damen mit Blumen und Taſchen⸗
tüchern überſchüttet. Perillo war am Bein verwundet
und mußte ſich zurückziehen; ſein Aerger ſchien unge⸗
heuer zu ſein.
Jetzt folgte die Hauptnummer des Programms,
nämlich der Kampf des Jaguars mit dem Büffel. Der
Sieger ſollte es dann zum Schluſſe mit den Toreadores
aufzunehmen haben.
Zunächſt wurde die hintere Türe geöffnet, woraus
der Jaguar hervorſchoß. Er kam nicht weit, da er an
einen langen Laſſo gefeſſelt war, deſſen andres Ende an
einem eiſernen Haken hing. Er bemühte ſich vergeb⸗
lich, loszukommen, und legte ſich dann fauchend nieder.
So lag er, ſcheinbar unbekümmert um das große Pu⸗
blikum. Die weit geöffneten Nüſtern zitterten. Er
hatte einige Tage gehungert und roch das Blut, das
hier gefloſſen war. Er war ein ungewöhnlich ſtarkes,
doch nicht zu altes Tier.
Nun wurde auch vorn geöffnet. Man erwartete,
daß der Büffel hereinſtürmen werde; aber das tat er
nicht, ſondern er kam langſam hergeſchritten, als ob er
ſich bewußt ſei, daß man ihn anſtaunen werde. Er war
ein wirklicher Rieſe ſeiner Gattung, faſt drei Meter
lang und ſehr gut genährt, ſo daß er leicht gegen dreißig
Zentner wiegen konnte. Nach einigen Schritten ſtehen
bleibend, ſchüttelte er ſich das lange Stirnhaar aus den
Augen und ſah den Jaguar. Man war aufs äußerſte
geſpannt, was nun geſchehen werde. Der Jaguar war
aufgeſprungen und begann zu heulen. Hätte er auch
Zus: BB
angreifen wollen, der Laſſo hielt ihn feſt. Der Büffel
neigte den Kopf zur Seite und muſterte ihn mit dem
einen Auge. Er ſchien zu überlegen, ob es ſich der
Mühe lohne, mit dieſem Gegner anzubinden. Dann
wendete er ſich ab und trollte von dannen, einen Rund⸗
gang um den Zirkus unternehmend. Natürlich mußte
er auf der andern Seite dem Jaguar nahekommen.
Dieſer ließ ihn weit genug heran und duckte ſich zum
Sprunge nieder. Da ſenkte der Büffel den Kopf,
zeigte die Hörner und den mächtigen Nacken und ließ
ein warnendes Brummen hören. Das war genug ge⸗
ſagt; der Jaguar zog ſich zurück und der Biſon trottete
an ihm vorüber, doch vorſichtigerweiſe ſo, daß er ihm
im Vorbeigehen die Vorderſeite zukehrte. Der Jaguar
blieb wider alles Erwarten eingeſchüchtert liegen; ohne
Zweifel fürchtete er ſich. ö
Während dieſer Art von Waffenſtillſtand zwiſchen
den beiden Tieren erklärte der Privatgelehrte ſeinem
jungen Nachbar: „Der nordamerikaniſche Biſon bildet
im Verein mit dem europäiſchen Auerochſen, auch Wi⸗
ſent genannt, eine Unterabteilung des Geſchlechtes der
Ochſen, lateiniſch Bos geheißen. Dieſe Untergattung
zeichnet ſich aus durch einen ſehr gewölbten Schädel,
breite Stirn, kurze, runde, aufwärts gekrümmte und
vorn auf die Stirn geſtellte Hörner, zottige Mähne um
Hals und Bruſt, einen Höcker und den verhältnismäßig
ſehr ſtark entwickelten Vorderkörper. Der Biſon hat
einen dickeren Kopf, eine ſtärkere Mähne und kürzere
Beine als der Auerochs. Er iſt eigentlich ein geſelliges
Tier, was der Lateiner mit dem Worte congregabilis
bezeichnet und — — —“ |
Seine weiteren Worte blieben unhörbar; fie wur⸗
den durch das Geſchrei und die ſtürmiſchen Rufe des
4
48
Publikums verſchlungen, das ſich bei dem friedlichen
Verhalten der beiden Kampftiere zu langweilen begann
und nun verlangte, daß Der Jaguar gegen den Büffel
aufgereizt werde.
„Tirad los buscapies, tirad los buscapies —
werft die Schwärmer, werft die Schwärmer!“ brüllte
einer der Zuſchauer, und die andern riefen es ihm
nach.
Der Präſident gab mit der Hand das Zeichen, daß
man dieſem Wunſche willfahren möge. Da wendete
ſich derjenige Kamerad des Weißbärtigen, der ihm zur
Rechten ſaß, mit der Frage an ihn: „Meinſt du, daß
er ſich reizen laſſen wird, Carlos? Ich glaube, daß er
den Büffel mehr fürchtet, als das Feuerwerk.“
„Und ich glaube, daß es leicht ein Unglück geben
kann,“ antwortete der Gefragte. „Siehſt du nicht, daß
er den Laſſo, woran er hängt, im Rachen hat? Wenn
er ihn zerkaut, ſo kommt er los und wird nicht den
Biſon, ſondern Menſchen anfallen.“
Das im Sand hingeſtreckte Tier kaute allerdings
an dem Laſſo, was aber von den Zirkusbedienſteten
gar nicht beachtet wurde. Sie brannten, im ſichern
Hinterhalt ſich befindend, Schwärmer an und warfen
dieſe nach dem Jaguar. Er wurde getroffen, ſprang
auf und ließ den Laſſo aus dem Maule fallen; der Rie⸗
men war faſt ganz zerbiſſen. Da erreichten die Zünd⸗
funken den Pulverſatz, und das Feuer begann zu
ſprühen. Der Jaguar brüllte vor Schreck und tat einen
weiten Sprung; der Laſſo wurde angeſpannt und zerriß
an der zerbiſſenen Stelle; das Raubtier war frei.
Das Publikum begrüßte dieſes unerwartete Er⸗
eignis mit jauchzendem Beifall, denn man war über-
eugt, daß der Jaguar ſeine Freiheit nun ſofort zu
|
*
1
einem Angriff auf den Biſon benutzen werde. Er
rannte allerdings auf dieſen zu, wendete ſich aber, als
der Büffel ihm die Hörner zeigte und ſich gar anſchickte,
auf ihn loszugehen, zur Seite, jagte in wenigen Sätzen
in der Arena hin und her und duckte ſich dann nieder,
die rollenden Augen empor nach den ihm gegenüber⸗
liegenden Sitzplätzen richtend.
„Estad atento — aufgepaßt!“ rief der Weißbär⸗
tige. „Das Tier wird über die Schutzwand gehen.“
„Por amor de Dios — um Gottes willen, das
wird er doch nicht!“ ſchrie der Privatgelehrte, als er
dieſe Worte hörte. „Die Beſtie ſchaut gerade zu mir
herauf, als ob ſie mich verſchlingen wolle.“
Er fuhr von ſeinem Sitz empor und machte eine
Bewegung, als ob er fliehen wolle, was aber bei der
Enge der Plätze ganz unmöglich war. Dieſe haſtige
Bewegung des rot gekleideten Männchens zog die Auf⸗
merkſamkeit des Jaguars erſt recht auf ſich. Das Tier
hob den Hinterkörper halb empor, ſtieß ein kurzes, hei⸗
ſeres Brüllen aus und flog dann in einem weiten
Satze gegen die hölzerne Scheidewand. Es gelang ihm,
deren obern Rand mit den Vordertatzen zu erreichen
und den Körper nachzuziehen.
In dieſem Augenblick verſtummte alles Geſchrei;
es trat eine ſo tiefe Stille ein, daß man das Kratzen
der Klauen des Raubtieres an den Balken deutlich
hörte. Jedermann ſah, daß der Jaguar es auf das
rote Männchen abgeſehen habe. Alle, die in deſſen
Nähe ſaßen, waren hoch gefährdet. Welche Verwüſtung
mußten die Pranken und Zähne des wilden, vor Hun⸗
ger knirſchenden Tieres unter dieſen ſo dicht ſitzenden
Perſonen anrichten! Man war überzeugt, daß der Ja⸗
guar ſofort den zweiten Sprung tun werde; er tat ihn
AR,
nicht; er blieb noch auf der Scheidewand hängen, denn
ſein Auge wurde durch einen andern Gegenſtand ange⸗
zogen, und dieſer Gegenſtand war der weißbärtige
Senor, der ſich Hammer nannte. |
Diefer war nämlich, als das Tier zum Sprung
angeſetzt hatte, von ſeinem Sitz aufgefahren und hatte
dem Gelehrten den Poncho von den Schultern und das
Meſſer aus dem Gürtel geriſſen. Das letztere in der
rechten Hand haltend, wickelte er ſich den Poncho um
den linken Arm und ſprang auf die Vorderlehne ſeines
Sitzes. Das war ſo blitzſchnell geſchehen, daß er dieſen
Fußhalt in demſelben Augenblick erreichte, wo der Ja⸗
guar auf die Bretterwand gelangte.
„Punto en boca,“ gebot er mit weithin fchallen-
der Stimme; „ninguno menease — ſtill, niemand be⸗
wege ſich!“ N
Dann ſprang er auf die Scheidewand des nächſten
und zweitnächſten Vorderſitzes, deren Inhaber vor Ent⸗
ſetzen unter die Bänke gekrochen waren. Noch ein
Schritt, und Hammer ſtand auf dem vorderſten Sitz,
dem Jaguar ſo nahe gegenüber, daß er ihn mit der
Hand erlangen konnte. Das Tier hatte die Bewegun⸗
gen des rieſenhaften Deutſchen mit glühenden Augen
verfolgt, ohne den erwarteten zweiten Sprung zu tun;
es ſah ſich angegriffen, ohne aber den Gegenangriff zu
wagen; es hielt ſich mit drei Tatzen feſt, riß den Rachen
auf und hob die eine Vorderpranke zum abwehrenden
Schlag empor. So hielten Menſch und Tier, die
Augen ineinander gebohrt, einige Sekunden einander
gegenüber. Da nahm Hammer, um die rechte Hand
frei zu bekommen, das Meſſer zwiſchen die Zähne und
ſtieß dem Jaguar die Fauſt mit ſolcher Kraft gegen den
Hinterkörper, daß dieſer den Halt verlor; ſeine hinteren
— 419 —
Pranken glitten von der Bretterwand; er ſuchte ſich mit
den vorderen feſtzuhalten und fauchte den Feind wũ⸗
tend an, erhielt aber von dieſem einen ſolchen Hieb auf
die Naſe, daß er auch vorn abglitt und in die Arena
zurüͤckſtürzte.
Aber damit begnügte ſich der Deutſche nicht. Er
ſprang auf die Wand und, zum Schreck aller Zu⸗
ſchauer, in die Arena hinab. Ein vielſtimmiger Schrei
erſcholl rundum, denn der kühne Mann kam gerade vor
den Jaguar zu ſtehen, der ſich laut brüllend zum
Sprung niederduckte.
Und nun geſchah etwas, was niemand für möglich
gehalten hatte. Hammer nahm das Meſſer aus dem
Mund, ſetzte den linken Fuß vor und hielt dem Tier den
linken, durch den Poncho geſchützten Arm entgegen. War
es dieſe ſichere Haltung, oder war es die Macht des weit
geöffneten grauen Auges, deſſen ſtarren Blick der Ja⸗
guar auf ſich gerichtet ſah — — er unterließ nicht nur
den Sprung, ſondern ſetzte die Pranken langſam hinter
ſich, um ſich in ſchleichender Haltung zurückzuziehen.
So allmählich, wie er wich, folgte ihm der Deutſche
Schritt um Schritt, ohne ihn auch nur für einen Mo⸗
ment aus dem Auge zu laſſen. Das Raubtier nahm
wie ein geprügelter Hund den Schwanz zwiſchen die
Beine und entwich immer ſchneller, in die Flucht ge⸗
trieben durch die Macht eines furchtloſen Menſchen⸗
auges. Da ertönte von einem der entfernteſten Plätze
herab der Ruf: „Que maravilla! Este caballero es
el padre Jaguar — welch ein Wunder! Dieſer Herr
iſt der Vater Jaguar!“
Beim Klang dieſes berühmten Namens erhob ſich
ein Beifallsſturm, wie er ſelbſt hier wohl ſelten gehört
May ‚Das Vermächtnis des Inka 4
a EN
worden war. „El padre Jaguar, el padre Jaguar!“
ſo riefen alle Lippen.
Es war ein wahres Brauſen von Stimmen in
allen möglichen Tonlagen. Dieſer unbeſchreibliche
Lärm ſchüchterte das Raubtier noch mehr ein. War es
bisher nur rückwärts geſchritten, ſo wendete es ſich
jetzt um und rannte davon, der Tür entgegen, woraus
es vorhin gekommen war. Sie war verſchloſſen wor⸗
den. Der Deutſche folgte mit ſchnellen Schritten und
gebot mit ſelbſt in dieſem Lärm noch hörbarer Stimme:
„Abrid la puerta, presto, presto — öffnet die Tür,
ſchnell, ſchnell!“ |
Der mit dieſem Dienſt betraute Peon zog von
ſeinem ſichern Standort aus die Falltür empor und
ließ ſie, als der Jaguar in den nun offenen Käfig
ſprang, wieder fallen. Das Raubtier war unſchädlich
gemacht.
Jetzt brach ein Applaus los, welcher gar kein Ende
nehmen wollte. Der Vater Jaguar ſchritt nach der
Mitte der Arena, verbeugte ſich rundum und ging dann
nach der Schutzwand, von der er vorhin den Jaguar
getrieben hatte, ſchwang ſich hinauf und ſtieg dann von
Lehne zu Lehne, bis er ſeinen Sitz erreichte. Dort gab
er dem Privatgelehrten den Poncho und das Meſſer
zurück und ſagte: „Dank, Seüor! Und Verzeihung,
daß ich nicht Zeit hatte, Sie erſt um Erlaubnis zu
bitten!“
„Hat nichts zu ſagen, obgleich Sie mir mit dem
Poncho auch den Hut und das Kopftuch herabgeriſſen
haben,“ erwiderte der Kleine. „Wozu Sie das Meſſer
brauchten, kann ich begreifen; aber bitte, mir zu ſagen,
warum Sie die Decke mitnahmen?“
u. 6.
„Um meinen Arm, den ich als Schild benutzen
wollte, vor den Zähnen und Krallen des Jaguars zu
ſchützen.“
„Senor, Sie find ein Held, lateiniſch, doch in grie⸗
chiſcher Abſtammung, Heros genannt. Ihre Tapfer-
keit, die, ohne aus dem Griechiſchen zu ſtammen, latei⸗
niſch Fortitudo, Virtus bellica und auch Strenuitas
heißt, bewundere ich aus vollem Herzen. Sie haben
das Untier wie eine Hauskatze vor ſich her getrieben.
Was wird aber nun mit dem Büffel, Bison ameri-
canus, werden?
„Das können Sie ſofort ſehen, wenn Sie Ihre
Aufmerkſamkeit nach der Arena richten wollen.“
Der Biſon hatte ſich in den Sand geſtreckt und war
da auch vorhin ruhig liegen geblieben, als der Vater
Jaguar den Kampfplatz betreten hatte. An einen
Kampf zwiſchen ihm und dem Jaguar war nicht mehr
zu denken. Darum verlangte das Publikum jetzt das
abermalige Auftreten der Stierkämpfer, die ſich mit dem
Biſon meſſen ſollten. Dieſe Aufforderung geſchah in
fo ſtürmiſcher Weiſe, daß man ihr nachkommen
mußte. Es erſchien aber dieſes Mal nur ein Eſpada,
nämlich Cruſada aus Madrid, doch kam nach einigen
Minuten Antonio Perillo nach. Er hinkte infolge
ſeiner Verwundung, die allerdings nur eine leichte
war, hielt es aber für ein Gebot der Ehre, trotz dieſer
Verletzung an dem Schauſpiel mit teilzunehmen.
Der Biſon wurde zunächſt von den Picadores
umringt. Er blieb liegen, als ob ſie gar nicht vor⸗
handen wären. Da ſchleuderte einer von ihnen ſeine
Lanze nach ihm. Sie fuhr einige Zoll tief in den
Höcker. Da er ſich ſo gleichgültig gezeigt hatte, hielten
die Picadores es nicht für nötig, ſich nach dieſem Lanzen⸗
— 52 —
wurf ſchnell zurückzuziehen; ſie hatten ſich geirrt. Kaum
fühlte er die Verwundung, ſo ſprang er zu gleichen
Beinen und viel ſchneller auf, als man es bei ſeinem
ſchwerfälligen Körperbau hätte für möglich halten
können, und ſchoß auf den Angreifer los. Ehe dieſer
Zeit fand, ſein Pferd zu wenden, hatte es die Hörner
des Biſon ſchon in den Weichen und wurde aufgehoben
und ſo zur Seite geworfen, daß es auf ſeinen Reiter zu
liegen kam. Mit derſelben Schnelligkeit machte der
Büffel eine Seitenbewegung, um auf den nächſten Pi⸗
cador einzudringen. Dieſer floh; aber es zeigte ſich,
daß ſein Pferd nicht ſchneller als der Biſon war. Der
ſtürmte hinterdrein, ohne auf die andern Picadores
und Banderilleros zu achten, die ihn mit ihren Lanzen
und Stäben ſtören wollten. Er erreichte das Pferd
und ſtieß ihm das eine Horn in die Seite, ſo daß es
zum Stürzen kam und den Reiter aus dem Sattel warf.
Der Büffel hatte es mehr auf den Mann als auf das
Pferd abgeſehen; ehe ſich dieſer aufraffen konnte, war
er erreicht, ſchwebte er auf den Hörnern des ergrimmten
Tieres, wurde in die Luft geworfen, wieder aufgefan⸗
gen, abermals emporgeſchleudert und dann unter den
Füßen zerſtampft. Der Mann brüllte um Hilfe; man
wollte ſie ihm bringen, aber der Büffel achtete nicht auf
die neuen Angreifer und auf die Lanzen, die ihm durch
die dicke Haut drangen; er ließ nicht von dem Picador
ab, bis dieſer eine formloſe Leiche war. Dann trat er
um einige Schritte zurück und ſtieß ein Gebrüll aus,
wogegen dasjenige des Jaguars ein Kindergeſchrei zu
nennen war.
Von allen Seiten wurde ihm Beifall zugerufen.
Wer noch eine Blume hatte, warf ſie ihm zu, und das
Klatſchen ſo vieler Hände machte einen beinahe betäu⸗
benden Eindruck auf die wenigen Perſonen, die fich
durch eine ſo wilde und blutige Szene abgeſtoßen
fühlten.
Der Biſon ſchüttelte die Speere ab und ſah ſich
nach einem neuen Opfer um. Er fand es nur zu bald
und leicht. Der erſte Picador war von einigen Bande⸗
rilleros unter ſeinem Pferd hervorgezogen worden; er
ſollte fliehen, konnte es aber nicht, da er das Bein ge-
brochen hatte. Man mußte ihn, um ihn zu retten,
forttragen. Drei Banderilleros hoben ihn auf, um ſich
ſchnell mit ihm zu entfernen; aber noch ſchneller war
der Büffel hinter ihnen drein, und was nun folgte, ge⸗
ſchah in noch viel kürzerer Zeit, als man zur Beſchrei⸗
bung bedarf. Man ſah den wütenden Stier mit Kopf
und Nacken in die Gruppe fahren und dieſe auseinander
ſchleudern; dann folgten Hörnerſtöße nach rechts und
links, ein ſchrecklich zu vernehmendes Stampfen der
Füße — — einer der Banderilleros vermochte ſich zu
retten; zwei blieben liegen, und auch der Picador war
tot. Ein junger, mutiger Banderillero riß einem Pica⸗
dor die Lanze aus der Hand und ſprang von hinten auf
den Büffel ein, um ſie ihm in den Leib zu rennen.
Das Tier aber hatte ſeine Abſicht bemerkt, warf ſich
blitzſchnell herum und ſenkte den Kopf zum Stoß. Die
Lanze glitt an dem eiſenfeſten Hörnergrund ab, und im
nächſten Augenblick wurde der tapfere Fechter in die
Luft geſchleudert, um dann unter die Hufe des Siegers
zu kommen.
Dann rannte der Biſon im Galopp, und nach
neuen Opfern brüllend, in der Arena umher. Entſetzen
packte die Toreadores. Sie flohen nach allen Seiten.
Wer nicht durch das raſch geöffnete Tor entkommen
konnte, ſchwang ſich auf und über die Rettungswand.
5
Die Toreadores warſen ſich von ihren Pferden, die
armen Tiere preisgebend, um nur ſich in Sicherheit zu
bringen. Einige Pferde entkamen durch das Tor; die
übrigen wurden niedergerannt. Dazu das Beifalls⸗
gebrüll der hochbegeiſterten Menge. Solch einen Toro
hatte man noch nicht gehabt, überhaupt noch nie ge⸗
ſehen. Daß ſeine Tapferkeit und ungeheure Stärke ſo
viele Opfer gefunden hatte, wurde nicht beklagt, ſondern
bejubelt; man gab ſich mit ſeinem bisherigen Erfolg
keineswegs zufrieden, ſondern die erregte Zuſchauer⸗
menge ſchrie in einem fort: „Los espadas, los espa-
das; fuera, adelante los espadas — die Eſpadas, die
Eſpadas; heraus, vorwärts die Eſpadas!“
Es waren, wie erwähnt, nur zwei Eſpadas er⸗
ſchienen, Antonio Perillo und der berühmte Cruſada
aus Madrid; die andern hatten ſich von Anfang an
nicht an den Büffel wagen wollen. Cruſada hatte ſich
durch die Tür geflüchtet und Perillo war, durch ſeine
Verwundung an ſchnellem Laufen verhindert, auf die
Holzwand geklettert. Dort ſaß er jetzt und entgegnete,
als man ſeinen Namen rief: „Este bufalo es un
demonio; el diablo debe combatir contra esta
bestia, mas yo eso no — dieſer Büffel iſt ein Dä⸗
mon; der Teufel mag mit ihm kämpfen, aber ich nicht!“
Ein verächtliches Gelächter war ſein Lohn; dann
rief man nach Cruſada, dieſer war noch unverletzt und
mußte ſich ſagen, daß ſein Ruhm dahin ſei, wenn er
ſich jetzt als ein Feigling zeige. Aber ganz allein konnte
er ſich unmöglich an den Büffel wagen; er mußte Helfer
haben, welche die Aufgabe hatten, im Falle der Gefahr
die Aufmerkſamkeit des Tieres von ihm ab und auf ſich
zu lenken. Aber nur gegen das Verſprechen einer
hohen Belohnung ließen ſich drei Banderilleros bereit
u 68
finden, den ſchlimmen Gang mit ihm zu wagen. Als
die vier in die Arena traten, wurden fie mit beifälligen
Bravorufen empfangen.
Der Biſon hatte ſich noch keineswegs beruhigt. Er
ging von einer Tier⸗ und Menſchenleiche zur andern,
um zu unterſuchen, ob etwa noch Leben vorhanden ſei,
und warf dabei die Körper und Kadaver mit den Hör⸗
nern hin und her. Er blutete aus mehreren Wunden,
die jedoch nicht tief und gefährlich waren. Als er die
neuen Angreifer ſah, richtete er den zottigen Kopf gegen
ſie, ſtampfte den Boden mit den Füßen und ließ ein
herausforderndes Brüllen hören.
„Was meinſt du, Carlos, was geſchehen wird?“
wurde Vater Jaguar von ſeinem Nachbar gefragt.
„Wer von ihnen nicht flieht, iſt verloren,“ lautete
die Antwort. „Es iſt Menſchenmord, dieſe Leute auf
den Biſon zu hetzen.“
„Glaubſt du, daß er unüberwindbar iſt?“
„Nein; aber es gibt hier nur einen einzigen Men⸗
ſchen, der es wagen darf, mit ihm anzubinden.“
„Wer iſt dieſer Mann? Meinſt du dich ſelbſt?“
„Vielleicht!“
Cruſada näherte ſich von der Seite her mit lang⸗
ſamen, faſt zaghaften Schritten dem Büffel. Er hielt
die Muleta, den Stab mit dem ſeidenen Tuch, in der
linken und den blanken Degen in der rechten Hand.
Sein kräftiger und ſchöner Körperbau, der durch die
reich geſchmückte Kleidung noch hervorgehoben wurde,
ließ beinahe erwarten, daß er auch jetzt wie ſchon vorher
Sieger bleiben werde. Während die drei Banderilleros
ſich auf der andern Seite herbeiſchlichen, hielt der Biſon,
ohne auf fie zu achten, den Blick nur auf Cruſada ge-
richtet, in dem er ſeinen eigentlichen Feind erkannte.
— 56 —
Das Tier war nicht nur ſtark und mutig, ſondern
auch ſchlau. Es ſchien die Abſicht ſeines Gegners zu
ahnen und bewegte ſich nicht von der Stelle. Es ſtand,
ohne den Kopf zu ſenken, da und erwartete den Angriff.
Cruſada war bis auf nur fünf Schritte herangekom⸗
men und fühlte ſich, da ihm dies gelungen war, des
leichten Sieges gewiß. Er ſah die breite Bruſt des
Stieres nahe vor ſich, ein Ziel, das nun gar nicht zu
verfehlen war. Er ſchwang alſo die bunte Muleta, um
das Auge des Büffels von ſich ab und auf dieſe zu
lenken und ſprang auf das Tier ein; es war ein Sprung
ins Verderben, in den Tod. Der Stier achtete der Mu⸗
leta nicht, ſondern nur des Mannes. Als der gezückte
Degen ihm in die Bruſt fahren ſollte, ſenkte er den
Kopf und fing den Stoß zwiſchen den Hörnern auf;
eine kurze, kaum bemerkbare Bewegung ſeines Kopfes,
und das eine Horn ſaß dem Eſpada tief im Leibe; Cru⸗
ſada wurde empor und nach hinten geſchleudert. Die
drei Banderilleros wollten aus dieſer Richtung auf den
Biſon eindringen; der aber machte kehrt, um Cruſada
von neuem zu packen, erblickte ſie und ſenkte die Hörner;
da rannten ſie laut ſchreiend davon; der Biſon aber
nahm Cruſada nochmals auf die Hörner und ſchleu⸗
derte ihn in die Höhe, um ihn dann unter die Füße zu
treten.
„Vaya, quita, sogal Que cobardia, que ba-
jeza, que infamia — pfui, pfui, pfui, welche Feig⸗
heit, welche Niederträchtigkeit, welche Ehrloſigkeit!“ rief
man von allen Seiten den Banderilleros zu, da ſie den
Eſpada ſo ſchmachvoll im Stiche ließen.
Das hatte die Wirkung, daß ſie umkehrten und
ſich dem Büffel wieder näherten, ohne aber Cruſada
retten zu können, denn er war bereits tot. Aus dieſem
BERN,
Grund ſchenkte ihnen der Stier mehr Aufmerkſamkeit
als vorher; er machte Miene, zum Angriff überzugehen;
da ergriffen ſie zum zweitenmal die Flucht. Es war,
als ob er genau wiſſe, auf welche Weiſe er ihr Ent⸗
kommen verhindern könne, denn er rannte nach der Tür,
wie um ihnen den Weg abzuſchneiden. Sie konnten
ſich alſo nur auf die Bretterwand retten und eilten auf
dieſe zu; er ſah das und hielt nun von ſeitwärts her die
gleiche Richtung ein. Der erſte von ihnen gelangte
glücklich hinauf, der zweite auch; der dritte aber war
nicht ſchnell genug; er tat den Sprung und ergriff die
obere Kante der Wand, doch ehe er den Leib emporzu⸗
ziehen vermochte, war der Büffel hinter ihm und traf
ihn mit dem einen Horn in den Schenkel. Glücklicher⸗
weiſe zog er das Horn zu einem neuen Stoße zurück;
dadurch kam der Mann frei und konnte ſich, wenn auch
blutend, aber doch ebend, durch eine Anſtrengung,
wozu ihm die Todesangſt doppelte Kräfte verlieh, vol⸗
lends emporſchwingen. Der zweite Stoß des Tieres
traf die Wand ſo, daß das betreffende Brett zerbrach.
Das Tier wußte, wo es die Feinde zu ſuchen hatte, und
ſtieß von neuem gegen die Wand, glücklicherweiſe an
einer Stelle, die durch die dahinter befindliche Säule
einen feſten Halt beſaß. Aber die Säule erzitterte unter
den fortgeſetzten wuchtigen Stößen; die Wand krachte
in allen Fugen; ſie mußte, wenn der Büffel nicht abließ,
zuſammenbrechen, und dann waren alle, die hinter ihr
ſaßen, ſeinen Hörnern preisgegeben.
Es war alſo kein Wunder, wenn auf dieſer Seite
des Zirkus eine Panik eintrat, die ſchnell weiter um
ſich griff. Man ſchrie und zeterte. Jeder, der ſich be⸗
droht ſah, wollte ſich retten. Man ſprang auf die Sitze
und Scheidewände, um nach den hintern Plätzen zu
— 58 —
flüchten, und doch waren alle Plätze beſetzt. Einer
ſprang auf und über den andern; man ſtürzte heulend
und fluchend übereinander weg. Welche Unglücksfälle,
welche Verletzungen mußte das ergeben! Da übertönte
eine laute Stimme das wüſte Geſchrei: „Quedad sen-
tado — Bleibt ſitzen, Senores! Es iſt keine Gefahr
vorhanden. Ich nehme den Büffel auf mich.“
Der Vater Jaguar war es, der dieſe Worte rief.
Er zog ſeinen Rock aus, um nicht von ihm gehindert
zu werden, riß das Meſſer des Privatgelehrten aber⸗
mals an ſich und ſprang zum zweitenmal von Platz zu
Platz auf die Scheidewand und von da in die Arena
hinab.
Nicht auf ſeiner Seite, ſondern auf der entgegen⸗
geſetzten drohte die Gefahr. Darum rannte er über die
Arena hinüber und ſtieß jenes Geſchrei aus, das die
Indianer Nordamerikas bei ihren Jagd⸗ und Kriegs-
angriffen hören laſſen. Es iſt das ein langgedehntes,
Finger möglichſt ſchnell vibrierend gegen die Lippen be⸗
wegt; dadurch entſteht ein durchdringendes Tremolo,
das durch Buchſtaben nicht bezeichnet werden kann. |
Der aus den nördlichen Prärien ſtammende Bi-
ſon kannte dieſen Jagdruf; er hatte ihn aus dem
Munde jagender Indianer wohl oft gehört. Als er ihn
jetzt vernahm, fuhr er raſch herum; er ſah den Vater
Jaguar und ließ von der Wand ab, um den neuen
Gegner zu erwarten.
Aber Hammer zeigte keine Eile, das Tier anzu⸗
greifen; das Meſſer in der Rechten, blieb er mitten in
der Arena ſtehen. Da, wo noch vor einigen Augen⸗
blicken das wildeſte Durcheinander geherrſcht hatte, trat
jetzt tiefe Stille ein. Nur eins war zu hören: der
Name „Vater Jaguar“ ging leife und erwartungsvoll
von Mund zu Mund. Wollte dieſer Mann ſich wirk⸗
lich mit dem Meſſer an das rieſige Tier wagen? Rieſe
gegen Rieſe! Aber was iſt die Kraft ſelbſt eines Ath⸗
leten gegen die Stärke eines Biſons, zumal eines Biſons
von dieſer ausgewachſenen Größe! Es läßt ſich denken,
welch hohe Spannung ſich jedes Zuſchauers jetzt be⸗
mächtigte.
Der Büffel ſtierte den Vater Jaguar mit heim⸗
tückiſchem Blick an; dieſer wiederum hielt ſein Auge
ebenſo ſcharf und offen und ohne Zucken auf ihn ge⸗
richtet wie vorhin auf den Jaguar. Das Tier begann
ſich in Bewegung zu ſetzen, langſam, Schritt um Schritt,
als ob es wiſſe, daß es jetzt einen ganz andern, weit ge⸗
fährlichern Feind vor ſich habe. Hammer ſchritt gleich⸗
falls vorwärts, ebenſo langſam wie der Büffel. So
näherten ſie ſich einander mehr und mehr, bis nur der
Raum von wenigen Ellen ſie noch trennte. Da war
es mit der Zurückhaltung des Büffels zu Ende: er hob
den Kopf, um ein zorniges Brüllen hören zu laſſen,
und ſenkte ihn dann tief zu Boden nieder, um zum
Angriff überzugehen.
Alle Welt meinte, daß der Vater Jaguar zur Seite
weichen werde; er tat dies zum allgemeinen Entſetzen
aber nicht, ſondern blieb ſtehen, wo er ſtand. Jetzt war
der Büffel da; ſeine Hörner mußten den Mann treffen,
den eine plötzliche Angſt bewegungslos gemacht zu
haben ſchien. Der Vater Jaguar wurde in die Höhe
geſchleudert — ein einziger, aber vielſtimmiger Schrei
erſcholl im Zuſchauerraum. Aber was war denn das?
Der Vater Jaguar war in aufrechter Haltung durch die
Luft geflogen, kam hinter dem wütenden Biſon auf die
Füße und blieb da ſo ruhig ſtehen, als ob er ſeinen
ai. 6
vorigen Platz gar nicht verlaſſen habe! Das Tier wen⸗
dete ſich und drang wieder auf ihn ein, warf ihn aber-
mals in die Luft und hinter ſich, drehte ſich dann wie⸗
der um und ſchleuderte ihn in die Höhe, um ganz das⸗
ſelbe Schauſpiel immer wiederholen zu müſſen.
Nun ſah man allerdings, daß dieſes fürchterlich
gewagte Spiel vom Vater Jaguar beabſichtigt und mit
ebenſo großer Kühnheit wie Gewandtheit ausgeführt
wurde. So oft der Stier die Hörner zum tödlichen
Stoß hob, ſetzte ihm, allerdings keinen Augenblick zu
früh oder zu ſpät, der verwegene Mann den rechten
Fuß zwiſchen dieſe und ließ ſich von ihm emporwerfen,
um in einem weiten Sprunge hinter dem Tier den Bo⸗
den zu erreichen. Das Staunen der Zuſchauer war
grenzenlos. Welche Kraft und Geſchicklichkeit lag in
jeder Bewegung Hammers! Es ging auf Leben oder
Tod, und dennoch ſah man ſeine Lippen lächeln, und
dennoch führte er jede ſeiner Bewegungen mit einer
Leichtigkeit und Sicherheit, mit einer Ruhe aus, als ob
es ſich um eine harmloſe Unterhaltung handle.
Je ruhiger er blieb, deſto unruhiger wurde der
Stier. Daß er den Feind nicht zu beſchädigen ver⸗
mochte, ſondern ihn immer und immer wieder unver⸗
letzt hinter ſich ſtehend fand, brachte ihn in Wut. Er
brüllte vor Grimm; ſeine Bewegungen und Wendun⸗
gen wurden haſtiger und unſicher; ſeine Augen unter⸗
liefen mit Blut, wodurch er am Sehen verhindert
wurde. Schon kam es vor, daß er den Gegner nicht
deutlich ſtehen ſah und mit den Hörnern in die Luft
ſtieß. Das hatte der Vater Jagaur abwarten wollen.
Wieder war er emporgeworfen worden, und wieder kam
er hinter dem Stier zu ſtehen; da blieb er dieſes Mal
nicht halten, ſondern ſprang ſchnell ſeitwärts nach vorn.
— 61 —
Der Büffel, eben im Begriff, ſich umzudrehen, kehrte
ihm dabei die Seite zu — ein kühner, federkräftiger
Sprung, und Hammer ſaß ihm auf dem Rücken. Das
Meſſer blitzte in ſeiner Hand; die Klinge drang genau
da ein, wo der letzte Hals⸗ an den erſten Rückenwirbel
ſtößt. Der Büffel blieb mehrere Sekunden, ja faſt eine
Minute, ſtarr und völlig bewegungslos ſtehen; dann
ging ein Zittern durch ſeine mächtigen Glieder, und er
brach, ohne einen Laut hören zu laſſen, da, wo er ſtand,
leblos zuſammen, wobei der Vater Jaguar von ſeinem
Rücken glitt, um dann dem geſtürzten Tiere das Meſſer
aus dem Nacken zu ziehen.
Es war wie eine Lähmung über die erregten
Zuſchauer gekommen. Keine Lippe bewegte ſich; aller
Augen warteten, daß der Büffel aufſpringen und den
Angriff wieder beginnen werde. Der Vater Jaguar
gab ſeinen drei Gefährten, die neben ihm geſeſſen hatten,
einen Wink; ſie kamen mit gewandten Sprüngen auf
demſelben Weg, den er ſelbſt vorhin eingeſchlagen hatte,
zu ihm in die Arena herab und brachten ihm ſeinen
Rock. Sie entwickelten dabei gerade wie er eine Gelen⸗
kigkeit, die man wohl eher bei einem Seiltänzer als bei
ſo feingekleideten Seüores geſucht hätte. Hammer legte
raſch ſeinen Rock wieder an und verließ mit ihnen die
Arena durch die Tür, die für das Publikum beſtimmt
war. N
Jetzt wagten ſich mehrere Campeadores herein.
Sie ſahen den Büffel liegen und näherten ſich ihm in
ſehr vorſichtiger Weiſe, um ihn zu unterſuchen. Die
Toreadores, die ſich auf und über die Rettungswand ge⸗
flüchtet hatten, folgten dieſem Beiſpiel. Noch regten
ſich die Zuſchauer nicht, ſo ſehr ſtanden ſie unter dem
Einfluß ſtaunender Ueberraſchung, aber der Präſident
fragte von feiner Loge herab: „Esta el bufalo muerto
— iſt der Büffel tot?“
„Si, Vuestra merced; esta moerto — ja, Ew.
Gnaden; er iſt tot,“ wurde ihm geantwortet.
„Esta en verdad muerto, todo muerto — iſt er
wirklich tot, ganz tot?“ erkundigte er ſich beſorgt.
„Completamente difunto indudablemente fi-
nado — vollſtändig tot, ohne allen Zweifel verendet.
Por medio de un golpe de cuchillo en la nuca —
infolge eines Meſſerſtiches in das Genick.“
Dieſe Fragen und Antworten brachen den Bann,
worin das Publikum ſich befunden hatte. Auf das
bisherige Schweigen folgte ein Schreien, Klatſchen und
Stampfen, daß man hätte meinen mögen, der Zirkus
breche zuſammen. 6
„Donde esta el padre Jaguar? Aca, venid aca,
entre el padre Jaguar — wo iſt der Vater Jaguar?
Herbei, herein, der Vater Jaguar!“ ſo riefen hunderte,
ja tauſend Stimmen durcheinander.
Aber der Geſuchte war verſchwunden.
Drittes Kapitel
Der „Vater Jaguar“
Der Vater Jaguar war der Held des Tages; ſein
Name lebte heute in aller Mund, und wo dann ſpäter,
nachdem der Zirkus ſich geleert hatte, zwei oder mehrere
miteinander gingen oder beiſammen ſaßen, war er der
Gegenſtand ihres Geſpräches und ihrer Bewunderung.
Allein vergeblich bemühten ſich viele, ihn nochmals zu
ſehen. Man konnte nicht entdecken, wo er wohnte.
Es verſteht ſich ganz von ſelbſt, daß man auch im
Haufe des Bankiers Salido von ihm ſprach; hatte er
doch die Glieder der Familie von dem Tode errettet
oder wenigſtens vor ſchlimmen Verwundungen bewahrt.
„Ich habe eine große Unterlaſſungsſünde began⸗
gen,“ meinte Doktor Morgenſtern. „Er hat ſich bei
mir für die Decke und das Meſſer bedankt, und ich habe
ihm mit keinem Worte Dank, lateiniſch Gratia, geſagt,
obgleich ich es war, auf den dieſer blutdürſtige Jaguar
die Augen gerichtet hatte. Was mag er von mir den⸗
ken! Faſt jedes Tier beſitzt die Tugend der Dankbar⸗
keit, obgleich es einige Individuen und ſogar Ordnun-
gen gibt, welche, wie die Zoologie und ſpeziell die Lehre
von den Inſekten, Mollusken, Würmern und Bazillen
beweiſt, dieſer ſchönen Eigenſchaft wenigſtens teilweiſe
zu entbehren ſcheinen; ein Menſch aber, in Griechen⸗
„ zen
land Anthropos und in Rom Homo geheißen, follte
ſich von den Tieren, die doch nach der Klaſſifikation der
Lebeweſen unter ihm ſtehen, nicht beſchämen laſſen. Ich
danke dem Vater Jaguar mein Leben und werde ihm
dies, ſobald ich ihn ſehe, offen eingeſtehen. Denn daß
er mir mein Meſſer nicht wiedergegeben hat, dadurch
werde ich doch wohl nicht quitt mit ihm.“
Da kam ein Diener und gab eine Karte ab, worauf
der einfache Name Karl Hammer zu leſen war. Der
Bankier begab ſich nach dem Sprechzimmer und war
nicht nur erſtaunt, ſondern auf das freudigſte über⸗
raſcht, in dem Fremden den — — Vater Jaguar zu
erkennen. Er trat ſchnell auf ihn zu, ſtreckte ihm beide
Hände entgegen und ſagte: „Sie find es, Senor, Sie,
nach dem man ſo vergeblich ſucht! Erlauben Sie mir,
Ihnen die Hand zu drücken und Sie herzlichſt will⸗
kommen zu heißen. Wie brav und liebenswürdig, daß
Sie uns Gelegenheit geben, Ihnen wenigſtens ſagen zu
dürfen, daß wir Ihnen tief, ſehr tief verpflichtet ſind!“
Ueber das ernſte Geſicht Hammers glitt ein leiſes
Lächeln, als er antwortete: „Bitte, Senor, ja nicht zu
glauben, daß dies der Grund iſt, welcher mich zu Ihnen
führt. Es iſt vielmehr eine geſchäftliche Angelegenheit,
in der ich Sie für eine Minute zu ſtören gezwungen bin.“
Während dieſer Worte zog er eine Brieftaſche her⸗
aus, der er ein Papier entnahm, das er dem Bankier
überreichte. Dieſer warf einen Blick darauf und ſagte:
„Eine Anweiſung von meinem Geſchäftsfreund in Cor⸗
dova. Die Summe ſteht Ihnen ſofort zur Verfügung,
obgleich mein Geſchäft des Stiergefechts wegen heute
geſchloſſen iſt.“
„Solche Eile hat es nicht. Ich hielt es für ange⸗
zeigt, mich Ihnen vorzuſtellen, und bitte um die Er⸗
na: Seh
laubnis, den Betrag in den nächſten Tagen abheben zu
dürfen.“
Er machte eine Verbeugung und wollte ſich ent⸗
fernen; da ergriff ihn der Bankier am Arm und bat:
„Bleiben Sie noch, Senor! Ich kann Sie unmöglich
jetzt ſchon gehen laſſen. Sie retteten uns das Leben;
ich bitte dringend um die Erlaubnis, Sie meiner Frau
vorſtellen zu dürfen!“
„Und ich bitte ſehr, davon abſehen zu wollen,
Senor. Gerade der Dank, wovon Sie ſprechen, ver⸗
ſchließt mir Ihre Tür. Ich darf mir unmöglich ein
Verdienſt anmaßen, das nur dem Zufall zuzuſchrei⸗
ben iſt.“
Man ſah ihm an und hörte es auch aus ſeinem
Ton, daß die Beſcheidenheit, die ihm dieſe Worte dik⸗
tierte, eine wahre und keine gemachte war. Infolge⸗
deſſen antwortete Salido: „Senor, Sie haben über den
Wert deſſen, was Sie taten, eine andre Anſicht, als die
meinige iſt; dennoch verſpreche ich Ihnen, daß Sie von
mir und den Meinen das Wort Dank nicht hören wer⸗
den, und denke, daß Sie unter dieſer Bedingung Ihren
Entſchluß ändern werden.“
„Unter dieſer Bedingung, ja; da bin ich allerdings
bereit, auf Ihr freundliches Anerbieten einzugehen.“
Der darüber hocherfreute Bankier führte ihn in
das Familienzimmer, wo das ſo unerwartete Erſcheinen
des Vater Jaguar ebenſo große Ueberraſchung wie
Freude hervorrief. Ganz beſonders entzückt war der
Privatgelehrte, der ſich zunächſt von ſeinem Erſtaunen
gar nicht erholen zu können ſchien, dann aber, Ham-
mer die Hand entgegenſtreckend, ausrief: ,„Seüor, ich
bin voller Freude, lateiniſch Gaudium oder auch Laetitia
genannt, Sie hier begrüßen zu können, zumal ich es für
Nav. Das Vermächtnis des Inte 8
u OR, ee
meine Pflicht halte, Ihnen meinen Dank dafür abzu-
ſtatten, daß — —“
„Halt!“ fiel der Bankier ihm in die Rede. „Senor
Hammer iſt nur unter der Bedingung mitgekommen,
daß wir nicht von Dank ſprechen. Bitte alſo, dieſes
Wort wenigſtens jetzt nicht mehr zu erwähnen.“
„Aber, wenn ich nicht von Dank ſprechen ſoll, wo⸗
von denn ſonſt?“
„Von allem möglichen, zum Beiſpiel von Ihren
antediluvianiſchen Tieren.“
Das hatte Salido ſcherzhaft gemeint; der kleine,
rote Gelehrte ergriff aber ſofort die Gelegenheit, von
ſeinem Lieblingsthema zu reden, und antwortete haſtig,
damit ihm ja niemand mit einer Frage zuvorkomme:
„Das iſt wahr; das iſt allerdings ſehr richtig! Geüot
Hammer, haben Sie ſchon einmal ein Megatherium
oder gar ein Maſtodon geſehen?“
„Schon wiederholt,“ antwortete der Gefragte.
„Wo denn, wo?“
„In den Pampas. Wer ein gutes Auge für der⸗
gleichen Fundorte hat, braucht gar nicht lange zu
ſuchen.“
„Wirklich, wirklich? Haben etwa Sie ein ſolches
Auge?“ |
„Ich will es zwar nicht mit einem Ja behaupten,
doch hatte ich zuweilen Gelegenheit, gelehrten Herren
als Führer durch die Pampas zu dienen.“
„So! Aber es gehört doch ein gewiſſer paläonto⸗
logiſcher Blick dazu, einem Ort anzuſehen, daß er vor⸗
weltliche Pflanzen oder Tiere birgt. Die foſſilen
Ueberreſte vorſintflutlicher Faunen und Floren ſind
uns in ſehr verſchiedenen Zuſtänden überliefert.”
„
Pe,
„Allerdings,“ antwortete Hammer lächelnd. „Man
ſpricht von Verkohlung, Auslaugung, Inkruſtation, von
Petrifizierung und endlich auch von Abformung.“
Der Kleine trat einen Schritt zurück, betrachtete
den Rieſen erſtaunt und ſagte: „Senor, Sie ſprechen
da wie ein Profeſſor der Paläontologie! Das iſt meine
Lieblingswiſſenſchaft. Ich beabſichtige, ein größeres
Werk über diejenigen Tiere zu ſchreiben, die man bis in
die Silurzeit zurückdatieren muß.“
„Es hat ſchon vorher eine ungeheure Menge von
Tieren exiſtiert, denn aus dem Silur allein ſind uns
wohl zehntauſend Arten bekannt.“
„Zehntau— — —!" Dem Kleinen blieb vor Er⸗
ſtaunen das Wort im Munde ſtecken; dann fuhr er
fort: „— — —ſend Arten! Das willen Sie? Welche
Arten ſind das?“
„Cölenteraten, Stachelhäuter, Würmer, Glieder⸗
tiere, Mollusken und in den obern Schichten ſogar Wir⸗
beltiere, z. B. Haifiſche. Die Landbewohner aber treten
erſt im Devon auf. Inſekten und Reptilien treffen wir
in der Steinkohlen⸗ und Diasperiode, im Trias, Jura
und in der Kreide.“
„Und Säugetiere?“ fragte der Gelehrte erwar⸗
tungsvoll.
„Im oberſten Trias findet man ſchon Beuteltiere,
den erſten Vogel im obern Jura; im Tertiär aber
ſpielen ſie die leitende Rolle, die vorher den Reptilien
zukam.“ |
„Und der Menſch?“
„Dieſer erſcheint früheſtens in der jungtertiären
Zeit.“
Da tat der Kleine vor Freude einen Luftſprung
und rief aus: „Sollte man ſo etwas für möglich hal⸗
—
Er
— 68 —
ten! Und gar hier in Buenos Aires! Sie ſind ja
wahrhaftig der reine Profeſſor Giebel, der ein berühmtes
Handbuch über die Fauna der Vorwelt geſchrieben hat!
Setzen Sie ſich, ſetzen Sie ſich ſchnell! Ich muß Ihnen
einige ſehr wichtige zoopaläontologiſche Fragen vor⸗
legen. Warum iſt der Schwanz bei allen Fiſchen bis
in die Jurazeit hinauf heterocerk wie jetzt noch bei den
Rochen und Haien? Warum traten die echten Ammo⸗
niten, die im obern Jura und in der untern Kreide zur
höchſten Entfaltung gelangen, im alpinen Trias fo ver-
einzelt auf? Findet da eine Epakme ſtatt oder nicht?
Aus welchem Grunde rechnen Sie Nautilus und Lin-
gula zu den Dauertypen, und wie wollen Sie auf eine
Differenzierung der Tierwelt hinweiſen, wenn man
Ihnen ſagt, daß — — —“
„Valgame Dios — Gott ſtehe mir bei!“ unter⸗
brach ihn der Bankier, indem er ſich die beiden Hände
an die Ohren legte. „Seüores, ich bitte Sie, zu be⸗
denken, daß Sie ſich nicht in der vorſintflutlichen Kreide,
ſondern hier bei mir befinden, der ich von ſolchen Din⸗
gen leider nicht das mindeſte verſtehe. Haben Sie die
Gnade, dieſes Thema, das ja ganz intereſſant ſein mag,
für ſpäter aufzuſparen. Ich würde Ihnen das ſehr
hoch anrechnen.“
Der Vater Jaguar erklärte ſich lachend einver⸗
ſtanden; dem Kleinen aber war es ganz und gar nicht
lieb, daß er abbrechen mußte. Man kam auf das heu⸗
tige Stiergefecht zu ſprechen, wobei Doktor Morgen⸗
ſtern einige kulturhiſtoriſche Bemerkungen an den Mann
brachte. Er ſprach von den römiſchen Gladiatoren und
nahm dabei Gelegenheit, dem Vater Jaguar das Kom⸗
pliment zu machen: „Sie wären jedenfalls ein ausge⸗
zeichneter Forumkämpfer geweſen, Senor, und hätten
— 8 —
ſowohl unter den Retiarii, Velites und Secutores, als
auch unter den Galli, Thraces und Hoplomachi Großes
geleiſtet. Es iſt wirklich jammerſchade, daß Sie nicht
ſchon damals gelebt haben!“
„Warum jammerſchade?“ fragte Hammer ſtill be⸗
luſtigt.
„Weil Sie dann jedenfalls in Friedländers „Dar⸗
ſtellungen aus der Sittengeſchichte Roms“ und in Mars
quardts ‚Römiſche Staatsverwaltung“ auf das rühm⸗
lichſte erwähnt worden wären.“
„Ich danke, Seßor. Hätte ich damals gelebt, fo
wäre ich ſchon über tauſend Jahre tot. Lieber iſt mir's,
daß ich lebe und in den Büchern dieſer beiden Herren
nicht erwähnt werde.“
„Mag ſein! Aber der Erwähnung werden Sie auf
leinen Fall entgehen. Sie werden in den Werken über
die Stiergefechte als einer der größten Toreadores an⸗
geführt werden. Wie iſt es Ihnen nur möglich ge-
weſen, dieſen gräßlichen Bison americanus mit einem
einzigen Meſſerſtich zu erlegen?“
„Das iſt nur eine Folge der Uebung. Ich habe
ſchon viele Büffel auf dieſelbe Weiſe getötet.“
„Ich denke, es gibt hier in Argentinien keine Bi⸗
ſons. Oder hätte ſich die Wiſſenſchaft, die ſonſt untrüg⸗
lich iſt, einmal geirrt?“
„Sie irrt ſich nicht. Ich habe die Büffel, von
denen ich ſprach, in den Vereinigten Staaten erlegt.“
„In den Vereinigten Staaten? Ah, da muß ich
Sie ſogleich fragen, ob Sie die berühmte Mammuts⸗
höhle in Kentucky kennen, und vielleicht gar ein Ohio⸗
tier geſehen haben?“
Fi Re
„Davon vielleicht ein andres Mal, lieber Senor,
da wir nicht von eee Dingen ſprechen
ſollen.“
„Alſo weder von dem Dank, den wir Ihnen ſchul⸗
dig ſind, noch von petrefakten Tieren darf man ſprechen.
Nun frage ich Sie bloß, wovon man reden ſoll! Ich als
Deutſcher bin gewöhnt, zu reden — — —“
„Ein Deutſcher find Sie?“ fiel da der Vater Ja⸗
guar ein.
„Allerdings, wie Sie ſchon aus dem Namen Mor⸗
genſtern erſehen, den Sie vorhin wohl nicht genau ver⸗
nommen haben. Ich bin Privatgelehrter und ſtudiere
die Vorwelt.“
„Und ich bin Laie und ſtudiere die Mitwelt. Mein
Name Hammer mag Ihnen fagen, daß wir Lands⸗
leute ſind.“
„Wie, auch Sie ſind ein Deutſcher? Ich ſtamme
aus Jüterbogk. Und Sie, wenn ich fragen darf?“
„Ich wurde im goldenen Mainz geboren.“
„Ah, in Mainz, dem von Druſus erbauten Mo⸗
guntiacum! Caſtel liegt auf der andern Seite, ulterior,
jenſeits, wie der Lateiner ſagt. Was hat Sie von da
nach Nordamerika getrieben?“
„Die Tatenluſt.“
„Und von da nach Südamerika?“
„Eine Veranlaſſung, über die ich ſchweigen möchte.“
Sein bisher ſo freundliches Geſicht wurde bei dieſen
Worten plötzlich tiefernſt. Der zartfühlende Bankier
ahnte, daß der berühmte Mann an einer wunden Stelle
berührt worden ſei, und gab dem Geſpräch eine andre
Richtung, indem er ſich in höflichſtem Tone erkundigte:
„Man hat Sie allenthalben geſucht, Senor. Daraus
Ze
[ließe ich, daß Sie nicht in einem Hotel wohnen, denn
Sie ſind nicht gefunden worden.“
„Wir beſitzen Freunde in Buenos Aires, bei
denen wir ungeſtört wohnen können,“ lächelte der
Deutſche.
„Und werden Sie längere Zeit hier verweilen?“
„Nein. Ich werde in kurzer Zeit nach den Anden
gehen.“
„In welcher Richtung?“
„Ueber Tucuman wahrſcheinlich nach Peru hin⸗
über.“
Der Bankier horchte auf und fragte ſchnell: „Kom⸗
men Sie da vielleicht bis Lima?“
„Möglich.“ |
„Ich habe nämlich einen ſehr triftigen Grund zu
dieſer Erkundigung, Senor. Es iſt ein Neffe bei mir zu
Beſuch, der nur auf eine günſtige Gelegenheit wartet,
um über die Anden nach Lima zu gehen.“
„Wie alt?“
„Sechzehn Jahre.“
„Dann ſoll er lieber hier bleiben.“
„Er muß hinüber. Er wäre ſchon längſt fort,
wenn ich einen tüchtigen und zuverläſſigen Sendador
(Wegweiſer, Pfadfinder) gefunden hätte, dem ich den
Knaben anvertrauen kann. Uebrigens iſt er für ſeine
Jahre körperlich und geiſtig ſehr gut entwickelt.“
„Aber, Senor, bedenken Sie die Gefahren, die des
Reiſenden auf dieſem Wege lauern!“
„Ich habe es bedacht. Dieſe Gefahren werden
deſto geringer, je zuverläſſiger und erfahrener die Rei⸗
ſenden ſind. Sie wollen über die Anden. Faſt möchte
ich eine Frage ausſprechen und eine Bitte daran
knüpfen.“
— 72 —
Er ſah den Vater Jaguar erwartungsvoll an und
fügte, als dieſer ſchweigend vor ſich niederblickte, hinzu:
„Natürlich würde ich eine ſolche Gefälligkeit ſo reichlich
honorieren, wie meine Mittel es mir erlauben.“
Hammer ſchüttelte leiſe den Kopf, indem er ant⸗
wortete: „So etwas läßt ſich nicht honorieren. Ich
bin als Yerbatero (Teeſucher) im Gran Chaeo, als
Gambuſino (Goldſucher) in Peru, als Chinchillero
(Pelzjäger auf Chinchillas) in den Anden und als
(Cascarillero) Chinarindenſammler in Braſilien um⸗
hergeſtiegen. Meine Gefährten haben mich überall be⸗
gleitet. Gefahren fürchten wir nicht, denn wir ſind
ihnen gewachſen, nämlich ſolange wir uns unter uns
befinden. Die Gegenwart eines andern aber, zumal
eines unerwachſenen, alſo unerfahrenen Begleiters
würde uns nicht nur unſrer innern, ſondern infolge⸗
deſſen auch unſrer äußeren Sicherheit berauben, ſo daß
wir kaum imſtande ſein möchten, das Vertrauen, das
man in uns zu ſetzen hätte, zu rechtfertigen.“
„Sie ſprechen, wie ein vorſichtiger und ehrenwerter
Mann ſprechen muß, Senor; aber fo unerfahren, wie
Sie meinen, iſt mein Antonio nicht. Er reitet und
ſchießt ausgezeichnet und iſt ſchon zweimal über die An⸗
den herüber in Bolivia geweſen, die Seereiſe von Peru
hierher gar nicht gerechnet. Er iſt kräftig, ausdauernd,
unternehmend und anſpruchslos, ſo daß er Entbehrun⸗
gen und Anſtrengungen nicht ſehr achtet. Da iſt er ja.
Sehen Sie ihn ſich an, und ſprechen Sie mit ihm,
Senor! Seine Eltern find auch Deutſche. Ich denke,
dieſer letztere Umſtand wird geeignet ſein, als Für⸗
ſprache bei Ihnen zu gelten. Komm her, Antonio!
Dieſer Seßor will nach Peru hinüber. Möchteſt du
mit ihm gehen?“
= FB u
„Mit keinem fo gern wie mit ihm!“ antwortete der
Knabe freudig.
Es war wirklich ein ungewöhnlich ſtarker und auch
hübſcher Junge. Sein von der Sonne bräunlich ge⸗
färbtes Geſicht hatte charakteriſtiſche Züge, die auf
ſelbſtändiges Denken und Handeln ſchließen ließen.
Sein Haar war dunkel, aber das Blau ſeiner Augen
und deren ehrlicher, offener Blick ließen die germani⸗
ſche Abſtammung deutlich erkennen. Er ſelbſt ſchien
dem Vater Jaguar ebenſoſehr wie ſeine Antwort zu ge⸗
fallen, denn dieſer ſtreckte ihm die Hand entgegen, zog
ihn näher zu ſich heran, ſtrich ihm liebkoſend über den
Kopf und ſagte: „Alſo gern würden Sie mitgehen?
Aber die Anſtrengungen, das lange Reiten?“
„O, das halte ich nicht nur aus, ſondern ich habe
es ſogar ſehr gern.“
„Und der Weg durch den fürchterlichen Gran
Chaco, die Jaguare und die Indianer?“
„Die fürchte ich nicht. Ich weiß mein Gewehr und
mein Meſſer zu führen,“ antwortete der Knabe, indem
ſeine Augen blitzten und ſeine Wangen ſich röteten.
„So! Alſo mutig iſt man. Was hat man denn
ſonſt gelernt, mein verwegener junger Senor?“
Bei dieſer Frage bemächtigte ſich des Jünglings
eine kleine, ſichtbare Verlegenheit; er antwortete aber,
fie ſchnell überwindend: „Ich weiß gar wohl, Senor,
daß die Knaben meines Alters drüben in Deutſchland
ſchneller vorwärts ſchreiten und ihre Ziele leichter er-
reichen als wir, da ſie beſſere Schulen und Lehrer ha⸗
ben. Aber ich beſuche das Inſtitut für Kunſt und Ge⸗
werbe, da ich der Nachfolger meines Onkels werden
ſoll; Vater hält mir und dem Bruder einen deutſchen
Hauslehrer, und ſpäter werde ich eine deutſche Univer⸗
u, ME.
fität beſuchen. Wollen Sie mich eraminieren, fo will
ich ſehr gern antworten.“
„Das will mir wohl gefallen, denn ſo ſpricht keiner,
welcher der Letzte auf der Schulbank iſt. Zum Exami⸗
nator bin ich nicht berufen; aber für den Ritt über die
Pampas und die Anden würden Sie wohl gute Lehrer
an uns haben. Und ein Deutſcher ſind Sie? Aber
freilich wohl nur der Abſtammung nach?“
„Nein, Senor, ſondern mit meinem ganzen Herzen.
Ich bin nicht drüben geboren, halte aber doch das
ſchöne Deutſchland für mein Vaterland. Um ein
Deutſcher und zwar ein ganzer Deutſcher zu ſein,
braucht man nicht drüben zu wohnen, denn Alldeutſch⸗
land iſt an jedem Orte, da wo die deutſche Zunge klingt
und Gott im Himmel Lieder ſingt.“
Er hatte dies aus vollſtem Herzen geſagt. Der
kleine, rote Privatgelehrte ſprang begeiſtert auf, breitete
die Arme aus und rief: „Ja, wo des Deutſchen Zunge
klingt und Gott im Himmel Lieder ſingt! Das Lied iſt
gedichtet von Ernſt Moritz Arndt, am 26. Dezember
1769 in Schoritz auf Rügen geboren und am 29. Ja⸗
nuar 1860 in Bonn geſtorben. Komponiert wurde es
von vielen Tonſetzern. Meine Lieblingsmelodie iſt die⸗
jenige von Heinrich Marſchner, für vierſtimmigen Män⸗
nerchor in C dur geſetzt. Ich bin Mitglied des Jüter⸗
bogker Geſangvereins ‚Deutfche Lyra“ und ſinge erſten
Baß, vom großen As bis zum eingeſtrichenen e hinauf
und habe bei Konzerten die Noten anszugeben, da ich
Bücherwart des Vereins bin, Hurra! ‚Was ift des
Deutſchen Vaterland? Allüberall wird es genannt. O
Gott vom Himmel ſieh darein: Der ganze Erdkreis
wird's noch ſein!“
u
Die Begeiſterung des Kleinen nahm ſich höchſt poſ⸗
ſierlich aus, und doch war ſie ſehr ernſthaft gemeint.
Der Vater Jaguar nickte dem Knaben freundlich zu
und ſagte: „Recht fo, mein lieber Seüorito! (Kleiner
Herr, Herrchen.) Es geht auch älteren Leuten, als Sie
ſind, das Herz auf, wenn vom heiligen Vaterland die
Rede iſt. Sie ſcheinen ein braver Knabe zu ſein, und
ſo will ich es mir überlegen, ob es möglich ſein wird,
den Wunſch Ihres Oheims zu erfüllen.“
„Tun Sie es, Senor, tun Sie es!“ bat der Knabe.
„Ich werde Ihnen gern gehorchen und mich in alles
ſchicken.“
„Ja, tun Sie es!“ bat auch der Bankier. „Sie er⸗
weiſen mir damit einen großen Dienſt.“
„Es kommt nicht nur auf mich, ſondern auch auf
meine Gefährten an,“ antwortete der Vater Jaguar.
„Wir werden uns beſprechen. Bange dürfen Sie um
den Knaben nicht fein, denn von Santa FE aus, wo
der Ritt beginnen würde, ſind wir vierundzwanzig
Mann, von denen kein einziger ſich vor dem Schlimm⸗
ſten fürchtet. Freilich würde die Reiſe anders, beſon⸗
ders langſamer, vor ſich gehen, als Sie ſich denken.
Ihren Neffen glücklich hinüberzubringen, das kann für
uns nur nebenſächlich fein, da wir im Gran Chaco Auf-
gaben zu löſen haben, die ſich nicht aufſchieben laſſen.“
„Im Gran Chaco?“ fragte da der kleine Gelehrte.
„Gibt es dort nicht auch Verſteinerungen, Senor
Hammer?“
„Erſt recht! Mehr als anderswo! In der Pampa
hat man ſchon überall geſucht, im Chaco aber nicht,
weil ſich wegen der dortigen Indianer kein Forſcher hin⸗
getraute. Ich weiß Orte, wo man nur nachzugraben
braucht, um ausgezeichnete Funde zu machen.“
zu. IR
„Hurra! Da laſſe ih Pampa Pampa fein, und
gehe mit nach dem Gran Chaco! Einen ſolchen Vor⸗
teil, lateiniſch Fruetus und auch Commodum genannt,
darf ich mir unmöglich entgehen laſſen!“
„Nicht ſo raſch, mein Lieber! Von Buenos Aires
bis in den wilden Chaco kommt man nicht ſo leicht, wie
von Jüterbogk nach Berlin. Und dort gibt's auch keine
deutſchen Männergeſangvereine. Sie könnten leicht mit
Ihrem ſchönen erſten Baß den Todesgeſang anſtimmen
müſſen.“
„Wenn auch! Geben mir die Indianer die Noten
dazu, ſo ſinge ich ihn vom Blatte, prima vista, wie es
lateiniſch heißt. Sie nehmen mich doch hoffentlich mit?“
„Hoffentlich?“ brummte der Vater Jaguar, indem
er ein bedenkliches Geſicht machte. „Bitte, lieber Seüor
Morgenſtern, gehen Sie in ſich, und fragen Sie ſich, ob
Sie der Mann zu einem ſo gewagten Unternehmen
ſind!“ |
„Für ein Maſtodon oder ein Glyptodon wage ich
alles, ſelbſt mein Leben. Sie werden doch einem Lands⸗
mann aus Jüterbogk feine Bitte nicht abſchlagen!“
„O doch! Sie müſſen dieſen Gedanken unbedingt
fallen laſſen.“
Es war ihm ganz und gar nicht übel zu nehmen,
daß er auf ſeinem gefährlichen Ritt nur zuverläſſige
Leute bei ſich haben wollte. Man ſah es ihm an, daß
ihm der Antrag nicht angenehm war. Darum brachte
der Wirt das Geſpräch auf ein andres Thema.
Die Gäſte blieben bis nach dem eingenommenen
Abendmahl. Als ſie ſich dann verabſchiedeten, war der
Wirt ſo zartfühlend, ſeinen Wunſch nicht zur Sprache
zu bringen. Er wußte, daß der Vater Jaguar wieder⸗
kommen werde, um ſeine Anweiſung zu präſentieren,
BE.
und dann konnte über die Angelegenheit ja nochmals
geſprochen werden. Doktor Morgenſtern aber war we⸗
niger ſtrupulös; er nahm Hammer beim Arme und
fragte in beſtimmtem Ton: „Alſo, Senor, wie viel
Pferde ſoll ich mir kaufen?“
„Pferde? Wozu?“
„Nun, zu unſrer Reiſe. Ich muß doch Pferde ha⸗
ben und Hacken und Schaufeln und ſonſtige Werkzeuge.“
„Weiter nichts?“ fragte der Vater Jaguar beinahe
zornig. a
„Was ſonſt noch?“
„Einen Eiſenbahngüterzug. Oder meinen Sie,
wenn Sie den Rieſenelefanten ausgegraben haben, laufe
er allein nach Jüterbogk, um dort Mitglied Ihrer
„Deutſchen Lyra“ zu werden?“
Bei dieſen Worten ging Hammer zur Tür hinaus
und ließ den Kleinen ſtehen; der Bankier begleitete ihn
bis an den Ausgang. Eben als ſie im Begriff ſtanden,
ſich dort zu verabſchieden, kam der Kriminalbeamte, der
den geſtrigen Vorfall zu unterſuchen hatte, und meldete,
daß der Eſpada Antonio Perillo der Täter nicht ge⸗
weſen ſein könne, da er imſtande ſei, ſeine Unſchuld
durch ein unanfechtbares Alibi zu beweiſen.
Die Herren ſprachen noch einige Zeit über dieſe
Angelegenheit. Sie wurden dabei von dem Licht, das
ein Peon hielt, hell beleuchtet und bemerkten nicht, daß
ſie dabei beobachtet wurden.
Als der Poliziſt vorhin in die Straße, wo die
Quinta ſtand, eingebogen war, waren ihm zwei Männer
gefolgt, ſo heimlich und ſo leiſe, daß ihm ihre Gegen⸗
wart entging. Jetzt ſtanden ſie drüben auf der andern
Seite der Straße. Es war dunkler Abend; aber ſelbſt
wenn es heller geweſen wäre, hätte man ſie ſchwerlich
zer, IE a
ſehen können, da fie fich dicht an das Gebüſch des Ole⸗
anderzaunes ſchmiegten. Es waren die beiden Mord⸗
buben, die den harmloſen Doktor Morgenſtern hatten
töten wollen.
„Dachte es mir, daß dieſer Vigilant zum Bankier
gehen würde,“ flüſterte Antonio Perillo ſeinem Be⸗
gleiter zu. „Wir haben alſo nicht umſonſt vor ſeiner
Wohnung gelauert. Möchte wiſſen, was er zu ſagen
hat.“
„Das weiß ich ſehr genau,“ antwortete der andre
ebenſo leiſe. „Er wird ihm ſagen, daß du nicht als
Täter in Betracht kommſt, weil du — — Tempestad
— Donnerwetter!“ unterbrach er ſich. „Wer iſt denn
der Kerl?“
„Welcher?“
„Der Rieſe, der neben dem Bankier ſteht.“
Der Schein des Lichtes war ſoeben hell auf Ham⸗
mers Geſicht gefallen.
„Den kennſt du nicht?“ fragte Antonio Perillo.
„Ah, ich vergaß, daß du heute nicht mit beim Stiergefecht
warſt. Das iſt der Vater Jaguar, der Halunke, der uns
alle fo blamiert hat. El diabolo se le lleve — der
Teufel hole ihn!“ vo:
„Der — Ba—ter — Ja—gu—ar?“ fragte der
ältere, indem er die einzelnen Silben weit auseinander
dehnte. „Der alſo iſt der Vater Jaguar! Der!“
„So kennſt du ihn?“
„Und ob ich ihn kenne! Alſo ſo lange Jahre habe
ich mich geſehnt, den Vater Jaguar zu ſehen, und der
Zufall, oder vielmehr mein gutes Glück hat mir dieſen
Wunſch ſtets verſagt. Und nun ich ihn ſehe, glücklicher⸗
weiſe ohne daß er mich ſieht, muß ich erfahren, daß es
— 79 —
dieſer — dieſer — dieſer iſt! Welch eine Neuigkeit!
Welch eine Erfahrung, die ich da mache!“
Er flüſterte dieſe Worte abgebrochen, lang gedehnt,
wie geiſtesabweſend. Antonio Perillo konnte ſich dieſes
Verhalten ſeines Gefährten nicht erklären; darum
fragte er: „Was iſt's mit dir? Wie redeſt du? Wer
iſt er denn?“
„Wer er iſt, das will ich dir ſagen; du kennſt ja die
Geſchichte. Dieſer Mann wurde bei den nordamerika-
niſchen Indianern Metana Mu“) genannt.“
„Dieſes Wort verſtehe ich nicht.“
„Die engliſch ſprechenden Jäger nannten ihn
Lightning-hand“).“
„Auch engliſch verſtehe ich nicht.“ N
„So ſollſt du hören, daß er bei den ſpaniſch reden⸗
den Mexikanern El Mano relampagueando*) hieß.“
„Wie? Was? Iſt das möglich?“ fragte Perillo
betroffen. „So iſt es alſo der Bruder jenes — jenes
— — den du damals — — —“
„Ja, ja, jenes — — jenes — — den ich da⸗
mals — — —! Dieſer Lightning-hand befindet ſich
ſchon fo lange hier unter dem Namen des Vaters Ja⸗
guar. Er iſt alſo gleich darauf nach Argentinien ge⸗
kommen. Er hat meine Fährte entdeckt und iſt mir
gefolgt, um den Tod feines Bruders zu rächen, hat mich
aber nie getroffen, ebenſo aus Zufall, wie ich ihn auch
nie geſehen habe.“
„So iſt es; ja, ſo iſt es; anders kann es nicht ſein.
Nimm dich in acht!“
„Das werde ich. Nun ich die große Gefahr kenne,
worin ich ſo lange geſchwebt habe, ohne es zu ahnen,
werde ich ihr in meiner Weiſe begegnen. Er ſucht mich
9) Die Bligende Hand
— 80 —
und hat mich nicht gefunden; ich aber habe ihn ge⸗
funden, ohne ihn zu ſuchen. Er wird mir . ent⸗
kommen.“
„Du willſt ihn — — —?“
„Ja.“
„Gerade wie ſeinen Bruder?“
„Gerade ſo! Oder meinſt du etwa, daß ich ihn
leben laſſen ſoll, um ihm in die Hände zu laufen?
Uebrigens was tut er hier bei dieſem Bankier Salido,
bei dem der kleine Rote wohnt, der ſich wie ein Gaucho
kleidet, ohne einer zu ſein?“
„Das iſt allerdings ein Umſtand, der auch mir
auffällt.“
„Sollten beide befreundet ſein? Dieſer Zwerg und
dieſer Rieſe? Sie müſſen beide verſchwinden. Willſt
du mir helfen?“
„Frage nicht erſt! Es verſteht ſich ganz von ſelbſt,
daß meine Hand, mein Meſſer und meine Kugel dir
gehören. Wir ſind verwandt und haben gleiche In⸗
tereſſen.“
„So müſſen wir zunächſt erfahren, wo dieſer Vater
Jaguar wohnt. Horch!“
Der Gerichtsbeamte entfernte ſich zuerſt. Er wie⸗
derholte zu Perillos Freude mit lauter Stimme, daß
dieſer unſchuldig ſei. Dann ging auch der Vater Ja⸗
guar, nachdem er mit dem Bankier noch einige höfliche
Worte gewechſelt hatte. /
„Jetzt ihm nach!“ flüfterte der Kamerad Perillos.
„Wir müſſen unbedingt erfahren, wo er ſich aufhält.
Laſſen wir ihn alſo ja nicht aus den Augen!“ — —
viertes Kapitel
Eine neue Bekanntſchaft
Es war ungefähr vierzehn Tage ſpäter, als ein
aus Rozario kommender Dampfer an der Landeſtelle
von Santa Jé anlegte. Die Gehbretter wurden ausge⸗
worfen, und die Paſſagiere beeilten ſich, an das Land
zu kommen. Am Ufer gingen mehrere Offiziere auf
und ab, denen bei der Lebloſigkeit der innern Stadt die
Landung der Fremden ein willkommenes Schauſpiel bot.
Die letzten beiden an das Land Gehenden waren
zwei kleine Geſtalten, als Gauchos ganz in Rot ge-
kleidet und zwar ſo ähnlich, daß man ſie in Beziehung
auf ihre Anzüge ſehr leicht hätte verwechſeln können.
Sie trugen beide auch genau dieſelben Waffen, nämlich
jeder ein Gewehr, zwei Revolver, deren Griffe aus dem
Gürtel blickten, und ein Meſſer. Als die Offiziere dieſe
zwei Männer erblickten, ſchienen ſie ſehr überraſcht zu
ſein. Einer von ihnen, ein Kapitän, ſagte zu den
andern: „Was iſt das? Da kommt Coronel (Oberſt)
Glotino, und zwar verkleidet! Will er unerkannt blei⸗
ben, oder machen wir ihm die Honneurs?“
„Warten wir ab, ob er uns beachtet,“ meinte ein
Oberleutnant.
Die beiden Roten kamen langſam näher und zwar
gerade auf die Offiziere zu. Dieſe ſchlugen alſo die
May, Das Vermächtnis des Inka 6
Füße ſporenklirrend zuſammen und erhoben die Hände
zum Salut.
„Buenos mañanas — guten Morgen!“ dankte
der kleine Gelehrte, denn dieſer war es, indem er Zeige⸗
und Mittelfinger ſeiner rechten Hand an die Hutkrempe
legte. Sein Begleiter, Fritz Kieſewetter aus Stralau,
tat dasſelbe. „Schönes Wetter heute, Seüores. Nicht?“
„Allerdings, mein Oberſt,“ antwortete der Haupt⸗
mann. „Euer Gnaden haben eine gute Fahrt gehabt.
me der Herr Oberſt heute hier bleiben?“
„Vielleicht. Ich ſuche Unterkunft.“
„Erlauben der Herr Oberſt, Sie zu begleiten?“
„Ich erlaube es gern, bin aber nicht Oberſt.“
„Zu Befehl! Ich verſtehe! Diplomatiſche Sen⸗
dung oder vielleicht auch gar private militäriſche In⸗
ſpektion. Welchen Charakter dürfen wir Euer Gnaden
erteilen?”
„Sie meinen, welchen Namen? Ich bin Zoolog
und heiße Doktor Morgenſtern aus Jüterbogk.“
„Ganz recht! Je fremder und unausſprechlicher
die Namen, deſto tiefer und undurchdringlicher iſt das
Inkognito. Und dieſer Seüor neben Euer Gnaden?“
„Iſt Fritz Kieſewetter, mein Diener, aus Stralau
am Rummelsburger See.“
„Das iſt noch unausſprechlicher, alſo noch undurch⸗
dringlicher. Geſtatten Euer Gnaden, nach dem Cuartel!“
Die Gruppe ſetzte ſich in Schritt, voran der Ge⸗
lehrte, zu ſeiner Linken, ehrfurchtsvoll einen Schritt
zurück, der Hauptmann, hinter ihnen Fritz Kieſewetter
mit den andern Offizieren zu beiden Seiten.
Das Cuartel von Santa Js war ein noch aus der
alten ſpaniſchen Zeit ſtammendes, mehrſtöckiges Ge⸗
bäude mit Turm. Die Fenſter und ſelbſt die Balkone
gr. 8:
waren mit ſtarken Eiſengittern verſehen. Vor der
Faſſade dieſes Gebäudes ſtanden einige Kanonen; Sol⸗
daten ſtanden oder ſaßen vor den Türen, und zahlreiche
Arreſtanten ſchauten durch die vergitterten Fenſter.
„Sapperlot!“ meinte der Gelehrte in deutſcher
Sprache zu ſeinem Diener. „Das iſt ja ein Gefängnis.
Hält man uns für Räuber oder Diebe, was der Lateiner
einen expilator und vulturius nennt?“
„Det jloobe ick nicht,“ antwortete Fritz. „Nach
ſonne freundliche und höfliche Empfänglichkeit werden
ſie uns doch nich inſperren! Ick bin vielmehr von die⸗
jenigte Anſicht, dat man mit uns die nobelſten Abſichten
kultiviert. Jehen wir alfo man rin! Raus werden wir
ſchon wieder kommen, und wenn's jeſchmiſſen ſtatt
jejangen iſt.“
Die anweſenden Soldaten ſalutierten nach Vor⸗
ſchrift, und die Herren traten ein. Die beiden Deutſchen
wurden über einen Innenhof und eine Treppe nach
einigen ganz hübſch eingerichteten Zimmern geführt, an
deren Eingang ſich die Offiziere verabſchiedeten. Da⸗
bei bemerkte der Hauptmann: „Ein Imbiß wird unver⸗
züglich beſorgt und ebenſo eine Ordonnanz komman⸗
diert werden. Bin heute Kommandant, da der Herr
Major nach Parana mußte. Haben der Herr Oberſt
— Pardon, wollte ſagen der Herr Zoolog einen Befehl?“
„Keinen Befehl, ſondern eine Bitte. Laſſen Sie
doch ſchnell nachfragen, ob ein Yerbatero, der zugleich
Sendador iſt und ſchlechthin Vater Jaguar genannt
wird, vorgeſtern oder geſtern hier in Santa Js ankam.
Ich muß wiſſen, wo er logiert.“
„Kam er mit dem Schiff, Euer Gnaden?“
„Ja, aus Buenos Aires.“
se ze
„Dann hoffe ich binnen einer halben Stunde rap⸗
portieren zu können.“
Er trat ab, und kurze Zeit ſpäter meldete ſich ein
Unteroffizier zum perſönlichen Dienſt und ſervierte zu⸗
gleich Fleiſch, Brot, Früchte und Bordeauxwein, der am
La Plata viel getrunken wird.
„Dat muß man ſagen,“ meinte Fritz, „dat Militär
hat doch immer Lebensart. Ick ärgere mir noch heut,
daß ick nicht jenommen worden bin. Bei meine mora⸗
liſche Veranlagung hätte ick mir jewiß bald weit in die
Höhe jebracht und könnte heut auch mit dem Schlepp⸗
ſäbel und Portepee raſſeln. Ireifen wir zu, Herr
Doktor; ick werde injießen.“
Er füllte die Gläſer. Die beiden aßen und tran⸗
ken, gemütlich nebeneinander ſitzend, woraus der Un⸗
teroffizier natürlich ſchloß, daß Fritze Kieſewetter nicht
ein Diener, ſondern auch ein höherer Offizier ſei. Fritze
genoß das Gebotene mit heiterem Mut, dem Doktor
aber kam die Sache doch nicht ganz geheuer vor; er
meinte in bedenklichem Ton: „Man nannte mich Co⸗
ronel, alſo Oberſt. Ich bin ein Jünger der friedlichen
Wiſſenſchaft und kein argentiniſcher Partiſan. Wie
alſo komme ich zu dieſem militäriſchen Grade?“
„Jedenfalls wie der Pudel zur ſauren Jurke, in⸗
dem er ſie für eine Wurſt jehalten hat. Machen Sie
ſich nur keine Jedanken! Mir können ſie meinetwejen
Jeneral nennen, ick bleibe, wat ick bin, und eſſe mit
Vergnüjen, wat uns die Ordonnanz aufjetafelt hat.“
„Aber, Fritze, ſcheint es nicht, daß ich mit einem
Offizier verwechſelt werde? Dieſer Irrtum, lateiniſch
Error genannt, kann uns ſehr leicht in Verlegenheit
bringen.“
5 IB
„Zunächſt hat er uns zu dieſes Jabelfrühſtück je⸗
bracht, wat ick keinen Irrtum nennen möchte.“
„Aber die Folgen! Fritze, Fritze, du ſcheinſt ein
wenig von der Eigenſchaft zu beſitzen, die der Lateiner
mit dem Worte Levitas (Leichtſinn) bezeichnet.“
„Dat kann nicht ſtimmen, Herr Doktor. Haben
die Römer jehungert, wenn ſie wat zu eſſen bekamen?“
„Ich glaube nicht.“
„So kann mir auch kein Römer Levitas nennen,
wenn ick mir dahin ſetze, wo ick jeſpeiſt werden ſoll.“
Da erſchien der Hauptmann und meldete in ſtram⸗
mer Haltung: „Der Vater Jaguar iſt geſtern nach⸗
mittag hier angekommen und heute früh mit dreiund⸗
zwanzig Erwachſenen und einem Knaben nach der La⸗
guna Porongos aufgebrochen.“
| „Zu Pferd?“
„Ja. Zwanzig ſeiner Begleiter haben einige Tage
lang hier auf ihn gewartet.“
„Ich muß ihm nach. Können Sie uns Pferde
verſchaffen?“ |
„Ganz zu Befehl! Wie viele, Euer Gnaden?“
„Zwei als Reſerve, alſo vier Stück.“
„Auf Requiſition oder vom Regiment?“
„Vom Regiment nicht, da ich nicht ſoldatenmäßig
zu reiten verſtehe.“ |
„Alſo auf Requiſition,“ meinte der Offizier mit
einem feinen Lächeln. „Wann befehlen Euer Gnaden,
daß die Pferde geſattelt bereitſtehen?“
„In einer Stunde.“
Der Hauptmann entfernte ſich ſalutierend. Als
kurz darauf die Ordonnanz erſchien, um Zigaretten zu
bringen und die Speiſereſte abzuräumen, fragte Mor-
genſtern: „Könnte ich nicht meine Sachen bekommen,
— 886 —
mein Lieber? Da das Schiff erſt am Nachmittag von
hier abgeht und ich nicht wußte, wo ich bleiben würde,
haben wir unſer Gepäck einſtweilen an Bord gelaſſen.
Es iſt ein Bündel, lateiniſch Sareina genannt, worin
ſich Werkzeuge befinden, und ein Paket, mit Leder um⸗
wickelt, Fascis geheißen, welches Bücher enthält.“
„Wird ſofort geholt, Senor Coronel!“ Mit dieſen
Worten eilte der Unteroffizier hinaus.
Nach einer Viertelſtunde kehrte der Hauptmann
zurück und meldete, daß die Pferde bereit ſtänden.
„Was koſten fie?” fragte Morgenſtern.
„Natürlich nichts, Euer Gnaden,“ lächelte der
Offizier.
„Aber ich will fie ja bezahlen!“
„Ein Zoolog braucht nicht zu zahlen.“
„Warum nicht?“
„Es iſt die Sitte dieſes Landes, Señor.“
„Sonderbar! Dieſes Land wurde von den Spa⸗
niern ziviliſiert, die ihre Sprache und Sitten von den
Römern bekamen; ich habe nirgends geleſen, daß bei
dieſen letzteren die Gelehrten die Pferde gratis er⸗
hielten. Ich werde ſpäter eifrig darüber nachſchlagen,
da es ſich dabei um ein kulturhiſtoriſches Moment von
bedeutendem Wert handelt. Es ſcheint, Argentinien iſt
das einzige Land, das dieſen ſchönen Gebrauch beibe⸗
halten hat. Es iſt auch in andrer Beziehung höchſt
konſervativ. Bewahrt es uns doch in ſeinen Pampas
die Zeugen und Beweiſe eines längſt untergegangenen
Lebens auf. Ich will nicht vom Maſtodon und Mega⸗
therium ſprechen, aber fragen muß ich Sie doch, Senor,
ob Sie ſchon ſo glücklich geweſen ſind, hier einen ter⸗
tiären Menſchen zu ſehen?“
a
„Tertiär?“ antwortete der Hauptmann verlegen.
„Wollen Euer Gnaden befehlen, was für eine Perſon
ich mir unter einem tertiären Menſchen vorſtellen ſoll?“
„Ich befehle nicht, ſondern ich bitte bloß. Man
hat ſchon in den älteren Pliocänſchichten Feuerſpuren
und Steinwerkzeuge gefunden. Später entdeckte man
da gar drei menſchliche Skelette. Es hat alſo in den
Pampas ſchon zur mittleren Tertiärzeit Menſchen ge⸗
geben, die ſonderbarerweiſe ein durchbohrtes Bruſtbein
und dreizehn Rückenwirbel anſtatt zwölf beſaßen. Möglich,
daß wir nach Jahrtauſenden deren nur noch elf oder
zehn oder auch noch weniger beſitzen, was mich gar
nicht wundern würde.“
„Woraus zu ſchließen iſt,“ fiel Fritze ſehr ernſt in
ſpaniſcher Sprache ein, „daß der noch ſpätere Menſch
gar keine Knochen haben wird.“
„Möglich,“ nickte der Doktor. „Die Umbildung
der Lebeweſen nimmt ihren ununterbrochenen Gang,
wenn wir uns die kommenden Formen auch nicht vor⸗
zuſtellen vermögen. Nehmen wir, um von einem inter⸗
eſſanten Beiſpiel zu ſprechen, den Zahn eines Höhlen⸗
bären an. Haben Sie ſchon einen ſolchen geſehen,
Senor Kapitän?“
„Nein,“ ſchüttelte der Gefragte, der jetzt allerdings
nicht wußte, was er von dem „Oberſt“ halten ſollte.
„Dieſer Zahn, nämlich der Backzahn, iſt in der
Weiſe —“ N
Er wurde unterbrochen. Es traten mehrere Sol⸗
daten herein, welche das Gepäck brachten und auf den
Boden niederlegten, um ſich dann zu entfernen. Das
eine Bündel enthielt, wie man ſah, zwei Hacken, zwei
Spaten und zwei Schaufeln; das andre war aufge⸗
platzt, ſo daß ihm einige Bücher entfielen. Der Haupt⸗
— 88 —
mann bückte ſich dienſtbereit, um ſie aufzuheben und auf
den Tiſch zu legen. Dabei fiel, da ſich eins derſelben
öffnete, ſein Blick auf deſſen Titel. Da ſtand gedruckt
„Nuestros predecesores de los Pampas — die Vorwelt
in den Pampas. Und drüben auf der Innenſeite des
Einbandes war der Name Doktor Morgenſtern, Jüter-
bogk zu leſen. Schnell öffnete der Offizier das zweite,
dritte und vierte Buch; ſie waren alle mit demſelben
Namen gezeichnet. Da fragte er in haſtiger Weiſe:
„Wie nannten Sie ſich vorhin, Senor — — Zoolog?“
„Doktor Morgenſtern aus Jüterbogk.“
„Iſt das etwa Ihr wirklicher Name.“
„Allerdings.“
„Können Sie das beweiſen?“
„Sehr leicht.“
„Womit?“
„Mit meinem Paß.“
„Her damit!“
Das klang befehlend, zornig. Der Gelehrte zog
ſeine Brieftaſche mit dem Paß hervor und gab den
letzteren dem Offizier. Kaum hatte dieſer einen Blick
hineingeworfen, fo rief er aus: „Que yerro y que
desvergüenza! Mas aun que semejanza! Sois
bribones, sois embusteros — welcher Irrtum und
welche Frechheit! Aber auch welche Aehnlichkeit! Ihr
ſeid Schurken, ſeid Betrüger!“
„5 Schurken! Und Betrüger? Wir?“ fragte Mor⸗
genſtern. „Senor, wollen Sie uns gefälligſt jagen, wie
Sie zu einem Urteil gelangen, das völlig unbegründet
iſt, inaniter würde der Lateiner ſagen.“
„Laſſen Sie mich mit Ihrem Lateiner in Ruhe!
Wie können Sie uns belügen und ſich für den Oberſten
— 89 —
Glotino, den Schwager unſres Generals Mitre, aus⸗
geben?“
„Habe ich das?“ fuhr Morgenſtern nun ſeinerſeits
ſcharf auf. „Wie können Sie es wagen, mich, einen
deutſchen Untertan, einen Lügner zu nennen?“
„Schweigen Sie! Wiſſen Sie, daß ich Sie ſofort
einſperren kann?“
„Das können Sie; aber ſich dann rechtfertigen, das
können Sie nicht. Und ein Deutſcher läßt ſich nicht
einſperren, ohne den Betreffenden dann zur Verant⸗
wortung ziehen zu laſſen!“
„Es ſind Ihnen Honneurs erwieſen worden; ich
habe Ihnen zu eſſen und zu trinken gegeben, und meine
Soldaten haben ſich mit den Gauchos herumgeſtritten,
um Ihnen Pferde zu verſchaffen. Und nun ſtellt es
ſich heraus, daß Sie ein Gringo (verächtliche Bezeich⸗
nung für Ausländer), ein deutſcher Bücherwurm ſind!“
Morgenſtern trat kräftiger auf, als von ihm zu
erwarten geweſen war. Fritze hatte bis jetzt geſchwie⸗
gen, nun aber antwortete auch er: „Mäßigen Sie ſich,
Senor, ſonſt können Sie in Erfahrung bringen, daß ein
deutſcher Gelehrter, den Sie Gringo und Bücherwurm
ſchimpfen, kein ſo unbedeutender Menſch iſt, wie Sie zu
denken ſcheinen. Es läuft vielleicht mancher hier her⸗
um, mit dem zu tauſchen uns gar nicht einfallen
würde.“
„Meinen Sie etwa mich?“ fragte der Hauptmann
ſcharf.
„Wen ich meine, brauche ich nicht zu fagen.
Wollen Sie meine Worte auf irgendwen beziehen, ſo
habe ich gar nichts dagegen. Ich wundere mich über die
Vorwürfe, die Sie uns machen. Sie haben uns einge⸗
laden, weil Sie uns verkannten; uns aber iſt es nicht
eingefallen, Sie zu täuſchen. Was wir genoſſen haben,
werden wir bezahlen. In Beziehung auf die uns er⸗
wieſenen Honneurs ſind wir quitt, denn wir haben auch
gegrüßt. Und was die Pferde betrifft, ſo können Sie
dieſe ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückſtellen,
denn wir kaufen uns andre. Was koſtet das Eſſen, und
was koſtet der Wein, dem man es anſchmeckt, daß er
kein echter Bordeaux iſt, ſondern aus einer hieſigen
Fabrik ſtammt?“
Er zog den Beutel, um zu bezahlen. Da aber fuhr
der Kapitän zornig auf: „Was? Ich ſoll von einem
Bedienten Geld annehmen? Biſt du toll, Kerl!“
Da trat Fritze einen Schritt auf ihn zu und drohte:
„Kerl? Ich ein Kerl? Ich heiße Friedrich Kieſewetter
und bin ein Preuße. Verſtanden? Und wer mich du
nennt, der macht mit mir Bruderſchaft und wird von
mir auch geduzt.“
„Welch ein frecher Patron! Menſch, ich ſtecke dich
unter meine Soldaten und werde dafür ſorgen, daß
dein Rücken für ein ganzes Jahr die ſchönſte blaue
Farbe annimmt!“ |
„Verſuche es! Ich bin ein Untertan des Königs
von Preußen, deſſen Arm gar wohl ſo weit reicht, dich
zu faſſen und zu beſtrafen, wenn du es wagſt, dich an
mir zu vergreifen!“ |
Dieſe Worte entflammten den Zorn des Offiziers
auf das höchſte. Er eilte zur Tür, hinter der die Or⸗
donnanz ſtehen mußte, öffnete ſie und rief hinaus:
„Herein! Werft mir ſchnell dieſen Menſchen hinaus,
bis vor das Tor, und greift ſo feſt wie möglich zu! Je
mehr blaue Flecke er bekommt, deſto beſſer iſt es.“
Es ſtanden auch noch diejenigen Soldaten draußen,
welche die Pakete gebracht hatten. Sie waren durch die
— 91 —
lauten Stimmen, die ſie gehört hatten, zurückgehalten
worden und kamen ſchnell herein, um den Befehl aus⸗
zuführen. Es war ein Gaudium für ſie, einen Frem⸗
den hinauszuwerfen, und es kam bei ihnen gar nicht in
Betracht, daß ſie ihn noch vor wenigen Minuten für
einen Offizier gehalten hatten.
Fritze griff nach ſeinem Gewehr, um ſich zu ver⸗
teidigen, war aber klug genug, dieſe Abſicht wieder auf⸗
zugeben. Er warf es am Riemen über den Rücken
und ſagte: „Rührt mich nicht an; ich gehe ſelbſt!
Kommen Sie, Senor Doktor!“
Indem er dieſe Worte ſprach, hob er das Bündel
mit den Werkzeugen auf, hob es auf die Achſel und
ſchritt der Tür zu. Man hätte dem kleinen Kerlchen
gar nicht zugetraut, daß es ihm gelingen werde, das
ſchwere Paket mit ſolcher Leichtigkeit zu bewältigen.
Seine drohende Haltung imponierte den Soldaten; ſie
wichen vor ihm zurück und ließen ihn zur Tür hinaus.
Da aber herrſchte ſie der Kapitän an: „Nennt ihr das
Hinauswerfen, ihr Halunken? Sofort ihm nach, ſonſt
ſetzt es Arreſt!“ |
Sie gehorchten dieſem Befehl; der Hauptmann aber
wendete ſich an den Gelehrten: „Sie ſehen, Senor, wie
weit man kommt, wenn man einem Offizier nicht die⸗
jenige Höflichkeit erweiſt, die er unbedingt zu fordern
hat. Was werden Sie tun, wenn ich Sie einſperren
laſſe?“
„Mich mit Hilfe des Vertreters meines Mon⸗
archen an Ihren Präſidenten wenden,“ antwortete
Morgenſtern ruhig. „Dann würden Sie ebenſo ein⸗
geſperrt, um zu erfahren, wie weit man kommt, wenn
man einem deutſchen Untertan diejenige Rückſicht ver⸗
ſagt, die er unbedingt zu fordern hat.“
— 92 —
„Ich finde, daß Sie ſehr hochtrabend ſprechen. Die
Lage, in welcher Sie ſich gegenwärtig befinden, iſt
keineswegs eine ehrenvolle.“
„Die Ihrige noch weniger. Wer einen Senor, den
er einſperren will, vorher Oberſt genannt und Euer
Gnaden tituliert hat, muß befürchten, ſchwer blamiert
zu werden. Ich hoffe, wir ſind miteinander fertig.
Die Bücher, welche hier liegen, werde ich durch einen
Boten holen laſſen. Leben Sie wohl, Senor.“
Er wendete ſich nach der Tür und ging, ohne daß
der Kapitän Miene machte, ihn zurückzuhalten, hinaus.
Als er die Treppe hinabſtieg, hörte er auf dem Hofe
einen Lärm, und als er dieſen erreichte, ſah er einen
dichten Knäuel von Soldaten, worin Fritze ſteckte. Sie
hatten die Fäuſte erhoben und wollten ihn ſchlagen,
wagten dies aber nicht, da er den Revolver gezogen
hatte und drohte, auf jeden zu ſchießen, der es wagen
würde, ſich an ihm zu vergreifen. So ſchimpften ſie
nur und ſchoben hinter ihm her, wodurch ſie ihn im
Trab bis vor das Tor brachten, wo er ſtolperte und mit
ſeinem Bündel niederfiel. Da packten ſie ihn, riſſen
ihm den Revolver aus der Hand und gaben ihm ihre
Fäuſte zu fühlen. Er wehrte ſich mit Händen und
Füßen gegen ſie und ſchlug und ſtieß wacker um ſich,
bis Morgenſtern kam und einige von ihnen mit dem
Kolben feines Gewehrs zurückſtieß.
„Zurück, ihr Halunken!“ gebot er. „Habt ihr ver-
geſſen, daß ich Offizier bin! Euer Kapitän iſt verrückt
geworden, daß er es wagt, euch auf den Begleiter eines
Coronel zu hetzen. Lauft ſchnell zum Medico militar
(Militärarzt)! Ich befehle ihm, den Kapitän ſofort zu
unterſuchen und in Behandlung zu nehmen.“
— 93 —
Dieſe Liſt wirkte ſofort. Sie zogen ſich verblüfft
zurück, und einige von ihnen liefen wirklich fort, um nach
dem Arzt zu ſuchen. Fritze ſprang auf, teilte ſchnell
noch einige kräftige Rippenſtöße aus, nahm dann ſein
Bündel wieder auf die Achſel und folgte dem Doktor,
der ſich mit raſchen Schritten nach der Stadt zu ent⸗
fernte. Als Fritze ihn eingeholt hatte, ſchimpfte er:
„So 'ne Rotte Korah iſt mich auch noch nicht vorje⸗
lommen! Dat will Soldat find? Schönes Helden⸗
tum! Dreißig gejen einen einzigen, der noch dazu den
Pack tragen muß! Sie wollten mir verhauen!“
„Haben Sie dir wehe getan?“ fragte ſein Herr
beſorgt.
„Dat weiß ick nicht. Ick muß es erſt unterſuchen.
Fühlen tu ick jetzt noch nichts. Hoffentlich kommt das
Zartjefühl nicht noch hinterher.“
„Gott ſei Dank, daß es nicht noch ſchlimmer ge⸗
worden iſt! Es war wirklich leichtſinnig von uns, uns
in eine ſolche Gefahr, lateiniſch Periculum, zu begeben.
Wollen uns jetzt ein Hotel ſuchen.“ f
Sie gingen ſuchend durch einige Straßen und
kamen an ein Haus, über deſſen Tür auf einem Schild
zu leſen war: „Posada por pasageros, Gaſthaus für
Fremde“. Dieſe Poſada ſah freilich gar nicht einladend
aus. Das Gebäude beſtand aus geſtampfter Erde und
hatte nur ein Erdgeſchoß mit einer breiten, niedrigen
Tür und zwei Oeffnungen, in denen keine Fenſter
waren. Nebenan gab es einen von einer Mauer umge⸗
benen Hof, wo man Pferde ſtampfen und wiehern
hörte. Auf dieſe Hütte ſteuerte Fritze zu.
„Da hinein?“ fragte der Doktor, indem er ein be⸗
denkliches Geſicht zog.
„Ja,“ antwortete Fritze.
zu -
„Es ſieht aber genau wie eine Spelunke aus!“
„Det ſchadet nichts, wenn wir nur nicht wieder
herausjeworfen werden, hier iſt alles Spelunke. Alſo
man wieder rin ins Vergnüjen!“
Als ſie eingetreten waren, ſahen ſie, daß das
Innere dieſes Gaſthauſes aus nur einem Zimmer be⸗
ſtand. Tiſche und Stühle gab es nicht, dafür aber
mehrere Hängematten und niedrige Schemel. Auf
einem derſelben ſaß der Wirt, ein hagerer, ſchmutziger
Menſch, der ſich erhob und unter tiefen Verneigungen
nach den Wünſchen der Geüores fragte. Fritze warf
ſein Bündel auf den Boden, der aus geſtampftem Lehm
beſtand, und antwortete an Stelle ſeines Herrn: „Kön⸗
nen Sie uns vier Pferde, zwei Reit⸗ und zwei Pack⸗
ſättel verſchaffen?“
„Mieten?“
„Nein, kaufen.“
„Wohin wollen Sie?“
„Nach dem Gran Chaco, nach Tucuman, vielleicht
noch weiter.“
„Ich habe ſehr feine Pferde zum Verkauf. Be⸗
mühen ſich Euer Gnaden mit in den Hof!“
Er öffnete eine Seitentür, die in den Hof führte.
Die beiden folgten ihm hinaus. In einer der Hänge⸗
matten hatte ein Mann gelegen, den ſie gar nicht be⸗
achteten. Als dieſer von dem Pferdehandel hörte,
ſprang er aus der Matte und folgte ihnen. Draußen
ſtanden zwölf abgetriebene und halbverhungerte Gäule,
deren Ausſehen ein ſo verkümmertes war, daß ſelbſt der
Doktor, obgleich er nichts von Pferden verſtand, kopf⸗
ſchüttelnd meinte: „Das ſollen Pferde ſein? Ich
würde ſo ein Tier viel eher für das halten, was der
Lateiner Caper oder Hircus nennt.“
— 95 —
„Was iſt das?“ fragte der Wirt.
„Ein Ziegenbock.“
„So ſind wir fertig. Meine Pferde ſind keine
Ziegenböcke.“
Er wendete ſich ſtolz ab, um in die Stube zurück⸗
zukehren. Da ſtand der Gaſt, der in der Hängematte
gelegen hatte. Dieſer betrachtete die beiden Kleinen
mit neugierigen Augen. Er war ebenſo rot gekleidet
wie ſie, trug aber lange Stiefel, deren Schäfte ſeine
Oberſchenkel bedeckten. Sein Geſicht war ſo bärtig, daß
man davon nur die Naſe und die Augen ſah. Sein
Haar hing unter dem Hut, der auf dem ſchon beſchriebe⸗
nen Kopftuch ſaß, lang bis auf den Rücken herab.
Dennoch machte er den Eindruck eines Menſchen, vor
dem man ſich nicht zu hüten brauchte. Er verbeugte
ſich und ſagte: „Seüores, ich höre, daß Euer Gnaden
nach dem Gran Chaco wollen, und kann Ihnen viel⸗
leicht mit meinem Rate dienen. Wo kommen Sie her?“
„Von Buenos Aires.“
„Wohnen Sie dort?“
„Nein. Ich bin fremd im Lande.“
„Ein Fremder? Wo haben Sie Ihre Heimat?“
„In Deutſchland.“
„Alſo ein Deutſcher! Und was ſind Sie? Neh⸗
men Sie mir meine Fragen nicht übel! Ich habe eine
gute Abſicht dabei.“
„Ich bin ein Privatgelehrter, ein Zoolog, und will
nach dem Gran Chaco, um dort BE Tiere aus⸗
zugraben.“
„Ah! Vielleicht ein Maſtodon?“
„Hoffentlich!“
„Oder ein Megatherium?“
„Sie kennen die Namen dieſer Tiere?“
— 96 —
„Natürlich! Ich bin ein Kollege von Ihnen.“
„Was? Auch ein Gelehrter?“ fragte Morgenſtern
verwundert, denn dieſer Mann ſah wie ein echter
Gaucho, nicht aber wie ein Gelehrter aus.“
„Allerdings bin ich einer,“ antwortete er ſtolz, in⸗
dem er ſich an die Bruſt ſchlug.
„Wohl auch Zoolog?“
„Auch, denn ich habe alles ſtudiert. Eigentlich
aber bin ich Cirujano (Chirurg), wenn Euer Gnaden
geſtatten.“
„Alſo ein Arzt!“
„Ja. Ich erlaube mir, mich Euer Gnaden vor⸗
zuſtellen. Man kennt mich überall, und Sie werden
nur deshalb, weil Sie fremd ſind, meinen berühmten
Namen noch nicht gehört haben. Ich bin nämlich Dok⸗
tor Parmeſan Rui el Iberio de Sargunna 9 Caſtel⸗
guardiante.“
„Danke! Ich heiße Doktor Morgenſtern, und der
Name meines Dieners iſt Kieſewetter.“
„Zwei ſchöne Namen, doch darf ich wohl behaup⸗
ten, daß der meinige wohlklingender iſt und ſich auch
viel leichter ausſprechen läßt. Ich bin einer altkaſti⸗
lianiſchen Adelsfamilie entſproſſen. Was ſagen Sie zu
einer Amputation des ganzen Beines, und zwar in
der Weiſe, daß man erſt die Weichteile abſchneidet und
dann den Kopf des Oberſchenkelknochens ſehr einfach
aus dem Pfannengelenk des Beckens nimmt?“
„Oberſchenkelknochen, Os femoris genannt? Und
Becken, Pelvis geheißen? Ich verſtehe Sie nicht,
Senor. Warum ſoll denn dem unglücklichen Mann das
Bein amputiert werden? Iſt er verwundet? Hat er
ſchon den Brand darin?“
„Keineswegs. Das Bein iſt kerngeſund. ©
— 97 —
„Aber weshalb ſoll es ihm da abgeſchnitten
werden?“
„Weshalb? Cielo! Welche Frage! Der Mann
iſt ja ganz munter und wohl; es fehlt ihm nichts, gar
nichts. Ich denke überhaupt gar nicht an einen be⸗
ſtimmten Menſchen, ſondern ich ſetze nur den Fall, ver- -
ſtehen Sie wohl, den Fall, daß ich ein Bein abzunehmen
hätte. Würden Sie mir die nötige Geſchicklichkeit zu⸗
trauen?“
„Ganz gern, ganz gern, Sefior. Aber dennoch bin
ich herzensfroh, daß Sie nur den Fall ſetzen. Ich
glaubte ſchon, ich ſollte Ihnen helfen und das Bein des
Unglücklichen halten.“
„Das iſt gar nicht notwendig, denn ich bedarf
keiner Hilfe. Ich verfahre mit ſolchem Geſchick und
ſolcher Schnelligkeit, daß der Patient gar nichts davon
empfindet. Erſt dann, wenn er geheilt das Lager ver⸗
läßt, bemerkt er, daß er nur noch ein Bein hat. Und
das tue ich nicht nur beim Bein, ſondern bei allen
Gliedern. Ich ſage Ihnen, Seüor, ich ſäble alles, alles
herunter!“
Er machte dabei ſo energiſche Armbewegungen, daß
der Doktor erſchrocken ausrief: „Mein Himmel! Ich
bin geſund, vollſtändig geſund! Mir brauchen Sie
nichts zu amputieren“!
„ Leider, leider! Es iſt wirklich jammerſchade, daß
Sie nicht verwundet ſind oder einen hübſchen Knochen⸗
fraß haben. Sie würden ſich königlich über die Kunſt
freuen, womit ich Ihren Körper von dem betreffenden
Gliede befreite. Ich habe meine Werkzeuge ſtets bei mir.
Was meinen Sie wohl zum Beiſpiel vom Herausſägen
des Ellenbogengelenks? Haben Sie dieſe wunderbare
Operation ſchon einmal geſehen?“
May, Das Vermächtnis des Inka 7
— 98 —
„Nein. Und ich verſichere Sie, daß ſich meine
beiden Ellenbogen in vollſter Ordnung befinden.“
„O, was das betrifft, ſo würde es gar nichts ſcha⸗
den, wenn ſie durch Schüſſe zerſchmettert worden oder
durch eine komplizierte und veraltete Verrenkung un⸗
brauchbar geworden wären. Ich ſäge ſie Ihnen zu
Ihrem eigenen Entzücken heraus, und dann könnten
Sie ſich Ihrer Arme ganz leidlich wieder bedienen.“
„Das will ich nicht bezweifeln, Seüor; aber dennoch
iſt es mir lieber, gar nicht in die Lage zu kommen, ſie
mir herausſägen laſſen zu müſſen.“
„So ſind Sie zwar ein gelehrter Mann, beſitzen
aber nicht den Mut, der Wiſſenſchaft ein Opfer zu brin⸗
gen. Und das iſt jammerſchade, denn ich ſäble alles,
alles herunter.
„Ich bewundere Ihre Geſchicklichkeit, Senor, habe
aber leider keine Zeit, mich weiter über dieſes inter⸗
eſſante Thema zu verbreiten. Ich ſuche Pferde für
meine Reiſe, und da ich hier keine paſſenden gefunden
habe, fo muß ich jetzt weiter, um — —“
„Machen Sie ſich keine Sorge,“ unterbrach ihn der
Chirurg. „Ich ſtelle mich Ihnen zur Verfügung.“
„Sie? Wiſſen Sie vielleicht, wo vier kräftige und
ausdauernde Tiere zu haben ſind?“
„Ich weiß es nicht nur, ſondern ich ſtehe ſelbſt
auch im Begriff, mir eins zu kaufen.“
„Wo iſt das?“
„Auf einer kleinen Eſtancia, die eine halbe Stunde
von der Stadt entfernt liegt. Aber es hat keine Eile.
Wir können den Handel erſt morgen früh machen. Ich
habe erfahren, daß der Eſtanciero verreiſt iſt und erſt
heute abend wiederkommt.“
— 99 —
„So muß ich mich nach einer andern Stelle um⸗
ſehen, denn ich habe keine Zeit zu verlieren.“
„Warum? Die vorfintflutlihen Skelette laufen
Ihnen doch nicht fort.“ g
„Nein; aber ich will eine Geſellſchaft von Männern
einholen, die nach der Laguna Porongos vorausgeritten
find.” |
Der Chirurg horchte auf. „Wer iſt das? Meinen
Sie etwa den Vater Jaguar mit ſeinen Leuten?“
„Ja, den meine ich. Kennen Sie ihn vielleicht?“
„So genau wie mich ſelbſt. Ich gehöre ja zu ihm.
Wir hatten uns hier zu verſammeln; ich wurde aber
droben in Puerto Antonio unvermutet aufgehalten, ſo
daß ich zu ſpät kam. Sie ſind ſchon fort. Ich konnte
mir freilich hier ſofort ein Pferd kaufen, um ihnen
nachzureiten; aber in dieſer Stadt findet man kein
brauchbares Tier. Darum warte ich lieber bis morgen
früh, wo ich ein gutes bekomme und nicht Gefahr laufe,
es unter mir zuſammenbrechen zu ſehen.“
Doktor Morgenſtern hatte ein gelindes Grauen vor
dieſem Mann gefühlt, der „alles, alles herunterſäbelte“;
jetzt aber freute er ſich, ihn getroffen zu haben. Darum
fragte er: „Sie glauben, daß Sie den Vater Jaguar
noch einholen werden?“
„Natürlich! Ich kenne die Route, die er ein⸗
ſchlägt, ganz genau.“
„Das freut mich außerordentlich. Würden Sie
uns die Erlaubnis, lateiniſch Concessio, erteilen, uns
Ihnen anzuſchließen?“
„Herzlich gern, Senor, da wir beide Jünger der
Wiſſenſchaft, alſo Kollegen ſind und ich mich darauf freue,
doch vielleicht eine Gelegenheit zu finden, Ihnen zeigen
zu können, daß ich mich ſelbſt vor der ſchwierigſten Am⸗
— 100 —
putation nicht fürchte. Hoffentlich ſtoßen wir mit feind⸗
lichen Indianern zuſammen; ich nehme natürlich mit
Beſtimmtheit an, daß dabei einigen von uns mehrere
Glieder zerſchmettert werden; dann ſollen Sie ſehen, wie
ich meines Amtes walten werde. Das wird nur ſo
fliegen, denn ich ſäble wirklich alles, alles herunter!“
Er fuhr dabei mit beiden Armen durch die Luft,
um anzudeuten, daß die Knochen und Fleiſchfetzen „nur
ſo fliegen“ würden. Dieſer Mann ſchien dem blutigen
Teil ſeines Berufes mit außerordentlicher Leidenſchaft
anzuhängen. Trotzdem fühlte ſich Morgenſtern jetzt
nicht mehr dadurch zurückgeſtoßen oder gar, wie vorher,
eingeſchüchtert. Er begann zu ahnen, daß er es hier
mit einer zwar krankhaften, doch ganz ungefährlichen
Idee zu tun habe. Darum antwortete er lächelnd:
„So bin ich bereit, mit Ihnen bis morgen zu warten.
Aber was tun wir bis dahin? Und wo halten wir uns
auf?“
„Wir leihen uns einige Klepper vom Wirt und
reiten nach der Eſtancia, von wo ſie ein Peon zurück⸗
bringen wird. Dort eſſen, trinken, rauchen und ſchla⸗
fen wir.“
„Einverſtanden, d. h. rauchen werde ich nicht.“
„Welch ein Wunder! Hier raucht alles, Mann
und Weib, Kind und Kegel. Warum Sie nicht?“
„Weil ich eine Nikotinvergiftung befürchte. Hat
doch die Wiſſenſchaft nachgewieſen, daß man vom vielen
Rauchen den ſchwarzen Star, Amaurosis genannt, be⸗
kommen kann.“ i
„Da müßte man die Zigaretten nicht rauchen, ſon⸗
dern ſcheffelweiſe hinunterſchlingen. Und ſelbſt da
kämen ſie doch nur in den Magen, nicht aber in die
Augen. Ich könnte ohne das Rauchen nicht exiſtieren.
— 101 —
Es regt die Nerven an, erhöht die Lebenskraft, begeiftert
den Menſchen für alles Gute und Schöne und gibt eine
ſo ſichere Hand, daß man ſelbſt die ſchwerſte und ge⸗
fährlichſte Amputation mit Leichtigkeit auszuführen
vermag. Haben Sie hier in Santa Js noch zu tun,
oder können wir bald aufbrechen?“
Morgenſtern erzählte ihm in kurzen Worten das
hier erlebte Abenteuer und ſagte ihm, daß er nur noch
ſeiner Bücher bedürfe, um reiſefertig zu ſein.
„Die werde ich Ihnen ſofort holen, Senor,“ meinte
der „Doktor“ Parmeſan.
„Sie? Damit darf ich Sie doch unmöglich be⸗
läſtigen, Senor.“
„Warum nicht? Zahlen Sie mir zwei Papiertaler,
ſo tue ich es gern. Uebrigens bin ich den Soldaten und
Offizieren bekannt. Man wird keinem andern Ihre
Bücher ſo gewiß übergeben wie mir.“
Alſo dieſer Mann mit dem langen und wohlklin⸗
genden altkaſtilianiſchen Namen, der ſich „Doktor“
nannte, war bereit, für zwei Papiertaler, alſo für zwei⸗
unddreißig deutſche Pfennige Gepäckträgerdienſte zu
leiſten! Als er von Morgenſtern dieſen Betrag erhal⸗
ten hatte, ging er fort und brachte ſchon nach kurzer
Zeit die Bücher getragen. Dann entfernte er ſich aber⸗
mals, um Papier und Tabak zu Zigaretten einzukaufen.
Er nahm zu dieſem Zweck einen Lederſack mit, den er
gefüllt zurückbrachte. Er hatte ganz richtig geſagt, daß
hier jeder rauche. Man wird in der Pampa ſelten
einen Menſchen ſehen, der nicht eine ſelbſtgedrehte Ziga⸗
rette im Munde hat.
Der Wirt war gern bereit, gegen geringe Bezah⸗
lung Pferde und einen Peon herzuleihen. Eines dieſer
Tiere bekam Morgenſterns Pakete zu tragen; dann
— 102 —
ſtiegen die Männer auf, um nach der Eſtancia zu reiten.
Als ſie langſam durch die erſte Gaſſe kamen, ſtanden
einige da beiſammen; ſie ſahen den Chirurgen und
rannten augenblicklich in das nächſte Haus, indem ſie
ſchrien: „El carnicero, el carnicero! Huid, huid,
de la contrario os amputa — der Fleiſchhacker, der
Fleiſchhacker! Flieht, flieht, ſonſt zerſchneidet er euch!“
Er ſchien alſo den Kindern als abſchreckender Po⸗
panz bekannt zu ſein. Das ärgerte ihn aber keines⸗
wegs, ſondern er ſagte in ſtolzem Ton: „Hören Sie es,
Senor? O, man kennt mich und meine Fertigkeiten
ſehr genau. Mein Ruhm iſt über ſämtliche La Plata⸗
Staaten verbreitet!“
Der Ritt ging an dem Cuartel vorüber, wo Mor⸗
genſtern vorhin die ſo kurze Rolle eines Oberſten ge⸗
ſpielt hatte, dann an dem Kirchhof und mehreren kleinen
Ranchos, bis man endlich das Stadtgebiet hinter ſich
hatte. Zur Linken ſahen die Reiter den ſeeartig aus⸗
gedehnten Rio Salado fließen, und vor ihnen lag ein
ausgedehntes, hügelig unebenes Heideland. Auf ihm
ſtand, rechts nach dem See hinüber, den der Rio Sala⸗
dillo hier bildet, die Hazienda, von der der „Fleiſch⸗
hacker“ geſprochen hatte. Sie war nicht ſehr groß, den⸗
noch gab es da nicht unbeträchtliche Herden. Man ſah
wohl an die tauſend Schafe weiden; auf der andern
Seite graſten, von einigen Gauchos bewacht, mehrere
hundert Stück Rinder, und in den Corrals gab es
Pferde genug, eine ganze Schwadron Kavallerie beritten
zu machen. — —
Wer über die Pampa oder den Campo, das Feld,
reitet, bekommt dreierlei Anſiedelungen zu ſehen. Die
erſte Art find die Ranchos (ſprich Rantſchos), kleine
108
Hütten, die meiſt aus geſtampfter Erde hergeſtellt ſind
und Stroh» oder Schilfdächer haben. Oft ſtehen fie
nicht zu ebener Erde, ſondern find mehrere Fuß tief in
den ausgegrabenen Boden eingelaſſen. Von Möbeln
nach unſerm Sinn iſt keine Rede. Eine Hängematte
gilt als Luxusartikel. Das Mahl wird auf einem
Feuerherd bereitet, der gleichfalls aus Lehm hergeſtellt
iſt, denn Steine gibt es in den Pampas nicht. Ein
Schornſtein iſt nicht vorhanden; der Rauch zieht durch
die Oeffnungen ab, die als Tür und Fenſter bezeichnet
werden, doch iſt die Tür nicht verſchließbar, und in den
Fenſteröffnungen gibt es weder Glas noch Rahmen.
Höchſtens vertritt ein Stück geöltes Papier die Stelle
der Scheiben.
In dieſen Ranchos wohnen die kleinen Leute, die
auf den Haziendas und ee bedienſtet ſind — die
Gauchos.
Dieſes letztere Wort iſt der Indianerſprache ent⸗
lehnt; die beiden Buchſtaben „a u“ bilden keinen Dop⸗
pellaut, ſondern werden getrennt ausgeſprochen; man
muß alſo Ga⸗utſcho ſagen. Die Ga⸗utſchos gehören
meiſt der Klaſſe der Meſtizen an; ſie betrachten ſich
zwar als Weiße und ſind auf dieſe Bezeichnung unge⸗
mein ſtolz, ſtammen aber von Indianerinnen und den
früher eingewanderten Spaniern ab.
Die Ga⸗utſchos beſitzen alle den Stolz des Spa⸗
niers und infolge ihres eigenartigen Lebens eine unge⸗
meine Freiheitsliebe. Jeder hält ſich für einen Ca⸗
ballero und iſt ſehr höflich gegen andre, um ſelbſt höflich
behandelt zu werden. Der ärmſte Teufel, ja ſelbſt der
Bettler wird „Euer Gnaden“ genannt. Derjenige
Fremde, der glaubt, er dürfe auf einen Gaucho von
oben herabblicken, weil er reicher oder gebildeter als
t
— 104 —
dieſer iſt, wird bald fo zurechtgewieſen werden, daß ihm
der Hochmut vergeht Herablaſſung beantwortet der
Gaucho mit der ausgeſuchteſten Grobheit oder, falls dies
nichts fruchtet, gar mit dem Meſſer. Behandelt man
ihr aber höflich läßt man ihn als einen menſchlich voll⸗
ſtandig Gleichberechtigten gelten, wird man bald einen
treuen und aufopfernden Freund an ihm haben. Zu
rühmer iſt vor allen Dingen ſeine Ehrlichkeit. So wie
er ſeine Hütte nie verſchließt, ſo wird er ſelbſt auch nie⸗
mals ſtehlen Findet er etwas, ſo gibt er es, falls die
Möglichkeit vorhanden iſt, dem Verluſtträger ganz ge⸗
wiß zurück. Ein Gaucho zum Beiſpiel, welcher jo arm
war, daß er nicht einmal einen Schemel beſaß und das
Gerippe eines Pferdekopfes als Stuhl benutzte, fand
auf offener Pampa eine Uhr, die einem ausländiſchen
Reiſenden aus der Taſche geglitten war. Er jagte einen
Tag lang von einem Nachbar zum andern, um zu er⸗
fahren, wem die Uhr wohl gehören könne, und als er
von dem Fremden hörte, ritt er ihm zwei Tage lang
nach, um ſie ihm zu bringen. Als ihm der Reiſende
eine Geldbelohnung geben wollte, warf er fie ihm ver⸗
ächtlich vor die Füße und kehrte, ohne ein Wort zu
ſagen, um.
Von Jugend auf an das Pferd gewöhnt, ſind die
Gauchos ebenſo kühne wie unermüdliche Reiter. Sie
gleichen darin den Weſtmännern und Indianern Nord⸗
amerikas. Eine Strecke von hundert Schritten zu
gehen, fällt dem Gaucho gar nicht ein. Sobald er ſeinen
Rancho verläßt, ſitzt er zu Pferde. Zweijährige Kinder
ſprengen auf halbwilden Pferden jubelnd in die Pampa
hinein. Auch die Frauen reiten, und zwar nach
Männerart, nicht die Beine auf einer Seite des Pferdes.
Oftmals ſieht man Mann und Weib zuſammen auf
— 105 —
einem Pferde fiten, die Frau dann ſtets verkehrt auf
dem Hinterteile des Pferdes, ohne allen Halt, ihren
Rücken an denjenigen ihres Mannes lehnend. Und
doch fällt ſie ſelbſt im ſchnellſten Galopp nicht herab.
Eine Untugend, und zwar eine große, beſitzt der
Gaucho. Er iſt nämlich vollſtändig gefühllos gegen ſein
Pferd. Er gräbt den Tieren mit den großen, ſcharfen
Sporen ſchonungslos tiefe Löcher in die Weichen, ohne
daran zr denken, welche Schmerzen er dem armen Ge⸗
ſchöpf bereitet. Darum fürchten die Pferde ihren Herrn
und gebärden ſich wie toll, wenn er ſie zuſammentreibt,
um ſich für den Ritt eines mit dem Laſſo aus der Herde
zu fangen. Bricht es unter ihm zuſammen, ſo läßt er
es, noch lebend, für die Geier liegen und holt ſich ein
andres. Bei den ungezählten Herden, die es im Lande
gibt, iſt ein Pferd ſo billig, daß man ſich zum Tode
eines ſolchen Tieres vollſtändig gleichgültig verhält.
Daher die zahlloſen Pferdegerippe, denen man überall
begegnet. Man kann, ohne zu übertreiben, ſagen, daß
die weiten, endloſen Pampas mit Pferdeknochen ge⸗
radezu bejät find.
Das eigenartige Leben, das der Gaucho führt, der
vollſtändige Mangel aller Schulen und ſonſtigen Bil⸗
dungsmittel und der fortwährende Umgang mit halb⸗
wilden Tieren, das ſind die Urſachen davon, daß der
Gaucho zarteren Regungen vollſtändig unzugänglich iſt.
Dazu kommen die traurigen politiſchen Zuſtände des
Landes. Ein Geſchichtſchreiber hat geſagt, daß in den
La Plata⸗Staaten es kein Jahr ohne wenigſtens eine
kleine Empörung gebe, und es iſt wahr, daß ſeit Men⸗
ſchengedenken dort eine Revolution der andern folgte.
Das verroht den Menſchen. Der Gaucho, dem ruhigen
Leben abgeneigt und durch ſeinen Beruf abgehärtet, iſt
— 16 —
jederzeit bereit, ſich einem Pronunciamiento — das iſt
der Ausdruck für Aufruhr — anzuſchließen. Je öfter
dies geſchieht, deſto tiefer drückt die Unbotmäßigkeit ſich
ſeinem Weſen ein, und die Folge davon iſt, daß die Be⸗
wohner derjenigen Diſtrikte, die ſich öfters gegen die
öffentliche Gewalt auflehnen, in Beziehung auf gute
Eigenſchaften weit hinter den andern zurückſtehen. Da⸗
her die Verſchiedenheit, mit der die Bewohner der
Pampas beurteilt werden.
Die zweite Art der Niederlaſſungen wird Ha⸗
cienda genannt. Ein Haciendero betreibt Feld⸗ und
Viehwirtſchaft zugleich, wird alſo ſelten große Herden
beſitzen. Die dritte Art wird Eſtancia genannt.
Der Eſtanciero gibt ſich nicht mit Ackerbau ab; er
züchtet nur Vieh, um es in die Schlachthäuſer zu lie⸗
fern. Es gibt Eſtancieros, die mehrere hunderttauſend
Stück beſitzen.
Dieſe Tiere befinden ſich ſowohl im Sommer als
auch im Winter ſtets im Freien. Obgleich ſie von
reitenden Gauchos beaufſichtigt werden, kommt es
häufig vor, daß ſie über die Grenze laufen und unter die
Herden des nächſten, ja des zweiten und dritten Nach⸗
bars gelangen. Um Verluſten vorzubeugen, brennt
deshalb jeder Beſitzer ſeinen Tieren einen Stempel ein,
der bei der Behörde für ihn regiſtriert worden iſt. So
kennt jeder ſein Eigentum und liefert von Zeit zu Zeit
den zugelaufenen Beſtand den rechtmäßigen Eigen⸗
tümern zurück. Beim Verkauf eines Pferdes oder
Rindes wird das Zeichen dadurch ungültig gemacht,
daß man es nochmals, und zwar verkehrt, auf das vor⸗
herige einbrennt, ein ſchmerzhaftes Verfahren, dem ſich
die Tiere natürlich mit aller Anſtrengung widerſetzen.
— 107 —
Eine ſolche Zeichnung der noch nicht mit einem
Stempel verſehenen jungen Rinder war eben im
Gange, als die Reiter die Eſtancia erreichten. Eine
Anzahl berittener Gauchos war beſchäftigt, die Tiere
draußen auf dem Campo zuſammen und dann in den
dazu beſtimmten Corral zu treiben. Unter Corral iſt
hier ein freier Platz zu verſtehen, der von hohen, ſtache⸗
ligen Kaktushecken umgeben iſt.
Die Rinder wiſſen ganz genau, daß ſtets etwas
Ungewöhnliches bevorſteht, wenn man ſie nach dem
Corral bringen will, und weigern ſich infolgedeſſen,
ihren Hirten zu gehorchen. So auch hier. Sie ver⸗
ſuchten, auszubrechen, ſtets aber waren die kühnen
Reiter da, ſie mit hochgeſchwungenem Laſſo oder krei⸗
ſender Bola daran zu hindern.
Die Bola iſt ein Wurfgeſchoß, das aus drei Blei⸗
oder Eiſenkugeln beſteht. Jede dieſer Kugeln hängt an
einem ſtarken, unzerreißbaren Riemen; die Enden dieſer
Riemen ſind zuſammengebunden. Der Gaucho nimmt
eine der Kugeln in die Hand, ſchwingt die beiden andern
einigemal zielend um den Kopf und ſchleudert dann
die Bola nach dem Tiere, das er fangen will. Er ver⸗
fährt dabei mit einer ſolchen Geſchicklichkeit, daß die
Bola ſich um die Hinterbeine des Pferdes oder Rindes
ſchlingt und dieſes zum Fall bringt.
Die Tiere kennen dieſe Schleuderkugeln und fürch⸗
ten ſie ebenſoſehr, wie ſie den Laſſo ſcheuen. So oft ſie
ausbrechen wollten, trieb die Angſt vor dieſen Waffen
ſie wieder zurück. So kamen ſie, zu beiden Seiten und
hinter ſich die ſchreienden Gauchos, mit donnerndem
Geſtampfe herangebrauſt. Am offenen Corral ange⸗
kommen, ſtutzten ſie; als aber ein alter, erfahrener
Bulle, der wohl wußte, daß er für ſich nichts zu be⸗
— 108 —
fürchten hatte, hineinrannte, folgten die andern hinter
ihm drein, und die Umzäunung wurde ſofort geſchloſſen.
Da ſahen die Gauchos die vier Reiter halten. Sie
kamen herbeigeritten. Der Majordomus (Hausver⸗
walter) rief, als er den Chirurg erblickte, fröhlich
lachend: „Cielo, beim Himmel, das iſt el Carnicero,
der Fleiſchhauer! Willkommen, Senor! Wollen Sie
bei uns vielleicht etwas herunterſäbeln? Wir ſind alle
geſund und munter. Laſſen Sie alſo Ihre Inſtrumente
ſtecken!“
Dieſer Empfang ſchien den Doktor Parmeſan zu
verdrießen, denn er antwortete: „Laſſen Sie ſolche
Scherze, wenn Sie mit einem Caballero ſprechen! Wie
können Sie mich Carnicero nennen! Ich verbitte mir
das! Meine Ahnen wohnten auf altkaſtilianiſchen
Burgen und Schlöſſern und haben ſiegreich gegen die
Mauren gekämpft, als von Ihren Vorfahren noch keine
Rede war. Für Sie bin ich Don Parmeſan Rui el
Iberio de Sargunna y Caſtelguardiante. Das merken
Sie ſich, Euer Gnaden!“
„Schön, Don Parmeſan, ich merke es mir. Uebri⸗
gens wollte ich Sie keineswegs beleidigen. Sie wiſſen
ja, welche Wertſchätzung wir Ihnen widmen, und wer⸗
den es mir alſo verzeihen, wenn ich in der Freude über
Ihre Ankunft den rechten Ausdruck verfehlte!“
„Das laſſe ich mir eher gefallen. Die Reue findet
bei mir ſtets ein verſöhnliches Herz. Ich verzeihe
Ihnen, zumal ich allerdings weiß, daß Sie meine chi⸗
rurgiſche Geſchicklichkeit anerkannt haben. Ich mache
Sie bei dieſer Gelegenheit darauf aufmerkſam, daß man
bei einer Trepanation der Hirnſchale jetzt nicht mehr
mit dem zirkelförmigen Trepanum, ſondern mit dem
Meißel arbeitet. Man muß — — —“
— 109 --
„Bitte, davon ſpäter!“ unterbrach ihn der Gaucho.
„Sie wiſſen, Don Parmeſan, daß wir uns ſehr gern
von Ihnen belehren laſſen; aber Sie haben da Geüores
bei ſich, gegen die wir unhöflich ſein würden, wollten
wir von Schädelverletzungen ſprechen. Darf ich Fuer
Gnaden um ihre Namen bitten?“
„Die Señores find neue Bekannte von mir, die
nach dem Gran Chaco wollen, gelehrte, hochſtudierte
Leute, infolgedeſſen ihre Namen ſo ſchwer auszuſprechen
ſind, daß es mir unmöglich iſt, ſie Ihnen zu ſagen.“
„Ich heiße Morgenſtern und mein Begleiter Kieſe⸗
wetter,“ erklärte der Privatgelehrte. „Wir ſind ge⸗
kommen, um einige Pferde zu kaufen. Hoffentlich ſind
welche übrig, was der Lateiner supersum oder nach
Umſtänden auch reliquus nennt.“
„Nun, Reliquien ſind unſre Pferde nicht; aber der
Eſtanciero wird Ihnen doch gern einige verkaufen.
Leider kommt er erſt heute abend heim. Sie werden
bis dahin unſre Gäſte ſein und können, wenn Sie ſich
unterhalten wollen, an der Zeichnung der Rinder teil⸗
nehmen.“
„Außerordentlich gern! Ich habe ſo etwas noch
nicht geſehen!“ .
„So kommen Sie! Ich werde Ihnen zunächſt
Zimmer anweiſen laſſen.“
Er ritt voran nach dem Wohngebäude und führte
ſie in das Zimmer. Der Peon aus Santa Js wurde
abgelohnt und kehrte mit den Pferden nach der Stadt
zurück. f
Der Beſitzer der Eſtaneia war gewiß ein wohl⸗
habender Mann, dennoch konnte die Einrichtung ſeiner
Wohnung nicht einmal derjenigen eines deutſchen Ar⸗
beiters verglichen werden. Die vier Lehmwände waren
— 110 —
nackt und leer. Es gab einen alten Tiſch, zwei noch
ältere Stühle und mehrere niedrige Schemel. Eine
Guitarre hing in der Ecke. Das war alles. Der Ma⸗
jordomus lud zum Sitzen ein und begab ſich nach der
Küche, um den üblichen Mate zu holen, der dortzulande
jedem Gaſte ſofort vorgeſetzt wird.
Mate iſt Paraguay⸗Tee; er wird aus den Blättern
und Stengeln von Ilex paraguyensis gewonnen und
hat die Form eines groben Pulvers. Man tut eine Priſe
davon in einen kleinen, ausgehöhlten Flaſchenkürbis und
gießt kochendes Waſſer darauf. Der Tee wird nicht ge⸗
trunken, ſondern mittels einer dünnen, metallenen
Röhre, Bombilla genannt, aus dem Kürbis geſogen.
Da die Bombilla ſehr heiß wird, verbrennen ſich Aus⸗
länder, welche dieſe Art des Trinkens nicht gewöhnt
ſind, gewöhnlich Lippen und Zunge, bis ſie gelernt ha⸗
ben, vorſichtig zu ſein. |
Solchen Mate bekamen die drei Gäſte. Der Chi⸗
rurg ſog das Getränk mit Vorſicht in den Mund, auch
Fritze war lange genug im Lande geweſen, um zu wiſſen,
daß er ſich in acht zu nehmen habe; der Doktor aber
brachte dem Mate ſofort den Tribut, den in der Regel
jeder Ausländer ihm bringt. Die Bombilla war heiß,
und er ſog zu kräftig, infolgedeſſen er zu viel des heißen
Tees in den Mund bekam. Er verbrannte ſich, und da
er es für unanſtändig hielt, den Mate auszuſpucken,
ſchluckte er ihn hinab. Natürlich verbrannte er ſich auch
den Schlund und rief, indem er ſein Geſicht ſchmerzlich
verzog: „O weh, meine Lippen, mein Gaumen, mein
Schlund, lateiniſch Labia, Palatum und Gluttus ge-
nannt! Das iſt ja der reine Teufelstrank, ganz geeignet,
die Verdammten in der Hölle innerlich zu martern!
Ich danke ergebenſt für dieſes Ilex⸗Waſſer!“
5
— 111 —
„Dat habe ick bei die erſten Verſuche boch Fefagt,“
meinte Fritze. „Bei zu kräftige Anziehungskraft ver⸗
feuerwerkert man ſich die Jeſchmacksorgane, doch dauert
es nicht lange, bis man ſich injerichtet und den rich⸗
tigen Manometerdruck anjewöhnt hat. Trinken Sie
man weiter, Herr Doktor!“
„Fällt mir gar nicht ein! Ich glaube, mein Schlund
iſt eine einzige Brandblaſe!“
Er war durch kein Zureden zu bewegen, noch einen
Zug zu tun. Die beiden andern aber hatten ihre Cala⸗
bazas (Flaſchenkürbiſſe) bald ausgeleert, und dann wur⸗
den ſie von dem Majordomus aufgefordert, ſich mit nach
dem Corral zu begeben, um dem hochintereſſanten Zeich⸗
nen der Rinder beizuwohnen. Don Parmeſan legte ſei⸗
nen roten Poncho, ſein Kopftuch und die Chiripa ab,
welche beide von der gleichen Farbe waren. Von Mor⸗
genſtern nach dem Grunde befragt, antwortete er: „Wiſ⸗
ſen Euer Gnaden noch nicht, daß die rote Farbe dieſe
halbwilden Rinder reizt? Wer rot gekleidet iſt, ſoll ſich
hüten, einem Toro nahe zu kommen.“
„Meinen Sie? Meines Wiſſens iſt es nur vom Pu⸗
ter wiſſenſchaftlich feſtgeſtellt, daß er gegen dieſe ſchöne
Farbe idioſynkraſiert. Aber daß auch das Rind, Bos auf
lateiniſch, denſelben Widerwillen beſitzt, iſt wohl hie und
da geäußert, aber noch von keinem Zoologen mit unum⸗
ſtößlichen Beiſpielen belegt worden. Da ich nun Zoo⸗
log bin und hier eine ſo vortreffliche Gelegenheit finde,
mir hier den Stoff zu einer gelehrten Abhandlung über
dieſes Thema zu ſammeln, ſo würde es eine Sünde ge⸗
gen die Wiſſenſchaft ſein, wenn ich meine roten Klei⸗
dungsſtücke ablegen wollte.“
„Aber Sie begeben ſich in Gefahr, Senor!“
— 112 —
„Der echte Jünger der Wiſſenſchaft darf, wenn es
gilt, ein Problem zu löſen, nicht fragen, ob eine Ge⸗
fahr damit verbunden iſt. Ich bleibe alſo angekleidet,
wie ich bin.“
„Ick ooch,“ ſtimmte Fritze bei. „Da ich der Diener
eines Zoologen bin, darf mir ſelbſt der größte Ochſe
nichts andres als nur ein Gegenſtand dieſer edlen Wiſ⸗
ſenſchaft fein.“
Man ging hinaus. Der Haupteingang des Corrals
war zu, doch gab es neben ihm eine kleine, ſchmale Oeff⸗
nung, wodurch ein Menſch ſchlüpfen konnte; dieſe be⸗
nutzten die drei Gäſte, um in den Corral zu kommen.
Der Majordomus blieb außerhalb.
Der Rodeo, wie man das Zuſammentreiben einer
Herde in die Corrals nennt, war im vollſten Gange. Die
Maſſe der Rinder hielt eingeſchüchtert im hintern Teil
des umzäunten Platzes; das Jungvieh aber, das gezeich⸗
net werden ſollte, jagte, von den Gauchos verfolgt, auf
dem freien Raum umher. Jedes Rind, dem die Marke
aufgebrannt werden ſollte, mußte eingefangen und ſo
gefeſſelt werden, daß es keinen Widerſtand zu leiſten ver⸗
mochte. Dazu gehörten, wie es hier auf dieſer Eſtanzia
gehandhabt wurde, fünf Gauchos. Andre waren be⸗
ſchäftigt, ein Feuer zu unterhalten, worin die Stempel
glühend gemacht wurden.
Der ganze Vorgang ging folgendermaßen vor ſich:
Das betreffende Rind wurde zunächſt von den übrigen
geſchieden. Während es dann über den Platz rannte,
jagte ihm ein Gaucho nach, um ihm den Laſſo über
den Kopf zu werfen. Die Schlinge zog ſich ſtets mit
unfehlbarer Sicherheit um den Hals zuſammen, benahm
dem Tier den Atem und riß es nieder. Sofort waren
die vier andern Gauchos bei der Hand, um ihre Schlin⸗
— 18 —
gen um die Beine zu werfen. Die Pferde, auf denen
dieſe fünf Reiter ſaßen, und an deren Sattelknöpfe die
Enden der Laſſos befeſtigt waren, kannten das, was ſie
zu tun hatten, ſehr genau; ſie zogen, jedes in der betref⸗
fenden Richtung, die Laſſos ſtraff an, wodurch die Beine
des Rindes ſcharf ausgeſtreckt wurden und in dieſem
Augenblick ſprang ein ſechſter Gaucho mit dem glühen⸗
den Stempel herbei, um ihn dem Tier auf den linken
Oberſchenkel zu drücken. War dies geſchehen, ſo ließ man
es frei; es ſprang auf, rannte, vor Schmerz und Auf⸗
regung brüllend, einige Male hin und her und kehrte
dann zur Herde zurück, um ſich in ihr zu verſtecken.
Dieſes Verfahren lief nicht immer glatt ab. Zu⸗
weilen ſaß ein Laſſo nicht an der gewünſchten Stelle
feſt; das Tier konnte ſich alſo bewegen und ſich wehren.
Dann war Hilfe oder doppelte Anſtrengung notwendig,
und das ging nicht ohne Rufen und Schreien, ohne Sze⸗
nen ab, bei denen es einem Europäer hätte angſt und
bange werden mögen. Das gequälte Rind ſträubte ſich
brüllend; die andern ſtimmten ein und ſtoben ſchnaubend
auseinander, um auf dem Platz umherzujagen, bis ſie
von den Gauchos mit hochgeſchwungenen Laſſos und Bo⸗
las wieder zuſammengetrieben waren. Da kam es vor,
daß ein widerſpenſtiger Ochſe ſich zur Wehr ſetzte und
der angegriffene Reiter ſich nur durch Aufbietung aller
ſeiner Geſchicklichkeit zu retten vermochte.
„Dat iſt allerdings großartig,“ ſagte Fritze nach
einer ſolchen Szene zu ſeinem Herrn. „Ick habe doch
auch ſchon zu Pferde jeſeſſen, aber ſonne Jelenkigkeit,
wie hier erforderlich iſt, kann ick nicht aufweiſen. Ick
bin überzogen, daß dat erſte beſte Rind mit mir über
den Haufen rennen würde, Ihnen nicht auch, Herr
Doktor?“ |
May, Das Vermächtnis des Inka 8
— 114 —
„Mit mathematiſcher Gewißheit kann ich dieſe
Frage nicht beantworten,“ meinte bedachtſam der Dok⸗
tor. „Ich habe noch keine Erfahrungen darüber, und
man ſoll, wie die Wiſſenſchaft lehrt, nur das behaup⸗
ten, was man beweiſen kann. Uebrigens liegt mir an
dem Beweiſe, daß ich umgerannt würde, bedeutend we⸗
niger als an demjenigen, daß der Wiederkäuer, den wir
mit dem Worte Rind bezeichnen, wirklich einen ſo gro⸗
ßen Widerwillen gegen die rote Farbe hat, wie vorhin
behauptet wurde. Ich hoffe, du wirſt mir behilflich ſein,
einen darauf bezüglichen Verſuch anzuſtellen.“
„Sehr jerne, wenn es nämlich ohne zerbrochene
Gliedmaßen jeſchehen kann.“
„Ohne allen Zweifel!“
„So? Denken Sie doch an den Büffel beim Stier⸗
jefechtl“
„Das war ein Bison americanus, während wir es
hier mit einfachen argentiniſchen Rindern zu tun ha⸗
ben. Ich beabſichtige, eine Probe zu machen, und zwar
eine Doppelprobe. Wir ſind beide rot gekleidet; ich
nähere mich einem Ochſen, und du bemühſt dich, an eine
Kuh zu kommen. Auf dieſe Weiſe erfahren wir nicht
nur, ob das Rind im allgemeinen die betreffende Ab⸗
neigung beſitzt, ſondern es wird zugleich auch die be⸗
ſondere und ſehr wichtige Frage beantwortet, bei wel⸗
chem Genus dieſe Abneigung bedeutender iſt, ob beim
Genus masculinum oder bei dem Genus femininum.“
„Jut, aber wenn ich nun jrad an den böſern Genus
jerate!”
„Das fteht, nicht zu erwarten, da ich den Ochſen
auf mich nehmen werde und jede Eigenſchaft, alſo vor⸗
ausſichtlich auch dieſer Widerwille, beim männlichen Ge⸗
ſchlechte ſchärfer ausgeprägt iſt als beim weiblichen, das
— 15 —
ja bekanntermaßen ſtets die ſchwächere Hälfte bildet. Al⸗
ſo biſt du bereit?“
„Ja, ick will mir Ihnen zu Jefallen für dieſe zoo⸗
logiſche Frage intereſſieren.“
„Es iſt nicht eigentlich eine allgemein zoologiſche,
ſondern eine beſonders zoopſychologiſche.“
„Dat iſt eins und dasſelbe. Ob ick zoologiſch oder
zoopſychologiſch niederjerannt werde, bleibt ſich gleich.
Beides iſt gleich unanjenehm, ſoll aber für Ihnen je⸗
wagt werden.“
„So nimm du die Kuh, die eben jetzt gebrannt
wird.“
Er zeigte auf das Tier, das eben jetzt gefeſſelt an
der Erde lag, um die Marke zu erhalten. Die beiden
Deutſchen hatten bisher an der Umzäunung und hin⸗
ter den Gauchos geſtanden, die das Feuer unterhalten
mußten, und dies war wohl der Grund, weshalb den
Tieren die rote Farbe ihrer Kleidung noch nicht auf⸗
gefallen war. Fritze folgte der Aufforderung ſeines
Herrn und ging ſchnell nach der Stelle, wo die Kuh ſo⸗
eben von ihren Feſſeln befreit wurde. Als die Gauchos
dies ſahen, riefen ſie ihm von mehreren Seiten zu:
„Arredro, arredro! Que demencia, que locura —
zurück, zurück! Welch ein Wahnſinn, welch eine Verrückt⸗
heit!“
Er ließ ſich nicht aufhalten und ging weiter. Eben
löſte ſich der letzte Laſſo und die Kuh ſprang auf und
wendete ſich zur Flucht. Da fiel ihr Auge auf den un⸗
vorſichtigen Deutſchen. Durch die rote Farbe ſeines
Anzugs gereizt, ſenkte ſie den Kopf zum Angriff; aber
die Behandlung, die ſie vor wenigen Augenblicken er⸗
fahren hatte, übte doch noch eine einſchüchternde Wir⸗
kung; das Tier ſtand einige Augenblicke mit geſenkten
— 116 —
Hörnern, warf dann den Kopf empor und rannte
davon.
„Welch ein Glück!“ ertönte es von den Lippen der
Gauchos. „Eilen Sie zurück, eilen Sie, Senor! Blei⸗
ben Sie dort am Zaun! Wiſſen Sie denn nicht, daß die
rote Farbe dieſen Tieren zuwider iſt?“
„Ich wußte es nicht genau und wollte deshalb
verſuchen, ob es wahr iſt,“ antwortete er, indem er
langſam zurückkehrte.
„Verſuchen Sie es nicht noch einmal; es könnte
Ihnen nicht wieder ſo glücken, wie das jetzt der Fall
war!“
Aus ihren Worten ſprach nicht nur die Beſorgnis
um ihn, ſondern auch der Unwille darüber, daß er es
ohne ihre Erlaubnis gewagt hatte, ſich der Kuh zu
nähern, um ſie zu reizen. Fritze trat ſiegesfroh zu Mor⸗
genſtern und ſagte: „Nun, ſind Sie mit mich zufrieden?
Die Probe iſt, denke ich, jenügend ausjefallen.“
„Allerdings,“ nickte der Doktor. „Die Kuh wollte
auf dich losgehen, beſann ſich aber eines andern. Es
iſt daraus mit Sicherheit zu ſchließen, daß ihr die rote
Farbe unangenehm war, doch nicht in einem Grade, der
fie zum wirklichen Angriff, lateiniſch Aggressio ges
heißen, veranlaßt hätte. Wir haben es alſo bei dieſem
Genus femininum mit einer Abneigung geringen Gra⸗
des zu tun, und ich werde mir nun ein Masculinum
ſuchen, um einen vergleichenden Beweis erbringen zu
können.“
Während dieſer kurzen Unterhaltung waren einige
Gauchos in die Herde eingedrungen, um wieder ein
Stück zwiſchen ihre Laſſos zu nehmen. Die Färſe, auf
die ſie es abgeſehen hatten, hielt ganz in der Nähe des
alten Bullen, der als erſter in den Corral gegangen
— 117 —
war. Er hatte ſich bisher ruhig verhalten; als aber jetzt
die Riemen ſo nahe bei ihm geſchwungen wurden, glaubte
er, es ſei auf ihn abgeſehen, brach mit Gewalt aus dem
Rebano (Herde) und galoppierte brüllend über den
freien Platz gerade auf das Feuer zu. Die dort befind⸗
lichen Gauchos warfen die Arme in die Luft und ſchrieen
ihm entgegen, um ihn dadurch zur Umkehr zu bewegen.
Er blieb aber auch wirklich kurz vor ihnen halten und
glogte ſie mit ſtieren Augen an. Einer riß einen Brand
aus dem Feuer und warf ihm dieſen an den Kopf; da
drehte ſich der Stier um, jedenfalls um zurückzukehren,
hielt aber ſchon bei halber Wendung inne und ließ ein
dorniges Brummen hören.
Die Urſache dazu hatte ihm Morgenſtern gegeben,
der ihm entgegengetreten war und jetzt kaum vier
Schritte entfernt vor ihm ſtand.
„Lugar, lugar — auf die Seite, auf die Seite!“
ſchrieen die Gauchos.
Der Bulle drang nämlich mit einem ganz urplötz⸗
lichen Sprung auf den kleinen Gelehrten ein, und es
war für dieſen ein Glück, daß er den Warnungsrufen
augenblicklich Folge leiſtete und eine ſchnelle Wendung
nach rechts machte, denn nur dadurch entging er den
Hörnern des Tieres, das an ſeiner linken Seite vorüber⸗
rennen.
„Lugar, lugar!“ riefen die Gauchos von neuem.
Dabei ſprengten die Reiter heran, um die Aufmerkſam⸗
leit des Angreifers von dem Deutſchen ab, und auf ſich
zu lenken.
Morgenſtern wich abermals glücklich aus, doch ging
die ihn bedrohende Hornſpitze nicht weiter als drei Zoll
an ihm vorüber. Erſt jetzt blitzte ihm die Einſicht auf,
— 118 —
daß er ſich in eine große Gefahr begeben habe, und die
Sorge um ſein Leben gab ihm einen ebenſo plötzlichen
wie eigenartigen Gedanken ein. Er konnte ſich nur ret⸗
ten, wenn es ihm gelang, den gefährlichen Hörnern
auszuweichen; der Ochſe hatte die Hörner vorn, und ſo
war alſo nur hinter ihm Sicherheit zu finden. Dieſer
Gedanke wurde von dem kleinen Männchen ebenſo
ſchnell ausgeführt, wie er gekommen war: Morgenſtern
ſprang hinter dem Ochſen drein. Dieſer wendete ſich
wieder um und ſah ſeinen Gegner nicht mehr ſtehen,
wo er geſtanden hatte, bemerkte ihn aber hinter ſich.
Sich abermals umdrehend, ſuchte er ihn zu erreichen;
aber der Gelehrte war behend und machte die Schwen⸗
kung mit, um hinter dem Feind zu bleiben. Dies
wiederholte ſich mehrere Male, und zwar ſo ſchnell,
daß die Gauchos ihre Bolas und Laſſos nicht anwenden
konnten, ohne den Deutſchen zu gefährden. Aber dieſe
Schnelligkeit verſchlimmerte ſeine Lage; er fühlte, daß
er derſelben nicht gewachſen ſei und bald ermüden werde.
Gab es denn gar keine Rettung, keinen Halt? Gewiß gab
es einen Halt, ganz nahe da vor ihm! Er griff mit bei⸗
den Händen zu und hielt ſich an dem Schwanz des Och⸗
ſen feſt. Solange er da hängen blieb, konnten ihn die
Hörner nicht erreichen.
Als der Stier ſich da ergriffen fühlte, wo es noch
niemand gewagt hatte, ihn in dieſer Weiſe anzupacken,
blieb er zunächſt einige Sekunden lang in verdutztem Ab⸗
warten ſtehen. Dann ſprang er mit beiden Hinterbeinen
zur Seite, um das Anhängſel abzuſchleudern, was ihm
aber nicht gelang, da Morgenſtern auf Tod und Leben
feſthielt. Hierdurch an allen ſeinen Einſichten, Kennt⸗
niſſen und Erfahrungen erſt recht irre geworden, hielt
der verblüffte Bulle es für das klügſte, die Partie voll⸗
on
— 119 —
ſtändig aufzugeben, ſelbſt wenn der Schwanz dabei ver⸗
loren gehen ſollte. Er ließ ein klägliches Brüllen hö⸗
ren und rannte ſpornſtreichs ſeiner Herde zu.
Hatten die Gauchos erſt gebrüllt, was die Lungen
nur hergaben, um das Tier von dem Gelehrten ab⸗
zuhalten, ſo lachten ſie jetzt ebenſoſehr über den Anblick,
der ſich ihnen bot. Der Stier ſchien vor Entſetzen ganz
außer ſich zu ſein; er machte die tollſten, bockbeinigſten
Sprünge, bald nach rechts und bald nach links den
Hinterkörper werfend. Man hörte ſeinem Gebrüll die
Angſt, die er empfand, ganz deutlich an. In dieſer
Weiſe hatte noch kein Gaucho einen Ochſen brüllen hö⸗
ren. Morgenſtern hielt feſt. Er konnte nicht ſo ſchnell
laufen wie fein Vordermann, verlor infolgedeſſen die
Erde unter den Füßen und wurde fortgeſchleift, bis ſeine
Kräfte nachließen und er den Schwanz losließ, was einen
Purzelbaum zur Folge hatte, wie er ihn ſo ungeheuer
wohl noch nie im Leben geſchlagen hatte.
Da erreichte das Gelächter der Gaucho eine Stärke,
daß die Angſt des Bullen noch vergrößert wurde, wie
ein Pfeil fuhr er zwiſchen ſeinesgleichen hinein und hin⸗
durch, bis er die hinterſte Ecke erreichte, wo er ſchnau⸗
bend ſtehen blieb und da jedenfalls das ſtille Gelübde
tat, niemals wieder mit einem Zoologen aus Jüterbogk
anzubinden.
Morgenſtern war ganz ohne alle Verletzung davon⸗
gekommen. Er erhob ſich vom Boden, befühlte einige
ſeiner Gliedmaßen und kehrte dann langſam dahin zu⸗
rück, wo er geſtanden hatte. Die Gauchos kamen, noch
immer lachend, herbei, um ihn zu beglückwünſchen.
Der Oberpeon aber ſagte ſehr ernſt: „Sie ſind im
höchſten Grade unvorſichtig geweſen, Señores, und ſchei⸗
nen ſelbſt jetzt noch nicht zu wiſſen, daß Sie Ihr Leben
— 120 —
auf das Spiel geſetzt haben. Wie kommen Sie beide
denn eigentlich dazu, ſich in dieſer Weiſe an die Rinder
zu wagen?“
„Infolge eines zoopſychologiſchen Problems,“ ant⸗
wortete Morgenſtern.
„Dieſe Worte verſtehe ich nicht.“
„Ich wollte erfahren, ob die rote Farbe wirklich
imſtande iſt, dieſe Familie der Wiederkäuer ſo in Zorn
zu bringen.“
„Ah! Und deshalb wagten Sie Ihr Leben? Das
konnten Sie billiger haben. Hätten Sie uns gefragt, ſo
wären wir gern bereit geweſen, Ihnen alle Auskunft
zu erteilen.“
„Sind Sie Zoolog?“
„Nein; ich bin Gaucho.“
„So hätte Ihre Ausſage mir nicht genügen bön⸗
nen. Hier gelten nur anerkannte Autoritäten.“
„Senor, wenn ich auch nicht zu den Autoritäten
zähle, ſo bin ich doch jedenfalls ein Caballero!“ meinte
der Mann beleidigt. „Glauben Sie, daß ich Sie belügen
würde?“
„Nein. Sie würden mir ſagen, was Sie für wahr
halten; eine ſolche Wahrheit kann nur von Fachmännern
feſtgeſtellt werden.“
„Ich bin kein Gelehrter und will nicht annehmen,
daß Sie mich beleidigen wollen, denn Sie ſind unſer
Saft. Sie ſind jedenfalls Fachmann, und es freut mich,
daß Sie nun auf Grund eigener Erfahrung eine Wahr⸗
heit, die wir längſt kannten, feſtſtellen können. Aber
Ihre Unvorſichtigkeit hat auch uns in Gefahr gebracht.
Sie wiſſen wohl gar nicht, was eine Eſtampeda iſt?“
„Nein.“
— 121 —
„Eine Eſtampeda iſt eine durchbrechende, durch⸗
gehende, aufgeregte, fliehende Pferde⸗ oder Rinderherde.
Infolge Ihrer Unvorſichtigkeit konnten wir alle ſehr
leicht unter die Hufe geſtampft werden. Hoffentlich ge⸗
ben Sie mir wenigſtens in dieſer Beziehung recht und
haben die Güte, dafür zu ſorgen, daß weder Sie ſelbſt
noch wir durch Ihre roten Anzüge wieder in Ver⸗
legenheit gebracht werden.“
Er wendete ſich ab, und die andern Gauchos folg⸗
ten dieſem Beiſpiele. Sie fühlten ſich beleidigt, daß ihr
Anführer nicht als „Autorität“ anerkannt worden war.
Die beiden Deutſchen verſtanden den ihnen gegebenen
Wink und entfernten ſich durch die Lücke aus dem Corral.
Draußen vor der Umzäunung meinte Fritze: „Ick muß
ſagen, daß unſer Ritt ſehr jut anfängt. Wir haben noch
nicht mal Pferde und ſind gleich am erſten Tage zwei⸗
mal herausjeſchmiſſen worden. Aber wir beſitzen jetzt
wenigſtens den Troſt, daß die wiſſenſchaftliche Wahrheit
feſtjeſtellt worden iſt: Der Puter ärjert ſich nicht alleine
über die rote Farbe.“
„Ja,“ nickte der Doktor. „Ich werde der Akademie
der Wiſſenſchaften eine Abhandlung über dieſen Gegen⸗
ſtand einſenden. Es iſt nun heutigentags unwiderleg⸗
lich bewieſen, daß die Rinder einen Widerwillen gegen
die rote Farbe haben.“ |
„Und zwar beide Jeſchlechter.“
„Allerdings, aber doch in verſchiedenem Grade. Das
Maseulinum war empfindlicher als das Femininum.“
„Aber woher denn dieſe Abneigung gejen dieſe
Farbe, welche jrade meine Lieblingsfarbe iſt?“
„Das läßt ſich jetzt nicht ſagen. Die Tatſache iſt
feftgeftellt; den Gründen muß man noch nachſpüren.
Ob es vielleicht darin liegt, daß die roten Farbenſtrah⸗
— 12 —
len im Sonnenſpektrum durch das Prisma am ſchwäch⸗
ſten gebrochen werden? Die roten Strahlen ſchwingen
in einer Sekunde nur fünfhundert Billionen mal.“
„Sollte dat dem Bullen aufjefallen ſind?“
„Wenn z. B. das Violett in der Sekunde achthundert
Billionen Schwingungen macht, ſo ergibt das einen
Unterſchied von dreihundert Billionen, der ſo groß iſt,
daß er ſelbſt auch dem Auge eines Wiederkäuers wohl
aufzufallen vermag. Doch bedarf das jedenfalls noch der
Aufklärung. Ich habe meinen nächſten Zweck erreicht
und dabei zugleich eine Entdeckung gemacht, über welche
jeder Menageriebeſitzer in Entzücken geraten W wenn
ich ſie veröffentliche.“
„So? Welche denn?“
„Wie ſelbſt das wildeſte Tier ſofort zu bändigen
iſt. Man hängt ſich einfach an deſſen Schwanz. Die
Situation iſt zwar nicht übermäßig bequem, doch wird
das einen Tierbändiger nicht hindern, meinem Rat zu
folgen.“
„Hm! Dat tft nun fo ne Sache! Ick möchte mir
z. B. nicht an den Schwanz eines Löwen oder einer
Rieſenſchlange hängen 8
Sie waren während dieſes gelehrten Geſpräches
langſam weitergegangen und hatten nicht bemerkt, daß
der Chirurg ihnen gefolgt war. Jetzt holte er ſie ein
und ſagte: „Seüores, die Gauchos ſind ſehr erzürnt auf
Sie. Ich warnte, doch Sie achteten meiner Worte nicht
und kamen in Gefahr. Leider aber ließ der Bulle ſich
ins Bockshorn jagen.“
„Leider?“ fragte Morgenſtern verwundert.
„Ja, leider! Denn wenn er nicht ſo erſchrocken
wäre, hätte ich Gelegenheit gehabt, Ihnen meine Kunſt
zu zeigen.“
— 123 —
„Wieſo?“
„Er hätte Sie entweder aufgeſpießt oder Ihnen ei⸗
nige Knochen zerbrochen. Wie glücklich hätte es mich
gemacht, Euer Gnaden beweiſen zu können, daß ich ein
Meiſter in der Behandlung jeder Art von Wunden und
Knochenbrüchen bin. Ich ziehe den längſten Splitter
heraus, ohne daß die Blutung ſich vergrößert. Ich bin
in jedem Augenblick zur ſchwierigſten Operation bereit.“
Um die Pferde, welche die Reiſenden bekommen
ſollten, zu ſehen, mußten ſie hinaus auf die Weide wan⸗
dern. Die Eſtancia gehörte, wie bereits geſagt, nicht
zu den größeren, und dennoch war es erſtaunlich, welch
eine Menge des Weideviehes es hier gab.
Das Hauptprodukt der La Plata⸗Staaten iſt das
Vieh; die Eſtanciers züchten Pferde, Rinder und Schafe.
Das europäiſche Pferd wurde 1536 durch Mendoza, das
Schaf 1550 aus Peru und das Rind 1553 von Braſilien
her eingeführt. Nur ſelten reitet man eine Stunde lang
durch das Land, ohne ganze Majados (Herden) dieſer
Tiere zu erblicken. Man rechnet, daß eine Quadrat⸗
legua 20 000 Schafe oder 300 Stück Hornvieh, welch letz⸗
teres ſich in guten Jahren um 800 Stück vermehren
kann, zu ernähren vermöge.
Den Schafen wird, der Wolle wegen, das beſſere
Weideland überlaſſen; ihnen widmet man Sorgfalt. Um
die Pferde und Rinder kümmert man ſich weniger. Sie
ſtehen unter der Aufſicht von Gauchos und Hunden, und
der Beſitzer nimmt nur dann Notiz von ihnen, wenn
ſie entweder gezeichnet oder verkauft werden ſollen. Für
eine Stute zahlt man höchſtens 16, für ein gutes Reit⸗
pferd nicht mehr als 60 Mark. Ein Stück Hornvieh,
das nach dem Saladero verkauft wird, koſtet meiſt weni⸗
ger als 50 Mark. Saladeros ſind große Schlachthäuſer,
— 124 —
wo die Rinder in Maſſen getötet werden. Das Wort
leitet ſich von dem ſpaniſchen salar, einſalzen ab. Dort
werden die Häute eingeſalzen und ungeheure Talg⸗
mengen gewonnen. Einer der berühmteſten Saladeros
iſt derjenige zu Fray Bentos, wo Liebigſcher Fleifch-
extrakt gewonnen wird. Man ſchlachtet da täglich bis
900 Stück Rinder und zerkleinert die Muskeln mit Ma⸗
ſchinen, wovon jede in der Stunde das Fleiſch von
200 Ochſen zerſchneidet. Das geſamte Fleiſch eines
Ochſen liefert nur drei Kilogramm Extrakt.
Als die drei Männer ſich überzeugt hatten, daß es
hier ganz andere Pferde gab, als im Gaſthof zu Santa 756,
kehrten ſie nach der Eſtancia zurück. Dort war man in⸗
deſſen mit dem Zeichnen der Rinder fertig geworden;
der Corral wurde geöffnet und die Tiere ſtürmten, froh,
der Gefangenſchaft entronnen zu ſein, in das Freie.
Zwei hatte man zurückgehalten, um ſie zu ſchlachten.
Die Reiſenden näherten ſich, um zuzuſehen, in welcher
Weiſe dies geſchah.
Der Anblick, der ſich ihnen bot, war ein höchſt
widerwärtiger. Die Kühe ahnten, was ihnen bevorſtand,
und brüllten vor Angſt. Sie wurden, um ihr Blut zu
erhitzen, weil nach der Meinung der Gauchos das
Fleiſch dann beſſer ſchmeckt, eine Zeitlang im Corral
umhergehetzt und dann ganz in der oben beſchriebenen
Weiſe, als ob ſie gezeichnet werden ſollten, mit Hilfe der
Laſſos niedergeriſſen. Nachdem ihnen einfach die Gur⸗
gel durchſchnitten worden war, warfen ſich die rohen
Menſchen auf die noch lebenden und vor Schmerz ſich
bäumenden und mit den Beinen um ſich arbeitenden
Tiere und ſchnitten ihnen ganze, lange Stücke rauchen⸗
den und zuckenden Fleiſches mitſamt der Haut aus den
Leibern. Das Todesröcheln, das ſich aus den offenen
a
— 125 —
Gurgeln drängte, war, verbunden mit den gierigen Zu⸗
rufen der Gauchos, für ein ziviliſiertes Ohr nicht anzu⸗
hören. Morgenſtern ging mit Fritz davon. Der Chi⸗
rurg aber blieb und zog ſein Meſſer, um ſich auch eine
Portion zu nehmen. Das unmenſchliche Schauſpiel war
ihm etwas Gewohntes.
Der Gaucho ſpießt dieſes Fleiſch an Hölzer oder
gleich an ſein Meſſer und hält es über das Feuer, um
die angebratene Seite in den Mund zu ſtecken, den Biſ⸗
ſen unter der Naſe abzuſchneiden und es dann weiter
zu braten. Aſado nennt er dieſes noch im Blute ge⸗
röſtete Fleiſch. Sitzt aber gar noch die Haut (cuero)
daran, ſo bildet der Braten ſeine allergrößte Delikateſſe
und wird Asado con cuero, Aſado mit der Haut ge⸗
nannt.
Bald brannten die Feuer, an denen die Gauchos
und andern Bedienſteten ſaßen, um ihr Lieblingsgericht
zu verzehren. Um die beiden Deutſchen kümmerten ſie
ſich nicht, ganz ſo, wie der Chirurg geſagt hatte. Die⸗
ſer aber leiſtete ihnen bei ihrem Mahle und bei ihrer
Unterhaltung Geſellſchaft, obgleich ſie ihn nicht etwa
mit großer Hochachtung behandelten. Seine Verſeſſen⸗
heit auf die Chirurgie hinderte ihn, zu bemerken, daß
ſie mehr ironiſch als ernſthaft mit ihm verkehrten.
Doktor Morgenſtern wäre ganz verlaſſen geweſen,
wenn der Majordomus es nicht für ſeine Pflicht gehal⸗
ten hätte, ſich ſeiner anzunehmen. Er widmete ihm
einige freie Viertelſtunden und ſorgte dafür, daß es nicht
an Speiſe und Trank gebrach.
Abends kam der Eſtanciero, der ſich ſofort bereit
erklärte, fünf Pferde zu dem landläufigen Preiſe zu ver⸗
kaufen. Er war erfreut, Europäer bei ſich zu finden,
von denen wenigſtens der eine ſo kurze Zeit im Lande
3 FDE: Ze
weilte, daß er über die jüngſten Ereigniſſe von drüben
zu berichten vermochte. Die Gauchos ſaßen draußen
bei ihren Feuern, aßen immer noch oder wenigſtens
ſchon wieder, denn ſo ein Menſch vermag ungeheure
Mengen Fleiſch zu verzehren, und füllten die Pauſen
mit kräftigen Scherzen, leidenſchaftlichen Erzählungen
und patriotiſchen Liedern, die ſie mit ihren Guitarren
begleiteten. Es gibt ſelten einen Gaucho, der nicht eine
Guitarre beſitzt. |
Der Eſtanciero hatte bei feiner Ankunft von ihnen
erfahren, was im Corral geſchehen war, und ſchon da
den Kopf dazu geſchüttelt, daß ein Menſch es wagen
könne, mit einem Bullen anzubinden, um ſich zu über⸗
zeugen, ob derſelbe zur roten Farbe gleichgültig ſei oder
nicht. Nun erkannte er im Laufe der Unterhaltung
mehr und mehr, daß Morgenſtern ein Original und
zugleich ein ſeelenguter Menſch ſei, der nur an ſein
beſonderes Fach denke, von dem gewöhnlichen Leben
und deſſen Anforderungen wenig oder gar nichts ver⸗
ſtehe und überall eher hinpaſſe als in die Pampas oder
gar in den Gran Chaco, wo der Reiſende während des
Tages und der Nacht von vielſeitigen Gefahren umgeben
iſt. Darum ſagte er endlich, nachdem alle ſeine teil⸗
nehmenden Fragen beantwortet waren: „Aber, liebſter
Senor, meinen Sie denn wirklich, daß Sie ihre Zwecke
erreichen, ohne in der Wildnis umzukommen? Sie ha⸗
ben keine Ahnung deſſen, was Sie im Gran Chaco und
in den Cordilleras erwartet.“
„Was das betrifft, ſo weiß ich ſehr wohl, woran
ich bin,“ antwortete der Gelehrte. „Ich habe ja das
Buch Excursion au Rio Salado et dans le Chaco, par
Ameöd&e Jacques geleſen.“
——
— 127 —
„Ich kenne dieſes Buch nicht, allein ich weiß, daß
das Leſen eines Buches einen Menſchen, ſelbſt den ge⸗
lehrteſten, noch lange nicht befähigt, die Entbehrungen
und Gefahren zu beſtehen, die Ihrer warten. Oder mei⸗
nen Sie, daß Sie ſich auf dieſen ſogenannten Don
Parmeſan verlaſſen können?“
„Warum nicht? Er iſt doch ein gelehrter Mann.“
„Ein Narr iſt er, weiter nichts!“
„Aber doch ein bedeutender Chirurg?“
„Fällt ihm nicht ein. Die Chirurgie iſt ſein fixer
Gedanke. Dieſer Senor hat noch keinem Menſchen ein
Haar oder einen Fingernagel gekürzt, obgleich er einen
Sack voll chirurgiſcher Inſtrumente im Lande herum⸗
ſchleppt.
„Alſo nur eine fixe Idee? Sollte man ſo etwas
denken!“
„Warum nicht. Es gibt viele Menſchen, welche
an einer ſolchen Monomanie leiden. Ich habe da z. B.
einen kennen gelernt, der ſich mit der fixen Idee herum⸗
trägt, nach Knochen von Tieren zu ſuchen, die vor Tau⸗
ſenden von Jahren gelebt haben. Hätte Noah geglaubt,
daß dieſe Kreaturen etwas wert ſeien, ſo hätte er ſie
ganz gewiß mit in ſeine Arche aufgenommen.“
„Senor, das iſt keine fixe Idee, ſondern der Mann
iſt jedenfalls ein ſehr kluger Kopf, ein Zoopaläontolog,
gerade wie ich!“ rief Morgenſtern begeiſtert. „Lebt der
Mann hier?“
„Jetzt, ja.“
„Wo denn, wo? Kann ich ihn vielleicht kennen
lernen?“
„Kennen lernen? Das iſt gar nicht nötig. Sie
kennen ihn längſt, denn Sie ſind es ſelbſt.“
„Ich? Ah! Oh!“ dehnte der Gelehrte, indem er
den Mund weit offen ließ. „Mich meinen Sie, mich?
So leide ich nach Ihrer Anſicht alſo an einer fixen, an
einer krankhaften Idee?“
„Allerdings. Nehmen Sie mir es nicht übel, Sen⸗
nor; aber es iſt ſo, es iſt wirklich ſo. Was können Ihnen
die vorweltlichen Eidechſen nützen?“
„Was ſie mir nützen können? O, eine einzige ſolche
Eidechſe, lateiniſch Lacerta genannt, kann mich zum be⸗
rühmten Mann machen.“
„Das verſtehe ich nicht, will es aber glauben. Doch
was hilft Ihnen eine Berühmtheit, die Sie gar nicht
erreichen können, weil Sie unterwegs umkommen wer⸗
den? Wie ich vernehme, ſind Sie zu einer Reiſe in den
Gran Chaco ja gar nicht ausgerüſtet.“
„O doch! Ich beſitze Waffen, Bücher, Hacken und
Schaufeln. Und die Pferde, die mir nötig ſind, werden
Sie mir verkaufen. Außerdem iſt Senor Parmeſan bei
mir, der den Chaco kennt.“
„Ich ſage Ihnen, daß er ihn nicht kennt, daß er
höchſtens einmal bis an deſſen Grenze gekommen iſt.“
„Aber er gehört doch zur Geſellſchaft des Vaters
Jaguar!“ |
„Das glaube ich nicht. Der Vater Jaguar braucht
keine Narren.“
„Welchen Grund hätte er denn, es zu behaupten,
wenn es nicht wahr wäre?“
„Das will ich Ihnen ſagen, Seüor. Der Menſch
ſchwärmt bei Tage und träumt des Nachts nur von ſei⸗
ner Chirurgie. Er rennt von einem Ort zum andern,
um Knochenbrüche und andere Verletzungen zu finden.
Sie haben ihm geſagt, daß ſie nach dem Gran Chaco
wollen; da iſt er denn ſofort überzeugt geweſen, daß
— 19 —
es Brüche, Stiche, Kugeln und Wunden geben wird,
und hat ſich Ihnen zur Begleitung angeboten. Der ret⸗
tet Sie nicht, wenn Sie in Gefahr kommen.“
Der Eſtanciero meinte es aufrichtig gut. Morgen⸗
ſtern blickte ſtill und nachdenklich vor ſich nieder. Da
ſagte Fritze, der bei ihnen ſaß: „Senor, machen Sie uns
nicht bange! Wir ſind Preußen, und ein Preuße kommt
überall durch. Ich bin ſchon oben in Tucuman ge⸗
weſen und denke, daß wir auch jetzt ganz gut hinauf⸗
kommen werden.“
„Ganz, wie Sie denken!“ erwiderte der Eſtan⸗
ciero. „Sie tragen nicht meine, ſondern Ihre Haut zu
Markte; es tut mir alſo nicht weh, wenn ſie Ihnen ab⸗
gezogen wird. Ich wünſche Ihnen aber alles Gute.“
Er ſtand auf und fragte, ob er ihnen ihre Lager⸗
plätze anweiſen dürfe. Man geht in jenen Gegenden in
der Regel ſehr früh ſchlafen, um zeitig aufzuſtehen. Die
beiden Gäſte wurden auf weiche Fellunterlagen gebettet
und ſchliefen bei den Klängen der draußen noch ertönen⸗
den Lieder ein.
Als ſie erwachten, ging eben die Sonne auf. Die
Gauchos waren alle ſchon munter, obgleich ſie ſich viel
ſpäter zur Ruhe niedergelegt hatten. Der Chirurg hatte
in einem ihrer kleinen Ranchos geſchlafen. Auch der
Eſtanciero war aufgeſtanden. Ueber dem Herde brodelte
in einem Keſſel der Puchero, ein Gemiſch von Koch⸗
fleiſch, Maiskolben, Mandioca, Speck, Kohl und Rü⸗
ben. Dazu gab es Mate zu trinken, von dem der Dok⸗
tor aber, um ſich nicht wieder zu verbrennen, nichts
genoß.
Nach dem Eſſen ging man nach dem Kamp zu den
Pferden. Der Eſtanciero war trotz der von Fritze er⸗
haltenen Zurechtweiſung ſo uneigennützig, vier ſeiner
May, Das Vermächtnis des Inka 9
— 130 —
beſten Pferde ſelbſt auszuſuchen und fie Morgenſtern
zum Geſamtpreiſe von zweihundert Mark nach deut⸗
ſchem Gelde zu überlaſſen. Gegen den Chirurgen war
er nicht ſo zuvorkommend; er ſchien ihm nicht hold zu
ſein. Dieſer mußte ſelbſt wählen und auch mehr be⸗
zahlen, obgleich ſeine Wahl keine für ihn günſtige zu
nennen war. Für das, was genoſſen worden war, eine
Bezahlung anzubieten, wäre eine Beleidigung geweſen.
Don Parmeſan kaufte von einem Gaucho einen alten
Sattel. Den beiden Deutſchen ließ der Wirt zwei Pack⸗
und zwei Reitſättel ab. Die letzteren waren von der⸗
jenigen Art, welche man Recado nennt und die aus
mehreren zuſammenhängenden Teilen beſtehen, um des
Nachts auseinandergeſchlagen und zur Herſtellung des
Lagers benutzt werden zu können.
Als dies geſchehen war, brachen die drei Reiſen⸗
den auf.
„La enhora buena de la vuelta — Glück auf die
Reiſe!“ rief ihnen der Eſtanciero nach. „Nehmen Sie
ſich vor den Indianern des Gran Chaco in acht, welche
mit vergifteten Pfeilen ſchießen. Die ſind weit gefähr⸗
licher als Flintenkugeln!“
Dieſe ſehr gut gemeinte Warnung war nicht un⸗
begründet. Die Indianer Südamerikas bedienen ſich
noch heut kleiner, ſpitzer Pfeile, die ſie aus langen
Blaſerohren ſchießen. Das dazu nötige Gift bereiten
ſie aus dem Saft des Strychnosbaumes und einer
Lianenart, die ſie Maracuri nennen. Zu dieſem Saft
kommen noch Pfeffer, Zwiebeln, Kockelskörner und
andre, uns unbekannte Pflanzenſtoffe. Er wird dick ein⸗
gekocht und behält ſeine verderbliche Wirkung jahre⸗
lang, obgleich er friſch am ſchnellſten wirkt. Die kleinſte
Verwundung mit einem dadurch vergifteten Pfeil führt
4
— 131 —
den unabänderlichen und ſichern Tod von Menſch und
Tier herbei, doch iſt das Curare nur dann ſchädlich,
wenn es direkt in das Blut kommt, gerade wie das
Schlangengift. Die Indianer erlegen damit alle jagd⸗
baren Tiere und verzehren ſie, ohne Schaden davon zu
haben. Der eigentlich wirkſame Stoff dieſes Giftes iſt
das Curarin, ein in der Rinde der genannten Pflanzen
enthaltenes Alkaloid, welches dadurch tötet, daß es die
Bruſtmuskeln lähmt und den Blutumlauf ins Stocken
bringt. Wie ſtark es iſt, wird dadurch bewieſen, daß
ein Jaguar, von einem ſolchen winzigen Pfeil ſo leicht
in die Haut getroffen, daß er es gar nicht fühlt, ſchon
nach zwei Minuten tot zuſammenbricht.
Fünftes Kapitel
Ein Pam paritt
Der Weg, den Doktor Morgenſtern und feine bei-
den Gefährten verfolgten, führte gerade nach Norden,
zwiſchen dem Rio Salado und dem Rio Saladillo hin,
hinter denen dichte Waldungen lagen. Nach nicht ganz
einer Stunde führte eine hölzerne Brücke über den
erſtgenannten Fluß, und dann erreichten die Reiter die
meiſt von Deutſchen bewohnte Kolonie Eſperanza. Da
ſie den Vater Jaguar einholen wollten und alſo keine
Zeit zu verlieren hatten, hielten ſie hier gar nicht an,
ſondern jagten auf der Straße nach Cordova weiter.
Jagten! Ja, ein Jagen war es allerdings zu nen⸗
nen, denn der Chirurg ritt in der hier zu Lande ge⸗
bräuchlichen Schnelligkeit voran, und die beiden andern
mußten folgen. In Argentinien legt man im Poſt⸗
wagen in der Stunde durchſchnittlich zwanzig Kilometer
zurück; ein Reiter aber macht wenigſtens fünf Kilo⸗
meter mehr. Wie lange das Pferd aushält, wird nicht
gefragt. Dem Chirurgen fiel es auch nicht ein, ſich
dieſe Frage vorzulegen. Er bedachte nicht, daß er einer
Gegend entgegenritt, wo es keine Gelegenheit gab, auf
einer Eſtancia ein abgetriebenes Pferd gegen Nach⸗
zahlung mit einem friſchen zu vertauſchen. Seine Spo⸗
ren wühlten förmlich im Fleiſche ſeines armen Tieres,
— 138 —
und wenn die Deutſchen ihn baten, doch weniger grau⸗
ſam zu ſein, lachte er gefühllos auf und trieb es nur
noch ärger. Er war übrigens ein guter und, wie es
ſchien, auch ausdauernder Reiter.
Fritze Kieſewetter ſaß auch nicht übel zu Pferde.
Er hatte hier im Lande Gelegenheit gehabt, ſich an den
Sattel zu gewöhnen. Leider aber war dies bei dem
kleinen Zoologen nicht der Fall. Zwar hatte er keine
Angſt vor dem Sattel verraten, jetzt aber zog er ein
Geſicht, als ob ſein Gaul mit ihm durch alle Wolken
fliege. Er gab ſich alle Mühe, im Gleichgewicht zu
bleiben, und das gelang ihm auch recht leidlich, doch
zeigten ſeine feſt zuſammengekniffenen Lippen, daß es
ihm nicht allzu wohl dabei ſei. Uebrigens hatte ſein
Pferd einen weichen, gleichmäßigen Gang, und da man
meiſt in Karriere ritt, wurde dieſer auf das Beſte zur
Geltung gebracht. Dennoch war der gelehrte Paläon⸗
tolog nach einem Stundenritt hinter Eſperanza ſchon
ſo ermüdet, daß er ſein Pferd anhielt und den beiden
andern zurief: „Halt! Mein Pferd kann nicht weiter.
Die Beine tun ihm weh! Es muß Ruhe haben, was
der Lateiner Tranquillitas nennt.“
„Schön!“ meinte Fritze, indem er halten blieb. „Ick
bin's ſehr zufrieden, wenn wir eine Viertelſtunde Fe⸗
rien machen. Wenn wir in fo 'ne Weiſe weiterjagen,
kommen wir bis gegen Abend drüben in China an, und
ſo weit wollen wir doch jar nicht.“
Der Chirurg aber hatte einen Einwand: „Wir
müſſen heute noch bis Fort Tio kommen, und das ſind
wohl noch hundert Kilometer. Nur in dieſem Falle
können wir die Laguna Parongos bis morgen abend
erreichen. Ich reite weiter!”
— 134 —
„In Gottes Namen!“ antwortete Morgenſtern, in⸗
dem er abſtieg und ſich ins weiche Camposgras ſetzte.
„Wenn Sie Ihr Pferd zu Tode hetzen wollen, ſo tun
Sie es. Wo nehmen Sie dann ein anderes her? Sehen
Sie nur, wie Sie es in dieſen zwei Stunden zugerichtet
haben! Es blutet an beiden Seiten. Sie ſind von einer
fürchterlichen Grauſamkeit, lateiniſch Atravitas oder
Crudelitas, auch Duritas oder Immanitas, ſogar Sae-
vitia genannt.“
„Was ich mit meinem Pferde tue, das iſt meine
Sache, denn ich bin es, der es bezahlt hat, Senor.“
„Was das betrifft, ſo werden wir Ihnen nicht
widerſprechen,“ meinte Fritze, „obgleich wir behaupten
könnten, daß der Umſtand, daß Sie es bezahlten, Ihnen
noch nicht das Recht gibt, es zu martern.“
Er ſetzte ſich neben ſeinen Herrn nieder. Der Chir⸗
urg brummte noch einige unwillige Bemerkungen in
den Bart, hielt es aber doch für beſſer, ſich zu fügen,
anſtatt weiter zu reiten. Schon nach einer halben
Stunde aber drängte er wieder zum Aufbruch, und die
beiden andern taten nach ſeinem Willen.
Der weite Campo, durch den ſie ritten, war voll⸗
ſtändig eben und nur mit Gras bewachſen. Nirgends
zeigte ſich ein Strauch oder gar ein Baum; Wälder
und Buſchwerk findet man nur da, wo es Waſſer gibt.
Als ſie eine Weile geritten waren, vernahmen ſie einen
wüſten Lärm hinter ſich. Sich nach demſelben um⸗
drehend, gewahrten ſie, daß die Diligence, der die Poſt⸗
und Paſſagierverbindung zwiſchen Santa Js und Cor⸗
dova oblag, ihnen folgte.
Eine ſolche Diligencereiſe iſt etwas ganz andres
als eine Fahrt mit einer ehrbaren deutſchen Poſtkutſche.
Der Unterſchied zwiſchen beiden iſt dem Gegenſatz zwi⸗
— 185 —
ſchen einem linden Mailüftchen und einem raſenden
Pamperoſturm zu vergleichen.
Man ſpricht oder ſprach zwar auch in den La Plata⸗
ſtaaten von Straßen; aber bei dieſem Wort darf man
nicht etwa an geebnete Wege, die von Baumreihen ein⸗
geſäumt werden, denken. Landſtraßen oder gut und
regelmäßig unterhaltene Wege gibt es dort nicht, da
das Material zu deren Bau vollſtändig mangelt. Holz
iſt ſelten, und Stein findet man gar nirgends. Ein
jeder reitet oder fährt in der Richtung, die ihn zum
Ziele bringt, ganz gleich, ob dabei einen oder einige
Kilometer weit nach rechts oder links abgewichen wird.
Das, was man Straßen nennt, beſteht aus einer
mehr oder weniger breiten Reihe von Spuren und
Gleiſen, die in beliebiger Art und Weiſe über die Pam⸗
pas führen. Bald hat man einem Bodeneinſchnitt zu
folgen, bald einen Sumpftümpel zu umgehen oder einen
jener kleinen, aber ſteilufrigen Flüſſe zu durchqueren,
die hie und da vorkommen, um ohne alle Verbindung
mit einem größeren Strom oder Fluß in der Pampa
nach und nach zu verlaufen.
Genau ſo mangelhaft wie dieſe Straßen ſind auch
die Stationen, an denen die Pferde gewechſelt werden,
meiſt armſelige Ranchos, wo der Reiſende nicht eine
Spur von Bequemlichkeit findet.
Und die Poſtwagen erſt! Dieſe Fahrzeuge ſcheinen
aus einer Zeit zu ſtammen, wo der Menſch mit dem
Höhlenbären auf du und du verkehrte. Sie ſind ſo roh
gearbeitet und von ſo unbehilflicher Form, daß ihr An⸗
blick einem ziviliſierten Reiſenden, der gezwungen iſt,
ſich ihrer zu bedienen, Grauen einflößt. Das Innere
faßt gewöhnlich acht Menſchen, während nach unſern
Begriffen nur vier Platz hätten. Und dazu müſſen dieſe
— 136 —
acht all ihr Reiſegepäck bei ſich haben. Draußen, hin⸗
ter dem Kutſcher oder Mayoral, gibt es noch zwei
Plätze. Das Verdeck wird mit Poſtſtücken und andern
Dingen ſo hoch beladen, daß man glaubt, die Diligence
könne unmöglich im Gleichgewicht bleiben und müſſe
ſchon bei den erſten Schritten der Pferde umſtürzen.
Und doch kommt es vor, daß überzählige Reiſende noch
da oben auf dieſem Turmbau Platz nehmen!
Zu dieſer Kutſche gehören acht Pferde. Vier ſind
vor den Wagen nebeneinander geſpannt, vor ihnen
zwei und vor dieſen eins, auf dem der Vorreiter ſitzt.
Auf dem achten „Rößli“ ſitzt ein Peon, der nebenher
reitet und die Aufgabe hat, die Pferde anzutreiben und
etwa herab⸗ oder herausfallende Gegenſtände auf⸗
zuleſen.
Die Geſchirre ſind im höchſten Grade dürftig. Je⸗
des Zugpferd bekommt einen Ledergurt um den Leib
geſchnallt, woran ein Laſſo befeſtigt iſt, mit dem es an
dem Wagen hängt.
Der Mayoral hat einen ſpitzen Stock, mit dem er
die hintern Pferde anſtachelt und eine lange Peitſche,
womit er die vordern Tiere erreichen kann. Auch der
Vorreiter und der Peon ſind im Beſitze von je einer
Peitſche, ſo daß alſo an Mitteln, den Pferden „gütlich“
zuzureden, kein Mangel iſt. Oft ſitzt auf einem der
beiden Mittelpferde noch ein Gaucho, der natürlich auch
mit einer Peitſche verſehen iſt.
Dieſe vier Bedienſteten der Diligence haben, mit
unſern Poſtillonen verglichen, das Ausſehen von Räu⸗
bern, denen man ſein Eigentum und Leben für keinen
Augenblick anvertrauen möchte, ſind aber brave und
ehrliche Leute, die ihr Fach verſtehen und ihren Ver⸗
— 17 —
pflichtungen in einer Weiſe nachkommen, daß einem
Hören und Sehen vergehen möchte.
Nehmen wir an, die Kutſche iſt beladen und die
Paſſagiere ſind eingeſtiegen. Sie haben ſich nach Mög⸗
lichkeit zurechtgeſetzt und ſind überzeugt, daß die Fahrt
nun beginnen werde. Sie beginnt auch, denn der
Mavyoral ſtößt ein tigerartiges Gebrüll aus und ſtößt
den hinteren Pferden die Spitze des Stocks in die offe⸗
nen Wunden, die von früher zurückgeblieben ſind, und
handhabt zu gleicher Zeit die Peitſche, als ob er die
vorderen Pferde erſchlagen wolle. Der Mittelreiter, der
Vorreiter und der Peon brüllen ebenſo und hauen mit
ihren Peitſchen auf die Tiere ein. Dieſe ſpringen an;
der ſchwerfällige Wagen tut einen Ruck nach vorn, neigt
ſich nach rechts, nach links und wird dann von den
gepeitſchten Pferden vorwärts geriſſen. Die Paſſagiere
ſtoßen bei dem gewaltigen Ruck die Köpfe zuſammen
und verlieren ihre Hüte; ihr Gepäck rollt ihnen auf den
Schoß oder zwiſchen die Beine; ſie ſtrecken die Arme
aus, um ſich gegenfeitig aneinander feſtzuhalten; der eine
erfaßt den andern beim Bart und dieſer ihn an der
Uhrkette.
„Was wollen Sie mit meinem Bart, Seßñor?“
fragt dieſer.
„Und was haben Sie mit meiner nee fragt
jener.
„Es geſchah ohne Abſicht. Entſchuldigen Euer
Gnaden!“
„Bitte ebenſo um Verzeihung, Senor. Ich hatte
wirklich keine Abſicht auf Ihren Bart.”
Die Diligence fliegt aus der Station hinaus. Da .
tut es hinten einen Krach.
— 18 —
„Anhalten, anhalten!“ ſchreit der Peon. „Bei San
Jago, Mayoral, wir müſſen halten!“
Dieſer zügelt die Pferde und brüllt: „Was geht
mich dein San Jago an! Ich habe zu fahren, nicht
aber zu beten. Was ſtörſt du mich?“
„Es iſt eine Kiſte heruntergefallen. Da hinten
liegt ſie.“ |
„So hole fie, und wirf fie wieder hinauf!”
„Sie ſcheint zerbrochen zu ſein.“
„Kann ich dafür? Warum nimmt man kein ſtär⸗
keres Holz zu dieſen Kiſten. Was iſt denn drin?“
„Werde nachſehen.“
Er ſteigt ab und bringt die Kiſte herbei. Der Dek⸗
kel iſt losgeſprungen. Auf ihm iſt die Adreſſe eines
Profeſſors an der Univerſität von Cordova zu leſen.
Die Kiſte enthält Flaſchen, wovon einige zerbrochen ſind.
Eine rote Flüſſigkeit tropft heraus und duftet angenehm
in die Naſe des Peons.
„Bei meiner Seligkeit, es iſt Rotwein!“ ruft er
aus. „Vier Flaſchen ſind zerbrochen, glücklicherweiſe
nur oben an den Hälſen.“
„Nimm ſie heraus! Jedem von uns eine. Man
wird dieſes Labſal doch nicht zur Erde laufen laſſen!“
Dieſe Flaſchenreſte werden ausgetrunken, worauf
man die Kiſte mit einem Riemen zuſchnürt und oben auf
dem Verdeck anbindet. Dann geht die Fahrt weiter,
wobei die Paſſagiere wieder aneinander geraten.
„Entſchuldigen Euer Gnaden! Das iſt mein Bein!“
ruft einer.
„O Verzeihung, Senor! Ich hielt es für das mei⸗
nige, das ich zwiſchen dieſen Paketen hervorziehen
wollte. Wo haben Sie ihren Hut?“
— 19 —
„Auf Ihrem Kopfe. Euer Gnaden haben ihn ſo⸗
eben aufgeſetzt. Der Ihrige iſt aus dem Fenſter ge⸗
fallen.“
„Himmel! Zum Fenſter hinaus? So iſt er ver⸗
loren. Woher bekomme ich einen andern! Schreckliche
Geſchichte, ſo eine Fahrt mit der Diligence!“
Glücklicherweiſe iſt der Hut nicht verloren. Der
Peon hat ihn fliegen ſehen, iſt umgekehrt, hat ihn, ohne
abzuſteigen, aufgehoben und bringt ihn jetzt zurück. In⸗
dem er ihn zum offenen Fenſter hereinwirft, ruft er:
„Hüte feſthalten oder anbinden, Seüores! Wir haben
keine Zeit, auf Ihre Hüte Rückſicht zu nehmen.“
Dann reitet er wieder vor, um die Zugpferde mit
Gebrüll und Peitſchenhieben anzutreiben. Gelangt man
zufälligerweiſe an einen ausgetrockneten Bach oder klei⸗
nen Fluß, ſo geht es in Karriere hüben hinab, hindurch
und drüben wieder hinauf. Der Peon aber ſpringt vom
Pferde, um im Bette des Fluſſes nach Rollkieſeln, den
einzigen Steinen, die es in den Pampas gibt, zu ſuchen.
Er füllt ſeine Taſchen damit und ſprengt der Diligence
nach, um, wenn die Hiebe nicht genug fruchten, die
Pferde dadurch anzutreiben, daß er ſie mit Kieſeln bom⸗
bardiert.
Dieſer Peon it ein Meiſter im Reiten, wird aber
von dem Vorreiter womöglich noch übertroffen. Dem
letzteren liegt es ob, die Richtung anzugeben. Er hat
das Gelände zu überſchauen, um mit ſicherem Blick die
zu vermeidenden Stellen zu entdecken. Dazu gehört,
da man ſtets in Karriere fährt, eine große Uebung.
Oft muß er, um eine gefährliche Stelle zu umgehen,
eine ganz plötzliche Wendung machen. Dann ſchreit er
wie verrückt; der Mayoral brüllt und haut und ſticht
auf die Pferde ein, und der Mittelreiter und der neben⸗
— 140 —
her jagende Peon heulen ebenſo laut. Die Paſſagiere,
denen himmelangſt wird, laſſen ihre Stimmen eben⸗
falls hören. Das Gefährt wird in die betreffende Rich⸗
tung geriſſen, um dann gleich wieder auf die andere
Seite gezerrt zu werden, was ſich beſonders dadurch ſo
gefährlich ausnimmt, daß der Vorreiter jede Abweichung
von der geraden Linie übertreiben muß. Will er, daß
der Wagen in einem Winkel von zehn Grad abweiche,
ſo reitet er ſelbſt in einem Winkel von dreißig Grad
nach der betreffenden Seite. Kommt dann eine ebenſo
große und ebenſo raſche Biegung nach der andern Seite
vor, ſo hat er ſein Pferd auf einer Strecke von nur we⸗
nigen Metern in einem Winkel von ſechzig Grad hin
und her geriſſen, wobei dem angſtvoll zuſchauenden
Fahrgaſt ſich die Haare auf dem Kopfe ſträuben möchten.
Man legt auf dieſe Weiſe wohl fünfundzwanzig
Kilometer in der Stunde zurück, doch nur mit friſchen
Pferden, die durch das unſinnige Jagen bald ſo ermat⸗
ten, daß dieſes Ergebnis nach und nach ein geringeres
wird.
Nähert man ſich einer Station, wo Pferdewechſel
ſtattfindet, ſo jagt der Peon voraus, um die Leute dort
zu benachrichtigen. Die Diligencegejellihaften haben
nämlich mit denjenigen Eſtancieros, Hacienderos und
Rancheros, deren Beſitzungen in der Nähe des Weges
liegen, Verträge abgeſchloſſen. Sobald der Peon
kommt, werden die Pferde in den Corral getrieben,
um da gefangen zu werden. Man hält ſie feſt und legt
ihnen den Gurt an. Die Tiere wiſſen, welche An⸗
ſtrengungen und Mißhandlungen ihnen bevorſtehen, und
wehren ſich aus Leibeskräften. Das führt dann wieder
zu Szenen, von denen der gebildete Mann ſich mit Un⸗
willen abwendet. Die gebrauchten Pferde werden frei
— 141 —
gelaſſen und rennen, vor Freude wiehernd, davon; die
friſchen werden, indem ſie ſich bäumen und ſchnaubend
um ſich ſchlagen, an den Wagen gehängt und dann geht
die tolle Fahrt von neuem an.
In den Jahreszeiten des fetten Graswuchſes ſind
die Pferde beſſer genährt und vermögen ſolche Anſtren⸗
gungen leidlich auszuhalten. Iſt aber die Weide man⸗
gelhaft, oder liegen die Pampas gar dürr, ſo ſind die
armen Tiere ausgehungert und vermögen den ſchweren
Wagen kaum zu ſchleppen. Sollen ſie dann noch in
raſender Karriere laufen, ſo können ſie es nicht aus⸗
halten und brechen ſchließlich mitten im Rennen zuſam⸗
men. Das tut aber nichts. Man hat Erſatzpferde mit⸗
genommen. Man ſchnallt den Gurt einem von dieſen
um und läßt das geſtürzte Pferd einfach liegen. Es
lebt noch, iſt aber ſo abgehetzt und ermattet, daß es nicht
aufſtehen kann. Seine Flanken ſchlagen; ſeine Glieder
zucken krampfhaft; feine Augen find mit Blut unter-
laufen, und die Zunge hängt ihm weit aus dem geöff⸗
neten Maul. Die Geier, die in Menge auf den Pam⸗
pas hauſen, und denen niemand etwas tut, weil ſie die
Geſundheitspolizei bilden, nähern ſich und reißen dem
armen Tier das Fleiſch fetzenweiſe vom Leibe. Nach
wenigen Stunden iſt von dem Pferd nur das vollſtän⸗
dig fleiſchloſe Gerippe noch vorhanden. Daher kommt
es, daß man faſt bei jedem Schritt gebleichten Knochen
begegnet. Das Leben eines Pferdes hat eben für den
Gaucho keinen Wert. Und wollte man ihn auf die mo⸗
raliſche Seite dieſer Behandlung eines Geſchöpfes Got⸗
tes aufmerkſam machen, ſo würde er erſtaunt auflachen,
weil er nicht das mindeſte Verſtändnis dafür beſitzt.
Eine ſolche Diligence kam jetzt hinter den drei Rei⸗
tern her. Sie fuhr ſchneller, als dieſe ritten, und hatte
— 12 —
ſie alſo ſehr bald eingeholt. Im Vorüberjagen rief
der Peon fragend: „Wohin, Seüores!” |
„Nach Fort Tio, Euer Gnaden,“ antwortete der
Chirurg.
„Wir kommen dort vorüber. Soll ich für Euer
Gnaden Quartier beſtellen?“
„Ja, ich bitte Sie darum, Senor!“
Die wilde Jagd ging weiter und war ſehr bald
am Horizont verſchwunden. N
„Iſt ſo etwas erhört?“ meinte Fritze kopfſchüttelnd.
„Bei uns zu Hauſe würde dieſen Leuten bald dat Hand⸗
werk jelegt werden. Und hier ſoll man ſie noch mit
Euer Gnaden titulieren! Wat ſagen Sie zu ſo 'ne Tier⸗
quälerei, Herr Doktor?“
„Gar nichts, als daß man dieſe Menſchen einmal
ſo behandeln ſollte, wie ſie ihre Pferde behandeln.
Dann würden ſie vielleicht zur Einſicht kommen, was
der Lateiner Intelligentia oder auch Perspicientia
nennt.“ g
Morgenſtern hatte die Ruhepauſe eigentlich ſeinet⸗
wegen, weniger ſeines Pferdes wegen gehalten. Die⸗
ſes war noch gar nicht ermüdet geweſen, und ſo ging
es jetzt im fröhlichen Galopp weiter. Er freilich machte
kein ſehr fröhliches Geſicht dazu, denn das Reiten ſtrengte
ihn an. Er gab ſich alle Mühe, dies nicht merken zu
laſſen, doch mußte am Nachmittag noch ein längerer
Halt gemacht werden, und ſo war es beinahe Abend
geworden, als ſie das Fort vor ſich liegen ſahen. Es
war ihnen leicht geweſen, den Weg zu finden. Denn
das Gleis der Diligence war ein zuverläſſiger Führer.
Unter einem Fort an der argentiniſchen Indianer⸗
grenze darf man ſich nicht das denken, was man hier
bei uns unter einem Fort verfteht. Fort Tio beſtand aus
— 18 —
einer von dichten, ſtacheligen Kaktushecken eingefriedigten
Fläche, die von einem Graben umgeben war. Auf die⸗
ſer Fläche ſtanden einige Ranchos, in denen jetzt wohl
zwanzig Soldaten lagen, deren Kommandeur ein Leut⸗
nant war. Der Eingang ſtand weit offen. Als die drei
Männer hineinritten, kam ihnen dieſer Leutnant ent⸗
gegen.
„Willkommen!“ rief er ihnen zu. „Wir freuen uns,
Senores, fie bei uns zu — — —“
Er hielt inne. Sein Auge war auf den Chirurgen
gefallen. Da lachte er fröhlich auf und fuhr fort: „El
Carnicierol Ah, ſehen wir uns einmal wieder! Welche
Operationen haben Sie ausgeführt, ſeit wir uns in
Roſario zum letzenmal ſahen?“
Dies war einigermaßen ſpöttiſch geſprochen. „Don“
Parmeſan fühlte ſich beleidigt und antwortete ſpitz:
„Ich liebe es, daß ſich für meine Operationen nur die⸗
jenigen Leute intereſſieren, die ich operiert habe, oder
operieren ſoll. Soll ich Ihnen oder einem Ihrer Unter⸗
gebenen ein Bein oder einen Arm abnehmen?“
„Nein, Senor, wir find glücklicherweiſe alle ſehr
geſund und wohl.“
„So laſſen Sie uns nicht von ſolchen Sachen
ſprechen, obgleich ich Sie wohl fragen könnte, was Sie
z. B. zu einer Entfernung der untern Kinnlade ſagen.
Würde der Patient auch ohne dieſe leben können?“
„Das vermag ich nicht zu ſagen. Ich weiß nur,
daß ich ohne die meinige nicht leben möchte. Was für
Senores darf ich neben Ihnen begrüßen?“
„Zwei deutſche Gelehrte, von denen der eine der
Diener des andern iſt. Ihre Namen mögen ſie ſelbſt
ſagen; meine Zunge iſt nicht imſtande, ſie auszu⸗
ſprechen.“
ei 14
Morgenſtern nannte feinen und Fritzens Namen
und wurde mit dieſem nach dem Rancho geführt, den
der Leutnant bewohnte. Parmeſan geſellte ſich zu den
Soldaten. Der letztere hatte ſchon einige Male nach
ihnen ausgeſchaut, da der Peon ſein Verſprechen wirk⸗
lich gehalten und ſie angemeldet hatte.
Die Soldaten beſaßen Pferde und Rinder, die ſie
am Tage im Freien weiden ließen und abends in das
Innere des Forts trieben. Die Rinder gehörten mit
zur Verproviantierung des Ortes. Fleiſch gab es alſo
genug. Es wurde den Gäſten ſo viel vorgelegt, daß
ſie es gar nicht zu bewältigen vermochten.
Im Laufe der Unterhaltung bemerkte der Offizier
gar bald, wes Geiſtes Kinder er vor ſich hatte. Ein
Menſch, der in die Pampas oder gar in den Gran Chaco
ritt, um Knochen auszugraben, mußte ſeiner Anſicht
nach wenn nicht ganz, ſo doch wenigſtens halb wahn⸗
ſinnig ſein. Er ſah ein, daß gegen dieſe Idee nichts zu
machen ſei; ſo gab er es auf, davon abzuraten und
fuhr fort: „Sie verweilen jedenfalls einige Zeit hier,
um Gefährten oder Diener zu erwarten, die noch zu
Ihnen ſtoßen werden, Senor?“
„Nein. Ich habe nur einen Gefährten, das iſt
Senor Parmeſan, und auch nur einen Diener; das iſt
Fritze Kieſewetter.“
„Wie?“ meinte der Offizier verwundert. „So
kommt niemand, der Ihnen diejenigen Gegenſtände
nachbringt, die im Gran Chaco unentbehrlich ſind?“
„Niemand. Was ich brauche, das habe ich bereits.“
„Sie irren, Seüor. Wovon wollen Sie dann le⸗
ben? Haben Sie Mehl?“
„Nein.“
„Dürrfleiſch, Fett und Speck?“
— 145. —
„Nein.“ |
„Kaffee und Tee? Kakao und Tabak?“
„Nein.“
„Pulver, Zündhölzer und alle diejenigen Kleinig⸗
keiten, die ein gebildeter Menſch nicht entbehren kann?
Kleider, Schuhzeug, Scheren und andres Handwerks⸗
zeug?“
„Meine Kleider habe ich an. Pulver habe ich einen
ganzen Lederbeutel voll.“
„Das iſt nicht genug. Und das andre alles fehlt
Ihnen auch. Was wollen Sie trinken und eſſen? Ha⸗
ben Sie Geſchirr zum Kochen?“
„Das brauche ich nicht, da ich nicht kochen werde.
Trinken werde ich Waſſer, und eſſen werde ich Fleiſch.“
„Aber das finden Sie nicht überall.“
„O doch. Waſſer gibt's an allen Orten, und Fleiſch
werde ich mir ſchießen.“
„Sind Sie ein guter Schütze?“
„Fritze ſchießt ausgezeichnet.“
„So will ich Ihnen ſagen, daß es Waſſer nicht
überall gibt. Jenſeits des Rio Salado kommen Sie in
Montes impenetrabiles sin agua, in die undurchdring⸗
lichen und waſſerloſen Waldungen. Da können Sie
wochenlang dürſten, ohne einen Schluck Waſſer zu fin⸗
den. Und Fleiſch? Wenn Sie kein guter Jäger ſind,
müſſen Sie verhungern.“
„Schwerlich! Ich habe geleſen, daß Hunderte von
Trappern und Fallenſtellern in Nordamerika von dem
Fleiſch wilder Tiere leben. Hunger, was der Lateiner
Fames nennt, werden wir nicht leiden.“
„Südamerika iſt nicht Nordamerika. Dann die
Indianer!“
May, Das Vermächtnis des Inka 10
— 146 —
„Die werden mir nichts tun, weil ich ihnen nichts
tue.“
„Sie irren. Wir müſſen ihnen zu beſtimmten Zei⸗
ten einen Tribut — wir nennen es freilich Geſchenk —
an Pferden, Rindern und Schafen geben, damit ſie unſre
Herden nicht lichten und uns unſre Tiere nicht ftehlen.
Dennoch kommen ſie häufig über die Grenze und trei⸗
ben uns das Vieh zu Hunderten von Stücken weg. Da⸗
bei nehmen ſie auch Menſchen gefangen und ſchaffen ſie
nach dem Chaco, um ſie nur gegen Geld freizugeben.
Sie kommen dann ganz offen in unſre Städte und zu
unſern Behörden, um das Löſegeld zu fordern.“
„So gebt es ihnen nicht, ſondern beſtraft fie!”
„Das geht nicht, Senor. Würden wir einen ſolchen
Boten züchtigen, ſo wären die weißen Gefangenen, um
die es ſich handelt, verloren. Wie nun, wenn Sie auch
von ihnen feſtgenommen werden?“
„Mich bekommen ſie nicht. Ich bin außerordentlich
ſchlau und vorſichtig, was der Lateiner astutus und
catus oder prudens nennt.“
„Mag ſein. Ich will das nicht unterſuchen. Aber
Ihre Kleidung! Wie lange wird ſie bleiben, wie ſie
iſt? In der Wildnis geht ſie bald in Stücke.“
„Ich nehme ſie in acht.“
„Und die Stiefel. Sie haben ja Gauchoſtiefel ohne
Sohlen an. Meinen Sie, daß Ihre Füße über die
Dornen und Stacheln des Gran Chaco kommen
werden?“ N
„Ich reite ja!“
„Ihr Pferd kann krepieren!“
„So haben wir Erſatzpferde. O, ich habe an
alles gedacht. Uebrigens ſind wir nicht ganz allein
auf uns angewieſen. Wir werden Freunde finden.“
— 147 —
„Wer iſt das?“
„Die Truppe des Vater Jaguar.“
„Ah! Kennen Sie dieſen?“
„Ja. Wir haben ihn in Buenos Aires ge⸗
troffen. Er iſt uns vorangeritten, und wir werden
ihn einholen.“
„Er war hier; er wollte nach der Laguna Po⸗
rongos, um dort zwei Tage zu bleiben.“
„Dann treffen wir ihn gewiß, denn wenn wir
morgen zeitig aufbrechen, kommen wir gegen Abend
bei der Laguna an.“
„Weiß er denn, daß Sie vorweltliche Tiere aus⸗
graben wollen?“ a
„Ja. Er hat mir verſichert, daß im Chaco welche
zu finden ſind.“
„Und hat Sie aufgefordert, dorthin ihm nachzu⸗
kommen?“ fragte der Offizier ungläubig.
„Das nicht. Ich bat ihn, mich mitzunehmen; er
aber verweigerte es mir.“
„Das konnte ich mir denken. Er hat andres zu
tun, als mit Ihnen nach alten Knochen zu ſuchen.
Und ſo ſind Sie ihm alſo heimlich gefolgt, ohne daß er
es weißꝰ“ ö
„Ja, heimlich, was der Lateiner clandestinus,
auch furtinus und latito nennt.“
„Ich befürchte, Sie ſind des Lateiniſchen ſicherer,
als einer freundlichen Aufnahme von ſeiten dieſes be⸗
rühmten Mannes. Kehren Sie um! Graben Sie auf
der Pampa nach alten Reſten! Das iſt nicht ſo ge⸗
fährlich wie eine Reiſe durch den Chaco, wo hinter
jedem Baum ein Jaguar oder Indianer lauern kann!“
„Daß ich mich vor den Indianern nicht fürchte, habe
ich Ihnen bereits geſagt, und ſollte mir ein Jaguar
— 18 —
begegnen, ſo habe ich ein probates Mittel entdeckt,
jedes wilde Tier, alſo auch jeden Jaguar, ſofort in die
Flucht zu ſchlagen.“
„Ein ſolches Mittel möchte ich kennen lernen!“
„Nun, es iſt zwar noch Geheimnis, aber da Sie
uns ſo freundlich aufgenommen haben, will ich es
Ihnen mitteilen. Werden Sie von einem wilden Tier
angefallen, ſo hängen Sie ſich an deſſen Schwanz, bei
den Lateinern Cauda genannt. Selbſt die blutdür⸗
ſtigſte Beſtie wird auf der Stelle die Flucht ergreifen.“
Der Leutnant öffnete den Mund, brachte aber
keine Silbe hervor, ſondern ſah dem Sprecher wortlos
in das Geſicht.
„Sie ſtaunen?“ fragte dieſer lächelnd. „Nicht
wahr, das hatten Sie nicht erwartet?“
„Nein, wahrhaftig nicht!“ antwortete der Offi⸗
zier, indem er in ein lautes Gelächter ausbrach.
„Lachen Sie nicht, es iſt wahr.“
„Einen Jaguar beim Schwanz faſſen! Welch ein
Gedanke!“
„Ein ſehr pfiffiger, ein ſehr ſchlauer Gedanke!
Und doch ſo einfach, daß man an das Ei des Ko⸗
lumbus erinnert wird. Wenn ich ein Tier hinten habe,
kann es mich doch nicht vorn beißen.“
„Aber der Jaguar wird ſich blitzſchnell herum⸗
drehen und Sie zerfleiſchen!“
„Fällt ihm ganz und gar nicht ein. Er wird vor
Angſt brüllen und ſchleunigſt ausreißen. Ich bin
meiner Sache ſicher und weiß, daß ſo eine Beſtie viel
ungefährlicher iſt als mancher Menſch, zum Beiſpiel
dieſer Hauptmann in Santa %6, der uns einſperren
oder unters Militär ſtecken laſſen wollte.“
— 149 —
Der Leutnant horchte auf und fragte: „Ein Ka⸗
pitän in Santa F6? Wann war das?“
„Geſtern.“
„Zu dieſer Zeit gibt es dort nur einen Kapitän,
nämlich den Kapitän Pellejo. Der hat Sie einſperren
laſſen wollen?“
„Allerdings.“
„Weshalb?“
„Eines Mißverſtändniſſes wegen, woran wir nicht
die mindeſte Schuld gehabt haben. Soll ich es Ihnen
vielleicht erzählen?“ N
„Ich bitte Sie ſehr darum!“ antwortete der Ge⸗
fragte, indem ſein Geſicht den Ausdruck großer Span⸗
nung annahm.
Der unvorſichtige Gelehrte erzählte das unange⸗
nehme Abenteuer. Im Laufe ſeines Berichtes nahm
das Geſicht des Offiziers einen immer ernſteren Aus»
druck an, und zuletzt ſagte er in einem viel weniger
freundlichen Ton als bisher: „Das tut mir leid,
Senor. Kapitän Pellejo iſt mein nächſter Vorge⸗
ſetzter, und ich muß Ihnen ſagen, daß er ſich heut in
Fort Uchales befindet und morgen hierher kommen
wird. Glücklicherweiſe werden Sie uns bei ſeinem
Eintreffen ſchon verlaſſen haben. Hüten Sie ſich, ihm
zu begegnen!“
„Haben Sie keine Sorge um mich! Ich fürchte
ihn nicht.“
„Ob Sie Veranlaſſung haben, ihn zu ſcheuen oder
nicht, muß mir gleichgültig ſein. Ich bin ihm als ſein
Untergebener für alles, was ich tue, verantwortlich,
und wenn er erfährt, daß ich Sie hier aufgenommen
habe, wird mich ſein Zorn treffen. Sie ſollten hier
— 150 —
bei mir übernachten; nun aber bin ich gezwungen,
Ihnen einen andern Rancho anzuweiſen.“
Er ſtand auf und ging hinaus. Nach kurzer Zeit
kam an ſeiner Stelle der Chirurg und meldete, daß er
den Seüores ihre Schlafplätze zu zeigen habe.
„Kommt der Leutnant denn nicht wieder?“ fragte
Morgenſtern. ö
„Nicht eher wohl, als bis Sie ſich entfernt haben,
Senor. Er war plötzlich ganz anders geworden und
ſchien zornig auf Sie zu ſein. Haben Sie ſich mit
ihm gezankt?“
„Nein; aber meine Erzählung, Commemoratio
oder Oratio genannt, ſchien ihm nicht zu gefallen.
Legen wir uns ſchlafen, um morgen mit dem Früheſten
aufzubrechen!“
Der Chirurg führte ſie nach einem andern Rancho,
den der Bewohner verlaſſen hatte, um ihnen Platz zu
machen. Kein Menſch kümmerte ſich um ſie. Ein
Talglicht in einen kleinen Kürbis geſteckt, erleuchtete
die aus aufeinander gelegten Raſenſtücken gebildete
Hütte. Dürres Gras war das Lager, doch ſchliefen die
drei während der ganzen Nacht ſo gut, als ob ſie auf
Daunen lägen. Beim Morgengrauen waren ſie ſchon
wach. Die Soldaten ſchliefen noch. Sie fingen ihre
Pferde ein, ſattelten ſie, öffneten den während der
Nacht verſchloſſen geweſenen Eingang und ritten davon,
ohne Abſchied zu nehmen.
Fritze kannte die Richtung genau, in welcher die
Laguna Porongos von Fort Tio liegt, und der Chirurg
war auch ſchon dort geweſen. Darum ſtand nicht zu
befürchten, daß man ſich verirren werde.
Das Reiten kam dem kleinen Gelehrten heute viel
leichter vor als geſtern. Er hielt es aus bis Mittag;
==» jbL we
dann aber mußte man ausruhen, nicht nur der Men⸗
ſchen, ſondern auch der Pferde wegen, die man graſen
ließ. Waſſer gab es nicht; aber das Gras war ſo friſch
und grün, daß die Pferde nicht zu trinken brauchten.
Nun hatten die Herren Hunger bekommen, und es
ſtellte ſich heraus, daß die Warnungen des Leutnants
geſtern abend doch nicht aus der Luft gegriffen waren.
Man hatte während des ganzen Vormittags außer
einigen Geiern kein Tier, am allerwenigſten aber ein
jagd⸗ und eßbares geſehen. Glücklicherweiſe beſaß der
Chirurg ein großes Stück Fleiſch, das er geſtern kluger⸗
weiſe von einem Soldaten eingehandelt hatte. Er war
ſo rückſichtsvoll, es in drei gleichgroße Teile zu zer⸗
ſchneiden und zwei davon ſeinen Reiſegenoſſen abzu⸗
laſſen, allerdings nur gegen bare Bezahlung, ein Um⸗
ſtand, der ihnen ſagte, was für einen Kameraden ſie
an ihm haben würden.
Man brannte von vertrocknetem Graſe ein Feuer⸗
chen an, um das Fleiſch zu braten. Es reichte gerade
aus, um die Männer zu ſättigen. Nachdem man dann
wieder aufgebrochen war, hielt man die Augen offen,
ob ſich nicht ein Wild ſehen laſſe. Fritze und der Chir⸗
urg hielten ihre Gewehre ſchußbereit. Die Sorge um
die Nahrung hatte begonnen, und man wollte ſich
heute doch nicht hungrig ſchlafen legen.
Der Nachmittag verging, und es wollte Abend
werden, ohne daß man eine Jagdbeute erlangt hatte.
Der Hunger ſtellte ſich wieder ein. Da rief plötzlich der
Chirurg erfreut aus: „Ich hab's, ich hab's geſehen!
Wir werden zu eſſen bekommen.“
„Was denn? Was haben Sie geſehen?“ fragte
der Gelehrte.
— 12 —
„Ein Vizceacha, ein Pampaskaninchen. Wir gra⸗
ben es aus.“
„Wo?“
„Da drüben links. Es kam aus ſeinem Bau, ver⸗
ſchwand aber ſogleich wieder, als es uns erblickte.“
Das Vizceacha iſt größer als unſer wildes Kanin⸗
chen; es iſt ihm zwar ähnlich, weshalb es eben Pam⸗
paskaninchen genannt wird, gehört aber nicht zu den
Haſen, ſondern zu den Wollmäuſen. Man ißt es nur
in dem Falle, daß man hungert und nichts andres hat.
Der Bau dieſes Tieres iſt ein flachgewölbter, in der
Mitte geöffneter Hügel, der ſich ſtets nur in lehmiger
Gegend befindet. Es wohnen meiſt mehrere Familien
bei einander, weshalb der Bau außer dem Hauptein⸗
gang noch mehrere Schlupflöcher hat.
So war es auch hier. Es gab vier Löcher, die
ſorgfältig verſtopft wurden. Während die Pferde ſich
im Graſe gütlich taten, gruben Morgenſtern und der
Chirurg den Hügel auf, und Fritze ſtand mit ange⸗
legtem Gewehr bereit, ſofort zu ſchießen, falls eines der
Vizeachas ſich durch ein verſchloſſenes Loch die Flucht
erzwingen wollte. Das war grundfalſch. Ein erfah⸗
rener Jäger hätte es ganz anders angefangen. Den⸗
noch aber hatte es Erfolg. Kaum waren fünf Minuten
vergangen und die Spaten einige Fuß tief in den Bo⸗
den eingedrungen, ſo ſchoß Fritze zweimal hinterein⸗
ander und ſtieß dann einen Freudenruf aus. Die
beiden andern blickten von der Arbeit auf und ſahen,
daß er zwei Vizceachas erſchoſſen hatte. Das war
genug. Die Spaten wurden den Packpferden wieder
aufgeladen, die Kaninchen, welche ſehr groß und fett
waren, dazu, und dann ritt man weiter.
— 18 —
Bald wurde das Gras faftiger und der Boden
weicher als bisher. Im Norden zeigten ſich einzelne
Bäume, ein ſicheres Zeichen, daß man ſich an der La⸗
gung Porongos befand. Dieſer Name bedeutet ſoviel
wie See oder Sumpf der wilden Zitronenbäume, und
ſolche Bäume waren es, die man jetzt vor ſich hatte.
Die Sonne ſtieg eben hinter dem Horizont hinab,
als die drei Reiter das Waſſer der Laguna vor ſich
glänzen ſahen.
Sie waren zuletzt einer Fährte von ſo zahlreichen
Reitern gefolgt, daß ſie annehmen mußten, die Spur
der Truppe des Vater Jaguar vor ſich zu haben.
Gern wären ſie weiter geritten; aber es wurde ſchnell
dunkel, und ſo hielten ſie es für geraten, anzuhalten und
Lager zu machen.
Sie ſtiegen alſo ab und entſattelten ihre Pferde.
Sie banden ihnen mit den Laſſos die Vorderbeine in
der Weiſe zuſammen, daß die Tiere zwar weiden, aber
nur kleine Schritte machen konnten, um ſich nicht weit
zu entfernen. Die Pampaspferde leben in Herden und
bleiben ſtets beiſammen; daher ſtand nicht zu befürchten,
daß man ſie früh nach verſchiedenen Richtungen zu
ſuchen habe.
Dann wurde dürres Holz zum Feuer geſammelt.
Die wilden Zitronenbäume lieferten genug davon.
Als die Flamme luſtig flackerte, wurden die beiden
Vizcachas abgezogen und ausgeſchlachtet. Sie gaben
genug Fleiſch für heute abend und für morgen früh.
Waſſer war freilich nicht vorhanden, da das ſalzhaltige
der Laguna nicht zu genießen war.
Nach dem Eſſen wickelten die drei ſich in ihre
Ponchos und legten ſich am Feuer zum Schlafen nieder.
Man hatte heute wieder über hundert Kilometer zurück⸗
— 154 —
gelegt, und war alſo ſo ermüdet, daß trotz der ſcharfen
Luft, die während der Nacht wehte, keiner erwachte.
Am Morgen fand es ſich, daß die Pferde ganz in
der Nähe geblieben waren. Der Reſt des Fleiſches
wurde gebraten und verzehrt; dann brach man
wieder auf.
Die Reiter befanden ſich auf der öſtlichen Seite
der Laguna, in die von Oſten her der Rio Dulce fließt.
Dieſer Name wurde dem Fluſſe gegeben, weil er an⸗
fangs ein wohlſchmeckendes, ſüßes Waſſer führt. Nach⸗
dem er aber durch die Salzwüſte gefloſſen iſt, hat er ſo
viel Salz angenommen, daß ſein Waſſer im untern
Teile ſeines Laufes ungenießbar geworden iſt.
Die geſtrige Spur führte an der Lagune hin und
dann ein Stück davon ab. Dort hatte man Halt und
jedenfalls auch Lager gemacht, denn der Boden war
zerſtampft; es gab mehrere ausgekohlte Feuerſtätten
und das Gras war in einem weiten Umkreis von den
weidenden Pferden niedergetreten. Aber wann man
hier ausgeruht hatte, das zu erraten oder gar zu be⸗
ſtimmen, dazu waren die drei nicht erfahren genug.
Wald» oder Prärieläufer war keiner von ihnen.
Von dieſer Stelle aus führte die Fährte in nord⸗
öſtlicher Richtung weiter. Der Chirurg blieb halten
und fagte in bedenklichem Ton: „Seüores, meinen Sie
wirklich, daß die Spuren von den Leuten des Vater
Jaguar herrühren?“
„Ja,“ antwortete Fritze Kieſewetter. „Er hat
vierundzwanzig Mann bei ſich, und ungefähr ſo viele
ſind es geweſen, welche hier geritten ſind.“
„Das iſt wahr; aber der Vater Jaguar will nach
dem Gran Chaco, der von hier aus im Norden und
— 155 —
Nordweſten liegt, und dieſe Spur zeigt nach Nord⸗
oſten.“
„So wird er wohl einen triftigen Grund gehabt
haben, von der geraden Richtung abzuweichen.“
„Hm! Euer Gnaden ſchlagen alſo vor, daß wir
dieſer Fährte folgen?“
„Ja. Ich denke nicht, daß ich mich irre. Der
Vater Jaguar iſt ſicherlich nach dieſer Laguna geritten.
Wir haben die einzige Spur vor uns, die es hier gibt,
folglich iſt ſie die ſeinige. O, ich verſtehe mich darauf,
denn ich habe früher einmal eine Indianergeſchichte ge⸗
leſen, worin ſehr viel von Stapfen, Spuren und Fähr⸗
ten die Rede war.“
Sie ritten alſo auch nach Nordoſt. Der Weg
führte über eine ebene Fläche, auf der nichts als Him⸗
mel und Gras zu ſehen war. Die Spuren waren ganz
deutlich zu verfolgen. Gegen Mittag fanden ſie eine
klare Quelle, wo der Trupp, den ſie für denjenigen des
Vater Jaguar hielten, gelagert hatten. Sie ſtiegen
auch ab, um endlich einmal ſich ſatt zu trinken und dann
auch ihre Pferde Waſſer nehmen und ruhen zu laſſen.
Nach einer guten Stunde wurde wieder aufgebrochen.
Doktor Morgenſtern hatte einen kleinen Kompaß
an ſeiner Uhrkette hängen. Dieſen zu Rat ziehend,
ſah er, daß die Fährte eine immer mehr öſtliche Rich⸗
tung nahm. Sie lief nicht mehr nach Nordoſt, ſon⸗
dern ſchon nach Oſtnordoſt. Das fiel dem Chirurgen
noch mehr auf. Er ſchüttelte den Kopf und ſagte:
„Wenn wir in dieſer Weiſe weiterreiten, kommen wir
im ganzen Leben nicht nach dem Chaco. Wenn ich mich
nicht irre, ſo reiten wir auf diejenige Gegend des Rio
Salado los, wo Paſo de las Canas oder gar Paſo
Quebracho liegt. Sollten wir den Vater Jaguar
— 156 —
wirklich vor uns haben? Ich habe große Luſt, umzu⸗
kehren oder mich nach links zu wenden.“
„Und ich reite dorthin, wo die Spur hinzeigt,“
antwortete Morgenſtern. „Wo Spuren ſind, da findet
man Menſchen; und wo Menſchen ſind, da gibt es
etwas zu eſſen.“
Dieſe Schlußfolgerung machte einen guten Ein⸗
druck auf Don Parmeſan, denn er meinte, indem er
zuſtimmend mit dem Kopfe nickte: „Das iſt freilich
wahr. Wir werden heute vielleicht hungern müſſen,
denn es hat ſich noch kein einziges Tier ſehen laſſen,
dieſe Geier ausgenommen, die überall ſind und leider
nicht verzehrt werden können. Reiten wir alſo der
Fährte nach!“
Wieder ging es weiter. Es war um die Mitte des
Nachmittags, da zeigte der Chirurg mit der Hand ge⸗
radeaus und ſagte in leiſem Ton, als ob er befürchtete,
gehört zu werden: „Un avestruz, un avestruz, —
ein Strauß, ein Strauß!“
Die beiden andern blickten in die angegebene
Richtung und ſahen wirklich einen Strauß, der, aller⸗
dings eine bedeutende Strecke entfernt, den Boden eifrig
mit dem Schnabel bearbeitete und die Reiter nicht be⸗
merkte, da er ihnen den Rücken zukehrte.
„Das gibt Fleiſch, das gibt Fleiſch!“ fuhr Don
Parmeſan fort. „Wir werden unſern Hunger ſtillen.“
| „Aber erſt dann, wenn wir den Vogel haben,“
meinte Fritze. „Ich habe gehört, daß der Strauß ſehr
ſchwer zu jagen iſt.“
„Da hat man Euer Gnaden allerdings recht be⸗
richtet. Er wird uns entgehen.“
Da legte der Doktor den Finger auf die Naſe und
ſagte in gewichtigem Tone: „Seüor, ich hab's, ich hab's!
— 157 —
Die Wiſſenſchaft iſt's, die dem Menſchen in jeder Ver⸗
legenheit zu Hilfe kommt. Die lehrt, daß der Strauß
den Kopf in die Erde ſteckt; veranlaſſen Sie ihn alſo,
den Kopf in die Erde zu ſtecken, ſo ſieht er uns nicht,
und wir können über ihn kommen wie David über die
Philiſter!“
„Senor,“ fuhr Parmeſan auf, „wollen Sie ſich über
mich luſtig machen?“
„Fällt mir nicht ein! Ich ſpreche im vollen
Ernſt.“
„So reiten Sie doch hin, und bitten Sie ihn, den
Kopf zu verſtecken.“
„Das würde vorausſichtlicherweiſe den entgegenge⸗
ſetzten Erfolg haben.“
„Das denke ich auch. Wie ſoll man ihn veran⸗
laſſen, den Kopf zu verbergen?“
„Das iſt Ihre Sache, Seüor. Wenn Sie kein
Mittel kennen, meinen Vorſchlag auszuführen, ſo iſt
das nicht meine Sache, obgleich ich es tief beklage, da
wir nun doch noch Hunger leiden werden.“
Parmeſan wollte eine noch derbere Antwort ge⸗
ben, aber Fritze kam ihm zuvor: „Streiten Sie ſich
nicht, Senores! Ich glaube, einen guten Gedanken zu
haben. Glauben Sie, Seßor Parmeſan, daß — —“
„Don Parmeſan, bitte!“ unterbrach ihn der andre
ſtolz.
„Gut! Alſo, Don Parmeſan, glauben Sie, daß
der Strauß vor einem Pferde flieht?“
„Nein. Es kommt im Gegenteil vor, daß man
graſende Strauße mitten unter weidenden Pferde⸗ und
Rinderherden findet.“
„Schön! Ich ſteige ab und lege mich mit meiner
Flinte hier in das Gras. Sie beide reiten in einem
— 158 —
weiten Bogen nach rechts und links, über den Strauß
hinaus und verſuchen, ihn mir zuzutreiben. Iſt das
Glück uns günſtig, ſo iſt es möglich, daß ich den Vogel
vielleicht doch erlege.“
Dieſer Vorſchlag fand Anklang und wurde ſofort
ausgeführt. Morgenſtern ritt rechts⸗ und Parmeſan
linksab, in einem Bogen in den Campo hinaus, um
dann den Vogel zu veranlaſſen, ſeine Flucht auf Fritze
hin zu nehmen.
Der amerikaniſche Strauß oder Nandu wird mit
der Bola, die man ihm um die Beine wirft, gefangen.
Zu ſchießen iſt er nicht leicht, weil der Jäger, um
ſchießen zu können, ſein Pferd anhalten muß und der
ſchnelle Vogel, bis das Pferd ruhig ſteht, gewöhnlich
ſchon außer Schußweite gekommen iſt.
Um keine Zeit zu verlieren und dem Vogel den
Weg möglichſt bald abzuſchneiden, trieben die beiden
Reiter ihre Tiere zur größten Eile an. Der Nandu
ſchien für nichts außer ſeiner Beſchäftigung Augen zu
haben. Er hackte mit dem Schnabel und ſcharrte mit
den kräftigen, dreizehigen Füßen den Boden und drehte
ſich dabei jetzt immerwährend um feine eigene Achſe,
ohne auf die beiden Reiter draußen oder das hier
ruhig weidende ledige Pferd achtzugeben.
„Ick jlaube jar, er will Eier lejen und baut ſich
ſein Neſt dazu!“ brummte der im a liegende Fritze
vor ſich hin.
Jetzt waren die Reiter hinter De Nandu ange⸗
langt und wendeten ihm ihre Pferde zu. Er war ſo
beſchäftigt, daß er ſie erſt bemerkte, als ſie höchſtens
noch zweihundert Ellen von ihm entfernt waren. Da
machte er einen weiten Satz und rannte fort, gerade
vor ihnen her und auf die Stelle zu, wo Fritze lag.
— 159 —
Nun ſah er das Pferd, ſtutzte, ſetzte aber dann ſeine
Flucht in der eingeſchlagenen Richtung fort. Das
Pferd ſchien ihm nicht gefährlich zu ſein.
Fritze fühlte, daß ihm das Herz vor Freude höher
ſchlug. Er ſtemmte den linken Ellbogen feſt auf die
Erde, um einen guten Halt für ſein Gewehr zu haben,
legte an und zielte. Als der Vogel noch ungefähr
ſechzig Sprünge entfernt war, drückte er ab. Der
Schuß krachte; der Nandu tat einen Sprung kerzen⸗
gerade in die Höhe, taumelte dann einige Male hin und
her und fiel dann nieder.
Fritze ſprang jubelnd auf, nahm ſein Pferd beim
Zügel und führte es zu der Stelle hin, wo er mit den
beiden andern zu gleicher Zeit anlangte.
„Es iſt gelungen, vortrefflich gelungen!“ rief
Don Parmeſan, indem er vom Pferd ſprang und zu
dem Vogel trat, um ſich niederzubücken.
Aber der Nandu war noch nicht ganz tot. Er
nahm ſeine letzte Kraft zuſammen und verſetzte dem
Chirurgen einen ſo kräftigen Schnabelhieb, daß er ihm
den Poncho zerriß und ein Stück Fleiſch aus dem
Oberarm hackte.
„O Himmel, o Hölle!“ ſchrie der Verwundete, in⸗
dem er zurück ſprang. „Dieſer Teufel lebt ja noch!
Er hat mir eine Wunde beigefügt, woran ich höchſt
wahrſcheinlich ſterben werde!“
„Sie find ſelbſt ſchuld, Senor,“ antwortete Fritze.
„Man nähert ſich einem ſo kräftigen Tiere nicht eher,
als bis man genau weiß, daß es tot iſt.“
Er hielt dem Nandu den zweiten, noch nicht abge⸗
ſchoſſenen Lauf nahe an den Kopf und jagte ihm die
Ladung hinein. Dann wendete er ſich zu dem Chir⸗
urgen, um zu ſehen, ob dieſer leicht oder ſchwer ver⸗
— 160 —
wundet ſei. Der Biß war nicht gefährlich. Der Mus⸗
kel blutete zwar heftig, doch fehlte nicht mehr als ein
walnußgroßes Stückchen Fleiſch, das der Vogel noch im
Schnabel hatte. Fritze nahm es heraus, hielt es dem
„Don“ hin und ſagte: „Hier haben Sie, was Ihnen
fehlt, Senor. Euer Gnaden find ein fo berühmter und
geſchickter Chirurg, daß es Ihnen nicht ſchwer werden
kann, dieſes Stück Rindfleiſch wieder anwachſen zu
laſſen.“
„Rindfleiſch?“ fuhr der Angeredete auf, emſig be⸗
ſchäftigt, die Blutung zu ſtillen. „Ich hoffe, daß Sie
dieſes Wort zurücknehmen, ſonſt müßte ich mich mit
Euer Gnaden auf Leben und Tod ſchießen.“
„Gut, ich nehme es zurück und bitte um Entſchul⸗
digung. Wird das Stück wieder anwachſen?“
„Es wäre mir eine Leichtigkeit, es einzuſetzen, fo
daß es haften bleibt; aber dazu bedürfte ich meiner
beiden Hände. Wollen Sie mir helfen?“
„Gern.“
„So drücken Sie das Stückchen Fleiſch feſt auf die
Wunde, aber ſo, wie es vorher im Muskel gelegen hat,
und ſchlingen Sie mir dann meine Schärpe ſo feſt wie
möglich um den Arm.“
Morgenſtern half auch mit, und ſo war die kleine
Wunde ſehr bald verbunden. Nun hatte man Zeit,
den Vogel zu betrachten. Es war eine Henne, wohl
anderthalb Meter lang und gegen ſechzig Pfund ſchwer.
Sie wurde auf das eine Packpferd geladen und dann
ſtiegen die glücklichen Jäger wieder auf, um den
unterbrochenen Ritt fortzuſetzen. Als ſie an der
Stelle, wo der Nandu zuerſt geſehen worden war, vor⸗
überkamen, ſahen fie, daß er wirklich im Begriff ge
ſtanden hatte, den Boden rund und ſchüſſelförmig
— 161 —
auszuhöhlen, jedenfalls um Eier zu legen, gar nicht
weit entfernt von einer ſo ſichtbaren Menſchenfährte,
kein gutes Zeugnis für die Intelligenz der ſtrauß⸗
artigen Vögel!
Nach einem kurzen Ritt wurden die drei Reiter
von der Spur wieder mehr nordöſtlich und bald darauf
gerade nördlich geführt.
„Nun, ſind Euer Gnaden jetzt zufrieden?“ fragte
Fritze den Chirurgen. „Wir befinden uns nun in der
Richtung, die gerade nach dem Chaco führt.“
„Hier iſt's ſchlimmer als vorher,“ antwortete der
Gefragte mißmutig, da ſein Arm ihn ſchmerzte. „Auf
dieſe Weiſe kommen wir nach dem Monte de los palos
Negros, und von dieſer Waldung habe ich gehört, daß
ſie faſt undurchdringlich iſt. Hätten wir uns vorher
mehr links gehalten, ſo würden wir bis zum Rio Sa⸗
lado und noch darüber hinaus ſtets freies, offenes
Land haben.“
„Sind Sie denn wirklich ſchon über dieſen hin⸗
ausgekommen?“
„Zweifeln Sie etwa daran?“
Dieſe Frage ſollte unwillig und zurechtweiſend
klingen, hatte aber einen ſo unſichern Ton, daß man
meinen ſollte, er hätte lieber mit einem aufrichtigen
Nein geantwortet.
Bald darauf gab es einen Anblick, der ganz ge⸗
eignet war, die drei hungrigen Reiter zu elektriſieren.
Sie ſahen vor ſich, doch rechts von der eingeſchlagenen
Richtung, ein Rudel der kleinen Pampashirſche äſen.
Ohne daß einer den andern dazu aufgefordert hätte,
nahmen ſie ihre Pferde nach rechts herüber und jagten
auf das Wild zu, ohne ſich zu ſagen, daß es ganz un⸗
May, Das Vermächtnis des Inka 11
— 162 —
möglich ſei, eins der windesſchnellen Tiere zum Schuſſe
zu bekommen.
Der Hirſch ſah die Gefahr und eilte mit ſeinem
Gefolge fort, nicht allzu raſch, da er wohl wußte, daß
ein Pferd ihn nicht erreichen könne. Eine Zeitlang ließ
er die gleiche Entfernung zwiſchen ſich und den Ver⸗
folgern liegen; aber als dieſe ihre Pferde zur ſchnellſten
Eile antrieben, griff auch er weiter aus, und ſeine Fa⸗
milie folgte ihm mit graziöſer Leichtigkeit, die Jäger
immer weiter und weiter hinter ſich zurücklaſſend.
Dennoch ſetzten dieſe die Verfolgung fort, bis ein
dunkler Streifen Waldes am Horizont auftauchte, dem
der Hirſch zujagte. Bald darauf verſchwand das Rudel
zwiſchen den Bäumen. Die Reiter hielten in einiger
Entfernung von dem Walde an. An deſſen Rand
glänzte ein Waſſer.
„Der Braten iſt uns entgangen,“ ſeufzte Don
Parmeſan. „Ein Hirſchrücken iſt etwas Beſſeres als
ein Stück zähes Straußenfleiſch. Haben die Seüores
ſchon einmal welches gegeſſen?“
„Ich nicht,“ antwortete der Doktor. „Wie
ſchmeckt es?“ | |
„Wie Stiefelſohle. Man kann es nicht beißen und
muß es ganz verſchlingen. Nur der Hunger treibt es
hinein.“ N
„Bringt man es denn nicht weich, indem man es
in Butter, lateiniſch Butyrum, ſchmort? Wir müſſen
den Vogel in ſeinem eigenen Fett braten.“
„Fett? Straußenfett? Meinen Sie wirklich, daß
ein Strauß auch nur eine Spur von Fett hat?“
„Ja, das meine ich. Die Wiſſenſchaft beweiſt, daß
in jedem tieriſchen Körper Fett, Adeps genannt, vor⸗
handen iſt. Da nun der Strauß einen ſolchen Körper
— 163 —
beſitzt, ſo bezweifle ich es nicht, daß wir bei einiger
Aufmerkſamkeit wenigſtens eine bemerkbare Spur
deſſen finden, was ich ſoeben mit Adeps bezeichnet
habe.“ i
„Und wenn Sie den ſchweren Vogel in dieſer
‚Spur‘ von Fett braten, wird er dennoch trocken bleiben
wie die Rückenlehne eines Strohſeſſels. Laſſen wir
das! Wir haben andres zu bedenken. Was tun wir
jetzt? Wir ſind von unſrer Fährte abgekommen.
Suchen wir ſie wieder auf?“ |
„Dazu iſt's zu ſpät,“ antwortete Fritze. „Es wird
gleich Abend ſein. Hier haben wir Gras für die Pferde
und dort am Waldesrande Waſſer für Menſch und Tier.
Es wird wohl geraten ſein, hier zu bleiben und die
Fährte morgen früh wieder aufzuſuchen.“
Der gute, kleine Mann bedachte nicht, daß das
niedergetretene Gras ſich während der Nacht aufrichten
und die Spur dann am Morgen nicht mehr zu ſehen
ſein werde.
Sie ritten vollends bis zum Walde hin, wo ſie
von den Pferden ſtiegen und dieſe von dem Sattel⸗ und
Zaumzeuge befreiten. Der Mald . er/ ſeit diet. Er
beſtand hier an dieſer Stelle aus Quebrachos, hohem
Kaktus, Miſtol, Chañars, Vinals und andern Legumi⸗
noſen. Zwiſchen den erſten Bäumen drang ein Quell
aus dem Boden und floß vielleicht zehn Ellen weit in
eine Vertiefung, wo er einen kleinen hellen Weiher
bildete. Dort lagerten ſich die Reiſenden. Holz zu
einem Feuer war genug vorhanden. Bald loderte es
hoch auf und nun machten ſich die drei an die Zube⸗
reitung des heutigen Bratens. Es wäre unmöglich ge⸗
weſen, den Strauß zu rupfen wie einen kleineren Vogel.
Man zog ihm das Fell mitſamt den Federn ab wie
— ung
— 164 —
einem behaarten Tiere. Dann wurde er aufgebrochen.
Der Magen enthielt Pflanzenüberreſte, Sand, Steine,
einen hörnernen Meſſergriff und einen eiſernen Reit⸗
ſporn mit talergroßem Rade. Der Strauß verſchlingt
eben alles, was ihm in die Augen ſticht. Das Fleiſch
ſah gar nicht übel aus und ließ ſich auch ganz leidlich
ſchneiden. Bei der weiteren Zerlegung ſtellte es ſich
heraus, daß der Vogel allerdings nötig gehabt hatte,
ein Neſt zu formen; es waren Eier vorhanden, eines im⸗
mer kleiner als das andre, von der Größe einer Erbſe
bis zu derjenigen einer Männerfauſt. Die größeren
wurden in heiße Aſche gelegt, um zu röſten, und ſchmeck⸗
ten dann gar nicht übel. Dann verſuchte man das
Bruſtfleiſch, als das zarteſte, wie Aſado vom Rind zu
behandeln. Als Fritze das erſte Stück in den Mund
nahm und es zwiſchen den Zähnen probiert hatte,
ſpuckte er es wieder heraus und ſagte zu ſeinem Herrn:
„Pfui! Dat iſt wirklich die reine Stiebelſohle, ohne
Kraft und Jeſchmack und nicht zu kauen. Verſuchen
Sie's doch mal!“
Dem Gelehrten ging es nicht anders. Das Fleiſch
war ſo zöberdak man es trotz allen Hungers nicht ge⸗
nteßen konnte.
„Klopfen wir es!“ meinte Fritze.
Er legte ein Stück auf den Boden und bearbeitete
es mit dem Gewehrkolben, um es mürbe zu machen.
Es fühlte ſich jetzt weicher an, wurde aber im Feuer
härter als das vorige Stück.
„Dat iſt auch ſo 'ne falſche Berechnung in die
Natur!“ räfonnierte er. „Rebhühner und Krammets⸗
vögel, die ſo delikat ſind, wachſen klein, und diejenigen
Vögel, welche die jewünſchte Iröße beſitzen, ſind nicht
zu jenießen. Mir dauert mein Pulver, das ick ver⸗
— 165 —
ſchoſſen habe. Hätte ick die harte Natur dieſes Straußes
jekannt, ſo hätte ick mich ſeinen Tod nicht auf mein
Jewiſſen jeladen. Wat eſſen wir nun?“
Es raſchelte hinter dem Sprecher. Er drehte ſich
um und ſah ein langes, eidechſenartiges Tier am
Stamm des nächſten Baumes.
„Still!“ flüſterte er. „Rührt euch nicht. Wenn
es glückt, gibt es doch noch einen Braten.“
Er hatte ſein Gewehr wieder geladen. Es enthielt
einen Schrot⸗ und einen Kugelſchuß. Er nahm es,
hinter ſich greifend, in die Hand und zog es langſam
nach vorn. Das Feuer war für das Tier eine unge⸗
wöhnliche Erſcheinung. Es ſaß am Stamme des Bau⸗
mes, langgeſtreckt wie eine Schlange, ſich mit den
Füßen feſthaltend, und ſtarrte mit hellen Augen in die
Flamme. Da riß Fritz fein Gewehr mit einem plötz⸗
lichen Ruck in den Anſchlag empor, zielte kurz und
drückte ab. Der Schuß krachte; das Tier war weg.
„Was wars? Was gab's?“ fragte Morgenſtern,
welcher ebenſo wie der Chirurg mit der Seite gegen den
Baum geſeſſen hatte.
„Einen Iguan,“ antwortete Fritz.
„Iguan?“ rief Parmeſan, indem er aufſprang.
„Einen Iguan! Das iſt ja die größte Delikateſſe, die es
auf Erden gibt! Haben Sie ihn getroffen, Senor?
Ich hoffe, ja?“
„Weiß es nicht. Wollen ſehen.“
Er ſtand auf, um nach dem Baume zu gehen.
„Nehmen Sie ſich in acht!“ warnte der Chirurg.
„Die Iguans ſind fürchterlich biſſig. Wenn er noch
nicht tot iſt, dürfen Sie ihn ja nicht anfaſſen.“
Als Fritz zum Baum kam, ließ er einen Ruf der
Freude hören. Das Tier war doch getroffen worden.
— 16 —
Es lag unten auf dem Boden und bewegte ſich nicht.
Dennoch war der Deutſche ſo vorſichtig, es nicht eher
anzugreifen, als bis er ihm einige kräftige Kolbenhiebe
auf den Kopf gegeben hatte. Don Parmeſan kam her⸗
bei, um den Iguan nach dem Feuer bringen zu helfen.
Der Iguan, auch Leguan genannt, iſt eine große
ſüdamerikaniſche Baumeidechſe mit einem breiten Kopf,
an den Rändern gekerbten Zähnen, großem Stachel⸗
kamm auf dem Rücken und einem ſehr langen Schwanz.
Die Beine ſind ungemein kräftig und haben ſehr lange
Zehen; unter der Kehle hängt ein häutiger Sack. Die
Iguane ſchwimmen ausgezeichnet, und klettern unge⸗
mein behend auf Bäumen und nähren ſich von Vogel⸗
eiern, Inſekten, jungen Baumſproſſen und ſaftigen
Blättern und Blüten. Sie ſind bei Gegenwehr mutig
und außerordentlich biſſig. Der gemeine Leguan wird
anderthalb Meter lang, wovon allerdings ein Meter
allein auf den Schwanz zu rechnen iſt. Man ſtellt ihm
ſehr eifrig nach, da er ein beſonders wohlſchmeckendes,
zartes und leicht verdauliches Fleiſch beſitzt.
Das Tier hat ein höchſt häßliches Ausſehen, dar⸗
um rief Morgenſtern, als er es erblickte, aus: „Ja,
das iſt ein Iguan; ich ſehe es. Aber wollen Sie dieſes
Viehzeug wirklich eſſen?“
„Natürlich!“ antwortete Don Parmeſan. „Es gibt
nichts Feineres als Iguanfleiſch, gleich in der Haut,
in den Schuppen gebraten. Wiſſen Sie das noch nicht?“
„Welch eine Frage! Die Wiſſenſchaft lehrt, daß
der Iguan Fleiſch beſitzt, und die Erfahrung fügt hinzu,
daß es gegeſſen wird. Mir aber kommen Sie ja nicht
mit einem ſolchen Braten! Ich will doch lieber mit
den Chineſen geſchmorte Regenwürmer, Trepang und
— 197 —
Holothurien verzehren als meine Zähne an einer fol
chen Echſe verſuchen.“
„Euer Gnaden laſſen es ſicher nicht liegen. Ich
werde mir ſofort ein Stück abſchneiden.“
Er zog das Meſſer, um dies zu tun. Da aber
hielt ihm Fritze die Hand abwehrend entgegen und
ſagte: „Halt, Senor! Wer hat den Iguan geſchoſſen?“
„Sie natürlich.“
„Ich; das iſt ſehr richtig, und alſo iſt er mein
Eigentum. Wer ein Stück haben will, muß es mir
abkaufen.“
„Abkaufen? Wie kommen Euer Gnaden zu dieſer
lächerlichen Anſicht?“
„Ganz ſo, wie Euer Gnaden auf den Gedanken
kamen, ſich Ihr Rindfleiſch von mir bezahlen zu laſſen.
Mein Iguan iſt weit ſchmackhafter als Ihr Rind⸗
fleiſch. Bei mir koſtet das Pfund Iguan heute abend
fünfzig Papiertaler.“
„Aber Senor, Sie ſcherzen!“
„Es iſt mein Ernſt. Wer unter Kameraden ver⸗
kauft, darf nicht erwarten, daß man freigebiger iſt
als er.“
Er ſchnitt ſich ein tüchtiges Stück herab, ſpießte es
an einen zugeſpitzten Zweig und hielt es an das Feuer.
Sofort war ein äußerſt feiner und zarter Bratenduft
zu bemerken.
„Hm! Nicht übel!“ meinte Morgenſtern. „Wenn
dieſe Echſe ſo ſchmeckt, wie ſie riecht, ſo könnte man
wirklich beinahe Appetit bekommen.“
Fritze antwortete nicht und briet weiter. Er hatte
ſchon Iguan gegeſſen und wußte, was geſchehen würde.
Als ſein Stück gar war, erfüllte es den Umkreis des
Weihers mit ſeinem Duft. Nun ſchnitt er es in Stücke
— 18 —
und begann zu eſſen. Das ſchlaue, ſchadenfrohe Kerl⸗
chen machte dabei ein äußerſt wonnevolles Geſicht. Da
konnte ſich Don Parmeſan nicht länger halten. Er
fragte: „Senor, wollen Euer Gnaden wirklich kein
Stück verſchenken?“
„Nein.“
„Auch kein kleines Stückchen?“
„Nein.“
„Ganz dünn und nur ſo groß wie das Innere
meiner Hand?“
„Nein.“
„Was koſtet ein Stück, woran man ſich ſatt eſſen
kann?“
„Sie ſind ein ſtarker Eſſer, alſo hundert Papier⸗
taler.“
„Que ca-restial Und was fordern Sie für ein
Stück, wovon man etwa zehn Biſſen ſchneiden kann?“
„Sie machen ſehr große Biſſen. Zehn Biſſen wer⸗
den ein Pfund ſein, alſo fünfzig Papiertaler.“
„Cuanto costa eso — wie teuer iſt das! Be⸗
denken Sie doch, daß ich ein armer Verwundeter bin!“
„Auch das bedenke ich. Ein Verwundeter ſoll
Diät halten und einige Tage gar nicht eſſen.“
„Das iſt vollſtändig unmöglich, wenn man gebra⸗
tenen Iguan riecht. Senor, denken Euer Gnaden an
das Vorbild ſo vieler frommer und erleuchteter Män⸗
ner! Ich will Ihnen Ihr Geld zurückgeben.“
Er zog den Beutel aus der Taſche.
„Laſſen Sie!“ wehrte Fritze ab. „Ich nehme
nichts zurück. Sie werden jetzt aber einſehen, wie
falſch es iſt, ſich von Kameraden, mit denen man Sor⸗
gen, Entbehrungen, Gefahren und vielleicht gar den
Tod zu teilen hat, ein Stückchen Fleiſch bezahlen zu
5
— 169 —
laſſen. Es verſteht ſich ganz von ſelbſt, daß ich es nicht
machen werde wie Sie. Was einer von uns hat, ge⸗
hört auch den andern. Der Iguan iſt unſer gemein⸗
ſchaftliches Eigentum. Schneiden Sie ſich alſo ſo viel
herab, wie Sie eſſen wollen!“
Das ließ Don Parmeſan ſich nicht zweimal ſagen.
Er rückte ſchnell herbei, ſteckte den Beutel wieder ein
und ſchnitt ſich ein großes Stück Fleiſch herunter.
Auch Fritz nahm ſich noch ein Stück. Der Gelehrte ſah
ihnen noch eine kleine Weile zu, dann fragte er: „Fritz,
ſchmeckt es denn gar ſo ausgezeichnet?“
„Hochfein, ſage ick Ihnen!“
„So möchte ich es wirklich einmal koſten. Es iſt
nur, daß man fagen kann, man habe einmal Iguan
gegeſſen.“
„Dat müſſen Sie allerdings ſagen können. Wat
ſoll man in Jüterbogk von Sie denken, wenn Sie in
Südamerika jeweſen ſind und von keiner Eidechſe jekoſtet
haben! Soll ick Sie einen kleinen Happen zurecht
machen?“
„Ja, tue es!“
Fritz ſpießte einen Biſſen an und ließ ihn braten.
Morgenſtern koſtete erſt zaghaft, kaute dann bedächtig
und die Augenbrauen emporziehend, ſchluckte er ihn hinab,
rückte heran, zog das Meſſer, ſchnitt ſich ein derbes
Stück ab und ſagte: „Wer hätte das gedacht! So eine
Eidechſe verdient es eigentlich, in eine viel höhere Tier⸗
klaſſe verſetzt zu werden. Es gibt weder einen Fiſch
noch einen Vogel oder ein Säugetier, deſſen Fleiſch von
einer ſolchen Zartheit iſt. Ich werde das in meinem
ſpäteren Werk ganz beſonders hervorheben und mit fet⸗
ter Schrift drucken laſſen, daß die Iguane ganz außer⸗
ordentlich wohlſchmeckend, lateiniſch sapidus, ſind.“
— 170 —
So ſchmauſten die drei noch eine ganze Weile. Sie
hatten heute beides gekoſtet, das härteſte und das zarteſte
Fleiſch, Strauß und Iguan, und als ſie endlich auf⸗
hörten, war noch der ganze Strauß, vom Iguan aber
nur der Schwanz übrig, den ſie ſich für morgen früh
aufheben wollten. Dann feſſelten ſie die Pferde ſo wie
geſtern und hüllten ſich in ihre Decken, um zu ſchlafen.
Als die beiden Deutſchen früh am nächſten Morgen
erwachten, hatte der „Don“ ſchon ein Feuer angezündet
und machte ſich mit dem Iguanſchwanz zu ſchaffen.
„Halt!“ meinte Fritze. „Laſſen Sie mich teilen,
Senor, wir haben gleiche Rechte.“
j Nun ſahen fie übrigens auch, daß es in dem Weiher
Fiſche gab, Fiſche, und zwar wie viele und wie große!
Aber wie dieſe fangen? Man hatte weder Netze noch
Angelzeug.
„Ich weiß, was wir machen,“ ſagte Fritz. „Wir
jagen ſie mit unſern Ponchos aus dem Waſſer. Wollen
Sie mir helfen, Don Parmeſan?“
Der Gefragte erklärte ſich dazu bereit. Sie ſtiegen
in das Waſſer und nahmen einen Poncho in die Hand.
Der eine hielt ihn an dem einen, und der andre an dem
andern Ende. Der Weiher war nicht tief. Sie tauchten
die Decke bis auf den Boden nieder und trieben, indem
ſie vorwärts ſchritten, die Fiſche nach dem Ufer zu. Es
gelang ihnen gleich beim erſten Mal, einige an das
Land zu ſchnellen. Als ſie dieſes Experiment wiederholt
hatten, beſaßen ſie ſo viel Fleiſch, daß ſie für zwei Tage
auszureichen vermochten.
Während ſie beſchäftigt waren, die Fiſche erſt aus⸗
zunehmen und in grüne Blätter zu wickeln, fiel das Auge
Morgenſterns auf eine gar nicht weit von dem Weiher
— 171 —
entfernte Stelle des Graſes, wo dieſes äußerſt klein und
ſpärlich wuchs; auch hatte es eine gelbe anſtatt eine
grüne Farbe. Noch viel auffälliger war es jedoch, daß
dieſe Stelle genau zirkelrund war, und daß an der Grenz⸗
linie dieſes Kreiſes Sand lag und kein einziger Halm
wuchs. Auch dieſe kleine, ſandige Stelle in dem Lehm⸗
boden mußte auffallen.
Morgenſtern ſtand von ſeinem Platz auf und
näherte ſich dieſem eigentümlichen Kreiſe, um ihn ge⸗
nauer in Augenſchein zu nehmen. Da ſah er zunächſt,
daß er konvex wie eine umgeſtürzte Schale war.
„Konvex und zirkelrund,“ ſagte er ſich. „Das iſt
höchſt ſonderbar. Warum gedeiht das Gras hier nicht?
Der Boden beſteht ebenſo aus Lehm, wie derjenige der
Umgebung. Sollten Steine oder ein andrer ſteriler
Grund darunter liegen, ſo daß die Wurzeln des Graſes
nicht tief einzudringen vermögen und alſo nicht genug
Nahrung erlangen können?“
Um das zu unterſuchen, zog er ſein Meſſer und
ſtach damit in die Erde. Die Klinge drang höchſtens
fünf Zoll tief ein und traf dann auf einen harten Ge⸗
genſtand. Er probierte an andern Stellen und zwar mit
genau demſelben Erfolge. Der eigentümliche Kreis
hatte eine ſehr harte Unterlage, auf der eine überall fünf
Zoll hohe Lehmſchicht lag, welche dem Gras nicht genug
Nahrung gewährte, ſo daß dieſes nur ſpärlich ſtand,
nicht hoch wurde und eine krankhafte, gelbe Farbe beſaß.
Dieſe Regelmäßigkeiten mußten eine Urſache und zwar
eine ganz eigenartige und ungewöhnliche Urſache haben.
Und woher der ſchmale Sandfleck an der einen
Stelle des Kreisumfangs? Es gab, ſo weit das Auge
reichte, keinen Sand. Morgenſtern bückte ſich nieder und
begann, mit dem Meſſer in den Sand zu bohren und
A
— 12 —
ihn aufzuwerfen. Die beiden andern hatten ihm ver⸗
wundert zugeſchaut. Jetzt kam Fritze herbei und fragte:
„Wat jibt es hier, Herr Doktor? Wat haben Sie mit
dat Meſſer? Wollen Sie unſre jute Mutter Erde tot⸗
ſtechen?“
Wenn er mit dem Doktor allein und nicht auch mit
dem Chirurgen redete, bediente er ſich ſtets der deutſchen
Sprache.
„Mach keine dummen Witze!“ antwortete Morgen⸗
ſtern. „Es handelt ſich hier um eine ernſte Angelegen⸗
heit. Haſt du vielleicht einmal von ſogenannten Hexen⸗
ringen gehört?“
„Sehr oft. Dat ſind kreisrunde Stellen auf Wieſen,
auf denen in der Walpurgisnacht die Hexen hippelſchot⸗
tiſch jetanzt haben.“
„Unſinn! Dieſe Kreiſe verdanken ihre Entſtehung
verſchiedenen Arten von Hutpilzen, deren Myeelium ſich
zentrifugal vermehrt. Vertilgt man dieſe Pilze, ſo
hören auch die Ringe auf.“
„Ick verſtehe! Hier haben Sie auch ſo nen Hexen⸗
ring gefunden.“
: „Ja; aber er iſt ganz eigentümlicher Art. Während
die bekannten Hexenringe von einem üppig grünenden
Kreis umſchloſſen werden, iſt dies hier nicht der Fall.
Auch wächſt hier Gras, während dort das Innere der
Ringe vollſtändig kahl liegt. Und nun woher dieſer
Sand? Es iſt ſonſt nirgends welcher zu fehen.”
„Hm. Dieſe Stelle kommt mir auch ſehr ſonder⸗
bar vor. Sollte hier ein Schatz verjraben liejen? Dat
wäre mich lieber, als wenn wir ein urweltliches Rieſen⸗
jeſchöpf herausbuddelten.“
„Vorweltliches Rieſengeſchöpf!“ rief Morgenſtern
aus, indem er den Sprecher mit freudiger Ueberraſchung
— 178 —
anblickte. „Fritze, vielleicht haſt du das Richtige ge⸗
troffen!“
„Mit dem Jeſchöpf oder mit dem Schatz?“
„Mit beiden, denn wenn ich hier ein Maſtodon oder
ſo etwas finde, ſo iſt das ein Schatz für mich, und du
würdeſt auch nicht leer ausgehen.“
„Dat läßt ſich hören, ſagte der Taube, als er eine
Ohrfeige bekam. Aber im Ernſte jeſprochen, hier mitten
in der Urwildnis ſo 'ne Stelle, dat muß doch einen
Irund haben. Und, nur man Jeduld, ick denke, wir
finden dieſen Irund, wenn wir nur erſt mal da den
Sand fortſchaffen.“
„Ganz dasſelbe dachte auch ich. Hole die Spaten,
die Hacken und die Schaufeln! Wir müſſen ſchleunigſt
nachgraben.“
Fritze folgte dieſer Aufforderung. Als die beiden
den Sand aufzugraben begannen, kam Don Parmeſan
herbei und drängte unwirſch zum Aufbruch, da man
heute noch den Vater Jaguar einholen müſſe. Er machte
aber ſofort ein andres, viel freundlicheres Geſicht, als
der Doktor ihm ſagte: „Wenn wir ein Megatherium
hier finden oder ein ähnliches Rieſentier und Sie helfen
mit, ſo ſchenke ich Ihnen tauſend Papiertaler.“
„Da helfe ich mit, und wenn es eine ganze Woche
dauert!“ |
Er ergriff ſofort einen Spaten und begann mitzu-
arbeiten, denn tauſend Papiertaler, ſoviel wie hundert⸗
ſechzig deutſche Reichsmark, waren für ihn eine ſehr be⸗
gehrenswerte Summe. |
Während er mit Fritze in der ſandigen Stelle in
den Boden eindrang, nahm Morgenſtern eine Schaufel,
um einen Punkt der harten Unterlage von der darauf
liegenden Lehmſchicht und dem darin wachſenden Graſe
— 174 —
zu befreien. Er kratzte dieſe Schicht ab und ſchob ſie zur
Seite; da kam eine undurchdringliche, glatte und ſchild⸗
pattähnliche Maſſe zum Vorſchein, die, als er darauf
ſchlug, einen dumpfen, hohlen Ton erzeugte. Da tat er
vor Freude einen Luftſprung und rief jauchzend aus:
„Heureka, heureka! Ich hab's, ich hab's gefunden! Dieſe
glasharte und panzerartige Maſſe! Ich hab's, ich
hab's!“
„Wat haben Sie denn?“ fragte Fritze, indem er
von ſeiner Arbeit aufſah.
„Das Tier, das Rieſentier. Es iſt ein Glyptodon,
ganz gewiß ein Glyptodon!“
„Wer ſoll dat Wort verſtehen! Wie würde man es
in Stralau oder Jüterbogk titulieren?“
„Rieſenarmadill, oder noch deutſcher, Rieſenpanzer⸗
tier! Ein vorſintflutliches Geſchöpf, Fritze!“
„Alſo in der Sintflut umjekommen und ſchmählich
ertrunken? Da kann mich dat arme Beeſt wirklich leid
tun. Iſt es jroß?“
„Wie ein Tapir oder Nashorn, anderthalb Meter
lang.“
„Alſo nicht auf den Arm oder in die hohle Hand zu
nehmen. Na, dat ſchadet nichts; wir holen ihm dennoch
heraus!“
„Natürlich muß es heraus! Aber nehmt euch in
acht, daß ihr es nicht beſchädigt! Jede, auch die kleinſte
Beſchädigung, lateiniſch Laesio genannt, vermindert den
Wert dieſes koſtbaren Fundes!“
Fritze grub mit dem Chirurgen weiter. Auch der
Doktor arbeitete mit dem größten Eifer, mit der Schaufel
die obere Lehmkruſte von dem Panzer des vorweltlichen
Tieres abzukratzen. Seine Augen ſtrahlten; ſeine Wan⸗
gen glühten, und ſeine Hände zitterten; er befand ſich
„
— 175 —
wie im Fieber. Dabei hielt er ſeinen beiden Gefährten
einen Vortrag über die Urzeiten und die Weſen, die da⸗
mals lebten. Fritze und Don Parmeſan warfen den
Sand nach rechts und links heraus und drangen immer
tiefer ein. Da gab der Sand plötzlich. nach; Fritze ſtieß
einen Schrei aus und verſchwand in der Erde. Sein
Gefährte ſprang ſchnell aus dem Loch, ſonſt wäre er ihm
nachgeſtürzt.
„Um des Himmels willen, was iſt geſchehen!“ rief
Morgenſtern. „Hoffentlich kein Unglück, lateiniſch In-
fortunium geheißen!“
„Er iſt verſchwunden, vollſtändig verſchwunden,“
antwortete Parmeſan. „Die Erde wich unter ihm, und
da war er fort.“
Der Doktor trat vorſichtig an das Loch und rief
hinab: „Fritze, lieber Fritze, lebſt du noch?“
„Ja, ick lebe und bin verjnügt in meine Seele,“ er⸗
klang es von unten herauf.
„Wie iſt das gekommen und wohin biſt du geraten?“
„Ick habe mit die Balance dat neunzehnte Jahr⸗
hundert verloren und bin herunter ins Diluvium
jerutſcht.“
„Biſt du verletzt?“
„Nein. Dat Panzervieh verhält ſich ſehr jebildet.
Es iſt janz ſtill und hat mir nicht beſchädigt.“
„So komm ſchnell herauf! Es könnten gefährliche
Gaſe vorhanden ſein.“
„Im Jejenteil! Es iſt hier janz mollig. Kommen
Sie herunter! Ick habe jrad noch zwei ſchöne Sitzplätze
zu vermieten, zwei Plätze in der Urwelt. Immer
rrrrunter, meine Herren!“
Dieſes luſtige Gebaren des kleinen Dieners ver⸗
ſcheuchte alle Beſorgniſſe des Doktors. Und da ſeine
— 176 —
Wißbegierde ſo groß war, daß er ſie kaum beherrſchen
konnte, folgte er der Aufforderung und ſtieg vorſichtig in
das Loch. Dieſes führte zunächſt gegen vier Fuß ſenk⸗
recht hinab und ging dann in einem ſtumpfen Winkel
ſchief nach innen weiter. Der Diener war alſo nicht
ſenkrecht hinuntergeſtürzt, ſondern in geneigter Richtung
vorwärtsgerutſcht. Jetzt rief er von innen heraus:
„Da ſind Sie ja! Ick ſehe Ihre Beine. Sie befinden
ſich jrad vor dem Bauch des Rieſentieres. Setzen Sie ſich
nieder, ſo ziehe ich Ihnen an die Füße herein zu mich.“
In dieſem Augenblick fühlte Morgenſtern ſich bei
den Füßen ergriffen und fortgezogen; er kam in ein
ſanftes Gleiten und ſaß dann zu ſeinem Erſtaunen neben
Fritzen in einer kleinen niedrigen Höhle, welche infolge
des Loches, durch das er ſoeben gekommen war, ſo viel
Helligkeit beſaß, daß man ſich darin umſehen konnte.
Sie war länglichrund, ungefähr zwei Ellen hoch und ſo
groß, daß drei Perſonen bequem nebeneinander ſitzen
konnten. Die Decke war gewölbt, nicht ſehr, ſondern
ungefähr wie das Innere eines Tellers, und von dunkel⸗
melierter, matt glänzender Farbe. Der Boden der
Höhle war eben und von dem hereinbrechenden Sande
teilweiſe bedeckt. An den unbedeckten Stellen ſah man,
daß er aus hartem Lehm beſtand.
Als Fritze ſeinen Herrn neben ſich hatte, lachte er
auf und ſagte in fröhlichem Ton: „So kann man aus
die Ober⸗ in die Unterwelt und aus die Jejenwart in
die Verjangenheit jeraten. Wat ſagen Sie zu dieſe
ſchöne Mammuthöhle?“
„Von einem Mammut iſt hier Me Rede. Wir be⸗
finden uns höchſt wahrſcheinlich im Leibe eines Glyp⸗
todon, alſo desjenigen Tieres, das ich vorhin Rieſenar⸗
madill nannte,”
— 177 —
„Haben dieſe Tiere Leiber aus Lehm jehabt?“
„Natürlich nein. Du kannſt dir doch denken, daß
der Leib mitſamt den Knochen nach und nach verweſte
und daß nur der unzerſtörbare Panzer übrig geblieben
iſt. In ſeinem Innern ſitzen wir jetzt.“
„Alſo mitten in der Armatur?“
„Ja. Man hat dieſen Panzer früher irrtümlicher⸗
weiſe für die Bedeckung des Megatheriums gehalten,
weil auch Knochen dieſes letzteren Tieres in der Nähe
ſolcher Fundorte angetroffen wurden. Das Glyptodon
iſt aber für den Kenner unmöglich mit dem Megathe⸗
rium zu verwechſeln, lateiniſch permuto, obgleich es
ebenſo wie dieſes einen runden, abgeſtutzten Kopf und am
Jochbein einen abſteigenden Fortſatz hatte. Der Panzer,
der das Tier vom Hals bis zum Schwanz umſchloß und
nur am Bauch offen war, bildete keine Ringe, ſondern
beſtand aus einzelnen, ſechseckigen Knochenſtücken, die
eine einzige ſtarke und zuſammenhängende Decke bilde⸗
ten. Der Schwanz ſteckte in einer beſonderen Panzer⸗
röhre, die wir jedenfalls noch finden werden. Wir
müſſen den Panzer zunächſt freilegen; wenn ſich dann
ergibt, welches der hintere und welches der vordere Teil
iſt, läßt ſich leicht ſagen, wo die Schwanzröhre liegt.“
Fritze ſchüttelte den Kopf und ſagte: „Wenn dat
janze Tier im Panzer jeſteckt hat, ſo daß nur der Bauch
unbedeckt war, ſo muß dieſer doch eine unten offene
Höhlung bilden; die Seiten ſind auch bepanzert jeweſen,
hier haben wir nur oben Panzer und an den beiden
Seiten Lehm.“
„Der iſt durch den Druck eingedrungen. Wenn wir
ihn entfernen, werden die Seiten des Panzers zum Vor⸗
ſchein kommen. Ich werde dir den Chirurgen herab⸗
ſchicken. Ihr beide ſchafft dieſen Lehm hinaus, während
May, Das Vermächtnis des Inka 12
— 18 —
ich von oben graben werde, um das Glyptodon von außen
bloßzulegen. So arbeiten wir uns in die Hände und
werden jedenfalls noch vor der Abenddämmerung, latei⸗
niſch Crepusculum genannt, fertig ſein.“
Er ſtieg aus der Höhle empor und ſchickte Don Par⸗
meſan mit Hacke und Schaufel hinab. Während die
beiden nun unten fleißig arbeiteten, drang er ſelbſt oben
mit der Hacke in die Erde ein, um die Erde rund um
den Panzer aufzugraben und dieſen bloßzulegen.
Er ſtrengte ſich ſo an, daß ihm der Schweiß über
das Geſicht lief. Er war ganz begeiſtert für ſeine Arbeit.
Er dachte an den Ruhm, den es ihm bringen würde,
wenn es ihm gelänge, ein foſſiles Rieſenarmadill in
ſeiner heimatlichen Wohnung aufzuſtellen. Denn daß
es ſich hier um ein Glyptodon handelte, davon war er
vollſtändig überzeugt, bis er gegen Mittag die Ent⸗
deckung machte, daß der Panzer nicht eine Röhre, ſon⸗
dern eine Schale bilde, die wie eine plattgewölbte Decke
auf der unter ihr befindlichen Höhle lag; ſie wurde von
den Lehmwänden der letzteren getragen. Fritze und
Don Parmeſan drangen mit ihren Werkzeugen durch
dieſe Wände, und da der Gelehrte ihnen von außen mit
ſeiner Hacke entgegenkam, dauerte es gar nicht lange,
ſo war die eine Seite der Panzerdecke, die einer umge⸗
ſtürzten Schale glich, freigelegt, und Fritze kam mit dem
Chirurgen herausgekrochen.
„Sehen Sie, daß Sie ſich jeirrt haben,“ ſagte der
erſtere zu Morgenſtern. „Es iſt kein Jürteltier, denn
die Seiten dieſes Jeſchöpfes ſind unbepanzert jeweſen;
es hat nur oben auf dem Rücken einen Schild jehabt.“
Der Gelehrte war einigermaßen enttäuſcht. Er
blickte nachdenklich vor ſich nieder. Dann aber erhellte
ſich ſein Geſicht plötzlich; er ſtieß einen Jubelruf aus und
— 179 —
antwortete dann: „Fritze, du machſt mir das Herz wie⸗
der leicht. Schon glaubte ich, daß unſre Arbeit eine ver⸗
gebliche geweſen ſei. Deine Worte aber überzeugen mich
vom Gegenteil. Du haſt das Richtige getroffen. Es
hat oben auf dem Rücken einen Schild gehabt, Schild,
Schild, ein runder Schild, lateiniſch Clypeus genannt.
Kannſt du mir ein Tier, ein berühmtes Tier nennen,
deſſen Name mit Schild — beginnt?“
„Ja.“
„Nun?“
„Ein Schildbürjer.“
„Unſinn! Ich meine natürlich die Schildkröte, la⸗
teiniſch Testudo geheißen. Dieſes Tier iſt kein Arma⸗
dill, ſondern eine Schildkröte und zwar eine Rieſen⸗
ſchildkröte von ganz außerordentlichen Dimenſionen ge⸗
weſen. Welch ein Glück, welch eine Wonne! Welch ein
Ruhm wartet meiner, wenn die Kunde durch die gelehr⸗
ten Kreiſe aller Länder geht, daß ich eine foſſile Rieſen⸗
ſchildkröte ausgegraben habe!“
„Wenn es wirklich eine iſt!“
„Jedenfalls. Ich werde es gleich unterſuchen.“
Er holte in ſeinem Hute Waſſer herbei und wuſch
mit Hilfe eines Graswiſches eine Stelle des Panzers rein.
„Siehſt du,“ rief er dann aus, „daß ich recht habe.
Dieſe Maſſe iſt nichts andres als Horn, ſtarkes, dickes
Horn. Dieſe konvexe Platte iſt nicht der Panzer eines
Gürteltieres, ſondern das Rückenſchild ejner Rieſen⸗
ſchildkröte, lateiniſch Chelonia Midas genannt.“
„Soll mir aufrichtig freuen, wenn nicht etwa wie⸗
der ein Irrtum vorliegt, ſo daß dat einſtige Jürteltier
und jetzige Schildkröte nachher der Abwechſlung wejen
für einen vorweltlichen Laubfroſch jehalten wird. Aber
haben die Schildkröten nicht zwei Schilde?“
— 180 —
„Ja, einen Rücken⸗ und einen Bauchſchild.“
„Dieſes Tier hat aber doch nur eins jehabt! Sollte
ſie dat andre verloren oder in der Lotterie verſpielt
haben?“ a
„Keinen dummen Witz, Fritze! Der Bruſtſchild
muß auch da ſein. Das Fleiſch, das zwiſchen bei⸗
den gelegen hat, iſt verweſt. Dadurch entſtand die
Höhle, die wir hier vor uns ſehen. Der Boden wird
jedenfalls von dem Bauchſchild gebildet. Wir werden es
ſofort finden, wenn wir den Lehm, welcher eingedrungen
iſt, wegräumen.“
„Dat leuchtet mich eher ein. Und wiſſen Sie, als
wir da drin hockten, habe ich jehört, daß der Boden hohl
klang.“
„Hohl? Wirklich? Siehſt du, Fritze, daß ich ganz
richtig vermute! Du haſt auf dem Bauchſchild geſtan⸗
den, und das klingt hohl, cavus auf lateiniſch. Wir
werden ihn ausgraben.“
„Aber nicht jetzt, ſondern nach dem Eſſen. Es iſt
Mittag jeworden, und wir müſſen etwas jenießen. Wir
haben ja Fiſche, die wir uns backen oder braten können.“
Der kleine Gelehrte war ſo entzückt über ſeinen
Fund, daß er keinen Hunger fühlte und von dieſer Ar⸗
beitspauſe gern abgeſehen hätte. Es fiel ihm auch gar
nicht ein, ſich an der Zubereitung der Fiſche zu beteili⸗
gen; er ſcharrte und kratzte vielmehr an der Schildkröten⸗
ſchale herum, klopfte fie an, um zu hören, was für einen
Ton ſie hatte, prüfte, ob der Boden unter ihr wirklich
hohl klang, was allerdings der Fall war, und kam erſt
dann zu den beiden andern, als die Fiſche zum Eſſen
fertig waren. Während ſie tüchtig zulangten, nahm er
ſich nur ein kleines Stück, ſprang, als er dieſes gegeſſen
hatte, wieder auf und ſagte: „Ich kann nicht eſſen; es
— 11 —
läßt mir keine Ruhe, bis ich auch den Bauchſchild gefun⸗
den habe. Der Magen, Ventriculus oder Stomachus
geheißen, iſt mir wie zugeſchnürt. Ich kann nicht
ſchlingen.“
„Dat iſt nicht jeſund,“ bemerkte Fritze. „Der
Menſch muß eſſen können. Wenn ick mir über was
freue, eſſe ick doppelt.“
„Iſt's denn ein Wunder? Ein ſolcher Fund iſt ge⸗
radezu großartig und ſteht ganz einzig da. Man freut
ſich, daß man ſich kaum zu faſſen weiß, und hat doch
ſchwere Sorge, lateiniſch Cura genannt, dabei.“
„Dat begreife ick nicht. Mir hat noch keine Kröte
Sorje jemacht. Um wat ſorjen Sie ſich denn?!“?
„Um verſchiedenes. Vor allen Dingen um den
Namen, den ich ihr geben muß.“
„Den hat ſie ja ſchon. Sie wird ja Schildkröte
jenannt. Oder iſt dat nicht ihr rechtmäßiger Name?“
„Es iſt der deutſche Name. Ich muß ihr aber
einen wiſſenſchaftlichen, einen lateiniſchen Namen geben!“
„Und dat macht Ihnen Sorje? So werde ick
Ibnen helfen. Dieſer wiſſenſchaftliche Name fol ſofort
jefunden werden. Wie heißt Schildkröte auf lateiniſch?“
„Testudo. Aber es gibt Arten, welche wiſſenſchaft⸗
lich mit Cistudo, Emys, Chelyd ra, Trionychida,
Sphargis und Chelonia bezeichnet werden. Chelonia
Midas zum Beiſpiel iſt die Rieſenſchildkröte.“
„So haben Sie ja den jeſuchten Namen. Eine
Rieſenſchildkröte iſt's ja, die wir jefunden haben.“
„Richtig! Aber ich darf ſie doch nicht ſo nennen,
da mit Chelonia Midas die jetzt noch lebenden gemeint
ſind; unſre aber iſt eine vorſintflutliche und viel, viel
größer als die heute noch exiſtierenden.“
— 12 —
„Dat iſt wahr. Sie ift ein wahrer Goliath, ein
richtiger Gigant, und — —“
„Halt, halt!“ unterbrach ihn der Gelehrte. „Ich
hab's, ich hab's! Du haſt es eben geſagt. Du biſt ein
ganz tüchtiger Kerl, Fritze! Gigant und Chelonia! Das
gibt eine ganz ausgezeichnete Zuſammenſetzung. Ich
werde dieſes rieſige Tier Gigantochelonia nennen.
Vielleicht fügt man fpäter, um mich als den Entdecker zu
feiern, noch meinen Namen bei, was ich der gebotenen
Beſcheidenheit wegen heute nicht tun will. Ja, ja, dieſe
foſſile Rieſenſchildkröte wird Gigantochelonia genannt.
Ich werde den Namen ſofort notieren und dazu den
wichtigen Tag, an dem ich a unvergleichlichen Fund
gemacht habe.“
Er zog ſein Notizbuch hervor und trug den Namen
ein. Fritze aber meinte kopfſchüttelnd: „Dieſe jelehrten
Herren find doch ſonderbare Individuummers! Ob-_
jleich der ſchönſte deutſche Name vorhanden tft, muß doch
ein lateiniſcher jefucht werden. Dieſes Tier iſt jedenfalls
zu Noahs Zeit ins Diluvium jeraten; darum würde ick
ſie einfach Rieſen⸗Noah⸗Kröte nennen. Dat würde für
jedermann ſofort verſtändlich ſein. Schade nur, daß dat
Fleiſch nicht mehr vorhanden iſt! Wie viel Turtle⸗
ſuppen könnte man da machen!“
„Ja, bedenkt man, wie weit die beiden Schilder
voneinander liegen, ſo kann man ſich einen Begriff da⸗
von machen, wie ſtark und dick das Tier geweſen iſt. Es
muß eine wahre Unmaſſe von Fleiſch, lateiniſch Caro
genannt, gehabt haben. Aber ihr ſeid nun endlich fertig
mit Eſſen. Beeilt euch nun! Wir müſſen den Bauch⸗
ſchild ausgraben. Ihr hackt alſo den Boden auf, wäh⸗
rend ich fortfahren werde, die obere Schale los zu
machen.“
— 183 —
Fritze ſtieg mit Don Parmeſan wieder in die Höhle,
um der Anweiſung ſeines Herrn nachzukommen, wäh⸗
rend dieſer oben die begonnene Arbeit fortſetzte. Er
war mit einem ſolchen Eifer dabei, daß er für nichts
andres Augen hatte und alſo auch nicht bemerkte, daß er
der Gegenſtand einer Beobachtung war, die für ihn u
ſeine Genoſſen leicht ſchlimme Folgen haben konnte.
Im Oſten von der Stelle, wo die drei mit ſo
großem Fleiße beſchäftigt waren, erſchien nämlich ein
Trupp von vielleicht fünfzig Reitern, deren Ziel allem
Anſchein nach das Waſſer war, in deſſen Nähe ſich der
Fundort der berühmten Gigantochelonia befand. Und
zugleich kamen im Süden fünf andre Reiter, die aber
noch ſo entfernt waren, daß man ſie nur als kleine, be⸗
wegliche Punkte zu erkennen vermochte.
Der erſtere Trupp befand ſich in größerer Nähe.
Er beſtand aus Indianern, bei denen ſich zwei Weiße
befanden. Die Roten waren mit Pfeil und Bogen, lan⸗
gen Lanzen und Blasrohren bewaffnet; ein einziger von
ihnen, der ihr Anführer zu ſein ſchien, hatte eine Flinte.
Die beiden Weißen waren wie Gauchos gekleidet und in
rot und blau geſtreifte Ponchos gehüllt. Als Waffen
führten fie Meſſer, Revolver und Doppelflinten bei ſich.
Der eine war Antonio Perillo, der Stierkämpfer aus
Buenos Aires, der andre aber jener ältere Mann, der
mit Perillo am Abend nach dem Stierkampf an der
Quinta des Bankiers den Vater Jaguar beobachtet hatte.
Sie kamen im Trab längs des Waldrandes daher⸗
geritten. Nahe genug herangekommen, erblickten ſie den
kleinen Gelehrten, der, ihnen den Rücken zukehrend, ganz
in ſeine Arbeit vertieft war. Die beiden Weißen ritten
mit dem Häuptling an der Spitze. Der ältere von ihnen
hob die Hand, um das Zeichen zum Halten zu geben,
7
N
parierte fein Pferd und ſagte, fih an den Häuptling
wendend: „Was iſt das! Wir ſind nicht allein! Dort
am Waſſer iſt ein Mann! Siehſt du ihn? Er hackt die
Erde auf.“
Der Rote blickte in die angedeutete Richtung und
antwortete in zwar gebrochenem, aber doch geläufigem
Spaniſch: „Hola, ein Weißer bei unſrer Quelle, bei
unſerm Escondite (Verſteck)! Er hat es entdeckt und
gräbt es auf. Vaya! Auf und hin zu ihm!“
Er wollte ſein Pferd antreiben; der Weiße aber er⸗
griff ſeinen Arm und ſagte: „Halt, nicht ſo eilig! Laß
uns ihn vorher beobachten. Er kann uns nicht entgehen.
Er iſt ja allein, ein einzelner.“
„Ob er allein iſt oder ob ſich viel bei ihm befinden,
das iſt mir gleich. Man nennt mich el Brazo valiente
(der ‚tapfere Arm‘); ich bin der Kriegshäuptling der
Abipones und fürchte mich vor keinem Feind.“ |
„Ich weiß es. Aber wir wollen doch erſt beobachten.
Wer mag dieſer Menſch ſein, und durch welchen Verrat
hat er Euer Almacen de polvora (Pulvermagazin)
entdeckt. Er iſt übrigens nicht allein hier; er hat Ge⸗
ſellſchaft bei ſich, denn ich zähle fünf Pferde, die dort am
Waſſer weiden.“
„Quedo — ftill!” rief da Antonio Perillo. „Er iſt
von kleiner Geſtalt und ganz rot gekleidet. Sollte es
möglich ſein? Wenn mich meine Augen nicht trügen,
ſo machen wir einen höchſt wichtigen Fang. Es iſt der
Oberſt, der ſich in Buenos Aires für einen deutſchen
Gelehrten ausgab!“
„Demonio! Iſt's wahr?“ fragte der ältere von
Perillos Begleitern.
„Ich möchte es beſchwören. Jetzt haben wir den
Beweis, daß ich mich in ihm nicht irrte! Wie käme ein
harmloſer deutſcher Bücherwurm an die geheime Pul⸗
verkammer, die wir für unſre roten Verbündeten an⸗
legten, damit ſie im Augenblick des Losſchlagens die
nötige Munition beſitzen? Es iſt der Oberſt Glotino,
dieſer Schurke, der ſich über alle unſre Wege ſchleicht.
In Buenos Aires traf ihn unſre Kugel nicht; hier aber
ſoll ſie ihn nicht fehlen!“
Er zog den Revolver drohend aus dem Gürtel.
„Still!“ beruhigte ihn fein älterer Gefährte. „Keine
Uebereilung! Wir dürfen ihn nicht töten; er muß uns
ſagen, was er in dieſer Gegend will und wie er zur
Kenntnis unſres Verſtecks gelangt iſt. Schießen wir ihn
nieder, ſo ſind wir ihn los, ja; aber behalten wir ihn
lebend in unſern Händen, ſo haben wir in ihm eine
Geiſel, die uns vom größten Vorteil werden kann. Und
wer kommt da drüben? Sind das nicht Reiter?“
| Er deutete nach Süden, wo die fünf Punkte indeſſen
größer und deutlicher geworden waren. Die Blicke der
andern richteten ſich dorthin. Antonio Perillo antwor⸗
tete: „Das kann kein andrer als der Hauptmann Pellejo
fein, mit dem wir hier zuſammentreffen wollten. Unſre
Liſt iſt alſo gelungen. Er hat den Auftrag erhalten, die
Grenze zu inſpizieren, er, unſer Kumpan! Man beſtellt
den Bock zum Gärtner. Wir bekommen ſomit die
Grenze und alle Niederlaſſungen am Fluſſe in die Hand.
Dadurch ſind unſern roten Verbündeten, wenn der
Augenblick des Handelns kommt, ſämtliche Einfallspfor⸗
ten geöffnet. Er iſt's gewiß, ganz gewiß. Ich denke,
wir überlaſſen es nicht ihm, den Kerl dort zu fangen,
ſondern tun das ſelbſt, noch ehe er herangekommen iſt.
Seht, der Halunke fteint hinab ins Magazin! Das iſt
der letzte Augenblick. Wir umzingeln die Stelle. Vor⸗
— 186 —
wärts! Einige ſetzen ſich augenblicklich in den Beſitz der
Pferde; dann gibt es kein Entrinnen für den Schurken.“
Der Trupp ſetzte ſich in raſche Bewegung gegen
das Pulvermagazin, das Doktor Morgenſtern für den
Einbettungsort eines vorweltlichen Tieres gehalten hatte.
Fritze hatte mit dem Chirurgen den Lehm, der den
Boden der Höhle bildete, aufgegraben. Jeder Hieb oder
Stoß, den die beiden taten, war von einem dumpfen
Ton begleitet, ein Beweis, daß es unter dieſem Boden
einen zweiten hohlen Raum gab. Als ſie ungefähr einen
Fuß tief gekommen waren, ſtießen ſie zu ihrem Er⸗
ſtaunen auf ſtarke Hölzer, aus abgeſchnittenen Aeſten ge⸗
bildet, welche nebeneinander gelegt waren und die Trä⸗
ger des Lehmbodens bildeten. Sie zogen mehrere der⸗
ſelben heraus, und ſo entſtand eine große Oeffnung,
durch die ſie hinabblicken konnten. Sie ſahen da unter
ſich eine weit größere Höhle, als die obere geweſen war.
Da ſtanden oder lagen viele kleine, ſorgfältig in ge⸗
harztes Leder gehüllte Fäſſer und längliche, ebenſo gegen
die Feuchtigkeit geſchützte Pakete. Fritz kniete nieder,
um eins der letzteren herauszulangen; es war ſchwer,
ſo daß der Chirurg ihm helfen mußte. Als ſie es oben
hatten, zerſchnitt Fritze die Riemen, mit denen es zu⸗
ſammengebunden war; es enthielt — Gewehre, ſehr
wohlerhaltene Gewehre.
„Welche Ueberraſchung!“ rief er aus. „Das ſind
ja Flinten! So ſteht zu erwarten, daß die Fäſſer Pulver
und Blei enthalten!“ Und in deutſcher Sprache fort⸗
fahrend, rief er dem draußen haſtig arbeitenden Privat⸗
gelehrten zu: „Herr Doktor, kommen Sie doch mal
herein! Wir haben etwas ſehr Kurioſes jefunden.“
„Etwas Kurioſes?“ fragte der Angerufene. „Der
Bauchſchild einer Gigantochelonia iſt etwas ſehr Wich⸗
— 187 —
tiges, ſehr Intereſſantes, aber doch nichts Kurioſes.
Habt ihr ihn?“
„Den Schild leider nicht, ſondern eine janz andre
Art von Armatur. Haben Sie doch die Jewogenheit,
verehrter Herr Doktor, uns mit Ihrem jütigen Beſuche
zu bejlücken!“
Morgenſtern legte die Hacke weg und folgte der Auf⸗
forderung. Das war der Augenblick, wo Antonio Pe⸗
rillo ſagte: „Seht, der Halunke ſteigt hinab ins Ma⸗
gazin!“
„Schauen Sie her!“ meinte Fritze. „Es hat vor
der Sintflut auch ſchon Pulver und Flinten jegeben.
Dieſe Entdeckung jeht doch wohl noch über Ihre Giganto-
chelonia.”
Der kleine Gelehrte machte ein ganz unbeſchreib⸗
liches Geſicht. Sein Mund ſtand offen; ſeine Augen
öffneten ſich, ſo weit es möglich war, und ſeine Brauen
ſtiegen hoch empor.
„Flinten? Flinten?“ ſtotterte er. „Ja, wahrhaf⸗
tig, Flinten! Es iſt gewiß, daß es weder im Silurium
oder gar vorher, noch in der nächſtfolgenden Zeit Schieß⸗
gewehre gegeben hat. Wenn dieſe Waffen ſich hier unter
dem Rückenſchild meiner Gigantochelonia vorfinden, ſo
ſind ſie von menſchlichen Individuen, die höchſtwahr⸗
ſcheinlich der geſchichtlichen Zeit angehören, hergebracht
worden. Dieſe Menſchen haben keine zoopaläontologi⸗
ſchen Kenntniſſe gehabt, ſonſt hätten fie erkennen müſ⸗
ſen, daß ſie ihre nachſintflutlichen Waffen an einen vor⸗
ſintflutlichen Ort brachten, deſſen Bedeutung für die
Verhältniſſe urweltlicher —“
Er kam nicht weiter. Nahendes, ſtarkes Pferdege⸗
trappel brachte ihn aus der Urwelt in die Gegenwart
— 188 —
zurück. Laute Stimmen ertönten, und als er den Kopf
aus dem Loch ſteckte, um zu ſehen, was draußen vorgehe,
ſah er, daß mehrere Indianer die Pferde ergriffen und
andre die Waffen, die er und ſeine Begleiter abgelegt
hatten, an ſich nahmen. Zwei Weiße hielten ihm ihre
Revolver entgegen, und einer von ihnen rief ihm in ge⸗
bieteriſchem Ton zu: „Kommen Sie mit Ihren Ge⸗
noſſen heraus, Senor! Wir haben ein Wörtchen mit
Ihnen zu reden.“ ö
„Antonio Perillo!“ rief der Gelehrte aus, der den
Sprechenden erkannte.
„Ja, ich bin es. Gehorchen Sie, und kommen Sie
ſchnell, ſonſt zwingen Sie uns, Gewalt anzuwenden.“
„Der Gewalt bedarf es nicht. Ich habe ein gutes
Gewiſſen und kann mich vor jedem Menſchen ſehen
laſſen.“
Er kam herausgeſtiegen und ſeine beiden Gefährten
folgten ihm. Als Perillo den Chirurgen erblickte, rief er
erſtaunt aus: „Der Carnicero! Senor, was tun Sie
denn hier in dieſer Geſellſchaft?“
„Ich führe die Herren nach dem Gran Chaco,“ ant⸗
wortete der Gefragte.
„Zu welchem Zweck?“
„Um Tiere auszugraben.“
„Tiere? Ausgraben? Was denn für welche?“
„Vorſintflutliche Urtiere.“
„Das laſſen Sie ſich weismachen? Senor Parme⸗
ſan, ich habe Sie bisher als einen Menſchen gekannt,
der zwar ſeine Schrullen hat, ſonſt aber ungefährlich
iſt und ganz beſonders ſich niemals mit Politik befaßt.
Heute aber lerne ich anders von Ihnen denken!“
„Politik? Was geht mich dieſe an! Ich bin Chirurg
und habe vollſtändig genug an meiner Wiſſenſchaft. Sie
— 189 —
wiſſen ja, es iſt mir keine Operation und kein Schnitt zu
ſchwierig; ich ſäble alles herunter.“
„Diesmal aber ſcheinen Sie unter Säbel nicht Ihr
Operiermeſſer, ſondern einen wirklichen Degen zu ver⸗
ſtehen. Sie wiſſen doch, daß Ihre Begleiter politiſch
höchſt verdächtige, ja ſogar gefährliche Menſchen ſind?“
„Gefährliche Menſchen? Das iſt nicht wahr. Dieſe
Senores find gelehrte Leute aus Deutſchland; fie wollen
Rieſentiere ausgraben; mit der Politik aber haben ſie
nichts zu tun.“
„Wenn das wirklich Ihre Ueberzeugung iſt, ſo ſind
Sie von ihnen getäuſcht worden. Wir aber wiſſen
beſſer, woran wir mit ihnen ſind. Glücklicherweiſe iſt
die Rolle dieſer ehrenwerten Señores jetzt ausgeſpielt, da
wir ſie hier bei dem Diebſtahl ertappt haben.“
„Diebſtahl?“ fuhr da Fritze auf. „Wir find keine
Diebe, wohl aber können wir Sie eines Verbrechens
zeihen, das noch ſchlimmer als Diebſtahl iſt.“
„So?“ lachte Perillo höhniſch auf. „Welches Ver⸗
brechen meinen Sie denn?“
„Den Mord. Sie haben in Buenos Aires meinen
Herrn zu erſchießen verſucht!“
„So? Es dürfte Ihnen ſchwer werden, dies zu be⸗
weiſen; wohl aber werden wir Ihnen den Beweis
führen, daß Sie ſich in Dinge eingelaſſen haben, wodurch
Ihr Kopf in die größte Gefahr gebracht wird. Ich er⸗
kläre Ihnen beiden, daß Sie unſre Gefangenen ſind.“
„Dazu haben Sie kein Recht. Oder gehören Sie
etwa zur Polizei?“ Ä
„Das geht Sie nichts an! Uebrigens gehört Ihre
Angelegenheit nicht vor das Zivil⸗ ſondern vor das
Kriegsgericht. Man wird Sie ſtandrechtlich erſchießen.
— 190 —
Hier kommt der Offizier, der Sie ins Verhör nehmen
wird.“ | |
Er deutete auf die fünf Reiter, die jetzt von Süden
her am Platz angekommen waren, vier Kavalleriſten,
angeführt von dem Hauptmann, der Morgenſtern und
Fritze in Santa Js erſt bewirtet und dann fortgewieſen
hatte. Dieſer ſprang vom Pferde, nickte den Indianern
zu, reichte dem Stierkämpfer wie einem alten Freunde
die Hand und gab ſie dann auch dem Begleiter dieſes
letzteren, indem er ſich ſehr höflich verbeugte und in bei⸗
nahe ehrerbietigem Ton ſagte: „Viel Ehre für mich,
El gambusino maestro, den berühmteſten Gambuſino
(Goldſucher) des Landes wiederzuſehen! Sie bemerken,
daß ich Wort gehalten und mich zur rechten Zeit einge⸗
ſtellt habe. Aber welche Menſchen finde ich bei Ihnen?
Da iſt ja der famoſe Deutſche, den ich wegen ſeiner
großen Aehnlichkeit für den Oberſten Glotino hielt und
dann —“
„Hielt? Nur hielt?“ unterbrach ihn der Angere⸗
dete, der bis jetzt noch nicht geſprochen hatte. „Laſſen
Sie ſich durch die Verkleidung nicht irre machen! Er
iſt es wirklich. Wo haben Sie ihn geſehen?“
Kapitän Pellejo erzählte kurz die Begegnung in
Santa %6, worauf der als Gambuſino bezeichnete achſel⸗
zuckend meinte: „Da haben Sie ja den Beweis, daß wir
es mit dem richtigen Glotino zu tun haben. In Buenos
Aires logierte er bei dem Bankier Salido, der als An⸗
hänger des Generals Mitre bekannt iſt; in Santa Js
geht er nach dem Cuartel, um deſſen Beſatzung zu kon⸗
trollieren, und dann reitet er direkt hierher, um unſer
Magazin auszunehmen. Er wird uns zu ſagen haben,
wer ihm deſſen Lage verraten hat.“
— 191 —
„Mir hat niemand etwas verraten,“ bemerkte da
der kleine, rote Gelehrte. „Ich heiße Morgenſtern und
bin aus Deutſchland. Wir wollen nach dem Gran
Chaco, um vorweltliche Tiere auszugraben, und hier,
wo wir Lager machten, entdeckte ich zufällig, lateiniſch
fortuito, die obere Schale einer vorſintflutlichen Rieſen⸗
ſchildkröte, der ich den Namen Gigantochelonia gegeben
habe.“
„Die Schale einer Schildkröte? Wo iſt ſie denn?“
„Hier doch,“ antwortete der Kleine, indem er auf
den vermeintlichen Panzer zeigte. „Sie werden doch zu⸗
geben, daß wir es hier mit dem Rückenſchild einer Rie⸗
ſenſchildkröte zu tun haben!“
„Herr, halten Sie uns nicht für verrückt!“ fuhr der
Gambuſino auf. „Sie wiſſen ſehr genau, in welcher
Weiſe man derartige heimliche Magazine anlegt und
daß man die Waffen und das Pulver dadurch vor der
Feuchtigkeit ſchützt, daß man dem Verſteck eine mit Harz
durchtränkte Lehmdecke gibt. Halten Sie uns etwa für
ſo dumm, zu glauben, daß Sie eine ſolche Decke für den
Panzer einer Schildkröte angeſehen haben?“
„Aber, Senor, das iſt ja wirklich der Fall! Die
Annahme, daß dies eine durchharzte Lehmdecke ſei, beruht
auf einem gewaltigen Irrtum. Ich bin Kenner und
gebe Ihnen die Verſicherung, daß wir es mit den Ueber⸗
reſten einer ganz einzig daſtehenden zoopaläontologi⸗
ſchen Exiſtenz zu tun haben. Darauf können Sie ſich
verlaſſen, lateiniſch durch kidus ausgedrückt.“
„Verſtellen Sie ſich doch nicht auf eine ſo lächer⸗
liche Weiſe! Wir werden Ihnen ein Latein vorſagen,
das Sie wohl ſchwerlich nachſprechen können. Senor
Kapitän, bemächtigen Sie ſich dieſer beiden ſogenannten
Deutſchen! Der Carnicero iſt ungefährlich; ihn wollen
— 192 —
wir laufen laſſen, da er, wenn wir ihn bei uns be⸗
hielten, uns nur hinderlich ſein würde. Er mag ſein
Pferd und ſeine Waffen nehmen und reiten, wohin es
ihm beliebt.“ a
Nichts konnte dem Chirurgen lieber ſein als dieſe
Entſcheidung. Er ſattelte ſchnell ſein Pferd, nahm ſeine
Flinte und ſtieg auf, um davonzureiten. Aber wohin?
„Eine tolle Geſchichte!“ brummte er in den Bart.
„Dieſer deutſche Knochenſucher ſoll der Oberſt Glotino
ſein. Fällt ihm gar nicht ein! Er hat das Waffen⸗
verſteck wirklich für das Lager eines uralten Tieres ge⸗
halten. Dieſe Kerls, die uns überraſchten, wollen ſich
mit den Indianern verbinden, um ſich gegen die Re⸗
gierung zu empören. Sie ſind Halunken. Sie ſprachen
davon, den Deutſchen töten zu wollen. Er iſt ein guter
Menſch, und ich möchte ihn retten. Ich muß ver⸗
ſuchen, den Vater Jaguar zu finden!“
Sechſtes Kapitel
Der Letzte der Inkas
Ungefähr zwanzig Kilometer im Norden von der
Stelle, wo ſich das ſoeben Erzählte ereignete, liegt jen⸗
ſeits des Rio Salado die Laguna Toſtado. Der ſchon
erwähnte Monte impenetrabile, d. i. undurchdring⸗
liche Wald, ſchickt ſeine Ausläufer bis an das Ufer der
Lagune. Er dehnt ſich längs des Rio Salado in nord⸗
weſtlicher Richtung aus und iſt nur da zu durchqueren,
wo durch irgend welche Einflüſſe oder Zufälle eine na⸗
türliche Oeffnung entſtanden iſt. Dieſe Oeffnungen
bilden die Ausfallspforten, durch welche die Indianer
des Chaco ihre Raubzüge in das bewohnte Land unter⸗
nehmen.
Am Nachmittag desſelben Tages ſchritten zwei Per⸗
ſonen langſam und wie ſuchend an dem Rand des Wal⸗
des hin. Die eine, welche voranſchritt, war ein ſehr
alter Mann, deſſen Geſicht ſo viele Falten und Fältchen
hatte, daß man ſie nicht zu zählen vermochte. Er ſchien
nur aus Haut und Knochen zu beſtehen, doch waren
ſeine Bewegungen ſo kräftig und ſicher, daß man ihn
für viel jünger hätte halten mögen, als er wirklich war.
Seine Kleidung beſtand aus einer langen Hoſe von
weichgegerbtem Leder und einem kurzen Hemd aus dem⸗
May, Das Vermächtnis des Inka 13
— 194 —
ſelben Stoff. Das letztere wurde über den Hüften von
einem ſchmalen Gürtel zuſammengehalten, worin ein
Meſſer ſteckte. Die Füße trugen niedrige, ſandalenar⸗
tige Schuhe, denen man es anſah, daß er ſie wohl ſelbſt
gefertigt hatte. Ein über der Schulter hängender Rie⸗
men hielt ein großes Pulverhorn, einen ledernen Blei⸗
beutel und eine eiſerne Kugelform. Den Kopf trug der
Alte unbedeckt oder vielmehr nur bedeckt von dem dich⸗
ten, langen, wie Silber glänzenden Haar, das wie eine
Mähne hinten bis zum Gürtel herniederhing. Von
einem Bart aber war keine Spur zu ſehen. Auf dem
Rücken trug er eine Art Jagdtaſche, die aus dem Fell
eines Silberlöwen gefertigt war, und in der Hand ein
ſtarkes, einläufiges Gewehr.
Die andre Perſon war ganz genau ſo gekleidet und
bewaffnet wie dieſer Mann, trug eine ganz gleiche Taſche
auf dem Rücken und das Haar auch lang bis auf den
Gürtel hinab, war ihm aber in andrer Beziehung um
fo: mehr unähnlich. Dieſer andre war nämlich ein
Jüngling, der kaum achtzehn Jahre zählen mochte, nicht
lang, aber ſtark und unterſetzt gebaut und von einer
auffallenden Gewandtheit in ſeinen Bewegungen. Sein
Haar beſaß die tiefſte Schwärze; ſein Geſicht war jugend⸗
lich friſch und vom Gehen jetzt leicht gerötet. Man
mußte ihn ebenſo wie den Alten für einen Indianer
halten, und doch hätte man aus einigen Anzeichen ſchlie⸗
ßen mögen, daß er kein ſolcher ſei. Seine dunklen
Augen ſtanden nicht ſchief gegeneinander; die Backen⸗
knochen traten nicht hervor; die Lippen waren fein, und
die kleine Naſe hatte keineswegs die aufgeworfene Ge⸗
ſtalt, die den Naſen der Indianer Südamerikas eigen
iſt; ſie beſaß vielmehr eine edle Form, ſie war ſchmal und
leicht gekrümmt. Sein Geſicht war zwar jetzt von der
— 195 —
Sonne verbrannt, hatte aber jedenfalls urſprünglich
eine viel hellere als die gewöhnliche Indianerfarbe.
Beide ſchritten zwiſchen dem Waſſer der Lagune und
dem Waldesrand hin, um den letzteren mit ſcharfen
Augen zu muſtern. Da erhob der Jüngling die Hand,
deutete vor ſich hin und ſagte im Kaltſchakidialekte der
Ketſchuaſprache: „Schau, Anciano, dort ſcheint der
Baum zu ſtehen. Ich weiß genau, daß es ein Ombu
von dieſer Größe war.“
Aus dem Umſtand, daß der junge Mann ſich dieſer
Sprache bediente, war mit Sicherheit zu ſchließen, daß
ſeine Heimat nicht in dieſer Gegend zu ſuchen ſei. Der
QOmbu (Phytolacca dioeca) iſt ein mächtiger Baum,
deſſen Blätter mit denjenigen des Maulbeerbaums große
Aehnlichkeit haben. Das merkwürdigſte an ihm iſt ſein
Stamm, ein dicker Holzkörper vom Umfang einer mäch⸗
tigen Eiche, der ſich nach unten ſchnell ausdehnt und in
gewaltige Wurzeläſte teilt, die in Windungen eine
Strecke über der Erde fortlaufen und erſt dann in den
Boden eindringen. Auf dieſe Wurzeln ſetzt man ſich,
wenn man den Schatten benutzen will, den die weit aus⸗
gebreitete Krone ſpendet. Aber dieſer koloſſale Stamm
hat ein ſo lockeres Holz, daß es, wenn man hineinſtößt,
wie Zunder bricht. Darum iſt der Ombu zu nichts zu
gebrauchen, denn ſein Holz iſt nicht einmal zum Ver⸗
brennen tauglich. Man pflanzt ihn nur an, um einen
Schattenſpender zu haben.
„Du kannſt recht haben, o Herr,“ antwortete der
Alte in derſelben Sprache. „Der Ombu, unter den wir
unſre Sachen vergruben, ehe wir die Gegenden der Spa⸗
nier beſuchten, hatte ganz dieſelbe Geſtalt wie dieſer.
Laß uns nachſehen!“
— 196 —
Der Alte nannte den Jungen „Herr“, bei In⸗
dianern ein ganz und gar unmöglicher Brauch. Dieſe
beiden Perſonen ſchienen in einem ganz eigentümlichen
Verhältnis zu einander zu ſtehen. Sie ſchritten auf den
Ombu zu, blieben darunter halten und legten ihre
Taſchen und Gewehre ab. Dann unterſuchte der Alte
den Boden. Auf eine Stelle deutend, wo das Gras im
Wachſen zurückgeblieben war, ſagte er: „Du haſt richtig
vermutet, Herr. Wir ſind an Ort und Stelle. Weil
wir damals den Raſen hier aufgruben, hat dem Graſe
die Ernährung gefehlt. Ich werde ſuchen. Hoffentlich
hat niemand dieſen Ort entdeckt.“
Er kniete nieder und zog das Meſſer, um die Erde
aufzugraben. Der Jüngling wollte das gleiche tun;
der Alte aber bat: „Laß ab, o Herr! Du biſt zum
Herrſchen geſchaffen, nicht aber zu dieſer Arbeit eines
Untergebenen.“ |
„Und dennoch helfe ich dir, lieber Anciano. Du
weißt ja, ich tue es gern, denn du biſt alt, und ich bin
jung.“ n
Aber Anciano ſchob ihn mit dem Arm ſanft zurück
und antwortete: „Alt? Ich bin noch nicht alt. Ich
zähle erſt ein einziges über hundert Jahre; meine Vor⸗
fahren aber ſind viel, viel älter geworden.“
Während der Alte emſig grub, fuhr er fort: „Ja,
weit über hundert Jahre! Mein Vater zählte hundert⸗
zehn, mein Großvater hundertelf und deſſen Vater gar
hundertzwanzig. Und deſſen Vorgänger war es, der
deine Urahnen. aus der Hand der Spanier rettete, als
ſie den großen Inka Atahualpa ermordeten und ſeine
ganze Familie ausrotten wollten. Haukaropora hieß
dieſer dein göttlicher Vorfahre, und denſelben Namen
haſt du auch erhalten. Er war der jüngſte Sohn von
— 197 —
Atahualpa und in der Ferne geboren, ſo daß Pizarro,
der Mörder, nichts von ſeinem Daſein wußte. Unſer
großes Reich wurde zerſtört, mit dem Schwert und dem
Feuer, durch Liſt, Betrug und Verrat. Man meint, die
Inkas ſeien ausgeſtorben, aber du lebſt, der letzte der
Sonnenſöhne, und es wird die Zeit kommen, wo du die
Spanier beſtrafen und dein Reich zurückerobern wirſt.“
Haukaropora hatte ſich in das Gras geſtreckt und,
den Kopf in die Hand geſtützt, den Worten des Alten zu⸗
gehört. Sein Geſicht hatte einen tief wehmütigen, ja
melancholiſchen Ausdruck angenommen. Er ſeufzte auf
und ſagte, als Anciano jetzt ſchwieg: „Das haſt du mir
ſchon ſo oft geſagt, aber ich glaube es nicht. Ich glaube
dir alles, alles, nur dieſes nicht.“
„Wie? Du glaubſt nicht, daß du ein Inka, ein
Sohn der Sonne biſt?“ fragte der Alte erſtaunt.
„Das glaube ich, denn du haſt es mir bewieſen,
und ich ſelbſt fühle in mir etwas ganz Unbeſchreibliches,
was mir ſagt, daß ich nicht ſo bin wie andre. Aber, daß
das Reich meiner Ahnen wieder erſtehen könne, das
glaube ich nicht.“
Da richtete ſich der Alte aus ſeiner gebückten Hal⸗
tung auf und antwortete in feierlichem Ton: „Du ſollſt
und mußt es aber glauben, denn es gibt eine Gerechtig⸗
keit, welche jede Sünde, jede Miſſetat beſtraft und dem
Unſchuldigen das wiedergibt, was ihm genommen
wurde. Du wirſt das Reich deiner Väter wieder auf⸗
richten; ich ſage es dir, und mein Wort iſt immer wie
ein Schwur. Kein Menſch ahnt, wer du biſt, denn wir
haben es geheim gehalten. Nur wenn wir allein ſind,
bedienen wir uns der Sprache unſrer Ahnen und ich
nenne dich Herr. Wenn andre bei uns ſind, bin ich ein
armer Indianer, und du biſt mein Enkelſohn. Es wird
*
— 18 —
aber die Stunde ſchlagen, wo dieſes Geheimnis gelüftet
wird.“
„Aber ohne Erfolg, mein Vater! Ich hatte Luſt,
die Länder und Städte der Spanier kennen zu lernen,
und du haſt mich aus meiner Einſamkeit genommen
und nach Oſten geführt. Ich habe dieſe Städte, dieſe
Pampas und ihre Bewohner geſehen, und nun wir
zurückkehren, weiß ich, daß unſre Hoffnungen ſich nie er⸗
füllen werden.“
„Nie? Warum?“
„Weil ſie zu mächtig und liſtig ſind und wir keine
Mittel beſitzen, den Kampf mit ihnen ſiegreich aufzuneh⸗
men und auszuhalten.“
„Mächtig und liſtig!“ lachte der Alte rauh auf.
„Sie betätigen ihre Macht, indem ſie ſich untereinander
zerfleiſchen. Und ihre Liſt iſt nichts als Heimtücke, die
den eigenen Herrn vernichtet. Steht nicht das Land in
immerwährender Empörung? Warte noch eine kleine
Weile, dann wird man ſich nach dem Erlöſer ſehnen,
und der wirſt du ſein, o Herr.“
„Woher ſoll ich Soldaten nehmen, um zu ſiegen?“
„Alle roten Männer werden mit dir ſein!“
„Und woher das Geld, das ein Heerführer haben
muß? Die Völker der Roten ſind alle arm.“
„Aber du biſt reich, reich wie kein andrer!“
„Ich? Reich?“ fragte der Jüngling in ungläubi⸗
gem Tone.
„Ja reich, unendlich reich,“ antwortete der Alte.
Und indem er mit der flachen Hand auf ſeine Silber⸗
löwentaſche ſchlug, fuhr er fort: „Hier trage ich das
Vermächtnis des Inka, deſſen rechtmäßiger und einziger
Erbe du biſt. Seit dem Tode deines Vaters habe ich es
bei mir herumgetragen, und zu ſeiner Zeit wird es von
— 19 —
mir geöffnet werden. Doch ſchau, o Herr, die Grube ift
geöffnet, und unſre Waffen kommen zum Vorſchein.“
Er hatte die Erde ausgeworfen und nahm die Ge⸗
genſtände, die das Loch enthielt, heraus. Es waren zwei
lederne Köcher, mit Pfeilen gefüllt, zwei lange Lanzen
und zwei Bogen, von denen der eine ganz aus durch⸗
ſichtigem Horn beſtand und von fremder, eigenartiger
Arbeit war. Zuletzt brachte er noch einen Streitkolben
heraus, der eine ſchwarze Farbe hatte und aus gefirniß⸗
tem Eiſen zu ſein ſchien. Jeder erhielt einen Speer,
einen Köcher und einen Bogen; der des jungen Inka war
derjenige von Horn, welcher eine Länge von beinahe
drei Ellen hatte. Dazu bekam er den Streitkolben, den
er ſich an den Gürtel hing, und zwar an der linken
Seite, an der Stelle, wo man den Säbel zu tragen
pflegt. Die Art und Weiſe, wie er dabei mit dem Kol⸗
ben hantierte, ließ vermuten, daß dieſer von bedeuten⸗
dem Gewicht ſei.
Der Alte hatte ſich erhoben, nickte dem Jüngling
ernſt zu und ſagte: „Dieſer Bogen und der Human⸗
tſchuay ſind die einzigen Gegenſtände, die von den Söhnen
der Sonne auf dich übergegangen ſind. Halte ſie lieb
und wert, o Herr! Du glaubteſt vorhin, du ſeiſt arm;
darum will ich dir etwas ſagen, was ich dir bisher ver⸗
ſchwiegen habe. Im Heere der Sonnenſöhne trug jeder
Obere, auch der Inka, außer den andern Waffen auch
einen ſchweren, zackigen Streitkolben, Humantſchuay ge⸗
nannt. Die gewöhnlichen Kämpfer hatten Streitäxte
aus Bronze; der Streitkolben der Heerführer war aus
Silber, derjenige des Inka aber aus purem, reinem
Gold. Dieſer Humantſchuay, der hier an deiner Seite
hängt, war die Waffe eines Inka; er beſteht aus ge⸗
diegenem Gold.“
— 200 —
„Aus Gold?“ fragte der Jüngling erſtaunt, indem
er den Kolben aufnahm und betrachtete. „Er iſt ja
ſchwarz wie Eiſen!“
„Weil er einen dünnen Ueberzug aus Lack beſitzt.
Eine goldſchimmernde Waffe darfſt du jetzt nicht ſehen
laſſen. Später aber wird ſie in deiner ſtarken Hand
deinen Kriegern voranleuchten. Sie iſt bei der Flucht
deines Ahnen gerettet worden.“
„Mag er von Gold ſein,“ meinte der Jüngling
kopfſchüttelnd, „dieſer Streitkolben; er wird jetzt keinem
Feind mehr gefährlich. Man hat ganz andre Waffen
als damals. Was ſind tauſend Streitkolben gegen fünf⸗
zig Flinten oder eine einzige Kanone! Seit du drüben
in Montevideo dieſe beiden Flinten gekauft haſt, weiß
ich, wie ſchwach unſre bisherigen Waffen waren.“
„Das glaube nicht! Der Klang des Pulvers
verrät dich deinem Feind; der Pfeil aber iſt verſchwiegen.
Du töteſt mit ihm viele, bevor man erkennt, wo du dich
befindeſt. Jetzt aber komm, o Herr, damit wir bis zum
Abend ein Waſſer erreichen, wo wir unſern Durſt zu
ſtillen vermögen!“
Sie hatten, ehe ſie vor Monaten die Wildnis ver⸗
ließen, ihre Waffen außer den Meſſern hier vergraben
und ſie jetzt wieder hervorgeholt. Da ſie es nicht für
nötig fanden, das Loch wieder zuzufüllen, ließen ſie es
offen und nahmen ihre vorhin unterbrochene Wanderung
wieder auf. Pferde beſaßen ſie nicht; ſie kehrten zu Fuß
in ihre ferne Heimat zurück.
„Die Lagune verlaſſend, wanderten fie am Waldes⸗
rand hin. Sie hatten viel zu tragen, was aber auf die
Schnelligkeit ihrer Schritte von gar keinem Einfluß war.
Der über hundert Jahre alte Greis ſchritt rüſtig wie ein
junger, dreißigjähriger Mann neben feinem Begleiter
— 201 —
her. Er war von dieſem Anciano genannt worden, ein
ſpaniſches Wort, welches der Alte, der Hochbetagte, der
Greis bedeutet. Es iſt übrigens bekannt, daß man bei
den Indianern der Cordilleren oft Perſonen findet, die
über hundert Jahre zählen.
Da, wo die beiden jetzt gingen, entfernte ſich der
Wald vom Fluſſe, ſo daß zwiſchen beiden ein ziemlich
breiter Campo blieb, in deſſen niedrigem Graſe leicht zu
gehen war. Sie ſuchten ſich eine der erwähnten natür⸗
lichen Oeffnungen im Walde, um eine andre Richtung
einzuſchlagen. Nach ungefähr einer Stunde gelangten
ſie an eine ſolche, die gerade nordwärts durch den Wald
zu führen ſchien. Sie war ſchmal, höchſtens vierzig
Schritte breit. Sie folgten ihr. 2
Noch aber waren fie nicht weit vorwärts gekom⸗
men, als der Inka, der doch ſchärfere Augen als der
Alte hatte, dieſen plötzlich am Arm faßte und ihn ſchnell
ſeitwärts unter die Bäume zog.
„Was iſt's? Was gibt's?“ fragte Anciano. „Haſt
du etwas geſehen? Vielleicht ein Tier, das wir ſchießen
können, um friſches Fleiſch zu erhalten?
„Nicht nur ein Tier, ſondern viele habe ich geſehen,“
antwortete der Gefragte. „Ich ſah gerade vor uns in
der Lichtung Pferde und Menſchen.“
„Wer könnte das ſein? Was wollen die hier? Wie
viele waren es?“ |
„Das kann ich nicht ſagen, da ich fie nur einen
Augenblick lang ſah und dann mich hier verſtecken
mußte.“
„Das haſt du klug gemacht, o Herr. Wir befinden
uns hier im Gebiete der Abipones; da können wir nicht
vorſichtig genug ſein. Was taten ſie? Ritten ſie vor
uns her oder auf uns zu?“ |
— 202 —
„Sie ritten nicht, ſondern ſie lagerten.“
„Dann werde ich mich eee um ſie zu be⸗
obachten.“
„Laß mich das tun, lieber Anciano! Es iſt zu ge⸗
fährlich, und du biſt ſo alt.“
„Ich bin nicht zu alt, du aber biſt zu jung dazu.
Und wie könnte ich dich, Herr, einer ſolchen Gefahr über⸗
antworten!“
„So gehen wir beide!“
„Nein. Einer genügt; aber zwei ſind zu viel.“
Sie ſtritten ſich eine kurze Zeit, da jeder die Gefahr
auf ſich nehmen wollte; aber der Alte ſetzte in aller Liebe
ſeinen Willen durch und entfernte ſich. Es dauerte wohl
eine halbe Stunde, bevor er zurückkehrte; dann kam er
geſchlichen und meldete: „Es ſind wirklich Abipones.
Ich zählte fünfzig Pferde und ebenſoviele Leute.“
„Woher mögen dieſe Menſchen die Pferde haben?“
„Geſtohlen natürlich.“
„Wie waren ſie bewaffnet?“
„Mit Lanzen, Bogen, Pfeilen und Blasrohren.“
„So haben ſie Giftpfeile bei ſich und man muß ſich
in acht nehmen. Was tun wir. Können wir vorüber?“
„Nein. Die Oeffnung des Waldes iſt zu ſchmal.“
„So ſchleichen wir unter den Bäumen an ihnen
vorbei.“ |
„Auch das geht nicht. Der Wald iſt undurchdring⸗
lich. Die Schlingpflanzen bilden eine dichte Maſſe,
durch die man nicht gelangen kann. Schon jetzt war es
mir unmöglich, wenigſtens am Saume hin mich ſo weit
anzuſchleichen, daß ich die Leute genau zählen konnte.“
„So können wir alſo gar nicht weiter vorwärts?“
„Nein. Wir müſſen zurück und uns eine andre
Oeffnung des Waldes ſuchen. Komm, o Herr!“
— 208 —
Sie gingen zurück, bis ſie den Campo wieder er⸗
reichten, und ſchritten dann in der vorigen Richtung am
Walde hin. Dieſer machte nach einiger Zeit einen Bo⸗
gen nach Norden, den ſie dadurch abſchnitten, daß ſie die
dadurch entſtehende halbkreisförmige Prärie gerades⸗
wegs überſchritten. Die erſte Hälfte des Nachmittags
war vergangen, und die Sonne neigte ſich ſtark dem weſt⸗
lichen Horizont entgegen.
Während ſie über dieſe offene Prärie marſchierten,
erblickten ſie plötzlich links von ſich, alſo im Süden und
dem Fluſſe zu, einen einzelnen Reiter, der in geſtrecktem
Galopp näher kam. Und zu gleicher Zeit bemerkten ſie
vor ſich im Graſe eine dunkle Linie, eine breite Spur,
die nach Nordweſt führte, und welcher dieſer Reiter zu
folgen ſchien. Sie blieben überlegend ſtehen.
„Was tun wir?“ fragte der Inka. „Weichen wir
ihm aus?“
„Das iſt unmöglich,“ meinte der Alte. „Er iſt
ſchneller als wir und würde uns einholen. Uebrigens
brauchen wir uns vor einem einzelnen Mann doch nicht
zu fürchten.“
„Auch nicht, wenn er zu den Abipones gehört?“
„Auch dann nicht; denn ehe er ſie herbeiholen
könnte, wären wir ſchon weit fort. Uebrigens glaube
ich zu ſehen, daß er ein Weißer iſt.“
Der Reiter hatte natürlich auch ſie geſehen und kam
auf ſie zu. Bei ihnen angekommen, hielt er ſein Pferd
an, grüßte und fragte in ſpaniſcher Sprache: „Darf ich
erfahren, Seßores, woher Sie kommen?“
„Wir kommen vom Parana her,“ antwortete An⸗
ciano höflich in derſelben Sprache.
„Und wohin wollen Sie?“
„Durch den Gran Chaco hinauf in die Berge.“
— 204 —
„Wer ſind Sie?“ ö
„Wir ſind Indianer, die zu keiner Partei gehören
und mit den Weißen in Frieden leben.“
„Das freut mich. Ich bin Doktor Parmeſan Rui
el Iberia de Sargunna y Caſtelguardianta.“
„Ein ſehr langer und wohl auch ſehr vornehmer
Name, Senor, nicht?“
„Ja. Ich ſtamme aus Altkaſtilien, wo meine
Ahnen auf Burgen und Schlöſſern wohnten. Aber da
Sie durch den Chaco und nach den Bergen wollen, ſo
fällt mir ein — — gehören Sie etwa zur Geſellſchaft
des Vater Jaguar?“
„Des Vater Jaguar? Iſt dieſer berühmte Mann
denn hier?“
„Allerdings. Ich ſuche ihn. Ich glaube, die
Fährte, die Sie da vor ſich ſehen, iſt die ſeinige. Alſo
Sie gehören nicht zu ihm?“
„Nein; aber wir würden uns ſehr freuen, wenn
wir ihn treffen könnten; denn er würde uns gewiß er⸗
lauben, uns ihm anzuſchließen. Alſo Sie meinen, daß
dies ſeine Spur iſt?“
„Ja. Wir hatten ſeine Fährte ſchon einmal, ritten
aber nicht auf ihr fort, weil wir bei einem vorweltlichen
Tiere halten blieben. Dann als ich die Fährte brauchte,
war ſie verſchwunden. Nachher aber erreichte ich eine
Stelle, wo der Vater Jaguar Halt gemacht haben muß,
und von da aus iſt die Spur wieder zu ſehen?“
„So bitten wir, ihr mit Ihnen folgen zu können!“
„Gern, wenn Sie nicht zu langſam gehen. Ich
habe nämlich Eile.“
„Wir gehen ſchnell.“
„So kommen Sie!”
— 205 —
Er ritt in ziemlich ſchnellem Schritt weiter, und ſie
waren ſo gute Läufer, daß es ihnen nicht ſchwer wurde,
ſich an ſeiner Seite zu halten. Dabei meinte er, ſie
noch genauer als bisher betrachten: „Sie kennen
meinen Namen und meine edle Abſtammung, Seüores.
Darf ich nun auch wiſſen, wie ich Sie zu nennen habe?“
„Ich heiße Anciano, und der Name meines Enkel⸗
ſohnes iſt Haukaropora. Wem dieſer Name zu lang iſt,
der pflegt gewöhnlich nur Hauka zu ſagen.“
„Das werde auch ich tun, denn es findet da eine
Amputation der letzten drei Silben ſtatt, und ich liebe
ſolche Operationen. Ich bin nämlich Chirurg. Was
ſagen Sie zu einer operativen Entfernung der Knie⸗
ſcheibe? Wird der Patient dann noch gehen können?“
„Wohl ſchwerlich, Senor.“
„Schwerlich? Sehr leicht ſogar, Senor Anciano.
Man muß es nur richtig zu machen verſtehen. Ein
Schnitt zur rechten Zeit und in der richtigen Weiſe. Mir
würde er ſicher gelingen, denn ich ſäble bekanntlich alles
herunter!“
Der Alte ſtrich ſich das lange Haar aus der Stirn
und ſah den Sprecher mit einer gewiſſen Befangenheit
an, da er nicht wußte, was er von deſſen Worten denken
und darauf antworten ſolle. Der Chirurg bemerkte das
und fragte: „Sie glauben es vielleicht nicht? O, ich
habe Operationen ausgeführt, bei denen es eine wahre
Wonne war, die Knochenſäge arbeiten zu hören! Was
halten Sie vom Klumpfuß? Iſt er durch eine Opera⸗
tion zu heilen?“ |
„Das kann ich leider nicht ſagen, Senor.“
„Nicht Seüor, ſondern Don! Ein folder Edel⸗
mann, wie ich, wird Don genannt. Sagen Sie alſo ein⸗
— 206 —
fach Don Parmeſan. Wie es ſcheint, kennen Euer Gna⸗
den den Vater Jaguar?“
„Ja; ich habe ihn nicht nur ſchon geſehen, ſondern
auch mit ihm geſprochen.“
„Das iſt mir lieb! Ich lerne alſo in Ihnen einen
Bekannten von ihm kennen. Glauben Sie, daß er bereit
fein wird, zwei deutſche Senores zu retten?“
„Deutſche? Was iſt das?“
„Leute aus Deutſchland.“
„Das kenne ich nicht.“
„Da ſcheint es mit Ihren geographiſchen Kennt⸗
niſſen ſchlecht zu ſtehen, Seüor Anciano. Deutſchland
iſt ein Land, das jenſeits des Meeres liegt, weſtlich von
Spanien, nördlich von Rußland, öſtlich von England
und ſüdlich von Italien. Da haben Sie ſeine Grenzen.
Die Leute dort ſind des Teufels darauf, Rieſentiere aus⸗
zugraben. Bei einem ſolchen Geſchäft ſind wir von den
Abipones erwiſcht worden.“
„Von den Abipones? Wo war das?“
„Jenſeits des Rio Salado, aber diesſeits der La⸗
guna Porongos.“
„Auch dort waren Abipones? Seltſam! Wie
viele?“
„Vielleicht fünfzig.“
„Gerade ſo viele, wie auch wir geſehen haben.“
„Wo?“
„Da hinter uns im Walde.“
„Das iſt kein gutes Zeichen. Sollten dieſe Kerls
etwa einen Einfall planen? Ich wünſche ſehr, den
Vater Jaguar zu finden, damit der lateiniſche Deutſche
und ſein Diener baldigſt gerettet werden.“
Er erzählte den beiden in ſeiner Weiſe das erlebte
Abenteuer. Dabei gelangten ſie wieder in den Wald
— 207 —
und wurden von der Fährte, der ſie folgten, an deſſen
Saum hingeführt, bis er eine kleine Bucht bildete, vor
der ſie überraſcht halten blieben, denn auf ihr graſten
wohl über zwanzig Pferde, und ebenſo viele Männer
lagen in den verſchiedenſten Gruppierungen umher. Sie
waren wohlbewaffnet und alle, ohne Ausnahme, ganz
und gar in Leder gekleidet. Als ſie die Ankömmlinge er⸗
blickten, ſprangen ſie auf, und einer, der von rieſiger
Geſtalt war und einen dichten, weißen Bart trug, kam
auf ſie zu.
„Das iſt der Vater Jaguar,“ flüſterte Anciano dem
Chirurgen zu.
Der Genannte bildete heute eine ganz andre Er⸗
ſcheinung als in Buenos Aires. Dort hatte er einen
feinen Anzug nach franzöſiſchem Schnitt getragen und
auch ſchon ſo einem jeden mit ſeiner gewaltigen Figur
imponiert. Hier aber in dem Lederanzug und in den
langen Stiefeln ſah er noch ganz anders aus. Es war,
als ob die Geſtalt gar nicht ohne dieſes Gewand geſehen
werden dürfe. Er nahm zunächſt keine Notiz von dem
Chirurgen, ſondern wendete ſich an deſſen Begleiter und
rief ſichtlich erfreut, indem er ihnen die Hände entgegen⸗
ſtreckte: „Anciano und Hauka! Hier unten im Chaco!
Was hat denn euch bewogen, von euren Bergen herab⸗
zuſteigen, und welcher Zufall führt euch gerade heut an
dieſen Ort?“
Sie drückten ihm die Hände, und Anciano antwor⸗
tete: „Davon ſpäter, Seüor. Es gibt Notwendigeres zu
beſprechen. Sie ſollen zwei gefangene Männer retten.“
„Wie? Zwei Gefangene retten? Das klingt ja
ſehr nach Abenteuer! Wer ſind die Leute?“
„Don Parmeſan wird es Ihnen ſagen.“
— 208 —
Der Vater Jaguar wendete ſich jetzt dem Genann⸗
ten zu. Seine Augenwinkel zogen ſich ein wenig miß⸗
mutig zuſammen, als er zu ihm ſagte: „Don Parme⸗
ſan? Dieſen Namen habe ich ſchon gehört, und ich
denke, Sie äuch ſchon geſehen zu haben. Werden Sie
nicht zuweilen El Carnicero genannt?“
„Allerdings,“ antwortete der Gefragte; „aber ich
dulde es nicht, daß man mir dieſen Namen gibt. Ich
bin der Doktor Parmeſan Rui el Iberio de Sargunna
y Caſt — — — —“ |
„Schon gut!“ unterbrach ihn der Vater Jaguar.
„Sie wollen mir ſagen, wer die Männer ſind, die meiner
Hilfe bedürfen?“
„Es find zwei deutſche Senores.“
„Deutſche? Iſt's möglich?“
„Ja. Sie wollten Ihnen nach, um im Chaco alte
Tiere auszugraben.“
„Alte Tiere? Meinen Sie etwa vorweltliche?“
fragte der Rieſe, indem er die Brauen in mißmutiger
Erwartung höher zog. ö
„Ja, vorweltliche; das ſtimmt. Es war eine Gi-
gantochelonia.“
„Dieſen Namen habe ich noch nicht gehört; mein
Latein ſagt mir aber, daß es ſich wahrſcheinlich um eine
Rieſenſchildkröte handelt.“ |
„Richtig, Senor! Bei der Schale der Kröte war
es, wo wir erwiſcht wurden.“
„Wie hießen dieſe Deutſchen?“
„Der Kuckuck kann ſich ſolche Namen merken!
Einer war Doktor und der andre ſein Diener.“
„Doktor Morgenſtern?“
„Ja, ja, ſo klang es.“
„Und Fritze Kieſewetter?“
— 209 —
„Ganz recht, ganz recht! Kieſe — — war'',
Kieſe — —'
„Welche Menſchen! Ich glaube, die ſind mir von
Buenos Aires bis hierher nachgelaufen!“
„Das nicht; aber per Dampfer nachgefahren und
dann von Santa Js aus nachgeritten. Dieſer Doktor
Mor — Mor — oder wie er heißt, iſt ein ganz lieber
Senor, hat aber feine Schrullen. Er will nur von
ſeinen Tierknochen hören und iſt auf nichts andres zu
bringen. Mit der Chirurgie zum Beiſpiel darf man
ihm gar nicht kommen, und das iſt doch das intereffan-
teſte Feld, das es nur geben kann. Was ſagen Sie wohl
zu einer Operation des Zungenkrebſes in Komplikation
mit Naſenpolypen. Das müßte doch ein — — —“
„Laſſen wir den Krebs und die Polypen!“ fiel ihm
der Vater Jaguar in die Rede. „Erzählen Sie mir in
Kürze, was geſchehen iſt!“
Der Chirurg gehorchte dieſer Aufforderung. Wäh⸗
rend er ſprach, traten die Gefährten des Vater Jaguar
herzu, um ihm zuzuhören. Es waren lauter kräftige
Geſtalten, denen man es anſah, daß ſie ſchon manches
erlebt hatten und wohl vor keiner Anſtrengung und
keiner Gefahr zurückſchreckten. Die drei, die mit ihm in
Buenos Aires geweſen waren, befanden ſich auch dabei.
Auch ſie machten jetzt einen ganz andern Eindruck als
damals, wo ſie im Geſellſchaftsanzug ſteckten. Als Don
Parmeſan ſeinen Bericht beendet hatte, trat zunächſt
tiefe Stille ein. Keiner wollte reden, bevor der An⸗
führer das Wort ergriffen hatte. Dieſer ſah eine kleine
Weile nachdenklich vor ſich nieder und fragte dann, ſich
direkt an einen ſeiner Gefährten wendend: „Was meinſt
du dazu, Geronimo? Haſt du dir die Sache ſchon zu⸗
rechtgelegt?“
May, Das Vermächtnis des Inka | 14
— 210 —
Dieſer Geronimo war ein nicht zu hoher, aber ſehr
breitſchulteriger Mann mit dichtem ſchwarzem Vollbart
und einer bedeutenden Habichtsnaſe. Er hätte für das
Urbild eines Räuberhauptmanns genommen werden
können, war aber ein ſehr ehrlicher Kerl und der Lieb⸗
ling des Vater Jaguar. Er zuckte leicht die Achſel und
antwortete: „Zunächſt kommt es wohl darauf an, ob
du denkſt, daß wir dieſe unvorſichtigen Leute ſtecken
laſſen ſollen oder nicht.“
„Sie müſſen heraus aus der Falle, in die fie ge⸗
raten ſind. Sie ſind Landsleute von mir. Ich habe
dieſem Doktor Morgenſtern wohl fünfzigmal geſagt, daß
ich ihn nicht mitnehme, und konnte unmöglich ahnen,
daß er mir dennoch folgen werde. Eine kleine Strafe
könnte ihm nichts ſchaden; aber befreien muß ich ihn,
ſonſt kann ihm ſeine Aehnlichkeit mit dem Oberſten, den
ich noch nie geſehen, verhängnisvoll werden.“
„So fragt es ſich, ob ſich die Abipones noch dort be⸗
finden. Wäre dies der Fall, ſo ritten wir einfach hin.“
„Sie ſind wohl nicht mehr dort,“ fiel der alte An⸗
ciano ein. „Die Señores müſſen mir verzeihen, wenn ich
mir dieſe Bemerkung erlaube. Ich habe Gründe dazu.“
Er erzählte von den Abipones, die er geſehen hatte,
und beſchrieb die Stelle, wo er an ſie geſchlichen war.
„Befanden ſich Weiße bei ihnen?“ fragte der Vater
Jaguar.
„Nein.“
„Dennoch möchte ich überzeugt ſein, daß die beiden
Indianertrupps zuſammengehören. Es handelt ſich
ſehr wahrſcheinlich um ein Pronunciamiento. Die Abi⸗
pones ſollen aufgewiegelt werden. Man hat Verſtecke
— 211 —
angelegt, um fie genügend bewaffnen zu können. Die
Schutzdecke eines ſolchen Magazins hat der Doktor für
das Rückenſchild ſeiner wunderbaren Gigantochelonia
gehalten. Selbſt wenn man ſich überzeugt, daß er nicht
der Oberſt iſt, hat er ſo viel geſehen und erfahren, daß
man ſich leicht veranlaßt ſehen kann, ihn ſchweigſam zu
machen. Hier zu Lande gilt ein Menſchenleben nichts,
und das eines Ausländers noch weniger als dasjenige
eines Inländers. Und alſo Antonio Perillo war dabei?
Dieſer Stierkämpfer und notoriſche Schurke iſt alſo auch
mit in die Revolte verwickelt. Ich habe ein Wort mit
ihm zu reden. Der Hauptmann Pellejo iſt ein Ver⸗
räter. Und der Dritte? Wer war er? Wie wurde er
genannt?“
„Wie er heißt, das weiß ich nicht, denn ſein Name
blieb verſchwiegen,“ antwortete der Chirurg.
„Beſchreiben Sie ihn mir.“
„Er war von langer und ſtarker Geſtalt, wenn auch
nicht jo ſehr wie Sie, Seüor Jaguar.“
„Alt oder jung?“
„Aelter als die andern.“
„Welche Rolle ſchien er zu ſpielen? Diejenige eines
Untergebenen?“
„Nein, ganz und gar nicht. Er ſchien vielmehr der
Vornehmſte von allen zu ſein. Er ſprach ſo, als ob er
es ſei, der zu befehlen habe.“
„Was er iſt, ein Offizier, ein Eſtanziero, ein
Gaucho, das konnten Sie wohl nicht erraten?“
„Nein. Er ſah ganz wie einer aus, der ſich ſtets
im Freien bewegt, wie ein Yerbatero, ein Cascarillero
oder ein Sambuf — — —”
— 212 —
Er hielt inne und beſann ſich wie einer, dem etwas
Wichtiges einfällt.
„Nun, was iſt's? Warum ſchweigen Sie? Wollten
Sie Gambuſino ſagen?“
„Ja, ja, Gambuſino. Da fällt mir doch noch ein,
daß er von dem Kapitän der größte Gambuſino genannt
wurde.“
„Der größte Gambuſino!“ fiel da Geronimo ein.
„Sollte es etwa gar Benito Pajaro ſein, den man El
gambusino maestro nennt?“
„Möglich,“ antwortete der Vater Jaguar. „Ich
bin dieſem Mann noch nicht begegnet, habe aber gehört,
daß er von langer und ſtarker Geſtalt iſt. Nun, jeden⸗
falls werden wir erfahren, mit wem wir es zu tun
haben, denn ich bin ſehr entſchloſſen, dieſen Senores
einen Strich durch ihre Rechnung zu machen. Sie
wollen ſich gegen Mitre empören, einen General, den ich
achte und ſehr wertſchätze. Schon deshalb möchte ich ein
Wort mit ihnen reden. Dazu kommt, daß ſie ſich an
meinen Landsleuten vergriffen haben. Ich hoffe, ihr
ſeid mit von der Partie und werdet mich nicht im Stich
laſſen!“ |
„Nein, nein; das verſteht ſich ganz von ſelbſt!“ rief
es im Kreiſe.
„So will ich euch ſagen, wie ich mir die Sache
denke. Die beiden Trupps gehören zuſammen. Die In⸗
dianer, welche die Deutſchen gefangen genommen haben,
werden den andern Trupp aufſuchen, und zwar höchſt⸗
wahrſcheinlich noch heute. Sie werden alle da lagern,
wo dieſer unſer Senor Anciano die Roten beobachtet
hat, und die Gefangenen befinden ſich natürlich bei
— 213 —
ihnen. Wir reiten jetzt hin und kommen dort an, wenn
es Abend geworden iſt. Die Waldesöffnung wird trotz
der Dunkelheit zu finden ſein, und dann werden uns die
Lagerfeuer als Führer dienen. Was wir tun werden,
um die Gefangenen zu befreien, weiß ich jetzt noch nicht;
aber wenn ich mich an ſie geſchlichen und ſie beobachtet
habe, wird ſich leicht ergeben, in welcher Weiſe wir zu
handeln haben. Alſo auf, zu den Pferden!”
Siebentes Kapitel
Eine nächtliche Befreiung
Die Sonne berührte ſchon den Horizont, als die
Männer ihre Pferde ſattelten. Anciano und Hauka
waren zu Fuß gekommen; ſie mußten alſo hinter zwei
andern Reitern aufſteigen. Anton, der Neffe des Ban⸗
kiers, hatte ſofort eine Zuneigung zu dem jungen, hüb⸗
ſchen Inka gewonnen; er kam zu ihm und ſagte in der
höflichen ſpaniſchen Weiſe: „Senor, Sie werden ge⸗
zwungen ſein, zu zweien zu reiten. Darf ich Ihnen
einen Sitz bei mir anbieten?“
Ueber das ernſte Geſicht des Inka, auf dem ge⸗
wöhnlich der den ſüdlichen Indianern eigentümliche
wehmütige Zug zu beobachten war, glitt ein freund⸗
liches, dankbares Lächeln, und er antwortete: „Ich
werde Ihnen beſchwerlich fallen, Seüor, nehme aber Ihr
Anerbieten an. Vielleicht iſt es mir möglich, Ihnen
einen andern Dienſt zu erweiſen. Ich heiße Hauka; wie
darf ich Sie nennen?“
„Mein Name iſt Antonio. Sie werden mir nicht
läſtig fallen; ich freue mich im Gegenteil darauf, mit
Ihnen reiten zu dürfen. Sie werden wohl beſſer zu
Pferde ſitzen als ich; e bitte ich Sie, mir den Sattel
zu überlaſſen.“
— 215 —
Er ftieg auf, und Hauka ſprang hinter ihm flink
auf das Pferd. Anciano leiſtete einem der andern Reiter
Geſellſchaft. Dann ging der Ritt an dem Rande des
Waldes hin, ganz denſelben Weg zurück, den die beiden
gekommen waren. Die Sonne ſenkte ſich hinter dem
Horizont hinab, und der kurzen Dämmerung folgte der
Abend.
Der alte Anciano ritt mit ſeinem Sattelgefährten
neben dem Vater Jaguar voran. Ihnen folgten Anton
Engelhardt und der junge Inka mit Geronimo, dem
Liebling des Vaters Jaguar. Man bemühte ſich, alles
Geräuſch zu vermeiden, und da der Boden weich und
graſig war, ſo drang der Hufſchlag nicht weit, und es
war nur hie und da das Schnauben eines Pferdes zu
vernehmen. So ging es weiter und weiter, bis Anciano
halten blieb und den Inka in ſpaniſcher Sprache, ſo daß
die andern es verſtehen konnten, mit unterdrückter
Stimme fragte: „Ich denke, wir müſſen den Einſchnitt
ſofort erreichen. Was meinſt du, mein Sohn?“
„Eben wollte ich dich darauf aufmerkſam machen,
mein Vater,“ antwortete der Gefragte. „Ich ſehe trotz
des Dunkels hier links einen hohen Laureliabaum, der
mir auffiel, als wir aus dem Einſchnitt kamen. Er iſt
nicht weit von dem letzteren entfernt.“
„So werden wir abſteigen und die Pferde etwas
zurückſchaffen müſſen. Ihr Schnauben könnte uns ver⸗
raten, denn wir wiſſen nicht, ob die zweite Truppe, bei
der ſich die Gefangenen befinden, ſchon da iſt oder erſt
noch ankommen wird.“
Dieſe Worte zeigten, daß der alte Indianer ein ſehr
um⸗ und vorſichtiger Mann war, und da der Vater Ja⸗
guar keine Einwendung machte, ſo ritten die Männer
eine kleine Strecke zurück und ftiegen dann ab, um ihre
— 216 —
Pferde an die den Waldesrand bildenden Bäume und
Sträucher zu binden. Während dies geſchah, hörte man
die zwar leiſe, aber doch allen vernehmliche Stimme des
Indianerknaben: „Still, Seüores, ich höre etwas.“
Keiner bewegte ſich. Der Inka lag auf der Erde,
das Ohr feſt auf dieſe gelegt.
„Es kommen Reiter,“ meldete er. „Sorgen Sie
dafür, daß unſre Pferde nicht ſchnauben!“
Jeder trat zu ſeinem Tier, um ihm die Nüſtern
mit der Hand zu bedecken. Ja, es kamen Reiter. Zu⸗
nächſt hörte man den im Graſe dumpf klingenden Huf⸗
ſchlag ihrer Pferde; ſodann vernahm man auch die
Stimmen derer von ihnen, die miteinander ſprachen.
Sie kamen von rechts, vom Fluß her und ritten dem
Wald entgegen.
„Wirſt du uns richtig führen, Brazo valiente?“
hörte man jemand fragen. „Es iſt kein Vergnügen, des
Nachts eine ſchmale Lücke des Waldes zu ſuchen.“
„Das war Antonio Perillo,“ flüſterte der Vater
Jaguar ſeinem Geronimo zu. „Ich kenne ſeine Stimme.“
„Ich kenne jeden Pferdeſchritt in dieſer Gegend,“
antwortete ein zweiter in gebrochenem, aber deutlichem
Spaniſch. „Wir ſind genau in der Richtung. Eine
hohe Laurelia ſteht da, wo der Wald ſich trennt. Wir
müſſen ſie ſofort ſehen.“ |
Jetzt waren die Reiter jo nahe, daß fie, obgleich es
ziemlich finſter war, den Wald erkennen konnten.
„Da iſt das Holz,“ rief die zweite Stimme, „und
da iſt die Laurelia. Sie ſehen, daß ich die Richtung ge⸗
rade wie eine Schnur genommen habe. Einige Schritte
nach rechts, und wir werden auf den Einſchnitt treffen.“
Sie lenkten nach der angedeuteten Richtung ein und
waren dann nicht mehr zu ſehen und zu hören.
— 217 —
„Wie gut, daß wir nicht dort bei der Laurelia hal⸗
ten geblieben ſind!“ ſagte Geronimo. „Sie hätten uns
ertappt. Was tun wir jetzt?“
„Warten!“ antwortete der Vater Jaguar. „Wir
können nicht eher handeln, als bis der eine Trupp zu
dem andern geſtoßen iſt und ſie ſich alle gelagert haben.
Kannteſt du die zweite Stimme, die wir hörten?“
„Es war mir freilich ſo, als ob ich ſie ſchon einmal
vernommen hätte, aber ich weiß nicht, wo und von wem.“
„So will ich es dir ſagen. Der, welcher Antonio
Perillo antwortete und den Weg ſo genau kannte, war
El Brazo valiente, der tapfere Arm‘, der Häuptling
der Abipones.“
„Caramba! Das iſt wahr; jetzt beſinne ich mich.
Es war der tapfere Arm“. Wir haben doch ſchon einige
Male mit ihm geſprochen. Alſo er iſt es, der die
Deutſchen gefangen genommen hat! Er gibt ſie nicht
freiwillig heraus.“
„Nein. Früher waren wir mit ihm befreundet; da
hätte er ſie mir zuliebe losgelaſſen; jetzt aber wird es
ihm nicht einfallen, dies zu tun.“
„So zwingen wir ihn!“
„Zunächſt nicht zwingen, keine Gewalt anwenden.
Wozu Blut vergießen, wenn uns die Liſt viel leichter,
viel ſicherer und ohne alle Verluſte zum Ziel zu führen
vermag.“
„Du meinſt alſo, daß wir ſie heimlich herausholen
werden?“
„Wir werden wenigſtens den Verſuch machen. Es
kommt ganz auf die Oertlichkeit an und auf die Art und
Weiſe, wie ſie lagern.“
„Und wenn es uns gelingt? Was dann?“
„Dann reiten wir ruhig weiter.“
— 218 —
„So! Denkſt du nicht an das Pronunciamiento,
an die Revolution, welche ſie planen?“
„Die geht uns eigentlich nichts an!“
„O doch! Wir ſind gute und treue Untertanen
unſres Präſidenten. Wollen wir ruhig zufehen; daß er
abgeſetzt, vielleicht gar getötet wird?“
„Dazu kann es nicht kommen. Ich weiß zwar
nicht, wer an der Spitze dieſer Meuterer ſteht, keines⸗
falls aber iſt es ein Burſche, der es mit Mitre aufzu⸗
nehmen vermag.“
„Möglich, ſogar ſehr wahrſcheinlich; aber ſelbſt den
Fall geſetzt, daß die Empörung niedergedrückt wird, ſo
ſteht es doch feſt, daß ſie vielen, vielen Menſchen das
Leben und das Eigentum koſten wird. Alſo dürfen wir
uns nicht ſo heimlich davonſchleichen, ſondern wir müſ⸗
ſen dieſen Burſchen eine ſcharfe Lehre und eine nach⸗
drückliche Warnung geben.“
„Das kann doch nur dadurch geſchehen, daß wir
unſre Waffen brauchen?“
„Ja. Wir ſchießen einige von ihnen nieder.“
„Nein. Das tue ich nicht. Wenn es nicht unbe⸗
dingt notwendig iſt, töte ich keinen Menſchen.“
„Das iſt wieder eine jener Anſichten und Meinun⸗
gen, die du aus dem Norden mitgebracht haſt. Es tut
dir leid um die dortigen roten Völker, die ſo elendiglich
umkommen müſſen. In Beziehung auf ſie magſt du
recht haben, denn es iſt wirklich ſchade um die tapfern,
kühnen Männer, von denen du uns erzählt haſt. Aber
unſre ſüdlichen Indianer beſitzen dieſe Tugenden nicht;
fie ſind feig, mutlos und niederträchtig. Sie brechen
aus ihren Wäldern hervor, um nächtlicherweile zu ſteh⸗
len und die Schläfer zu ermorden. Finden ſie aber Ge⸗
genwehr oder werden fie gar ſelbſt angegriffen, fo
— 219 —
rennen fie davon wie geprügelte Hunde. Leute, die mit
vergifteten Pfeilen ſchießen, kann man weder achten
noch bemitleiden. Es juckt mich wirklich in den Händen,
ihnen zu zeigen, was es heißt, ſich mit dem Vater Ja⸗
guar und ſeinen Männern zu verfeinden.“
„Laß es jucken! Heute wollen wir froh ſein, wenn
es uns gelingt, die beiden unſchuldigen Menſchen frei
zu machen. Iſt das geſchehen, ſo wollen wir ſehen, was
weiter zu tun ſein wird.“
„Wie viele Leute nimmſt du mit?“
„Zunächſt nur dich. Die andern bleiben hier. Je
weniger wir ſind, deſto ſchwerer werden wir bemerkt.“
Obgleich dieſe Unterhaltung ſo laut geführt wor⸗
den war, daß alle dieſe letzte Beſtimmung zu hören ver⸗
mochten, fiel es doch keinem ein, ſich dagegen aufzu⸗
lehnen. Die Geſellſchaft hatte zwar kein eigentliches
Oberhaupt, und ein jeder beſaß dasſelbe Recht wie der
andre, aber die Perſönlichkeit des deutſchen Rieſen, der
nicht nur körperlich, ſondern auch geiſtig alle überragte,
brachte dennoch den Eindruck vor, daß jeder ihn ſchwei⸗
gend als den Führer, dem man Gehorſam ſchuldete, an⸗
erkannte.
Alſo ſeine Leute erklärten ſich durch ihr Schweigen
mit ſeinen Worten einverſtanden; aber ein andrer ſprach
dagegen, nämlich der alte Anciano. Er ſagte: „Senor,
warum wollen Sie allein gehen? Nehmen Sie mich
und meinen Enkelſohn mit! Sie kennen uns und
wiſſen, daß wir Ihnen keinen Schaden bereiten werden!“
Der Vater Jaguar ſchwieg eine Weile überlegend;
dann antwortete er: „Ja, ich kenne euch. Ihr verſteht
es, das wilde Lama zu beſchleichen und den Kondor faſt
auf ſeinem Neſte zu fangen. Zwar habe ich noch nicht
geſehen, ob Ihr es auch vermögt, Euch einem Menſchen
— 220 —
unbemerkt zu nähern, aber es iſt Nacht, und dieſe Abi⸗
pones ſind nicht ſo ſcharfſinnig wie die Sioux oder Apat⸗
ſchen und Komantſchen Nordamerikas. Sodann wißt ja
gerade ihr beide, wo dieſe Menſchen lagern. Alſo
wollen wir euch mitnehmen. Macht euch fertig!“
„Sollen wir unſre Flinten oder die Lanzen und
Pfeile mitnehmen?“
„Nur die Meſſer. Schießen werden wir nicht, und
zur Abwehr werden, falls uns einer anfällt, die Meſſer
genügen.“
Die beiden Indianer legten ihre Waffen und auch
die Silberlöwentaſchen ab, um ſich leichter und freier
bewegen zu können.
„Und euer langes Haar?“ meinte der Vater Ja⸗
guar. „Wir werden zwiſchen und unter den Sträu⸗
chern, Dornen und Schlingpflanzen hinkriechen müſſen.
Da bleibt ihr hängen.“
Statt aller Antwort nahm Anciano ſein langes,
graues Haar halb rechts und halb links nach vorn und
band es unter dem Kinn in einen Knoten zuſammen.
Der Inka tat mit dem ſeinigen ebenſo, und dann
brachen ſie auf.
Anciano ging voran. An der Laurelia angeloms
men, wendete er ſich nach links, wo der Einſchnitt den
Wald teilte. Indem ſie leiſe durch das Dunkel ſchritten,
flüſterte der Inka dem Vater Jaguar zu: „Senor, Sie
denken, daß es Ihnen gelingen wird, dieſe Männer zu
befreien?“
„Ja, wenn nicht jetzt durch Liſt, dann ſpäter mit
Gewalt.“ |
„Dann müſſen wir uns auch noch etwas andres
holen.“
„Was?“
— 221 —
„Pferde.“
„Dachte es, daß du das bringen würdeſt, du kleiner,
liſtiger Held. Wir brauchen vier Pferde.“
„Ja. Für Ihre beiden Landsleute, für Anciano
und für mich. Holen Sie mit Geronimo die Menſchen,
und ich nehme mit Anciano die Tiere!“
„Nicht ſo ſchnell! Jetzt läßt ſich eine ſolche Ein⸗
teilung noch nicht treffen. Wir müſſen uns nach den
Verhältniſſen richten, die wir vorfinden.“
Sie ſchritten unhörbar weiter. Nach einer Weile
tauchte Lichtſchein vor ihnen auf. Sie mußten nun
noch vorſichtiger als bisher ſein und hielten ſich ſo dicht
am Rande des Einſchnitts, daß ſie im Schatten der
Bäume unſichtbar blieben.
Es wurde bereits erwähnt, daß dieſer Einſchnitt
eine nur geringe Breite beſaß; aber da, woher der Licht⸗
ſchein kam, buchtete er ſich nach rechts aus und bildete
eine Art kleiner Waldwieſe, die von ſehr dicht ſtehenden
Bäumen und Sträuchern umgeben war. Am Eingang
zu dieſer Wieſe und im Hintergrund rechts weideten die
Pferde. Vorn links lagerten die Menſchen an einigen
Feuern, denn es war kühl geworden. Der Unterſchied
zwiſchen der Tages⸗ und Nachttemperatur beträgt in
jenen Gegenden oft bis zehn, ja ſogar zuweilen mehr
als zwanzig Grad nach Celſius.
Die vier Anſchleicher hatten ſich auf die Erde gelegt
und krochen auf Händen und Füßen näher; jetzt war
nicht mehr Anciano, ſondern der Vater Jaguar voran.
Ihre von Sonne, Wind und Wetter dunkel gegerbte
Kleidung ſtach nicht im mindeſten von ihrer Umgebung
ab; nur das lange, graue Haar des Alten hätte, wenn
man in Nordamerika und auf einer Streife gegen die
dortigen Indianer oder weißen Jäger geweſen wäre,
— 222 —
zum Verräter werden können; aber die Leute, mit denen
man es hier zu tun hatte, beſaßen nicht ſo ſcharfe Augen.
Jetzt hatte man die Einbuchtung erreicht. Das
nächſt graſende Pferd ſtand kaum ſechs Schritte von
dem Vater Jaguar entfernt. Es mußte die Fremden
ſehen oder wenigſtens riechen; es wedelte mit dem
Schwanze und warf die Ohren hin und her, gab aber
kein hörbares Zeichen der Unruhe, des Verdachts oder
gar der Warnung von ſich.
„Dumme Geſchöpfe!“ flüſterte der Deutſche Gero⸗
nimo zu. „Ein Komantſchenpferd würde ſo laut ſchnau⸗
ben und ſo auffällig zurückweichen, daß wir ſicher entdeckt
wären. Dennoch aber müßten dieſe Kerle es ſehen, daß
es den Schwanz und die Ohren in einer Weiſe bewegt,
die auf etwas Ungewöhnliches ſchließen läßt. Wir wer⸗
den leichtes Spiel haben.“
„Denke es auch,“ antwortete der andre. „Siehſt
du, wie es ſteht?“ er:
„Freilich! Die Feuer brennen ja fo hell, daß man
an jedem einen Ochſen braten könnte.“
Es war allerdings ſo hell, daß die kleine Lichtung
wie am Tage vor den acht ſcharf ausſchauenden Augen
lag. |
Die Abipones mochten gegen hundert Mann zäh⸗
len. Sie waren teils mit Blasrohren, Lanzen, Bogen
und Pfeilen, teils auch mit Gewehren bewaffnet. Dieſe
letzteren ſtammten jedenfalls aus dem Verſteck, wo Dok⸗
tor Morgenſtern feine berühmte Gigantochelonia ges
ſucht hatte. Es gab ſechs Feuer. An dem einen lagerten
die Weißen und ein Indianer, an den andern fünf die
übrigen Roten. Die erſteren ſaßen ſo, daß man die
Geſichter des Indianers, Antonio Perillos, des Haupt⸗
— 223 —
manns Pellejo und zweier Soldaten ſehen konnte. Die
andern zwei Soldaten kehrten den Lauſchern die Rücken
zu, und der Gambuſino ſaß nicht, ſondern er hatte ſich
niedergelegt und den Hut tief in das Geſicht gezogen,
um nicht von dem Schein der Feuer geblendet zu wer⸗
den. Diejenigen, die zu dem ſchon vorher hier lagernden
Trupp gehörten, mochten bereits gegeſſen haben; die
Neuangekommenen aber waren noch damit beſchäftigt,
das mitgebrachte harte Dürrfleiſch mühſam mit den
Zähnen zu zerkleinern. Dabei unterhielten ſie ſich ſo
laut, daß man jedes Wort hätte verſtehen können, wenn
nicht zu viele auf einmal geſprochen hätten.
Zufälligerweiſe war das Feuer, wo die Weißen la⸗
gerten, dasjenige, das dem Rande der Lichtung am
nächſten lag, und das hatte ſeinen guten Grund. An
dieſem Rand nämlich ſtanden zwei halbſtarke Bäume
nebeneinander, an die man Doktor Morgenſtern und
ſeinen Diener mit Hilfe zweier Laſſos gebunden hatte,
ſo daß ſie zwar aufrecht ſtanden, aber weder Arme noch
Beine bewegen konnten.
Als der Vater Jaguar dieſe Sachlage überblickt
hatte, gab er ſeinen drei Gefährten mit der Hand ein
Zeichen, ſich noch tiefer ins Gezweig zu drücken, drehte
ſich zu ihnen um, damit ſie ihn leichter verſtehen könn⸗
ten, und ſagte: „Es wird gehen; dieſe Leute haben
keine Ahnung davon, daß ein menſchliches Weſen ſich
hier in ihrer Nähe befinden könne. Es würden zwei
von uns genügen, die Gefangenen zu befreien, dennoch
iſt es gut, daß Anciano mit Hauka ſich uns angeſchloſſen
hat. Habt ihr Feuerzeug?“
„Ja, dasjenige, das bei uns gebräuchlich iſt.“
„Das genügt. Nun höre! Ich möchte die Leute
erſchrecken und verwirren. Du haſt alles abgelegt, An⸗
ciano, zu meiner Freude aber ſehe ich, daß du das Pul⸗
verhorn noch bei dir haſt. Iſt es leer?“
„Nein, Seüor, es iſt bis an die Spitze gefüllt.“
„Das iſt gut. Ihr kehrt um und geht, wenn ihr
aus dem Bereich des Feuerſcheins gelangt ſeid, auf die
andre Seite des Waldeinſchnitts und ſchleicht euch dann
wieder nach der Lichtung hin. Dort angekommen,
kriechſt du, Anciano, immer an deren Rande hin. Siehſt
du das abgeſtorbene, hohe, vorjährige Gras? Es iſt ſo
dürr, daß es wie Papier brennen wird. Biſt du weit genug
darin vorgedrungen, ſo ziehſt du dich wieder zurück und
ſchütteſt einen dünnen, aber zuſammenhängenden Strei⸗
fen Pulver in dieſes Gras. Iſt das Pulverhorn leer,
ſo nimmſt du ein Zündholz und brennſt das Gras an,
worauf du ſchnell zu Hauka eilſt. Dieſer hat indeſſen
vier Sättel zuſammengetragen, was ihm ſehr leicht ſein
wird, da fie da drüben alle, und zwar ohne Aufficht,
liegen. Wenn du Feuer machſt, mußt du deinen Rücken
den Feinden zukehren, damit — — —“
„Weiß ſchon, Seüor,“ unterbrach ihn der Alte.
„Ich werde keinen Fehler begehen. Wenn das kleine
Flämmchen die Pulverſchnur erreicht und daran weiter⸗
läuft, werde ich ſchon ſo weit fort ſein, daß ſie mich nicht
ſehen können und alſo gar nicht wiſſen, woher das Feuer
kommt, das plötzlich viele Schritte lang hoch empor⸗
lodern wird. Man wird hinzueilen, um es auszulöſchen.
Ich begreife Ihren Plan, Senor.“
„Ja. Während du das Pulver ſchütteſt und Hauka
die Sättel holt, wird Geronimo ſich um die Pferde be⸗
kümmern. Indeſſen ſchleiche ich mich zu den Bäumen
hin. Sobald dein Pulver Feuer fängt und das alte
Gras in Brand ſetzt, wird man, wie du richtig ſagſt, hin⸗
zueilen, um es auszulöſchen. Dieſen Augenblick der all⸗
— 225 —
gemeinen Verwirrung benutze ich, die zwei Gefangenen
loszuſchneiden. Wir kommen bierhergeſprungen;, jeder
nimmt einen Sattel und ein Pferd und — — —
„Und zwei nehmen die Pakete, die da drüben
liegen,“ fiel ihm der junge Inka in die Rede.
„Welche Pakete? Wozu?“ fragte der Vater Jaguar.
„Als der Mann, den Ihr den Carnicero nennt,
von der Gefangennahme ſeiner Gefährten erzählte, ſagte
er auch, daß der gelehrte kleine Mann ſeine Bücher und
andern Sachen in zwei Paketen bei ſich habe. Dort
liegen nun zwei Pakete, von denen ich vermute, daß ſie
die ſeinigen ſind, denn es gibt weiter kein Gepäck. Wenn
wir ihn befreien, ſoll er auch ſein Eigentum erhalten.“
„Falls wir Zeit dazu haben, dann meinetwegen ja,
obgleich ich es nicht für bequem halte, Bücher und ähn⸗
liche Sachen im Gran Chaco herumzuſchleppen. —
Nun gut! Es weiß alſo ein jeder, welche Aufgabe er zu
löſen hat. Gehen wir jetzt an das Werk.“
Er drehte ſich wieder um und kroch am Rande der
Lichtung weiter. Es war das keine leichte Arbeit, da er
dem bereits erwähnten Feuer ſo nahe kam, daß er, um
nicht von deſſen Schein beleuchtet zu werden, in das Ge⸗
büſch eindringen mußte, und dies war ſo dicht, daß er
nur höchſt langſam vorwärts kam.
Endlich hatte er ſein Ziel erreicht. Er lag hinter
den beiden Bäumen, vor denen der Doktor und ſein
Fritze angebunden ſtanden, und konnte hören, was an
dem Feuer geſprochen wurde. Was er vernahm, bezog
ſich auf das heutige Ereignis.
„Es war doch eigentlich ein Fehler, daß wir den
Sarnicero laufen ließen,“ ſagte Kapitän Pellejo. „Er
wird ſpäter alles erzählen.“
May, Das Vermächtnis des Inka 15
— 226 —
„Was ſchadet das?“ antwortete Antonio Perillo.
„Erſtens fragt es ſich, ob man ihm glaubt, und wenn
dies der Fall ſein ſollte, ſo mache ich mir gar nichts dar⸗
aus, wenn man mir nachrühmt, daß ich dieſen Colonel
Glotino unſchädlich gemacht habe.“
„Wenn unſer Vorhaben gelingt, ja; gelingt es aber
nicht, ſo wird das, was Sie jetzt einen Ruhm nennen,
eine Schande für uns werden.“
| „Es muß gelingen, denken Sie, daß unſer roter
Freund hier, der ſich den Ehrennamen Brazo Valiente
erworben hat, uns mehrere tauſend Abiponeskrieger ver⸗
ſpricht.“
„Ich habe ſie verſprochen und werde ſie bringen,“
erklärte da der Häuptling, „wenn auch Sie die Bedin⸗
gungen erfüllen, die ich Ihnen geſtellt habe.“
„Wir erfüllen ſie.“
„Sie zeigen mir alle Waffenverſtecke, die Sie ange⸗
legt haben, und ſchenken uns alles, was drinnen liegt?“
„Ja.“
„Und Sie unterſtützen mich jetzt gegen unſre Tod⸗
feinde, die Cambas, indem Sie Ihre Soldaten von der
Grenze holen und an dem Lago*) mit uns zuſammen⸗
treffen?“
„Gewiß! Ich habe ja einige meiner Leute ſchon
bis hinauf nach El Bracho geſchickt, um alle verfügbaren
Kräfte zuſammenzurufen.“
„Dann ſchlagen wir los, die Cambas ſind die
Freunde des weißen Regenten; ſie wiſſen, daß wir ſeine
Feinde ſind, und tun uns immerwährend Schaden.
Sind ſie gezüchtigt, und haben wir ihnen alles abge⸗
nommen, ſo ſind wir reich, alle andern Stämme werden
) See
— 227 —
zu uns eilen, und dann habe ich ſo viele Krieger bei⸗
ſammen, daß der weiße Regent vor mir erbeben wird. 9
Das Geſpräch ſtockte für kurze Zeit. 1
Was der Vater Jaguar da hörte, war für ihn, den
großen und erfahrenen Kenner aller Verhältniſſe des
Landes, höchſt wichtig. Gern hätte er noch mehr gehört;
aber er hatte keine Zeit, länger zu lauſchen, zumal er
nicht wußte, wie lange die jetzige Pauſe dauern werde.
Gern hätte er auch das Geſicht des Mannes geſehen,
der da lang ausgeſtreckt am Feuer lag. Allem Ver⸗
muten nach war er der berühmte Goldſucher, den man
El gambusino maestro nannte. Alle Welt kannte ihn,
alle Welt hatte ihn geſehen; nur er allein war ihm noch
nicht begegnet. Aber er konnte nicht warten, bis dieſer
Mann ſich aufrichtete oder doch wenigſtens einmal den
Hut vom Geſicht nahm. In jedem Augenblick konnte
drüben auf der andern Seite Ancianos Feuergarbe auf⸗
leuchten, und dann war es leicht möglich, daß die beiden
Gefangenen Dummheiten machten, oder wenigſtens ſich
falſch verhielten, wenn ſie nicht vorher von dem, was ſie
zu tun hatten, unterrichtet waren. Darum ſchob der
Vater Jaguar ſich jetzt ſo nahe wie möglich an die beiden
Bäume hin, richtete ſich an dem Strauch, der dahinter
ſtand und ihm Deckung gab, empor und ſagte in ge⸗
dämpftem Ton und zwar in deutſcher Sprache: „Herr
Doktor, bewegen Sie ſich nicht! Es iſt ein Retter hinter
Ihnen.“
Der Angeredete war nicht geübt, in einer ſolchen
Lage bewegungslos zu bleiben; er zuckte zuſammen und
wendete den Kopf halb zur Seite. Auch Fritze machte
eine kleine Bewegung, doch nicht ſo weit, wie ſeine
Feſſeln ihm wohl zugelaſſen hätten. Er beſaß mehr
Selbſtbeherrſchung als ſein Herr.
— 228 —
„Still, keinen Laut! Stehen Sie gerade und ſtarr,
und wenden Sie nicht den Kopf!“ fuhr der Vater Ja⸗
guar fort. „Sie haben mir nichts zu antworten als ‚ja‘
oder ‚nein‘. Zucken Sie leiſe die rechte Achſel, jo heißt
das ‚ja‘; zucken Sie die linke, fo heißt es ‚nein‘. Ich bin
Karl Hammer, der Vater Jaguar, den Sie beim Bankier
Salido in Buenos Aires kennen gelernt haben. Ver⸗
ſtehen Sie, was ich ſage?“
Beide zuckten die rechte Achſel.
„Sind Sie ſo feſt angebunden, daß die Riemen
Ihnen Schmerzen verurſachen?“
Zucken links, alſo „nein“.
„So iſt Ihr Blutumlauf alſo nicht geſtört, und Sie
werden ſich leicht und raſch bewegen können, falls ich
Sie losſchneide?“
Rechts gezuckt bedeutete „ja“.
„Das iſt gut. Ich habe bereits das Meſſer in der
Hand. Ein Gefährte von mir wird drüben am Saum
der Lichtung ein Pulverfeuer aufleuchten laſſen, welches
das hohe, dichte und trockene Gras ſofort in hohen Brand
verſetzt. Die Leute hier werden erſchrocken hineilen, um
das Feuer auszulöſchen, und für einige Augenblicke wird
man ſich nicht um Sie kümmern. Verſtehen Sie mich
auch jetzt?“ fragte er, da am Feuer wieder laut ge⸗
ſprochen wurde. |
Beide zudten die rechte Achjel zum Zeichen der Be⸗
jahung.
„In der ſo entſtehenden Verwirrung ſchneide ich
Sie los und nehme Sie bei der Hand. Wir ſpringen
hier am Rande rechts hin bis dahin, wo Sie jetzt vier
Pferde nebeneinander ſtehen ſehen, die, wie ich zu meiner
Genugtuung bemerke, ein andrer Gefährte von mir un⸗
bemerkt zuſammengelockt hat. Unweit davon ſehen Sie
— 229 —
vier Sättel liegen, von denen jeder einen nimmt
und n
Er konnte nicht ausſprechen, denn er ſah da drüben,
wohin er den alten Anciano geſchickt hatte, ein kleines,
kleines Flämmchen blitzen; dieſes Flämmchen fraß ſich
einige Fuß weiter, bis es das Pulver erreichte; ein lauter
FIfffffffft⸗ähnlicher Laut wurde hörbar, und in demſelben
Augenblick ſtieg eine wohl zehn Ellen lange Feuerwand
kerzengerade in die Höhe.
Zunächſt gab es einen Augenblick lautloſen Schrek⸗
kens. Dann ſprangen alle Roten und Weißen ſchreiend
auf, der Häuptling war der einzige, der ruhig blieb.
„Schlagt es mit den Ponchos aus!“ rief er laut.
Jeder beeilte ſich, dieſer Weiſung augenblicklich
nachzukommen, aber der erwartete Erfolg war nicht ſo
leicht zu erreichen, denn hoch über das junge, grüne Gras
hinaus ragte das alte verdorrte; es brannte wie Papier,
und wenn man an einer Stelle die Flamme nieder
hatte, ſtieg ſie im nächſten Augenblick wieder empor. Die
Pferde wurden unruhig und ſchnaubten ängſtlich; kein
Menſch achtete auf ſie. Kein Menſch achtete auch auf
die Gefangenen.
Sobald der erſte Schreckensruf erſchollen war, war
der Vater Jaguar aufgeſprungen, hatte die beiden Ge⸗
fangenen losgeſchnitten und ſie, einen rechts und einen
links an die Hand nehmend, in eiligem Lauf mit ſich
fortgezogen, dahin, wo die vier Pferde ſtanden. Dort
tauchte Geronimo hinter den Tieren auf und rief:
„Habe die Pferde zuſammengebunden; nehme ſie alle
mit. Bringen Sie die Sättel nach!“
Er ſprang auf eins der Tiere und jagte mit ihnen
davon. Der ſtarke Vater Jaguar nahm zwei Sättel
mit dem dazu gehörigen Riemenzeug vom Boden auf.
— 230 —
„Meine Bücher, meine Bücher!“ rief der Doktor,
das Paket an ſich reißend.
„Und die Hacken und Schaufeln!“ fügte Fritze
hinzu, indem er das andre Paket ſich über die Achſel
warf.
Anciano nahm einen Sattel und der junge Inka
auch einen. Als dies der Vater Jaguar ſah, meinte er:
„Nun gut, ſo haben wir alſo vier; mehr ſind u
nötig. Nun fort, ſcharf hinter mir her!“
Er warf einen Blick auf das Lager zurück. Dort
kämpfte man noch tapfer mit dem Feuer, und niemand
ſah, was indeſſen auf der andern Seite vorgegangen
war. Die Fliehenden eilten fort. Noch waren ſie nicht
allzu weit gekommen, da klang ihnen eine mächtige
Baßſtimme vom Lager aus nach: „Tormenta!l Wo
ſind die Gefangenen? Sie ſind fort!“
Beim Klang dieſer Stimme blieb der Vater Ja⸗
guar wie gebannt ſtehen und lauſchte. Die andern
hielten infolgedeſſen auch im Laufe inne.
„Sie ſind entflohen!“ ertönte dieſelbe Stimme nach
einigen Sekunden. „Man hat ſie befreit, man hat ſie
losgeſchnitten; ich ſehe es hier an den Laſſos.“
„Welch eine Stimme!“ ſagte der Vater Jaguar.
„Die muß ich kennen; das iſt ja — —“
Was er weiter ſagen wollte, blieb unausgeſprochen,
denn vom Lager her erklang es wieder: „Das Feuer
iſt ausgelöſcht. Auf, zu den Waffen! Da links hin⸗
aus können ſie nicht ſein; da brannte ja die Flamme.
In den Wald hinein konnten ſie auch nicht, denn er iſt
zu dicht; alſo ſind ſie nach rechts fort. Ihnen nach!
Zwanzig bleiben bei den Pferden. Die andern kom⸗
men mit!“
— 231 —
Zurückblickend, gewahrte man ein wirres Durch⸗
einander von Perſonen, worin die einzelne nicht zu
unterſcheiden war.
„Fort, fort!“ mahnte Geronimo. „Warum bleibit
du ſtehen, Carlos?“
Der Sprecher hatte unterwegs halten bleiben
müſſen, weil eins der zuſammengekoppelten Pferde ihm
nicht gehorchen wollte.
„Dieſe Stimme, dieſe Stimme!“ antwortete der
Vater Jaguar. „Ihr Klang geht mir durch das —“
„Ach was, Stimme! Laß ſie doch ſchreien, wie fie
will! Wir müſſen fort, ſonſt holen ſie uns ein.“
„Aber ich muß ihn ſehen, muß —“
Der ſonſt ſo bedachtſame Mann wollte die beiden
Sättel weglegen, aber Geronimo herrſchte ihn, wohl
zum erſtenmal, ſeit er ihn kannte, in ſtrengem Ton an:
„Was fällt dir ein! Biſt du toll! Willſt du dein
Leben wagen, jo tue es; aber das unſrige bringe nicht
in Gefahr. Auf mich kannſt du nicht rechnen!“
Er trieb ſeine Pferde von neuem an, und jetzt ge⸗
horchte das widerſpenſtige; er galoppierte weiter.
„Er hat recht!“ meinte der Vater Jaguar wie aus
tiefem Sinnen erwachend. „Ich täuſche mich wohl;
aber ich werde dieſe Sache nicht ununterſucht laſſen.
Eilen wir weiter!“
Er ſchoß jetzt förmlich in ſo langen Schritten da⸗
von, daß die andern die größte Mühe hatten, ihn nicht
aus den Augen zu verlieren, zumal ihnen jetzt, nach⸗
dem ſie die Feuer geſehen, die Dunkelheit viel tiefer als
vorher vorkam. Der kleine Gelehrte hatte den ſchwer⸗
ſten Pack, die Bücher, erwiſcht. Er keuchte unter ihrer
— 232 —
Laſt atemlos dahin, bis er die Bürde niederwarf und
ausrief: „Fritze, ich kann nicht mehr. Er wird mir
zu ſchwer. Wollen tauſchen; gib mir die Werkzeuge!“
„Jut,“ antwortete dieſer. „Hier haben Sie die
Schlüſſel zu die Vorwelt, und ick nehme mich die
jedruckte Jelehrſamkeit. Aber ſputen Sie Ihnen, denn
da hinten kommen fie ſchon anjepfiffen.”
Sie eilten weiter, ſo ſchnell ſie mit ihren Laſten
vermochten, aber doch nicht ſchnell genug, denn als ſie
den Ausgang des Waldeinſchnitts erreichten, waren die
vorderſten der Verfolger ſchon nahe hinter ihnen. Ein
Schuß krachte und noch einer, glücklicherweiſe ohne zu
treffen.
Die beiden hatten noch geſehen, daß Anciano und
der Inka ſich rechts gewendet hatten; ſie folgten alſo
dieſer Richtung auch. Aber ganz nahe hinter ihnen kam
einer geſprungen, der ſie in tiefem Baßton anrief:
„Halten bleiben, ihr Halunken, ſonſt ſchieße auch ich!“
„Der Gambuſino!“ ſchrie der Doktor auf. „Ich
bin verloren!“
„Nein, noch nicht!“ antwortete Fritze. „Laufen
Sie fort; ick werde Ihnen retten, indem ick ihm ein
Hindernis in die hohle Gaſſe werfe, durch die er kom⸗
men muß.“
Bei dieſen Worten blieb er ſtehen, ließ ſeinen
Herrn vorüber und warf, als die hohe, breite Geſtalt
des Gambuſino aus dem Dunkel tauchte, dieſem das
Bücherpaket entgegen; dann rannte er weiter. Der
Gambuſino ſtrauchelte über den Pack und ſtürzte hin;
er raffte ſich zwar raſch wieder auf und wollte weiter;
da aber hörte er eine gebieteriſche Stimme vor ſich:
„Halt! hier fteht der Vater Jaguar mit feinen Leuten.
Wer ohne meinen Willen naht, bekommt eine Kugel.“
— 233 —
Das veranlaßte ihn, den Schritt anzuhalten.
Wollte man ihn mit dem Namen des berühmten Man⸗
nes täuſchen? Er duckte ſich nieder und kroch mehrere
Schritte vorwärts. Da ſah er allerdings eine ganze
Schar von Männern vor ſich halten. Wenn man an
einem Gegenſtande empor nach dem Himmel ſieht, ſo
kann man dieſen Gegenſtand, obgleich er ganz im Fin⸗
ſtern ſteht, ſelbſt in dunkler Nacht erkennen. Auf dieſe
Weiſe ſah der Gambuſino, daß dieſe Männer ganz in
Leder gekleidet waren und breitrandige Hüte aufhatten,
was in den Pampas und den angrenzenden Gegenden
eine Seltenheit iſt. Daran erkannte er, wen er vor
ſich hatte.
„Alle Wetter, ich irre mich nicht,“ ſagte er ſich.
„Es iſt wirklich dieſer verwünſchte Vater Jaguar!
Wenn ich weiter gehe, läßt er Feuer geben; das iſt ge⸗
wiß. Ich muß zurück; aber er ſoll mir den Streich, den
er mir heute ſpielte, entgelten. Es iſt der erſte, ſoll
aber auch der letzte ſein.“
Er kroch wieder rückwärts, erhob ſich dann vom
Boden und kehrte um die Waldecke zurück, als eben die
vorderſten ſeiner Leute, denen er in ſeinem Verfol⸗
gungseifer vorangerannt war, ihm nachkamen.
„Zurück!“ gebot er ihnen. „Es iſt nichts zu
machen.“
„Nichts?“ fragte Pellejo, der ſich bei ihnen be⸗
fand. „Warum?“
„Sie ſind fort und für uns verloren, N
für heute.“
„Wieſo?“
„Wißt Ihr, welcher Halunke ſie losgeſchnitten
hat? Der Vater Jaguar!“
„Unmöglich! Das muß ein Irrtum ſein.“
— 234 —
„Nein. Ich habe ſeine Leute geſehen und auch
ſeine Stimme gehört. Kommt raſch zurück! Wir
müſſen uns beraten, dabei aber alle Vorkehrungen
treffen, daß wir nicht überraſcht werden, denn dieſer
Menſch iſt imſtande, uns heut noch zu überfallen.“
„Schwerlich!“
„Sie glauben es nicht? Warum nicht?“
„Er hat nur die Gefangenen befreien wollen.
Hätte er es auf einen Ueberfall abgeſehen, ſo würde er
ihn ja vorhin ausgeführt haben.“
„Mag ſein; aber ich traue ihm nicht. Ich kenne
ihn nicht ſo, wie Sie ihn kennen, ſondern etwas näher
und genauer. Und er — na, er kennt mich auch ein
wenig — — von früher her. Ich weiß ſogar, daß er
meine Stimme kennt. Wenn er mich an dieſer erkannt
hat, ſo iſt es gewiß und zehnfach, hundertfach gewiß,
daß er ſich an meine Ferſen heftet.“
„Haben Sie eine Rechnung miteinander?“
„Ja, und keine gewöhnliche. Kommen Sie alſo!
Ich weiß, daß wir keine Zeit zu verlieren haben.“
Man ging ſchleunigſt nach dem Lager zurück, wo
der Gambuſino den Befehl gab, ſchnell zu ſatteln und
dann die Feuer auszulöſchen, da man aufbrechen müſſe.
„Fort ſollen wir?“ fragte Antonio Perillo. „Iſt
das notwendig?“
„Ja, wir müſſen fort, mindeſtens ſo weit, daß
dieſer Vater Jaguar uns während der Nacht nicht
finden kann.“
„Er wird es nicht wagen, ſich an uns zu machen!“
„Pah! Ich ſage Ihnen, daß er es zwar nicht
wagen, aber doch tun wird, denn für ihn iſt ſo etwas
kein Wagnis.“
— 235 —
| Da nahm der Häuptling, ihm beipflichtend, das
Wort: „Wenn der Jaguar es iſt, der die Gefangenen
befreit hat, ſo müſſen wir fort. Ich kenne ihn. Und
nur dieſer Jaguar konnte es fertig bringen, dieſe beiden
weißen Männer fortzuholen. Er hat noch mehr Leute
bei ſich gehabt und von ihnen das Feuer mit Pulver
anbrennen laſſen. Während wir es auslöſchten und
nicht auf die Gefangenen achteten, hat er ſie wegge⸗
nommen. Er weiß, daß ich ihm den Tod geſchworen
habe. Wir müſſen fort, da wir uns hier nicht verteidi⸗
gen können. An einem beſſeren Ort werden wir an⸗
halten, um uns zu beraten.“
Hierauf ließ ſich nun nichts mehr ſagen. Man
ſattelte die Pferde und bemerkte nun erſt, daß vier der⸗
ſelben ſamt dem Lederzeuge und den beiden Paketen des
Gefangenen fehlten. Glücklicherweiſe hatte man einige
Reſervepferde. Als die Feuer ausgelöſcht worden wa⸗
ren, ſetzte ſich der Zug in Bewegung, indem nach In⸗
dianerart ein Reiter hinter dem andern ritt.
Der Weg führte immer tiefer in den Einſchnitt
hinein, der nach und nach immer breiter wurde. Hätte
er eine Sackgaſſe gebildet, ſo hätte die Schar dem Vater
Jaguar in die Hände fallen müſſen. Aber der Häupt⸗
ling „Tapferer Arm“ kannte die Gegend zu genau, als
daß er ſich hätte irren können. Nach Verlauf von zwei
Stunden wich der Wald zu beiden Seiten zurück, und
man kam auf einen weiten, offenen Kamp, in den man
eine Viertelſtunde hineinritt, um dann zu einer kurzen
Beratung anzuhalten. Die Reiter ſtiegen von den
Pferden und bildeten einen Kreis, worin die Weißen
mit dem Häuptling Platz nahmen. |
„Selbſt wenn der Vater Jaguar uns bis an das
Ende des Waldes gefolgt wäre,“ ſagte der letztere,
— 236 —
„hier würde er uns nicht finden. Es iſt dunkel, und er
kann nicht ſehen, nach welcher Richtung wir uns ge⸗
wendet haben. Die Señores mögen beraten, was ge⸗
ſchehen ſoll.“
„Eine Beratung nach Eurer langen und lang⸗
ſamen Weiſe werden wir nicht halten,“ antwortete
ihm der Gambuſino. „Wir werden kurz ſein und dann
gleich wieder aufbrechen, um einen möglichſt weiten
Weg zwiſchen ihn und uns zu legen.“
„So denken Sie wirklich, daß dieſer gefährliche
Mann uns folgen wird?“
„Auf jeden Fall, wenn er mich nämlich an der
Stimme erkannt hat.“
„Er hat Sie erkannt.“
„Demonio! Woher willſt du das wiſſen?“
„Er braucht Sie gar nicht an der Stimme erkannt
zu haben, denn er hat Sie doch geſehen, als er die Ge⸗
fangenen befreite.“
„Nein, denn wie ich mich beſinne, hatte ich mein
Geſicht mit meinem breiten Hut bedeckt.“
„Kennt er nicht Ihre Geſtalt, Senor?“
„Ja; aber ſolche Geſtalten gibt es viele, und ich
bin viel anders gekleidet als damals, wo wir uns ſahen.
Um mich wirklich zu erkennen, mußte er mein Geſicht
erblicken oder meine Stimme hören.“
„Und meinen Sie, daß dieſes letztere geſchehen iſt?“
„Ja, denn ich habe leider nur allzu laut geſchrien.
Hätte ich gewußt, daß dieſer Menſch ſich in der Nähe
befand, ſo hätte ich freilich geſchwiegen. Ich bin über⸗
zeugt, daß er mir folgen wird.“
„Und wenn er nicht Ihnen folgt, ſo folgt er uns,
den Abipones.“
„Warum habt ihr euch mit ihm verfeindet?“
— 237 —
„Wir waren bei den Cambas eingefallen, als er
ſich bei ihnen befand. Er kam zu uns, um Frieden an⸗
zubieten; aber wir wollten die Beute, die wir gemacht
hatten, nicht herausgeben. Ja, wir wollten noch mehr
Beute machen, und ſo kam es, daß wir ihn fortſchickten.
Er ging im Zorn und einer von uns blies ihm einen
Giftpfeil nach, der aber in ſeinem Rock ſtecken blieb,
denn ſeine Lederkleidung iſt ſo ſtark, daß kein Pfeil hin⸗
durchdringt. Dann töteten wir zwei Häuptlinge der
Cambas und viele ihrer Untergebenen. Wir töteten alle
Alten, alle Männer, Kinder und Knaben und nahmen
nur die Frauen und Töchter mit uns. Da ſtellte er ſich
an die Spitze der andern Cambasſtämme und fiel über
uns her.“
„Wer ſiegte?“
„Er, denn er iſt unüberwindlich, wenn er zur
Waffe greift. Sein Zorn hat vielen, ſehr vielen von
uns das Leben gekoſtet, und die Cambas haben nicht nur
das wiederbekommen, was wir ihnen abgenommen
hatten, ſondern noch mehr dazu. So ſind wir Todfeinde
geworden. Darum ſollt ihr uns Flinten und Pulver
geben, damit wir uns rächen können, denn die Krieger
der Abipones ſind voller Begierde, die Cambas zu züch⸗
tigen. Falls ihr das tut, werdet ihr treue Verbündete
an uns gewinnen.“
„Ihr werdet bekommen, was wir euch verſprochen
haben. Wir befinden uns ja auf dem Weg nach unſern
heimlichen Magazinen. Wenn es ſo ſteht zwiſchen euch
und ihm, bin ich allerdings überzeugt, daß er ſchnell
hinter uns her ſein wird.“
„Und wäre dies nicht der Fall, ſo würde er mich
verfolgen,“ fiel Antonio Perillo ein. „Ihr wißt ja,
was in Buenos Aires geſchehen iſt. Er hat nicht nur
— 238 —
mich, ſondern auch die andern Eſpadas blamiert. Wenn
ich ihn in die Hand bekomme, ſo hat er auf keine Nach⸗
ſicht zu rechnen, zumal es bekannt iſt, daß er ein An⸗
hänger von Mitre iſt.“
Da meinte der Kapitän Pellejo: „Ich habe von
dieſem Mann ſchon viel gehört, aber nie etwas mit ihm
zu tun gehabt. Mir läuft er nicht nach. Soviel ich
jedoch von Ihnen, Seßores, vernehme, bin ich freilich
überzeugt, daß er Luſt haben wird, auf unſrer Spur zu
bleiben. Ich denke aber, daß dies nichts Leichtes ſein
wird.“
„Warum?“ fragte der Gambuſino.
„Spuren vergehen.“
„So! Hm! Sie ſcheinen keinen großen Begriff
von der Kunſt des Fährtenleſens zu haben. Ich will
Ihnen ſagen, Seüor, daß ein Mann wie Vater Jaguar
jede Fährte findet, die er ſucht, und ſie dann gewiß nicht
wieder verliert, außer er hat es mit einem ebenſo er⸗
fahrenen Gegner, zum Beiſpiel mit mir, zu tun. Ich
bin imſtande das zu tun, was keiner von Ihnen ver⸗
mag, nämlich dieſen Mann irre zu führen oder ihm
wenigſtens ein Schnippchen zu ſchlagen.“ |
„Wir werden durch die Sandwüſte, durch Wälder,
über Sümpfe und Flüſſe reiten. Uns da überall zu
folgen, ohne uns noch einmal zu verlieren, dazu gehört
mehr, als ein Menſch vermag.“
„Dazu gehört nichts weiter als Schlauheit und Er⸗
fahrung; und dieſe beide beſitzt der Jaguar in hohem
Grade. Aber wir brauchen uns ja darüber, ob er unſre
Spuren finden wird, gar nicht zu ſtreiten. Er braucht
uns gar nicht nachzuſpüren, denn er weiß genau, wohin
wir wollen.“
— 239 —
„Unmöglich! Wer ſollte es ihm geſagt haben?
Unter den Leitern unſres Planes gibt es keinen Ver⸗
räter, und die tiefer Geſtellten wiſſen nichts.“
„Ich habe darüber nachgedacht, und es iſt mir ein⸗
gefallen, worüber die Seüores kurz vor dem Ausbruch
des Feuers geſprochen haben. Ich ſelbſt habe geſchwie⸗
gen und mich an dieſem verräteriſchen Geſpräch, das doch
ſicherlich von ihm belauſcht wurde, nicht beteiligt.“
„Nun, worüber ſprachen wir? Ich entſinne mich
nicht, ein Wort geſprochen zu haben, das zum Verräter
hätte werden können.“
„O doch! Sie ſprachen von unſern Waffenver⸗
ſtecken.“
„Aber nicht davon, wo dieſe liegen!“
„Sodann ſprachen Sie davon, daß Sie Boten an
die Grenzorte geſandt hätten, um Ihre Soldaten nach
dem Lago zu beordern.“ |
„Habe ich den Namen dieſes Lago genannt?“
„Nein.“
„Nun, es gibt ſehr viele Lagos; er mag ſich den⸗
jenigen, den ich meinte, herausſuchen!“
„Sie vergeſſen, daß unſre Gefangenen jetzt bei ihm
ſind. Wir waren ihrer leider ſo ſicher, daß wir in ihrer
Gegenwart mehr als genug von Dingen geſprochen ha⸗
ben, die nicht für fremde Ohren, am allerwenigſten au
für das Ohr eines ſolchen Feindes find.”
„Kennen ſie den Namen des Lago?“
„Sehr genau, Sie ſelbſt haben ihnen damit ge⸗
droht, daß ſie in dem Waſſer dieſes Sees erſäuft werden
ſollen.“
„Teufel! Das iſt freilich unangenehm! Aber wer
konnte wiſſen, daß ſie uns ſchon nach kurzer Zeit wieder
— 240 —
entkommen würden! Nun wird er wohl ſchleunigſt nach
dieſem Lago de los Carandayes reiten.”
„Das würde er allerdings, wenn ich nicht wäre.
Ich werde ihn irre führen. Wir ſind von Süden her
über den Fluß gekommen, um nach dem Norden oder
Nordweſt zu gehen. Wir werden aber wieder umkehren,
um über den Fluß zurückzugehen.“
„Welcher Einfall, welcher Umweg!“
„Kein Umweg. Wenn wir jetzt gleich aufbrechen
und uns einen andern Einſchnitt ſuchen, durch den wir
den Wald wieder hinter uns legen können, ſo ſind wir
am Morgen am Fluß, reiten hindurch und eine Strecke
in das Land hinein. Das wird ein Parforceritt bis
heute abend. Da ruhen wir nur zwei oder drei Stun⸗
den aus und kehren auf einem andern Wege wieder
nach hier zurück.“
„Wieder ein Tagesritt, alſo zwei Tage Verluſt!“
„Was bedeutet dieſer Verluſt, wenn wir dadurch
den Vater Jaguar von uns abſchütteln!“
„Wird uns das gelingen?“
„Unbedingt. Der Jaguar kann erſt am Morgen
ſeine Verfolgung aufnehmen; da ſind wir aber ſchon
am Fluſſe, den er, da er langſam reiten muß, um ſeine
ganze Aufmerkſamkeit auf die Fährte zu richten, erſt
am Abend erreicht. Am zweiten Abend würde er an
die Stelle kommen, wo wir wieder umkehren wollen;
aber er wird ſie gar nicht finden, da die Spur inzwiſchen
verweht oder ſonſt unkenntlich geworden iſt.“
„Glauben Sie? Das wäre allerdings höchſt vor⸗
teilhaft für uns. Ich wollte es ſehr gern gut heißen,
wenn ich wüßte, daß es auch gelingen wird.“
„Es gelingt.“
— 241 —
„So könnten wir doch nach Fort Tio gehen, um uns
friſch zu verproviantieren!“
„Ja, das können wir. Ich bin einverſtanden.“
Antonio Perillo hatte nichts dagegen einzuwenden,
und der Häuptling erklärte: „Der Plan des Gambu⸗
ſino iſt ſehr ſcharfſinnig erdacht. Wir werden den Ja⸗
guar irre leiten und ſeinen Tatzen entgehen. Wie viele
Männer hat er denn bei ſich?“
„Genau kann ich das nicht ſagen. Soviel ich in der
Dunkelheit zu erkennen vermochte, werden es zwiſchen
zwanzig und dreißig ſein.“
„Das ſind genug für ihn. Wir zählen zwar zehn⸗
mal zehn Krieger, aber ſeine Männer ſind waffenge⸗
übter als die meinigen. Da iſt es auf alle Fälle beſſer,
wir kommen erſt dann mit ihm zuſammen, wenn noch
andre Horden der Abipones zu uns geſtoßen ſind. Laſſen
Sie uns alſo aufbrechen, damit wir ihn baldigſt irre
leiten. Ich weiß weiter oben einen andern Durchbruch
im Wald, der uns nach dem Fluß führen wird.“
Man ſaß wieder auf und ritt von dannen, in einem
ſpitzen Winkel mit der zuletzt eingehaltenen Richtung
dem Wald entgegen. Den armen Pferden dieſer Men⸗
ſchen ſtand eine ungeheure Anſtrengung bevor.
May, Das Vermchtnis des Inka 16
Achtes Kapitel
Die Blutegel des Don parmeſan
Der Mann, deſſen der Gambuſino und ſeine Leute
ſo eifrig gedachten, der Vater Jaguar, machte ſich in
dieſem Augenblick keineswegs ſo viele Sorgen um ſie,
wie fie geglaubt hatten, denn er — — ſchlief fo gemüt⸗
lich und ruhig, als ob er ſich in einem Bette zu Buenos
Aires oder Montevideo befunden hätte.
Als der Gambuſino ſich zurückgezogen hatte, ſchritt
der Vater Jaguar auf den Einſchnitt zu und horchte.
Er hörte ihn von weitem mit den andern ſprechen,
konnte aber die Worte nicht verſtehen. Da bemerkte ſein
ſcharfes Ohr, daß ſie ſich entfernten. Hierauf rief er
zwei zuverläſſige Leute herbei und ſchickte ſie hundert
Schritte in den Einſchnitt hinein, wo ſie ſich poſtieren
ſollten, einer am rechten und einer am linken Waldes⸗
rand. Sie ſollten ſcharf aufpaſſen und bei der gering⸗
ſten gegen ſie gerichteten Bewegung der Feinde ihre Ge⸗
wehre abſchießen.
Er glaubte, damit alles getan zu haben, was die
Klugheit und Vorſicht für geboten hielt. Es fiel ihm
gar nicht ein, die Feinde anzugreifen, wenigſtens nicht
heute, und noch viel weniger dachte er daran, allen ſeinen
Leuten den Schlaf zu rauben, den ſie ſo notwendig
— 243 —
brauchten, um für den morgenden, vielleicht anſtren⸗
genden Tag friſch geſtärkt zu erwachen.
Darauf kehrte er zu ſeiner Schar zurück, um nun
erſt Doktor Morgenſtern und Fritze vorzunehmen. Er
tat das in ſpaniſcher Sprache, damit ſeine Gefährten
das Geſprochene verſtehen könnten.
„Senor, ich weiß nicht, was ich von Ihnen denken
ſoll,“ ſagte er. „Ich bin gern höflich, beſonders gegen
einen Herrn von Ihrer Bildung und Ihren Kennt⸗
niſſen, dennoch aber kann ich Ihnen nicht verhehlen,
daß Sie weit beſſer getan hätten, in Buenos Aires zu
bleiben.“
„Was ſollte ich dort, Seßor?“ fragte der kleine
Rote. „Ich wollte ein Glyptodon, ein Megatherium
oder ein Maſtodon haben. Sind ſolche Tiere in Buenos
Aires auszugraben?“
„Sie konnten in die Pampas gehen.“
„Das habe ich auch getan.“
„Nein. Oder meinen Sie, daß wir uns hier auf
einer Pampa befinden?“
„Ja, auf einer Pampa zwiſchen Fluß und Wald,
Fluvius und Silva, wie der Lateiner ſagt.“
„Aber wie kommt es, daß Sie dieſelbe Richtung ge⸗
nommen haben, die auch ich einſchlug?“
„Ich wollte Sie treffen.“
„Aber ich hatte Ihnen geſagt, daß ich Sie nicht ge⸗
brauchen kann! Sie bringen nicht nur mich in Ver⸗
legenheit, ſondern ſind auch ſelbſt in eine große Gefahr
geraten.“
„Meinen Sie? Die Seßores, die uns gefangen
nahmen, befanden ſich in einem Irrtum, den ſie jeden⸗
falls ſehr bald eingeſehen hätten.“
— 244 —
„Glauben Sie das ja nicht! Ihr Leben ſchwebte
in Gefahr.“
„Mein Leben, lateiniſch Vita genannt? Das glaube
ich kaum.“
„Weil Sie ein lieber, guter, harmloſer Silber⸗
larpfen find, der keine Ahnung davon hat, was für
Hechte es im Teiche gibt. Sie paſſen überall mehr und
beſſer hin als in den Gran Chaco.“
„Und ich bin vom Gegenteil überzeugt, da Sie ſelbſt
mir angedeutet haben, daß hier die Reſte vorweltlicher
Tiere zu finden ſind.“
„Wenn Sie dieſe längſt zu ihren Vätern verſam⸗
melten Kreaturen in den Pulverkammern unſrer Partei-
führer ſuchen, fo können Sie ſehr leicht einmal ein
wenig in die Luft geſprengt werden. Wie Sie gefangen
genommen worden ſind, das habe ich von dem braven
Don Parmeſan gehört, dem Sie Ihre Rettung zu ver⸗
danken haben. Ich bitte Sie, mir zu erzählen, was ſich
dann weiter ereignet hat.“
„Ereignet? Gar nicht viel, Senor Hammer. Man
ſchüttete das Loch, worin meine Gigantochelonia geſteckt
hatte, wieder zu, nachdem man den Inhalt herausge⸗
nommen hatte, um ihn zu verteilen. Dann band man
uns auf die Pferde und ritt mit uns davon. Ich gab
herzliche gute Worte, man möge doch das Rückenſchild
der Gigantochelonia mitnehmen, was mir aber rund⸗
weg abgeſchlagen wurde.“
„Sie glauben alſo noch immer, daß es ſich um eine
Schildkröte gehandelt hat?“
„Ich bin überzeugt davon, und zwar war es int
von wirklich riefigen Dimenſionen. Was aber das fer⸗
nere Erlebnis betrifft, ſo ritten wir durch den Wald,
und mittels einer ſeichten Furt über den Fluß wieder in
— 245 —
den Wald, wo wir bei andern Indianern anhielten. Ich
und mein Fritze erhielten jeder ein Stück Fleiſch, das
wir eſſen durften. Dann band man uns an die Bäume,
bis Sie kamen und uns heimholten. Das iſt alles, was
ich erzählen kann, eine höchſt einfache und proſaiſche Ge⸗
ſchichte.“
„Das nennen Sie einfach und proſaiſch?“ lachte
der Vater Jaguar nun wider Willen auf.
„Natürlich! Es war keine Spur von Poeſie dabei.
Ich wollte dem Geſpräch wiederholt eine anheimelndere
Wendung geben und begann von dem Diluvium, von
dem Höhlenbären, vom Mammut und andern mir ſym⸗
pathiſchen Gegenſtänden zu ſprechen, fand aber kein
Ohr dafür.“
„Das glaube ich! Man hat Sie gebeten, den
Mund zu halten?“
„Nun, gebeten eigentlich nicht. Es wurde das
vielmehr in einer Weiſe geſagt, die auf etwas mehr
Schärfe und Energie ſchließen läßt.“
„Ich weiß genug, Seüor, brechen wir davon ab!
Was haben dieſe Leute miteinander geſprochen?“
„Nichts von Bedeutung. Ich habe darum auch
nicht darauf geachtet. Sie ſprachen von Revolution,
von Kavallerie und Kanonen, von Ausfällen und
Ueberfällen der Indianer, lauter Sachen, die unſereinen
doch nicht im mindeſten feſſeln können.“
„Revolution, Artillerie, Kavallerie, Aus⸗ und
Ueberfälle? Und das nennen Sie bedeutungslos?
Senor, das alles iſt von ungeheurer Wichtigkeit geweſen!“
„Für Sie vielleicht, nicht aber für mich. Ich habe
mir kein Wort gemerkt. Uebrigens ſteckte mir noch das
Rückenſchild meiner Gigantochelonia im Kopf. Wenn
Sie etwas Eingehenderes über die Geſpräche dieſer
— 246 —
Leute hören wollen, ſo will ich Sie an meinen Fritze
adreſſieren. Er iſt Laie und hat alſo für dieſe Kleinig⸗
keiten mehr Aufmerkſamkeit gehabt, als ich ihnen zu
widmen vermochte.“
Fritze hatte bis jetzt kein Wort geſagt, jetzt aber
meldete er ſich ſchnell, und zwar in deutſcher Sprache:
„Dat it wahr, Herr Hammer; ick habe ausjezeichnet
aufjepaßt und kann Sie mit allens dienen, wat Sie
wiſſen wollen. Aber tun Sie mich den Jefallen, ſich
mit meine Mutterſprache zu bedienen. Wenn ick ge⸗
zwungen bin, mit einem Deutſchen ſpaniſch zu diskurrie⸗
ren, ſo jibt es mich allemal einen Meſſerſtich ins treue
deutſche Herz.“
„Wenn Sie es wünſchen, ganz gern,“ lächelte der
Vater Jaguar. „Wir können den andern dann ja ſpa⸗
niſch ſagen, was wir deutſch geſprochen haben. Vor
allen Dingen möchte ich wiſſen, ob Sie erfahren haben,
was dieſe wenigen Weißen bei den Indianern wollen.“
„Damit kann ick erjebenſt aufwarten. Die Kerls
glaubten, daß wir ihnen nicht mehr ſchaden könnten,
und redeten, nur um uns zu ärjern, janz offen über
ihre Jeheimniſſe. Sie jehen in den Chaco, um die
Abipones jejen die Rejierung aufzuwiejeln und ſie zu
einem Einfall zu bewejen. Der Häuptling aber, der
alte Brazo valiente, iſt ein Schlaukopf und hat alſo ſeine
Bedingungen jeſtellt. Er will vorher die Cambas
überfallen, die Sie, Herr Hammer, jejen ihn komman⸗
diert haben, und dabei ſollen ihm die Weißen helfen.
Er verlangt Waffen und Soldaten.“
„Ach! Hat man ihm beides zugeſagt?“
„Verſteht ſich! Die Soldaten trommelt der Ka⸗
pitän Pellejo zuſammen. Er täuſcht dat Vertrauen
ſeiner Vorgeſetzten. Sie haben ihn an die Irenze
— 247 —
jeſchickt, um die längs derſelben angelegten Jarniſo⸗
nen zu inſpizieren; es fällt ihm aber jar nicht ein, hin⸗
zujehen, ſondern er hat vertraute Boten hinjeſchickt, die
den Befehl überbringen, daß dieſe Militärs ſich nach
dem Chaco zu bewejen haben, um an einem beſtimm⸗
ten Tag an einem beſtimmten Ort dort zuſammenzu⸗
treffen. Dieſe Leute ſollen den Abipones jejen die
Cambas helfen.“
„Welch ein Plan! Auf dieſe Weiſe werden alſo
dem Häuptling die Soldaten geliefert. Wie aber
wollen ſie ihn in den Beſitz der verſprochenen Waffen
ſetzen?“
„Die Sache iſt ſchon von langer Hand her vorbe⸗
reitet. Man hat längſt zu dieſem Zweck heimliche Ma⸗
gazine anjelegt und mit Waffen und Munition voll⸗
jeſtopft. Unſre Schildkrötenhöhle ift fo ein Magazin
jeweſen. Die werden nun jeöffnet. Auf dieſe Weiſe
werden die Abipones bewaffnet und jejen die Cambas
jeführt. Haben ſie ſich an dieſen jerächt, ſo werden ſie
dann, mehrere tauſend Mann ſtark, über die Irenze
lommen und dat Pronunciamiento jemütvoll unter⸗
ſtützen.“
„So muß ich freilich ſagen, daß dieſer Plan ent⸗
ſetzlich iſt. Tauſende von Roten hereinzubringen, um
Mord und Brand loszulaſſen, damit einige wenige aus
dem Blut ihrer Mitbürger Reichtümer und Aemter
fiſchen! Wer ſteht an der Spitze dieſes grauſigen Un⸗
ternehmens?“
„Dat iſt mich unbewußt. Aber der Oberſte von
die jetzige und hieſige Jeſellſchaft, dat iſt der Jambu⸗
ſino, wie mich der Augenſchein bewieſen hat. Er iſt
der Admiral von dat janze Jeſchwader, dem die an⸗
dern alle jehorchen müſſen.“
„Haben Sie etwas Näheres über ihn gehört, über
ſeinen Namen, ſeine Heimat, ſeinen eigentlichen
Stand, ſein früheres Leben?“
„Dat ſind viele Fragen in eine einzije zuſammen⸗
jeleimt. Ick werde ſehen, ob es mich jelingt, Ihnen
auseinander zu addieren. Heißen tut er Benito Pa⸗
jaro, was zu deutſch bekanntlich Benedictus Vogel
heißt. Seine Heimat iſt mich rätſelhaft; wo ſich ſein
eijentlicher Stand befindet, weiß ick nicht.“
„Wurde von mir geſprochen?“
„Und ob! Der Vater Jaguar war allemal dat
zweite Wort. Man hat es auf Ihnen abjeſehen. Je⸗
raten Sie in die Hände dieſer Halunken, ſo jeht es
Ihnen ſchlecht.“
Hammer ſah eine Weile ſchweigend vor ſich nieder
und erkundigte ſich dann weiter: „Konnten Sie viel⸗
leicht in Erfahrung bringen, wo ſich die Soldaten zu⸗
ſammenfinden ſollen?“
„Ja. Es war ein See, Lago de los Carandayes,
alſo Palmenſee jeheißen.“
„Wo liegt er?“
„Dat wurde nicht jeſagt.“
„Auch ich kenne ihn nicht, will mich aber erkun⸗
digen.“
Er fragte feine Gefährten, auch den alten An⸗
ciano, den jungen Inka und ſogar den Chirurgen; aber
keiner hatte von dieſem See gehört, und noch viel ur
niger wußte einer deſſen Lage anzugeben.
„Sollte er im Innern des Chaco, vielleicht in der
Wüſte liegen?“ meinte Hammer nachdenklich.
„Dat iſt möglich,“ fiel Fritze ein. „Als nämlich
von die Jewehre und die Magazine die Rede war, wurde
davon jeſprochen, daß ſie alle nacheinander in die
— 249 —
Wüſte hineinjelegt worden ſind, und nach dem letzten
Magazin kommt man an den Palmenſee. Die Namen
von dieſe Magazine habe ick alle jehört.“
„So? Wie heißen ſie?“
„Da muß ick mir erſt 'mal beſinnen. Es waren
lauter Quellen, vier Stück, und daran hing allemal
ein Tier, an der vierten aber ein Zwilling. Welche
Tiere dat jeweſen ſind — — da, ick hab's jefunden!
Die erſte war die Fuente de los pescados*), die
zweite die Fuente de los sangui-juelas**), die dritte
die Fuente de los crocodilos***) und die vierte die
Fuente gemela f).“
Da ſprang der Vater Jaguar freudig überraſcht
vom Boden auf und rief aus: „Prächtig, prächtig!
Dieſe Namen kenne ich ja alle, und ich bin an jedem
dieſer Orte geweſen. Aber auch Sie ſelbſt kennen eine
von dieſen Quellen. Sie haben da, wo Sie nach der
Schildkröte gruben, viel Fiſche gefangen. Sie waren
an der Fuente de los pescados, an der Fiſchquelle.
Die zweite liegt jenſeits des Waldes in der Nähe des
Lago honda; das Baſſin, wohin ſie fließt, iſt voller
Blutegel; daher ihr Name. Die dritte fließt am Ende
der undurchdringlichen Waldung in eine Sumpflagune,
die voller Krokodile iſt, und die vierte beſteht aus zwei
Einzelquellen, die ſich bald nach ihrem Austritt ver⸗
einigen, daher der Name Zwillingsquelle. Jede dieſer
Quellen iſt von der andern anderthalb Pferde⸗Tage⸗
reiſen entfernt, und ſie liegen in einer ſchnurgeraden
Linie. Wenn man dieſe Linie nach Nordweſt verlän⸗
gert, muß man unbedingt an den Palmenſee kommen,
den wir nicht kennen, und wo die Soldaten zuſammen⸗
7
ſchquelle. — *9 Blutegelquells. — % Krokodillquelle. —
7 Zwidinssaualle a 1
mu “
— 250 —
treffen ſollen. Wie ſchlau, die Verſtecke an dieſen
Quellen anzulegen! Man kann von einer zur andern
durch die Wüſte gelangen, ohne daß die Reit⸗ und
Transporttiere übermäßig durſten müſſen. Fritze, ich
danke Ihnen! Nun iſt mein Plan fertig. Wir reiten
dieſen Roten nach den Quellen voraus und nehmen die
Neſter aus, ehe ſie hinkommen. Und dann geht es nach
dem Palmenſee, um die Soldaten feſtzunehmen. Dieſer
Ort ſcheint ſehr gut gewählt zu ſein, da dort oben die
zahlreichſten und wohlhabendſten Stämme der Cambas
wohnen. Der Gambuſino würde alſo mit ſeinen Abi⸗
pones und den weißen Soldaten eine große Beute
machen. Aber wir werden ihnen das Handwerk legen!“
„Ja, dat werden wir,“ ſtimmte Fritze fröhlich ein.
„Wollen Sie zujeben, Herr Hammer, dat fo eine Gi-
gantochelonia auch ihre juten Seiten hat? Ohne
dieſes Rieſentier wären Sie nicht hinter dat Jeheimnis
jekrochen. Sie wollten uns nicht mitnehmen; nun aber
hoffe ick von Ihrer dankbaren Zärtlichkeit, daß Sie uns
zwei Sitzplätze an Ihrem Herzen jönnen.“
„Ja. Sie ſollen mit, und wenn Sie nichts im Di⸗
luvium entdecken, ſo ſoll die Schuld nicht an mir liegen.
Ich ſchaffe Ihnen den größten Rieſenfroſch zur Stelle,
den es zu Noahs Zeiten gegeben hat!“
„Und ich,“ verſprach der begeiſterte Morgenſtern,
„werde nun auf das ſorgfältigſte auf alle Geſpräche
achten, die ſich auf Revolution und Totſchlag beziehen,
denn ich ſehe ein, daß man dadurch zu großen paläonto⸗
logiſchen Errungenſchaften gelangen kann.“
„Gut, lieber Landsmann! Nun aber rate ich
Ihnen, ſich ſchlafen zu legen, denn Sie bedürfen der Er⸗
holung. Morgen früh wird mit Tagesgrauen aufge⸗
ſtanden, und dann erwartet uns wohl ein Ritt, der für
— 251 —
Sie anſtrengend ſein dürfte. Zur guten Nacht aber
will ich Ihnen noch das offene Geſtändnis machen, daß
ich mich freue, Ihre Werkzeuge gerettet zu haben. Wir
können ſie jetzt ſehr gut gebrauchen, da wir die Maga⸗
zine aufzugraben haben.“
Dieſes Geſtändnis machte den Gelehrten ſo ſtolz,
daß er ſeinem Diener freudig zuflüſterte: „Haſt du es
gehört, Fritze, ſie brauchen mich und meine Sachen; haſt
du es auch wirklich gehört? Du wirſt immer mehr ein⸗
ſehen, daß kein Menſch ohne die Wiſſenſchaft, lateiniſch
Scientia genannt, zu exiſtieren vermag.“
Er ſchlief ſo befriedigt ein, wie ſeit langen Zeiten
nicht. Auch die andern gaben ſich der tieſſten Ruhe hin,
und nur von Stunde zu Stunde wurden zwei geweckt,
um die ſchon erwähnten Wächter abzulöſen.
Kaum graute der Morgen, ſo riefen die letzten
Poſten ihre Gefährten wach, denn man mußte den Um⸗
ſtand mit in Betracht ziehen, daß der Gambuſino mit
ſeinen Indianern noch in der Lichtung ſtecken und dieſe
Stunde zu einem Ueberfall für geeignet halten könne.
Man nahm ſich vorläufig noch nicht Zeit zu einem Im⸗
biß, ſondern der Vater Jaguar gab den Befehl, zu
Pferd zu ſteigen und gegen die Lichtung vorzurücken.
Er war zwar vollſtändig überzeugt, daß dieſe während
der Nacht geräumt worden ſei, hielt aber doch die Vor⸗
ſichtsmaßregel für angezeigt, einige Mann zu Fuß als
Aufklärer vorausgehen zu laſſen.
Dieſe ſchritten, immer gute Deckung ſuchend, dem
geſtrigen Lagerplatz der Indianer zu. Als ſie ihn leer
fanden, gaben ſie ihren Kameraden ein Zeichen, her⸗
beizukommen, und dann ging es in geſtrecktem Galopp
in dem Einſchnitt weiter fort, bis der Wald ein Ende
hatte,
— 252 —
Hier ſah man die Spuren der Indianer, die hin⸗
aus in den Camp führten. Sie lieferten den Beweis,
daß die Feinde den Wald ſchon geſtern abend verlaſſen
hatten. Ob dieſe die jetzige Richtung eingehalten hatten
oder ob dieſelbe nur eine Finte ſei, das wußte man jetzt
noch nicht; jedenfalls aber war es angezeigt, ſich auf
einen Ritt durch die dürre Wüſte gefaßt zu machen.
Man brauchte alſo Waſſer. Glücklicherweiſe kannte der
Vater Jaguar gar nicht weit von hier eine Stelle, wo
am Waldesrand ein Wäſſerchen erſchien, um ſchon einige
Schritte davon wieder in den Boden einzudringen. Wer
in der Wildnis lebt, der merkt ſich ſolche Orte nur zu
gut und vergißt nie einen derſelben. Man trank ſich
ſatt, ließ auch die Pferde zur Genüge trinken und
machte ſich dann mit der Ueberzeugung auf den Weg,
anderthalb Tagesreiſen weit keinen Tropfen wieder zu
ſehen zu bekommen.
Man folgte natürlich den noch ſichtbaren Spuren
der Abipones und gelangte in kurzer Zeit an die Stelle,
wo der Trupp gelagert hatte. Der Vater Jaguar ließ
da anhalten, um die Stelle zu unterſuchen. Auch Gero⸗
nimo betrachtete das niedergelagerte Gras ſehr genau
und gab dann ſein Urteil ab.
„Hier haben ſie bis zum Anbruch des Tages ge⸗
legen. Sie ſind alſo vor noch nicht gar langer Zeit erſt
fort, aber ſonderbarerweiſe wieder nach dem Wald
zurück. Welchen Grund können ſie dazu gehabt haben?“
„Es gibt zwei Gründe, die man ſich denken kann,“
antwortete der Vater Jaguar. „Nämlich entweder iſt
ihre Rückkehr nur eine einfache Liſt, die den Zweck hat,
uns irre zu führen und von ihrer Spur abzubringen,
oder ſie iſt eine taktiſche Maßregel, um die geſtrige
Schlappe .
— 253 —
„Inwiefern eine ſolche Maßregel?“
„Sie wollen uns vielleicht dadurch, daß ſie den
Wald an einer andern Stelle durchqueren, in den Rücken
kommen, um uns plötzlich zu überfallen.“
„Das iſt allerdings denkbar. Sie wollen ſich em⸗
poören, und wenn fie noch wie vorher bei der Dummheit
beharren, deinen Landsmann für den Oberſt Glotino
zu halten, ſo werden ſie freilich alles tun, ihn unſchäd⸗
lich zu machen. Es iſt darum leicht möglich, daß ſie
einen Ueberfall planen. Sie mögen kommen! Es
würde mich freuen, wenn ſie ſich an uns wagen ſollten.
Unſre Kugeln würden tüchtig unter ihnen aufräumen.“
„Ich bin überzeugt, daß ſie uns nicht offen an⸗
greifen werden. Wir müſſen zwar mit der Möglichkeit
rechnen, daß ſie uns jetzt ſuchen; ich halte es aber für
wahrſcheinlicher, daß ſie zurückgekehrt ſind, um uns von
ihrer Fährte abzubringen und uns zu der Anſicht zu
verleiten, daß ſie es aufgegeben haben, nach dem Pal⸗
menſee zu gehen. Aber es wird ihnen nicht glücken, uns
zu täuſchen!“
„Du meinſt alſo, daß wir jetzt weiterreiten und die
Richtung, die ſie von hier eingeſchlagen haben, gar nicht
berückſichtigen?“
„Berückſichtigen muß und werde ich ſie, aber nicht
in der Weiſe, wie ſie es wahrſcheinlich erwarten. Ich
muß erfahren, was ſie vorhaben, und werde alſo dieſer
Fährte ſo weit nachreiten, bis ich weiß, woran ich bin.
Du begleiteſt mich, die übrigen mögen hier bleiben, um
auf uns zu warten.“
Er ſtellte Wachen aus und ritt mit Geronimo da⸗
von, indem beide in geſtrecktem Galopp den Hufſtapfen
folgten, welche die Pferde der Abipones im Graſe zurück⸗
gelaſſen hatten. Die beiden Reiter erreichten den Wald
— 254 —
und die Blöße, durch welche die Gegner ihnen voran⸗
geritten waren, und jagten über dieſelbe hin, bis ſie an
den jenſeitigen Ausgang des Waldes kamen. Da lag
der offene Campo wieder vor ihnen, und man ſah deut⸗
lich, daß die Spuren quer über ihn nach dem Fluß führ⸗
ten. Der Vater Jaguar zügelte ſein Pferd und ſagte:
„Es iſt ſo, wie ich dachte. Hätten ſie uns verfolgen
wollen, ſo wären ſie hier links eingebogen, um am Rand
des Waldes hin die Gegend zu erreichen, wo ſie uns ver⸗
muten mußten. Daß ſie das nicht getan haben, ſondern
nach dem Fluß gegangen ſind, läßt mich mit Sicherheit
darauf ſchließen, daß ſie die alberne Abſicht hegen, uns
irre zu leiten.“
„Uns irre zu leiten! Wie wäre das möglich, da
wir ihre Spur doch ſtets vor Augen haben werden!“
„Nicht ſtets. Gerade weil wir dieſer Fährte eine
immerwährende Aufmerkſamkeit widmen müſſen, könn⸗
ten wir nicht ſo ſchnell reiten, wie dieſe Leute jedenfalls
geritten ſind. Wir müßten am Abend anhalten, da wir
in der Nacht die Spur nicht ſehen können. Falls ſie
dann des Abends weiterritten, würden ſie einen ſolchen
Vorſprung vor uns bekommen, daß am nächſten Tag
die Fährte wohl ſchwerlich noch zu erkennen ſein würde.
Wir laſſen uns freilich nicht täuſchen. Wir wiſſen, daß
ſie nach dem Palmenſee wollen, und wenden uns ſtracks
dieſer Richtung zu. Kehren wir alſo jetzt um!“
Sie ritten zurück, und als ſie bei den Ihrigen an⸗
langten, wurde nach dem Lago de los Carandayes
aufgebrochen. Das erſte Ziel, die erſte Station dorthin
war, wie bereits erwähnt, die Fuente de los sangui-
juelas, die Blutegelquelle, die in nordweſtlicher Rich⸗
tung lag und mit anderthalbem Tagesritt erreicht wer⸗
den konnte.
— 255 —
Der Boden war durchweg eben und zunächſt mit
dem bekannten Camposgras bewachſen. Je weiter man
ſich aber von dem Fluß entfernte, deſto ſpärlicher wurde
dieſes Grün, und endlich hörte es ganz auf; der Boden
wurde ſandig und glich ſpäter einer Wüſte, worin keine
Spur von organiſchem Leben vorhanden zu ſein ſchien.
Der Sand beſaß angenehmerweiſe eine ſo geringe Tiefe,
daß er die Schnelligkeit des Rittes nicht beeinträchtigte.
Der Vater Jaguar hatte zunächſt die Beſorgnis,
daß Doktor Morgenſtern, der kein guter Reiter ſein
konnte, Veranlaſſung zu Verzögerungen geben werde,
doch erwies dieſe Befürchtung ſich nicht als ſtichhaltig.
Der kleine rote Gelehrte nahm ſich zuſammen; er ſaß
zwar keineswegs ſchön zu Pferde, hielt ſich aber doch
ganz leidlich und begann erſt gegen Abend über Müdig⸗
keit zu klagen. Als dann zum Nachtlager mitten in der
Wüſte angehalten wurde, zeigte es ſich, wie wacker er
ſich gehalten und alle Widerwärtigkeiten ſtill und ſtand⸗
haft ertragen hatte. Er war nämlich ſo ſteif, daß man
ihn aus dem Sattel heben mußte; er wurde, da er nicht
ſtehen konnte, in den Sand gelegt.
Der Vater Jaguar freute ſich über dieſen Herois⸗
mus des kleinen Mannes und ſagte in freundlichem
Ton zu ihm: „Warum haben Sie mir nicht geſagt, daß
Sie ſich ſo angegriffen fühlen? Wir hätten doch etwas
langſamer reiten können.“
„Danke, Herr Hammer!“ antwortete der Kleine.
„Ich habe eingeſehen, daß es ſich je ſchneller deſto glatter
reitet, und da ich mir einmal vorgenommen habe,
Ihnen nicht beſchwerlich zu fallen, ſo ſollen Sie keine
Klage von mir hören. Uebrigens haben Sie verſpro⸗
chen, mir zu einem Rieſentiere zu verhelfen, und je
eher wir dahin kommen, wo es zu finden iſt, um ſo
— 256 —
beſſer iſt es. Meine Beine ſind zwar ſteif und haben
alles Gefühl verloren, aber ich denke, daß ſchnell eine
Beſſerung, lateiniſch Emendatio genannt, eintreten
wird.“
Dieſe Hoffnung ging bald in Erfüllung, ſo daß
Morgenſtern die Dienſte, die der Chirurg ihm anbot,
zurückweiſen konnte.
Leider gab es für die Pferde keine Weide; ſie muß⸗
ten ſogar auf das Waſſer verzichten. Die Reiter ver⸗
zehrten jeder ein Stück Dürrfleiſch und legten ſich dann
ſchlafen, da mit dem erſten Morgengrauen aufgebrochen
werden ſollte. Um dieſe Zeit ging es weiter, gerade wie
geſtern immer über Sand, bis gegen Mittag am Hori⸗
zont ein dunkler Streifen auftauchte. Der Vater Ja⸗
guar verkündete, indem er auf ihn deutete: „Dort iſt
die Blutegelquelle. Der Name hat zwar keinen guten
Klang, doch gibt es hier reines Trinkwaſſer mehr als
genug, auch grüne Bäume und Sträucher, und wie ihr
ſeht, reiten wir ſchon über Gras, das bei jedem weiteren
Schritt dichter ſteht und ſaftiger wird.“
Er hatte recht. Der Gran Chaco war früher als
eine ſterile, unfruchtbare Gegend verrufen, und es gibt
allerdings bedeutende Strecken, die der Sandwüſte
Afrikas gleichen; aber wo Waſſer vorhanden iſt, ent⸗
wickelt ſich eine reiche, ja üppige Vegetation. Die Flüſſe
treten im November aus und ſetzen große Flächen unter
Waſſer, bei ihrem Rücktritt ſo viel Feuchtigkeit zurück⸗
laſſend, daß ſich der Pflanzenwuchs entwickeln und bis
weit in die trockene Jahreszeit hinein erhalten kann.
An den Ufern dieſer Flüſſe gibt es Wälder, die den Ur⸗
wäldern Braſiliens gleichen, und ſelbſt in der Wüſte
findet man zahlreiche ſtehende Gewäſſer, die ſo viele
— 257 —
Pflanzen ernähren, daß dadurch auch die Tierwelt ange⸗
zogen wird. |
Ein ſolches Gewäſſer war auch die Fuente de los
sangui-juelas. Es gab da in der Sandwüſte eine
Lehm⸗Oaſe, deren Durchmeſſer mehrere tauſend Schritte
betrug. Inmitten dieſer Oaſe lag ein kleiner Süß⸗
waſſerſee, der durch eine ziemlich reich fließende Quelle
geſpeiſt wurde. Da dieſe am Rande der Oaſe ent⸗
ſprang, hatte ſie bis zum See eine Strecke zurückzu⸗
legen, auf der ſie einen Graben mit ſehr wenig Gefälle
bildete. Dieſer Graben war halb angefüllt von verwe⸗
ſenden Pflanzenreſten, die einen moorartigen Boden
bildeten, worin zahlloſe Blutegel ihre Entwickelung ge⸗
funden hatten. Daher war dieſe Quelle die Blutegel⸗
quelle genannt worden. Uebrigens hielten ſich dieſe
Tiere nur in dem Graben und nicht in der Quelle ſelbſt
auf, infolgedeſſen deren Waſſer ſich trinken ließ. Auch
in dem See, der nicht ſehr tief war, gab es keine Egel,
deſto mehr aber Fiſche, die den in dieſer Gegend ſchwei⸗
fenden Roten oder Weißen ein willkommenes Mahl
bieten konnten.
Um den See und an den beiden Ufern des Grabens
hin zogen ſich breite Ränder von Bäumen und Sträu⸗
chern, meiſt Channjars und Algaroten, in deren Laub
eine muntere Vogelwelt ihr Weſen trieb. Und ſo weit
der Einfluß der durchſickernden und verdunſtenden
Feuchtigkeit reichte, hatte ſich auch außerhalb der Oaſe
im Sande ein Graswuchs entwickelt, der zwar je weiter
entfernt, um ſo ſpärlicher wurde, aber in der Nähe der
Bäume ein ſaftiges Grün bildete, das den Pferden der
Truppe mehr als reichlich Nahrung bot.
Hier hielten die Reiter an. Sie tranken ſich zu⸗
nächſt ſelbſt erſt ſatt und führten dann auch ihre Pferde
May, Das Vermächtnis des Inka 17
— 258 —
zu der Quelle, um ihnen die ſeit geſtern früh entbehrte
Labung zu bieten. „Don Parmeſan“ hatte ebenſo wie
die andern dürſten müſſen, aber noch entzückter als über
das erſehnte Waſſer war er über die Blutegel, die er in
dem Graben ſah.
„Welch ein Fund!“ rief er aus, indem er ſich an
Doktor Morgenſtern wendete. „Hier könnte man tau⸗
ſend fieberkranken Menſchen in einer halben Stunde
tauſend Liter Blut abzapfen. Freuen Sie ſich nicht auch
über dieſe prächtigen, allerliebſten Geſchöpfe?“
„Wenn es lauter Mammuts oder Maſtodons wä⸗
ren, würde es mich freuen,“ antwortete der Gefragte;
„aber ein Blutegel, lateiniſch Hirudo genannt, kann
mich nicht in Wonne verſetzen.“
„Weil Sie mehr vor als nach der Sintflut leben,
Senor. Denken Sie ſich irgend einen entzündeten Zu⸗
ftand. Welches Glück, wenn man da Blutegel bei der
Hand hat! Jede Geſchwulſt wird dadurch gehoben, daß
man einige Dutzend dieſer nützlichen Geſchöpfe an dieſe
legt. Ich ſetze den Fall, Ihre Zunge oder Ihr Zahn⸗
fleiſch wäre geſchwollen, ſo würde ich Ihnen mit Ver⸗
gnügen zwanzig oder dreißig Blutegel in den Mund
ſtecken.“
„Danke ſehr, Seüor — — —“
„Don, Don Parmeſan, nicht Senor!“ unterbrach
ihn der andre in ſtrafendem Tone.
„Schön! Verzeihen Sie, Don Parmeſan! Ich
danke für das Vergnügen, einen Egel in den Mund zu
nehmen! Und nun gar zwanzig! Nein, niemals!“
„Nicht? Nun, ſo wünſche ich von ganzem Herzen,
Ihre Zunge läge Ihnen ſo dick wie ein Ochſenfroſch im
Munde! Dann würden Sie mit Vergnügen die Egel
nehmen.“
4
— 259 —
„Ich muß bemerken, daß dies kein ſehr humaner
Wunſch iſt, Don Parmeſan. Einem Freunde wünſcht
man keinen Ochſenfroſch in den Mund. Uebrigens iſt
es noch gar nicht erwieſen, ob dies auch die wirklichen
mediziniſchen Blutegel ſind.“
„Sie ſind es. Ich werde es Ihnen gleich beweiſen.“
Er brach einen Zweig ab und ſchlug damit auf das
Waſſer, um einige der gleich herbeiſchwimmenden Blut⸗
egel mit ſeinem Hut herauszufiſchen. Als er einen da⸗
von in die Hand nahm, formte ſich dieſer ſofort in
Kugelgeſtalt.
„Sehen Sie, daß er echt iſt!“ rief er aus. „Sobald
ſich der Egel zu einer Kugel zuſammenrollt, iſt er
brauchbar. Ich werde Ihnen das noch weiter beweiſen.
Bitte, ſtecken Sie einmal die Zunge heraus! Ich will
Ihnen dieſe Egel daran ſetzen, und Sie werden ſehen,
daß ſie ſofort anbeißen.“
„Warum gerade die Zunge, Don Parmeſan?“
„Weil ſie der blutreichſte Teil Ihres Körpers iſt,
den Sie augenblicklich zur Verfügung haben.“
„So erſuche ich Sie ergebenſt, dieſes Experiment
an Ihrer eigenen Zunge, lateiniſch Lingua genannt,
vorzunehmen.“
Er wich vor dem Chirurgen zurück. Dieſer be⸗
merkte kopfſchüttelnd dazu: „Ich kann nicht begreifen,
wie ein Naturforſcher, ein Zoolog, eine ſolche Scheu vor
dieſen reinlichen Tierchen haben kann. Ich werde dieſe
ſchöne Gelegenheit benutzen, mir einen Vorrat zu fangen
und aufzubewahren. Ich habe glücklicherweiſe geſehen,
daß einer von unſern Leuten einige leere Weinflaſchen
bei ſich hat. Er wollte ſie hier mit Waſſer füllen; aber
ich hoffe, daß er ſie mir um des guten Zweckes willen
ablaſſen wird.“
— 260 —
Er ſprach mit dem betreffenden Mann, der ihm
ſeine Bitte gewährte. Dann zog er ſeine Stiefel aus,
ſetzte ſich an den Rand des Grabens und ſtellte die
nackten Füße in das Waſſer. Sie bedeckten ſich ſehr
ſchnell mit Blutegeln, die er ablas und in die
Flaſchen tat.
Während er ſich auf dieſe Weiſe beſchäftigte, ſchritt
der Vater Jaguar die ganze Oaſe ab, um deren Boden
ſehr ſorgfältig zu unterſuchen. Andre halfen ihm dabei.
Da, wo der Strauch- in den Graswuchs überging, fiel
ihm eine Stelle auf, die nur ſpärlich mit Grün über⸗
wachſen war. Als er mit dem Fuß darauf ſtampfte,
klang ſie hohl.
„Ich wette, hier iſt das Verſteck, das ich ſuche!“
ſagte er.
„Ick bin derſelbigen Meinung,“ antwortete Fritze,
der daneben ſtand; „denn dieſe Stelle ſieht jrad ſo aus
wie diejenige, wo wir die Gigantochelonia ausjraben
wollten. Dat Iras war dort auch ſo dünn.“
„So graben wir nach. Holen Sie die Werkzeuge,
Kieſewetter!“
Fritze brachte dieſe herbei und wollte ſich ſogleich
bereitwillig an die Arbeit machen; aber Hammer wehrte
ab, indem er ſagte: „Halt! Nicht in dieſer Weiſe! So,
wie Sie es an der Fiſchquelle gemacht haben, dürfen wir
es nicht machen. Sie haben dort doch wohl die ganze
Decke rund umgraben?“
„Allerdings.“
„Und dabei die Erde tief aufgewühlt?“
„Natürlich! Wir haben jedacht, wir hätten ein
Rieſentier herauszubuddeln. Da au dat Loch fo jroß
wie möglich ſind.“
— 261 —
„Dies werden wir nicht tun. Nicht wahr, es gab
in dem Lehmboden eine ſandige Stelle?“
„Ja. Dat war der verſchüttete Eingang zu dat
Jeheimnis.“
„So brauchen wir doch nur den Eingang zu öffnen,
um hinabzukommen. Und dies werden wir ſo vorſichtig
tun, daß ſpäter niemand bemerken wird, daß man das
Verſteck geöffnet hat.“
„Aber dann, wenn ſie die Jeſchichte herausnehmen
wollen, werden ihnen die Augen aufjehen!“
Vater Jaguar bückte ſich, um den Boden zu unter⸗
ſuchen, und fand bald die ſandige Stelle, die noch weniger
Gras trug als ihre Umgebung. Sie wurde ſehr ſorg⸗
fältig, zunächſt mit dem Spaten umſtochen und ausge⸗
hoben. Dann grub man in die Tiefe. Der Vater Ja⸗
guar ließ eine Anzahl Ponchos ausbreiten, auf die das
Erdreich geworfen wurde, damit nichts davon im Gras
liegen bleibe und dann zum Verräter werden könne.
Als man einige Fuß tief gekommen war, brach der
Boden des Loches ein, und der Sand fiel, ganz wie un⸗
längſt an der Fiſchquelle, nach innen. Das Loch wurde
ſo erweitert, daß Hammer hinabſteigen konnte. Als er
unten anlangte, befand er ſich in einer kleinen Höhle,
die genau derjenigen glich, bei deren Oeffnen Don Par⸗
meſan, Doktor Morgenſtern und Fritze ſo unangenehm
überraſcht worden waren. Jetzt galt es, deren Boden
aufzuheben. Als dies geſchehen war, erfuhr man, was
das Verſteck enthielt. Da gab es kleine Pulverfäſſer,
die, um die Erdfeuchtigkeit abzuhalten, in Leder einge⸗
näht waren, Gewehre, Meſſer und eine Anzahl andrer
eiſerner Waffen und Werkzeuge.
Dieſe Gegenſtände wurden an das Tageslicht ge⸗
bracht. Man zählte hundert Gewehre und doppelt ſo
— 262 —
viele Meſſer. Auch Speer⸗ und Pfeilſpitzen waren vor⸗
handen.
„Das alles iſt für die Abipones beſtimmt, wird aber
den Cambas, unſern Freunden, zu gute kommen,“
meinte der Vater Jaguar erfreut. „Schütten wir das
Loch wieder zu!”
Die Erde wurde von den Ponchos ſo in die Oeff⸗
nung geſchüttet, daß kein Krümchen daneben fiel, und
feſtgeſtampft. Dann legte man den ausgeſtochenen Ra⸗
ſen darauf und begoß ihn mit Waſſer, damit die beſchä⸗
digten Halme nicht abſterben möchten. Während dieſe
Arbeit beendet worden war, hatten einige andre im See
gefiſcht und reiche Beute gemacht. Die Pampas ſind bei
weitem nicht ſo wildreich wie die Prärien Nordameri⸗
kas, aber überall liegen Lagunen und kleine Seen zer⸗
ſtreut, die, ſoweit ſie nicht Salzſeen ſind, meiſtens Fiſche
enthalten, weshalb die Pampasjäger meiſt mit Angeln
und Netzen verſehen ſind.
Zur Zubereitung der Beute wurden Feuer ange⸗
brannt, aber nicht auf der Oaſe, ſondern draußen auf
dem nackten Sande. Dort konnten die Spuren leicht
verwiſcht werden, während ſie im Gras verkohlte Stellen
zurückgelaſſen hätten. Dann begann ein Backen und
Braten, daß der leckere Duft die ganze Oaſe erfüllte.
Man mußte für Vorrat ſorgen, denn man durfte nicht
hoffen, morgen auf ein jagdbares Tier zu treffen, und
an der Krokodilsquelle, wohin man wieder anderthalb
Tage zu reiten hatte, war auch kein Fang zu erwarten.
Die Pferde taten ſich während des ganzen Nach⸗
mittags am Graſe gütlich, und ihre Herren aßen ſich
mehr als ſatt. Dennoch zeigte es ſich, da der Fiſchzug ſo
reich ausgefallen war, daß man einen Vorrat von wohl
fünf Mahlzeiten beſaß. Die Zubereitung der Fiſche war
— 263 —
eine höchſt einfache. Sie wurden einzeln mit trockenem
Schilf umwickelt und dieſes angezündet; war es ver⸗
brannt, ſo war der Fiſch ſo ſchön durchbraten, daß das
Fleiſch ſich leicht von den Gräten löſte.
So wurde es Abend, und man ſaß noch einige Zeit
an den Feuern beiſammen, um ſich zu unterhalten. Die
Deutſchen hatten ſich zuſammengefunden, um ſich ihrer
Mutterſprache bedienen zu können, was ihnen die Ar⸗
gentinier gar nicht übelnahmen. Unter dieſen letzteren
zeichnete ſich ein junger, lebhafter Menſch durch ſeine
Sprachfertigkeit und die Witze aus, die er unaufhörlich
zum beſten gab. So oft er den Mund öffnete, brachte
er etwas vor, worüber die andern lachen mußten. Er
war der Witzbold der Geſellſchaft und wurde darum nicht
bei ſeinem eigentlichen Namen gerufen, ſondern El
Picaro, der Schalk, genannt.
Später legte man ſich zur Ruhe. Obgleich man
nicht zu befürchten brauchte, überraſcht zu werden, wur⸗
den einige Wachen ausgeſtellt. Die Pferde brauchten
nicht beaufſichtigt oder gar angebunden zu werden, da
man ſicher ſein konnte, daß ſie nicht über die Oaſe hin⸗
aus und auf den dürren Sand gehen würden, der ihnen
kein Futter bot.
Am andern Morgen wurde zunächſt ein kurzes
Mahl gehalten. Den Fleiſchvorrat wickelte man ſorg⸗
fältig in Decken. Die Beute, die dem Verſteck entnom⸗
men worden war, ließ Hammer ſo verteilen, daß kein
Pferd zu viel zu tragen hatte. Nachdem darauf alle
Spuren auf das ſorgfältigſte verfilgt worden waren,
brach man auf.
Der heutige Ritt ging in derſelben Richtung wie
der vorherige: nach Nordweſten. Es gab wieder Sand⸗
wüſte, und zwar den ganzen Tag. Einigemale
kam man an kleinen Seen vorüber, die Salzwaſſer ent⸗
— 264 —
hielten. An den Ufern ſtanden einige kümmerliche
Salzpflanzen Zur Mittagszeit wurde eine Stunde ge⸗
raſtet und am Abend mitten in der Wüſte Lager ge⸗
macht, natürlich ohne Feuer, da kein Material zu einem
ſolchen vorhanden war. Gegen Morgen, als es noch
dunkel war, brach man ſchon wieder auf.
Intereſſant war es, den Chirurgen zu beobachten,
welche Aufmerkſamkeit er ſeinen Blutegeln widmete.
Daß er ſie überhaupt mitgenommen hatte, dafür gab es
feinen beſtimmten Grund. Es waren eben mediziniſche
Tiere, und da er ſich für einen berühmten Arzt hielt,
wollte er auf ſeine Gefährten damit Eindruck machen.
Er durfte die Flaſchen, worin ſie ſich befanden, nicht
luftdicht verſchließen, da ſie ſonſt erſtickt wären. Darum
hatte er die Ecken ſeines Kopftuchs abgeriſſen und dieſe
Fetzen um die Flaſchenhälſe gebunden. Er war ferner
der Anſicht, daß ſeine Schützlinge vor jeder größeren Er⸗
ſchütterung zu bewahren ſeien, und hatte infolgedeſſen
die Flaſchen in ſeinen Gürtel geſteckt, aus dem ſie wegen
ihrer glatten Oberfläche immer unten herausrutſchen
wollten. Darum war er unqusgeſetzt damit beſchäftigt,
ſie immer und immer wieder in die Höhe zu ſchieben; er
hatte die Hände nie zu etwas anderm frei, und da ſein
Pferd nicht das beſte war und er es an der Zügelführung
mangeln laſſen mußte, wurde er tüchtig zuſammenge⸗
rüttelt und war, als man die Krokodilquelle erreichte,
ſo ermüdet, daß er ſogleich aus dem Sattel ſprang, die
Flaſchen in das Gras ſtellte und ſich daneben niederlegte.
Dieſe Quelle trug ihren Namen mit vollem Recht.
Mitten in der Sandwüſte lag eine große Lagune, deren
Waſſer außerordentlich trüb und ſchlammig war. Sie
wurde von einem breiten Schilfrand umſäumt, der
ſeinerſeits wieder von Tamarinden, Breas und baum⸗
— 265 —
artigen Kakteen umgeben war. Dieſer Gürtel wurde an
verſchiedenen Stellen durch graſige Lichtungen unter⸗
brochen, die den Pferden willkommenes Futter boten.
Auf einer dieſer Lichtungen drang die Quelle aus dem
Boden, um ihr Waſſer in nicht allzugroßer Entfernung
in die Lagune zu ſenden, wo es ſofort ſeine Helligkeit
verlor und trüber wurde.
Dieſer letztere Umſtand hatte ſeinen Grund darin,
daß das Waſſer der Lagune nie ſtill ſtand, ſondern un⸗
ausgeſetzt bewegt wurde, und zwar von Krokodilen,
welche Jagd auf ihresgleichen und auf andere Tiere
hielten und dabei den Schlamm fortwährend aufwühl⸗
ten. Es war geradezu erſtaunlich, zu ſehen, in welcher
Menge dieſe häßlichen Tiere hier vorhanden waren. Als
Doktor Morgenſtern ſie erblickte, rief er erſchrocken aus:
„Iſt ſo etwas möglich! Das iſt ja entſetzlich! Da ſieht
man ja dreißig, vierzig, ſechzig auf einmal, die überein⸗
ander wegſtürzen! Was ſagſt du dazu, Fritze?“
„Wat ick ſage? Jar nichts. Da bleibt mich jradezu
der Mund offenſtehen, und ick werde ihm wohl erſt dann
wieder zumachen, wenn mich eins hineinjefahren iſt. Ick
möchte nur wiſſen, wovon ſie ihren Appetit befriedigen.“
„Wenn Sie aufpaſſen, werden Sie es baldigſt
ſehen,“ bemerkte der Vater Jaguar. „Wir haben uns
dem Rio Salado wieder genähert und befinden uns in
einer Gegend, die von ſeiner jährlichen Ueberſchwem⸗
mung erreicht wird. Das iſt die beſte Zeit für dieſe
Beſtien, die dann vollauf Fraß finden. Iſt die Ueber⸗
ſchwemmung vorüber, ſo tritt Faſtenzeit für ſie ein. Zu⸗
nächſt freſſen ſie Fiſche und andres Getier, das aus dem
Fluß in die Lagune gelangt iſt. Hat das aufgehört, ſo
treibt fie der Hunger, ſich untereinander zu bekriegen.
Die großen freſſen die kleinen.“
— 266 —
V uUnd wenn keine kleinen mehr vorhanden find, wat
tun dann die jroßen?“
„Dann wiſſen ſie ſich nicht anders zu helfen, als
daß — — — Da,“ unterbrach er ſich, „werden Sie es
gleich ſehen. Paſſen Sie auf!“
Gar nicht weit von ihnen waren in der Nähe des
Ufers zwei mächtige Krokodile in Kampf geraten. Sie
warfen ſich gegen⸗ und aufeinander, daß Schlamm und
Waſſer hoch aufſpritzten. Nach kurzem Ringen hatten ſie
ſich gegenſeitig an den ſcharf bewehrten Kinnladen ge⸗
packt und ſo ineinander verbiſſen, daß ſie nicht ausein⸗
ander zu können ſchienen. Da ſchoß ein drittes heran
und riß dem einen ein Bein aus dem Leibe, worauf es
mit feinem Raub im Waſſer verſchwand. Das verletzte
Untier ließ einen ganz eigenartigen, nicht zu beſchreiben⸗
den Schmerzenston hören, worauf ſogleich mehrere andre
herbeigeſchoſſen kamen, aber nicht etwa, um ihm zu hel⸗
fen, ſondern um ſich ſeiner zu bemächtigen. Es wurde
förmlich in Stücke zerriſſen, wobei ihm ſeine Rücken⸗
ſchilder nicht den mindeſten Schutz gewährten.
„Da ſehen Sie, wovon ſie leben“, ſagte Hammer.
„Hat eins von ihnen, und wenn es das größte und
ſtärkſte wäre, einmal eine Verwundung erhalten, ſo iſt
es verloren; es wird von den andern aufgefreſſen. Und
dabei ſind dieſe Tiere von einer Feigheit, die ihres⸗
gleichen ſucht. Ich will es Ihnen beweiſen.“
Er nahm ſein Gewehr vom Rücken und drückte ab.
Als der Schuß ertönte, verſchwanden ſämtliche Kroko⸗
dile wie mit einem Schlag; die Waſſer kräuſelten noch
einige Augenblicke und ſtanden dann ſo ruhig, als ob in
ihnen niemals irgend ein Leben geherrſcht habe. Von
den Ufern aber erhoben ſich ſchreiend einige Stelzvögel,
die trotz der Krokodile im Schlamm nach Beute geſucht
\
— 267 —
hatten, und aus den Zweigen der Bäume flog kreiſchend
eine Schar von Papageien auf.
Fritze riß ſein Gewehr an die Wange und wollte
auf die letzteren ſchießen, Hammer aber ſchob es ihm
weg und fragte: „Was wollen Sie? Etwa Ihr Pulver
unnütz verſchwenden?“
„Unnütz? Ick wollte mich zu unſerm Fiſch einen
Jeflügelbraten ſchießen.“
„Laſſen Sie das! Wenn Sie keine Krokodilzähne
haben, rate ich Ihnen nicht dazu. Der Papagei wird
ungeheuer alt, und ſelbſt in jungen Jahren iſt ſein
Fleiſch ſo zähe, daß es kaum genoſſen werden kann.“
„Etwa wie der ſchöne Vogel Strauß, von dem wir
uns auch ſo 'nen Braten leiſten wollten, wie ick Sie er⸗
zählt habe?“
„Ja. Wir müſſen uns mit unſern Fiſchen begnü⸗
gen. Später, wenn wir wieder in Wälder und zu den
mir befreundeten Cambas kommen, werden wir beſſer
leben.“
Die Pferde wurden abgeſattelt, getränkt und auf
die Weide gelaſſen. Die Reiter nahmen ihr Mittags⸗
mahl ein und dann wiederholte ſich genau das, was ſich
an der Blutegelquelle zugetragen hatte: das Waffenver⸗
ſteck wurde geſucht, gefunden, ausgeleert und wieder zu⸗
gemacht. Während dieſer Arbeit war es Abend gewor⸗
den, und man brannte einige Feuer an. El Picaro,
der Schalk, machte wieder ſeine Witze, und die Deutſchen
ſaßen erzählend bei einander.
Später wurden die Wachen ausgeſtellt, welche dies⸗
mal auch die Aufgabe hatten, die Feuer von Zeit zu Zeit
zu ſchüren, da es kühl geworden war, dann legte man ſich
ſchlafen.
— 268 —
Ehe Don Parmeſan ſich zur Ruhe in ſeinen Poncho
hüllte, ſah er noch einmal nach ſeinen Blutegeln, denen
er ſeit Mittag zweimal friſches Waſſer gegeben hatte.
Er ſtellte die Flaſchen ſorgſam zwiſchen ſich und Fritze,
der neben ihm lag, und wendete ſich dann auf die Seite,
um einzuſchlafen.
Die Nacht verging ohne Störung, ohne daß etwas
Ungewöhnliches geſchah, außer man wollte das, was
einer der Wachtpoſten gegen Morgen tat, ungewöhnlich
nennen. Dieſer Poſten war El Picaro, der Schalk.
Eben hatte er wieder einmal die Feuer geſchürt, da ging
er nicht, wie vorher, wieder fort, ſondern er ſchlich ſich
auf den Fußſpitzen nach der Stelle hin, wo der Chirurg
ſorglos ſchnarchte. Er lauſchte eine Weile und griff, als
niemand ſich regte, nach den Blutegelflaſchen; es waren
ihrer drei. Er öffnete ſie, indem er den Baumwollenver⸗
ſchluß losband, und verſuchte ſodann, die Decke, worin
Don Parmeſan ſich gewickelt hatte, unten auseinander⸗
zuſchlagen. Es gelang. Der Chirurg trug, wie ſchon
früher erwähnt, lange Stiefel, deren Schäfte er heute
nicht ganz emporgezogen hatte; ſie reichten ihm nur bis
an die Knie und bildeten dort trichterähnliche Oeffnun⸗
gen, wohin El Picaro den Inhalt zweier Flaſchen ſchüt⸗
tete; dann ſchlug er die Decke wieder zuſammen. Mit
der dritten kroch er zu Fritze Kieſewetter hin. Auch dieſer
hatte ſich in ſeinen Poncho gewickelt, den El Picaro an
einer Stelle auseinanderzog, um dort die Flaſche zu ent⸗
leeren. Hierauf band er die drei Flaſchen wieder zu,
genau ſo, wie ſie vorher verſchloſſen geweſen waren, und
ſtellte ſie an ihren Platz zurück. Dann ſchlich er zum
andern Wachtpoſten zurück.
„Nun, iſt's gelungen?“ fragte dieſer.
„Ja, vollſtändig,“ kicherte der luſtige Burſche.
— 269 —
„Prächtig!“ lachte auch der andre. „Was wird ei
ſagen, wenn er merkt, daß er die Sanguijuelas auf dem
Leibe anſtatt in den Flaſchen hat!“
„Es gibt einen Hauptſpaß, zumal ich die Flaſchen
wieder zugebunden habe. Dann kann er es ſich nicht er⸗
klären, wie ſie herausgekommen ſind.“
„Hat er ſie alle?“
„Alle nicht, obgleich ich die Flaſchen leer gemacht
habe. Es war keine leichte Arbeit, dieſe klebrigen Din⸗
ger, nachdem ich das Waſſer abgegoſſen hatte, herauszu⸗
ſchütten. Ein andrer hat auch welche.“
„Ein andrer? Wer?“
„Federico mit dem unausſprechlichen deutſchen
Namen, der Diener des Gelehrten.“
„Dieſer? Das hätteſt du nicht tun ſollen. Er iſt
ein braver Burſche.“
„Ich beabſichtigte es eigentlich nicht; aber als ich
ihn ſo ſchön nebenan liegen ſah, da zuckte es mir ſo lange
in den Fingern, bis auch er ſein Teil erhielt.“
„Wie lange währt es, bis die Würmer angekrochen
ſind?“
„Wer kann das ſagen! Ich bin kein Arzt und habe
noch keinen Blutegel beobachtet. Vielleicht eine Stunde.
Dann iſt es Tag, und es wird ſo hell, daß wir die Be⸗
ſcherung ſehen können.“
Die beiden flüſterten und lachten noch eine Weile
und gingen dann auseinander. Sie hatten die letzte
Wache übernommen und waren alſo diejenigen, die zu
wecken hatten. Die Zeit verging, und der Tag begann
zu grauen. Sie weckten noch nicht, ſondern begaben ſich
in die Nähe der Schläfer, um, hinter zwei Bäumen ver⸗
ſteckt, die beiden Opfer ihres Scherzes zu beobachten. Die
Blutegel hatten den Weg durch die Kleider gefunden und
— 270 —
ich feſtgeſaugt. Die von ihnen Ueberfallenen fühlten
zwar den Angriff, der gegen verſchiedene ihrer Körper⸗
teile gerichtet war, waren aber vom Schlaf noch ſo feſt
umfangen, daß ſie nicht erwachten. Sie drehten ſich von
rechts nach links, von links nach rechts; ſie kratzten mit
den Händen nach ihren Armen und Beinen; ſie kratzten
ſich an allen Ecken und Enden und murmelten dabei
leiſe Worte, die man nicht verſtehen konnte.
Jetzt erſt riefen El Picaro und fein Kamerad die
Schläfer wach, und dieſe ſprangen auf. Als der kleine
Gelehrte ſeinen Diener erblickte, fragte er erſtaunt:
„Fritze, was haſt du da im Geſicht? Ich denke, wir be⸗
finden uns an der Quelle der Krokodile und nicht an der⸗
jenigen der Blutegel!“
Freilich iſt dat richtig,“ antwortete der Gefragte.
„Wir haben dat Vergnüjen, uns bei die Krokodils zu
befinden.“
„Aber es iſt doch kein Krokodil, ſondern ein Blut⸗
egel, der dir an der Wange, lateiniſch Gena, hängt. Und
über der Naſe haſt du dir einen zweiten zerdrückt! Greif
nur an die rechte Wange! Da hängt einer, und was für
einer! Er hat ſich vollſtändig dick geſaugt.“
Fritze wollte dieſer Aufforderung folgen und erhob
die Hand. Da fiel ſein Blick auf dieſe; er ließ ſie wieder
ſinken, ſtarrte ſie erſtaunt an und rief ſodann aus:
„Wat iſt denn dat? Da hängt ein fremdes Jeſchöpf, das
jar nicht zu mich jehört, an meine Hand! Iſt dat ein
Polyp oder eine jebackene Rettichsbirne?“ |
Er betrachtete den Egel, der allerdings in Birnen
form von ſeiner Handoberfläche herniederhing. Er ſchüt⸗
telte die Hand, aber das Tier hing feſt.
„Ein Blutegel iſt's,“ erklärte Morgenſtern. „Und
der im Geſicht iſt noch viel größer und dicker.“ N
— 271 —
Fritze fuhr ſich in das Geſicht, fühlte das Tier, faßte
es feſt, riß es los und warf es von ſich. Natürlich be⸗
gann die Stelle ſofort zu bluten.
„Blutegel ſind's, wahrhaftig, Blutegel! Fui
Spinne!“ ſchrie er auf. „Die habe ick an der letzten
Quelle aufjeleſen.“
Die Argentinier lachten alle, obgleich ſie ſeine Worte
nicht verſtanden. Er hatte am Halſe noch einen Egel und
einen andern hinter dem Ohr ſitzen. Seitwärts hinter
ihm ſtand Don Parmeſan. Dieſem hingen zwei Egel
am Kinn. Er fühlte ſie nicht. Er ſah, um was es ſich
handelte, trat raſch vor und ſagte zu Fritze, natürlich in
ſpaniſcher Sprache: „Sie haben Sanguijuelas im Ge⸗
ſicht, am Halſe und am Ohr, Senor. Ich werde fie
Ihnen abnehmen. Ich verſtehe das. e Sie ſtill;
ich tue Ihnen nicht weh.“
Er griff nach dem Egel am Halſe des eder dieſer
aber gab ihm lachend zurück: „Operieren Sie erſt ſich
ſelbſt, Don Parmeſan! Sie haben ja auch zwei Stück
am Kinn hängen.“
„Ich?“ fragte der Chirurg erſtaunt. Er griff nach
der bezeichneten Stelle und fühlte die Anhängſel. Da
fuhr er erfreut fort: „Das iſt gut! Die ſind mir ange⸗
krochen, als ich mit den Füßen im Waſſer ſaß. Ich habe
ſie hierher getragen, ohne es zu wiſſen. Ich werde ſie
abnehmen, ohne ihnen wehe zu tun, und ſie dann zu den
andern in die Flaſche ſtecken. Warten Sie, Seßor!
Dann befreie ich Sie auch von den Ihrigen.“
Er machte einen leiſen Verſuch, ſeine Blutſauger zu
entfernen, und da ſie voll und ſatt waren, gelang es ihm
ſehr leicht. Dann bückte er ſich nach ſeinen Flaſchen
nieder, hob die eine empor, machte ein verblüfftes Ge⸗
ſicht, nahm die andre und auch die dritte auf und rief
— 272 —
dann beſtürzt aus: „Leer! Alle drei ſind leer! Wo
ſind meine Sanguijuelas hin?“
Ein allgemeines lautes Gelächter antwortete ihm.
El Picaro hatte ſeinen Gefährten ein heimliches Zeichen
gegeben; ſie verſtanden ihn und wußten ſogleich, woran
ſie waren. Darum antwortete Geronimo dem erſtaun⸗
ten Chirurgen: „Wohin ſie ſind? Das müſſen Sie doch
fühlen, Don Parmeſan. Ich glaube, Sie tragen ſie an
Ihrem Leibe. Und unfer lieber Seüor Federico mag
auch einmal nachſehen, ob diejenigen, die wir bis jetzt an
ihm ſehen, die einzigen ſind, die ſich für ihn intereſſieren.“
Er trat zu dem Genannten, nahm ihm den Gürtel
ab, zog die Bruſtſchlitze des Hemdes auseinander und
fuhr dann lachend fort: „Dachte es mir! Eine ganze
Kolonie von Blutegeln, einer immer neben dem andern!
Sesöor, die lieben Tiere müſſen eine ungemeine Zunei⸗
gung für Sie haben!“
„Danke für die Zuneigung!“ antwortete Fritze
zornig, indem er nach ſeiner Bruſt griff, um die Egel
abzureißen. Da aber fiel Don Parmeſan ihm in die
Arme, hielt dieſe feſt und ſchrie entſetzt: „Halt, halt,
Senor! Meine Flaſchen find leer; das find alſo meine
Sanguijuelas, an denen Sie ſich nicht vergreifen dürfen!
Sie ſind mir entſchlüpft, und ich muß ſie mir wieder ein⸗
fangen, einzeln und behutſam, damit ich keinen verletze.“
„Ach, was geht es mich an, wem dieſe Raubtiere
gehören!“ erwiderte Kieſewetter erboſt. „Ich laſſe mich
nicht von ihnen anfallen und auffreſſen. Herunter mit
ihnen!“
Er wollte dieſen Vorſatz ausführen, doch der Chi⸗
rurg hielt ihm die Arme noch immer feſt und bat in fle⸗
hendem Ton: „Nein, nein, Seüor! Ich erſuche Sie in⸗
— 278 —
ſtändigſt, mir den Gefallen zu tun. Ich leſe ſie Ihnen
ab, und wenn alle an Ihnen hängen ſollten!“
„Alle? Das fehlte noch! Ich habe genug an dieſen
da, und wenn — —“
Er hielt inne und machte ein Geſicht, als ob er auf
etwas lauſche; dann ſchlug er ſich mit den Händen kräftig
gegen die Oberarme, die Schenkel und andre Körperteile
und wetterte, im höchſten Grade ergrimmt: „Ja, ich
habe ſie alle, alle! Ich fühle es jetzt ganz deutlich!“
„Ich auch, ich auch!“ rief Don Parmeſan, von dem
ſich Fritze losgeriſſen hatte. Er fuhr ſich mit der Hand
unter das Gewand, um ſich von der Anweſenheit der
Blutegel, die er nun auch fühlte, zu überzeugen.
„Ich habe ſie am ganzen Leibe ſitzen“! fuhr Fritze
fort. „An den Armen, an den Beinen, auf dem Rücken,
auf dem Leibe!“
„Ich auch, ich auch!“
„Dieſe Beſtien, dieſe Vampyrs! Ich zerſchlage ſie,
ich zerquetſche ſie alle, alle!“
Da fiel ihm Don Parmeſan abermals in die Arme
und ſchrie: „Halten Sie ein! halten Sie ein! Sie er⸗
morden die Egel ja; Sie zerquetſchen ſie; Sie ſchlagen
ſie tot. Halten Sie ſtill! Ich nehme ſie Ihnen ſo ſäu⸗
berlich ab, daß Sie Ihre Freude daran haben werden!“
„Still halten? Fällt mir gar nicht ein,“ antwor⸗
tete Fritze, ſich gegen den Chirurgen wehrend. „Sterben
müſſen ſie, elendiglich umkommen!“
„Nein, nein, und abermals nein! Haben Sie Er⸗
barmen! Ich nehme ſie alle ab. Und wenn einer oder
einige nicht wollen, ſo laſſen wir ſie hängen, bis ſie ſatt
ſind; dann fallen ſie freiwillig und ganz von ſelber ab.“
„Bis ſie ſatt ſind? So lange ſoll ich warten? Soll
ich mich verbluten, Sie Ungeheuer? Soll ich Ihrer
May, Das Vermächtnis des Inka 18
— 274 —
Würmer wegen mein Leben auf das Spiel ſetzen? Fort
mit Ihnen! Packen Sie ſich! Laſſen Sie los, ſonſt —!“
„Senor, Euer Gnaden, vergeſſen Sie nicht, daß jede
Wiſſenſchaft ihre Opfer fordert. Haben Sie die Güte
und —
„Jort, ſage icht Opfer fordert! Sie ſind toll, wahn⸗
ſinnig! Ihrer Egelwiſſenſchaft zulieb opfere ich mich
noch lange nicht!“
Sie zerrten hin und her; ſie ſtolperten über die
Flaſchen und fielen zu Boden. Der eine wollte ſich von
dem andern befreien, und dieſer wollte nicht loslaſſen;
ſo kam es, daß ſie ſich überkugelten, ſich hin und her
wälzten, ſich einmal halb aufrichteten und doch wieder
niederzerrten. Dabei ſchimpfte Fritze in allen Tonarten
auf den Chirurgen, und dieſer bat ebenſo in allen Ton⸗
arten um Mitleid für die Wiſſenſchaft und Blutegel. Die
Argentinier, aber auch Doktor Morgenſtern, lachten, was
ſie nur lachen konnten. Der alte Anciano und der Inka
ſtanden zwar mit ernſten Geſichtern dabei, doch ſah man
es ihren lachenden Augen an, daß ſie nur mit Anſtren⸗
gung ihre indianiſche Würde zu bewahren vermochten.
Und was endlich den Vater Jaguar betraf, ſo warf er
zwar dieſem ſchlimmen El Picaro einen ſtrafenden Blick
zu, konnte ſich aber dennoch dem ſpaßhaften Eindruck
nicht entziehen: Um ſeine Blutegel zu retten, hatte der
„Don“ einen Kampf herbeigeführt, durch den ſie erſt recht
vernichtet werden mußten. Sie wurden ja alle zer⸗
quetſcht und zerdrückt. Endlich aber, als die beiden ge⸗
rade im Begriff ſtanden, in das Waſſer der Quelle zu
kollern, griff Hammer doch zu und zog fie auseinander,
indem er ihnen zurief: „Nun hören Sie aber aufl Die
Sache iſt doch eher ſpaß⸗ als ernſthaft zu nennen.“
— —— — — —
— 275 —
„Spaßhaft? Soll ich es einen Spaß nennen, daß
dieſer Senor, der alles herunterſäbelt, fünfhundert Blut⸗
egel mit ſich ſchleppt, um ſie mir bei nachtſchlafender Zeit
auf den Leib zu ſetzen?“
„Fünfhundert?“ rief Don Parmeſan. „Neunzig
ſind es geweſen, nicht mehr als neunzig. Es waren ge⸗
rade nur dreißig in jeder Flaſchel“
„Iſt das etwa nicht genug? Neunzig, ſage neun⸗
zig Blutegel ſitzen mir auf der Haut. Sie nagen an
meinem Leben; ſie entleeren meine Adern; ſie trinken
den koſtbaren Saft meines deutſchen Blutes! Rechne
ich auf jeden nur ein halbes Pfund, ſo habe ich in dieſer
Nacht fünfundvierzig Pfund Blut verloren!“
„Der Menſch hat ja nicht mehr als zehn Pfund
Blut, lateiniſch Sanguis genannt,“ fiel Morgenſtern be⸗
lehrend ein. |
„Ja, zehn Pfund lateiniſches Sanguis!“ fuhr Fritze
zornig auf. „Ich aber ſtamme vom Rummelsburger See,
und dort hat das Blut ein ganz andres Gewicht. Wer
gibt mir das Quantum, das ich verloren habe, wieder?“
Abermals miſchte ſich der Vater Jaguar beſchwich⸗
tigend ein, indem er freundlich mahnte: „Kommen Sie
beide mit mir hinter das Geſträuch! Dort wollen wir
einmal nachſehen, welchen Schaden die Tiere angerichtet
haben.“
„Gut, ſehen wir nach!“ willigte Fritze ein. „Sie
werden da erkennen, daß ich nicht nur angezapft, ſondern
geradezu verzapft worden bin, De ein Bierfaß, das nicht
mehr läuft.“
„Ja, ſehen wir nach!“ fannt auch der Chirurg
bei. „Aber ſehen wir nicht nach, welchen Schaden meine
Blutegel bei ihm verurſacht haben, ſondern welchen er
unter ihnen angerichtet hat!“
4
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9 „ —
— 276 —
Die drei entfernten ſich und verſchwanden hinter
den Büſchen. Bald waren laute Ausrufe zu hören:
dann kam Fritze plötzlich mit entblößtem Oberleib aus
dem Geſträuch herbeigerannt und rief erboſt: „Señores,
ſehen Sie mich an! Bin ich noch ein Menſch? Oder bin
ich eine Haut, die ein Blutegelhändler als Muſterkarte
vorzeigen kann?“
Und der Chirurg kam ihm mit ebenſo entblößtem
Oberkörper nachgeſprungen und ſchrie: „Sie ſind alle
hin, alle, alle! Es iſt kein einziger am Leben geblieben.
Sehen Sie mich und dieſen Mörder an, Señores! Ich
hätte ſie ihm und mir mit der größten Kunſtfertigkeit ab⸗
genommen. Er brauchte ihnen nur zu erlauben, ſich voll⸗
zufaugen. Er aber hat fie erſchlagen und ſich mit mir fo
lange im Gras gewälzt, bis auch der allerletzte zerdrückt
und zerquetſcht worden iſt. Wer erſetzt mir nun meine
Egel?“
„Und wer mir mein Blut?“ fragte Fritze. „Und
wer reinigt mich? Wer wäſcht mich ab? Wer macht
mich aus dieſer Muſterkarte wieder zu einem Menſchen?“
„Don Parmeſan,“ ſagte der Vater Jaguar, der
ihnen langſam nachgegangen kam.
„Das will ich gelten laſſen; das iſt das erſte geſcheite
Wort, das in dieſer Angelegenheit geſprochen worden iſt.“
„Und wer aber ſäubert mich?“ fragte der Chirurg
dagegen. |
„Ich,“ antwortete El Picaro. „Ich tue es aus
Mitleid um die lieben Tiere, die ſo mitten in ihrem
ſchönſten Lebensgenuß haben ſterben müſſen.“
„Hüte dich, daß ich dich nicht auch mitten aus deinem
jetzigen Genuß reiße!“ warnte ihn der Vater Jaguar.
„Es ſcheint, daß auch du in vollſter Wonne ſchwelgſt.“
— 277 —
Jetzt erklärten ſich auch noch andre bereit, bei der
Prozedur behilflich zu ſein. Die beiden „An⸗ und Abge⸗
zapften“ wurden an das Waſſer geſtellt und gehörig ein⸗
geweicht und abgerieben. Was fie dabei fühlten, bebiel«
ten ſie für ſich, doch wurde es durch ihre ſchmerzlich be⸗
wegten Mienen genugſam verraten. Als es zu Ende
war, meinte Fritze lachend: „Don Parmeſan, reichen Sie
mir Ihre Hand! Wir haben miteinander gelitten und
wollen uns verſöhnen. Hätten Sie Ihre Flaſchen beſſer
zugebunden, ſo wären wir verſchont geblieben.“
„Ich konnte ſie nicht beſſer zubinden, als es ge⸗
ſchehen iſt,“ antwortete der Angeklagte, indem er ihm die
Hand ſchüttelte. „Wie es gekommen iſt, daß die Tiere
heraus — — —“
Er hielt inne. Er hatte bei dieſen Worten den Blick
zufällig auf die Flaſchen gerichtet. Vorhin hatte er in
der Eile nur bemerkt, daß ſie keine Egel mehr enthielten;
jetzt aber ſah er, daß der Verſchluß nach da war. Er hob
ſie auf, betrachtete ſie und fuhr dann in erſtauntem Ton
fort: „Was iſt denn das? Sie ſind ja genau noch ſo
feſt verſchloſſen, wie ich ſie zugebunden habe! Oder ſind
etwa Löcher darin?“
Er nahm ſie von allen Seiten in Augenſchein und
ſchüttelte den Kopf, als er nicht das kleinſte Löchlein zu
bemerken vermochte.
„Wundern Sie ſich nicht, Seüor,“ ſagte El Picaro,
„Die Sache iſt ſehr einfach. Der erſte Egel, der heraus⸗
kam, hat die Flaſche aufgemacht, und der letzte hat ſie,
wie ganz in der Ordnung war, wieder zugebunden.“
Alle lachten. Der Chirurg ſah den Sprecher nach⸗
denklich an; dann blitzte es wie ein Erkennen über ſein
— 278 —
Geſicht, und er fragte. „Sind vielleicht Sie dieſer letzte
Egel geweſen, Senor? Hoffentlich erfahre ich bald mehr
über dieſe Angelegenheit, und dann werden Sie mir Ge⸗
nugtuung geben müſſen!“ |
„Sehr gern, Don Parmeſan, aber nur jetzt noch
nicht, denn, wie ich ſehe, ſattelt Vater Jaguar ſchon ſein
Pferd.“
Neuntes Kapitel
Auf dem Kriegspfad
Der nun folgende Ritt verlief genau ſo wie der vor⸗
hergehende. Man übernachtete des Abends in einſamer,
ſandiger Gegend und kam am nächſten Mittag an der
Fuenta gemela an.
Dieſer Ort hatte, wie bereits erwähnt, ſeinen Na⸗
men daher, daß dort zwei Quellen nahe bei einander ent⸗
ſprangen, um dann bald ihr Waſſer zu vereinigen; es
war eine „Zwillingsquelle“, die nach dem Zuſammen⸗
fließen einen kleinen Bach bildete, der ſeinen Lauf nach
einem See von wunderbar klarem, reinem Spiegel nahm.
Dieſer See war von beinahe kreisrunder Geſtalt und
konnte einen Durchmeſſer von wohl tauſend Schritten
haben.
Man merkte hier, daß man in nordweſtlicher Rich⸗
tung geritten war und ſich alſo dem Aequator um einige
Grade genähert hatte, denn die Umgebung des Sees
zeigte ſchon eine mehr tropiſche Vegetation. Die Ufer
waren von Tacuarasrohren umſäumt, die eine Höhe bis
zu zehn Metern beſaßen. Daran ſchloß ſich eine Laurelen⸗
waldung, worin einzelne Cribobäume eine angenehme
Unterbrechung bewirkten. Sogar Caranday⸗Palmen wa⸗
ren ſchon zu ſehen, und weiter zurück, wo der Boden weni⸗
ger Feuchtigkeit beſaß, konnte man die phantaſtiſchen Ge⸗
— 280 —
ſtalten baumhoher Aloes erblicken. Dazwiſchen ſtand das
Gras ſo hoch und dicht, daß es den Pferden bis an die
Leiber reichte. Verſchiedene Vögel, beſonders Kolibris,
bevölkerten die Zweige; im Gras gewahrte man die Fähr⸗
ten vierfüßiger Tiere, und an den See brauchte man nur
zu treten, um zu ſehen, daß ſein Waſſer reich an Fiſchen
war. . a ö
„Hier brauchen wir nicht nur Fiſche zu eſſen,“
meinte Geronimo, indem er auf die Fährte eines Hirſches
deutete. „Vielleicht gelingt es uns, einen beſſern Braten
zu ſchießen.“
„Dieſe Fährte ſagt uns, daß die Wüſte zu Ende iſt,“
antwortete der Vater Jaguar, „denn der hieſige Hirſch
geht nie weit über Wüſtenland. Aber ſie mahnt uns
auch zur Vorſicht. Wo es ſolches Wild gibt, da kann man
auch leicht größeren Raubtieren begegnen, die wir aber“
— fügte er lächelnd hinzu — „keineswegs fürchten. Seit
Buenos Aires habe ich keinen Jaguar geſehen, und der
dort in der Arena war ein feiger Burſche.“
Man entſattelte die Pferde und gab ſie zum Weiden
frei. Dann wurden zwei Abteilungen gebildet, deren
größere dem Fiſchfang obliegen ſollte, während die klei⸗
nere mit Hammer ging, um nach dem Waffendepot der
Aufrührer zu ſuchen. Gerade die große Ueppigkeit der
Vegetation erleichterte die Nachforſchung. Auf dem Ver⸗
ſteck war ſie jedenfalls nicht vorhanden, und ſo kam es,
daß dieſes ſehr bald gefunden wurde, obgleich die Oaſe,
die der See mit ſeiner grünen Umgebung in der Wüſte
bildete, weit größer war als diejenigen, wo man bisher
gelagert hatte. Die heimliche Niederlage wurde in der
bereits beſchriebenen Weiſe geöffnet, ihrer Vorräte be⸗
raubt und dann wieder zugemacht.
— 281 —
Nun hatte man drei ſolcher Arſenale entleert, und
die Waffen und Munitionsvorräte, die man infolgedeſſen
jetzt beſaß, konnten nur auf die unbequemſte Weiſe noch
weiter mitgeführt werden. Es mußte den Pferden ſchwer
fallen, das alles nebſt den Reitern zu tragen. Wenigſtens
war an einen Ritt von derſelben Schnelligkeit wie bisher
nicht mehr zu denken.
Der heutige Fiſchzug war auch ein ergiebiger, doch
wurden nur die größten und beſten Fiſche den Netzen ent⸗
nommen; die andern gab man in den See zurück, da man
von nun an auch auf andres Fleiſch rechnen konnte. Der
Vater Jaguar erklärte: „Es fliegen hier zahlreiche Ko⸗
libris, die gewöhnt ſind, von Blüte zu Blüte zu gaukeln.
Sie unternehmen zwar im Herbſt und Frühling weitere
Reiſen, fliegen da aber nur durch Gegenden, wo ſie Nah⸗
rung finden. Außer dieſen Vögeln gibt es hier Vier⸗
füßler, die ſelten oder nie in die Wüſte gehen und ſich
meiſt in dichten Waldungen aufhalten. Aus dieſem
Grund ſteht zu erwarten, daß wir das öde Sandland
hinter uns haben. Wenn auch nicht ſofort Waldland
folgt, ſo dürfen wir wenigſtens auf graſigen und wohl
gar blühenden Campo rechnen. Senor Morgenftern und
Kieſewetter haben von unſern Feinden gehört, daß man
über die Fiſch⸗, Blutegel⸗, Krokodils⸗ und Zwillingsquelle
muß, um nach dem Palmenſee zu gelangen; es ſteht zu
erwarten, daß wir ihn bald erreichen. Darum heißt es,
doppelt Achtung geben und vorſichtiger ſein als bisher.“
„Warum das?“ fragte Geronimo.
„Du haſt doch gehört, daß Kapitän Pellejo die Sol⸗
daten nach dem Palmenſee beordert hat. Vielleicht be⸗
finden ſie ſich ſchon dort, wenn wir kommen. Entdecken
wir ſie aber nicht zur rechten Zeit, ſo können wir von
ihnen ganz unverſehens überfallen werden. Ich bin
— 282 —
allerdings feit überzeugt, daß fie noch nicht angekommen
ſind.“
„Aus welchem Grunde?“
„Weil ſie zu weit haben.“
„Das glaube ich nicht. Wenigſtens haben ſie nicht
weiter als wir. Seit dem Zuſammentreffen an der
Fiſchquelle ſind nun fünf Tage vergangen. Dieſe Zeit
reicht ſehr gut aus, um von Matara, Cachipampa oder
gar Miravilla nach der Gegend zu kommen, wo unſrer
Vermutung nach der Palmenſee zu ſuchen iſt.“ |
„Ganz richtig! Aber du mußt bedenken, daß dies
nicht die einzigen Orte ſind, woher wir Soldaten zu er⸗
warten haben. In Cruz grande und ganz beſonders in
Candelaria ſtehen auch welche, und dieſe haben einen viel
längeren Weg.“
„So kommen dieſe vielleicht ſpäter; die andern aber,
die ich vorhin nannte, ſind ſchon da.“
„Nein, eine ſolche Verfügung trifft kein Offizier.
Es wird dem Kapitän nicht einfallen, in einer ſo ein⸗
ſamen Gegend, die noch dazu in der Nähe der feindlichen
Grenze liegt, die einen auf die andern warten zu laſſen.
Er hat jedenfalls die Ausmarſchbefehle ſo gegeben, daß
die einzelnen Trupps, die übrigens nur aus wenigen
Mann beſtehen können, zu gleicher Zeit am Verſamm⸗
lungsort eintreffen. Aus den fernliegenden Garniſonen
rückt man eher, aus den näherliegenden aber ſpäter.“
„Hm! Alſo brauchen wir noch keine Sorge zu
haben.“
„O doch! Wir haben bisher nur von den Soldaten
geſprochen. Die fürchte ich am wenigſten. Unter einer
Garniſon verſtehe ich etwas ganz andres, als was man
am Rio Salado darunter verſteht. Du haſt da Orte,
deren Beſatzung nicht zehn, ja oft nur fünf Köpfe zählt.
Wir haben wohl kaum dreißig Mann zu erwarten, und
mit dieſen werden wir auf alle Jälle leicht fertig. Ich
denke aber auch an die Indianer. Wer gibt uns die Ge⸗
wißheit, daß dieſe nicht ſchon am Palmenfee verſammelt
find? Ich bin überzeugt, daß fie die Weißen erwarten,
um von ihnen die verſprochenen Gewehre zu bekommen.
Vielleicht gehen ſie ihnen ſogar entgegen, um ihnen die
Laſt, welche Pulver und Blei, Meſſer, Beile und Flinten
bilden, noch eher abzunehmen.“
„Carlos, das iſt wahr! Wir müſſen gewärtig fein,
heute und hier ſchon ihren Beſuch zu empfangen.“
„Wir müſſen wenigſtens mit dieſer Möglichkeit
rechnen. Daher habe ich unſer Lager hier am nördlichen
Ufer des Waſſers aufgeſchlagen, während das ſüdliche,
wie ich weiß, dazu viel geeigneter wäre. Auch dürfen
wir heute abend keine Feuer anzünden; fie könnten uns
verraten. Die Fiſche müſſen ſchon jetzt am Tage ge⸗
baden werden, und zwar bei kleinen Feuern, die keinen
dichten Rauch erzeugen.“
„Und doch dürfte alle dieſe Vorſicht vergeblich ſein,
denn ich meine, daß die Roten dennoch gerade hierher
kommen würden, und zwar ſehr einfach darum, weil die
Quellen ſich auf dieſer Seite befinden. Dem Trinkwaſſer
geht doch jeder nach.“
„Sehr wahr; aber ich habe vergeſſen, zu ſagen, daß
drüben am andern Ufer ſich eine noch viel größere Quelle
befindet. Der Ort hat ſeinen Namen zwar von dieſer
Zwillingsquelle, die jenſeitige aber wird öfters aufge⸗
ſucht, weil ſie viel bequemer liegt und ſich an ihren Ufern
ein Grasplatz erſtreckt, wo bedeutend mehr Menſchen la⸗
gern können als hier.“
„Zugegeben! Aber, Carlos, wir müſſen alles über-
legen. Hier auf unſrer Seite befindet ſich der Ort, wo
die Waffen verſteckt waren; alſo werden die Roten unbe⸗
dingt hierher kommen.“
„Nein. Die Weißen werden ſich gehütet haben,
ihnen vorher mitzuteilen, wo die Magazine zu ſuchen
find.“
„Da kann ich dir nicht unrecht geben. Doch was
war das jetzt? Habt ihr es gehört?“
Man hatte ein kurzes, ſcharfes, dreifaches Klingen
gehört, und in demſelben Augenblick war alle Anweſen⸗
den ein ganz eigentümliches Gefühl angekommen, einem
leichten Schüttelfroſt ähnlich, der nicht länger als eine
Sekunde anhielt. ö
„Die Aria,“ antwortete der Vater Jaguar, indem
er nach ſeinem Nacken griff und dabei verſuchte, ob er den
Hals drehen und den Kopf frei bewegen könne.
„Die Aria,“ ſtimmten die andern bei. Auch ſie
machten die gleichen Bewegungen mit der Hand nach dem
*. Nacken, mit dem Hals und dem Kopf.
Was iſt Aria? Niemand vermag es genau zu ſagen.
Sie tritt meiſt folgendermaßen auf: Man ſitzt bei einem
Glas Wein oder bei einer Taſſe Tee; die Flaſche oder
Kanne ſteht dabei. Da überkommt die Anweſenden jener
kurze, aber nicht unangenehme Schüttelfroſt; zugleich er⸗
klingen Flaſche und Glas, Kanne und Taſſe. Sieht man
nach, ſo ſind ſie zerbrochen, ohne daß jemand ſie ange⸗
rührt hat. Tiere, die vorher geſchwitzt haben, werden für
längere Zeit an den Gliedern ſteif, und auch Menſchen
können für mehrere Tage ein ſteifes Genick davontragen.
Das iſt die Aria, eine elektriſche Erſcheinung, wie manche
Forſcher und Reiſende ſagen. Wen ſie trifft, der pflegt
ſich ſofort zu überzeugen, ob er den Nacken noch zu be⸗
wegen vermag.
— 285 —
Woher aber war hier der ſcharfe, kurze Klang ge⸗
kommen? Man forſchte danach. Don Parmeſan hatte die
Flaſchen, worin die Blutegel geſteckt hatten, nicht wieder
abgegeben, ſondern ſie in ſeiner Satteltaſche mit ſich ge⸗
führt. Der Sattel lag neben ihm, und als er die Taſche
öffnete und nach den Flaſchen griff, zeigte es ſich, daß ſie
mitten entzwei geſprungen waren. Das war glücklicher⸗
weiſe der einzige Schaden, den die Aria angerichtet hatte,
denn kein Nacken war ſteif geworden.
Doktor Morgenſtern hatte von dieſer Erſcheinung
noch nichts gehört und erkundigte ſich darum bei dem
Vater Jaguar nach ihr. Dieſer antwortete achſelzuckend:
„Ich kann Ihnen leider mit keiner Erklärung dienen.
Die Sache iſt mir ſelbſt auch unbegreiflich. Ich habe
aber die Erfahrung gemacht, daß die Aria in dieſer Jah⸗
reszeit oft plötzlichen und ſtarken Regen mit ſich bringt.“
Er blickte bei dieſen Worten gegen den Himmel, der
vollſtändig hell und wolkenlos war und nicht im min⸗
deſten ſo ausſah, als ob er heute noch Näſſe ſenden wolle.
Kein Lüftchen regte ſich und die Oberfläche des Sees lag
ſo ruhig und unbewegt wie feſtes Kriſtall vor den
Augen da.
Jetzt wurden alle Vorbereitungen getroffen, die
nötig waren, wenn der Abend und die Nacht ohne Feuer
zugebracht werden ſollte. Man aß ſich tüchtig ſatt und
ſtreckte ſich dann im Gras aus, um zu ruhen. Andre
ſaßen in Gruppen beiſammen, um ſich zu unterhalten,
wobei El Picaro wie gewöhnlich die Hauptrolle ſpielte.
Abſeits von allen andern ſaß Anton Engelhardt mit
dem jungen Inka. Beide kannten ſich nur ſeit wenigen
Tagen, hatten einander aber doch ſchon herzlich lieb ge⸗
wonnen; die Urſache beſtand jedenfalls in der Verſchie⸗
— 286 —
denheit ihrer ſeeliſchen Eigenſchaften, die einander er⸗
gänzten. -
Anton war warmblütig, leicht erregt, raſch und auf⸗
richtig; auf ſeinem Geſicht lag immerwährend der Aus⸗
druck herzlicher Zufriedenheit. Das Weſen des Peruaners
aber war ſtill, ernſt, bedächtig, zurückhaltend, und die
Schwermut, die ſich ſeinen jugendlich ſchönen Zügen auf⸗
geprägt hatte, wich keinen Augenblick. So waren ſie alſo
vollſtändig verſchieden veranlagt, und die Verſchiedenheit
zieht bekanntlich an.
Sie waren ſeit dem erſten Abend ſtets nebeneinan⸗
der geritten und hatten ſich auch an den Lagerplätzen zu⸗
ſammengehalten. Da war natürlich viel geſprochen wor⸗
den; aber die Koſten der Unterhaltung hatte zumeiſt An⸗
ton getragen. Er hatte von allem, was er beſaß, kannte
und wußte, erzählt und nach und nach ſein ganzes Herz
ausgeſchüttet. Haukaropora hörte meiſt ſchweigend zu,
ließ nur hier oder da eine kurze Frage, eine einſilbige Ant⸗
wort hören; aber wer ihn beobachtete, der ſah, daß aus
ſeinem dunklen, tiefgründigen Auge nicht ſelten ein
freundlicher, ja warmer Blick zu ſeinem jungen Gefähr⸗
ten hinüberflog.
Das immer wiederkehrende Hauptthema aller ihrer
Geſpräche war der Vater Jaguar. Anton erblickte in
dieſem Mann einen Helden ohnegleichen und wünſchte
ſehnlichſt, ihm einſt ähnlich werden zu können. Auch
Hauka ſprach mit der größten Hochachtung, ja Verehrung
von ihm, konnte aber leider die Neugierde Antons, der
gern etwas aus dem früheren Leben des rieſenhaften
Mannes erfahren hätte, nicht befriedigen.
„Aber du haſt ihn ja viel eher gekannt,“ ſagte der
deutſche Knabe, „und mußt alſo von ihm erzählen
können!“
— 287 —
„Ich kann nichts ſagen,“ antwortete der Inka.
„Wenn er kam, hat er mit dem Vater geſprochen und
nicht mit mir. Und wenn die Alten und Erfahrenen
ſprechen, ſo müſſen die Jungen, Unerfahrenen von fern
ſtehen. So iſt es bei uns Gebot.“
„Bei euch? Zu welchem Volk oder Stamm gehörſt
du denn eigentlich?“
„Zu keinem.“
„Aber du mußt doch einer Nation angehören!“
„Mein Stamm iſt untergegangen. Wir leben mit
einigen armen Familien hoch oben in den Bergen, wo
der Kondor ſchreit.“
„Da wächſt kein Baum, kein Strauch. Wie könnt
ihr lebend“
„Wir trinken Waſſer und eſſen das Fleiſch der wil⸗
den Tiere, die wir mit Lebensgefahr erlegen.“
„So ſeid ihr Helden, mit denen ich wohl tauſchen
möchte. Erzähle mir von eurem Leben, euren Taten!“
„Von dem Leben und den Taten der Meinigen?“
Hauka legte die Hand an die Stirn und blickte düſter vor
ſich nieder. Dann fuhr er fort: „Vielleicht, doch nein,
ganz gewiß erzähle ich dir einmal davon; aber nicht heute,
nicht jetzt. Du kommſt ja mit in unſre Berge. Dann
wirſt du nicht nur hören, ſondern auch ſehen.“
Er ſtand auf und entfernte ſich, um unter den Bäu⸗
men zu verſchwinden. Die Fragen Antons hatten ihn an
ſeiner wunden Stelle getroffen. Er kehrte erſt zurück,
als es zu dunkeln begann, und ſtreckte ſich, als man ſich
zur Ruhe legte, wie gewöhnlich neben Anton nieder.
Dieſer hatte lange darüber nachgedacht, womit er den
Freund betrübt haben könne, und ſchlief darüber ein.
Wie lange er geſchlafen hatte, wußte er nicht, als er von
einer Hand, die ihn leiſe ſchüttelte, aufgeweckt wurde. Der
— 288 —
Inka war es; er flüſterte ihm ins Ohr: „Still! Sprich
nicht ſo laut! Du haſt gewünſcht, ein Held wie der Vater
Jaguar zu ſein. Ich möchte dir Gelegenheit zu einer
Tat geben. Willſt du mir folgen?“
„Wohin?“
„Davon nachher. Laß deine Waffen hier und nimm
nur das Meſſer und die Bola mit! Schleich tief im Gras
hinter mir, damit die Wächter uns nicht ſehen!“
Anton ſah, daß Hauka auf allen vieren von der La⸗
gerſtätte fortkroch, und folgte ihm in derſelben Weiſe. In
den letzten Nächten hatten die Sterne geſchienen; heute
aber war der Himmel dunkel. Da der Neumond kurz
vorüber war, herrſchte hier unten eine faſt vollſtändige
Finſternis. Man konnte kaum zehn Schritte weit ſehen,
und ſelbſt der See, der am Tage ſo rein und hell geglänzt
hatte, lag jetzt wie ein düſteres Geheimnis zu ihrer lin⸗
ken Hand. Sie ſchlichen langſam und unhörbar am
Schilfrand hin, bis Hauka ſich aufrichtete und, mit noch
immer leiſer Stimme, ſagte: „Jetzt ſind wir über die
Wachen hinaus und können aufrecht gehen. Schau ein⸗
mal ſcharf über den See. Siehſt du etwas?“
„Nein,“ antwortete Anton, der ſeine Augen vergeb⸗
lich anſtrengte.
„Oder riechſt du etwas?“
„Auch nicht.“
„Anciano und ich, wir leben mit bern Kondor in den
Kordilleren; darum haben wir die Sinne des Adlers er-
halten. Da drüben jenſeits des Waſſers lagern Leute.“
„Wie kannſt du das wiſſen?“
„Ich rieche den Rauch und ſehe den Schein des
Feuers. Ein Weißer ſieht und riecht das nicht. Eigent⸗
lich ſollte ich es den Erfahrenen melden, aber weil du
wünſcheſt, eine Tat zu tun, ſo habe ich ſie nicht geweckt.“
— 289 —
„Und was willſt du jetzt tun?“ fragte der junge
deutſche Peruaner.
„Zunächſt will ich hinüber, um zu ſehen, wer dieſe
Leute ſind und was ſie hierhergeführt hat. Dann wird
es ſich zeigen, ob ich ſtill zurückkehre oder mich von den
Umſtänden zu irgend einer Handlung bewegen laſſe. Gib
mir deine Hand, damit ich dich führe, denn meine Augen
find ſchärfer als die deinigen.”
Er nahm ihn bei der Hand und ſchritt mit ihm
langſam weiter. Das war nicht leicht, denn es ging
zwiſchen Büſchen und Bäumen hin. Dann hörte der
Wald plötzlich auf, und das Ufer lag baumlos vor ihnen.
Haukaropora blieb nachdenklich ſtehen, überlegte eine
kleine Weile und ſagte dann: „Da iſt eine Lücke in dem
Gürtel, der ſich als Waldſtreifen um das Waſſer legt.
Gehen wir innerhalb desſelben vorwärts, ſo befinden wir
uns ſtets in der Finſternis, die unter den Bäumen
herrſcht, was uns ſehr auſhalten muß. Darum denke ich,
es iſt beſſer, wenn wir uns weiter rechts halten, um an
dem Rande dieſes Gürtels hinzugehen. Da können wir
viel ſchneller laufen und haben den freien Himmel über
uns, der zwar auch dunkel iſt, aber doch nicht ſo finſter
wie die Wipfel der Bäume.“ f
„Ich denke, wir kommen da viel zu weit nach rechts?“
„Nicht zu ſehr, da der Wald ja nicht breit iſt. Uebri⸗
gens werden dieſe Leute an der Quelle lagern, von wel⸗
cher der Vater Jaguar ſprach. Wenn wir ſie erreichen,
brauchen wir nur ihrem Waſſer zu folgen, um an das
Ziel zu gelangen.“ 1
Sie ſetzten ihren Weg fort, ſchneller als bisher. Ihr
Lager hatte ſich in der Mitte des nördlichen Seeufers be⸗
funden; ſie bogen bald um den obern, weſtlichen Teil des
Sees. Dann hörte die Lichtung auf und der Wald begann
May, Das Vermächtnis des Inka 19
— 290 —
wieder. Er bildete hier einen dunklen Streifen, der einige
hundert Schritte breit ſein mochte. Sie ließen ihn linker
Hand liegen und eilten an ſeinem äußern Rande in öſt⸗
licher Richtung hin, denn ſie befanden ſich nun am ſüd⸗
lichen Ufer. Sie waren da noch gar nicht weit gekom⸗
men, ſo blieb der junge Inka mit vorwärts gebeugtem
Oberkörper ſtehen. Er hatte die Haltung eines ange⸗
ſtrengt Lauſchenden eingenommen. Es hatte ſich ein
ziemlich ſcharfer Wind erhoben, der ihnen gerade entge⸗
genwehte.
„Hörſt du etwas?“ fragte Anton.
„Ja. Ich glaube, es iſt eine Glocke geweſen.“
„Eine Glocke? Es gibt doch hier keine Stadt mit
Kirchenglocken.“
„Dieſe Art meinte ich nicht. Komm noch eine kurze
Strecke weiter, ſo wirſt du es auch hören.“
Sie ſchritten wieder vorwärts, diesmal aber lang⸗
ſamer als vorher. Bald war ein vom Winde herüber⸗
gewehter metallener Ton zu hören. 5
„Horch!“ ſagte Anton. „Jetzt habe ich es gehört.
Es klang beinahe wie die Glocke einer Madrina.“
Madrina iſt ein dem ſpaniſchen Amerika eigentüm⸗
licher Ausdruck. Man verſteht darunter die Stute, die
bei Herden oder auf Reiſen die andern Tiere führt. Sie
trägt eine Glocke am Halſe, deren Ton die übrigen ſtets
folgen.
„Ja, es kann nichts andres ſein, als eine Madrina,“
ſtimmte der junge Inka bei.
„Sollten ſich Arrieros*) hier im Gran Chaco be⸗
finden?“
„Nein, gewiß nicht. Durch dieſe Gegend ziehen keine
Handelskarawanen. Es werden die Indianer ſein.“
) Maultiertreiber
— 291 —
„Von welchem Stamme?“
„Ich weiß es nicht, denke aber, es zu erfahren.“
„Dann ſind dieſe Menſchen ſehr unvorſichtig. Die
einzelnen Völker leben, wie wir gehört haben, jetzt in
Feindſchaft miteinander. Da hängt man doch den Tieren
keine Glocken an, die zu Verrätern werden müſſen!“
„Die Leute, die ſich hier befinden, werden ſich ſo
ſicher fühlen, daß ſie nicht glauben, ſolche Vorſicht an⸗
wenden zu müſſen. Auch müſſen ſie ihre Tiere weiden
laſſen und dürfen ſie alſo nicht anbinden. Hätten ſie
keine Madrina dabei, ſo würden die Pferde nach allen
Richtungen auseinander laufen.“
„Wieſo? Die unſrigen bleiben doch auch bei⸗
ſammen.“
„Das iſt eiwas ganz andres. Der Indianer iſt kein
Pferdezüchter; er raubt und ſtiehlt die Tiere aus allen Ge⸗
genden zuſammen. Sie kennen ſich alſo nicht und da ſie
nicht in Herden gehalten werden, ſo haben ſie keine An⸗
hänglichkeit zu einander. Treffen dann auf einem
Kriegszug viele Reiter zuſammen, ſo müſſen ſie ihren
Pferden eine Madrina geben, denn jedes Roß gehorcht
der Glocke unbedingt. Das iſt von großem Vorteil für
uns, denn der Ton, den wir gehört haben, wird uns als
Wegweiſer dienen.“
Es war ſo, wie er ſagte, denn je weiter ſie kamen,
deſto deutlicher war der Ton der Halsſchelle zu hören.
Bald mußten ſie ihre Schritte noch mehr hemmen, da der
Klang nun aus großer Nähe kam. Zugleich waren links
die Stämme des Waldes zu ſehen, da hinter dieſen
mehrere Feuer brannten, in deren Schein ſich die Bäume
deutlich hervorhoben.
„Sieh, wie leicht wir das Lager gefunden haben,“
flüſterte Haukaropora Anton zu. „Vor uns liegt der ſich
—
— 292 —
um den Wald ziehende Grasſtreifen; auf ihm weiden die
Pferde. Links von uns ſticht er in den Wald hinein und
bildet da eine offene Stelle, wo ſich die Quelle befindet.
Wir haben alſo die Pferde gerade vor uns und die Reiter
links hinter den Bäumen.“
„So müſſen wir in dieſer letzteren Richtung weiter?“
„Ja, aber nicht ſogleich. Wir haben alle Urſache,
vorſichtig zu ſein, und ſo will ich erſt ſehen, ob ſich Wäch⸗
ter bei den Pferden befinden. Warte hier, bis ich zurück⸗
kehre.“
Er ſchlich ſich davon, und Anton ſtand allein, wohl
über eine Viertelſtunde lang, dennoch wurde ihm um den
Inka nicht bange, denn er fühlte ein immer wachſendes
Vertrauen zu deſſen Tüchtigkeit. Da tauchte der Inka
wieder aus dem Dunkel auf und meldete mit leiſer
Stimme: „Es war kein einziger Wächter da. Die Pferde
waren alle fo zutraulich, daf fie ſich von mir ſtreicheln
ließen. Sie gingen frei im Graſe, und nur der Madrina
ſind die Vorderbeine leicht gefeſſelt, damit ſie keine weiten
Schritte machen kann.“
„Wie viel Pferde waren es?“
„Ich konnte ſie natürlich nicht zählen, denn es ſind
nicht wenige. Ich fand ſie alle mit den Köpfen nach der
Madrina gerichtet und habe mich ſehr darüber gefreut.“
„Warum?“ |
„Weil dies ein Zeichen iſt, daß fie ihr unbedingt
folgen werden; wenn es etwa feindliche Indianer, alſo
Abipones ſind, ſo möchte ich ihnen ihre Pferde nehmen.“
„Iſt das dein Ernſt? So viele Tiere können wir
zwei unmöglich fortbringen!“
„Warum nicht? Wenn wir die Madrina mit uns
führen, laufen die andern alle hinterdrein.“
„Aber die Indianer würden am Klang der Glocken
hören, daß die Stute ſich entfernt!“
„Wenn man ſchläft, hört man das nicht, und ich
vermute, daß ſie ſchlafen.“
„Ja; aber Wachen haben ſie jedenfalls ausgeſtellt.“
„Allerdings; aber da ſie ſich hier ſo ſicher fühlen,
werden die Wächter nicht zahlreich ſein. Wir werden das
gleich zu erfahren ſuchen. Komm und halte dich ſtets
hinter mir! Wir dürfen nicht mehr gehen, ſondern
müſſen kriechen, damit wir nicht bemerkt werden.“
Sie legten ſich auf die Erde nieder und bewegten ſich
nun mit äußerſter Vorſicht von ihrer bisherigen Richtung
ab nach links hinüber, um unter die erwähnten Bäume
zu gelangen. Als ſie dieſe erreicht hatten, befanden ſie
ſich zugleich ganz nahe dem Rand der offenen Waldlücke,
wo der Inka das Lager vermutet hatte. Dieſe Lücke war
nicht breit, und die Feuer leuchteten von einem Ende bis
zum andern. Man ſah alſo genau, was dort vorging.
Die beiden Jünglinge lagen hinter zwei nahe bei ein⸗
ander ſtehenden Bäumen und beobachteten mit ſcharfen
Augen, was da vor ihnen vorging.
Es war eine ſehr zahlreiche Schar von Indianern,
die ihr Nachtlager aufgeſchlagen hatte. Da, wo die Lich⸗
tung ſich gegen das freie Land öffnete, drang die Quelle
aus dem Boden, um ihr Waſſer links nach dem See zu
ſchicken. Zu beiden Seiten dieſes Waſſerlaufes brannten
acht Feuer, um die ſich wohl gegen achtzig Rote bewegten,
denn ſie waren ſoeben beſchäftigt, ſich die bequemſten
Stellen zum Schlafen zu ſuchen. Zwiſchen zwei Feuern,
welche diesſeits des Waſſers brannten, lagen ſechs Ge⸗
ſtalten, die gefeſſelt zu ſein ſchienen. Fünf von ihnen
waren wie Indianer gekleidet; den Sechſten konnte man
ſeinem Anzug nach für einen Weißen halten. Da ſie mit
— 294 —
den Köpfen nach den zwei heimlichen Beobachtern zu
lagen, war es dieſen unmöglich, die Geſichter zu ſehen.
Dieſe Schar war indianiſch bewaffnet. Sie hatte an
den in der Erde ſteckenden langen Lanzen ihre Köcher und
Bogen aufgehängt. Daran lehnten die Blasrohre, deren
kleine Geſchoſſe, wenn ſie vergiftet ſind, ſo ſchnell tödlich
wirken. Drüben ſtand unter einem Baum der einzige,
der ein Gewehr beſaß; er hatte es neben ſich auf ſeinem
Poncho liegen und ſchien der Häuptling zu ſein, denn er
erteilte ſoeben verſchiedene Weiſungen, denen ſofort nach⸗
gekommen wurde. Er bediente ſich dabei einer Sprache,
die einen ſingenden Tonfall hatte. Anton verſtand kein
Wort davon und fragte darum ſeinen Gefährten leiſe:
„Das iſt nicht Ketſchua und auch nichts andres, was ich
verſtehe. Welche Sprache redet der Mann?“
„Es iſt Abiponiſch; ich verſtehe es ziemlich. Er iſt
der Anführer dieſer Leute, er ſagt ihnen, wie ſie lagern
ſollen, und hat ſoeben befohlen, daß die Nacht in drei
Wachen geteilt wird. Jede dieſer Wachen betrifft nur
zwei Perſonen, von denen die eine den Pferden und die
andre den Gefangenen ihre Aufmerſamkeit zu ſchenken
hat.“
„Alſo doch Gefangene! Wer mögen ſie ſein?“
„Warte nur! Wahrſcheinlich erfahren wir es noch.
Ich kenne den Häuptling nicht, habe ihn noch nie geſehen,
aber ſeiner Sprache nach gehört er mit ſeinen Leuten den
Abipones, alſo unſern Feinden an.“
„Daraus können wir ſchließen, daß die Gefangenen
Freunde von uns ſind.“
„Ja, denn wer gegen ſie iſt, der muß für uns ſein.“
„Wenn wir ſie befreien könnten! Denkſt du, daß
dies möglich iſt?“
— 295 —
Der Inka wartete eine kleine Weile, ließ den Blick
nachdenklich, aber ſcharf über die Szene gleiten und ant⸗
wortete dann: „Ich halte es für möglich und bin bereit,
den Verſuch zu machen. Was ſagſt du dazu?“
„Einverſtanden!“ Anton hätte vor Freude faſt laut
geſprochen und fügte nun deſto leiſer hinzu: „Aber wie
wollen wir das anfangen, da wir nur zu zweien ſind?
Wir haben nicht einmal unſre Gewehre mit.“
„Die würden uns ſchaden, anſtatt uns zu nützen.
Du haſt gehört, wie oft der Vater Jaguar geſagt hat, daß
in den meiſten Fällen die Klugheit der Gewalt vorzu⸗
ziehen iſt. Nach dieſem Rat werden wir handeln.“
„Ja, handeln werden wir; ich bin bereit dazu. Aber
in welcher Weiſe, das weiß ich noch immer nicht.“
„Warte nur! Erſt müſſen dieſe Abipones einge⸗
ſchlafen fein; eher läßt ſich nichts tun. Wir werden dann
erfahren, ob die Wächter vorſichtig genug ſind und ob
man die Feuer verlöſchen läßt oder nicht.“
Jetzt kam der Häuptling über den Quell herüber,
um perſönlich nach den Gefangenen zu ſehen. Er warf
ihnen drohende und verächtliche Worte zu und ſtieß ſie
dabei mit den Füßen. Sie wollten dieſen Mißhandlungen
ausweichen und veränderten dabei ihre bisherige Lage.
Dabei konnte man das Geſicht des einen deutlich er⸗
kennen. Er war wirklich kein Indianer, ſondern ein
Weißer. Dann bäumte ſich ein zweiter halb empor, um
einem nach ihm gerichteten Fußtritt zu entgehen. Er
wendete während dieſer Bewegung ſein Geſicht nur für
einen Augenblick zur Seite, doch war das für das ſcharfe
Auge des Inka genug; er hatte ihn erkannt und flüſterte
Anton zu: „Das war der Häuptling der Cambas, den
die Weißen El Craneo duro, den harten Schädel, nennen.
Haft du einmal von ihm gehört?“
— 296 —
„Nein.“
„Man hat ihm dieſen Namen gegeben, weil er ein⸗
mal acht oder zehn Kolbenhiebe auf den Kopf erhielt und
doch nicht daran ſtarb. Als die Feinde, die ihn für tot
hielten, ſich entfernt hatten, ſtand er auf, rieb ſich den
Kopf ein wenig und ging ihnen dann heimlich nach, um
ſich zu rächen. Sie waren Abipones und ſind von ſeiner
Hand getötet worden.“
„So iſt er ein Bekannter von dir?“ ö
„Sogar ein Freund. Wir waren bei ihm, und er
hat uns oft beſucht. Welch ein Glück, daß ich da drüben
in unſerm Lager das Feuer ſah und den Rauch gerochen
habe! Ich werde das Leben wagen, um ihn zu befreien.“
„Ich das meinige auch!“ raunte ihm Anton be⸗
geiſtert zu. „Sage nur, wie wir es anzufangen haben.
Ich werde alles tun, was du für richtig hälſt.“
„Für jetzt haſt du nichts zu tun, als ſtill zu ſein und
dich ſo hinter deinem Baum zu halten, daß kein Lichtſchein
auf deinen Körper fällt.“
Die Abipones legten ſich in Kreiſen um die Feuer,
daß ſie ihnen ihre Füße zukehrten. Sie hüllten ſich in
ihre Ponchos, von denen viele zwei Stück beſaßen. Der
Häuptling war über den Quell zurückgekehrt und legte
ſich da drüben in derſelben Weiſe nieder. Es hatten ſich
alle gelagert, die beiden Wächter ausgenommen, von
denen der eine hinaus zu den Pferden ging, während der
andre langſam auf und ab zu ſchreiten begann. Er hatte
ſich gegen den ſcharf wehenden Wind in ſeine zwei Decken
gehüllt. Die eine trug er wie einen Weiberrock um die
Hüften, und in die andre hatte er den Kopf in der Weiſe
gehüllt, daß ſie vorn nur die Augen frei ließ und ihm
hinten lang über den Rücken herunterhing.
— 297 —
Der Wächter ſchritt hin und her, trat im Verlauf der
erſten halben Stunde einigemal zu den Gefeſſelten, um
nachzuſehen, ob dieſe eingeſchlafen ſeien. Das Lager war
durch den Wald nicht vollſtändig vor dem Winde geſchützt;
dieſer blies zuweilen ſo heftig in die Feuer, daß die Fun⸗
ken aufſtoben und auf die Decken der Schläfer fielen. Um
ſie vor dem Verſengtwerden oder gar Anbrennen zu be⸗
wahren, ging der Poſten von Feuer zu Feuer und ſchob
die brennenden Aeſte und Zweige ſo zuſammen, daß die
Flammen bedeutend kleiner und niedriger brannten. Er
legte kein neues Material dazu, ſo daß vorauszuſehen
war, daß die Feuer bald erlöſchen würden. Nur einem
von den beiden, zwiſchen denen die Gefangenen lagen,
gab er neue Nahrung, um ſein Wächteramt treu aus⸗
führen zu können.
Es war faſt eine Stunde vergangen, ſeit die Roten
ſich niedergelegt hatten. Da wurde Anton das Schwei⸗
gen doch zu ſchwer, und er flüſterte ſeinem Gefährten,
der während dieſer langen Zeit nicht die geringſte Bewe⸗
gung gemacht hatte, zu: „Ich glaube, ſie ſchlafen jetzt
feſt, und wir dürfen nicht länger warten. Bedenke,
welche Sorgen man drüben bei uns haben wird, wenn
man unſre Abweſenheit bemerkt!“
„Man wird nur im erſten Augenblick bange um uns
ſein,“ antwortete der Inka; „dann aber wird mein An⸗
ciano, der meine Vorſicht kennt, die andern beruhigen.
Dennoch bin ich mit deinen Worten einverſtanden, wir
müſſen handeln. Ich locke jetzt den Wächter hierher.“
„wie iſt das möglich?“
„Es iſt möglich.“
„Womit, wodurch?“
„Das wirſt du gleich hören. Paß genau auf, ob
einer der Schläfer ſich bewegt, wenn ich mich vernehmen
— 298 —
laſſe! Wenn das, was ich vorhabe, vollſtändig gelingen
ſoll, darf keiner von ihnen munter ſein.“.
Er legte ſeine beiden Hände an den Mund und ließ
ein leiſes, müdes Krächzen hören, wie man es wohl von
einem Papagei vernimmt, der im Schlafe geſtört wor⸗
den iſt.
Keiner der Schlafenden regte ſich; aber der Wächter
blieb ſtehen, um zu horchen, woher der Ruf kam.
„Sieh, er lauſcht,“ flüſterte der Inka. „Wahrſchein⸗
lich kommt er her. Haſt du etwas geſehen, daß ein Schlä⸗
fer wach wurde?“
„Nein.“
„Ich auch nicht. Kriech raſch noch um zwei Bäume
zurück, und lege dich platt auf die Erde, ſonſt ſieht er dich,
wenn er kommt!“
Anton gehorchte dieſer Aufforderung, und der Inka
ließ das Krächzen zum zweitenmal hören. Der Poſten trat
näher; beim drittenmal kam er unter die Bäume, und als
es ſich dann wiederholte, bog er ſich zuſammen und kam
leiſe und höchſt vorſichtig herbeigeſchlichen, die Augen mit
Spannung auf den Punkt gerichtet, woher die Töne er⸗
ſchollen waren.
Der Inka nahm ſeinen ſchweren Streitkolben von
der linken Seite und krächzte noch einmal, und als der
Poſten faſt den Stamm erreicht hatte, hinter dem er ſich
befand, ſprang er blitzſchnell hervor und ſchlug auf ihn
ein — ein einziger Hieb, und der Indianer brach zuſam⸗
men, um ſich nicht mehr zu bewegen.
„Mein Gott, du haſt ihn erſchlagen!“ flüſterte
Anton, indem er raſch herbeikam.
„Wahrſcheinlich iſt er tot; dennoch iſt es möglich, daß
er noch lebt. Bleib hier bei ihm. Wenn er erwacht, ehe
— 299 —
ich zurückkehre, ſtößeſt du ihm dein Meſſer in das Herz.
Du haſt doch den Mut, dies zu tun?“
„Im Kampf, ja; aber einem Wehrloſen — — —!“
„Wir befinden uns im Kampf, und wenn er erwacht,
iſt er nicht wehrlos. Seine Stimme iſt dann eine Waffe,
wie es für uns gar keine gefährlichere geben kann. Ich
verlange unbedingt, daß du mir gehorchſt!“
Der ſonſt ſo ſchweigſame Inka war während ihres
abenteuerlichen Ganges ungewöhnlich mitteilſam gewe⸗
ſen, jedenfalls um ſeinen jungen Gefährten zu belehren.
Jetzt zeigte er ſich von einer noch andern Seite. Er trat
als Herr und Gebieter auf, und obgleich er nur leiſe
ſprach, geſchah dies doch in einer Weiſe, die keine Wider⸗
rede duldete.
Er nahm eilends die beiden Ponchos, die der Poſten
getragen hatte, und hüllte ſich genau in derſelben Weiſe
hinein. Dann ſchritt er langſam und würdevoll unter
den Bäumen hinaus und ging dort ebenſo wie vorher der
Wächter auf und ab. Wer nicht wußte, was geſchehen
war, mußte ihn unbedingt für dieſen halten.
Anton blieb mit gezogenem Meſſer bei dem gefalle⸗
nen Indianer ſitzen und beobachtete bald dieſen und bald
ſeinen jungen mutigen Freund, deſſen jetziges Gebaren er
freilich nicht ſofort begreifen konnte.
Als Haukaropora eine Zeitlang den Poſten nachge⸗
ahmt hatte, ging er mit leiſen Schritten von einem Feuer
zum andern, nicht um ſie zu ſchüren, ſondern um die
Schläfer zu beobachten. Es war keiner von ihnen wach;
dann begab er ſich zu den Gefangenen und ſetzte ſich bei
ihnen nieder. Sie waren noch wach, denn die Lage, in
der ſie ſich befanden, ſcheuchte den Schlaf von ihren Augen.
Sie hielten ihn natürlich für den Indianer, der ſie
bewachen ſollte, denn er hatte den Poncho ſo um den Kopf
1
und das Geſicht geſchlagen, daß nur ſeine Augen zu ſehen
waren. Aus Rückſicht auf den Weißen mußte er ſpaniſch
ſprechen. Dies tat er, indem er nach einer Weile den
Poncho ſo weit lüftete, daß man ſein Geſicht nicht ſehen,
aber ſeine Stimme hören konnte, und ſagte in halblautem
Tone: „El Craneo duro iſt betrübt; bald aber wird er
fröhlich ſein. Wenn er mir jetzt antwortet, mag er leiſe
reden.“
Der Häuptling hatte halb von ihm abgewendet ge⸗
legen; jetzt wendete er ihm das Geſicht voll zu und ant⸗
wortete, wie ihm geboten war, mit leiſer Stimme: „Was
ſprichſt du zu mir? Willſt du mich verhöhnen, indem du
freundlich zu uns tuſt?“
„Es iſt nicht Hohn, ſondern Aufrichtigkeit. Laßt
keinen Ton hören, der mich und euch verraten könnte!
Ich bin da, um euch zu retten.“
„Du, der Abipone?“
„Ich bin kein Abipone, ſondern ich heiße Haukaro⸗
pora und bin der Sohn deines Freundes Anciano.“
„Du wärſt Haukaro — — —“
Der Name blieb ihm vor Verwunderung auf der
Zunge hängen.
„Ja, ich bin es,“ fuhr der Jüngling fort. „Ueber⸗
zeuge dich!“
Er öffnete jetzt den Poncho ſo, daß ſein Geſicht voll⸗
ſtändig zu ſehen war. Der Weiße beobachtete die Szene,
ohne ſich zu regen, die Cambas erkannten den Inka, der
ſein Geſicht ſchnell wieder verdeckte. Sie blieben aber
ſtill, doch ſagte ein nicht zu beherrſchendes Zucken und Be⸗
wegen ihrer gefeſſelten Körper deutlich genug, wie freudig
ſie überraſcht waren.
„Habt ihr mich erkannt?“ fragte er ſie.
— 801 —
„Ja, ja,“ ſtieß der Häuptling hervor, „du biſt der
Sohn unſres Freundes und ſelbſt unſer Freund. Es ge⸗
ſchehen große Wunder. Wie kommſt du unter die Abi⸗
pones? Ich habe dich bis jetzt noch gar nicht bemerkt.“
„Ich gehöre nicht zu ihnen und war nicht bei ihnen;
ich bin erſt ſeit kurzer Zeit hier im Wald, um dieſe unſre
Feinde zu beobachten. Ich lagerte mit Anciano und dem
Vater Jaguar und mehr als zwanzig anderen weißen
Männern drüben jenſeits des Sees und bemerkte eure
Teuer. Da ſchlich ich mich, ohne daß jemand es bemerkte,
mit einem jungen Freund herüber, um zu erfahren, von
wem dieſe Feuer angezündet ſeien. Ich ſah die Abipones,
und ich erkannte dich. Da nahm ich mir vor, euch zu
befreien.“
„Das iſt außerordentlich kühn! Wo iſt denn unſer
Wächter?“
„Er liegt erſchlagen dort unter den Bäumen. Ich
habe mich in ſeine Decken gehüllt, um für ihn gehalten zu
werden“.
„Welche Klugheit, welche Liſt! Schneide uns los;
ſchnell, ſchnell!“
„Wer zu viel eilt, kommt zu ſpät an. Ich zerſchneide
jetzt eure Banden; aber bleibt trotzdem genau ſo liegen,
wie ihr jetzt liegt!“
Er zog ſein Meſſer hervor und befreite ſie in der
Weiſe von ihren Feſſeln, daß ein in dieſem Augenblick er⸗
wachender Abipone doch nicht bemerkt hätte, was vorge⸗
nommen wurde. Dabei ſprach er weiter: „Die Feuer ver⸗
löſchen, und nur dieſes eine brennt noch. Wir ſehen unſre
Feinde nicht mehr genau; ſie aber können uns beobachten.
Darum müſſen wir vorſichtig fein. Ich ſtehe jetzt auf und
gehe wieder an den Bäumen hin und her; auch werde ich
nach den Schläfern ſehen. Finde ich, daß keiner von
„
— 802 —
ihnen wach iſt, ſo werde ich leiſe huſten, und ihr kommt,
einer hinter dem andern, nach der Stelle gekrochen, wo
ich mich befinde. Unter den Bäumen dort wartet mein
junger Freund Antonio. Sind wir bei dieſem ange⸗
langt, ſo gehen wir, um die Pferde zu holen.“
„Iſt nicht ein Wächter dort?“ fragte der Häuptling.
„Ja, einer.“
„Den fürchten wir nicht. Ich habe zwar keine Waffe,
aber ich erwürge ihn.“
„Du wirſt ihn mir überlaſſen. Hörſt du? Ich will
euch ganz befreien; ihr ſollt nichts dazu tun. Waffen wer⸗
det ihr haben; es gibt hier Lanzen, Bogen, Pfeile und
Blasrohre genug.“ n
Da nahm der Weiße zum erſtenmal das Wort:
„Was nützen mir Bogen und Pfeile! Ich möchte mein
Gewehr, mein gutes Gewehr haben.“
„Wo iſt es?“
„Der Häuptling dort hat es bei ſich liegen. Er hat
es mir abgenommen. Ich werde es mir holen.“
„Ich kenne dich nicht und weiß nicht, ob du vorſichtig
genug ſein kannſt. Ich werde es ſelbſt holen.“
Da meinte El Craneo duro: „Du darfſt dieſen
Senor nicht Du nennen, denn er iſt Offizier. Auch iſt er
im Leben der Wildnis erfahren und ſehr wohl imſtande,
ſich ſein Gewehr ſelbſt zu holen.“
„Und die Patronen dazu,“ ergänzte der Weiße, indem
er mit den Zähnen knirſchte. „Dieſer Hund hat mir auch
die Uhr und den Kompaß abgenommen. Er ſoll keinen
Nutzen davon haben! Sein Schlaf wird lange dauern!!
Er hat es gewagt, einen Offizier mit Füßen zu treten!“
Der Inka ſteckte ſein Meſſer wieder zu ſich, ſtand auf
und patrouillierte wieder hin und her. Nach einiger Zeit
ging er von Feuer zu Feuer und überzeugte ſich, daß alle
— 88 —
ſchliefen. Auch zum Häuptling begab er ſich. Dieſer
ſchnarchte. Er hatte das Gewehr nicht neben ſich liegen,
ſondern zu ſich in die Decke gewickelt.
Darauf ſchritt der Inka wieder nach der ee
Seite, ſtellte ſich an dem Rande der Lichtung auf und
winkte. Auf dieſes Zeichen kamen ſie herbeigekrochen, erſt
der „harte Schädel“, dann ſeine vier Cambas und endlich
der Offizier. Der Inka deutete auf die in der Erde
ſteckenden Spieße und ſagte zu dem Weißen, als die Cam⸗
bas ſich beeilten, zu den Waffen zu gelangen: „Der
Häuptling hat Ihr Gewehr zu ſich in die Ponchos ge⸗
wickelt.“
„Ich werde es mir nehmen, ohne ihn darum zu
bitten.“
Er glitt unhörbar und doch blitzſchnell über den Platz
hinüber. Man ſah, wie er ſich auf den Häuptling warf
und daß er eine Minute lang auf ihm liegen blieb. Kein
Laut war zu hören. Dann erhob er ſich und kam ebenſo
gewandt herüber, ſein Gewehr in der Linken und ein
bluttriefendes Meſſer in der Rechten.
„Ich habe alles wieder, was er mir abgenommen
hat!“ ſagte er grimmig. „Die Büchſe, das Meſſer, die
Uhr, die Munition, alles, alles; dieſer Mann tritt keinem
Offizier wieder mit den Füßen gegen den Leib. Aber nun
weiter! Wo geht es jetzt hin?“
Der Inka ſchritt ihnen voran, unter die Bäume hin⸗
ein bis zu Anton, der alles mit angeſehen hatte. Der
niedergeſchmetterte Abipone hatte ſich noch nicht geregt.
Man ließ ihn natürlich liegen. Von hier aus wendete
man ſich den Weg zurück, den Hauka und Anton gekom⸗
men waren, bis man die Glocke der Madrina hörte. Da
blieb der Inka ſtehen und ſagte: „Wartet hier, bis ich
den andern Wächter unſchädlich gemacht habel“
— 304 —
„Nicht du! Das iſt meine Sache,“ entgegnete der
„Harte Schädel“.
„Nein, ſondern die meinige!“ fiel der Offizier ein.
„Dieſe Hunde wollten mich morgen im See erſäufen. Nun
können ſie die Leiche ihres Häuptlings hineinwerfen, und
den Poſten da bei den Pferden will ich ihnen auch noch
liefern.“
Hauka wollte das nicht gelten laſſen; aber der grim⸗
mige Menſch war bei dem letzten Wort ſchon fort. Die
andern warteten und lauſchten in die Nacht hinein. Es
war nichts zu hören, aber nach höchſtens zwei Minuten
tauchte er wieder vor ihnen auf und berichtete: „Es iſt
gut; der Burſche hat kein Wort dazu geſagt. Nun wollen
wir uns Pferde nehmen, für jeden eins.“
„Nein,“ antwortete der Inka. „Wir nehmen alle.“
„Alle? Wie iſt das zu machen?“
„Es iſt doch eine Madrina dabei, der ſie folgen
werden.“
„Qué pensamiento! Das iſt wahr! Dieſer Knabe
iſt kein dummer Kerl; das können wir machen. Alſo jen⸗
ſeits des Sees lagert der Vater Jaguar? Werdet ihr ihn
finden?“
„Ja,“ antwortete der Inka.
„So ſteigſt du auf die Madrina, um voranzureiten,
und wir andern treiben die ganze Herde hinterdrein.“
Er hatte etwas Rauhes, Befehlendes, was leicht ver⸗
letzen konnte, in ſeiner Ausdrucksweiſe und ſeinem Ton.
Hauka nahm dies ſchweigend hin, ſuchte die Madrina auf,
löſte ihr den Riemen von den Vorderbeinen, ſtieg auf und
ritt langſam voran. Als die andern Pferde bemerkten,
daß ihre Führerin ſich in Bewegung ſetzte, folgten ſie ihr
ſofort. Der Offizier und die fünf Cambas ſprangen auf
die letzten Tiere, um die Tropa (Herde) zu treiben; Anton
— 805 —
aber, der ſelbſtverſtändlich auch ein Pferd beſtiegen hatte,
hielt ſich vorn zu dem Inka. Der Offizier wollte ihm
nicht gefallen. In dieſer Ordnung ging es um den halben
See, doch nicht durch den dichten Wald, den die beiden
Jünglinge vorher mühſam durchſchlichen hatten; er war
bei dieſer Finſternis für die Pferde unwegſam, darum
wurde er umritten, da man auf dieſe Weiſe das Lager
auch erreichen konnte.
Dort war nicht alles ſo ſtill geblieben, wie Hauka und
Anton es verlaſſen hatten. Der Vater Jaguar ließ die
Poſten alle Stunden ablöſen und beſaß die Angewohnheit,
falls er einmal erwachte, nachzuſehen, ob alles in
Ordnung ſei. So auch heute. Das Zerſpringen der
Flaſchen hatte ihn auf eine jähe Veränderung des Wetters
aufmerkſam gemacht, und als er ſich ſchlafen legte, war
der Himmel ſchon bewölkt. Die Sorge weckte ihn. Er
ſah, daß der Himmel ganz ſchwarz geworden war, und
fühlte, daß ſich ein eigentümlich ſcharfer und dabei doch
hohler Wind erhoben hatte. Das deutete nach ſeiner Er⸗
fahrung auf einen Orkan, untermiſcht mit jenen Regen⸗
ſchauern des Gran Chaco, die ſo ſchwer herabfallen, daß
ſie einen Menſchen zu Boden ſchlagen können. Was war
da zu tun? Hier unter den Bäumen, die den Blitz an⸗
ziehen und im Sturme brechen konnten, zu bleiben, war
nicht geraten. Aber das Unwetter draußen im offenen
Campo oder der ebenſo offenen Wüſte abzuwarten, das
hatte Bedenklichkeiten, die wenigſtens ebenſo groß waren.
Er rief alſo die Schläfer wach, um mit ihnen zu beraten;
dabei ſtellte es ſich denn heraus, daß Anton und der Ink
fehlten. |
Man rief nach ihnen; aber fie kamen nicht und ant⸗
worteten nicht. Anton war dem Vater Jaguar anver⸗
traut worden; darum verſtand es ſich ganz von ſelbſt, daß
May, Das Vermächtnis des Inka 20
— 306 —
dieſer über das unbegreifliche Verſchwinden ſeines
Schützlings in ungewöhnliche Beſorgnis geriet. Man
ſtellte allerlei Vermutungen auf, von denen keine ſich als
ſtichhaltig erwies, bis der Vater Jaguar auf den ſehr na⸗
türlichen Gedanken kam, mit Hilfe eines Feuerbrandes
nach den Spuren der Vermißten zu ſuchen. Man wußte
ja die Stelle, wo ſie gelegen hatten.
Ein harziger Aſt diente als Fackel. Bei ihrem Schein
entdeckte man, daß die beiden Knaben ſich heimlich in den
Wald geſchlichen hatten. Die Fackel verlöſchte, und der
Vater Jaguar, Geronimo und Anciano, welche dieſe Un⸗
terſuchung vorgenommen hatten, ſtanden im Dunkeln.
Sie riefen wiederholt in den Wald hinein, doch ohne eine
Antwort zu bekommen.
„Welch eine Unvorſichtigkeit!“ meinte der Vater Ja⸗
guar faſt zornig. „Ich habe bei unſrer Ankunft geſagt,
daß es hier Jaguars geben kann. Wie nun, wenn ſie
einem ſolchen in die Klauen fallen! Sie haben ihre Ge⸗
wehre zurückgelaſſen, können alſo gar nicht ſchießen.“
„Unvorſichtigkeit?“ meinte Anciano. „Hauka iſt
nicht unvorſichtig. Er weiß ſtets, was er tut und warum
er es tut. Und daß er ſeine Waffen nicht mitgenommen,
beweiſt nur, daß er ſie für überflüſſig oder hinderlich ge⸗
halten hat.“
„Ueberflüſſig ſind ſie in einer ſolchen Nacht nie⸗
mals,“ bemerkte Geronimo.
„Aber hinderlich,“ fiel Anciano ein. „Hinderlich ſind
ſie beim Gehen durch den Wald, bei einem heimlichen
Schleichen an den Feind, bei — — —“
„Beim Schleichen an den Feind?“ unterbrach ihn der
Vater Jaguar. „Das iſt's, das iſt's! Die verwegenen
Knaben wollen ein Abenteuer haben, das ihnen das Leben
— 807 —
koſten kann. Wir müſſen fofort aufbrechen, um das zu
verhindern.“
„Das Leben koſten? Wieſo? Vermuten Sie denn,
wo ſie ſind?“
„Ich vermute es nicht nur, ſondern ich weiß es!
Schaut einmal da rechts über den See hinüber! Da gibt
es eine Art Dämmerſchein. Da brennt ein Feuer. Das
haben die Knaben geſehen, und in ihrer jugendlichen
Unbedachtſamkeit ſind ſie hinüber, um einmal ſo zu tun,
als ob ſie Männer ſeien.“
„Ja, dort gibt's ein Feuer,“ ſtimmte Anciano bei.
„Es iſt wirklich möglich, daß ſie hinüber ſind. Aber wenn
dies der Fall iſt, ſo brauchen wir uns nicht zu ſorgen.
Mein Hauka iſt außerordentlich vorſichtig. Ich kann ihm
vollſtändig vertrauen.“
„Das weiß ich freilich auch. Er iſt erfahrener und
vorſichtiger als mancher erwachſene Mann; heute aber hat
er Anton mit, für deſſen Wohlergehen ich zu haften habe
und — *
Er hielt inne. Sie hatten während dieſes Gedanken⸗⸗
austauſches den Lagerplatz wieder erreicht, und ſoeben
ließ ſich unweit davon ein heftiges Pferdegetrappel ver⸗
nehmen. Dann ſah man zwei Geſtalten, die, aus dem
Finſtern tretend, ſich dem Feuer mit raſchen Schritten
näherten. Es waren die beiden Vermißten.
„Sie ſuchen uns? Da ſind wir,“ rief Anton mit
lachendem Geſicht dem Vater Jaguar entgegen, während
der Inka ſtill an die Seite ſeines Anciano trat, als ob es
ihm gar nicht einfalle, ſich für die Hauptperſon des letzten
Ereigniſſes zu halten.
„Ja, da ſeid ihr! Gott ſei Dank, das ſehe ich! Aber
wo ſeid ihr denn geweſen?“
„Drüben bei den Abipones.“
— 308 —
„Bei den Abi — — —? Es find alſo welche da
drüben?“
„Ja 4
„und da habt ihr es gewagt, ohne meine Er⸗
laubnis — — —“
„Sechs Gefangene zu befreien ie eine ganze Herde
von Pferden zu kapern,“ fiel eine Stimme ein.
Der Vater Jaguar drehte ſich um und erblickte den
Sprecher, der jetzt auch hinzugetreten war. Er trat einen
Schritt zurück und rief aus, indem er die Stirn leicht in
Falten zog: „Sie, Leutnant Verano? Wie kommen Sie
an die Zwillingsquelle?“
„Wie ich überall hinkam, wo ich geweſen bin, zu Fuß
oder im Sattel, Senor.“
„Sie wiſſen, daß ich auf meine Frage eine andre Ant⸗
wort erwartete. Ich will alſo jetzt lieber eine zweite Frage
tun: Wohin werden Sie von hier aus gehen?“
„Wieder hinüber zu den Abipones, um ſie zu züch⸗
tigen. Natürlich begleiten Sie mich mit Ihren Leuten.
Es darf keiner von dieſen Hunden am Leben bleiben!“
„Sie finden meine Begleitung ſo ſehr natürlich. Ich
nicht.“
„Es iſt ja ſelbſtverſtändlich, daß Sie mir beiſtehen
müſſen.“
„Selbſtverſtändlich? Müſſen? Ich ſage Ihnen, daß
ich niemals muß. Aber wen haben wir denn noch da?“
Sein Geſicht heiterte ſich auf. Er ſah den „Harten
Schädel“ kommen, der ſchnell auf ihn zutrat, ihm die
Hand reichte und in ehrfurchtsvollem Ton, aber ſchlechtem
Spaniſch antwortete: „Ich bin es, Seßor. Ich brauche
Ihnen nicht zu ſagen, wie ſehr ich mich freue, Sie zu
ſehen. Sie wiſſen das, ohne daß ich es Ihnen ſage. Nun
Sie hier ſind, brauchen wir uns nicht zu fürchten.“
— 309 —
„Vor wem?“
„Vor den Abipones, die ſich vorbereiten, von allen
Seiten auf uns einzudringen. Dieſer Seüor, ich ſelbſt
und vier meiner Leute, die ſich jetzt draußen am Walde bei
den erbeuteten Pferden befinden, fielen ihnen heute früh
in die Hände; fie ſchleppten uns nach der Zwillingsquelle,
um uns morgen im See zu erſäufen. Haukaropora und
der andre Knabe haben uns errettet.“
„Dieſe beiden? Wie iſt — — —“
Er hielt mitten in der Frage inne, denn er ſah, daß
der dunkle Himmel im Süden eine Stelle zeigte, die eine
ganz eigenartige ſchwefelgelbe Farbe angenommen hatte.
Dann fuhr er haſtig fort: „Wie viele Abipones befinden
ſich da drüben?“
„Sieben⸗ oder achtmal zehn,“ antwortete der
Häuptling. „Und gerade ſo viel Pferde haben wir mit⸗
gebracht, denn wir nahmen ihnen alle weg, ſie liefen
der Madrina nach.“
„Das iſt ein Abenteuer, das ich mir ſofort ausführ⸗
lich erzählen laſſen möchte; aber wir haben nicht die Zeit
dazu. Häuptling, ſiehſt du im Süden den gelben Strich,
und weißt du, was er bedeutet?“
Der Gefragte antwortete: „Ich habe ihn ſchon
längſt geſehen, Seüor. Es naht ein Hurrikan, der die
Wälder zerbricht und das Feuer in großen Ballen vom
Himmel wirft. Auch die Pferde fühlen es; ſie werden
unruhig und wollen nicht ſtehen.“
„Ja, wir befinden uns in Gefahr. Bleiben wir, ſo
können wir von den Bäumen zerſchmettert werden; gehen
wir fort, ſo rollt uns der Orkan wie Sandkörner über
den Campo. Ich kenne die Gegend nicht. In zwei
Stunden wird der Sturm losbrechen. Wir müſſen uns
alſo ſchnell entſcheiden.“
— 310 —
„Ich kenne die Gegend, Senor. Wir werden reiten,
und wenn wir uns beeilen, werden wir uns noch vor
dem Ausbruch des Hurrikans in Sicherheit befinden.“
„Wo ſoll unſer Zufluchtsort ſein?“
„Im Asiento de la mortand ad *).“
„Welch ein ſchlimmer Name! Ich habe ihn noch nie
gehört, weil ich in dieſer Gegend noch nicht über die Zwil⸗
lingsquelle hinausgekommen bin. Doch darüber ſpäter.
Du glaubſt alſo, daß wir dieſe Anſiedlung noch vor Aus⸗
bruch des Sturmes erreichen?“
„Ja.“
„Ob ihr ſie aber in dieſer Dunkelheit finden werdet?“
„Wir verfehlen die Richtung nicht, Senor. Sie wiſſen
ja auch, daß es nicht mehr lange ſo finſter bleiben wird,
wie es jetzt iſt. Der Himmel wird voll Feuer werden.“
„Das iſt wahr. Rüſten wir alſo zum ſchleunigen
Aufbruch! Nehmt beſonders die Gewehre in acht, daß
ſie nicht leiden!“
Nach dieſen Worten ließ er ſich von dem „Harten
Schädel“ hinaus zu den erbeuteten Pferden führen, die
von den vier Cambas kaum zuſammengehalten werden
konnten, da ſie die Annäherung des Unwetters ſpürten.
So viele Pferde bekommen zu haben, war ein Vor⸗
teil, der ſpäter ſehr günſtig in die Wagſchale fallen
konnte; in dieſem Augenblick aber hätte der Vater Ja⸗
guar lieber darauf verzichtet. Sie waren zwar aufge⸗
zäumt, aber nicht geſattelt; man konnte ſie alſo nicht mit
den Gegenſtänden beladen, die man mit ſich ſchleppen
mußte. Darum entſchied er kurz: „Wir nehmen ſie
mit, geben uns aber keine Mühe mit ihnen. Laufen ſie
gutwillig, kann es uns lieb ſein; wo aber nicht, ſo mö⸗
gen ſie tun, was ſie wollen.“
) Anſiedlung der Niedermetzlung
— 311 —
Sechs von ihnen wurden von den Cambas und dem
Leutnant Verano beſtiegen, und dieſe Männer erklärten
ſich bereit, jeder noch zwei an den Zügeln nebenher zu
führen. Als der letztere die Gewehre bemerkte, welche
die Leute des Vater Jaguar aufgeladen hatten, fragte
er, woher dieſe ſeien.
„Wir haben ſie ausgegraben,“ antwortete Gero⸗
nimo.
„Wo?“
„Unterwegs, an verſchiedenen Orten.“
„Tiempo tonitroso! So find es die, welche ich
ſuche! Ich konfisziere fie!”
„Aus welchem Grunde?“
„Sie gehören uns. Sie ſind aus dem Zeughaus
geſtohlen worden.“
„Wirklich? Das klingt wie ein Kindermärchen.
Erzählen Sie es dem Vater Jaguar; der wird Ihnen
die Antwort geben, die ich doch lieber unausgeſprochen
laſſen will.“
„Glauben Sie meinen Worten etwa nicht, Seüor?“
„Ich glaube alles, was ich ſehe. Bringen Sie mir
das Zeughaus und die Spitzbuben hierher, ſo werde ich
ſehen, was ich zu denken habe. Uebrigens haben wir
jetzt auf andres zu achten. Horchen Sie da hinüber!“
Er deutete mit der Hand in der Richtung über den
See. Dort war jetzt ein durchdringendes Geheul zu
hören. Die Abipones hatten ihre Toten und den Ver⸗
luſt ihrer Pferde und Gefangenen entdeckt. Der Vater
Jaguar konnte nicht auf ſie achten, denn die Gefahr
drängte. Der nächtliche Ritt, mit den fünf Cambas an
der Spitze, wurde begonnen. £
Die Führer hielten genau nach Norden zu, wo der
Vater Jaguar eine weite, ununterbrochene Wüſte zu
— 312 —
finden gedacht hätte. Man ritt nicht Galopp, ſondern
in vollſtem Laufe, und brauchte ſich um die ledigen
Pferde der Abipones gar nicht mehr zu bekümmern,
denn ſie kamen freiwillig mit. Ihr Inſtinkt ſagte ihnen,
daß das Wetter aus Süden drohe und die Rettung alſo
im Norden zu ſuchen ſei.
Als man nach einer halben Stunde, um die Pferde
nicht zu ſehr anzugreifen, eine etwas langſamere Gang⸗
art einhielt, war der gelbliche Streifen am ſüdlichen
Himmel ſchon bedeutend breiter geworden; ſein unterer,
breiter Teil begann rot zu flammen. Die Folge davon
war, daß die Dunkelheit der Nacht weniger tief war als
vorher. Nach Verlauf von abermals einer halben
Stunde hatte der gelbe Streifen mit ſeiner Grundfläche
die ganze Breite des ſüdlichen Horizonts eingenommen
und bildete mit ſeiner bis an den Zenith reichenden
Spitze ein Dreieck, in deſſen Mittelpunkt ſich ein dunkler
Fleck zeigte. Dieſes Dreieck war ſo hell, daß unten eine
Art von Dämmerung entſtand, bei der man mehrere
hundert Schritte weit ziemlich deutlich ſehen konnte.
„Das iſt das Loch, aus dem der Sturm kommen
wird,“ ſagte der Vater Jaguar, indem er auf den dunk⸗
len Fleck deutete, zu Doktor Morgenſtern, der mit Fritze
ihm zur Seite ritt.
„Wird er gefährlich werden?“ antwortete der Ge⸗
nannte. |
„Ob für uns, das kann ich nicht wiſſen; aber Scha⸗
den anrichten wird er ſicherlich. So ein Orkan türmt
die Wogen bergeshoch auf, reißt große Lücken in die
dichteſten Wälder und wirft die feſteſten Häuſer ein.“
„Und da wollen wir uns vor ihm in eine Anſiede⸗
lung, alſo in Häuſer, flüchten? Daß ſich Gott erbarm!
Er wird ſie uns über dem Kopf zuſammenſtürzen, und
— 818 —
wir werden unter den Trümmern unſern unvermeid⸗
lichen Untergang, lateiniſch Exitium genannt, finden.“
„Eigentlich ſollte man das freilich denken; aber ich
verlaſſe mich auf den Häuptling, der nicht nur die Ge⸗
walt des Orkans, ſondern auch die Verhältniſſe unſres
Zufluchtsortes kennt.“
„Wat können uns die Verhältniſſe nützen, wenn ſie
vom Sturm umjeworfen werden,“ meinte Fritze. „Ick
habe ſchon manchen Pampero miterlebt; aber ſo ein
Hurrikan ſoll noch wat janz andres ſind. Ick jebe in
dieſem Augenblick vor mein Leben keinen roten Pfiffer⸗
ling. Sehen Sie Ihnen doch mal dat Himmelsjewölbe
an! Iſt dat noch Himmel zu nennen? Nein, wie die
reine Hölle ſieht es aus. Allen Reſpekt vor ein ſchönes
Firmament; aber wenn es ſich mit Kupferrot und
Schwefeljelb überzieht, ſo kann's mich bange werden.
Ick habe auch kein Vertrauen zu die Anſiedlung. An⸗
ſiedlung von die Niedermetzelung! Wat haben wir dort
zu erwarten?!“
Es war gar kein Wunder, daß ſelbſt Fritze ein
Grauen verſpürte, der luſtige Kauz, der ſich ſonſt nicht
ſo leicht aus der Faſſung bringen ließ. Der Himmel ſah
jetzt wirklich hölliſch aus. Das Dreieck wuchs immer
weiter nach Norden und wurde an ſeiner Grundfläche
breiter und breiter. Dieſe nahm, als man anderthalb
Stunden geritten war, ſchon die Hälfte des Horizonts ein.
Bei dem jetzt herrſchenden Dämmerſchein war zu
ſehen, daß der Ritt über eine mit kurzem Gras bewach⸗
ſene Fläche ging, die ſich hie und da zu niedrigen Hügeln
erhob. Dieſe wurden nach und nach häufiger und höher.
Meiſt waren ſie von ſanft abgerundeter Geſtalt, doch kam
man auch an einigen vorüber, die ſchroffe Felſenbildung
zeigten. f
— 314 —
„Das beruhigt mich,“ ſagte der Vater Jaguar.
„Den beſten Schutz können wir an der Nordſeite eines
feſten Felſens finden. Und da ein jeder, der ſich hier
niederläßt, mit den Verhältniſſen des Landes, alſo auch
mit den verheerenden Stürmen zu rechnen hat, ſo ſteht
zu erwarten, daß die Anſiedlung, der wir entgegeneilen,
an einer ſo geſchützten Stelle angelegt worden iſt.“
Es ſollte ſich bald zeigen, daß er ganz richtig ver⸗
mutet hatte. Man gelangte zwiſchen Hügeln hindurch
in ein breites Tal, das auf der ſüdlichen Seite von einer
hohen Felſenmauer und auf der nördlichen von ſanften,
bewaldeten Höhen eingefaßt wurde. Auf der Talſohle
wuchs niedriges Gebüſch und reiches Gras, und in der
Nähe der Felſen ſtanden ſechs einzelne Gebäude, welche
die frühere Niederlaſſung gebildet hatten.
N Solche Anſiedlungen hat es im Gran Chaco früher
viele gegeben. Man ſtößt noch heutigentags auf deren
Trümmer. Die Weißen kamen in das Land der Roten,
ſetzten ſich darin feſt und benahmen ſich als rechtmäßige
Eigentümer, ohne an die Zahlung eines Kaufpreiſes
oder an ſonſt eine Entſchädigung zu denken. Sie ſuch⸗
ten ſich natürlich die beſten, ſchönſten und fruchtbarſten
Stellen aus und ſchoſſen jeden Roten, der es wagen
wollte, ihnen ihr angemaßtes Recht ſtreitig zu machen,
einfach nieder. Da aber der Nachſchub ausblieb, ſo
waren ſolche einzelne Anſiedler doch zu ſchwach, ſich län⸗
gere Zeit oder gar für immer gegen die zahlreichen In⸗
dianer zu halten, und ſo zogen ſie ſich entweder noch
rechtzeitig zurück oder wurden, wenn ſie hartnäckig auf
der geraubten Scholle ſitzen blieben, ausgerottet. Das
angebaute Land verwilderte wieder. Der Wind wehte
die Pflanzenſamen in die Gebäude; die Keime entwickel⸗
ten ſich zu Sträuchern und Bäumen, welche die Mauern
— 815 —
und Dächer ſprengten. Schlinggewächſe krallten ſich an
den Ziegeln und Balken feſt und überzogen ſie mit einer
dicken, feuchten Blätterdecke, unter der ſie vermoderten
und nach und nach in Staub zerfielen.
In dieſer Weiſe ruinenhaft lag die „Anſiedlung
der Niedermetzelung“ nun freilich nicht da. Sie war
von neuerem Datum und außergewöhnlich gut erhal⸗
ten. Die Wände der Gebäude beſtanden nicht aus dem
hier gewöhnlichen Material, ſondern aus feſten Holz⸗
ſtämmen, welche tief in die Erde gerammt worden wa⸗
ren. Die Dächer waren aus dicken Schilflagen zuſam⸗
mengeſetzt, die von Baſtſeilen von bedeutender Stärke
getragen wurden. Dieſe Seile hatten ebenſo wie das
Schilf der Witterung widerſtanden. Infolge ihrer
Elaſtizität gaben ſie jedem Windſtoß nach, ſo daß ſelbſt
der wildeſte Orkan, dem kein anderes Dach widerſtanden
hätte, ihnen nichts anzuhaben vermocht hatte. Die
Plankenwände hatten die gleiche Widerſtandsfähigkeit
gezeigt. Sie waren zwar auch reich mit Schlinggewäch⸗
ſen und andern Pflanzen überwuchert, von ihnen aber
nicht zerſtört, ja kaum angegriffen worden, vielmehr
hatten dieſe eine lebendige, dicke Schutzmauer gebildet,
durch die kein Wind und Regen zu dringen vermochte.
Fenſter gab es nicht, und die Eingänge waren nicht mit
Türen verſehen. Vor und zwiſchen dieſen Gebäuden
ſtanden Sträucher, aus denen ſich uralte Bäume er⸗
hoben. Dieſe hatten manchen Sturm erlebt, wie die am
Boden liegenden ſtarken Aeſte bewieſen, die abgeriſſen
worden und dann verdorrt waren.
Als die Reiter um die Felſen bogen und die ſechs
Gebäude liegen ſahen, rief der Häuptling der Cambas,
ihr Führer, aus: „Wir find an Ort und Stelle, Seüores.
— 816 —
Laßt die Pferde laufen, und dann ſchnell unter die
Dächer; der Hurrikan kann uns dort nichts anhaben!“
„Nein, nicht ſo!“ widerſprach der Vater Jaguar.
„Die Pferde dürfen wir nicht freilaſſen: ſie würden im
Orkan davonlaufen. Sie müſſen mit in die Häuſer.
Dieſe aber müſſen erſt gereinigt werden.“
„Wovon denn?“ fragte Leutnant Verano.
„Das können Sie ſich nicht denken? Sie ſollen es
ſogleich ſehen.“
Er beorderte hinter jedes Gebäude einige ſeiner
Leute und gab ihnen den Auftrag, dort zu ſchreien, zu
lärmen und mehrere Schüſſe abzugeben. Als dieſer Be⸗
fehl ausgeführt wurde, ſah man, was der Vater Jaguar
mit dieſer Reinigung gemeint hatte. Der Dämmer⸗
ſchein war hell genug, um allerlei Getier erkennen zu
laſſen, das durch das Lärmen und Schießen aufgeſchreckt
worden war und nun aus den Türöffnungen hervorge⸗
ſchoſſen kam; ſogar ein Puma war dabei.
„Nun ſind höchſtens noch Schlangen darin, vor
denen wir uns zu hüten haben,“ bemerkte der umſich⸗
tige Anführer. „Treibt vorerſt die Pferde in die vier
nächſten Gebäude! In den zwei andern finden dann
wir Unterkunft. Nachher das dürre Holz geſammelt,
damit wir Feuer machen können; aber ſchnell, denn das
Unwetter ſcheint losbrechen zu wollen!
Starke Windſtöße begannen durch das Tal zu pfei⸗
fen; ſie brachten große, ſchwere, jetzt noch vereinzelte
Waſſertropfen mit ſich. Die Männer waren fieberhaft
tätig; in kaum zehn Minuten waren die Weiſungen
Hammers ausgeführt. Die Pferde, die ſogar noch abge⸗
ſattelt worden waren, ſtanden in den Räumen, und die⸗
jenigen Männer, die bei ihnen waren, um ſie zu beauf⸗
ſichtigen, brannten Feuer im Innern in der Nähe der
— 317 —
Türen an. Feuer brannten auch in den zwei Gebäuden,
die zur Aufnahme der übrigen Perſonen beſtimmt waren.
Aber es war die höchſte Zeit geweſen, denn jetzt brach
das Wetter mit einer Gewalt los, die aller Beſchreibung
ſpottete.
Der vorhin gelbhelle Himmel hatte ſich mit einem
Schlage ſchwarz gefärbt; ein Aechzen, Stöhnen, Dröhnen
und Heulen wie von tauſend Teufeln ging durch das
Tal; der Orkan war da; die Gebäude zitterten unter
ſeiner Gewalt, wurden aber durch ihre Biegſamkeit ge⸗
halten. Und dann tat es plötzlich einen Krach, als ob
ein Berg eingeſtürzt ſei. Das war der Regen, der mit
einemmal, und zwar nicht in Tropfen, ſondern in ge⸗
ſchloſſener Maſſe wie ein See herniederſtürzte.
Dieſer Regen ergoß ſich mit dem Getöſe eines
großen Waſſerfalls, wurde aber dennoch von der Stärke
der Donnerſchläge übertönt. Blitze zuckten durch die
tiefdunkle Nacht oder vielmehr durch den Regenſee, und
auch das Wort Blitze iſt nicht der richtige Ausdruck, denn
es waren Feuerflammen, die aus der Erde aufzuckten,
und Feuerklumpen, die aus den Wolken niederfielen. So
ging es Schlag auf Schlag, Krach auf Krach, Feuerball
auf Feuerball, eine ganze Stunde lang und auch noch
eine zweite. Es war ganz unmöglich, ſich zu unterhal⸗
ten, denn niemand konnte ſein eigenes Wort verſtehen.
Die Männer ſaßen ſtill am Boden, der aus geſtampfter
Erde beſtand, und konnten ſich nur durch Fingerzeige die
nötigen Mitteilungen machen.
Noch ſchlimmer aber waren diejenigen daran, die
ſich bei den Pferden befanden. Die Tiere hatten natür⸗
lich nicht angebunden werden können; ſoweit die vorhan⸗
denen Riemen, Stricke und Schnüre zureichten, hatte
man ihnen die Beine gefeſſelt; aber dies war nicht bei
= BI
allen geſchehen, und To erhob ſich außer dem Schnauben
und Wiehern ein Stampfen, Schütteln und Umſichſchla⸗
gen, das ganz wohl lebensgefährlich genannt werden
konnte.
Jetzt gab es noch einen entſetzlichen Donnerſchlag,
den ſtärkſten von allen, aber auch den letzten; Himmel
und Erde ſchienen nicht nur in Flammen zu ſtehen, ſon⸗
dern ein einziges Feuermeer zu bilden; dann trat eine
Stille ein, die ſo plötzlich kam, daß ſie geradezu unheim⸗
lich wirkte. Keiner wagte ein Wort zu ſagen; die meiſten
glaubten, daß der Aufruhr der Elemente nur einen
Augenblick ausgeſetzt habe, um ſofort wieder zu begin⸗
nen; dem war aber nicht ſo. Der Vater Jaguar ſtand
von dem Platz auf, wo er geſeſſen hatte, ging an dem
Feuer vorüber nach der Tür, ſah hinaus, wo die Waſſer
wie ein einziger, talbreiter Fluß vorüberrauſchten, und
meldete dann: „Es iſt vorüber. Der Himmel ſteht
voller Sterne. Gott ſei Dank!“ |
„Ja, Gott ſei Lob und Dank!“ ſeufzte Doktor Mor⸗
genſtern erleichtert auf, indem er ſich mit beiden Händen
über das todesbleiche Geſicht wiſchte. „So etwas habe
ich doch noch nicht erlebt. Ich habe eine Angſt ausge⸗
ſtanden, die gar nicht zu beſchreiben iſt. Da war doch
jeder Donnerſchlag ein Gebrüll, lateiniſch Rugitus oder
auch Mugitus geheißen, und jeder Blitz eine Feuers⸗
brunſt, Incendium, die alles zu verzehren drohte!“
„Ja, dat iſt wahr,“ ſtimmte Fritze bei. „Mir wun⸗
dert es nur, daß wir nicht erſchlagen worden ſind, da
wir bei dat Wetterleuchten und die vielen Blitze auch
noch ſechs Feuer jebrannt haben!“
„Allerdings! Die Wiſſenſchaft hat bewieſen, daß
der Blitz vom Feuer angezogen wird. Es iſt ein wahres
Wunder, daß es hier nicht eingeſchlagen hat.“
— 819 —
„Das war nicht wohl zu befürchten, da der Wald
da droben ein ſehr guter Blitzableiter war,“ bemerkte der
Vater Jaguar. „Nun aber will ich gleich einmal nach
den Pferden ſehen, ob ſie ſich beſchädigt haben.“
Er ging hinaus und hatte jetzt bis an die Knie im
Waſſer zu waten, obgleich es vorher ganz trocken geweſen
war. Die Tiere ließen zwar noch Zeichen von Unruhe
ſehen, ſtanden aber ſtill an ihren Plätzen. Nennens⸗
werte Beſchädigungen waren nicht zu bemerken. Einen
ſo guten Ausgang hatte man kaum erhoffen dürfen.
Als er von der Beſichtigung zurückkehrte, ſtand
Leutnant Verano gerade im Begriff, ſein Abenteuer zu
erzählen. Er ſah Hammer kommen und wendete
ſich ihm mit den Worten zu: „Sie kommen gerade recht,
Seüor, um zu hören, welche Anſprüche ich an die Ge⸗
wehre habe, die Sie ſich angeeignet haben.“
„Angeeignet? Daß ich nicht wüßte! Ich habe ſie
in einſtweilige Verwahrung genommen,“ antwortete der
Deutſche in ſehr zurückhaltender Weiſe.
„Mit welchem Recht, wenn ich fragen darf?“
„Sie ſagen ganz richtig: wenn ich fragen darf.
Welches Recht haben Sie, mich zu fragen?“
„Ich bin der Beauftragte des Generals Mitre.“
„Das würde ich gelten laſſen, falls Sie es be⸗
weiſen könnten.“
„Welche Beweiſe verlangen Sie?“
„Eine ſchriftliche Vollmacht.“
„Welche Zumutung! Meinen Sie, daß man ſolche
Schriftſtücke mit ſich im Gran Chaco herumſchleppt?“
„Das iſt allerdings notwendig, wenn man als Be⸗
vollmächtigter anerkannt werden will.“
— 820 —
„Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, Senor. Das
wird doch hoffentlich genügen,“ fuhr Verano zornig auf.
„Oder etwa nicht, dann — — —“
Er machte mit der Hand eine drohende Bewegung
nach dem Meſſer.
„Laſſen Sie das Ding ſtecken! Wer mir die Klinge
zeigt, bekommt meine Fauſt zu fühlen. Ich erkläre
Ihnen ganz gern, daß mir Ihr Ehrenwort genügt, denn
Sie ſind zwar ein höchſt gewalttätiger Mann, aber daß
Sie ſich einer ehrenrührigen Handlung ſchuldig gemacht
hätten, das habe ich noch nicht gehört.“
„So ſind wir alſo einig?“
„Ja und auch nein. Verſtehen Sie mich nur rich⸗
tig! Zu glauben, daß Sie der Bevollmächtigte des
Generals ſind, dazu genügt mir Ihr Ehrenwort aller⸗
dings. Welche Vollmachten aber haben Sie erhalten?“
„Nach den abhanden gekommenen Gewehren zu
forſchen.“
„Nun, und wenn Sie den Dieb entdecken?“
„So habe ich Bericht zu erſtatten.“
„Und dann?“
„Dann — —? Nun, dann wird der General das
Weitere verfügen.“
„Schön. Jetzt ſind wir freilich einig. Sie haben nach ge⸗
ſtohlenen Gewehren zu forſchen, im Entdeckungsfall Be⸗
richt zu erſtatten und dann das Weitere abzuwarten. Ich
habe Gewehre gefunden; ob dieſe aber diejenigen ſind,
die — —“
„Bitte, Senor!“ unterbrach ihn der Leutnant, „fie
ſind es. Während Sie jetzt fort waren, habe ich mir
eine Anzahl derſelben angeſehen. Es ſind die gleichen.
die heimlich aus dem Zeughauſe fortgeſchafft worden
— 821 —
ſind. Der General hat den Verluſt entdeckt und ſofort,
ohne daß jemand davon erfuhr, die eingehendſten
Nachforſchungen anſtellen laſſen. Was ſich ergab,
mußte überraſchen. Höchſt wahrſcheinlich hat der
Zeugmeiſter ſich beſtechen laſſen. Er gab mehrere
hundert Gewehre nebſt reichlicher Munition in die
Hände von Leuten, die einen Aufruhr planen. Wer
an ihrer Spitze ſteht, war noch nicht zu erfahren; ge⸗
wiß aber iſt, daß der Stierfechter Antonio Perillo da⸗
bei die Hand im Spiel hat. Dieſer Mann iſt kurz nach
dem Diebſtahl, alſo vor einigen Monaten, mit Arbeitern
und Werkzeugen und Waffen nebſt Schießbedarf über
den Rio Salado gegangen und ſpäter nur mit den Ar⸗
beitern und Werkzeugen zurückgekehrt. Er hat die Waf-
fen nicht verkauft oder verteilt, ſondern vergraben. Wo⸗
zu hätte er ſonſt Spaten und Schaufeln mitgenommen?
Man wollte und mußte erfahren, wo dies geſchehen iſt.
Und da ich den Chaco kenne, wurde mir der Auftrag,
über den Salado zu gehen, um nachzuforſchen. Die
Abipones ſind gegenwärtig regierungsfeindlich geſinnt;
an ſie durfte ich mich nicht wenden; ich ſuchte alſo
die Cambas auf und traf den Häuptling mit vier Krie⸗
gern, von denen der eine zur angegebenen Zeit weiße
Männer an der Zwillingsquelle geſehen hatte. El Cra-
neo duro war ſofort bereit, mit mir nach dieſem Orte
zu reiten. Unterwegs trafen wir auf eine Schar von
über achtzig Abipones, die, wie mir der Häuptling ſagte,
vont Palmenſee zu kommen ſchienen. Sie behandelten
uns feindlich; ich wehrte mich und ſchoß einige von
ihnen tot, wurde aber mit meinen Begleitern über⸗
wältigt, entwaffnet, ausgeraubt und nach der Quelle
geſchafft, wo wir heute früh ertränkt werden ſollten.
Dieſe beiden Knaben hier haben uns gerettet. Ich
May, Das Vermächtnis des Inka. 21
— 822 —
hörte, wo Sie die Waffen gefunden haben, und bin
überzeugt, daß Sie mir dieſe ausliefern werden.“
„Nein, Senor! Berichten Sie an den General: was
dieſer dann beſtimmt, das wird geſchehen. Zunächſt
könnten Sie weder die Gewehre noch die Munition ver⸗
werten; ich aber brauche ſie höchſt notwendig.“
„Wozu?“
„Um die Cambas zu bewaffnen und mit ihrer Hilfe
die Feinde des Generals zu ſchlagen. Ich weiß nämlich
mehr, als Sie wiſſen, und werde es Ihnen mitteilen.“
Er erzählte ihm das bisher Erlebte. Als er das
getan hatte, war der zwar rohe und gewalttätige, aber
höchſt patriotiſche Offizier mit Freuden bereit, auf ſeine
Forderung zu verzichten. Er bat, ſich der Schar an⸗
ſchließen zu dürfen, was ihm auch gewährt wurde,
doch unter der Bedingung, daß er ſich dem Vater Ja⸗
guar unterzuordnen habe.
Jetzt endlich konnte man ſich auch die Heldentat
der beiden jungen Freunde genauer erzählen laſſen, was
Anton Engelhardt an Stelle des ſtillen, ſcheuen Inka
tun mußte. Während man das Abenteuer noch be⸗
ſprach, zog der alte Anciano ſeinen Zögling auf die
Seite, umarmte ihn und ſagte, unbedachtſamerweiſe in
ſpaniſcher Sprache: „Du biſt ein Held und haſt ge⸗
zeigt, was du biſt, el Hijo del Inka!“
Hammer ſtand nahe dabei, hörte dieſe Worte und
ſagte im ſtillen zu ſich: „Ah! Alſo hat meine Ahnung
mich nicht getäuſcht; das Dunkel wird ſchon heller. Er
iſt ein Nachkomme der alten Herrſcher von Peru — —
el Hijo del Inka, der Sohn des Inkal“
Jehntes Kapitel.
vater Jaguars Erzählung.
Nach dem nächtlichen Unwetter war ein heiterer
Morgen angebrochen. Die Regenwaſſer hatten ſich ver⸗
laufen; der Hochwald dampfte und im Tal unten wogte
zwiſchen dem Geſträuch das ſaftige Gras hoch wie ein
Aehrenfeld. Die Pferde wurden aus den Gebäuden ge⸗
laſſen, um ſich an dieſem Grün zu laben, denn von
einem Aufbruch konnte jetzt noch keine Rede ſein, da die
Tiere ſich nach dem nächtlichen Gewaltritt ausruhen
mußten.
Die Männer nahmen von den mitgebrachten Vor⸗
räten ein Frühſtück, um ſich darauf zur notwendigen
Beratung zuſammenzuſetzen. Dabei war zu bemerken,
daß Leutnant Verano dem alten Anciano eine un⸗
gewöhnliche Aufmerkſamkeit ſchenkte. Seine Blicke kehr⸗
ten wieder und immer wieder zu dieſem zurück, ſo daß
der Indianer endlich fragte: „Sie betrachten mich fort⸗
während, Senor. Hat dies einen beſonderen Grund?“
„Ja,“ antwortete der Offizier.
„Darf ich erfahren, welchen? Komme ich Ihnen
bekannt vor? Hätten Sie mich ſchon einmal geſehen?“
„Sie wohl nicht. Meine Aufmerkſamkeit gilt nur
Ihrem langen, weißen Haar, das mich an einen Skalp
erinnert, den ich einmal geſehen habe.“
— 324 —
„Skalp? Was iſt das?“
„Die Indianer Nordamerikas haben die Gewohn⸗
heit, ihren getöteten Feinden die Kopfhaut abzuziehen
und als Zeichen des Sieges und der Tapferkeit auf⸗
zubewahren. Eine ſolche Haut wird Skalp genannt.
Es iſt ganz dasſelbe, was wir ſpaniſch ſprechenden
Leute mit Piel del eräneo bezeichnen.“
„In welcher Beziehung ſtehe denn ich zu dieſer
Kopſhaur?“
„Es iſt eine Aehnlichkeit. Der Skalp, von dem ich
ſpreche, hatte ein ebenſo langes und dichtes weißes
Haar, wie Sie es tragen.“
Anciano horchte auf. Seine Züge nahmen den
Ausdruck der Spannung an, als er fragte: „Ein eben⸗
ſolches Haar? Das wäre doch höchſt merkwürdig! Ich
glaube nicht, daß ein Weißer ſein Haar in meiner
Weiſe trägt.“ |
„Ich habe das allerdings auch noch nie geſehen.
Uebrigens hatte die Kopfhaut einem Indianer angehört.“
„Wohl einem nordamerikaniſchen?“
„Nein, einem hieſigen.“
„Von welchem Stamme war er?“
„Das weiß ich nicht. Ich fragte zwar danach,
doch gab mir der Beſitzer des Skalps keine genügende
Antwort.“
„Wo ſahen Sie die Haut?“
„In Buenos Aires.“
„Bei wem?“
„Bei dem Stierkämpfer Antonio Perillo. Ich war
einmal mit einem Freunde bei ihm. Er hatte ſein
Zimmer mit allerlei Trophäen ausgeſchmückt, unter
denen ſich dieſe Haut befand.“
— 825 —
„Antonio Perillo, der Eſpada! Er iſt es ja, mit
dem wir wahrſcheinlich zuſammenſtoßen werden! Man
ſagt, daß er wiederholt im Weſten geweſen ſei. Hat
er Ihnen mitgeteilt, auf welche Weiſe er zu dieſer Haut
gekommen iſt?“
„Ja. Er hat mit einem Indianer auf Leben und
Tod gekämpft und ihn beſiegt. Als Andenken an die⸗
ſen ſchweren, lebensgefährlichen Kampf hat er den
Skalp ſeines Feindes mitgenommen.“
„Wo hat dieſer Kampf ſtattgefunden? Sagen Sie
ſchnell, wo!“ bat Anciano im Ton außerordentlicher Er⸗
regung.
„In der ſüdlichen Pampa. Das war alles, was
ich erfahren konnte.“
„Da unten? Da iſt es freilich anders, als ich
dachte.“
Er atmete bei dieſen Worten hörbar und wie er⸗
leichtert auf. Sein Geſicht nahm wieder den Ausdruck
der Gleichgültigkeit an, veränderte ſich aber ſofort wie⸗
der, als der Leutnant bemerkte: „Das Haar war wirk⸗
lich prächtig, ſchöner noch als das Ihrige. Es wurde
von einer Spange zuſammengehalten, und der, welcher
es getragen hat, muß ein ſehr alter und wohl auch
armer Mann geweſen ſein.“
„Von einer Spange?“ rief Anciano aus, indem er
eine Bewegung der Ueberraſchung machte. „Wie ſah
dieſe Spange aus? Und warum glauben Sie, daß der
Mann arm geweſen iſt?“ |
„Weil ſie von Eiſen war, während ein wohlhaben⸗
der Mann doch, wenn er ſich ſolcher Zieraten bedient,
ſolche von wertvollerem Metall wählt. Die Spange
hatte an ihrer vorderen Seite die Form einer Sonne
mit zwölf Strahlen.“
— 526 —
„Zwölf Strahlen!“ ſchrie Anciano förmlich, indem
er aufſprang. „Senor, dieſe Spange war nicht aus
Eiſen, ſondern vom reinſten Gold. Der Beſitzer hatte
ſie aber künſtlich geſchwärzt, um nicht die Habſucht an⸗
derer zu erwecken.“
„Woher wiſſen Sie das? Haben Sie den Mann
gekannt, dem dieſer Schmuck gehörte?“
„Ob ich ihn gekannt habe! Er war mein Gebieter,
ein Herrſcher über — —“
Er war im höchſten Grad erregt. Seine Augen
blitzten; er hatte ſein Meſſer aus dem Gürtel geriſſen
und machte Bewegungen, als ob er einen vor ihm
ſtehenden Feind erſtechen wolle. Er hätte noch mehr
geſagt, vielleicht ſein ganzes Geheimnis verraten; aber
Haukaropora war auch aufgeſprungen, legte ihm die
Hand auf den Arm und unterbrach ihn in warnendem
Ton: „Still, mein Vater! Der Mann war ein Indianer,
weiter nichts; aber dennoch müſſen wir erfahren, ob er
in rechtlichem Kampf getötet worden iſt. Wenn nicht,
dann wehe ſeinem Mörder! Er war trotz ſeines Alters
ſo ſtark und gelenkig, daß er niemals überwunden wurde.
Soll ich da glauben, daß er von dieſem Antonio Perillo
beſiegt worden iſt? Nein und abermals nein! Er iſt
ermordet worden.“
„Ganz gewiß, ganz gewiß!“ ſtimmte der Alte bei.
„Wir brauchen nach dem Mörder nicht zu forſchen;
Perillo hat zugegeben, daß er ſelbſt ihn getötet hat. Wir
wiſſen, daß er hinter uns herkommt; er wird in meine
Hände fallen, und dann ſoll er uns Rede und Antwort
geben!“
„Ja, reden ſoll er, und die Antwort gebe ich ihm
mit dieſem da!”
— 827 —
Der Inka ſchwang ſeinen Streitkolben, auf den ſich
ſeine Worte bezogen, um den Kopf. Er war faſt noch
mehr erregt, als Anciano, beherrſchte ſich aber ſchnell,
als er ſah, daß die Anweſenden ihn erſtaunt anblickten,
nahm eine gleichgültige Miene an, ſetzte ſich wieder
nieder und legte den Kolben neben ſich hin.
Aber nicht nur dieſe beiden waren von der Mit⸗
teilung des Leutnants ſo tief berührt worden; es gab
einen dritten, der ihr eine ebenſo große, wenn auch
ruhigere Aufmerkſamkeit ſchenkte. Dieſer dritte war
Vater Jaguar. Von da an, wo der Skalp erwähnt
wurde, bis zum letzten Augenblick hatte er die Reden
it der größten Spannung verfolgt. Er ſaß neben dem
Inka und griff jetzt nach dem Streitkolben, um ihn zu
betrachten. Die Waffe war ſchwarz, wie von einem
dunkeln Firnis überzogen. Er beſah ſie ſehr genau,
legte ſie dann wieder hin, ohne eine Miene zu verziehen,
und ſagte: „Ich halte es nicht für notwendig, ſich jetzt
über den Skalp zu ereifern. Noch wißt ihr nicht, ob
es wirklich die Kopfhaut eures Bekannten iſt. Wir wer⸗
den es erſt ſpäter genau erfahren.“
„Nein, ich weiß es ſicher,“ antwortete Anciano; „die
Spange iſt der Beweis, daß ich mich nicht irre.“
„Dennoch haben wir jetzt Notwendigeres zu be⸗
ſprechen,“ entgegnete Hammer, indem er dem Alten
einen verſtohlenen Wink gab, zu ſchweigen. „Es gilt,
zu beraten, wohin wir uns von hier aus wenden
ſollen.“
„Doch jedenfalls nach dem Palmenſee,“ antwortete
der Leutnant Verano. „Das war ja ſchon vorher Ihr
Ziel und muß es nun erſt recht bleiben, da die Ver⸗
ſchwörer dort zuſammenkommen wollen.“
— 828 —
„Ich glaube zwar nicht, daß ſchon jemand von
ihnen dort iſt, möchte dieſen See aber dennoch ver⸗
meiden. Man könnte ſpäter durch einen Zufall ent⸗
decken, daß wir dort geweſen ſind, und das könnte zum
Mißlingen meines Plans führen.“
„Haſt du denn ſchon einen Plan?“ fragte Gero⸗
nimo.
„Beinahe. Wir wiſſen, daß die Abipones gegen die
Cambas wollen, und könnten dieſes Vorhaben vielleicht
ſchon im Keim zunichte machen. Ich ſage mit Abſicht:
vielleicht; denn ich befürchte, daß wir zu ſchwach dazu
ſind.“
„Das meine ich auch. Die Burſchen ſind zwar
furchtſam und ſcheuen einen offenen Angriff; zu einem
nächtlichen Ueberfall aber ſind ſie ſtets bereit, und da
habe ich vor ihren vergifteten Pfeilen den größten Re⸗
ſpekt. Wir müſſen uns verſtärken, und das kann nur
mit Hilfe der Cambas geſchehen.“
„Allerdings. Es fragt ſich, ob ſie ahnen, was ihnen
bevorſteht.“ |
Da antwortete der „Harte Schädel“: „Unſre Leute
wiſſen nichts davon, daß ſie überfallen werden ſollen.
Wir leben in Feindſchaft mit den Abipones, aber daß
ſie jetzt einen Kriegszug gegen uns vorhaben, das war
uns ganz unbekannt. Wir müſſen ſobald wie möglich
aufbrechen, um ihnen die Nachricht zu bringen und ſie
vorzubereiten. Der Zug wird gegen unſer größtes und
reichſtes Dorf gerichtet ſein.“
„Woher weißt du das?“
„Die Abipones, die uns geſtern fingen, ſprachen da⸗
von. Da wir heute früh erſäuft werden ſollten, ſo
glaubten ſie, ganz ſicher zu ſein, daß wir nichts verraten
könnten.“
— 829 —
„Wo liegt dieſes Dorf und wie weit iſt es von hier
entfernt?“
„Es liegt an dem Waſſer, das die Weißen den
Arroyſcharo“*) nennen, und wenn wir gut reiten, kön⸗
nen wir nach drei Tagemärſchen dort ſein.“
„Wie iſt die Gegend beſchaffen, durch die wir müſ⸗
ſen? Iſt ſie unbewohnt?“
„Es gibt Wald, offenes Feld und auch mehrere
Dörfer der Abipones, die wir aber vermeiden können,
wenn wir den Ritt von hier aus unternehmen. Wollten
wir aber erſt den Palmenſee aufſuchen, ſo würden wir
von dort aus längere Zeit durch feindliches Gebiet zu
reiten haben.“
„Hm!“ brummte der Vater Jaguar nachdenklich in
den Bart. Er blickte eine Weile vor ſich nieder und fuhr
dann fort: „Und dennoch halte ich es für beſſer, erſt
nach dem Palmenſee zu gehen. Vorhin wollte ich das
vermeiden; nun ich aber genau erfahren, wohin die
Gegner wollen, muß mir daran liegen, den Weg, welchen
ſie einzuſchlagen haben, kennen zu lernen. Ich habe
auch noch einen andern Grund. Unſer Fleiſchvorrat geht
zu Ende, und uns drei Tage lang vom Ertrag der Jagd
zu ernähren, dazu haben wir keine Zeit. Durch den
dabei entſtehenden Aufenthalt könnten aus den drei
leicht fünf oder ſechs Tage werden. Die Abipones aber
beſitzen, wie ich weiß, Rinder, von denen wir eins oder
gar einige heimlich wegfangen können. Da kommen
wir ohne Mühe und Zeitverluſt zu Fleiſch. Wie weit
iſt es von hier bis zu dem Palmenſee?“
„Einen halben Tagesritt.““
) Der klare Bach.
— 830 —
„Gut, dann brechen wir um die Mittagszeit von
hier auf, ſo daß wir am Abend dort ankommen. Es
iſt ja nicht notwendig, daß wir ganz bis zum See reiten.“
Es hatte keiner etwas dagegen einzuwenden, doch
meinte Doktor Morgenſtern Grund zu der Bemerkung
zu haben: „Ihre Abſicht und Ihren Plan in allen Ehren,
aber ich habe doch auch Abſichten und Pläne, an die ich
Sie erinnern muß. In welcher Richtung liegt denn der
klare Bach“, zu dem Sie wollen?“
„Nach Nordweſten,“ antwortete der Häuptling.
„Iſt die dortige Gegend eben oder bergig?“
„Es gibt Berge.“
„Dann erhebe ich Einſpruch, Seüores! Sie wiſſen,
daß ich nicht wegen der Cambas, ſondern um Aus⸗
grabungen vorzunehmen in dieſes Land gekommen bin.
Die Tiere, deren Ueberreſte ich ſuche, haben nicht auf
den Bergen, ſondern in der Ebene gelebt. Je weiter
ich mich von der letzteren entferne, deſto mehr ſchwindet
mir die Hoffnung, etwas zu finden. Ich erhebe alſo
Widerſpruch lateiniſch Contradictio oder auch Repu-
gnantia genannt.“
„Ihr Widerſpruch wird leider ohne Erfolg ſein,“
antwortete der Vater Jaguar. „Wir können doch nicht
Ihrer Ausgrabungen wegen die Cambas berauben oder
gar ermorden laſſen!“
„Ebenſowenig kann ich dieſer Leute wegen auf mein
Maſtodon oder Megatherium verzichten, das ich finden
möchte. Ich beantrage, daß die Wiſſenſchaft berück⸗
ſichtigt werde!” |
Der „Harte Schädel” hatte aufmerkſam zugehört.
Es war ihm nicht klar, was der kleine Mann meinte,
aber er ahnte es und erkundigte ſich jetzt: „Dieſer
Sefior ſpricht von Tieren und vom Ausgraben. Gehört
— 8831 —
er vielleicht zu den ſonderbaren weißen Leuten, die in
der Pampa nach Knochen graben, um dieſe in die großen
Städte zu bringen und dort zuſammenzuſtellen?“
„Ja, er gehört zu ihnen,“ antwortete Hammer
lächelnd.
„So braucht er nicht hier zu bleiben und ſich in die
Gefahr zu bringen, von den Abipones gefangen genom⸗
men oder gar getötet zu werden. Ich weiß, wo ſolche
Knochen zu finden ſind.“
„Wo denn, wo?“ fragte der kleine Gelehrte ſchnell.
„Ich kenne mehrere Orte. An einem derſelben
werden wir vorüberkommen. Es iſt der Pantano de
los Huesos*). Dieſer Name ſagt Ihnen, daß das Ge⸗
wünſchte dort zu finden iſt.“
„Wirklich, wirklich? Ein Knochenſumpf?“ erkun⸗
digte ſich Morgenſtern mit großem Eifer. „Welchem
Tier gehören denn die Knochen an?“
„Das weiß ich nicht. Und dann kenne ich auch nicht
— — —7. Er ſtockte für einige Augenblicke, fuhr dann
aber fort: „Die Senores find gekommen, uns gegen
unſre Feinde beizuſtehen, und aus Dankbarkeit dafür
will ich ſagen, daß ich einen Ort kenne, wo ein Tier
in der Erde ſteckt, das ſo groß geweſen ſein muß, wie es
jetzt keins mehr gibt. Wir haben es zufällig gefunden
und wollten es an einen der Weißen, welche ſolche
Knochen ſuchen, gegen Geld verhandeln. Da Sie uns
aber gegen die Abipones helfen wollen, werde ich es
Ihnen ſchenken.“
„Was? Wie? Ein ſo großes Tier, wie es fetzt
keins mehr gibt?“ fragte Morgenſtern ſchnell. „Was
iſt das für eins? Vielleicht ein Glyptodon?“
) Sumpf der Knochen
— 632 —
„Das kann ich nicht ſagen. Ich habe dieſen Namen
noch nie gehört.“ |
„Wie groß iſt es denn? Wie lang und wie hoch?“
„Auch das weiß ich nicht, denn wir haben es nicht
ganz geſehen.“
„Nicht ganz? O wehl Dann ſind vielleicht nur
einzelne Knochen vorhanden!“
„Nein; es iſt ganz. Wir haben gegraben, bis die
ſämtlichen Rückenknochen zu ſehen waren.“
„Und dann? Dann habt ihr ſie wohl durcheinander
geworfen?“ |
„Nein, wir hatten erfahren, daß ein zerbrochenes
Tier nicht ſo viel wert iſt, wie ein unverletztes. Darum
ließen wir es, wie es war, und deckten es ſorgfältig mit
Erde zu.“
„Bravo, bravo! Das war ſehr klug, ſehr geſcheit
gehandelt! Ich erſehe daraus, daß ihr Indianer doch nicht
ſo dumm ſeid, wie man euch uns geſchildert hat. Ich
muß dieſes Tier haben! Wo ſteckt es? Wo iſt der Ort?
Wann werden wir hinkommen? Doch ſo bald wie
möglich?“
„Die Stelle befindet ſich einen ganzen Tagesritt
hinter unſerm Dorf.“
„Das iſt mir gar nicht lieb, ganz und gar nicht!
Ich beantrage, ſofort aufzubrechen, Seüores! Ich ſehe
wirklich nicht ein, weshalb wir ſo lange hier ſitzen
bleiben wollen.“
„Nur langſam, langſam!“ lachte der Vater Jaguar.
„Erſt wollten Sie hier bleiben, und nun können Sie
nicht ſchnell genug fortkommen. Wir haben noch ſo
viel zu tun, daß wir vor Mittag nicht aufbrechen
können.“
—
— 883 —
„Zu tun? Was denn? Ich wüßte nicht, was wir
noch zu arbeiten hätten!“
„Denken Sie an die vielen Pferde, die wir fetzt
haben, und an unſer Gepäck. Wir müſſen Packſättel
anfertigen.“
„Packſättel? Wir haben ja weder Leder noch ſon⸗
ſtiges Material dazu?“
„Material iſt genug vorhanden. Man muß ſich
nach den Umſtänden richten. Aus Zweigen, Laubwerk,
Schilf und Gras laſſen ſich Sättel anfertigen, die länger
als drei Tage zu gebrauchen ſind. Aus Schlingpflanzen
drehen wir Seile, womit die Sättel befeſtigt und die
Pferde aneinander gebunden werden. Haben wir auf
dieſe Weiſe eine zuſammenhängende Tropa gebildet, ſo
geht der Ritt viel leichter und ſchneller vonſtatten. Wir
werden ſofort an die Arbeit gehen.“
Er ließ junges Gezweig, Gras und Schilf ſammeln,
und bald waren alle Hände unter ſeiner Anleitung be⸗
ſchäftigt, die Pferde mit weichen Tragunterlagen und
Halftern aus Schlinggewächſen zu verſehen. Als die
Tiere ſich ausgeruht hatten, wurden ſie beladen und ſo
aneinander gebunden, daß ſie eine zuſammenhängende
Tropa bildeten. Dann konnte der Aufbruch vor ſich
gehen. Es war gerade zur Mittagszeit, als man den
Ort verließ, der einen ſo ſchlimmen Namen beſaß und
doch ſo vielen Schutz vor dem verderblichen Unwetter
geboten hatte.
Das heutige Ziel war alſo der Palmenſee, der in
ſüdweſtlicher Richtung von der Anſiedelung der Nieder⸗
metzelung lag. Der „Harte Schädel“ ritt mit ſeinen
vier Cambas als Führer voran; dann folgten die Pferde
in einer langen Reihe, die von den Reitern zu beiden
Seiten in Ordnung gehalten wurde. Die Höhen, an
denen man während der Nacht vorübergekommen war,
blieben links liegen; die Gegend, durch die man ritt,
konnte, obgleich man ſich mitten im Chaco befand, als
Campo bezeichnet werden. Sie war eben und offen.
Nur hier oder da wurde der weiche Raſen von einer
ſandigen Stelle unterbrochen, bis man am Nachmittag
wüſtes Land betrat, das, wie der Häuptling ſagte, erſt
am Palmenſee ein Ende nahm.
Der Vater Jaguar ritt heute hinter dem Zug. Er
hatte Anciano und dem Inka einen Wink gegeben, ſich
zu ihm zu halten. Als ſie dann zu ſeinen beiden Seiten
ritten, ſagte er zu erſterem: „Dein Mund wäre heute
früh beinahe mitteilſamer geworden, als in deiner Ab⸗
ſicht lag. Faſt hätteſt du dein Geheimnis verraten.“
„Sie meinen, daß ich ein Geheimnis habe? Was
könnte das fein?” fragte Anciano.
„Ich kenne es nicht, aber ich errate es. Hauka⸗
ropora iſt nicht dein Sohn und nicht dein Enkel.“
„Wie kommen Sie auf dieſen Gedanken, Senor?
Sie haben ihn doch ſtets als meinen Enkel gekannt!“
„Ich ahnte längſt, daß euer Verhältnis ein andres
ſei. Du teilteſt uns in deiner Aufregung mit, daß die
Spange, wovon der Leutnant ſprach, nicht von Eiſen,
ſondern aus reinem Gold iſt. Es gibt noch andre Gegen⸗
ſtände, die aus Eiſen zu ſein ſcheinen und doch aus Gold
gefertigt ſind.“
„Welche, Senor?“
„Zum Beiſpiel der Streitkolben, den Hauka hier an
ſeiner Seite trägt.“
„Der fol aus Gold fein, Seßor? Dann wären
wir ja reiche Leute!“
„Pah! Verſtelle dich nicht! Ich bin dein Freund,
und ihr wißt, daß ihr von mir nichts zu befürchten habt.
— 335 —
Ich mag nicht aufdringlich erſcheinen; aber wenn ihr
euer Geheimnis wahren wollt, ſo müßt ihr vorſichtiger
ſein. Hauka hat geſtern den feindlichen Indianer mit
dem Streitkolben niedergeſchlagen. Die Waffe muß auf
etwas Hartes oder Scharfes oder Spitziges getroffen
ſein, wodurch der dunkle, harzige Ueberzug beſchädigt
wurde. Die kleine Stelle glänzt goldig gelb. Seht ein⸗
mal nach!“
Haukaropora nahm den Kolben zur Hand, betrach⸗
tete ihn und hing ihn dann errötend wieder an ſeine
Stelle.
„Nun?“ fragte der Vater Jaguar lächelnd.
Keiner von beiden antwortete. Der Fragende fuhr
fort: „Wer allein hatte das Recht, einen goldenen
Streitkolben oder Humantſchuay zu tragen? — Der
Herrſcher von Peru! Und dieſer Streitkolben verrät mir,
daß Hauka ein Abkömmling der Inkas iſt.“
„Senor, Sie irren!” entfuhr es dem alten Anciano.
„Ich irre mich nicht. Gib dir keine Mühe, mich zu
täuſchen! Das Geheimnis iſt bei mir ebenſo ſicher wie
in deiner eigenen Bruſt bewahrt. Ueberhaupt habt ihr
ja gar nicht nötig, ein Geheimnis aus der Abſtammung
dieſes jungen Mannes zu machen.“
„O doch! Denken Sie an die Verfolgungen, die wir
erlitten haben!“
„Ihr? Davon weiß ich nichts. Euern Vorfahren
ſtellte man nach mit Feuer, Schwert und Gift; das iſt
wahr. Seitdem haben ſich die Zeiten geändert, und kein
Menſch wird euch eurer Abſtammung wegen nach dem
Leben trachten.“
„Das denken wohl Sie; wir aber ſind vom Gegen⸗
teil überzeugt.“
— 336 —
„So haſt du einen beſonderen Grund zur Vorſicht
und Verſchwiegenheit. Der Umſtand, daß Hauka ein
Kind des Inkas iſt, bringt ihn in keine Gefahr; aber
gefährlich könnte ihm etwas anderes werden.“
„Was wäre das, Senor?“
„Wenn ihr infolge ſeiner Abſtammung gewiſſe, Hoffe
nungen heget, die nie in Erfüllung gehen können.“
„Nie? Wirklich nie?“
„Niemals, ſage ich euch! Ihr lebt in euren Erinne⸗
rungen, wißt nichts von der übrigen Welt, von dem
Leben. Ihr träumt. Laßt dieſen Traum einen Traum
bleiben, da er nie zur Wirklichkeit werden kann! Weiter
in euch zu dringen, habe ich weder die Abſicht, noch das
Recht. Ich wollte etwas andres erfahren. Was iſt
es mit der Spange? Ich bin überzeugt, daß du richtig
geraten haſt, daß der Tote, deſſen Skalp Antonio Perillo
beſitzt, dein Bekannter war. Wer iſt dieſer Mann ge⸗
weſen?“
Anciano zögerte zu antworten, darum fügte der
Vater Jaguar hinzu: „Ich frage in einer beſtimmten
Abſicht und nicht etwa aus müßiger Neugier. Eine
Antwort würde für dich wahrſcheinlich von Vorteil ſein.“
„Wollte ich antworten, ſo müßte ich Ihnen eben
unſer Geheimnis mitteilen.“
„Es würde euch nichts ſchaden, wenn du das
täteſt. Sage mir wenigſtens, wo der Betreffende den
Tod gefunden hat.“
„Ich kenne den Ort nicht genau. 2
„Auch nicht die Gegend im allgemeinen?“
„Die weiß ich allerdings; ſie wird Ihnen aber un⸗
bekannt ſein.“
„Was mich betrifft, ſo bin ich weiter herumgekom⸗
men, als du denkſt.“
— 537 —
„So ſagen Sie, iſt Ihnen ein Ort bekannt, den man
die Barranca del Homicidio*) nennt?“
„Nicht nur bekannt, ſondern ich bin zweimal dort
geweſen. Ich ſtieg von der Salina del Condor hinauf.“
„Ja, von der Salina del Condor. Sie liegt nicht
weit davon, und ich war viele, viele Male dort.“
„Und du biſt überzeugt, daß dein Bekannter ſeinen
Tod dort gefunden hat?“
„Ja.“
„Welchen Grund haſt du dazu?“
„Ich begleitete ihn bis in die Nähe und mußte zu⸗
rückbleiben, um auf ihn zu warten; er wollte das ſo;
er befahl es mir.“
„Ah, er befahl es dir? Wer befiehlt, iſt der Herr,
und wer gehorcht, iſt der Untergebene, der Diener. Du
warteteſt vergeblich auf ſeine Wiederkehr?“
„Ja. Ich wartete zwei volle Tage lang. Dann
wurde es mir angſt um ihn. Ich ging ihm nach bis
an den Ort, den er hatte aufſuchen wollen. Ich ſah ihn
nicht und fand ihn nicht. Ich ſuchte in allen Tälern und
Schluchten, auf allen Bergen und Höhen. Ich ging
heim und holte meine Freunde, damit ſie mir helfen
ſollten, nachzuforſchen; es war alles vergeblich. Wir
ſuchten wochenlang und mondenlang, ohne das kleinſte
Zeichen von ihm zu entdecken. Er mußte verunglückt
ſein. Heute früh habe ich die Spur gefunden. Er iſt
ermordet worden.“
„Glaubſt du nur deshalb an einen Mord, weil du
ihn für unüberwindlich gehalten Haft? Oder wüßteſt
du noch einen weiteren Grund?“
„Ja, ich habe einen.“
„Welchen?“
6) Nordſchlucht.
May, Das Vermichtnis des Inka. 22
. ö
— 8338 —
„Er hatte Gegenſtände bei ſich, die geeignet waren,
die Habſucht anzulocken.“
„Welcher Art Gegenſtände waren es?“
„Das darf ich nicht ſagen.“
„Du haſt es nicht nötig, denn ich weiß es: der
Mann trug Gegenſtände bei ſich, die aus der Zeit der
Inkas ſtammten und aus Gold oder Silber gefertigt
waren.“
„Senor, wie könnten Sie das wiſſen?“
„Ich will aufrichtiger mit dir ſein, als du gegen
* mich biſt, und dir etwas zeigen.“
| Er öffnete fein Lederkoller und zog einen kleinen,
goldglänzenden Gegenſtand hervor, den er an einer
Schnur am Halſe hängen hatte. Er band ihn los und
reichte ihn Anciano hin. Es war eine kleine, außer⸗
ordentlich kunſtvoll gearbeitete Schale, die einen Durch⸗
meſſer von höchſtens drei Zoll beſaß.
„Ein Taubecher!“ rief Anciano betroffen aus. „In
dieſer Schale wurde der Morgentau aus den Kelchen
der Tempelblumen geſammelt und der Sonne, damit
fie ihn trinken möge, zum Opfer gebracht.“
„Das wußte ich nicht. Der Zweck dieſer Schale
war mir unbekannt,“ antwortete der Vater Jaguar.
„Seßor, es iſt ein heiliges, ein ſehr heiliges Gefäß!”
„Das weißt du ſo beſtimmt? Damit beweiſeſt du,
daß deine Vorfahren Peruaner waren.“
„Ja, das waren ſie,“ geſtand der Alte.
„Die meinigen waren die Herrſcher des Volkes,“
fügte Haukaropora hinzu. „Ich bin der einzige Nach⸗
komme von ihnen, und nur ſehr wenig treue Menſchen
wiſſen davon.“
„Ich dachte es. Du beſitzeſt die verborgenen Schätze
deiner Ahnen?“
f
7
— 339 —
„Warum fragen Sie ſo?“
„Dieſe Opferſchale ſagt es mir.“
„Woher haben Sie dieſe?“ fragte Anciano. „Wie
ſind Sie in ihren Beſitz gelangt?“
„Ich habe fie gefunden.“
„Wo?“
„Zwiſchen der Salina del Condor und der Bar-
ranca del Homieidio.“
„Dort, alſo dort! Welch eine Entdeckung! Wann
iſt das geweſen?“
„Vor fünf Jahren.“
„In welcher Mondeszeit? Können Sie ſich darauf
beſinnen?“
„Ganz genau. Es war am Tage nach dem Voll⸗
mond.“
„Das iſt richtig! Nur in der Nacht des Vollmonds
pflegte mein Gebieter in die Schlucht hinabzuſteigen.“
Dieſe letzteren Worte waren an den Inka gerichtet.
Dieſer hatte ſich die Schale geben laſſen, betrachtete ſie,
küßte ſie und ſagte dann, indem ſein Auge in feuchtem
Glanz ſchimmerte: „Alſo dieſe Schale hat mein Vater,
der vorletzte Inka, in den letzten Stunden ſeines Lebens
bei ſich getragen! Senor, Sie bekommen fie nicht wie⸗
der; Sie müſſen ſie mir laſſen. Ich werde Ihnen etwas
viel Größeres und Wertvolleres dafür geben!“
„Behalte ſie! Ich mag nichts dafür, denn ſie hat
in dir ſeinen rechtmäßigen Eigentümer gefunden.“
„Ich danke Ihnen! Aber haben Sie nur dieſe
Schale gefunden? Nichts weiter, gar nichts weiter?“
„Noch mehr! Aber etwas Schreckliches! Vermagſt
du es zu hören?“
„Sprechen Sie, Senor! Ich bin ſtark und immer
gewöhnt, an den Tod meines Vaters zu denken.“
— 340 —
„So will ich es ſagen: ich fand — ſeine Leiche!“
Der Inka ſah lange Zeit vor ſich nieder auf den
Sattel. Keine Muskel ſeines Geſichts bewegte ſich; aber
er war bleich, ſehr bleich geworden. Der alte Anciano
fuhr ſich mit den Händen einigemal über die Augen und
ſchwieg auch. So ritten die drei eine ganze Weile
nebeneinander hin, bis der Alte endlich das Schweigen
brach und den Vater Jaguar mit bebender Stimme
fragte: „Es gab keine Spur von Leben mehr in ihm?“
„Er war tot!“
„Und wie war er geſtorben? Konnten Sie das
ſehen? Konnten Sie entſcheiden, ob ein Mord vorlag
oder ob ein ehrlicher Kampf ſtattgefunden hatte?“
„Es hatte keinen Kampf gegeben. Es lag ein Mord
vor, ein heimtückiſcher Meuchelmord. Der Tote hatte
eine Kugel in den Rücken bekommen.“
„Und das Haar, das Haar, ſein ſchönes, herrliches
Haar, das viel länger war als das meinige?“
„Es war weg, war fort. Der Ermordete war
ſkalpiert worden.“
Keiner von beiden, weder Inka noch Anciano,
ſprach eine Klage aus. Sie ſchwiegen jetzt wie vorhin,
um Herr ihrer Gefühle zu werden. Dann begann der
Alte wieder: „Erzählen Sie uns, wie das gekommen
iſt! Wir müſſen alles, alles erfahren, ſelbſt die geringſte
Kleinigkeit!“ |
„Es iſt da nicht viel zu erzählen. Ich kam damals
nach der Salina del Condor, um mich und mein Maul⸗
tier da auszuruhen, denn ich war faſt die ganze Voll⸗
mondsnacht hindurch geritten. Während mein Maul⸗
tier von dem ſpärlichen Graſe naſchte und ich, an der
Erde ſitzend, ein Stück Fleiſch verzehrte, hörte ich Huf⸗
ſchlag hinter mir. Ich drehte mich um und ſah einen
— 341 —
Reiter, der, von der Höhe herabkommend, um eine
Felſenecke bog. Als er mich erblickte, ſtutzte er für
einen Augenblick; dann gab er ſeinem Tier die Sporen
und jagte weiter, an mir vorüber.“
„Und ſagte auch kein Wort, keinen Gruß?“
„Keine Silbe! Es fiel mir auf, daß er im Vorüber⸗
reiten das Geſicht von mir abwendete, gerade ſo, als
ob ich es nicht ſehen ſolle.“
„Und Sie haben es auch nicht geſehen?“
„Nur zwei oder drei Sekunden lang, als er um die
Ecke kam. Dann wendete er es, wie ſchon geſagt, von
mir ab. Ich ſah, daß er die gewöhnliche, landläufige
Kleidung trug und mit einem Gewehr bewaffnet war.
Er hatte eine Decke hinter ſich aufs Pferd geſchnallt;
dieſes Bündel war ſo dick, daß ich annehmen mußte,
es beſtehe nicht aus der Decke allein. Es ſchien noch
andre Gegenſtände zu enthalten. Welche, das konnte
ich natürlich nicht wiſſen.“
„Kam er nahe an Ihnen vorüber?“
„Nein. Es waren wohl an die fünfzig Pferde⸗
längen. Er machte einen ſo unheimlichen Eindruck auf
mich, daß ich froh war, als ich ihn nicht mehr ſah.
Gegen Mittag, als mein Maultier ſich erholt hatte, ritt
ich weiter, nach der Barranca del Homieidio hinauf.
Ich mochte ungefähr die Hälfte des Weges zurück⸗
gelegt haben, als ich auf die Leiche ſtieß. Sie lag in
einer Blutlache und machte mit dem ſkalpierten Schädel
einen gräßlichen Eindruck. Ich unterſuchte ſie und war
natürlich ſofort der feſten Überzeugung, daß der Menſch,
den ich geſehen hatte, der Mörder ſei.“
„Wie war der Tote gekleidet?“
„Ganz in Leder, ſo, wie du und ich.“
— 842 —
Das ſtimmt. Wir trugen ſtets ſolche Anzüge,
weil leichtere im dichten Wald ſchnell zerreißen. Was
hatte er ſonſt noch bei ſich?“
„Nichts, gar nichts. Er war vollſtändig RN
worden. Aber als ich, um ihn zu unterfuchen, feinen
Körper hin und her wendete, ſah ich etwas blinken,
was unter ihm im Blute gelegen hatte. Es war dieſe
Opferſchale, die ich ſeitdem ſtets bei mir getragen habe.“
„Was haben Sie mit der Leiche gemacht?“
„Ich konnte ſie nicht liegen laſſen; ſie wäre eine
Beute der Raubtiere geworden. Ich ſchaffte ſie in eine
nahe Felſenſpalte und verſchloß dieſe mit Steinen. Das
Blut löſchte ich mit Sand aus. Dann aber machte ich
mich auf, um den Mörder zu verfolgen.“
„Aber Sie holten ihn nicht mehr ein?“
„Nein. Als ich den Mann ſah, war es am frühen
Vormittag. Zu Mittag ritt ich von der Salina fort,
und mehrere Stunden ſpäter fand ich die Leiche. Ich
konnte beim beſten Willen und bei der größten Eile an
dieſem Tag nur bis zur Salina zurück und eine kurze
Strecke weiter kommen. Ich ſah die Spur des Reiters
und folgte ihr, ſolange es noch Tageslicht gab; beim
Mondenſchein aber war es unmöglich, die Fährte zu er⸗
kennen, denn es gab kein Gras, ſondern nur Sand,
Stein und Geröll. Als der Tag graute, ging es weiter.
Ich brannte darauf, den Menſchen einzuholen, mußte
aber ſehr bald einſehen, daß dies unmöglich war. Er
hatte ſich wohl geſagt, daß ich die Leiche finden würde,
und war die ganze Nacht geritten, um einen möglichſt
großen Vorſprung zu bekommen. Dabei hatte er den
Weg über felſiges Terrain genommen, um keine Spur
zurückzulaſſen. Es gehörte meine ganze Übung und Auf⸗
merkſamkeit dazu, ſie feſtzuhalten. Das erforderte aber
— 8343 —
Zeit. Hundertmal mußte ich abſteigen, um das Geſtein
zu unterſuchen, und zehnmal kehrte ich wieder um, weil
ich eine falfhe Richtung eingeſchlagen hatte. Am
Abend dieſes Tages fand ich, daß noch kein halber
Tagesritt hinter mir lag. Während der darauf folgen⸗
den Nacht mußten die ſpärlichen Spuren vollends un⸗
ſichtbar werden. Ich ſah ein, daß ich ihn nicht ein⸗
holen könne, und mußte die Verfolgung aufgeben.“
„Schade, jammerſchade, Seüor! Wären Sie mit
ihm nach der Salina zurückgekommen, ſo hätten Sie
mich dort gefunden, und wir hätten zu Gericht über
ihn geſeſſen. Sie hatten alle Spuren der Tat verwiſcht,
und ſo konnte ich nichts entdecken. Halten Sie es für
möglich, die Spalte zu finden, worin Sie die Leiche be⸗
graben haben?
„Ja.“
„Ich höre, Sie wollen hinauf und über das Ge⸗
birge. Welchen Weg ſchlagen Sie ein?“
„Eigentlich wollte ich weiter nördlich; aber bei
einem ſolchen Fall darf es auf einen kleinen Umweg
nicht ankommen. Ich werde euch zu der Stelle führen.“
„Wir danken Ihnen von Herzen, Geüor. Der
Tote darf nicht in dieſer Weiſe liegen bleiben; er muß
nach der Art und Gebräuchen ſeiner Ahnen beſtattet
werden.“
„Du gibſt alſo zu, daß er ein Inka, ein Nachkomme
der Herrſcher war?“
„Ja. Nun wäre es die größte Undankbarkeit, dies
Ihnen zu verſchweigen.“
„Und einen verborgenen Schatz hat er gehabt?” |
„Ja. Als ſein Ahne mit dem meinigen und einigen
Getreuen vor den Spaniern floh, gelang es ihnen, viele
Koſtbarkeiten mit ſich zu nehmen. Dieſe wurden in der
— 344 —
Barranca del Homieidio verſteckt. Die Flüchtlinge
und ihre Nachkommen lebten einſam in den Bergen,
und zuweilen ging der Inka nach dem Verſteck, um eini⸗
ges Gold zu holen, das verkauft wurde, weil ſonſt er
und die Seinigen nicht genug zu leben gehabt hätten.
Das geſchah ſtets in einer Vollmondsnacht. Mein Herr
ift von feinem letzten Gang nicht wiedergekommen.“
„Kennſt du das Verſteck?“
„Ja.“
„Biſt du ſeitdem dort geweſen?“
„Ich war dort, habe es aber nicht geöffnet, denn
ich beſitze kein Recht dazu.“
„Aber Hauka beſitzt dieſes Recht?“
„Noch nicht. Erſt wenn die Erde ihren Lauf um
die Sonne vollendet hat, darf er ſein Erbe antreten.
Dies wird nach zwei Wochen der Fall fein.”
„Aber wie kommt er da zu der koſtbaren Streit⸗
axt, die er beſitzt?“ |
„Er hat fie von feinem Vater übernommen, der
ſte damals daheim ließ, als er zum letztenmal nach der
Barranka ging. Wir hatten noch einige andre, kleinere
Gegenſtände, die wir verkauften, um die Reife machen
zu können, von der wir jetzt heimkehren. Daß wir auf
dieſer den Mörder entdecken würden, hätte ich nicht ge⸗
dacht. Seßor, haben Sie eine Abrechnung mit dieſem
Antonio Perillo?“
„Nein.“
„Oder ein andrer von Ihren Begleitern?“
„Höchſtens Senor Morgenſtern, dem er nach dem
Leben trachtete.“
„Dieſes kleine Männlein wird nicht nach ſeinem
Blut dürſten. Darum bitte ich, den Mörder uns zu
überlaſſen, wenn er in unſre Hände fällt!“
— 846 —
„Ich habe nichts dagegen, vorausgeſetzt, daß wir
uns nicht irren und er es wirklich geweſen tft.”
„Wenn er das Kopfhaar meines Herrn beſitzt, ſo
war er es. Und dieſer Leutnant Verano wird uns wohl
nicht belogen haben.“
„Gewiß nicht. Übrigens war ich, ſchon ehe ich
von dem Skalp hörte, überzeugt, daß Perillo der Mör⸗
der iſt. Ich habe ihn da droben an der Salina nur
für einige Sekunden geſehen und es ſind ſeitdem fünf
Jahre vergangen; aber als ihn mir der Zufall kürzlich
in Buenos Aires vor die Augen führte, erkannte ich ihn
ſofort wieder.“
„Haben Sie etwas zu ihm gejagt?“
„Ich habe ihn an die Salina del Condor erinnert
und er zuckte zuſammen!“
„Auch wir werden ihn noch an die Salina del Con-
dor erinnern!... ..“ ſagte der Inka.
Elftes Kapitel
Bei den Cambas
Man war ſehr ſcharf geritten. Daher kam es, daß
der „Harte Schädel“ ſchon zwei Stunden vor Abend
meldete, daß man den Palmenſee ſehr bald zu Geſicht be⸗
kommen werde.
„Wir reiten nicht ganz hin,“ entſchied der Vater
Jaguar. „Es könnten doch ſchon Abipones dort ſein,
und ich will nicht, daß wir geſehen werden. Die Feinde
dürfen keine Ahnung davon haben, daß wir uns auf
ihren Empfang vorbereiten. Wie weit iſt das erſte Dorf
der Abipones von hier entfernt?“
„Wenn wir ſo ſchnell reiten wie bisher,“ ant⸗
wortete der Häuptling, „werden wir es bald nach Ein⸗
bruch der Dunkelheit erreichen.“
„Das iſt vortrefflich. Wir reiten im Finſtern vor⸗
über und machen erſt ſpäter Lager.“
Der Ritt wurde alſo fortgeſetzt, doch nicht in der bis⸗
herigen Richtung, die eine ſüdweſtliche geweſen war;
man bog nach Nordweſten um. Es ging wohl noch eine
Stunde lang über ſandige Wüſte, dann gelangte man
wieder über Raſen, der nach und nach immer dichter und
kräftiger wurde. Später ſah man zu beiden Seiten
hochbäumige Waldung liegen. Der Führer fand mit
*
— 847 —
ſtaunenswerter Sicherheit die von der Natur her⸗
geſtellten Durchgänge.
Es war heute ſternenhell, was den Marſch ſehr er⸗
leichterte. Bei völliger Dunkelheit wäre es wohl ſchwer
geweſen, die vielen Pferde in Ordnung zu halten. Viel⸗
leicht drei Viertelſtunden nach Sonnenuntergang hörte
man eigentümliche Töne, die der Wind von rechts her⸗
überbrachte. Es klang wie Katzengeſchrei, untermiſcht
mit Schlägen, als ob Teppiche ausgeklopft würden.
„Wat mag dat fein?” fragte Fritze feinen Herrn.
„Dat ſind keine menſchlichen Stimmen.“ ö
„Von lebenden Weſen kommen dieſe Töne jeden⸗
falls,“ antwortete Morgenſtern bedächtig. „Nun ent⸗
ſteht die Frage, zu welcher Klaſſe und Ordnung dieſe
Tiere gehören. Wenn ich die Höhe und Tiefe dieſer
Stimmen und ihren Farbenklang richtig beurteile, ſo
kann ich nicht umhin, mich der Anſicht zuzuneigen, daß
ſie menſchlichen Kehlen allerdings wohl kaum zu ent⸗
ſtammen ſcheinen.“
| „Dieſe Anſicht iſt falſch,“ belehrte ihn der Vater
Jaguar, der jetzt in der Nähe der beiden ritt. „Was
wir hören, ſind die Kriegsgeſänge der Abipones.“
„Und die Hiebe, die es bei dieſe Jelejenheit zu ſetzen
ſcheint?“
„Das ſind die Kriegspauken, welche geſchlagen
werden.“
„Na, To 'ne Pauke möchte ick mich 'mal be⸗
trachten.“ |
„Es find die einfachſten Inſtrumente, die man ſich
denken kann: ausgehöhlte Kürbiſſe, über deren Oeffnung
ein Fell geſpannt iſt. Wir wiſſen nun, daß ſie ſich zum
Angriff rüſten und alſo von dem Kommen der Weißen
ſchon unterrichtet find. Das tft wertvoll für uns. Wol⸗
— 848 —
len doch einmal nachforſchen, wie viele Krieger un⸗
gefähr ſich in dieſem Dorf befinden.“
Er ließ den Zug halten und ſchickte zwei Kund-
ſchafter ab, Geronimo, feinen Liebling, auf den er ſich
verlaſſen konnte, und El Picaro, den Schalksnarren,
der auch ſehr gut für ſolche Dinge geeignet war. Links
dehnte ſich die dunkle Linie des Waldes hin; rechts lag
offenes Land mit Strauchwerk, zwiſchen dem man fernen
Feuerſchein bemerken konnte. Die beiden Kundſchafter
blieben faſt eine Stunde lang fort; dann kehrten ſie
zurück, und zwar nicht allein, ſondern in Begleitung.
Dieſe Begleitung beſtand in zwei Rindern, von denen
jeder eins hinter ſich herzog. Sie hatten nicht nur ge⸗
kundſchaftet, ſondern auch für Proviant geſorgt. Das
Dorf war nicht groß: es konnte höchſtens hundert Ein⸗
wohner haben, die Frauen und Kinder mitgerechnet, und
doch hatten dieſe beiden Lauſcher wenigſtens hundert be⸗
waffnete Krieger gezählt. Man ſchien ſich alſo von be⸗
nachbarten Dörfern hier zu verſammeln.
„Schön!“ meinte der Vater Jaguar befriedigt.
„Das beweiſt, daß wir uns auf der richtigen Fährte be⸗
finden. Die beiden Rinder ſind uns ſehr willkommen.
Daß wir ſie nicht bezahlt haben, macht mir keine
Schmerzen, denn die Abipones haben ſie ja doch unſeren
Verbündeten geſtohlen. Nun aber raſch weiter!”
Als man noch ein halbe Stunde geritten war, wurde
angehalten und hinter einem Vorſprung des Waldes
Lager gemacht. Da konnte man Feuer anbrennen, ohne
befürchten zu müſſen, daß dieſe geſehen würden. Die
beiden Rinder wurden geſchlachtet und zerlegt, um ver⸗
teilt zu werden. Es erhielt ein jeder ſo viel, daß er
mehrere Tage davon zehren konnte. Die Pferde wurden
freigelaſſen. Obgleich die Glocke der Madrina ſie zu⸗
— 849 —
ſammenhielt, verſäumte Hammer es nicht, ihnen zwei
Wächter zu geben. Später, als man ſich geſättigt hatte,
wurden die Feuer ausgelöſcht, und man legte ſich zur
Ruhe. 3
Sobald der Tag zu grauen begann, wurde auf⸗
gebrochen. Von jetzt an zeigte ſich das Land ſehr ab⸗
wechſlungsreich, aber die Abwechſlung war ſtets die⸗
ſelbe: dichter Wald mit einzelnen offenen Durchbrüchen
und dann wieder größere oder kleinere graſige Flächen,
an deren Rändern die Dörfer lagen.
Dieſe letzteren beſtanden durchweg aus mit Schilf
und ähnlichem Material gedeckten Erdhütten, deren
Inneres einen einzigen Raum bildete. Dabei gab es
kleine Felder, auf denen Mais, Hirſe, Mandioca, Bohnen,
Quinoa, Tomaten, Erdnüſſe, Bataten, Melonen und
Kürbiſſe gebaut wurden.
Man hielt ſich ſelbſtverſtändlich von dieſen Dörfern
fern. Das Glück war den Weißen inſofern günſtig, als
ihnen weder heute noch am nächſten Tage auch nur ein
einziger Abipone begegnete; er wäre freilich ſofort ge⸗
fangen und mitgenommen worden. Einige der Dörfer,
an denen man vorüberkam, ſchienen leer zu ſtehen. Die
Bewohnerſchaft hatte ſich des geplanten Kriegszugs
wegen an beſonderen Orten zuſammengezogen.
Am Abend des zweiten Tages war das Gebiet der
Abipones zurückgelegt und am nächſten Morgen erreichte
man das erſte kleine Cambasdorf, deſſen Bewohner von
der ihnen drohenden Gefahr benachrichtigt wurden. Der
Häuptling ſandte die jungen Männer nach den verſchie⸗
denſten Richtungen aus, um die waffenfähigen Leute der
andern Ortſchaften ſchleunigſt nach dem großen Dorf
am „klaren Bach“ zu beordern. Die fernliegenden Dör⸗
fer hatten von den Feinden nichts zu befürchten; anders
— 8350 —
aber ſtand es mit denjenigen Orten, die in der Nähe der
vorausſichtlichen Marſchroute der Abipones lagen. Dieſe
mußten verlaſſen werden, und die Bewohner zogen ſich
mit den Kriegern nach dem „klaren Bach“ hin, wobei ſie
nicht verſäumten, ihr ganzes Eigentum mitzunehmen,
was freilich nicht viel ſagen will.
Am Vormittag dieſes dritten Tages gelangte der
Reiterzug an ein großes, aber ſeichtes Waſſer, deſſen
Ufer ſehr moraſtig waren. Wo es eine feſtere Stelle
gab, hatten ſich Bäume und Sträucher entwickelt, ſonſt
aber ſah man nur dichtes Schilf und Rohr, das eine
Höhe von fünf Metern erreichte. Der Häuptling wen⸗
dete ſich an den Doktor Morgenſtern und ſagte, indem
er nach dem Waſſer deutete: „Das iſt El Pantano de
los Huesos, der Sumpf der Knochen, von dem ich Ihnen
gefagt habe, Senor!“
„Das iſt er?“ antwortete der Kleine, von den
Worten des Roten wie elektriſiert. „Kann man die
Knochen ſehen?“
„Viele ſind vermodert; diejenigen aber, die zuletzt
gefunden worden find, werden noch daliegen.”
„So muß ich hin, fte zu betrachten. Wir müſſen
halten. Hören Sie, Senores, halten, halten!“
Er hielt ſein Pferd an und rief die letzten Worte ſo
laut, daß ſie vom Anfang bis zum Ende des Zuges zu
hören waren.
„Das geht nicht,“ antwortete der Vater Jaguar.
„Wir können Ihrer alten Knochen wegen nicht unfre
koſtbare Zeit verlieren.“
„O, die Knochen ſind weit koſtbarer als die Zeit,
von der Sie ſprechen. Wenn Sie nicht warten wollen,
ſo komme ich nach; aber ſehen muß ich die Knochen;
eher zieht mich kein Elefant von hier fortl“
— 851 —
Hammer ſah ein, daß es beſſer ſei, eine kleine Rück⸗
ſicht zu üben, und antwortete darum: „Gut, ſo bleiben
Sie, aber ja nicht länger als höchſtens eine halbe Stunde;
dann müſſen Sie doppelt ſchnell reiten, um uns ein⸗
zuholen. Der Häuptling mag Ihnen einen ſeiner Leute
als Führer geben.“
Jetzt gab ſich der Kleine zufrieden. Er bekam einen
der vier Cambas, der den Sumpf kannte und den Ort
wußte, wo die Knochen zu ſehen waren. Selbſtver⸗
ſtändlich blieb Fritze bei ſeinem lieben Herrn zurück.
Der Zug entfernte ſich und die drei waren allein.
Der Camba ritt auf das Waſſer zu und wußte da⸗
bei alle trügeriſchen Stellen wohl zu vermeiden. Dort
ſtieg er ab und band ſein Pferd an einen Strauch. Da⸗
bei ſagte er etwas, was jedenfalls eine Aufforderung
an die beiden andern ſein ſollte, das gleiche zu tun, doch
verſtanden ſie ihn nicht, da er ſich ſeiner Sprache be⸗
diente, deren ſie nicht mächtig waren. Es ſtellte ſich nun
heraus, daß dieſer Mann zwar den „Sumpf der
Knochen“ genau kannte, dafür aber nur ſehr wenige
Worte Spaniſch verſtand.
„Dat kann jut werden,“ meinte Fritze, indem er ſich
vom Pferd ſchwang, um es anzubinden und dann ſeinem
Herrn zu helfen, aus dem Sattel zu kommen. „Jetzt
verſtehen wir kein Chineſiſch, und dieſer Herr Jevatter
iſt nicht aufs Türkiſche einjeübt. Ick bin bejierig, wat
dat vor ein inniges Verſtändnis ergeben wird.“
„Wir werden uns durch Pantomimen verſtändigen,“
tröſtete ihn der Doktor. „Mit Pantomimen kommt man
durch die ganze Welt. Dieſe Erfahrung, lateiniſch
Peritia geheißen, habe ich ſchon oft gemacht. Achte nur
auf mich, dann braucht dieſer gute Mann nicht unfre
und wir brauchen nicht ſeine Sprache zu verſtehen.“
— 852 —
Als der Rote fah, daß die beiden ihre Pferde an⸗
gebunden hatten, winkte er ihnen, ihm zu folgen, und
fchetrt in das Schilf hinein, wo, wie man deutlich ſah,
vor ihm ſchon andre gegangen waren. Dabei deutete
er nach rechts und links in die Schilfdichtung und
fagte: „Precaucion — Crocodilos — Vorſicht — Kro⸗
kodile!“
„Wat? Hier ſollen Krokodile find?” meinte Fritze.
„Da müßte man doch wat von ſie ſehen. Mir nu er
nicht bange machen.“
Aber kaum hatte er dieſe Worte geſagt, fo en
er mit einem Schreckensruf zur Seite, denn ganz nahe
neden ihm kam der Kopf eines ſolchen Tieres aus dem
Schilf zum Vorſcheine. Es glotzte ihn aus den kleinen
Augen an, und ſchlug die offenen Kiefer zuſammen, daß
es einen Ton gab, als ob zwei Bretter zuſammengeklappt
wurden.
„Er hat wirklich recht,“ fuhr er fort, als er ſich in
Sicherheit befand. „Wenn wir nur nicht für die vor⸗
ſintflutlichen Knochen unſre eijenen herjeben müſſen!“
„Fürchte dich nicht,“ meinte ſein Herr, der, ſobald
es ſich um fein Lieblingswerk handelte, keine Angſt
kannte. „Dieſe Tiere ſind viel zu träge, als daß ſie uns
beläſtigen könnten. Sie riechen ſchlecht; das iſt das ein⸗
zige an ihnen, was unangenehm iſt.“
„Na, der Rachen mit die Zähne iſt auch nicht an⸗
jenehm. Ick meinesteils will fo 'ne Kreatur lieber
riechen, als von ihr jefreſſen werden.“
Sie gelangten durch das Schilf auf eine Art ſpitze
Halbinſel, die in das Waſſer hineinragte. Sie ſchien
aus feſtem Land zu beſtehen, denn ſie trug Bäume und
Sträucher, und bildete ein ſcharf geſchnittenes und nicht
ſumpfiges Ufer. Unter den Bäumen war die Erde an
— 358 —
einigen Stellen aufgewühlt, und da lagen ſie denn, die
der kleine Gelehrte ſuchte — Knochen von allen Ge⸗
ſtalten und Größen, teils ganz, teils zerbrochen, teilweiſe
noch hart und feſt, teilweiſe auch ſchon vom Moder an⸗
gegriffen.
„Heureka!“ ſchrie der Kleine auf, indem er ſich
förmlich auf die Knochen ſtürzte. „Da ſind ſie; da liegen
ſie! Fritze, komm und ſieh die Zeugen und Ueberreſte
einer Periode, in der an dich noch nicht zu denken war!“
„Dat finde ick ſehr vernünftig,“ antwortete der
Stralauer gelaſſen; „denn wenn damals an mir zu
denken jeweſen wäre, ſo könnten Sie mir heutigestags
nun auch einſammeln und als verfloſſene Gigantoche-
lonia aus. die einzelnen Gliedmaßen ins Janze zu⸗
ſammenſetzen.“
„Sei kein Tor und ſchwätze nicht ſolchen Unſinn!“
ſagte Morgenſtern, indem er ganz entzückt einen Knochen
nach dem andern aufnahm, um ihn zu betrachten und
zu betaſten. „Hier öffnet ſich ein großartiger Blick auf
die Entwicklungsſtufen der Daſeinsformen. Schau ein⸗
mal dieſen Schädelteil! Ich wette, es iſt das Os occipitis
eines Megatheriums. Wir werden alle dieſe Knochen
einpacken und mitnehmen, damit ich ſie, wenn wir am
klaren Bach“ angekommen find, noch heute unterſuchen
und beſtimmen kann. Lieber Freund, hat man dieſe
Knochen hier an dieſer Stelle gefunden oder ſind ſie von
einem andern Ort hergeſchafft worden?“
Dieſe Frage war an den Indianer gerichtet, der
aber nicht mehr zu ſehen war; dafür hörte man ſeine
rufende Stimme. |
„Er will uns bei ſich haben. Kommen Siel“
meinte Fritze.
may, Des Bermäcteis des Inka 28
— 354 —
„Nein, noch nicht,“ antwortete ſein Herr. „Ich
habe hier noch nicht alles geſehen.“
„So werde ick mal zu ihm jehen, um zu ſehen,
wat er zu rufen hat. Verſtehen kann man ihn ja nicht.“
Er entfernte ſich in der Richtung, aus der die Rufe
des Camba zu hören waren. Der Doktor ſah ſich gar
nicht nach ihm um. Er war mit ſeinen Schätzen ſo be⸗
ſchäftigt, daß er für gar nichts andres Augen hatte. Er
wühlte in den Überreſten und ſortierte herüber und
hinüber, bis er hinter ſich die Stimme Fritzens hörte:
„Laſſen Sie die Knöchelchens hier liejen! Da drüben
jibt's eine ganz andre Sorte. Da habe ick eine Probe
mitjebracht; ſchauen Sie ſich die mal an!“
Als Morgenſtern zu ihm aufblidte, ſah er in feinen
Händen ein wirklich rieſiges und ſehr gut erhaltenes
Schenkelbein. Er ſprang mit einem Jubelruf auf, riß
es an ſich, betrachtete es mit weit geöffneten Augen erſt
ſprachlos und ſchrie dann entſetzt: „Fritze, weißt du,
was das iſt? Weißt du es?“
„Ja; natürlich iſt mich dieſer Jegenſtand bewußt.
Wenn ick mir nicht irre, wird's wohl ein Knochen ſind.“
„Du biſt ein Idiot, ein reiner Idiot! Nur immer
von Knochen und wieder von Knochen ſprechen! Ja,
es iſt ein Knochen, aber was für einer! Denke dir,
Fritze, wir haben hier das Os femoris von einem
Glyptodon vor uns! Welch eine Entdeckung! Dieſes
eine Bein iſt allerdings viel, viel wertvoller als alle
Knochen, die hier beiſammenliegen.“
„So? Dann will ick jratulieren, denn da drüben
jibt’3 noch mehrere ſolche Beine.“
„Wirklich? Wo, wo?“
„Da drüben, wo ick eben war.“
u FB
Fritze deutete mit der Hand in die Richtung, die
er meinte; ſein Herr eilte in derſelben fort, indem er
ſagte: „Da muß ich hin, ſogleich, augenblicklich!“
„Halt!“ rief ihm der Stralauer nach. „Nicht jerade
aus; Sie müſſen nach links umbiegen!“
Aber der kleine, begeiſterte Mann wollte keine Se⸗
kunde verlieren, ſondern möglichſt ſchnell an Ort und
Stelle gelangen; darum drang er in gerader Richtung in
das dichte Schilf ein. Einige Augenblicke ſpäter gab es
ein nicht mißzuverſtehendes Geräuſch, und dann hörte
man den Kleinen um Hilfe rufen. Auch Fritze war zu⸗
rückgegangen, aber auf dem ſicheren Weg; er ſah den
Indianer jenſeits ſtehen und eifrig abwinken; darauf
erſcholl der Hilferuf. Der treue Diener dachte nicht an
die eigene Gefahr, ſondern ſprang ſchnell in das Schilf
ein. Als er fünf oder ſechs Schritte zurückgelegt hatte,
bot ſich ihm ein beängſtigender Anblick. Das Waſſer
hatte eine ſchmale Bucht eingefreſſen, die durch Rohr,
Schilf und Binſen ſo verdeckt worden war, daß Morgen⸗
ſtern ſie nicht bemerkt hatte. Er war hineingeſtürzt und
ſteckte nun bis an den Hals im Waſſer und im Schlamm.
Das war nicht das ſchlimmſte; gefährlicher, viel gefähr⸗
licher war ein andrer Umſtand. Nämlich es arbeitete
ſich, von dem Geräuſch des Falles herbeigerufen, ein
Krokodil in die Bucht, die glücklicherweiſe nur mit einem
ſchmalen Graben zu vergleichen war. Dieſer Mangel
an der nötigen Breite hatte zur Folge, daß das Tier
ſich ſeiner Beute nur langſam nähern konnte; doch ar⸗
beitete und ſchob es ſich mit gefräßigem Eifer weiter und
weiter heran, ſo daß es, als Fritze kam, mit der Spitze
ſeines Rachens nur noch drei Fuß von Morgenſtern ent⸗
fernt war. Dieſer arbeitete zwar auch, wobei er immer⸗
fort ſchrie, mit den Armen und Beinen, um der ſchreck⸗
— 856 —
lichen Gefahr zu entgehen, ſank aber deſto tiefer in den
Schlamm ein, der ihn nicht loslaſſen wollte. Fritze ver⸗
lor keinen Augenblick die Geiſtesgegenwart. Er hatte
zum Glück ſein Gewehr umhängen, während Morgen⸗
ſtern das ſeinige bei den Pferden gelaſſen hatte; er riß
es vor, brach ſich ſchnell bis zur Unglücksſtätte Bahn,
hielt die Mündung der Beſtie gerade vor das Auge und
drückte ab. Der Schuß krachte, das Tier ſchnellte vorn
empor, kam um einen Fuß weiter vorwärts, blieb dann
aber liegen. Fritze gab ihm auch noch den Inhalt des
zweiten Laufes in das ausgeſchoſſene Auge und rief dann,
indem er tief aufatmete, aus: „Jelungen, vollſtändig
jelungen! Dat war jerade der letzte Augenblick vons
vierte Rejiment! Der Walfiſch ſitzt feſt; nun wollen wir
den Jonas herausangeln. Faſſen Sie mein Jewehr,
und jreifen Sie feſt zul Ick ziehe Ihnen aus dat Still⸗
verjnügen heraus.“
Morgenſtern hielt den ihm zugereichten Kolben des
Gewehrs krampfhaft feſt, und Fritze zog aus allen Kräf⸗
ten an dem Lauf; aber der tückiſche Schlamm wollte ſein
Opfer nicht ſo ſchnell hergeben. Da kam der Indianer
und half mit. Den vereinigten Kräften gelang es nun,
den verunglückten Gelehrten zu befreien.
Aber wie ſah er aus, als er nun triefend und duf⸗
tend vor Fritze ſtand! Dieſer immer kurz entſchloſſen,
nahm ihm den vorher ſo ſchön roten Poncho von den
Schultern, um ihn aus⸗ und abzuſchütteln, und polterte
dabei in liebevoll beſorgter Weiſe: „Wat iſt Sie denn
einjefallen, da rinzuſpringen? Dat hätte noch lange
Zeit jehabt. Man muß nicht ſogleich jede Jelegenheit
ſofort benützen! Ick habe Ihnen doch zujerufen, nicht
jeradeaus, ſondern nach links zu jehen!“ |
— 837 —
„Aber der Indianer winkte mir doch!“ entſchuldigte
ſich der Paläontolog, indem er beide Arme und Hände
mit den ausgeſpreizten zehn Fingern weit von ſich
ſtreckte. N
„Abjewinkt hat er, aber doch nicht zujewunken!
Sie dachten mit den Pantomimen durch die janze Welt
zu kommen, und wohin ſind Sie jeraten? Nun kann ick
Ihnen waſchen und ſpülen und ausringen und an die
Sonne hängen und mit Ohdekarnallje einſpritzen, um
Ihnen zur früheren Sauberkeit und zum alten menſchen⸗
würdigen Odör zu verhelfen! Wiſſen Sie, wat ik Ihnen
vorſchlagen werde?“
„Was denn, mein lieber Fritze?“ fragte der Dok⸗
tor kleinlaut. |
„Wir haben gleiche Anzüge und find auch von der⸗
ſelbigen Jeſtalt. Sie werden mir Ihr Habit verehren,
wofür ick Ihnen dat meinige offeriere.“
„Das geht nicht, Fritze. Das meinige iſt ja naß und
ſchmutzig, lateiniſch mit udus und limosus ausgedrückt.“
„So! Und wenn der Herr naß iſt, ſo ſoll der Diener
trocken ſind? Dat wäre mir eine ſchöne Dienſtboten⸗
und Jeſindewirtſchaft! Da hinten, wo wir vorhin
waren, jibt's helles, reines Waſſer. Da will ick den
Schlamm ſchon herunterbekommen. Ick habe Ihnen bis⸗
her jehorcht; nun können Sie auch mich einmal folgen.“
Er zog ihn mit ſich nach der Landzunge, wo der
Umtauſch der Anzüge vor ſich ging. Bald hatte Fritze
den zwar gereinigten, aber noch naſſen Anzug an, wäh⸗
rend Morgenſtern den trockenen trug. Dieſer letztere
hatte erſt jetzt Zeit und Ruhe, das Krokodil genau zu
betrachten; er ſchüttelte dem Stralauer die Hand und
ſagte: „Ich verdanke dir mein Leben, Fritze; hoffentlich
kann ich es dir vergeltenl“
— 358 —
„Darauf war's nicht anjefangen. Wenn ick auch
"mal in den Schlamm jerate, angeln Sie mir wieder her⸗
aus; dann ſind wir quitt. Wat aber wird nun mit die
großen Knochens, wegen denen Sie in die Verſenkung
jingen?“
„Die — die — werde ich mir natürlich anſehen
müſſen, ſelbſt wenn ich fie dann für einſtweilen liegen
laſſe.“
| Dieſer Zufag und der Ton, in dem er dieſe Worte
ſprach, ließen vermuten, daß ſeine Begeiſterung um viele
Grade geſunken ſei. Die Nähe des Krokodilrachens war
nicht ohne Einfluß geblieben. Fritze führte ihn nach jener
Stelle, wo ſich ihm allerdings ein Anblick bot, dem ſeine
augenblickliche Niedergeſchlagenheit nicht zu widerſtehen
vermochte. Dennoch fragte er in ungewöhnlich ruhigem
Ton: „Meinſt du, daß es jetzt hier Leute gibt, die ſich
heute oder morgen dieſer Knochen bemächtigen könnten?“
„Nein. Hier jibt's nur Indianer, und wat wollten
die mit die Knochens machen?“
„So werde ich darauf verzichten, ſie heute mitzu⸗
nehmen. Auf alle Fälle aber kehre ich zurück, doch nicht
allein, ſondern in Begleitung mehrerer Leute, die graben
müſſen und zugleich dafür ſorgen können, daß ich nicht
wieder von einer ſolchen Gefahr überraſcht werde. Die
halbe Stunde, die uns erlaubt wurde, iſt längſt vor⸗
über. Wir wollen weiterreiten.“
Sie kehrten mit dem Indianer zu den Pferden zu⸗
rück und trieben dieſe ſodann zu ſolcher Eile an, daß ſie
die Vorangerittenen nach zwei Stunden einholten.
Morgenſtern ſprach nicht von ſeinem Unfall, und dem
treuen Diener fiel es auch nicht ein, ſeinen Herrn durch
deſſen Erzählung zu kränken.
— 389 —
Es war um die Mittagszeit, als die Bodenform
eine andre wurde. Es gab niedrige, aber lange, wellen⸗
förmige Erhebungen, welche die Ebene nach verſchiedenen
Richtungen durchſchnitten und ihr das Anſehen gaben,
als ob hier eine Unzahl kleiner Seen und Teiche ge⸗
legen hätte, nach deren Austrocknung nun die früheren
Dämme als Erhöhungen zu ſehen ſeien. Dieſe Dämme
waren meiſt mit Büſchen beſtanden, während in den
tiefer liegenden einſtigen Waſſerbetten Gras wuchs. Hin⸗
ter dieſer eigenartigen Landſchaft breitete ſich ein endlos
ſcheinender Streifen Waldes aus, der gerade an dem
Punkte, auf den der Führer zuritt, eine Oeffnung hatte.
Rechts und links, ſo weit man zu ſehen vermochte, lief
dieſer Wald in ebenes Land hinaus; gerade vorn aber
ſtieg er hoch empor; er ſchien da einen Berg zu bedecken,
in deſſen Inneres die erwähnte Oeffnung führte. Als
der Vater Jaguar dies ſah, fragte er den Häuptling:
„Warum bleiben wir nicht im ebenen Lande? Können
wir durch den Berg kommen?“
„Ja,“ antwortete der Gefragte. „Der Berg iſt
rund und hohl. Er birgt in ſeinem Innern ein Tal, das
Valle del Lago desecado*) genannt wird. Da können
wir hindurch, während hingegen der Wald ſo dicht iſt
und ſeine Bäume ſo durch Schlingpflanzen verbunden
ſind, daß kein Reiter, geſchweige denn eine ganze Schar,
hindurch kann. Selbſt ein Fußgänger müßte ſich den
Weg mit dem Beil oder dem Meſſer bahnen und würde
in einem Tag höchſtens ſo weit kommen, daß er dieſen
Weg in einer Viertelſtunde zurücklegen könnte.“
„Kann man den Wald nicht umreiten?“
„Ja; aber er tft nach beiden Seiten fo lang, daß wir
einen Umweg machen müßten, der gewiß einen ganzen
Tal des ausgetrockneten Sees
— 360 —
Tagesritt beträgt. Durch das Tal aber reiten wir nicht
eine halbe Stunde lang, und dann kommen wir noch
einmal ſo lang durch die Breite des Waldes, hinter dem
wieder der Campo beginnt.“
„Und wie weit iſt's nachher bis zu deinem Dorf?“
„Wir werden dort ſein, noch ehe es dunkel ge⸗
worden iſt.“
„Wer von hier aus nach dem Dorfe will, muß alſo,
um keinen Umweg zu machen, durch dieſes Tal des aus⸗
getrockneten Sees gehen?“
„Ja.“
„Das iſt gut, ſehr gut!“
„Warum?“
„Davon nachher, wenn ich das Tal geſehen habe.
Ich vermute, daß wir ſeine Lage und Beſchaffenheit ganz
vortrefflich gegen unſre Feinde ausnützen können.“
Von weitem hatte es geſchienen, als ob dieſe Oeff⸗
nung eine Art Tunnel ſei, denn die zu beiden Seiten
ſtehenden Bäume ſchickten ſich ihre Aeſte zu und bildeten
mit ihren Wipfeln ein geſchloſſenes Dach über dieſem
Eingang zum Tale. Aber als man näher kam, war zu
ſehen, daß man es mit einer Lücke zu tun hatte, die in
einen länglichen Keſſel führte, den das Innere des
Berges bildete.
Als die Reiter darin anlangten, hielt der Vater
Jaguar ſein Pferd an und ſchaute ſich um. Es war
allerdings ſehr wahrſcheinlich, daß ſich hier einſt ein See
befunden hatte. Es gab noch heute einen kleinen Bach,
der durch das einſtige hintere Ufer kam und einen Weiher
ſpeiſte, deſſen helle Fläche in der Mitte des Tales lag.
Die Waſſer des Sees hatten das Ufer da, wo die Reiter
jetzt hereingekommen waren, durchfreſſen und ſich hin⸗
aus in die Ebene ergoſſen; dann war der Wald, der ihn
— 361 —
umſäumt hatte, von der Höhe herabgeſtiegen und be⸗
deckte nun die Seiten des Tales vollſtändig und ſo dicht,
daß man nur mit Mühe zwiſchen den Bäumen ein⸗
zudringen vermochte.
Der Vater Jaguar gebot den andern, zu warten,
und umritt das ganze Tal, um deſſen Rand genau in
Augenſchein zu nehmen. Als er zurückkam, ſagte er im
Tone der Befriedigung: „Für uns kann nichts vortreff⸗
licher liegen als dieſer Ort. Wir werden hier zu einem
leichten Sieg kommen.“
„Wie jo, Seüor?“ fragte Leutnant Verano. „Meinen
Sie etwa, daß wir die Feinde hier erwarten ſollen?“
„Ja.“ |
„Das würde die größte Dumm — — wollte fagen,
der größte Fehler fein, den wir begehen könnten.“
Der Leutnant mußte zwar anerkennen, daß der
Vater Jaguar ein ſeltener Menſch und Charakter ſei,
aber es widerſtrebte ihm, ſich unterzuordnen. Er hielt
ſich als Offizier viel höher ſtehend als dieſer Mann; er
hatte zwar verſprochen, ſich zu fügen, allein ſeine ge⸗
walttätige, eigenmächtige Natur kam bei vielen Gelegen⸗
heiten, ſo auch wieder hier, zum Vorſchein.
„Freut mich, daß Sie das Wort nicht ausgeſprochen
haben, Senor,“ ſagte Vater Jaguar in ernſtem Ton.
„Ich bin nicht gewöhnt, mich in dieſer Weiſe kritiſieren
zu laſſen. Ich habe meine Meinung geäußert und bin
nicht dagegen, daß Sie uns die Ihrige auch kundgeben.
Warum halten Sie das, was ich meine, für einen
Fehler?“ 8
„Weil wir hier aufgerieben würden.“
„Wieſo?“
„Das fragen Sie? Der gewöhnlichſte Menſch muß
es einſehen.“
— 362 —
„So habe ich vielleicht den großen Fehler, kein ge⸗
wöhnlicher Menſch zu ſein. Haben Sie alſo die Güte,
meinem mangelhaften eee zu Hilfe zu
kommen!“
Der Leutnant, der die Jronie nicht überſah, meinte
in halb zorniger und halb überlegener Weiſe: „Wenn
wir uns hier im Tale aufſtellen, find wir von den rings⸗
um liegenden Höhen eingeengt und werden, wenn der
Feind hereindringt, erliegen müſſen.“
„So! Wir müſſen erliegen, wenn der Feind herein⸗
dringt. Wenn! Merken Sie wohl: Wenn! Kann er
denn herein? Der Zugang zum Tal iſt, wie Sie ſehen,
nur ſo breit, daß ihn höchſtens ſechs oder ſieben Menſchen
nebeneinander paſſieren können. Außerdem ſtehen da
Bäume, hinter die wir uns ſtecken können, um nicht
von den feindlichen Kugeln oder Pfeilen getroffen zu
werden. Wenn wir nur fünfzig wackere Kerls da ſtehen
haben, ſo kann kein Feind herein, und wenn er tauſend
Mann ſtark ſein ſollte. Sehen Sie das nicht ein?“
Der Offizier antwortete nicht. Darum fuhr der
Vater Jaguar fort: „Sie ſagen, wir ſeien von den Höhen
eingeengt. Dieſe Höhen treten wohl auseinander, wenn
der Feind hereinkommt? Oder iſt es nicht ſo, daß er
ebenſo eingeengt ſein würde wie wir? Dazu käme, daß
ſtets derjenige im Vorteil iſt, der den Poſten zuerſt be⸗
ſetzt hat. Sind Sie noch immer der Meinung, daß man
Taktik und Strategie ſtudiert haben muß?“
Verano zuckte verlegen die Achſeln.
„Uebrigens,“ fügte der Vater Jaguar hinzu, „iſt es
gar nicht meine Abſicht, dem Feinde den Eintritt in
dieſes Tal ſtreitig zu machen. Ich will es vielmehr
haben, daß er hereinkommt.“
— 363 —
„Aber warum denn nur!“ fuhr der Offizier un⸗
geduldig auf. „Das würde doch heißen, uns ihm in die
Hände zu liefern.“
„Nein, ſondern ihn in die unſrigen. Haben Sie
wohl eine Ahnung, wann die Abipones ungefähr in
dieſer Gegend eintreffen werden?“
„Das kann niemand wiſſen.“
„Warum nicht? Es iſt leicht zu erraten. Die
Weißen, mit denen wir zuſammengetroffen ſind, haben
Soldaten nach dem Palmenſee beſtellt. Sie werden nicht
viel früher und nicht viel ſpäter dort eintreffen als dieſe.
Das liegt in der Natur der Sache. Sie ſind, um ihre
Spur für uns unſichtbar zu machen, über den Rio Sa⸗
lado zurückgegangen. Dieſe Abſicht zu erreichen, brauchen
ſie zwei Tage. Wenn ſie dann ebenſo raſch reiten, wie
wir geritten ſind, haben wir zwei Tage Vorſprung. Neh⸗
men wir an, daß ſie einen Tag brauchen, um ſich aus⸗
zuruhen, die aufſtändiſchen Indianer zu ſammeln und
Beratung zu halten, ſo ergibt ſich noch ein dritter Tag.
Wir haben drei Tage bis hierher gebraucht, weil wir
gut beritten geweſen ſind und Pferde im Ueberfluſſe
haben. Den Abipones aber fehlen die Pferde. Ihre
Mannſchaften werden aus Kavallerie und Fußtruppen
beſtehen; darum brauchen ſie wenigſtens vier Tage bis
hierher. Wir haben alſo den Feind früheſtens in vier
Tagen, von heute an gerechnet, zu erwarten. Das iſt
Zeit genug, um unſre Vorbereitungen in einer Weiſe zu
treffen, die uns den Kampf erleichtert und den Sieg
ſichert.“
„Aber es iſt keine Erleichterung des Kampfes und
keine Sicherung des Siegs, wenn wir den Feind hier
zu uns hereinlaſſen!“
— 3 —
„Aber, Senor, ſehen Sie denn nicht ein, daß dies
eine Falle ſein ſoll?“
„Eine Falle?“ fragte Verano erſtaunt. „Dann wird
es eine, worin wir uns ſelbſt fangen.“
Der Vater Jaguar wollte antworten, da aber fiel
ihm der Doktor Morgenſtern in die Rede: „Nehmen Sie
es mir nicht übel, Senor Verano! Sie find Offizier
und begreifen dennoch nicht, was der Vater Jaguar
meint? Die Falle oder der Fallſtrick, um den es ſich
handelt, lateiniſch Lagneus genannt, iſt ſehr leicht zu
begreifen.“
„So! Begreifen Sie ihn etwa?“ fragte der Offi⸗
zier zornig. „Haben Sie doch die Güte, ihn mir zu
erklären!“
„Sehr gern, Senor. Ich ſetze den Fall, wir ver⸗
ſtecken uns da rundum im Wald, hinter den Bäumen,
laſſen den Feind herein und beſetzen dann den Ein⸗ und
Ausgang des Tales, ſo befindet er ſich in unſrer Mitte
und iſt verloren, da er uns, die wir geſchützt ſtehen, nicht
anzugreifen vermag, während er, der keine Deckung hat,
allen unſern Kugeln ausgeſetzt iſt. Ich hoffe, das iſt
Ihnen nun deutlich, lateiniſch perspicuus, geworden.“
Der Leutnant war wütend. Daß der kleine, deutſche,
lächerliche Kerl es wagte, ihn zu belehren, das war viel
ſchlimmer als alles Vorhergehende. Er rief entrüſtet
aus: „Was reden Sie zu mir? Habe ich Sie um Rat
gefragt?“
„Allerdings. Sie haben mich aufgefordert, es
Ihnen zu erklären.“
„Das habe ich ganz anders gemeint. Bleiben Sie
mir in Zukunft mit Ihren Erklärungen vom Leibe. Ich
weiß genau, was ich zu tun habel“
— 865 —
„Nein, das ſcheinen Sie nicht zu wiſſen,“ nahm der
Vater Jaguar jetzt wieder das Wort. „Ich habe keine
Luſt, mich mit jemand zu ſtreiten, und ſchlage vor,
weiterzureiten. Wir haben vor allen Dingen danach zu
trachten, noch vor Einbruch der Nacht unſer Ziel, den
‚Haren Bach‘, zu erreichen.“
Dieſen Worten zufolge wurde aufgebrochen. Der
Leutnant hielt ſich ſchmollend hinterher. Es ärgerte ihn
gewaltig, daß er, der Beauftragte des Generals Mitre,
eine ſolche Schlappe erlitten hatte.
Der Berg, der, von vorn geſehen, anſcheinend die
Geſtalt eines Kegels hatte, beſaß nach rückwärts eine
längere Ausdehnung. Er hatte die Form eines Komma,
deſſen in einen langen Schwanz auslaufender Teil von
dem ſchon erwähnten Bach durchfloſſen wurde. Dieſer
Bach entſprang auf der höchſten Stelle. Dann ſenkte
ſich die Gegend wieder abwärts und ging endlich in die
Ebene über.
Man hatte bisher zu beiden Seiten immer Wald
gehabt, der auch jetzt noch nicht aufhörte, ſondern ſich
weit in die Ebene hinein erſtreckte. Er ſtand aber nicht
mehr ſo dicht wie vorher, ſo daß man zwiſchen den Bäu⸗
men hindurchreiten konnte, während vorher die Ufer des
Baches den Weg gebildet hatten. Das dann folgende
Feld war graſig. Hier konnten die Pferde mehr aus⸗
greifen als bisher, und ſo flogen ſie jetzt im Galopp
über den Campo hin.
War dem kleinen Gelehrten früher das Reiten
ſchwer geworden, ſo hatte er ſich jetzt ganz hübſch ein⸗
gerichtet und ſaß feſt im Sattel. Er ritt neben Fritze
Kieſewetter, ſeinem treuen Diener, der ſich womöglich
ſtets an ſeiner Seite hielt.
— 866 —
„Wie fteht es mit dem Anzug?“ fragte er ihn. „Er
iſt jedenfalls noch naß, und du kannſt dir leicht eine Er⸗
kältung zuziehen.“
„Dat iſt nicht!“ antwortete Fritze. „Es iſt allens
ſchon vollſtändig trocken, und von einer Erkältung kann
keine Rede ſind. Als Sie den Leutnant ſo ſchön trocken
ſtellten, iſt das Jewand vor Freude auch gleich mit
trocken jeworden.“
„Er wird nun zornig auf mich ſein!“
„Dat iſt er allerdings; ick habe es jeſehen, aber wir
machen uns nichts daraus. Iroße Jeiſter, die ſich nur
mit Rieſentieren abjeben, bekümmern ſich nicht um ſo
kleine Menſchen.“
Der Doktor blickte nachdenklich vor ſich nieder und
ſagte dann: „Fritze, ich werde doch wohl einen Fehler
gemacht haben!“
„Mit dem Leutnant?“
„Nein, ſondern mit dem Rieſentier, mit den
Knochen, die wir da hinten an dem Sumpf gefunden
haben. Ich hätte ſie nicht liegen laſſen, ſondern mit⸗
nehmen ſollen.“
„Warum?“
„Weil ſie mir in Verluſt geraten werden. Du haſt
gehört, daß die Abipones hinter uns herkommen. Sie
halten jedenfalls auch an dem Sumpf an, und dann iſt's
jedenfalls um die ſchönen Knochen geſchehen.“
„Dat iſt mich unwahrſcheinlich. Wat wollen die
Abipones mit die Knochen machen?“
„Dieſe nicht, aber die Weißen, die bei ihnen ſind.“
„Hm! Meinen Sie?“
„Ja. Die Soldaten wiſſen, daß ſolche Knochen für
die Wiſſenſchaft einen großen Wert beſitzen, und werden
ſie mitnehmen.“
— 867 —
„Nein, dat werden ſie nicht; da kann ick Ihnen
tröſten. Selbſt wenn ſie die Abſicht hätten, ſie mit⸗
zunehmen, würden ſie ſie doch einſtweilen liejen laſſen,
um fie dann erſt auf dem Rückweg aufzuklauben.“
„Das iſt ganz dasſelbe. Ich meine, wir ſollten beide
zurückreiten, um die Knochen zu holen.“
„Dat jeht nicht.“
„Warum?“
„Weil wir den Feinden in die Hände fallen
würden.“
„Gewiß nicht! Der Vater Jaguar ſagte ja, daß ſie
nicht eher als in vier Tagen hier ſein würden. So
lange hätten wir alſo Zeit.“
„Jut; aber es jeht doch nicht, denn der Vater
Jaguar würde es nicht erlauben.“
„Das iſt gar nicht nötig. Ich werde mich hüten,
ihn um Erlaubnis zu fragen. Fritze, würdeſt du mit⸗
reiten?“
„Hm! Es kommt mich doch ein wenig unheim⸗
lich vor.“
„Ich denke, du biſt mir treu!“
„Herr, treu bin ick; darauf können Sie Ihnen ver⸗
laſſen!“
„So gehe doch mit, wenn ich dich darum bitte!“
„Bitte? Herr Doktor, wenn Sie mich befehlen, ſo
jehorche ick; wenn Sie mir aber bitten, ſo muß ich Ihnen
erſt recht den Willen tun. Es würde mich jeradezu un⸗
möglich ſein, Ihnen eine Bitte abzuſchlagen.“
„So iſt's recht! Das nenne ich Treue, lateiniſch
Fidelitas geheißen!“
„Sagen Sie mich wenigſtens, wie wir die Knochen
fortbringen wollen?“
— 868 —
„Wie ſoll ich das wiſſen? Ich möchte mich da auf
deinen Scharfſinn verlaſſen.“
„Ja, wenn mein Scharfſinn ein Roll⸗ oder Fracht⸗
wagen wäre, ſo könnten wir ſie darauf verladen. Hier
jibt's überhaupt keine Wagens. Man kann ſich höchſtens
der Laſtpferde bedienen.“
„Und da haben wir leider keinel“
„Nicht? Wat, wir hätten keine? Haben wir nicht
über achtzig Pferde erbeutet?“
„Aber die gehören uns doch nicht!“
„Nicht? Wer hat dat behauptet? Wir waren dabei,
als ſie erbeutet worden ſind. Sie ſind eijentlich Jemein⸗
gut und müſſen verteilt werden. Da kämen wenigſtens
vier Stück auf uns beide. Ick mache mir jar kein Je⸗
wiſſen, einige Pferde wegzunehmen. Dat iſt kein Dieb⸗
ſtahl, denn wir bringen ſie doch wieder. Und Packſattels
ſind auch vorhanden. Wir haben alſo alles, wat wir
brauchen.“
„Und würdeſt du den richtigen Weg finden, damit
wir uns nicht etwa verirren?“
„Glauben Sie nicht, daß ich mir verirren würde!
Wo ick einmal geweſen bin, da bin ick zu Hauſe wie in
meine Taſche. Wenn ick ein Bedenken habe, ſo iſt's ein
janz andres.“
„Welches?“
„Von wejen die Krokodilers. Wenn es ſich um
Knochen handelt, ſo jehen Sie zu forſch ins Zeug, und
da können Sie leicht wieder an ſo 'ne Beſtie jeraten,
ohne daß ick Ihnen dann ſo ſchnell helfen kann.“
„Ich nehme mich in acht. Ich verſpreche es dir.“
„Jut! Dann iſt die Sache abjemacht. Sagen Sie
es mir nur, wenn es losjehen ſoll! Ick bin dabei.“
— 869 —
Während dieſes Geſprächs war man eine tüchtige
Strecke weitergekommen. Der Campo wurde zuweilen
von kleinen Wäldchen unterbrochen, denen man es an⸗
ſah, daß fie von Menſchenhänden angelegt worden feien.
In der Ferne bemerkte man Ackerland, hinter dem ein⸗
zelne Hütten erſchienen. Man ritt zwiſchen kleineren
Anſiedlungen der Cambas hindurch. Gegen Abend kam
man dann durch einen lichten Wald, der nicht ſehr groß
war. Als man ihn zurückgelegt hatte, ſah man eine
Lagune glänzen, woran mehrere langgeſtreckte Reihen
von Hütten lagen. Sie waren zu beiden Seiten eines
Baches erbaut, der aus dem Wald kam. Dieſer Bach
war der Arroyo claro, und man befand ſich dem Ziel,
dem Hauptdorf der Cambas, gegenüber.
Auf der Lagune bewegten ſich einige Boote, deren
Inſaſſen mit Fiſchen beſchäftigt waren. Hinter den
Hütten ſah man Gärten und Felder, in denen Frauen,
Männer und auch Kinder arbeiteten. Vor den Hütten
ſaßen oder ſtanden andre, die ihre Arbeit getan hatten.
Dieſes friedliche Bild aber veränderte ſich ſofort, als
das erſte Auge die Ankömmlinge erblickte. Kaum war
dies geſchehen, ſo ſtieß der Betreffende einen ſchrillen
Ruf aus, der von Mund zu Mund ging, und von allen
wiederholt wurde. Die Fiſcher ſchoſſen mit ihren Booten
an das Ufer. Die auf den Feldern und in den Gärten
Beſchäftigten flogen nach dem Dorf, wo alle in den Hüt⸗
ten verſchwanden, um nach einigen Augenblicken bewaff⸗
net wieder zu erſcheinen.
Da ſtieß der Häuptling einen ähnlichen Ruf aus.
Sie ſtutzten und wußten nun, wer der Ankömmling war,
noch ehe ſie ihn deutlich erkennen konnten. Sie jubelten
laut und kamen, ihre Waffen ſchwingend, dem Zug ent⸗
gegengeſprungen und getanzt, um die Gäſte zu begrüßen.
May, Das Vermächtnis des Inka 24
— 870 —
Dieſe mußten, der dortigen Sitte gehorchend, an⸗
halten, um die Feier des Bewillkommens über ſich er⸗
gehen zu laſſen. Sie konnte nicht ſofort beginnen, denn
es waren noch nicht alle Bewohner des Dorfes ver⸗
ſammelt. Viele befanden ſich im Wald und mußten
herbeigerufen werden. Dies geſchah mit Hilfe eines
Signalinſtruments, das aus einem ſtarken Bambusſtück
beſtand, woran als Mundſtück ein dünnerer hohler
Zweig befeſtigt war. Der Mann, der in dieſes Inſtru⸗
ment blies, brachte einen grauenhaften, dumpfen Ton
hervor, der aber in große Ferne zu dringen ſchien, denn
den vielen Schreien, welche die Antwort bildeten, hörte
man es an, daß ſich die Betreffenden nicht in der Nähe
r,
befanden. Bald ſah man ſie aus dem Wald kommen,
einzeln oder in kleinen Gruppen. Sie liefen ſo ſchnell
wie nur möglich, woraus zu ſchließen war, daß dieſes
Signal nur dann gegeben wurde, wenn große Eile nötig
erſchien.
Nach einiger Zeit waren wohl an dreihundert
Männer verſammelt, die var den Ankömmlingen eine
Doppelreihe bildeten. Hinter dieſer ſtellten ſich die
Frauen auf, während die Kinder im Hintergrund die
Zuſchauer bildeten.
Nun begann zunächſt ein Tanz der Männer, der
in Bewegungen der Hände und Köpfe beſtand, ohne
daß die Füße ſich von der Stelle bewegten. Der zweite
Teil beſtand in einem Vor⸗ und Rückwärtsſchreiten, wo⸗
ran ſich auch die Frauen beteiligten. Im dritten Teil
wurden die Lanzen, Blasrohre und Meſſer geſchwungen,
wozu die Frauen ein unbeſchreibliches Geſchrei in der
Fiſtellage anſtimmten. Dann ſchien der Tanz zu Ende
zu ſein. Da aber deutete der Häuptling auf Hammer
und rief nur den einen Namen: „Der Vater Jaguar!“
— 5871 —
laut aus. Einen kurzen Augenblick war alles ſtill, jeden⸗
falls vor Ueberraſchung, dieſen berühmten Mann hier
zu haben. Dann aber brach ein Jubilieren los, daß man
ſich hätte die Ohren verſtopfen mögen. Die Männer
und Frauen ſprangen wie beſeſſen hin und her, und die
Kinder folgten dieſem Beiſpiel. Viele kamen herbei, um
dem Genannten die Hand zu geben, oder ihn auch nur
zu betaſten. Er war noch nie hier am „klaren Bach“ ge⸗
weſen, doch wußte man recht wohl, daß er andern
Cambasſtämmen gegen die Abipones ſiegreich bei⸗
geſtanden hatte. Als die Aufregung vorüber war,
ordneten ſich die Indianer, um mit ihren Gäſten im
Dorfe einzuziehen. Die Männer gingen zu dreien vor⸗
an; dann kamen die Kinder, und darauf folgten die An⸗
kömmlinge. Der Häuptling hatte ſich an die Spitze
geſtellt.
Das Dorf beſtand aus vielleicht achtzig Hütten, die
durchweg aus geſtampfter Erde gebaut und mit Schilf⸗
dächern verſehen waren. In den Gärten gab es Blumen,
und auf den Feldern wuchſen neben Getreide allerlei
Gemüſe, von denen ſich dieſe Leute, welche wenig Fleiſch
eſſen, meiſt ernähren. Hinter den Feldern gab es bis
nach dem Walde hin einen ziemlich großen Plan, auf
dem Rinder und Pferde weideten. Von den erſteren
konnte man vielleicht ſechzig Stück, von den letzteren
kaum dreißig, den ganzen Reichtum des Dorfes, zählen.
Man ſtieg von den Pferden. Dann hielt der Häupt⸗
ling eine Rede, worin er ſeinen Untergebenen erzählte,
was er erlebt hatte und daß die feindlichen Abipones im
Anzuge ſeien. Als er geendet hatte, erhob der Vater
Jaguar ſeine Stimme, um zu ſagen, daß er beabſichtige,
die mitgebrachten Pferde und einen Teil der Gewehre
als Geſchenke zu verteilen. Natürlich rief das einen
— 372 —
allgemeinen Jubel hervor. Der Leutnant Verano er⸗
laubte ſich dann zwar eine Bemerkung, daß niemand ein
Recht beſitze, die erbeuteten Pferde, an denen er eigent⸗
lich auch einen Anteil habe, oder gar die Gewehre zu
verteilen; Hammer achtete aber gar nicht darauf.
Jetzt begann es dunkel zu werden. Man entlaſtete
die Pferde, ließ ſie im „klaren Bach“ trinken und trieb
ſie dann nach dem Weideplan, wo ſie ſich erholen ſollten.
Von dort brachte man einige Rinder mit, die den Gäſten
zu Ehren geſchlachtet und verſchmauſt werden ſollten.
Feuer wurden angezündet, und bei ihrem Schein ent⸗
wickelte ſich ein eigenartiges Leben und Treiben.
Die Cambas ſchienen zunächſt gar nicht an die Ge⸗
fahr, die ihnen von den Abipones drohte, zu denken. Sie
hatten gehört, daß dieſe noch fern waren, und wußten
den Vater Jaguar bei ſich. Die Anweſenheit dieſes
Mannes ließ keine Sorge bei ihnen aufkommen.
Das Fleiſch wurde ganz wie bei den Gauchos be⸗
reitet und verzehrt. Man trank dazu ein gegorenes Ge⸗
tränk, das aus den Früchten des Chaüar*) bereitet wird.
Dazu genoß man Kuchen, den die Frauen aus Mais⸗
und andrem Mehl in der heißen Aſche buken.
Nach dieſem Eſſen wurde eine Beratung gehalten,
woran alle Weißen ſowie der Häuptling teilnahmen.
Und nun gab Vater Jaguar ſeinen Plan bekannt.
Morgen früh ſollten die Gewehre verteilt und die
Cambas in deren Gebrauch unterwieſen werden. Zur
geeigneten Zeit ſollte man nach dem „Tal des aus⸗
getrockneten Sees“ ziehen, hundert Cambas ſollten durch
deſſen Eingang marſchieren, um ſich dann ſeitwärts im
Wald zu verſtecken. Dieſe Leute mußten natürlich die
Abipones kommen ſehen; ſie hatten zu warten, bis dieſe
0) Prosopis dulcis
— 373 —
vorüber und im Tal verſchwunden ſein würden. Dann
ſollten ſie aus ihrem Verſteck hervorkommen und den
Eingang beſetzen, damit die Abipones nicht zurück
könnten.
Die andern Cambas ſollten ſich im Tal ſelbſt ver⸗
ſtecken, und zwar hinter den Bäumen, um im gegebenen
Augenblick aus dieſer ſicheren Deckung heraus den Kampf
zu beginnen. Die Einzelheiten konnten natürlich nicht
genau vorherbeſtimmt werden. Darum ſollten die Cam⸗
bas ſo nahe bei einander ſtehen, daß der eine dem andern
die von dem Vater Jaguar ausgehenden Weiſungen leiſe
zurufen könne. Nach dieſen ſollte dann ganz genau ge⸗
handelt werden.
Alle waren mit dieſem Plan einverſtanden, nur
Leutnant Verano nicht. Er hatte geſchwiegen, bis alle
ihre Zuſtimmung erteilten; dann aber ſagte er, gegen
den Vater Jaguar gewendet: „Ihr Plan, Seüor, tft
ganz gut, nämlich wenn er gelingt. Nur zweifle ich,
daß dies der Fall ſein wird.“
„Das muß abgewartet werden,“ antwortete Ham⸗
mer in gleichmütigem Ton.
„Warum abwarten! Die Force eines tüchtigen Sol⸗
daten beſteht im Angriffe, nicht aber im Zaudern. Der
Angreifer iſt ſtets im Vorteil, was Sie aber nicht zu
wiſſen ſcheinen.“
„Ich weiß es wenigſtens ebenſo gut wie Sie,
Senor!“
„Nun, warum wollen Sie denn da nicht angreifen?“
„Ich will es ja; aber freilich erſt dann, wenn ich
den Feind in der Falle habe.“
„Das iſt falſch. Sie dürfen ihn gar nicht ſo weit
heranlaſſen. Sie müſſen ihm entgegengehen, um ihn
zu ſchlagen, wo Sie ihn treffen. Oder getrauen Sie
— 374 —
ſich das nicht? Dann brauchen Sie nur mir die Füh⸗
rung zu übergeben; ich weiß, wie man ſolche Siege
erkämpft.“
„Mit Blut natürlich, mit ſehr viel Blut, und das
iſt es, was ich vermeiden will.“
„Das iſt falſch, grundfalſch. Dieſe Hunde von Abi⸗
pones müſſen niedergeworfen werden, vom erſten bis
zum letzten. Es dürfen ihrer ſo wenig wie möglich ent⸗
kommen!“ |
„Warum, Senor?“
„Das fragen Sie noch? Sind ſie nicht gegen uns?
Beſtehlen Sie uns nicht?“
„Was tun denn Sie? Gehört Ihnen ein Fußbreit
von dem Lande, in welchem Sie ſich befinden? Haben
Sie oder Ihre Vorfahren den Indianern ehrlich be⸗
zahlt, was Sie ihnen genommen haben? Doch, ſtreiten
wir uns nicht darüber! Wenn es ſo kommt, wie ich es
wünſche, ſo fließt kein Tropfen Blutes. Ein einziger
Blick oder auch nur eine kurze Ueberlegung wird den
Feinden ſagen, daß ſie verloren ſind, falls ſie zur Gegen⸗
wehr greifen. Ich werde zu ihnen ſprechen und ihnen
menſchliche Bedingungen ſtellen. Daraufhin werden wir
einen ehrlichen Frieden mit ihnen ſchließen.“
„Einen Frieden? Einen Frieden mit dieſen Auf⸗
rührern? Sind Sie des Teufels, Senor! Werden Sie
es verantworten können?“
„Ich möchte den ſehen, der es unternehmen wollte,
mich darüber zur Verantwortung zu ziehen.“
„Der General, der Präſident!“
„Pah! Wir befinden uns nicht in Buenos Aires,
ſondern im Gran Chaco. Die Stelle, wo Sie ſitzen,
gehört dem Volke der Cambas; da hat der Präſident
nichts zu ſagen.“
— 875 —
„Nun, ſo mögen Sie wiſſen, daß ich mich dagegen
ſträuben werde.“
„Das heißt, Sie werden unter Umſtänden gegen
meinen Willen, gegen meine Anordnungen handeln?“
„Ja. Ich kenne hier keinen, deſſen Anordnungen
ich zu befolgen habe.“
„So vergeſſen Sie, daß Sie durch uns von dem
ſchmählichen Tod des Erſäufens errettet worden find!
Und ich will Ihnen folgendes ſagen. Hören Sie wohl
darauf! Wenn durch Sie ein einziger Tropfen Blutes
gegen meinen Willen vergoſſen wird, gebe ich Ihnen
eine Kugel in den Kopf.“
„Sie ſprechen wie toll, Senor!“ fuhr der Offizier
auf. „Wiſſen Sie, wer und was ich bin?“
„Ein einfacher Leutnant ſind Sie, weiter nichts, und
nebenbei ein gewalttätiger und blutdürſtiger Menſch.
Ich aber bin der Vater Jaguar, dem ein braver In⸗
dianer mehr gilt als ein gewiſſenloſer Weißer. Was
ich geſagt habe, das gilt; ich ſchwöre es Ihnen zu!“
| Er Stand von feinem Platz auf und ging. Der
Leutnant ſtieß hinter ihm her noch einige groß⸗
ſprecheriſche Worte aus; da aber zog Geronimo, der
Liebling des Anführers, ſein Meſſer und ſagte zu ihm:
„Senor, ſchweigen Stiel Höre ich noch ein einziges un⸗
ehrerbietiges Wort gegen unſern Freund, ſo ſtoße ich
Ihnen dieſe Klinge in den Leib, daß Ihnen das Reden
ſofort vergeht! Wenn Sie etwa ſtolz darauf ſind, daß
Sie ſich Leutnant nennen dürfen, ſo gehen Sie in das
Vaterland des Vater Jaguar, und lernen Sie dort er⸗
kennen, daß allerdings ein dortiger Leutnant mehr wert
iſt als bei Ihnen ein General! Mit Ihrer Charge impo⸗
nieren Sie ihm nicht!“ |
— 376 —
Hammer war zwiſchen zwei Hütten hindurch und
an mehreren Gärtchen entlang gegangen. Er machte
dieſen Spaziergang nur, um ſich zu beruhigen. Der
Neumond war ſeit einigen Tagen vorüber, und am
Horizont ſtand die dünne Mondſichel, um ein halbes, un⸗
gewiſſes Licht über den Weideplatz zu werfen. Der
Vater Jaguar ſah die Pferde und die Rinder, und da
fiel ihm die Stellung auf, welche dieſe Tiere einnahmen.
Die Pferde ſtanden in Gruppen zuſammen, und zwar
mit den Hinterbeinen nach außen. Die Rinder bildeten
ihre Kreiſe in der entgegengeſetzten Weiſe, nämlich mit
den Köpfen nach außen. Dies erklärt ſich dadurch, daß
die erſteren ſich mit den Hinterhufen, die letzteren aber
mit den Hörnern verteidigen. Es mußte ein Raubtier
in der Nähe ſein und zwar ein größeres. Da er kein
Gewehr bei ſich hatte, ſo rief er mit lauter Stimme in
das Dorf zurück: „Cuidado, Seüores! Bringt die Ge⸗
wehre; es iſt ein Jaguar da!“
Er ſtieß dieſen Ruf nicht aus Furcht aus. Daß er
ſich auch ohne Gewehr nicht fürchtete, bewies er dadurch,
daß er ruhig weiterging. Nur hatte er das Dolchmeſſer
gezogen, um im geeigneten Augenblick die Klinge bereit
zu haben. Seine laute, weithin ſchallende Stimme war
nicht nur in das Dorf zurück⸗, ſondern auch über den
ganzen großen Weideplatz gedrungen und da an die
Ohren von zwei Perſonen, denen das ſonderbare Ver⸗
halten der Tiere noch gar nicht aufgefallen war.
Dieſe beiden Perſonen waren Anton Engelhardt
und der Inka. Die Freundſchaft der beiden Jünglinge
war während der letzten Tage womöglich noch inniger
geworden, als ſie vorher geweſen war. Sie hielten, wie
auch ſchon früher, ſtets zu einander. Da mußte Anton
von ſeiner Heimat erzählen, nicht von Peru, ſondern von
— 877 —
Deutſchland, woher ſeine Eltern ſtammten, von andern
Ländern, von deren Bewohnern und ihren Verhältniſſen.
Er hatte einen ſehr guten Unterricht genoſſen und viel
gelernt; darum konnte er dem Freund ſehr wohl die
gewünſchte Auskunft geben. Sie hatten von den Reli⸗
gionen der verſchiedenen Völker geſprochen, von ihren
Regierungsformen, ihren Herrſchern und deren Macht⸗
befugniſſen, von den Streitkräften und den Verheerungen,
welche die gegenwärtigen Waffen anzurichten imſtande
ſind. Je mehr der junge Inka gehört hatte, deſto ein⸗
ſilbiger und nachdenklicher war er geworden. Er be⸗
gann mehr und mehr einzuſehen, daß der Traum, den er
bisher geträumt hatte, eben nur ein Traum ſei und ein
ſolcher bleiben werde.
Heute, als die Beratung begann, hatten ſie geglaubt,
zu jung zu ſein, um daran teilzunehmen, und ſo hatten
ſie einen Spaziergang unternommen. Sie kamen nach
der Weide hinaus und gingen in nicht allzu großer
Ferne vom Wald parallel mit deſſen Rand hin. Es
war ihnen nicht eingefallen, ein Gewehr mitzunehmen.
Anton hatte das Meſſer und den Revolver mit; der
Inka trug auch ein Meſſer im Gürtel, und dazu hing
ihm ſein Streitkolben, von dem er ſich nie zu trennen
pflegte, an der linken Seite nieder. Der erſtere erzählte
wie gewöhnlich, der letztere hörte ſtill zu und warf zu⸗
weilen eine wißbegierige Frage dazwiſchen. Da ver⸗
nahmen ſie von drüben herüber eine donnernde Stimme:
„Cuidado, Senores! Bringt die Gewehre; es iſt ein
Jaguar dal“ |
„Das war der Vater Jaguar,“ ſagte Anton, indem
er ſtehen blieb und unwillkürlich ſeinen Revolver zog.
„Sollte eine Onze, ein Tiger, in das Dorf gedrungen
fein?”
— 878 —
„Nein,“ antwortete Haukaropsra. „Die Stimme
kam nicht aus dem Dorfe, ſondern von der andern Seite
der Weide her. Wir haben uns zu weit entfernt. Laß
uns zurückkehren!“
Sie wollten ſich dem Dorfe nähern, und kamen da⸗
bei an einer Rindergruppe vorüber. Als der Inka die
Haltung dieſer Tiere ſah, ſagte er: „Wir müſſen uns
beeilen. Dieſe Ochſen ſtehen zur Verteidigung bereit,
und da ſie die Hörner tief ſenken, ſo iſt der Jaguar nicht
nur da, ſondern er muß ſich hier in der Nähe befinden.“
Sie eilten mit raſchen Schritten vorwärts, dorthin,
wo ſechs oder ſieben Pferde, die Kruppen nach auswärts
gerichtet, mit zuſammengeſteckten Köpfen einen Ver⸗
teidigungskreis bildeten. Die Tiere ſchnaubten und
ſtanden mit den Hinterhufen keinen Augenblick ſtill.
Haukaropora ging links, Anton aber rechts vorüber, weil
er da glaubte, näher zu kommen. Eben war er um
die Pferdegruppe gebogen, als er ſeitwärts von dieſer
und vor ſich etwas Dunkles im Graſe liegen ſah. Was
es war, konnte er nicht erkennen, da die Sichel des
Mondes nicht hell genug ſchien. Er hielt den Gegen⸗
ſtand oder das Tier für ein junges, an der Erde lie⸗
gendes Kalb oder Füllen und wollte an ihm vorüber.
Da erhob es ſich und nun ſah er allerdings, wen er vor
ſich hatte: es war der Jaguar, der zwar aufgeſprungen
war, ſich aber zum Sprung ſofort wieder niederduckte.
Flucht wäre da das ſchlimmſte geweſen. Anton blieb
alſo ſtehen, ſpannte den Revolver und zog mit der lin⸗
ken Hand ſein Meſſer. Was er in dieſem Augenblick
fühlte, das war eigentlich nicht Furcht, ſondern eine
Empfindung, wofür es keine Bezeichnung gibt.
„Hauka,“ rief Anton, „der Jaguarl“
— 879 —
Eben kam der Inka um die andre Seite der Pferde⸗
gruppe. In demſelben Augenblick tat der Jaguar den
Sprung auf Anton zu. Dieſer jagte ihm eine Kugel
entgegen, wurde aber von dem Tier niedergeriſſen. Er
fühlte die ſchwere Laſt der Beſtie auf ſich liegen und roch
ihren ſtinkenden Hauch. Er war ſicher, nun von den
Krallen zerfleiſcht, von den Zähnen zermalmt zu werden;
da aber hörte er über ſich einen Krach, wie wenn man
mit einer Axt auf den Hackſtock ſchlägt; der Jaguar rich⸗
tete ſich halb auf und rollte dann, ohne einen Laut aus⸗
zuſtoßen oder nur zu röcheln, zur Seite. Anton fühlte
ſich von der Laſt frei; es war ihm aber, als ob er es
noch gar nicht glauben dürfe; darum blieb er noch liegen.
Da beugte ſich der Inka über ihn und fragte in liebe⸗
vollem Ton: „Biſt du verletzt, Antonio? Hat dich ſeine
Kralle oder ſein Rachen getroffen?“
„Ich glaube nicht,“ antwortete der Gefragte. „Es
tut mir nichts weh. Da liegt das Tier. Was iſt
mit ihm?“ |
„Es iſt tot; ich habe es mit meinem Humantſchuay
erſchlagen. Eben als du mich gerufen, ſprang er auf
dich ein. Du gabſt ihm eine Kugel und ich ſprang
hinter ihm her, um ihm mit dem Kolben den Schädel
einzuſchlagen. Steh auf, daß wir ſehen, ob du Schaden
erlitten hajt!“ ö
Anton erhob ſich. Es war ihm nichts geſchehen.
Selbſt ſein Anzug war vollſtändig unverletzt. Ob der
Schuß das Tier ſo überraſcht hatte, daß es ſeine ſcharfen
Waffen nicht ſofort gebrauchte?
Der Gerettete drückte ſeinen Retter innig an ſich
und ſagte: „Ohne dich lebte ich jetzt nicht mehr; ich wäre
zerfleiſcht. Wie kann ich dir danken?“
— 380 —
„Dadurch, daß du mich immer ſo liebſt, wo du mir
jetzt gewogen biſt. Das iſt mir lieber als alles. Doch
laß uns nun zu den Unſrigen zurückkehren.“ |
„Und was geſchieht mit dem Tiger?“
„Den laſſen wir einſtweilen liegen; die Cambas
mögen ihn holen.“
Sie kamen aber noch nicht von der Stelle fort, eben
jetzt nahte der Vater Jaguar. Er hatte den Ruf Antons
und den Revolverſchuß gehört und war dem Bedrängten
zugeeilt. Als er den Fall überſah, bückte er ſich zu dem
Raubtier nieder, unterſuchte es und ſagte dann: „Ein
Weibchen, ein gewiß fünfjähriges Weibchen. So einen
großen Jaguar habe ich noch ſelten geſehen. Hauka, du
biſt ein junger Held! Welch ein gewaltiger Hieb! Du
haſt ihm den Schädel eingeſchlagen. Hier nimm meine
Hand! Ich muß dir die deinige drücken und ſchütteln,
denn ich bin überzeugt, daß du einſt ein tüchtiger Mann
ſein wirſt.“ |
Die drei kehrten nach dem Dorfe zurück. Als die
Cambas das Abenteuer erfuhren, brachen ſie alle, Män⸗
ner, Weiber und Kinder, auf, um den Jaguar im
Triumphzuge heimzuholen. Er wurde ſofort aus der
Haut geſchält. Das Fell gehörte natürlich dem Inka,
da dieſer das Tier erlegt hatte; er ſchenkte es ſeinem
Freund Anton als Andenken an das gefährliche Aben⸗
teuer.
Die Bewohner des Dorfes räumten mehrere Häuſer,
damit ihre Gäſte einmal unter Dach ſchlafen konnten.
Die Folge davon, daß der Häuptling Boten ausgeſandt
hatte, war noch vor morgens zu bemerken, denn es ſtell⸗
ten ſich ſchon während der Nacht viele Krieger aus den
näher liegenden Dörfern ein. Im Laufe des Vormittags
kamen noch viel mehr und dann auch mit Sack und Pack
— 881 —
diejenigen Familien, die vor den Abipones hatten
weichen müſſen, weil ihre Wohnungen auf der be⸗
drohten Strecke lagen.
Die Weißen verteilten den Reſt der erbeuteten Ge⸗
wehre unter die Häuptlinge, welche mitgekommen
waren, und deren gab es nicht wenige, weil jedes Dorf
einen Häuptling hat; ſie werden Kaziken genannt.
Schließlich befanden ſich über ſechshundert junge, rüſtige
Cambaskrieger in dem Dorf. Da gab es natürlich zu
backen und zu braten die Hülle und die Fülle. Die
armen Leute mußten faſt alles hergeben, was ſie an
Nahrungsmitteln im Vorrat beſaßen. Mußten doch die
Krieger, wenn ſie auszogen, ſich für mehrere Tage mit
Proviant verſehen, da man die Ereigniſſe nicht vorher⸗
zuſehen vermochte. Der Vater Jaguar vertröſtete ſie
aber mit der Verſicherung, daß der Beſiegte gezwungen
ſein werde, alle Kriegskoſten zu bezahlen und vielleicht
auch noch mehr zu erſtatten. Waren die Verbündeten
doch ſchon jetzt in den Beſitz von guten Gewehren und
außerdem von achtzig Pferden gekommen!
ZSwölftes Kapitel
Den Krokodilen zur Beute
Am dritten Tag verließ der Vater Jaguar mit
dem Inka und dem alten Anciano das Dorf, um dem
Feind als Kundſchafter entgegenzureiten; er nahm dieſe
beiden mit, weil er wußte, daß ſie Vortreffliches leiſteten.
Am folgenden Morgen ſollten die Krieger der Cambas
dann nach dem „Tal des ausgetrockneten Sees“ ziehen,
um dort diejenige Aufſtellung zu nehmen, die er ihnen
ebenſo deutlich und beſtimmt wie ausführlich beſchrieben
hatte. Angeführt ſollten dieſe Leute während ſeiner Ab⸗
weſenheit von dem treuen und geſchickten Geronimo
werden, ein Umſtand, der den Aerger des Leutnants
Verano von neuem auflodern ließ.
Als der Anführer mit ſeinen beiden Begleitern
fortgeritten war, ſagte Doktor Morgenſtern zu ſeinem
Fritze: „Jetzt iſt er nicht mehr da. In ſeiner Anweſen⸗
heit konnte ich unmöglich wagen, meinen Plan aus⸗
zuführen. Er hat die Augen überall und hätte unſer
Verſchwinden ſofort bemerkt. Dann wäre er uns nach⸗
geeilt, um uns zurückzuholen.“
„Und dat wäre eine Blamage jeweſen, die mir
tüchtig jeärgert hätte,“ bemerkte Fritze. „Alſo Sie den⸗
ken noch oft und manchmal daran, ihren Plan aus⸗
zuführen?“
— 883 —
„Ja. Je länger ich es mir überlegte, deſto mehr
habe ich eingeſehen, daß ich ſonſt um dieſe herrlichen
Knochen komme. Wirſt du mich im Stich laſſen?“
„Fällt mir nicht im Traum ein! Lieber laſſe ich
mir ſelbſt im Stich als Ihnen; dat wiſſen Sie ja.“
„Nun gut, ſo wird es ausgeführt. Aber wann
denkſt du wohl? Am Tage wird es nicht möglich ſein?“
„Nein, denn dieſer Jeronimo, mit die jroße Ha⸗
bichtsnaſe, würde uns nicht fortlaſſen. Wir können alſo
nur des Nachts ausrücken. Da wird es auch nicht be⸗
merkt, wenn wir die Pferde beiſeite führen und auch
die Sattels unbemerkt mitjehen heißen. Riemen zum
Feſtbinden der Knochen werde ick mich auch verſchaffen.
Laſſen Sie dat allens nur mich über!“
Der ſchlaue Patron beſchäftigte ſich den ganzen Tag
mit den Vorbereitungen; am Abend ging man ſehr
zeitig ſchlafen, da morgen früh ausmarſchiert werden
ſollte, und ſo kam es, daß er um Mitternacht ſeinem
Herrn ſagen konnte, daß alles bereit und fertig ſei. Er
hatte im Laufe des Abends drei Packſättel und zwei
Reitfättel nach dem Walde geſchafft und dann auch die
Pferde heimlich hingeführt und angebunden. Jetzt
nahmen ſie ihre Waffen an ſich und huſchten fort. Als
fie bei den Pferden ankamen, ſattelten fie dieſe, hingen
die Packpferde aneinander, um ſie nebenher zu führen,
ſtiegen dann auf und ritten davon.
„Ob wir den Knochenſumpf finden werden?“
fragte der kleine Gelehrte beſorgt.
„Janz ſicher,“ tröſtete Fritze.
„Der Mond iſt ſo dünn wie ein Meſſerrücken und
man ſieht kaum, wohin man reitet!“
„Ick verlaſſe mir nicht auf den Mond, ſondern auf
mein Jedächtnis. Ick weiß die Richtung ſo jenau, als
— 384 —
ob ick hier zwanzig Jahre lang Briefträger jeweſen
wäre.“
Ja, die Richtung kannte er und hielt ſie auch ein,
aber als ſie dann den Wald vor ſich hatten, bildete dieſer
eine dunkle, zuſammenhängende Maſſe, und es war
ihnen ganz unmöglich, die Stelle zu finden, wo ſie vor
drei Tagen unter ſeinen Bäumen heraus und auf die
freie Ebene gekommen waren. Sie mußten alſo ab⸗
ſteigen und warten, bis die Sonne aufgegangen war.
Selbſt dann ſuchten ſie längere Zeit, hielten verſchiedene
Stellen für die richtige und mußten mehrmals um⸗
kehren. Es war wohl ſchon zwei Stunden lang Tag,
als ſie ganz zufällig auf die Fährte des Vater Jaguar
trafen, die ihnen nun als Richtſchnur dienen konnte.
Dieſe Fährte war nach ſo langer Zeit noch erhalten,
weil hier das Gras hoch und dicht ſtand und die Reiter
es nicht für nötig gehalten hatten, vorſichtig zu fein.
Indem die beiden dieſer Spur von fetzt an folgten,
kamen ſie glücklich durch den Wald bis an den kleinen
Bach und, dann dieſen zum Führer nehmend, hinab
in das Tal des ausgetrockneten Sees.
Hier ließen ſie ihre Pferde trinken und ein wenig
verſchnaufen, und dann ſetzten ſie ihren Weg fort. Sie
ſahen auch jetzt noch ſehr deutlich die Fährte des Vater
Jaguar und ſeiner beiden Begleiter. Als ſie das Tal
hinter ſich hatten, blieb Fritze nachdenklich halten, ſah
vom Pferd herab auf dieſe Spur nieder und ſagte:
„Wenn ick mir nicht irre, ſo hat der Vater Jaguar
ſich jeirrt.“
„Wieſo? Was meinſt du damit?“ fragte der
Doktor.
„Er iſt zu weit nach links jeritten. Der richtje
Weg jeht mehr da nach rechts hinüber.“
„Du wirſt dich täuſchen. Der Vater Jaguar iſt
nicht der Mann, ſich im Weg, lateiniſch Via oder Trames
genannt, zu irren.“
„Aber ick kann alle meine fünf Jedanken zuſammen⸗
nehmen, ſo komme ick doch auf keine andre Ahnung. Als
wir hierher kamen, ſind wir ſchnurjerade auf dieſes Tal
zujeritten, wir hatten es jerade der Naſe nach vor uns
liejen. Und wenn ick mir jetzt auf dieſe Spur ſtelle, ſo
liegt es von mich aus zu viel nach links. Wie wollen
wir nun reiten?“
„Gerade ſo wie er. Dann kommen wir ganz ſicher
nach dem Sumpfe der Knochen.“
„Jut, ick will Ihnen jehorchen. Mir ſoll's man
recht ſind.“
Sie folgten der Spur alſo auch noch fernerhin. Es
vergingen einige Stunden, und dann gab es ſandigen
Boden und die Fährte war nicht mehr zu ſehen. Sie
hielten die bisherige Richtung genau feſt, obgleich die
Gegend ihnen vollſtändig unbekannt vorkam. Wieder
verging eine längere Zeit; da zügelte Fritze die Pferde
und ſagte: „Ick habe mir doch nicht jeirrt; wir ſind
falſch jeritten. Wir müßten nun längſt an dem Sumpf
fein.” .
„Das iſt wahr. Aber der Vater Jaguar kann ſich
doch nicht im Wege täuſchen!“ ö
„So hat er eine Abſicht jehabt, einen Irund, den
Sumpf zu vermeiden.“
„Und wir haben eine koſtbare Zeit verloren. Was
iſt zu tun, lieber Fritze? Müſſen wir umkehren und
etwa wieder nach dem ‚Tal des ausgetrockneten Sees‘
zurück?“
„Das tue ick nicht, auf keinen Fall. Wir find zu
weit links, alſo brauchen wir nur nach rechts zu reiten.
May, Das Vermächtnis des Inka 25
— 386 —
Und weil wir zu weit vorgekommen ſind, müſſen wir
uns jetzt zurückhalten, in Summa alſo rückwärts nach
rechts. Wenn wir auch dann nicht an den Sumpf kom⸗
men, fo laſſe ick mir in Butter braten und auffreſſen.“
Sie folgten der vorgeſchlagenen Richtung und wirk⸗
lich ſahen ſie nach längerer Zeit die Uferbäume des
Knochenſumpfes vor ſich liegen. Leider aber war nun
der Tag faſt verſtrichen, und die Sonne befand ſich ſchon
im letzten Achtel ihres Tagebogens.
An dem Sumpf angekommen, ſtiegen ſie ab und
führten die Pferde vorſichtig in die Nähe der Stelle, wo
ſie die Knochen liegen gelaſſen hatten.
„Nun heißt's ſchnell machen,“ meinte Fritze. „In
einer Stunde wird es Nacht. Bis dahin müſſen wir die
Fracht im Sattel haben. Dann wieder fort!“
„Nicht hier bleiben?“ |
„Nein. Es ift ja heute der letzte Tag, und da könn⸗
ten die Abipones kommen. Dat wäre ein Jaudium for
ihnen, wenn ſie mir und Ihnen erwiſchten! Jehen wir
fix an die Arbeit; aber nehmen Sie Ihnen vor die Kro⸗
kodile in acht! Heute ſehe ick erſt, wie maſſenhaft ſie hier
vorhanden ſind.“
Tatſächlich konnte man, wenn man aufmerkſam
über die Waſſerfläche, ganz beſonders in der Nähe der
Ufer, blickte, wohl Hunderte von dieſen Eidechſen ſehen.
Die Knochen lagen noch da, wie ſie verlaſſen worden
waren. Die beiden Männer machten ſich daran, ſie in
Bündel zuſammenzuſchnüren. Das ging aber nicht ſo
raſch, wie Fritze es wünſchte, denn ſein Herr hatte ihm
allerlei zu zeigen, zu erklären und hundertmal zu bitten,
doch ja die größte Behutſamkeit anzuwenden, damit
nichts beſchädigt werde. Da gab es bald hier eine Klei⸗
nigkeit abzukratzen, bald mußte eine Stelle mit einer
— 8387 —
Handvoll Waſſer gereinigt werden. Die Zeit verging
und die beiden achteten nicht auf das, was in der Nähe
des Sumpfes geſchah. Da hörten ſie plötztlich eine laute
Stimme ſprechen. Sie hatten im Schilf gekauert und
fuhren empor, um zu ſehen, wer ſo unerwartet hier an⸗
weſend ſein könne. Sie befanden ſich hinter einem
Buſchwerk, das ſie verdeckte, konnten aber zwiſchen deſſen
Zweigen hindurchſehen. Was ſie da erblickten, war ge⸗
eignet, ſie im höchſten Grad beſorgt zu machen.
Da draußen kam nämlich ein ganzes Heer von Rei⸗
tern und Fußgängern angezogen. Man ſah, daß dieſe
Leute in einiger Entfernung vom Sumpf Halt machen
wollten. Jedenfalls beabſichtigte man, die Nacht da zu⸗
zubringen und in der Nähe des Sumpfes zu lagern.
Einige Reiter, vielleicht zwölf oder vierzehn, waren ganz
herangekommen, denn ſie hatten von weitem die fünf
Pferde geſehen, bei denen ſie jetzt hielten. Einer von
ihnen war ein Indianer; die andern gehörten der weißen
Raſſe an. Sie ſtiegen von ihren Pferden und begannen
nach rechts und links im Schilf nach Spuren zu ſuchen.
Da ſie höchſtens vierzig Schritte entfernt waren, konnte
man ihre Geſichtszüge deutlich erkennen.
„O Jerum, iſt dat eine Weihnachtsbeſcherung!“
raunte Fritze ſeinem Herrn zu. „Warum haben Sie
doch ſo lange geplaudert und gezaudert! Ick habe mich's
doch faſt jedacht! Kennen Sie dieſe Kerls?“
„Leider ja,“ antwortete der Doktor, dem es höchſt
ungemütlich zu werden begann. „Wenn ich mich nicht
irre, ſo ſehe ich dort jenen Antonio Perillo, der auf
mich geſchoſſen hat, und auch den Kapitän Pellejo, der
uns bei der Gigantochelonia überraſchte.“
„Und auch den langen, ſtarken Menſchen, welchen
ſie den Jambuſino nannten! Herr Doktor, ſchauen Sie
— 888 —
hinaus ins Land! Dat ſind doch wenigſtens achthundert
bewaffnete Menſchen. Und wer ſind ſie? Die Abi⸗
pones!“ '
„Können wir nicht fliehen, mein lieber Fritze?“
„Wohin denn? Hinaus zu die Kerls oder hinein in
dat Waſſer? Dort fangen uns die Roten, und hier
freſſen uns die Krokodile.“
„So bleiben wir hier hinter den Büſchen ſtecken.
Vielleicht finden ſie uns nicht. Iſt es dann dunkel, was
der Lateiner caliginosus oder obscurus nennt, ſo
fliehen wir.“ |
„Dat bilden Sie Ihnen ja nicht ein, denn ehe fünf
Minuten in die Ewigkeit jefloſſen ſind, haben ſie uns
beim Zopf und beim Schopf.“
„Dann wird's wohl gefährlich? Nicht?“
„Jemütlich auf keinen Fall.“
„Wat ſagen wir, wenn ſie uns fragen, was wir
hier wollen?“
„Jut, dat Sie dieſe Frage ausſprechen! Sie ant⸗
worten jar nichts Dat Reden wird meine Aufjabe
ſind. Am allerwenigſten aber dürfen dieſe Leute
wiſſen, daß der Vater Jaguar hier iſt und daß die Cam⸗
bas von dem Ueberfall wiſſen. Wir ſind janz allein
hierher jeritten. Dabei bleiben wir, ſelbſt wenn ſie uns
erſt pfählen, dann ſpießen, nachher aufhängen, endlich
verjiften und ſchließlich zuletzt jar ermorden wollen.
Paſſen Sie auf! Jetzt haben ſie unſre Spur. Alle
juten Jeiſter! Jetzt jeht der Vorhang in die Höhe.
Wie wird's ſein, wenn er wieder niederfällt!“
Die Suchenden waren jetzt endlich ſo weit gekom⸗
men, die alten Spuren von den neuen zu untericheiden;
indem ſie den letzteren folgten, näherten ſie ſich raſch
und kamen hinter den Buſch. Der Gambuſino ſchritt
— 389 —
ihnen voran. Als er die beiden kleinen Roten erblickte,
machte er eine Gebärde der Ueberraſchung und rief dann
aus: „Ay maravilla — o Wunder! Wen treffen wir
hier? Das ſind ja alte, liebe Bekannte! Willkommen,
Senores! Was treiben Sie denn hier? Haben Sie
etwa wieder eine Rieſenſchildkröte gefunden? Wahr⸗
haftig, ſie haben es mit alten Knochen zu tun! Nun,
die Ihrigen werden bald ebenſo ausſehen, wie dieſe
hier!“
Er ſtieß ein höhniſches Gelächter aus, in das die
andern einſtimmten. Die beiden wurden gepackt und
bis hin zu ihren Pferden gezogen, wo der Boden feſt
und trocken, alſo ſicherer und zuverläſſiger war als dort
am Waſſer. Man bildete zunächſt einen Kreis um ſie;
dann ſuchte man ihre Taſchen aus. Alles, was dieſe
enthielten, wurde ihnen nun zum zweitenmal ge⸗
nommen.
Breitſpurig pflanzte ſich der Gambuſino vor ihnen
auf, indem er an Doktor Morgenſtern die höhniſche
Frage richtete: „Nun, mein lieber Freund, was iſt
denn mit dem Vater Jaguar geworden?“
„Der iſt hinter Ihrer Fährte her,“ antwortete
Fritze ſchnell, damit die Fragen an ihn gerichtet werden
möchten. N
„Was haſt du zu reden, vorlauter Burſche! Aber
ich will es geſtatten, denn vielleicht biſt du aufrichtiger
als dein Herr, der ſchon damals zu keinem Geſtändnis
zu bringen war. Auch du haſt dein Leben verwirkt,
kannſt es aber retten, indem du uns die Wahrheit ſagſt.
Sft der Vater Jaguar uns am andern Morgen wirklich
nachgeritten?“
„Ja.“
„Wie weit?“
— 390 —
„Das wiſſen wir nicht, weil wir nicht dabei waren.“
„Was wollte er eigentlich im Gran Chaco?“
„Er wollte mit ſeinen Yerbateros Tee holen.“
„In welcher Gegend?“
„Das weiß ich nicht. Er war überhaupt ſehr ver⸗
ſchwiegen gegen uns, und wir erfuhren nur das eine,
daß er Ihnen ſchnell nach wollte, um zu erfahren, wo⸗
hin Sie gehen würden.“
„Wieviel Leute hatte er bei ſich?“
„Vielleicht zwanzig Mann.“
„Wie kommt ihr aber zu dieſen Pferden und Waf⸗
ſen? Wir hatten euch doch alles genommen.“
„Er gab ſie uns, weil er meinte, daß der Bankier
Salido ihn dafür bezahlen würde.“
„Dachte es mir! Und wie kommt ihr nun in dieſe
Gegend?“
„Wir wiſſen, daß im Gran Chaco Reſte von alten
Tieren gefunden werden, und ſind aufs Geratewohl hin⸗
eingeritten. Hier haben wir auch gefunden, was wir
ſuchten.“ |
„Wo habt ihr Cambas getroffen?“
„Nirgends. Als wir geſtern durch einige Dörfer
kamen, waren ſie leer.“
„Warum?“
„Wie kann ich das willen, Seßor?“
Da legte ihm der rieſiege Gambuſino die Fauſt
ſchwer auf die Achſel und ſagte in grimmigem Ton:
„Höre, Menſch, du biſt entweder der größte Dummkopf,
den es gibt, oder ein höchſt verſchmitzter Menſch. In
beiden Fällen aber iſt es nicht ſchade, wenn du das
Schickſal deines Herrn teilſt. Wir willen nun durch
dich, daß wir den Vater Jaguar hinter uns haben und
nicht vor uns, wie wir bereits glauben wollten. Das
— 991 —
ift genug. Schnürt die Kerls feſt an die Bäume! Dann
werde ich mitteilen, welchen Spaß ich euch mit ihnen
mache.“
Dieſe letzten Worte waren an ſeine Umgebung ge⸗
richtet. Die beiden Deutſchen wurden ſo, wie er es be⸗
fohlen hatte, angebunden, und dann ſprach er leiſe mit
dem Gefolge, das einen Kreis um ihn gebildet hatte.
Das häßliche Gelächter, womit man ihm zuſtimmte,
ließ Schlimmes erraten. Er trat wieder zu ihnen und
ſagte: „Damit es für euch ja keine Möglichkeit gibt,
uns abermals zu entkommen, habe ich euch ein zwei⸗
faches Todesurteil geſprochen. Ihr ſollt gehängt und
zu gleicher Zeit von den Krokodilen gefreſſen werden.
Nur der Teufel allein kann euch da noch Hoffnung
machen.“
Der Doktor wollte antworten, um etwas zu ſeiner
Verteidigung zu ſagen, Fritze aber ließ ihn nicht dazu
kommen, indem er ſchnell, und zwar in deutſcher
Sprache, bemerkte: „Schweigen Sie, Herr! Es würde
jedes Wort verjeblich ſind.“
„Dann ſind wir freilich verloren, lieber Fritzel“
„Denken Sie dat nicht! Wenn Sie uns nicht in
dieſem Augenblick ermorden, werden wir jerettet werden.“
„Von wem?“
„Vom Vater Jaguar.“
„Unmöglich! Er iſt ja nicht da.“
„O doch! Irad als dieſer Jambuſino endete,
blickte ick zufälligerweiſe da über den kleinen Waſſerarm
hinüber, und da fuhr eine Jeſtalt aus dem Schilf em⸗
por, die mich winkte und dann ſchnell wieder verſchwand.
Es war der Vater Jaguar; ick habe ihn erkannt.“
— 392 —
„Wahrſcheinlich haſt du dich geirrt. Die Sonne,
lateiniſch Sol genannt, iſt ſchon untergegangen, und die
Dämmerung tritt ein.“ N
„Dennoch habe ick mir nicht jeirrt. Es war ſeine
hohe, breite Jeſtalt und auch der lederne Anzug, den er
trägt. Er winkte mich heimlich zu und verſteckte ſich
raſch wieder.“
Sie hatten ſich in dieſer Weiſe ungeſtört aus⸗
ſprechen können, weil ihre Widerſacher ſich kurze Zeit
entfernt hatten, um die Abipones zu dem beabſichtigten
Schauspiel herbeizuholen. Die Roten hielten in ihren
Vorbereitungen zum Lagern inne und kamen, um die
beiden zu betrachten und zu verhöhnen. Benito Pa⸗
jaro, der Gambuſino, ließ ſie erſt einige Zeit gewähren
und trieb ſie dann zurück, indem er ſagte: „Gebt jetzt
Raum, damit wir beginnen können! Brennt dort
unter dem Aliſobaum ein Feuer an! Dann könnt ihr
ſehen, wie dieſe beiden Halunken zappeln werden.“
Der Aliſo ſtand ſo nahe am Waſſer, daß die Hälfte
ſeiner Krone ſich über dieſem befand. Seine untern Aeſte
waren ſo ſtark, daß ſie das Gewicht eines erwachſenen
Mannes leicht zu tragen vermochten. Man gehorchte
der Aufforderung und zündete in der Nähe des Stam⸗
mes ein Feuer an, wodurch die Krokodile vertrieben
wurden, die ganz nahe am Ufer im Waſſer gelegen
hatten.
„Sie werden bald wiederkommen,“ rief der Gam⸗
buſino dem Doktor in höhniſch⸗tröſtendem Ton zu.
„Habt alſo keine Sorge! Ihr werdet ihre Bekanntſchaft
baldigſt machen. Was denkt ihr wohl, was wir mit
euch beginnen werden?“
Die Gefragten verſchmähten es, ihm auf dieſe Frage
eine Antwort zu geben, und fo fuhr er fort: „Wir hän⸗
— 398 —
gen euch an den Aeſten auf, die da über das Waſſer
ragen, und machen die Riemen fo lang, daß die Kroko⸗
dile euch mit den Zähnen erreichen können. Auf dieſe
Weiſe werdet ihr gehängt und gefreſſen zu gleicher Zeit.“
Die beiden Deutſchen überlief ein Schauder, und
doch war die Todesart einem ihrer Feinde nicht ſchreck⸗
lich genug, nämlich Antonio Perillo, dem Stierkämpfer.
Dieſer ſtand neben dem Gambuſino und ſagte: „Das
iſt nichts, gar nichts für dieſe Halunken! Dieſer Menſch,
der vorgibt, ein Deutſcher zu ſein, iſt meiner Kugel ent⸗
gangen; dann gelang es ihm, aus unſrer Gefangenſchaft
zu entrinnen. Er hat uns alſo ſchon zweimal um das
Schauspiel, ihn fterben zu ſehen, betrogen, und dafür
ſoll er uns heute entſchädigen. Wenn wir ihn wirklich
und regelrecht hängen, ſo iſt er in einigen Augenblicken
tot. Was nützt es da, wenn ihn dann die Krokodile
freſſen? Die Kerls müſſen viel, viel länger in Todes⸗
angſt fchweben!“
„Was willſt du denn da vorſchlagen?“ fragte der
Gambuſino.
„Wir hängen ſie auf, ja; aber nicht am
Hals, ſondern unter den Armen, und laſſen ſie ſo tief
herab, daß ſie von den Krokodilen beinahe erreicht wer⸗
den, nicht ganz, ſondern beinahe. Welche Luſt, wie ſie
zappeln werden, wenn die Beſtien nach ihnen ſchnappen!“
„Aber wenn ſie dabei noch zu hoch hängen, werden
fie doch nicht zerriſſen!“
„Einſtweilen, einſtweilen nur,“ lachte der Stier⸗
kämpfer. „Erſt ſtehen ſie die Angſt des Todes aus, und
dann, wenn wir ein Ende machen wollen, laſſen wir ſie
an den Riemen tiefer herunter.“
— 394 —
Dieſer Vorſchlag fand allgemeinen Beifall, und
man ſchickte ſich an, die nötigen Vorbereitungen zu
treffen. |
„Gräßlich!“ flüſterte der Doktor feinem Diener zu.
„Sind das Menſchen? Da wollte ich doch lieber, ſie
würfen uns den Krokodilen ſofort vor!“
„Nein,“ antwortete Fritze, „denn da wäre es ſo⸗
gleich um uns jeſchehen; ſo aber jewinnen wir Zeit.
Nur Mut, Herr Doktor, nur Mut! Ick bin überzeugt,
daß der Vater Jaguar uns nicht im Stiche laſſen wird.
rad dieſe ausjeſuchte Irauſamkeit wird unſre Rettung
ſind.“
Es war mittlerweile dunkel geworden, und das
lodernde Feuer warf flackernde Schatten auf die Büſche
und das Geſchilf und blutrote Lichter auf die Fläche des
ſumpfigen Waſſers, aus dem man die Köpfe oder
Rachen der Krokodile hervorragen ſah. Man holte vier
Laſſos, von denen je zwei feſt zuſammengebunden wur⸗
den. Dann kletterten zwei Indianer auf den Baum,
jeder auf einen andern ſtarken Aſt, um die Laſſos da ſo
anzubringen, daß ſie ſich in einer Aſtgabel wie auf einer
laufenden Rolle bewegten. Dann kamen ſie, die Enden
der Laſſos feſthaltend, wieder herunter.
Hierauf wurden die Gefangenen von den Bäumen,
an die man ſie gefeſſelt hatte, losgemacht. Man band
ihnen die Hände auf dem Rücken und zog das eine,
äußere Ende des Laſſos unter den Armen durch, um es
ihnen auf dem Rücken feſtzuknebeln. Dann wurden die
andern Enden von mehreren kräftigen Männern ange⸗
zogen und, als die Gefangenen in der Luft ſchwebten,
an dem Stamm des Baumes feſtgeſchlungen.
Da die beiden Aeſte über das Waſſer ragten, ſo
hingen die beiden Gefangenen nunmehr auch über
— 395 —
dieſem. Sie ſchwangen an den Laſſos hin und her, und
dadurch wurden die in der Nähe befindlichen Krokodile
herbeigelockt, um mit lautem Zuſammenſchlagen der
Kinnladen nach ihnen zu ſchnappen.
Man hatte, dem Vorſchlag des Stierfechters ge⸗
mäß, die Laſſos ſo weit angezogen, daß die Tiere die
Füße der Gefangenen nicht ganz erreichen konnten;
dennoch warfen die letzteren, ſo oft ſich ein Rachen unter
ihnen öffnete, die Beine krampfhaft empor, ſo daß ſie
nicht ſtill hingen, ſondern ſich an den Riemen immer in
ſchleudernder Bewegung befanden. Es konnte ſich eins
der Tiere doch einmal ſo hoch emporſchnellen, daß es mit
den Zähnen ſein Ziel erreichte. Falls ein Laſſo riß, ſo
war der daran Hängende verloren; es war ihm gewiß,
augenblicklich zerfleiſcht zu werden.
Die Stimmung, in der ſich die beiden Deutſchen be⸗
fanden, läßt ſich natürlich nicht beſchreiben. Ob ſie ſtill
waren oder ſchrien, das konnte man nicht ſagen, denn
die Indianer ſtießen ein Freudengeheul aus, das jeden
andern Ton oder Laut unhörbar machte, und die Weißen
ſtimmten in dasſelbe ein. Wollte dieſes Heulen je ein⸗
mal aufhören, ſo fing es, wenn ein Krokodil zuſchnappte,
immer wieder von neuem an. Das währte wohl über
eine halbe Stunde lang, bis die Kehlen doch ermüdeten
und nun einige verlangten, daß ein Ende gemacht wer⸗
den ſolle. Dagegen aber ſtimmte der Stierfechter, indem
er rief: „Nein, jetzt noch nicht! Sie müſſen die Todes⸗
angſt noch ſtundenlang empfinden.“
| „Aber wir haben keine Zeit, uns hierher zu ſtellen,“
warf ein andrer ein. „Wir müſſen das Lager bereiten
und eſſen.“
„Wer verlangt denn, daß wir uns hierher ſtellen?
Dieſe Kerls hängen gut. Tun wir alſo unſre Arbeit!
— 396 —
Wenn wir dann zurückkehren, kann das Theater von
neuem beginnen.“
Man ſtimmte ihm bei und bald waren die beiden
Gefangenen allein. Keiner der Feinde blieb am Waſſer.
Dieſer letztere Umſtand war es, dem die ſo fürchterlich
Gequälten ihre Rettung zu verdanken haben jollten.
Fritze hatte ſich nämlich nicht geirrt, als er den
Vater Jaguar geſehen zu haben glaubte. Dieſer war,
wie ſchon erzählt, mit dem Inka und dem Anciano von
dem Arroyo claro fortgeritten, um die nahenden Abi⸗
pones zu erkundſchaften. Sein Weg hatte ihn nach dem
„Tal des ausgetrockneten Sees“ geführt. Er war über⸗
zeugt, daß der Marſch der Feinde nach dieſem Ort ge⸗
richtet ſein werde. Ritt er ihnen in gerader Richtung
entgegen, ſo begab er ſich in die Gefahr, auf der ebenen
und meiſt offenen Landſchaft von ihnen geſehen zu wer⸗
den. Darum war er von dieſer Richtung nach links
abgewichen. Doktor Morgenſtern war mit Fritze dieſer
abweichenden Spur gefolgt, infolgedeſſen beide den be⸗
reits erwähnten Umweg gemacht hatten.
Der Vater Jaguar war bis über die Grenze, die
das Gebiet der Cambas von demjenigen der Abipones
trennte, zurückgekehrt und dann auf einen weiten,
baum- und ſtrauchloſen Campo gekommen. Von hier
bog er nach rechts ab, um auf ſolche Weiſe hinter die
Feinde zu gelangen und aus ihren Spuren zu erſehen,
wie groß die Zahl der Gegner war.
Man ritt alſo jetzt nach Süden, nicht allzu ſchnell,
ſondern in leichtem Trab, um Zeit zur ſcharfen Beobach⸗
tung des Horizonts zu haben. Es war wohl zwei Stun⸗
den lang weder ein Menſch, noch eine Spur zu ſehen.
Dann aber kamen die drei Reiter an eine ungemein
breite Fährte, die rechtwinklig quer über ihre Richtung
— 397 —
lief. Man ſah, daß ſowohl Reiter als auch Fußgänger
hier vorübergekommen waren, aber wieviel es geweſen
waren, das konnte höchſtens geſchätzt, nicht aber genau
beſtimmt werden, da die hinteren die Eindrücke der vor⸗
derſten ausgetreten hatten.
„Es ſind die Abipones,“ meinte Anciano. „Sie
müſſen ſich ſehr ſicher fühlen, da ſie ſo breit marſchiert
ſind und eine ſo ſehr unvorſichtige Fährte zurückgelaſſen
haben. Ihre Zahl kann ich nicht ſagen.“
„Und doch möchte ich dies ſehr gern wiſſen,“ ſagte
der Vater Jaguar. „Wenn wir ihnen nachreiten, ſo
finden wir vielleicht einige Zeichen, die uns als Anhalt
dienen können. Ich ſehe am Gras, daß wir ſie wenig⸗
ſtens vier Reitſtunden vor uns haben. Ihre Schnellig⸗
keit kann die unſrige zwar nicht erreichen, aber wir
müſſen uns trotzdem ſputen, da wir gezwungen ſind, vor
ihnen im ‚Tal des ausgetrockneten Sees anzukommen.“
Einige Zeit ſpäter gelangten die drei an eine
Stelle, wo die Abipones gelagert hatten. Die Pferde
waren ſeitwärts auf die Weide gelaſſen worden, und
nun konnten die einzelnen Eindrücke beſſer auseinander
gehalten werden. Der junge Inka gab ſich Mühe, den
Platz zu unterſuchen. Der Vater Jaguar wollte ihm
Gelegenheit bieten, feinen Scharfſinn zu zeigen, und
fragte ihn: „Nun, Hauka, wie viele Feinde werden wir
vor uns haben?“
„Vielleicht fünfzig Reiter und fünfzehnmal mehr
Männer, welche keine Pferde haben,“ antwortete der
Jüngling mit großer Beſtimmtheit.
„Deine Schätzung hat das Richtige getroffen, ſie
wird ziemlich genau ſtimmen.“
„Was tun wir nun?“ fragte Anciano. „Reiten wir
noch weiter hinter ihnen her?“
— 3898 —
„Nein; wir wiſſen, woran wir ſind; wir haben
unſern Zweck erreicht und kehren zu unſern Cambas
zurück. Wir halten uns jetzt wieder nach Norden und
reiten, ſobald wir unſre Fährte erreichen, auf ihr zurück.“
Die drei ritten alſo nunmehr nördlich von der
Linie, und zwar parallel mit derſelben, auf der die Abi⸗
pones marſchierten. Stunden vergingen und wieder
Stunden. Der Weg hatte faſt zwei Tage in Anſpruch
genommen, denn die drei waren geſtern früh ausge⸗
ritten, und jetzt war der Mittag längft vorüber. Plötz⸗
lich hielt der Vater Jaguar ſein Pferd an und ſah über⸗
raſcht zur Erde nieder. Die drei befanden ſich jetzt an
der Stelle, wo Morgenſtern und ſein Diener zu der Ein⸗
ſicht gekommen waren, daß fie falſch geritten ſeien.
„Sonderbar!“ antwortete er. „Da ſind fünf Reiter
hinter uns hergekommen und nach Süden abgebogen!“
„Vom ‚Tal des ausgetrockneten Sees“ her,“ er⸗
gänzte Anciano.
„Es ſind jedenfalls Freunde von uns, da es dort
noch keine Abipones geben kann. Sie ſind nach dem
Sumpf der Knochen hinüber. Was hat das zu be⸗
deuten? Welch eine Unvorſichtigkeit von dieſen Cambas!“
Haukaropora war der Spur eine kleine Strecke ge⸗
folgt. Als er zurückkehrte, hörte er dieſe Worte und
ſagte: „Es ſind keine Cambas, welche dieſe Unvorſich⸗
tigkeit begangen haben. Ich ſollte nicht ſprechen, weil
ich ein Knabe bin, aber wenn mich nicht alles trügt,
ſo iſt der kleine, gelehrte Mann mit ſeinem Diener hier
geritten.“
„Das wären nur zwei Perſonen; ich ſehe aber die
Spuren von fünf Pferden im Gras.“
„Sie haben die Fährte noch nicht genau betrachtet.
— 89 —
Wenn Sie das tun, ſo werden Sie bemerken, daß zwei
Reiter drei ledige Pferde neben ſich geführt haben.“
Als der Vater Jaguar hierauf aus dem Sattel
ſtieg, überzeugte er ſich ſehr leicht, daß der junge Inka
ſich nicht geirrt hatte.
„Zwei Reiter mit drei ledigen Pferden, alſo wohl
mit Packpferden!“ dachte er. „Es iſt dem Doktor aller⸗
dings zuzutrauen, daß er nicht an die Gefahr, ſondern
nur an dieſe alten Knochen denkt! Er hat Packpferde
mitgenommen, um ihnen die Knochen aufzuladen.“
„So wundert es mich nur, daß Senor Geronimo
ihnen erlaubt hat, ſich zu entfernen.“
„Der? Es ihnen erlaubt? Würde ihm nie ein⸗
fallen! Sie haben ſich heimlich entfernt, bei Nacht und
Nebel, ohne daß es jemand bemerkt hat. Darum ſind ſie
erſt vor ſo kurzem hier geweſen. Es bleibt uns wirklich
nichts andres zu tun, als höchſt vorſichtig nach dem
Sumpf zu reiten, um zu ſehen, ob wir die Gefahr von
den Unvorſichtigen abwenden können.“
Sie folgten nun der Spur der beiden Miſſetäter.
Es war notwendig, Galopp zu reiten, denn der Sumpf
lag zwei Reitſtunden entfernt, und gerade ſo lange hatte
man noch bis zum Anbruch der Finſternis Zeit.
Während ſie über die Ebene flogen, hielten ſie die
Augen ſcharf nach der Gegend gerichtet, woher die Feinde
zu erwarten waren. Es verging eine Stunde und noch
eine halbe, der Sumpf konnte nicht mehr weit entfernt
ſein. Da deutete der Inka nach Oſten und ſagte: „Dort
kommen Reiter. Sie bilden einen großen Punkt; darum
ſehe ich ſie: ſie aber bemerken uns noch nicht, da wir nur
drei Perſonen ſind.“
„Wir ſind gezwungen, einen Bogen zu ſchlagen, um
ihnen aus der Sehweite zu kommen,“ riet Hammer.
— 400 —
„Wenn wir den Sumpf zwiſchen ſie und uns bringen,
werden ſie uns wahrſcheinlich nicht entdecken.“
Nach einigen Sekunden ſchon war der Punkt, den
Haukaropora geſehen hatte, verſchwunden. Die drei
ſchlugen einen weiten, nach Weſten gerichteten Bogen
und verlängerten ihn zu einem Halbkreis, der ſie wieder
öſtlich führte. Da ſahen ſie in der Ferne Bäume ſtehen,
dann auch die niedrigeren Sträucher, und hielten nach
wenigen Minuten am weſtlichen Ende des Sumpfes, ſo,
daß dieſer ſich zwiſchen ihnen und den heranziehenden
Abipones befand. Die Sonne begann jetzt hinter dem
Horizont zu verſchwinden.
Sie ſtiegen ab und banden ihre Pferde an. Der
Vater Jaguar nahm ſein Fernrohr aus der Taſche und
kletterte auf einen Baum, da er von da oben aus weiter
ſehen konnte. Ja, da hinten kamen ſie, die Abipones,
voran die Reiterſchar, die aus lauter Weißen zu beſtehen
ſchien, und hinter ihr die Indianer zu Fuß. Hammer
ſuchte mit ſeinem Rohr das Schilf ab, konnte aber nie⸗
mand entdecken, da Morgenſtern und Fritze in gebückter
Haltung an ihrem wertvollen Fund arbeiteten.
Der junge Inka hatte auch einen Baum beſtiegen
und rief dem Vater Jaguar ſchon nach wenigen Augen⸗
blicken zu: „Fünf Pferde, Senor! Ich ſehe fie.“
„Wo?“
„Da drüben an den Bäumen hinter dem Gebüſch.
Von Ihrer Stelle aus kann man ſie nicht ſehen.“
„Da müſſen ſie doch von den Abipones bemerkt
werden?“
„Ja. Die Reiter galoppieren Beate auf fie los.
Jetzt ſteigen fie bei ihnen ab.“
„O wehe! Man wird die Unglüclichen ſogleich
entdecken.“
— 101
Leider dämmerte es jetzt ſo raſch, daß die fernere
Beobachtung unmöglich wurde. Der Vater Jaguar ſtieg
alſo, ebenſo wie der Inka, vom Baum herab und ſagte:
„Ich werde mich hinüberſchleichen.“
„Das iſt gefährlich,“ warnte Anciano,
„Ich fürchte die Abipones nicht!“
„Ich meine nicht dieſe, ſondern die Krokodile, die
im Schilf verſteckt ſind.“
„Jetzt iſt es noch hell genug, dieſe Tiere zu ſehen.
Horch!“
Man hörte laute Stimmen von drüben herüber⸗
ſchallen.
„Die Unvorſichtigen ſind erwiſcht worden,“ fuhr
Hammer fort. „Ich muß erfahren, was mit ihnen ge⸗
ſchieht.“
„So gehe ich mit!“ ſagte Anciano.
„Und ich auch!“ ſtimmte Hauka ein.
„Einer muß hier bei den Pferden bleiben. Anciano
mag mit mir gehen.“
Hammer und der Alte entfernten ſich, um in geduck⸗
ter Haltung durch das Schilf zu ſchleichen. Solange es
Sträucher gab, hinter denen ſie Deckung fanden, war
dies nicht ſchwer; bald aber waren ſie gezwungen, ſich
niederzulegen. Sie mußten ſich dabei in acht nehmen,
das Schilf nicht zu bewegen; die ſcharfen Halme ſchnitten
ihnen in die Hände, was ſie jedoch nicht beachteten. Oft
mußten ſie durch eine übelriechende Lache kriechen, deren
Jauche ihnen bis an die Ellbogen reichte. So kamen ſie
näher und näher und befanden ſich höchſtens noch ſechzig
Schritte von der Stelle entfernt, wo Hauka die fünf
Pferde angebunden geſehen hatte.
Bis jetzt waren ſie ſo vorſichtig geweſen, die Köpfe
nicht über die Spitzen des Schilfes zu erheben; nun aber
May, Das Vermächtnis des Inka 2
— 402 —
galt es, den letzten Reſt des Tageslichts zu benutzen. Der
Vater Jaguar hatte ſeinen Hut längſt abgenommen und
zwiſchen den Zähnen getragen; jetzt riß er ein Bündel
Schilf aus, hielt es wie einen Fächer in die Höhe und er⸗
hob dann hinter ihm den Kopf ſo weit, daß er beobachten
konnte, ohne ſelbſt geſehen zu werden.
Da ſtand der Doktor mit ſeinem Diener bei den
Weißen, die mit den Abipones gekommen waren, und
etwas weiter zurück waren die Roten in verſchiedenen
Gruppen zu ſehen. Fritze hielt ſein Geſicht gerade nach
der Stelle gerichtet, wo ſich die beiden Lauſcher befanden,
während die andern alle in eine andre Richtung blickten,
nämlich auf die beiden Gefangenen. Da erhob ſich der
Vater Jaguar raſch zu ſeiner vollen Höhe, aber nur für
einen einzigen Augenblick, gab Fritze einen Wink und
ließ ſich darauf ſchnell wieder nieder.“
„Was wagen Sie, Senor!“ flüſterte ihm Anciano
zu. „Dieſe Bewegung kann uns das Leben koſten.“
„Nun nicht, denn man hat ſie nicht bemerkt; aber
Fritze hat mich geſehen und wird ſeinem Herrn ſagen,
daß er hoffen darf.“
„Was werden ſie mit den beiden unbedachtſamen
Menſchen machen?“
„Das werden wir bald ſehen, denn es ſcheint, daß
ſie Beratung halten. Ziehe Schilf aus dem Boden und
ſtecke es vor dich hin! Dann kannſt du bequem beobach⸗
ten, was geſchieht.“
Anciano befolgte dieſen Rat. Die beiden ſahen,
daß der Gambuſino auf ſeine Gefährten einſprach; aber
ſie konnten die Geſichter ſchon nicht mehr deutlich er⸗
kennen. Dann hörten ſie laute, zuſtimmende Rufe,
ohne aber die einzelnen Worte verſtehen zu können. Es
wurde dunkel, und man brannte unter einem Aliſo⸗
— 403 —
baum ein Feuer an. Die beiden Gefangenen wurden
in deſſen Nähe geſchafft. Die Flamme warf ihren
Schein auf die Geſtalten und auf die Geſichter. Da
entfuhr dem Vater Jaguar ein kurzer Schrei, den ſeine
Feinde jedenfalls gehört hätten, wenn ihre eigenen
Stimmen weniger laut geweſen wären. N
„Was iſt's? Was gibt's?“ fragte Anciano.
Hammer antwortete nicht. Sein Auge haftete mit
einem wilden Blick auf der Männergruppe, die dort am
Feuer ſtand.
„Warum riefen Sie?“ fuhr der Alte fort. „Wenn
man Sie gehört hätte! Was haben Sie geſehen?“
Er hörte, daß der Vater Jaguar ſchwer, faſt
röchelnd, atmete, und wiederholte ſeine letzten Worte.
Da endlich antwortete der Gefragte: „Siehſt du den
langen, ſtarken Menſchen, der wie ein Rieſe unter den
andern ſteht? Er ſpricht eben jetzt auf die Gefangenen
. ein.“
„Natürlich ſehe ich ihn, und ich kenne ihn gar wohl.“
„Was? Wie? Wirklich?“ ſtieß Hammer ſchnell
hervor. „Du kennſt ihn? Wer — wer iſt er?“
„Benito Pajaro, den ſie den Gambuſino nennen.“
„Ah! O! Der — der — — der! Er iſt es, den
ich ſeit Jahren ſuche!“
Er hatte bei dieſen Worten ſeine Stimme ſo er⸗
hoben, daß Anciano ſchnell einfiel: „Nicht ſo laut,
Senor, nicht ſo laut! Sie verraten uns ja! Was iſt
mit Ihnen? Sie, der vorſichtigſte Mann, den ich
kenne, bringen uns in eine ſolche Gefahr! Haben Sie
etwas mit dem Gambuſino?“
„Ob ich etwas mit ihm habe!“
Er ſprach nur dieſe Worte; ſie kamen dumpf
zwiſchen ſeinen Lippen hervor, und dann hörte der Alte
— 404 —
ihn mit den Zähnen knirſchen. Darauf blieb er ſtill.
Das war um die Zeit, wo die Laſſos aneinander ge⸗
knüpft wurden; dann ſtiegen, wie ſchon erwähnt, die
beiden Indianer auf den Baum. Als Anciano dies
ſah, fragte er mehr ſich ſelbſt als ſeinen Gefährten:
„Was haben ſie vor? Wozu ſchaffen ſie die Riemen
auf die Aeſte?“
„Ich vermute es,“ antwortete der Vater Jaguar,
jetzt wieder in der ruhigen Weiſe, welche ihm ſo eigen⸗
tümlich war.
„Will man die Gefangenen etwa aufhängen?“
„Ja.“
„So können wir ſie nicht retten!“
„Vielleicht doch. Man will die Gefangenen nicht
am Hals aufhängen. Wollte man das tun, ſo hätte
man es bequemer und brauchte nicht die Aeſte zu wäh⸗
len, die über das Waſſer ragen. Paß auf!“
Es folgte die ſchon beſchriebene Szene. Als die
beiden Gefangenen an den Aeſten hingen und die Kro⸗
kodile herbeigeſchoſſen kamen, flüſterte Anciano: „Welche
Grauſamkeit, Seßor! Sehen Sie nur, wie die Tiere
nach ihnen ſchnappen! Was raten Sie uns zu tun?“
„Jetzt noch nichts. Wir müſſen noch warten. Die
Lage der armen Teufel iſt zwar ſchrecklich, aber keines⸗
wegs ſchon lebensgefährlich. Die um die Bruſt gelegten
Riemen drücken ein wenig; das iſt auszuhalten.“
„Ich möchte am liebſten mitten unter die Halun⸗
ken hineinſpringen!“
„Das würde nichts helfen, ſondern nur uns mit
denen verderben, die wir retten wollen. Alſo Geduld!“
Sie machten ſich dieſe Mitteilungen in ziemlich
lautem Ton, da die Abipones ein Geheul wie die Teufel
erhoben hatten. Dies verſtummte nach und nach; eine
— 405 —
kleine Weile verging, und dann ſahen die beiden, daß
die Abipones mit ihren weißen Verbündeten den Platz
verließen und ſich um die am Baume Hängenden nicht
mehr zu kümmern ſchienen.
„Jetzt hin, Senor!“ flüſterte Anciano dem Vater
Jaguar zu. „Die Zeit zum Handeln iſt da!“
Er wollte auf. Hammer drückte ihn nieder und
antwortete in befehlendem Ton: „Bleib! Willſt du
alles verderben? Siehſt du denn, wo unſre Feinde ſich
befinden?“
„Nein; es iſt ja dunkel; aber fort ſind ſie doch!“
W Vielleicht; ja ſogar wahrſcheinlich. Sie laſſen die
Gefangenen hängen, um fie fo lang wie möglich zu quä-
len und erſt ſpäter den Krokodilen zu überlaſſen. Jetzt
werden ſie Material zuſammentragen, um da draußen,
wo ſie lagern wollen, Feuer anzuzünden; ſie ſind alſo
noch in der Nähe. Dann, wenn ihre Feuer brennen,
können wir ſie ſehen, und dann iſt die Gefahr für uns
nicht ſo groß wie jetzt.“
„Sie werden Wächter bei dem Baum laſſen!“
„Denen geben wir unſre Meſſer. Gerade ihre
Grauſamkeit, die Todesqual der Gefangenen zu verlän⸗
gern, läßt vermuten, daß ſie ſich ganz ſicher fühlen.
Wir haben Zeit, das verſichere ich dir.“
„Und ich möchte das Gegenteil behaupten, Seüor.
Die Feinde müſſen ſich doch ſagen, daß wir uns in der
Nöhe befinden!“
„Wer weiß, was dieſer Fritze ihnen geſagt hat!
Wenn es ſich um einen Wunſch ſeines Herrn handelt,
kann er die größte Dummheit begehen; ſonſt aber iſt er
ein ſehr pfiffiger Burſche, und ich glaube nicht, daß er
ſich verraten hat.“
— 406 —
Jetzt ſah man draußen auf der Ebene ein Feuer
nach dem andern aufleuchten. Das Lager wurde in
ziemlicher Entfernung von dem Sumpfe aufgeſchlagen,
und der Vater Jaguar ſah zu ſeiner Genugtuung, daß
der Baum, woran die Gefangenen hingen, gegen das
Lager hin durch ein Geſträuch gedeckt war, das die Ret⸗
tung der mit dem Tode Bedrohten außerordentlich be⸗
günſtigte.
Noch immer liefen Indianer hin und her, um
Schilf und Holz nach den Feuern zu tragen. Dies
mußte man vorüberlaſſen. Noch ſo lange zu warten,
dieſe Aufgabe ging faſt über die Kräfte des alten An⸗
ciano. Er geſtand: „Senor, wenn es nicht bald los⸗
geht, ſo werde ich auch Dummheiten machen! Ich
möchte dieſe Hunde alle erwürgen!“
„Sei ſtill! In mir kocht es noch weit ärger als in
dir. Du haſt keine Ahnung von dem, was ich ſeit einer
Viertelſtunde empfinde. Ich muß mich noch viel mehr
zwingen als du, ruhig zu ſein. — Aber wie ich ſehe,
wird jetzt Fleiſch verteilt. Das zieht die Leute an und
hält ſie jedenfalls ſo lange von hier fern, bis wir fertig
find.”
Man ſah, daß die Abipones ſich alle an einem
Punkt des Berges verſammelten; auch diejenigen, die
noch mit Zutragen des Feuerungsmaterials beſchäftigt
waren, eilten dorthin. Der Rand des Sumpfes war
von Beobachtern frei. Das Feuer, das unter dem
Baum brannte, hatte keine Nahrung erhalten und
brannte nicht mehr hell genug, die Umgebung ſo zu er⸗
leuchten, daß ſie vom Lager aus deutlich geſehen werden
konnte. Der Vater Jaguar ſprang auf und rannte aun
den Baum zu; der alte Anciano folgte ihm augenblick⸗
lich. Die ſchon erwähnten Büſche ſtanden zwiſchen ihnen
\
\
— 407 —
und dem Lager. Nun galt es, ſchnell, aber auch beſon⸗
nen zu handeln.
Der Vater Jaguar ſchlang ſich ſeinen Laſſo vom
Gürtel, rollte ihn wurffertig zuſammen und rief dabei
den an dem Baume Hängenden mit gedämpfter Stimme
zu: „Die Hilfe iſt da. Macht euch ſteif und unbeweg⸗
lich, bis ihr den feſten Boden erreicht!“
Er warf den Laſſo, und zwar ſo geſchickt, daß das
freie Ende ſich um den Leib des Doktors ſchlang. Dann
gebot er Anciano: „Binde den Riemen los, woran er
hängt, und halte ihn aber feſt! Du läßt ihn in der
Weiſe über den Aſt laufen, in der ich den Doktor an
meinem Laſſo herüberziehe!“
Anciano tat, wie ihm befohlen worden war. Er
band den Laſſo von dem Stamm los, hielt ihn aber feſt,
damit der Doktor nicht in das Waſſer fiel; dann ließ er
ihn laufen, während Hammer den zwiſchen Himmel und
Erde Schwebenden aus der Luft und herüber an das
Ufer zog. Ein Schnitt mit dem Meſſer, und die Arme
des Geretteten waren frei. Er wollte ſprechen und ſich
dabei den Laſſo von der Bruſt entfernen; da aber gebot
der Vater Jaguar: „Stehen Sie ſtill und ſprechen Sie
jetzt nicht! Der Laſſo bleibt vorerſt an Ihrem Leib!“
Er meinte damit nicht den ſeinigen, den er ſchon
losgebunden hatte, ſondern denjenigen, woran der Dok⸗
tor gehangen hatte. Jetzt wieder eine Schlinge legend,
warf er ſie dem Diener um den Leib, worauf Fritze ganz
in derſelben Weiſe herunter⸗ und herübergeholt wurde.
Darauf ſagte er: „Man muß denken, daß ihr von den
Krokodilen herabgeriſſen und verzehrt worden ſeid; dar⸗
um darf ich euch nicht losbinden und auch nicht los⸗
ſchneiden, ſondern ich muß die Laſſos ſo entzwei machen,
daß es ſcheint, als ob ſie abgeriſſen worden ſeien.“
— 408 —
Er ſägte nahe an den Körpern der Geretteten die
Riemen auseinander, indem er ſie mit der Meſſer⸗
ſchneide aufſchabte und dann alles zerriß. Dann wurden
die Laſſos wieder an den Baumſtamm befeſtigt, wie ſie
vorher daran gebunden geweſen waren. Die abgeriſſe⸗
nen Enden hingen nun ganz ſo von den Aeſten über
dem Waſſer herab, als ob diejenigen, die daran gehan⸗
gen hatten, von den Krokodilen herabgezerrt worden
ſeien.
Dies war weit ſchneller geſchehen, als man es be⸗
ſchreiben kann, und während es geſchah, hatte der Vater
Jaguar auch ein ſehr ſcharfes Auge mit auf das Lager
gehabt. Dort fiel es jetzt keinem Menſchen ein, ſich um
die Gefangenen zu bekümmern. Man war mit dem
Eſſen beſchäftigt, und erſt als dies vorüber war, be⸗
merkte man zufällig, daß das Feuer unter dem Baum
nicht mehr brannte. Der Gambuſino ſchickte einen
Mann hin, um es von neuem anzuzünden; kaum aber
hatte dieſer den ihm gewordenen Befehl erfüllt, ſo kam
er eiligſt herbeigelaufen und meldete: „Seüores, denken
Sie ſich, was geſchehen iſt! Die Krokodile haben unſre
Gefangenen gefreſſen!“
Niemand wollte dieſes glauben, und der Gambu⸗
ſino und einige andere ſprangen auf, um ſich zu über⸗
zeugen, ob es wahr ſei. An Ort und Stelle angekom⸗
men, ſah man beim Schein des wieder brennenden
Feuers die beiden Laſſoenden von den Aeſten hängen.
Darunter lagen die Krokodile und glotzten mit ſtieren
Blicken nach dem Ufer hin.
„Wahrhaftig, ſie ſind weg, ſind fort!“ rief Antonio
Perillo, der Stierkämpfer. „Wer hätte das gedacht?
Wie kann das geſchehen ſein?“
— 409 —
„Die Krokodile ſind doch jedenfalls hoch genug ge⸗
ſprungen, um ſie faſſen zu können,“ antwortete der Ka⸗
pitän Pellejo.
„Schwerlich!“ meinte der Gambuſino. „So hoch,
wie dieſe Kerls hingen, kann ſich kein Krokodil in die
Höhe ſchnellen. Sollte ſich jemand hier befunden haben,
der ſie abgeſchnitten hat?“
„Abſchneiden? Wer konnte ſo weit hinüber⸗
langen?“
„Hm! Das iſt wahr. Zieht doch einmal die Laſſos
von den Aeſten herunter! Wir werden gleich ſehen, ob
es mit dem Meſſer geſchehen iſt.“
Man holte die Enden herab und unterwarf ſie einer
ſehr genauen Unterſuchung, wobei man jedoch feſtſtellen
mußte, daß die Riemen wirklich zerriſſen und nicht zer⸗
ſchnitten ſeien.
„So ſind dieſe Tiere doch ſo hoch geſprungen!“
meinte der Gambuſino. „Sie müſſen großen Hunger
gehabt haben. Und geſchmeckt hat es ihnen jedenfalls
ausgezeichnet, denn ſie liegen da, als ob ſie noch mehr
haben wollten. Nun, ſo oder ſo, wir ſind die Feinde
los; ſie haben ihren Lohn!“
„Was das betrifft,“ ſagte Perillo ärgerlich, „ſo bin
ich ſehr enttäuſcht, daß das gar ſo ſchnell gegangen iſt.
Sie ſollten länger hängen, viel länger! Und ich wollte
dabei ſein, wenn ſie zerriſſen wurden! Wäre das Feuer
nicht ausgegangen, ſo hätten ſich die Beſtien mehr ge⸗
ſcheut und wären nicht ſo zudringlich geworden. Das
hätte ich bedenken ſollen!“
Morgenſtern und Fritze waren indeſſen von ihren
beiden Befreiern nicht durch das Schilf — denn das war
jetzt bei der Dunkelheit gar nicht nötig, vielmehr im Ge⸗
genteil ſehr gefährlich — ſondern um den Sumpf herum
—
— 410 —
nach der Stelle geführt worden, wo der Inka wartete.
Sie hatten bis jetzt geſchwiegen; nun aber meinte der
Doktor, indem er tief Atem holte, in deutſcher Sprache
zu dem Vater Jaguar: „Sie haben uns vorher das
Sprechen verboten. Das war ſchrecklich! Nein, das
war mehr als ſchrecklich; das war ganz unbeſchreiblich
entſetzlich! Mir zittert jedes Glied meines Leibes noch
im gegenwärtigen Augenblick!“
„Und mich auch!“ ſtimmte Fritze bei. „Erſt war ick
ziemlich juten Mutes; aber als ick am Baum hing und
unter mich die Krokodilers ſo ſchadenfroh lächeln ſah, da
jab ick mir verloren.“
„Hatten Sie mich geſehen?“ fragte der Vater Jaguar.
„Ja,“ entgegnete Fritze, „ick hatte Ihnen erkannt
und dachte bei mir ſelbſt, daß Sie uns nicht verlaſſen
würden.“ |
„Jetzt Tagen Sie mir vor allen Dingen, ob Sie dar⸗
über, wie Sie an den Sumpf gekommen ſind, ausgefragt
wurden!“
„Natürlich hat man uns Triminalifiert; ick habe
aber nichts geſtanden.“
Er berichtete über das Verhör, das man mit ihm
angeſtellt hatte. Darauf ſagte Hammer, der bisher in
zornigem Ton geſprochen hatte, in etwas milderer Weiſe:
„So haben Sie glücklicherweiſe doch nicht lauter Fehler
gemacht. Wie aber ſind Sie denn auf die unglückliche
Idee gekommen, nach dem Sumpf zurückzukehren?“
„Daran bin ich ſchuld,“ antwortete der kleine Ge⸗
lehrte. „Ich konnte die Knochen nicht vergeſſen. Sie
lagen mir im Kopf; ich wollte und mußte ſie haben,
und ſo ruhte ich nicht eher, als bis Fritze einwilligte,
mit nach dem Sumpf, lateiniſch Palus genannt, zurück⸗
zukehren.“
— 41 —
„Welche Unvorſichtigkeit! Sie werden mir ſpäter
erzählen, wie das alles geſchehen iſt. Wir müſſen auf⸗
brechen. Sie haben keine Pferde mehr. Da Sie jeden⸗
falls ſehr angegriffen find, werden Sie reiten müſſen.
Ich gehe mit Anciano zu Fuß nebenher.“
„Nein, ich laufe, Seßor,“ bemerkte der Inka. „Ich
bin jung und nur ein Knabe; Sie aber und mein An⸗
ciano haben — —“
„Laß es gut ſein!“ unterbrach ihn Hammer. „Es
bleibt bei dem, was ich geſagt habe.“
Erſt jetzt band er dem Doktor und deſſen Diener
die Laſſoenden los, die er aber vorſichtigerweiſe nicht
wegwarf, ſondern zu ſich ſteckte.
Es war anzunehmen, daß die Feinde in gerader
Linie nach dem ‚Tal des ausgetrockneten Sees“ reiten
würden. Damit ſie nicht ſeine Spur bemerken möchten,
hielt der Vater Jaguar es für geraten, ſich in gehöriger
Entfernung, aber doch immer parallel mit dieſer Linie
zu halten. Es wurde aufgebrochen, die beiden Deutſchen
und der Inka zu Pferde; der Vater Jaguar ging mit
Anciano mit langen, ausgiebigen Schritten voran, um
den andern den Weg anzugeben.
Als nach einiger Zeit die Mondesſichel erſchien,
wurde es heller, als es vorher geweſen war, und ſo be⸗
merkte der alte Anciano, in welch gebückter und nach⸗
denklicher Haltung der Vater Jaguar jetzt an ſeiner
Seite dahinſchritt. Den ſonſt ſo rüſtigen, kräftigen
Mann ſchien irgend etwas ſchwer und tief niederzudrücken.
Viertelſtunde um Viertelſtunde verging, ohne daß er ein
Wort ſagte, und nur zuweilen war ein eigentümlicher,
knirſchender Ton zu vernehmen, als ob ſeine Zähne
hart aufeinander getroffen hätten. Darum unterbrach
der Alte endlich das Schweigen, indem er halblaut
— 412 —
fragte: „Sie haben einen Gedanken, der Ihnen viel zu
ſchaffen macht. Wollen Sie ihn mir mitteilen, Senor?“
„Du ſollſt ihn erfahren, Anciano,“ antwortete der
Deutſche. „Ich habe dieſen Gambuſino während einer
ganzen Reihe von Jahren mit Schmerzen geſucht, ohne
ihn ein einziges Mal getroffen zu haben.“
„Das iſt ſonderbar! Hätten Sie mir dieſen Wunſch
mitgeteilt, ſo wäre er Ihnen ſchon längſt in Erfüllung
gegangen.“
„Eine ſolche Mitteilung hätte nichts gefruchtet,
denn ich wußte nicht, daß der Gambuſino derjenige iſt,
den ich ſuche. Aber jetzt habe ich ihn wiedererkannt.
Ich habe ihn nicht nur heute mit dem Auge, ſondern
ſchon vorher mit dem Ohr erkannt. Als wir uns zuerſt
da unten am Rio Salado trafen und eine Stunde ſpäter
die beiden, die wir heute vom Tod errettet haben, aus
der Hand der Abipones befreiten, da hörte ich eine
laute, befehlende Stimme. Ihr Klang machte, daß ich
mitten in der größten Eile halten blieb; aber wir hatten
Wald zur Rechten und zur Linken, wodurch die Stimme
eine andre Klangfarbe erhielt. Aber jetzt — jetzt iſt er
erkannt!“ |
„Er iſt ein Feind von Ihnen?“
„Ich habe eine Rechnung mit ihm auszugleichen,
und die Quittung wird mit Blut geſchrieben — —
morgen ſchon, wie ich hoffe!“
„Es iſt alſo Blut gegen Blut?“
„Ja. Er hat meinen Bruder ermordet droben im
Norden. Wie das geſchehen iſt, vermag ich nicht zu er⸗
zählen. Es war entſetzlich, ſo entſetzlich, daß mir das
Haar darüber weiß geworden iſt. Ich verfolgte ihn;
ich erfuhr, daß er ſich nach Südamerika gewendet hatte.
Argentinien war ſeine Heimat. Ich kam hierher, um
— 418 —
ihn zu ſuchen. Ich durchritt das Land; ich befuhr alle
Flüſſe; ich überkletterte alle Berge, ohne ihn zu treffen,
heute aber habe ich ihn, und nun kommt er mir nicht
wieder aus dem Auge, bis — die Quittung geſchrieben
it!” |
„So nehmen Sie den einen und ich nehme den
andern!“
„Wen?“
„Den Stierkämpfer. Ich werde ihn nach dem
Skalp fragen, den er dem Leutnant Verano gezeigt hat.“
Dreizehntes Kapitel
Des Stierkämpfers Geheimnis
Hm Sumpf waren die Feuer ausgegangen; die
Roten und die Weißen ſchliefen, weil morgen mit dem
früheſten aufgebrochen werden ſollte. Ein Wächter
ſtand bei den Pferden; aber er war es doch nicht allein,
der wachte, ſondern es gab außer ihm noch drei, die von
dem Schlaf nichts wiſſen wollten, nämlich den Gambu⸗
fino, den Stierkämpfer und den Kapitän Pellejo.
Dieſer letztere ſtand zu den beiden andern in ganz
demſelben Verhältnis, in dem ſich der Leutnant Verano
dem Vater Jaguar gegenüber fühlte: er war Offizier;
die beiden andern waren nicht Militärs, und ſo glaubte
er, höher zu ſtehen als ſie. Er war während der letzten
Zeit oft mit ihnen in Streit geraten und hatte immer
nachgeben müſſen, weil der Einfluß des Gambuſino auf
die Abipones größer als der ſeinige war. Das hatte
ihn tief verdroſſen und mißtrauiſch gemacht.
Heute, als die beiden Gefangenen von dem Baum
verſchwunden waren, und man den Lagerplatz wieder
aufgeſucht hatte, ſaß er bei den Soldaten, die ſich am
Palmenſee zuſammengefunden hatten und für deren
Anführer er ſich hielt. Da trat der Gambuſino mit
Perillo zu ihnen und ſagte: „Senor Kapitän, wir wer⸗
den morgen das große Dorf der Cambas erreichen und
— 415 —
ſofort angreifen; ich werde Ihnen jetzt Ihre Inſtruktion
erteilen.“
„Meine Inſtruktion?“ fragte Pellejo verwundert.
„Eine Inſtruktion hat man doch nur von dem Vorge⸗
ſetzten entgegenzunehmen!“
„Sie meinen nicht, daß ich der Ihrige bin?“
„Nein.“
„Ich wußte, daß dies Ihre Anſicht iſt, und habe
bis jetzt geſchwiegen. Nun es aber morgen zum Kampf
kommt, muß ich Sie aufklären. Ich bitte Sie, zu leſen!“
Er zog eine kleine Blechkapſel aus der Taſche, öff⸗
nete ſie, nahm ein zuſammengefaltetes Papier heraus,
ſchlug es auseinander und gab es dem Kapitän. Dieſer
las es beim Schein des Feuers, wurde bleich im Geſicht
und gab es ihm wieder zurück.
„Nun,“ fragte der Gambuſino, „wer iſt der Kom⸗
mandierende?“
„Ich habe mich überzeugt, daß ich Ihnen zu ge⸗
horchen habe.“
„Nicht nur Sie allein, ſondern auch alle Ihre Un⸗
tergebenen. Sagen Sie es ihnen!“
„Ich werde es tun, Senor,“ rief der Hauptmann,
indem er aufſtand und, kaum imſtande, ſeinen Zorn zu
beherrſchen, das Feuer verließ.
Er ſchritt ein Stück in die Nacht hinein, um ſeiner
Wut Herr zu werden. Als er ſpäter zurückkehrte, war
das Feuer erloſchen. Dennoch bemerkte er, daß der
Gambuſino und der Stierkämpfer ſich nicht an ihren
Plätzen befanden. Er legte ſich neben ſeinem Korporal
nieder und fragte dieſen, als er bemerkte, daß er noch
nicht eingeſchlafen war, leiſe: „Wo iſt der neue Oberft
oder gar General?“
— 46 —
„Er ging nach dem Sumpf und wird dort mit Pe⸗
rillo ſitzen, um ungeſtört Pläne machen zu können.“
„Was geſchah, als ich fort war?“
„Nichts weiter, als daß er auch uns ſeine Voll⸗
macht zeigte.“
„Sie iſt echt?“
„Ja, ſie iſt vom Vizepräſidenten der Konfödera⸗
tion unterſchrieben und beſiegelt. Wir müſſen ihm ge⸗
horchen.“
„Und ich habe euch nichts mehr zu befehlen?“
„Senor Kapitän, ich ſagte, daß wir gehorchen
müſſen. Wir ſind Soldaten, und der Ungehorſam würde
uns den Kopf koſten.“
„Das iſt Treue! Wer hätte gedacht, daß es ſo
komme!“ |
Er hüllte ſich in feine Decke und verſuchte zu ſchla⸗
fen. Er hatte ganz vergeſſen, daß er jetzt ſelbſt Empörer,
Aufrührer war und alſo gar kein Recht beſaß, auf ſeinen
Untergebenen zornig zu ſein. Er hatte hier eine Rolle
ſpielen wollen, um ſpäter ſchnell zu avancieren, und war
nun ſo plötzlich kalt geſtellt worden. Das ließ ihn nicht
ruhen. Er dachte an den Gambuſino und an Perillo.
Dieſe beiden hatten jedenfalls etwas gegen ihn vor. Ob
es möglich war, dies zu erfahren? Warum nicht? Viel⸗
leicht zeigte ſich der Zufall günſtig. Er hob den Kopf, um
zu lauſchen. Alle ſchliefen; auch ſein Nachbar, der Kor⸗
poral, war jetzt eingeſchlafen. Er wickelte ſich aus der
Decke und kroch fort, langſam und unhörbar, nach dem
Sumpf hin. Es dauerte lange, ehe er die Bäume des
Ufers im Mondenſchein ſtehen ſah. Er erreichte ſie,
ohne die Geſuchten zu bemerken, und kroch auf gut Glück
weiter, am Rande hin, immer möglichſt im Schutz der
Sträucher und des Schilfes. Nach einiger Zeit hörte er
— 417 —
leiſe Stimmen. Noch einige Ellen weiter, und er ſah ſie
ſitzen, eng nebeneinander, auf einem trockenen Grasplätz⸗
chen. Ein Wiſch hohen Schilfes erhob ſich ganz in ihrer
Nähe. Er wagte es, hinzukriechen und ſich dort auf den
Boden niederzuſtrecken. Wenn die beiden zufällig auf⸗
ſtanden, mußten ſie ihn ſehen. Sie ſprachen leiſe, aber
doch ſo, daß er ſie, wenn er ſcharf aufmerkte, wohl ver⸗
ſtehen konnte. Eben ſagte der Gambuſino: „Es iſt mir
immer, als ob ich es nicht glauben ſolle. Die Laſſos
waren zwar abgeriſſen, aber ſo ein fünfzehnmal zuſam⸗
mengeflochtener Riemen hält doch viel, ſehr viel aus.
Ein Krokodil kann dem, den es packt, das Bein abbeißen;
aber einen Laſſo zu zerreißen, das erſcheint mir als un⸗
möglich.“
„Ich nehme es, wie es gekommen iſt, und mache mir
keine Gedanken darüber,“ antwortete Perillo. „Wer
könnte die beiden befreit haben?“
„Der Vater Jaguar!“
„Er iſt doch nicht hier! Der Kleine hat es ja geſagt.“
„Glaube ich nicht an den Tod dieſes Kleinen, ſo
glaube ich auch ſeinen Worten nicht. Iſt er der Oberſt
oder nicht? Wir halten ihn für Glotino. Wenn er dieſer
iſt, ſo beſitzt er jedenfalls Klugheit genug, uns zu täu⸗
ſchen. Er ſagte, der Vater Jaguar ſei uns nachgeritten.
Wenn er uns nun vorangeritten wäre?“
„Höre, das wäre eine verteufelte Sache! Wir müß⸗
ten da gewärtig ſein, daß wir, anſtatt anzugreifen, über⸗
fallen werden. Dieſer Vater Jaguar hat den Cambas
ſchon einmal gegen die Abipones beigeſtanden, wenn
auch in einer andern Gegend. Die Kerls, die er bei ſich
hat, fürchten den Teufel nicht.“
„Wir müſſen vorſichtig ſein. Iſt er ſchon hier, ſo
ſtellt er uns ſicherlich eine Falle.”
May, Das Vermächtnis des Inka 27
— 418 —
„Wir hätten aber doch Spuren von ihm finden
müſſen.“
„Haben wir ja! Zunächſt die leeren Dörfer und
Hütten, die wir auf unſerm jetzigen Zug getroffen
haben.“
„Das nennſt du eine Spur?“
„Natürlich! Die Bewohner ſind geflohen. Warum?
Aus Furcht vor uns. Sie müſſen alſo gewußt haben,
daß wir kommen. Wer aber hat ihnen das geſagt?
Ich fürchte, der Vater Jaguar iſt es geweſen!“
„Meinſt du wirklich?“
„Ja. Ferner war es doch auffallend, daß alle
unſre Waffenverſtecke ausgeleert waren; da ſie aber
auch ganz zufälligerweiſe von Indianern entdeckt wor⸗
den ſein konnten, brachte ich dieſen Umſtand nicht in
Beziehung zu dem Vater Jaguar. Heute nun kann
ich, wenn ich näher darüber nachdenke, nicht glauben,
daß unſre beiden Gefangenen durch die Krokodile von
den Laſſos geriſſen worden ſind, und was ich bisher
nur vermutete, iſt mir zur Gewißheit geworden: der
Vater Jaguar iſt da!“
„Wie aber hat er es angeſtellt, dieſe beiden loszu⸗
bekommen? Die Riemen hingen doch noch vom Baum.“
„Das begreife ich auch nicht; dieſer Menſch aber
bringt Sachen fertig, die für andre Leute geradezu
unmöglich ſind.“
„Wenn deine Rechnung richtig iſt, müſſen wir ge⸗
wärtig ſein, daß er die Cambas ſchon gegen uns zu⸗
ſammengerufen hat und nun mit ihnen irgendwo ſteckt,
um uns plötzlich zu überfallen.“
„Das möchte ich nicht behaupten, da er dazu keine
Zeit gehabt hat. Jedenfalls müſſen wir uns beeilen.
Wenn wir mit dem Anbruch des Morgens aufbrechen,
— 419 —
fo kommen wir am Abend am „klaren Bache an und
können das Dorf noch während der Nacht überfallen.“
„Aber wenn die Cambas gerüſtet ſind?“
„Dann iſt unſer Kriegszug vergeblich geweſen.“
„Damnacion! Er hat uns ſo viel Mühe und auch
all unſer Geld gekoſtet! Wir würden als arme Leute
zurückkehren, und ſtatt durch den Putſch, den wir beab⸗
ſichtigen, mit einem Schlag reich zu werden, müßten
wir uns Bettler nennen.“
„Wir ſpielen Va banque. Verlieren wir, ſo bleibt
uns nichts übrig, als von vorn anzufangen. Ich gehe
wieder in die Berge, um eine Gold⸗ oder Silberader zu
entdecken, und du mußt wieder zu deinem früheren Ge⸗
ſchäft als Stierkämpfer greifen.“
„Dann wirſt du eines ſchönen Tages im Gebirge
umkommen, und mich erwartet das gleiche Schickſal in
der Arena. Ich habe es jetzt in Buenos Aires ge⸗
merkt, daß ich nicht mehr der alte bin. Meine Knochen
ſind weich und meine Gelenke ſteif geworden. Nein, es
fällt mir nicht ein, wieder zum alten Handwerk zu
greifen.“ |
„Was aber wollteſt du ſonſt anfangen? Etwa mit
mir auf Abenteuer gehen?“
„Damit man eines ſchönen Tages mein Gerippe
in den Cordilleren findet? Nein, ich weiß etwas andres.
etwas viel, viel Beſſeres.“
„Was?“
Der Gefragte zögerte eine ganze Weile; dann ant⸗
wortete er in geheimnisvollem Ton: „Ich habe zu
keinem Menſchen davon geſprochen, und es ſollte nie
jemand davon erfahren; aber es kommt zum Kampf mit
den Cambas, und ich kann verwundet und gar getötet
werden. Es wäre jammerſchade, wenn mein Geheim⸗
— 420 —
nis mit mir ſterben ſollte. Du biſt mein beſter Kame⸗
rad, und ſo will ich es dir mitteilen.“
„Du machſt mich im höchſten Grad neugierig. Der
feierliche Ton, in welchem du ſprichſt, läßt erraten, daß
es ſich um etwas ganz Ungewöhnliches handelt.“
„Das iſt es auch! Ich ſpreche nämlich von Reich⸗
1 von einem Schatz, welcher ungeheuer zu ſein
ſcheint.
„Von einem Schatz? Höre, fait möchte ich denken,
daß du im Traum redeſt!“
„Ich träume nicht, ſondern was ich dir ſage, iſt die
volle, reine Wirklichkeit. Ich kann es dir durch einen Ge⸗
genſtand beweiſen, den du ſehr genau kennſt.“ ö
„Welcher iſt das?“
„Der lange weiße Haarſchopf, den du bei mir ge⸗
ſehen haft.”
„Ach, der Skalp des Indianers, der dich überfallen
wollte, aber von dir getötet wurde?“
„Derſelbe. Doch iſt die Geſchichte anders, als ich
ſie bisher erzählte. Dir kann ich die Wahrheit ſagen,
da du ſchon oft Aehnliches getan haſt. Nämlich nicht
ich wurde von dem Indianer überfallen, ſondern er von
mir.“
| „Demoniol Iſt die Sache jo! Da will ich dir
denn aufrichtig ſagen, daß ich deine Erzählung nicht
etwa geglaubt habe. Du hatteſt damals gar nichts bei
dir, was die Habſucht eines Indianers anlocken konnte.
Alſo du haſt ihn überfallen, und ſein Haar ſteht im
Zuſammenhang mit dem Schatz, von dem du ſprichſt?
Soll ich etwa annehmen, daß jener Indianer der de
figer dieſes Schatzes geweſen iſt?“
„Ja.“
— 41 —
„Qus diablos! Erkläre dich deutlicher! Warum
haſt du ihm den Schatz nicht abgenommen?“
„Weil er ihn nicht bei ſich hatte. Es waren nur
einige Gegenſtände, welche zu dem Schatz gehörten, die
ich bei ihm fand.“
„Hat er dir denn geſagt, wo ſich das übrige be⸗
findet?“
„Nein.“
„So weißt du alſo gar nicht, wo dieſer dein be⸗
rühmter Schatz zu ſuchen iſt?“
„Ja und nein, ich weiß es und weiß es doch auch
nicht.“
„Sprich nicht in Rätſeln!“
„Ich meine, daß ich zwar die Gegend kenne, aber
die betreffende Stelle nicht.“
„So brauchſt du dir auf den Schatz ganz und gar
nichts einzubilden. Was nützt mir ein Schatz, den ich
nicht finden kann? Vielleicht exiſtiert er gar nur in
deiner Phantaſie.“
„Er exiſtiert in Wirklichkeit; ich kann es be⸗
ſchwören.“
„Wo denn?“
„Droben in den Bergen und zwar jedenfalls in
einer Schlucht, die man Barranca del Homicidio
nennt.“
„Die kenne ich genau. Es geht von ihr die Sage,
daß dort die letzten Inkas ermordet worden ſind.“
„So iſt es. Und ich nehme an, daß dieſe Inkas
vor ihrem gewaltſamen Ende ihre Schätze dort verſteckt
haben.“
„Hm! Ich habe oft gehört, wie reich die Inkas
geweſen ſind. Alles, was die Herrſcher berührten, hat
von reinem Gold ſein müſſen. Die Spanier ſollen da⸗
— 422 —
mals ganze Schiffsladungen von Gold und Silber
heimgeſchafft haben. Doch, was hilft das unnütze
Reden! Erzähle!“ E
„Du ſollſt alles hören. Ich kam damals von Chile
herüber, wo ich bei mehreren Stiergefechten mitgewirkt
und mir einige Prämien erworben hatte; aber wie ge⸗
wonnen, ſo zerronnen; du weißt ja, wie ich bin. Ich
aß gut, trank noch beſſer, ſpielte viel und hatte kein
Glück; ich verlor alles, und als ich die Rückreiſe antrat,
mußte ich, um nur herüberzukommen, mich an einen
Kaufmann, der nach Mendoza wollte, als Diener ver⸗
mieten. Ich ſage dir, daß er nie dort angekommen iſt;
warum, das kannſt du dir denken.“
Er ſtieß ein hämiſches Gelächter aus. Nach einer
kleinen Pauſe fuhr er fort: „Ich war alſo ganz allein,
als ich die diesſeitigen Hänge des Gebirges erreichte.
Es war des Abends, als ich an der Barranca del Ho-
micidio ankam. Da du auch dort geweſen biſt, ſo weißt
du, daß es eine höchſt unwirtliche Gegend iſt. Gern
wäre ich noch bis zur Salina del Condor weiterge-
ritten, aber es war denn doch zu weit, und der Weg da
hinunter iſt ſo ſchlecht, daß man ſelbſt beim hellſten
Mondenſchein verunglücken oder irre gehen kann. Ich
ſuchte mir alſo einen Felſen, um hinter ihm Schutz
gegen den rauhen Nachtwind zu finden, band mein
Maultier an einen Stein feſt und legte mich zum Schla⸗
fen nieder.“
„Konnteſt du denn ſchlafen?“ fragte der Gambu⸗
ſino mit eigenartiger Betonung.
„Warum ſollte ich das nicht?“
„Des Kaufmanns wegen, der nie in Mendoza an⸗
gekommen iſt.“
— 228 —
„Ich bin kein Kind oder altes Weib. Wer tot iſt,
kommt nicht wieder. Dennoch wollte an jenem Abend
der Schlaf nicht gleich kommen; dafür aber kam ein
andrer.“
„Ah, ich vermute! Der Indianer?“
„Ja. Der Vollmond ſtand am Himmel, und kein
Wölkchen war zu ſehen. Ich hörte Schritte und lauſchte.
Ein Mann kam, ohne mich und mein Maultier zu
ſehen, ganz nahe an dem Felsblock vorüber, hinter dem
ich lag. Er blieb ſtehen und ſchaute nach dem Mond.
Dabei bekam ich ſein Geſicht zu ſehen. Er war ein
Greis, aber ein ſehr rüſtiger und ſehr ſchöner Greis.
Er trug einen langen Bogen und einen Köcher auf der
Schulter, und ein Meſſer ſteckte in ſeinem Gürtel; andre
Waffen hatte er nicht und ſchien überhaupt gar nichts
andres bei ſich zu haben. Auffallend war ſein langes,
weißes und ſehr dichtes Haar, das ihm hinten bis an
die Oberſchenkel vom Kopf hing und, wie ich ſpäter be⸗
merkte, durch eine Spange zuſammengehalten wurde.
Er ſtand lange da, ohne ſich zu bewegen, ſtarrte den
Mond an und flüſterte dabei leiſe Worte, als ob er be⸗
tete. Es ſchien, als ob er warten wolle, bis der Mond
den höchſten Punkt ſeines Bogens erreicht habe; dann
ging er weiter.“
„Und du folgteſt ihm heimlich?“ fragte der Gam⸗
buſino.
„Ich wollte es tun, brachte es aber nicht fertig.
Der ſcharfe Rand des Barranra befand ſich nämlich gar
nicht fern von mir. Der Mann ging darauf zu und
war dann verſchwunden. Ich ſage dir, daß mir bei
dem, was ich ſah, ein Grauen ankam. Die Felswand
ſtieg beinahe ſenkrecht hinab; ſie ſchien nicht die kleinſte
Stelle zu haben, wo ein menſchlicher Fuß feſten Halt
— 424 —
faſſen könne, und doch glitt der weißhaarige Mann mit
einer Sicherheit da hinab, als ob eine bequeme Treppe
hinunterführe. Sein Haar glänzte im Mond, bis ich
es nicht mehr ſehen konnte, ſo groß war die Tiefe, in
die er hinunterſtieg. Wer war der Mann? Seinen
Zügen nach jedenfalls ein Indianer. Was wollte er
hier? Warum wartete er, um den gefährlichen Weg
anzutreten, nicht, bis es Tag geworden war? Wo hatte
er ſein Maultier? Ich blieb am Rand der Schlucht auf
der Lauer liegen, um auf ſeine Rückkehr zu warten. Ich
lag die ganze Nacht; er kam nicht wieder; aber am
Morgen, eben als die Sonne im öſtlichen Tiefland
aufſtieg, ſah ich ihn jenſeits langſam emporklettern.
Er hatte jetzt ein Paket auf dem Rücken hängen. Als
er oben angekommen war, breitete er die Arme gegen
die Sonne aus, als ob er ſie begrüßen wolle, und ging
dann weiter. Ich beobachtete ihn, ohne daß er mich
ſehen konnte. Von der Höhe, wo er ſich jetzt mir gegen⸗
über befand, ging eine felſige Lehne allmählich abwärts;
er ſchritt dieſe hinunter und bog dann um den Fuß
einer zweiten Höhe, worauf er mir aus den Augen
ſchwand. |
„Du biſt ihm natürlich ſofort nach?“ fragte der
Gambuſino.
„Ja. Ich mußte unbedingt wiſſen, wer der Mann
war und was er nächtlicherweile aus der Barranca ge⸗
holt hatte, denn das Paket, das er jetzt trug, hatte er
am Abend nicht gehabt. Ich band mein Maultier los,
ſtieg auf und ritt ihm nach. Ich brauchte dabei keinen
Umweg zu machen, denn die Richtung, die er eingeſchla⸗
gen hatte, führte nach der Salina del Condor, wohin
auch ich wollte. Ich war ſehr ſchnell die Lehne hinab
und bog dann um die Stelle, hinter der er verſchwun⸗
— 423 —
den war. Von da lief ein ziemlich ſteiler Abhang in ein
ſchmales Tal hinunter. Der Indianer war ſchon unten.
Er ſchien es eilig zu haben, denn er ging ſchneller, als
mein Maultier bis jetzt gegangen war. Ich ſpornte es
alſo an. So folgte ich ihm in das Tal, durch dieſes auf
eine Ebene, dann wieder über einen felſigen Abhang in
ein zweites Tal, wo ich ihm ſo nahe kam, daß er den
Hufſchlag meines Tieres hörte. Er blieb einen Augen⸗
blick ſtehen, um ſich umzublicken. Als er mich ſah, eilte
er viel ſchneller weiter, als er bisher gegangen war. Er
wollte mir ausweichen. Ich gab meinem Tier die Spo⸗
ren, daß es zu galoppieren begann. Er hörte das und
blickte nach rechts und nach links, um einen Ausweg zu
entdecken, aber die Seitenwände des Tales waren ge⸗
rade hier ſo ſenkrecht eingeſchnitten, daß er nicht hinauf
konnte. Jedoch da öffnete ſich das Tal, noch ehe ich ihn
ganz erreicht hatte, und er wollte ſich ſeitwärts wenden.
Ich rief ihm zu: „Bleib ſtehen, ſonſt ſchieße ich!“ Er
hörte nicht; darum ſchickte ich die Kugel des einen Lau⸗
fes hinter ihm her. Ich traf ihn nicht, wollte ihn über⸗
haupt nicht treffen; er hörte die Kugel neben ſich auf
den Felſen ſchlagen und mochte nun doch denken, daß es
geraten ſei, meinem Befehl zu gehorchen. Er blieb
alſo ſtehen und drehte ſich nach mir herum. Das
Doppelgewehr noch in der Hand, kam ich an ihn heran.
Da fragte er mich: „Senor, was habe ich Ihnen getan,
daß Sie auf mich ſchießen?
„„Warum läufſt du davon, wenn ich dir Halt ges
biete?“ antwortete ich.
„Da richtete er ſich hoch auf, ſchüttelte ſein langes,
weißes Haar wie der Löwe ſeine Mähne und entgegnete
in einem Ton, als ob er ein König ſei: „Wer hat hier
zu gebieten? Sie etwa?
— 4286 —
„Dabei funkelten mich ſeine Augen nur ſo an;
aber ſie waren es nicht allein, welche funkelten, denn
das Paket, das er auf dem Rücken trug, beſtand aus
einem Baſtnetze, zwiſchen deſſen Maſchen es wie reines,
pures Gold hervorſchimmerte. Und bei der Bewegung,
die er gemacht hatte, gab die glänzende Bürde einen
leiſen Ton von ſich, wie er nur vom Gold hervorge⸗
bracht wird. Wie es ſo ſchnell kam, das weiß ich auch
jetzt ſelbſt noch nicht; kurz und gut, ich richtete mit einer
blitzſchnellen Bewegung den zweiten Lauf auf ihn und
drückte ab. Der Schuß krachte, und der Mann ſtürzte
zu Boden.“
„Vorn durch die Bruſt geſchoſſen?“ fragte der
Gambuſino.
„Nein, ſondern von hinten in das Herz getroffen.
Als ich den Lauf auf ihn richtete, machte er nach der
Seite hin eine ſchnelle Drehung um ſich ſelbſt, damit
ich ihn nicht treffen ſolle; aber mein Auge war ſchneller
als er; ich folgte ſeiner Bewegung und ſchoß ihn von
hinten nieder. Das Netz glitt von ſeinem Rücken und
fiel neben ihm hin, wobei es ſich öffnete; einige Stücke
des Inhalts rollten heraus. Es waren kleine, goldene
Gefäße und andre Gegenſtände, deren Zweck ich nicht
zu erraten vermochte. Der Indianer war tot, und dieſe
Sachen gehörten mir. Ich wickelte ſie in eine Decke, die
ich hinter mir an den Sattel zu ſchnallen pflegte — —“
„Und biſt natürlich nach der Barranca zurückge⸗
ritten?“ fiel der Gambuſino ihm ins Wort.
„Nein. Ich hatte ſeit faſt zwei Tagen kein Waſſer
gehabt, und mein Maultier mußte trinken, wenn es
nicht liegen bleiben wollte. Daher mußte ich zunächſt
nach der Salina del Condor, in deren Nähe, wie du
weißt, einige Quellen ſind; dann erſt wollte ich wieder
— 427 —
nach der Barranca zurück, um den Ort zu ſuchen, wo
der Indianer die Koſtbarkeiten geholt hatte.“
„Vorher aber nahmſt du ihm ſeinen Skalp?“
„Ja. Wie ich auf den Gedanken kam, dies zu tun,
kann ich freilich nicht ſagen. Ich hatte daheim eine
Sammlung von allerlei Kleinigkeiten, Andenken an
meine früheren Reiſen und Erlebniſſe, und als ich ſchon
vor dem Toten ſtand und ſein Haar betrachtete, fielen
mir die Indianerſkalpe ein, die man in ſo vielen
Sammlungen findet, und ich dachte, daß dieſer Schopf
es wohl wert ſei, mitgenommen zu werden. Ich ſchnitt
die Kopfhaut alſo vom Schädel los und wickelte ſie mit
in die Decke.“
„Hm! Alſo auf dieſe Weiſe biſt du zu der Haut
gekommen!“ ſagte der Gambuſino langſam und in
nachdenklichem Ton. „Ich hätte ſie wohl nicht mitge⸗
nommen.“
„Warum nicht?“
„Weil ſie zur Verräterin an dir werden kann.“
„Möchte wiſſen, wie?“
„Eben durch ihre Seltenheit. Haſt du etwa ſchon
viele Perſonen geſehen, die ihr Haar in dieſer Weiſe
tragen? Und nun noch dazu eine ſolche Fülle ſchönen,
langen, grauen Haares! Dieſer Indianer hat Ver⸗
wandte und Bekannte, die ihn vermißt und nach ihm
geforſcht haben. Wenn nun einer derſelben erfährt, daß
du dich im Beſitz dieſes Skalps befindeſt? Vielleicht
gibt es Mitwiſſer des Geheimniſſes von dem Schatz.
Ich würde zu keinem Menſchen von der Kopfhaut
ſprechen und ſie noch viel weniger jemand zeigen.“
„Pah! Es ſind ſeit jenem Ereignis fünf Jahre
vergangen; ich habe nichts mehr zu befürchten.“
— 4286 —
„Dennoch fordere ich dich zur Vorſicht auf. Ich
denke da an einen alten Indianer, der ſein Haar ganz
ähnlich trägt und einſam droben in den Bergen hauſt.
Dieſe Aehnlichkeit der Haartracht läßt ganz wohl den
Gedanken aufkommen, daß er zu jenem Toten in irgend
welcher Beziehung geſtanden hat. Dieſer Mann zum
Beiſpiel dürfte durch Zufall von dem Skalp hören, und
dann wäre es, falls er den Toten gekannt hat, um dich
geſchehen.“
„Wie heißt der Mann?“
„Er iſt über hundert Jahre alt und wird darum
allgemein der alte Anciano genannt. Er iſt trotz dieſes
Alters noch ſo rüſtig und gewandt wie ein Vierziger
und hat ſich durch ſeine Kühnheit und Verſchlagenheit
berühmt gemacht.“
„Ich kenne ihn nicht, und er geht mich nichts an.
Iſt er arm oder reich?“
„Arm.“
„So weiß er von dem Schatz nichts, und deine
Warnung iſt überflüſſig.“
„Mag ſein. Es war eben nur ſo ein Gedanke von
mir. Erzähle jetzt weiter!“
„Es kam leider ganz anders, als ich erwartet hatte.
Ich wollte an der Salina mein Maultier tränken, ſelbſt
auch trinken und dann nach der Barranca zurückkehren.
Aber als ich bei der Salina anlangte und um die Ecke
bog, ſah ich einen Menſchen daſitzen, der mich verwun⸗
dert anſtarrte. Jedenfalls war er von unten gekommen
und wollte hinauf in die Berge; dies machte mein
ganzes Vorhaben zunichte. Zurück durfte ich nicht,
denn er wäre mir gewiß gefolgt und hätte den Toten ge⸗
ſehen. Mich zu ihm ſetzen, fiel mir noch viel weniger
ein, da er mich nicht genau ſehen durfte, um mich ſpäter
— 429 —
nicht verraten zu können. Ich ritt alſo raſch an ihm
vorüber.“
„Dumme Sache! Warum haſt du ihn nicht nieder⸗
geſchoſſen?“
„Dieſer Gedanke kam mir auch; aber er hatte, als
er mich ſah, ſchnell zum Gewehr gegriffen, und ſeine
Kugel wäre jedenfalls ſchneller als die meinige geweſen.
Ich ſtutzte nur einen Augenblick und wendete mein Ge⸗
ſicht dann ſchnell von ihm ab. Im Galopp durch die
Salina jagend, kam ich eine halbe Stunde ſpäter auf
einem Platz an, wo es Waſſer gab. Da hielt ich für
kurze Zeit an und ritt dann weiter. Eine Ahnung ſagte
mir, daß der Mann mich verfolgen werde.“
„Woher dieſe Ahnung? Du hatteſt ja gar nicht
mit ihm geſprochen.“
„Eben das mußte ihm auffallen. Wenn er dann
die Leiche fand, mußte er mich für den Mörder halten.“
„Wie ſah er aus? Du haſt ihn natürlich ſcharf
betrachtet?“
„Nein, denn da hätte ich ihm mein Geſicht länger
zukehren müſſen, was ich aus gutem Grund vermeiden
wollte. Seine Züge konnte ich nicht erkennen, doch ſah
ich ſo viel, daß er nicht mehr jung war, denn ſein Haar
war grau.“
„Und ſeine Geſtalt?“
„Er ſaß an der Erde; darum konnte ich mir kein
Urteil über ſeine Figur bilden; er ſchien mir aber nicht
klein zu ſein.“
„Ha! Du biſt unvorſichtig geweſen. Dieſer Mann
kann in jedem Augenblick auftauchen und dich zur
Rechenſchaft ziehen. Du hätteſt dich zu ihm ſetzen
ſollen, um ihn dann in einem geeigneten Augenblick
niederzuſchießen.“
— 430 —
„Das habe ich mir ſpäter auch geſagt, und heute
bereue ich ſehr, es nicht getan zu haben, denn es hat den
Anſchein, daß der Kerl mich genauer angeſehen hat, als
ich dachte.“
„Wieſo? Biſt du ihm etwa ſpäter wieder be⸗
gegnet?“
„Es ſcheint ſo. Es wurde mir eine Drohung ins
Geſicht geworfen, die ſich nur auf dieſes Ereignis be⸗
ziehen konnte.“
„Von wem?“
„Vom Vater Jaguar.“
„Valgame Dios! Von dem? Hat dieſer Menſch
etwa ſeine Hand auch hier im Spiele?“
Perillo erzählte von jenem Zuſammentreffen in der
Reſtauration in Buenos Aires, wo der Vater Jaguar
ihn an die Salina del Condor erinnert hatte, worauf
der Gambuſino ſo laut, daß die Schläfer beinahe auf⸗
wachten, ausrief: „Er iſt's geweſen; jedenfalls war
er's! Nimm dich vor ihm in acht! Jetzt haben wir
einen Grund mehr, ihn baldigſt wegzuräumen. Er⸗
zähle weiter!“
„Ich bin damals einen Tag und eine Nacht ge⸗
ritten, ohne länger als einige Minuten anzuhalten, und
habe mir alle Mühe gegeben, meine Spur unſichtbar zu
machen. Natürlich war ich begierig darauf, die Bar⸗
ranca nach Gold zu unterſuchen, mußte dies aber unter
dieſen Umſtänden auf einige Wochen verſchieben. Dieſe
Zeit brachte ich in Chicoana zu, wo ich ſo glücklich war,
einen Althändler zu finden, der mir die goldene Beute
abkaufte und leidlich bezahlte, ohne viel danach zu
fragen, wie ich zu dieſen Gegenſtänden gekommen war.
Die Summe, die ich erhielt, verlockte mich, nach Salta
zu gehen. Dort fand ich Gelegenheit zum Spiel und
— 43831 —
verlor ſo viel, daß mir kaum das verblieb, was ich
brauchte, um mich für den Ritt nach der Barranca aus⸗
zurüſten.“
„Er war aber ohne Erfolg?“
„Leider! Als ich an die Stelle kam, wo ich den
Indianer erſchoſſen hatte, war keine Spur mehr von
ihm zu ſehen. Die Kondors hatten ſogar ſeine Knochen
verſchleppt. Dann in der Barranca angekommen, habe
ich ſie Fuß für Fuß, Zoll für Zoll durchſucht, ohne das
geringſte zu finden. Auch ſo oft ich ſpäter wieder hinge⸗
kommen bin, iſt mein Nachforſchen vergeblich geweſen.
Und doch bin ich überzeugt, daß dort Koſtbarkeiten ver⸗
borgen liegen, die einſt den Herrſchern von Peru gehört
haben.“
„Das iſt allerdings leicht möglich. Du haſt deine
Nachforſchungen jedenfalls nicht ſorgfältig genug ange⸗
ſtellt. Zu ſo etwas gehört ein Scharfſinn, der eine weit
längere Uebung und Schulung durchgemacht hat, als
die deinige iſt.“
„Das habe ich mir auch ſchon geſagt, und darum
denke ich, in dir den rechten Mann gefunden zu haben.
Du würdeſt alſo bereit ſein, mit hinauf nach der
Schlucht zu gehen?“
„Ja. Und je eher wir dies tun können, deſto
beſſer wird es ſein. Man ſoll nicht zaudern, wenn es
ſich um ſo wertvolle Sachen handelt. Der Zufall könnte
gar leicht einen andern hinführen, welcher das entdeckt,
was du trotz aller Mühe nicht geſehen haſt. Sollte unſer
Zug gegen die Cambas aus irgend einem Grund eine
andre Wendung nehmen, als wir erwarten, ſo können
wir nichts Beſſeres tun, als ſchleunigſt nach den Bergen
reiten, um uns die Schätze deines toten Indianers an⸗
zueignen.“
— 432 —
„Meinſt du denn, daß wir ſie finden werden?“
„Ich hoffe es. — Und jetzt möchte ich einen Rund⸗
gang machen, um mich zu überzeugen, ob wir hier ſicher
liegen. Ich kann mich nicht von dem Gedanken los⸗
machen, daß dieſer Vater Jaguar ſich doch hier in der
Nähe befindet und uns umſchleicht.“
Als der Lauſcher dieſe Worte hörte, kroch er ſchleu⸗
nigſt zurück und ſchlich nach ſeiner Lagerſtelle.
Dierzehntes Kapitel
Ein Urwaldkampf
Kaum graute der nächſte Tag, ſo wurden die
Schläfer geweckt und man rüſtete zum Aufbruch. Da
von achthundert Kriegern nur fünfzig beritten waren,
kam beinahe der Mittag heran, bevor in der Nähe der
undurchdringliche Wald erſchien, der das „Tal des aus⸗
getrockneten Sees“ nach beiden Seiten begrenzte. Als
der Gambuſino dieſes Gelände erblickte, winkte er den
„tapfern Arm“, den Häuptling der Abipones, zu ſich
heran und fragte: „Iſt das der Wald, worin das Tal
liegt, durch das wir müſſen.“
„Ja, Senor,“ antwortete der Rote.
„Und wir können nicht zur Seite ausweichen?“
„Wir können es, wenn wir den Wald ganz um⸗
gehen; aber das würde viele, viele Zeit erfordern.“
„Die haben wir nicht übrig, denn wir müſſen heute
abend beim Dorfe der Cambas ankommen, um in der
Nacht darüber herfallen zu können. In dieſem Tal
gibt es Waſſer?“ |
„Fließendes Waſſer, das ſich in einen kleinen See
ergießt.“
„So machen wir da Halt, um uns auszuruhen.“
Dieſe Worte hörte auch der Hauptmann Pellejo,
der jetzt an die Spitze des Zuges gekommen war und
May, Das Vermächtnis des Inka 28
— 434 —
mit nachdenklichem Blick den Wald muſterte. Als Mi⸗
litär fühlte er ſich zu der Bemerkung veranlaßt: „Senor,
das vor uns liegende Gelände fordert uns zur Vorſicht
auf. Wir können weder nach rechts noch nach links
weichen und müſſen durch ein Tal, deſſen Wände wohl
nicht niedrig ſind. Wie nun, wenn der Feind uns darin
erwartet?“
„So würde ich mich außerordentlich über dieſe ſeine
Unvorſichtigkeit freuen,“ antwortete der Gambuſino in
wegwerfendem Ton. „Wir können in das Tal dringen
und ihn, der nicht entkommen könnte, einfach nieder⸗
rennen.“
„Das iſt leichter geſagt als getan, und ich möchte
raten, in dieſem — —“
„Ich habe keinen Menſchen um Rat gefragt, auch
Sie nicht!“ fiel ihm der andre barſch in die Rede. „Be⸗
halten Sie Ihre Meinung gefällig ſo lange für ſich, bis
ich Sie darum frage!“
Der Hauptmann wendete ſich entrüſtet ab, ohne
aber ein Wort zu entgegnen, und der Zug ſetzte ſich
wieder in Bewegung. Nach einiger Zeit ſah man die
Fährte, die von links herkam und gerade nach dem Tal
führte. Es war diejenige des Vater Jaguar, der
natürlich nach dem Tal gemußt hatte, ohne eine Mög⸗
lichkeit zu haben, ſeine Spur unkenntlich zu machen.
Der Gambuſino ſtieg vom Pferd, unterſuchte ſie und
ſagte: „Es hat hier einige Pferde und auch einen oder
zwei Fußgänger gegeben, doch iſt dies kein Grund, uns
bedenklich zu machen. Dieſe Leute kommen von Süden
her, während wir von Oſten kommen; ſie können alſo
gar nichts von uns wiſſen.“
Infolge dieſer Anſicht ritt und marſchierte man ge⸗
troſt weiter, ohne Kundſchafter voranzuſenden. Haupt⸗
— 435 —
mann Pellejo erkannte das als einen großen Fehler,
doch ſchwieg er zunächſt; aber als man ſich dem Wald
ſo weit genähert hatte, daß man den Eingang zum Tal
ſich öffnen ſah, konnte er nicht umhin, warnend zu
bemerken: „Ich würde doch einige Leute voranſenden,
um nachſehen zu laſſen, ob das Tal für uns ſicher iſt.“
„Und ich habe Ihnen bereits geſagt, daß ich nur
wünſche, daß es voller Tambas wäre,“ antwortete der
Gambuſino. „Wenn Sie ſich fürchten, ſo bleiben Sie
zurück.“
„Ja, wer ſich fürchtet, mag umkehren,“ ſtimmte
Antonio Perillo ein. „Wir hrauchen keine Feiglinge bei
uns.“
„Senor, meinen Sie damit mich?“ fuhr der Offi⸗
zier auf. '
„Denken Sie, was Sie wollen!“
„Gut, dann denke ich mir nur das eine, daß es
feig iſt, ahnungsloſe Menſchen niederzuſchießen, um
ihnen ihre Koſtbarkeiten abzunehmen und dann vor dem
erſten Mann, den man an der Salina del Condor
fiten ſieht, davonzulaufen.“
Dieſe zornigen Worte waren ihm kaum entfahren,
ſo bereute er, ſie ausgeſprochen zu haben. Der Gam⸗
buſino und Antonio Perillo ſtarrten ihn betroffen an.
Der erſtere faßte ſich am ſchnellſten und antwortete
lachend: „Sie ſprechen wohl im Traum? Was wollen
Sie mit einer ſo unverſtändlichen Rede?“
„Das werden Sie ſpäter jedenfalls erfahren,“ er⸗
widerte der Hauptmann, indem er ſein Pferd ab⸗ und
auf die Seite wendete. „Von mir werden Sie keinen
Rat mehr hören.“
Die beiden warfen ſich im Weiterreiten bedeutſame
Blicke zu, und der Gambuſino flüſterte Perillo zu:
— 136 —
„Dieſer Schurke hat uns geſtern abend belauſcht. Es
iſt gar nicht anders möglich. Was meinſt du, was wir
tun?“
„Ihn ſchweigſam machen, und zwar ſo bald wie mög⸗
lich, bevor er Gelegenheit findet, das, was er gehört hat,
auszuplaudern.“
„Richtig! Er lebt heute feinen letzten Tag! Im
Grunde genommen hatte er mit ſeiner Mahnung zur
Vorſicht gar nicht unrecht; nur fällt es mir nicht ein,
einen ſolch aufdringlichen Rat zu befolgen. Meine Perſon
werde ich auf keinen Fall in Gefahr bringen. Wir
bleiben am Eingang des Tales halten und laſſen unſre
Leute hineinmarſchieren. Dann wird es ſich ergeben,
ob es von den Cambas beſetzt iſt.“
Dieſe Abſicht wurde ausgeführt. Er ritt mit Pe⸗
rillo und dem „tapfern Arm“ voran, bis ſie den Ein⸗
gang erreichten, und blieb dann halten, um die andern
an ſich vorüber zu laſſen. Der „tapfere Arm“ aber gab
der Schar, indem er ſich rückwärts wendete und die
Hand hoch emporhob, ein Zeichen, noch zu warten, und
galoppierte dann zwiſchen den Talwänden hinein. Als
er nach kurzer Zeit zurückkehrte, meldete er: „Es iſt kein
Menſch im Tal. Wir können getroſt weiter.“
„Dann vorwärts!“ kommandierte der Gambuſino,
indem er ſein Pferd auf die Seite drängte, um, mit Pe⸗
rillo dort wie ein Feldherr haltend, den Kriegszug an
ſich vorüber zu laſſen. Der Häuptling ritt voran; ihm
folgten ſeine Abipones, hinter denen die weißen Sol⸗
daten kommen jollten. — — —
Der „tapfere Arm“ hatte ſich geirrt, als er das
Tal für unbeſetzt hielt, und ſollte ſeinen Irrtum nur zu
bald erkennen.
— 187 —
Als der Vater Jaguar das „Tal des ausgetrock⸗
neten Sees“ erreicht hatte, bemerkte er zu ſeiner Ueber⸗
raſchung, daß die Talränder noch nicht beſetzt waren.
Er rief deshalb Geronimo, der ihm auf halbem Wege
entgegen kam, ſchon von weitem zu: „Ich will doch
hoffen, daß die Krieger alle da ſind?“
„Alle,“ antwortete Geronimo.
„Wo?“
„Da, hinter mir am Bache.“
„Warum vermeidet ihr das Tal?“
„Weil dieſe deine beiden gelehrten Landsleute, die
ich glücklicherweiſe jetzt bei dir ſehe, uns ausgeriſſen
ſind. Ich befürchtete, ſie würden von den Abipones er⸗
griffen werden und unſern Plan ausplaudern. Darum
hielt ich es für beſſer, deine Rückkehr zu erwarten, be⸗
vor ich das Tal beſetzen ließ. Iſt das richtig oder falſch
geweſen?!?
„Richtig. Ich muß dich loben.“
Er war jetzt bei ihm angekommen und reichte ihm
die Hand. Die Weißen drängten ſich herbei, ihren
zurückgekehrten Anführer zu begrüßen. Morgenſtern
und Fritze ſchlichen ſich kleinlaut zur Seite. Es wäre
ihnen lieb geweſen, für jetzt verſchwinden zu können,
um nicht durch Fragen beläſtigt zu werden; aber es gab
einen, der nichts Eiligeres zu tun hatte, als ſofort an fie
heranzutreten und ihnen lachend zuzurufen: „Aber,
Señores, was iſt Ihnen denn eingefallen, daß Sie uns
ſo ohne allen Abſchied verlaſſen haben! Wir machten
uns viel Sorge um Sie. Wie leicht konnten Sie von
einer Rieſenſchildkröte verſchlungen werden!“
Doktor Parmeſan, der Chirurg, war es, der ſie auf
dieſe Weiſe empfing. Morgenſtern zog es vor, zu ſchwei⸗
gen; Fritze aber antwortete: „Selbſt wenn wir ver⸗
— 388 —
ſchlungen worden wären, hätten wir keine Angſt gehabt.
Sie wären doch jedenfalls gekommen, um uns dem
Tier aus dem Leib zu ſchneiden.“
„Ja, das hätte ich ſicher getan, vorausgeſetzt, daß
ich zu rechter Zeit von Ihnen benachrichtigt worden
wäre. Sie wiſſen ja, mir iſt kein Schnitt und keine
Operation zu ſchwer; ich ſäble alles herunter! Natür⸗
lich ſind Sie am Sumpf der Knochen geweſen, Senor?“
„Ja. Eigentlich wollten wir hinauf in den Mond
reiten, da aber ſein erſtes Viertel noch nicht voll iſt,
hätte es uns am nötigen Platz gemangelt.“
„Da Sie ſich in ſo fröhlicher Stimmung befinden,
muß es Ihnen unterwegs ſehr gut gegangen ſein. Und
wir befürchteten ſchon, daß Sie in die Hände der Abi⸗
pones gefallen ſeien. Aber ein kleiner dunkler Punkt
ſcheint doch dabei vorhanden zu ſein: Wo ſind denn
nun eigentlich die Pferde, die Sie mitgenommen
hatten?“
„Die ſind von der Rieſenſchildkröte gefreſſen wor⸗
den, von der Sie glaubten, daß ſie uns verſpeiſt habe.
Wollen Sie Ihre berühmte Operation noch ausführen,
ſo können Sie die armen Tiere vielleicht noch retten.“
Mit dieſen Worten wendete er ſich ſchnell ab und
folgte ſeinem Herrn, der ſich abſeits unter einem Baum
niedergeſetzt hatte. Er nahm neben ihm Platz und ſagte
in deutſcher Sprache: „Dieſer Chirurjius wollte mir
ärjern; aber es fällt mich jar nicht ein, mir in Harniſch
bringen zu laſſen. Freilich, daß wir die Pferde ver⸗
loren haben, dat kann mir leid tun. Wat mir wundert,
iſt, daß der Vater Jaguar uns eijentlich noch gar nicht
richtig ausjezankt hat. Iſt Ihnen dat nicht aufjefallen?“
„Warte nur! Er wird es ſchon nachholen, ſobald er
Zeit dazu findet.“
— 499 —
„Leider wird dat wohl richtig ſind. Aber grämen
Sie Ihnen nicht! Ick werde allens auf mir nehmen.
Ick werde ſagen, dat ick es bin, der die Jeſchichte anje⸗
ſtiftet hat. Mir haben die Rieſenknochen im Kopf
jelegen, und ick habe nicht jeruht, bis Sie mit mich
davonjeritten ſind.“
„Das geht nicht, Fritze. Ein ſolches Opfer kann
ich von dir nicht annehmen. Es iſt gegen meine Ehre,
lateiniſch Honor genannt. Ich könnte mich nicht mehr
ſelbſt achten.“
„Wat? Wie? Wer verlangt es, daß Sie Ihnen
ſelber achten? Kein Menſch! Die Hauptſache iſt, daß
ick Ihnen achte und daß Sie auch von andern jeachtet
werden.“
„Laß es gut ſein, lieber Fritze! Man würde deinen
Worten doch keinen Glauben ſchenken. Freilich, wenn
ich gewußt hätte, wie es kommen würde, ſo wäre es
nicht geſchehen. Es war eine Dummheit, die wir wohl
ſchwerlich wieder gutmachen können.“
„Nicht? Dat fragt ſich ſehr. Ick weiß jenau, wie
wir unſre Ehre wieder herſtellen können.“
„Nun, wie?“
„Durch Tapferkeit.“
„Du meinſt, daß wir an dem Kampfe, der zu er⸗
warten iſt, teilnehmen ſollen?“
„Natürlich! Oder wollen Sie tapfer ſein, wenn er
vorüber iſt?“
„Hm. Ich bin nicht furchtſam; aber ein tapferer
Menſch iſt zugleich ein blutiger Menſch, und Blut, latei⸗
niſch Sanguis genannt, möchte ich doch nicht gern ver⸗
gießen.“
„So? Sie wollen die Menſchen ſchonen, die uns
über den Zähnen der Krokodile aufjehängt haben? Ick
— 440 —
erinnere mir nicht, jemals ein Menſchenfreſſer jeweſen
zu ſind; aber ſolche Halunken müſſen aus dieſes Leben
in dat jenſeitige verſchwinden!“
Während Fritze ſich in dieſer Weiſe Mühe gab, die
Kampffreudigkeit ſeines Herrn anzuregen, ſaßen die
Weißen mit den Führern der Cambas beiſammen, um
zu erfahren, was der Vater Jaguar erkundſchaftet hatte.
Als ſie von ihm darüber aufgeklärt worden waren,
fügte er hinzu: „Ich bin überzeugt, daß ſie uns in die
Hände laufen werden. Wir brauchen uns keineswegs
zu beeilen, denn nach meiner Anſicht können ſie vor
Mittag nicht hier eintreffen. Es bleibt dabei, daß hun⸗
dert Mann von uns durch das Tal gehen und draußen
vor demſelben ſich am Waldesrand verſtecken; Gero⸗
nimo wird dieſe Leute anführen. Im Tal ſelbſt be⸗
fehlige ich. Ich werde in der Mitte des Randes Stel⸗
lung nehmen. Jedenfalls lagern ſie ſich, um auszu⸗
ruhen. Dann komme ich hervor und gehe zu ihnen,
um die Anführer aufzufordern, ſich zu ergeben.“
„Wenn ſie dich aber nicht hören wollen oder dir
nicht glauben?“ fiel Geronimo ein.
„So mag geſchehen, was geſchehen ſoll, ich habe
dann meine Pflicht getan.“
„Sie werden dich natürlich nicht fortlaſſen, ſondern
dich feſtnehmen!“
„Pah! Man nimmt mich nicht ſo leicht gefangen!
In dieſem Fall würde ich den Gambuſino und Antonio
Perillo augenblicklich niederſchießen, und dieſe Schüſſe
werden für euch das Zeichen ſein, loszubrechen.“
„Und dabei ſtehſt du mitten unter ihnen! Nein,
es iſt zu kühn, zu verwegen!“
„Auch ich bin dieſer Anſicht,“ ſagte Leutnant Ve⸗
rano. „Ich habe dem Senor Jaguar meine Meinung
l
bereits geſagt, bin aber von ihm zurückgewieſen worden.
Wozu dieſe Kerls ſchonen, noch dazu, wenn ſich einer
von uns in die offenbarſte Lebensgefahr begeben muß!
Das ſind ſie alle nicht wert. Schießt ſie nieder, wie ſie
kommen, und laßt keinen von ihnen am Leben! Die
Abipones ſind wilde Tiere, und die Weißen, die ſich bei
ihnen befinden, ſind Schufte, und gegen Schufte und
reißende Tiere darf man keine Nachſicht haben, ſonſt
ſticht und ſchneidet man ſich in das eigene Fleiſch. Was
mich betrifft, ſo werde ich ſchießen, ſobald die Kerls
kommen.“
„Nein, das werden Sie bleiben laſſen!“ antwortete
der Vater Jaguar in ſtrengem Ton. „Sie haben meine
Meinung bereits gehört. Ich hoffe, daß es mir glückt,
die beiden bisher feindlichen roten Stämme miteinander
zu verſöhnen; außerdem möchte ich den Gambuſino und
Antonio Perillo lebendig fangen, würde aber ſehr wahr⸗
ſcheinlich beides nicht erreichen, wenn geſchoſſen wird,
bevor ich es befohlen habe.“
„Und wenn ich dennoch ſchieße?“
Hammer zog die Brauen finſter zuſammen und
entgegnete: „So kommt das dann fließende Blut über
Sie, und ich gebe Ihnen eine Kugel in den Kopf.“
„Das heißt, Sie wollen mich ermorden?“
„Nein, ſondern beſtrafen. Handeln Sie gegen
meinen Willen, ſo ſind Sie ein Mörder, und ich brauche
mir kein Gewiſſen daraus zu machen, Sie niederzu⸗
ſtrecken.“
Der Leutnant wendete ſich ab und ſchritt unmutig
von dannen. Als er außer Hörweite gekommen war,
ballte er die Fauſt und murmelte zornig vor ſich hin:
„Einem ſolchen Menſchen gehorchen zu müſſen! Alle
die Kerls vergöttern ihn, und er gebärdet ſich mir gegen⸗
— 442 —
über wie ein General, der einen Rekruten vor ſich hat.
Die Indianer ſchonen zu wollen, welch ein Blödſinn!
Aber ich werde dennoch tun, was ich will. Niederge⸗
ſchoſſen müſſen ſie werden! Iſt's vorüber, dann können
ſie es nicht ändern, dieſe menſchenfreundlichen Schwach⸗
köpfe. Der erſte Schuß ſoll das Zeichen zum Beginn
des Kampfes ſein: dieſer erſte Schuß wird aus meinem
Gewehr kommen.“
Der Vater Jaguar erläuterte nun ſeinen Plan
in eingehender Weiſe und ging dann zu dem Baum,
unter dem Doktor Morgenſtern und Fritze ſaßen. „Es
iſt die Zeit gekommen, unſre Stellungen einzunehmen,“
ſagte er zu dem kleinen Gelehrten. „Ich werde Ihnen
die Ihrige anweiſen.“
„Dat iſt ſchön!“ antwortete Fritze an Stelle ſeines
Herrn. „Und wiſſen Sie, wohin wir ſo jern poſtiert
ſein wollen?“
„Nun?“
„Dorthin, wo es am jefährlichſten iſt.“
„Warum? Woher dieſe plötzliche Kühnheit?“
„Plötzlich? Jott bewahre! Ick bin ſtets kühn und
tapfer. Und heut wollen wir die Scharte auswetzen, die
in uns hineinjeſprungen iſt. Uns mang die Krokodile
aufzuhängen! Dat muß jerächt werden. Ick werde
unter ihnen hineinfahren, wie die Katze unter die Sper⸗
linge, und der Herr Doktor will mich dabei hilfreich bei⸗
ſtehen.“
„Unter die Feinde hineinfahren? Das werden Sie
nicht. Ich will Ihnen vielmehr einen Poſten geben, wo
Sie höchſt wahrſcheinlich keinen Schaden anrichten
können. Ich ſage: höchſt wahrſcheinlich, denn gewiß iſt
es keinenfalls, daß Sie nicht auch da etwas ee
aushecken.“
— 443 —
„So! Wo ſoll ſich dieſer Poſten denn befinden?“
„Bei den Pferden, die wir nicht mit in das Tal
nehmen können. Dieſe ſollen Sie bewachen.“
„Bei die Pferde!“ rief Fritze ganz enttäuſcht aus.
„Hirten ſollen wir ſind, aber keine Helden! Wat ſagen
Sie dazu, Herr Doktor?“
„Daß ich mich nur ungern füge,“ antwortete der
Genannte. „Wir wollten kämpfen und wären gewiß ſo
tapfer geweſen wie jeder andre.“
„Möglich,“ meinte der Vater Jaguar gleichmütig;
„aber nach allem, was ich bisher von Ihnen geſehen und
erfahren habe, könnte Ihre. Tapferkeit den Freunden ge⸗
fährlicher werden als den Feinden. Gerade darum trage
ich Ihnen ein ſo friedliches Geſchäft auf.“
„Und meinen Sie, daß wir zwei eine ſo große An⸗
zahl von Roſſen zuſammenhalten können? Ich weiß
nicht, ob ich behaupten darf, das Talent dazu zu beſitzen.“
„Sie werden nicht allein ſein, denn ich erteile ſechs
Cambas den gleichen Auftrag. Hoffentlich kann ich
mich, wenigſtens dieſes Mal, auf Sie verlaſſen, Herr
Doktor?“
„Jawohl. Obgleich wir viel lieber als Krieger ge⸗
kämpft hättten, werden wir, da Sie es ſo gern wollen,
dieſe unſre Pflicht, lateiniſch Officium genannt, erfüllen.“
„Gut! Sie haben nichts weiter zu tun, als darauf
zu achten, daß keins der Pferde nach dem Tal läuft.
Schwer kann Ihnen das nicht werden, da Sie auf die
Unterſtützung der Cambas rechnen können.“ Br
Er ging. Es war aber klar, daß er nur die Abſicht
hegte, ſie von dem Schauplatz des Zuſammenſtoßes fern⸗
zuhalten. Er traute ihnen nicht, ſondern befürchtete, daß
ſie leicht wieder auf einen Schwabenſtreich geraten könn⸗
ten. Das fühlte Fritze ſehr wohl, und er ärgerte ſich ſo
— 444 —
darüber, daß er ſeinem Herzen unbedingt Luft machen
mußte.
„Sie haben doch ſtudiert, Herr Doktor,“ fragte er,
„und ſind auf einer Univerſität jeweſen?“
„Auf dreien ſogar.“
„Und jetzt ſollen Sie die Pferde hüten! Laſſen Sie
dat Ihnen jefallen?“
„Was ſoll ich dagegen tun?“
„Welche Frage! Wir tun einfach ſo, als ob er uns
jar nichts jeſagt hätte. Wir laſſen die Pferde Pferde
ſind und jehen heimlich mit in den Kampf.“
„Ich würde gern, ſehr gern mittun; aber ich habe
dem Vater Jaguar doch versprochen, bei den Pferden zu
bleiben.“
„Dat war ja nur Vorwand von ihm. Um die
Pferde handelt es ſich jar nicht, denn für die ſind die
Cambas da. Wir ſollen nur vom Kampf fernjehalten
werden. Wat vor eine Blamage! Wat müſſen die Ro⸗
ten von Sie und von mich denken!“
„Alle Teufel, das iſt wahr!“ meinte Morgenſtern
mit bedeutend mehr Feuer als bisher. „Die Indianer
müſſen uns wirklich für alte Weiber halten. Fritze, ich
mache mit!“
„Jut! Wir werden wie die Löwen fechten! Wehe
dem, der an meinem Mut zweifelt; ſein letzter Lebenstag
hat ausjeſchlagen!“ —
Ungefähr eine Stunde vor Mittag wurde Aufſtel⸗
lung genommen. Die Weißen ſetzten ſich mit achtzig
Cambas zunächſt in Bewegung, um unter Geronimos
Anführung draußen vor dem Tal ſich zu verſtecken. Die
graſige Mitte des Talkeſſels durfte nicht betreten wer⸗
den, damit die Abipones keine Spur ſehen möchten.
Die Krieger gingen, einer hinter dem andern, an dem
— 445 —
Rand des Keſſels unter den Bäumen hin und blieben
auch, als ſie das Tal verließen und ſich rechts nach dem
Wald wendeten, ſtets ſo hinter den Büſchen, daß man
von außen ihre Spuren nicht ſehen konnte. Erſt als der
letzte von ihnen ſich wohl zweihundert Schritte weit von
dem Eingang entfernt hatte, blieben ſie ſtehen, um die
Ankunft der Feinde zu erwarten und dann die Falle zu
ſchließen.
Die übrigen, lauter Rote, zählten über fünfhundert
Mann. Sie hatten den Rand des Tales rundum zu
beſetzen, die eine Hälfte rechts und die andre links.
Darum mußten ſie zwei Abteilungen bilden, die inner⸗
halb des Tales nach beiden Seiten abbogen. Der Vater
Jaguar befand ſich auf der rechten Seite; darum ge⸗
ſellten Morgenſtern und Fritze ſich heimlich zu denen,
welche die linke Seite zu beſetzen hatten.
Die beiden kleinen Ungehorſamen drängten ſich in
ihrem Eifer ſo weit vor, daß ſie, als die lange Linie ſich
nach einiger Zeit entwickelte und ein jeder ſeine Stel⸗
lung genommen hatte, ſich an der Spitze befanden. Sie
ſtanden ganz vorn, nahe dem Eingang des Tales, ohne
daß der Vater Jaguar ihre Anweſenheit ahnte.
Außer ihnen gab es noch einen Weißen, welcher
nicht mit Geronimo hinausmarſchiert war, nämlich den
Leutnant Verano. Als man ſich allgemein in Bewe⸗
gung geſetzt hatte, war der Vater Jaguar zu ihm ge⸗
kommen, um ihn zu fragen: „Sie wiſſen, Seüor, was
ich Ihnen geſagt habe. Wollen Sie ſich dennoch an
unſrer Aufſtellung beteiligen?“
5 Ss a.”
„So erſuche ich Sie, von jetzt an an meiner Seite
zu bleiben.“
Be |
„Ich verſtehe, Senor. Sie wollen meine Perſon in
Beſchlag nehmen und unter Ihre Auflicht ſtellen, weil
Sie mir nicht trauen. Nun, ich will nicht widerſtreben
und gehe mit Ihnen.“
Er hielt ſich neben dem Vater Jaguar und blieb,
als dieſer die Mitte der rechten Stellung erreicht hatte,
bei ihm ſtehen. Sein Geſicht hatte einen ſo gleichgül⸗
tigen Ausdruck, daß es ſehr leicht täuſchen konnte, doch
war er feſt entſchloſſen, im paſſenden Augenblick den ver⸗
hängnisvollen Schuß zu tun.
Fritze drüben auf der andern Seite ließ ſich von
einem der Cambas ein Meſſer geben und ſchnitt zwei
ſtarke Knüppel aus einem Strauch, von denen er einen
ſeinem Herrn gab. Dies waren ihre einzigen Waffen,
da ihnen die Gewehre am Knochenſumpf abgenommen
worden waren.
„So,“ ſagte er mit vergnügtem Lächeln, „wer mit
dieſem Ausrufe⸗ und Erinnerungszeichen einen Hieb auf
den Kopf bekommt, der findet ſicher keine Zeit, ſich dafür
zu bedanken.“
Die Roten wußten nicht, welche Aufgabe die beiden
erhalten hatten, und waren ihnen darum nicht hinder⸗
lich geweſen, mit ihnen zu gehen. Fritze brannte vor
Begierde, ſeine hölzerne Waffe in Anwendung zu brin⸗
gen, und auch der Doktor wünſchte ſehr, ſeinen Mut bald
beweiſen zu können. Darum kamen ihnen die wenigen
Minuten, die ſie warten mußten, faſt wie Stunden vor,
und Fritze meinte ſchließlich, indem er die dichten Büſche
betrachtete, die ſich hinter ihm zur Höhe zogen: „Mich
wird die Zeit zu lang und die Jeduld zu kurz. Wat
meinen Sie? Könnten die Abipones nicht ein wenig
raſcher laufen?“
— 447 —
„Allerdings. Dieſe geſpannte Erwartung iſt unan⸗
genehm.“
„Wenn wir wüßten, ob ſie bald kommen! Gleich
neben uns iſt der Einjang zum Tal. Könnten wir da
auf die Höhe ſteigen, ſo müßten wir die Feinde kommen
ſehen.“
„Das iſt wahr. Aber die Büſche ſcheinen zu dicht
zu ſtehen.“
„Wollen's doch mal verſuchen. Wir ſind kleine
Kerls und kommen wohl leichter durch als andre, die wie
Ihre Gigantochelonia jebaut ſind.“
„Sprich nicht wieder von dieſem Tier; ich mag
nichts davon hören!“
Fritze kroch voran, um Bahn zu brechen, und ſein
Herr folgte ihm. Es war ſehr ſchwer, durch das feſte
Dickicht zu kommen, aber doch nicht unmöglich. Nach
längerer Anſtrengung erreichten die beiden, freilich mit
ziemlich zerfetzten Anzügen, die Höhe des Felſens, der die
eine Seite des Eingangs bildete. Oben ſtanden auch
Bäume und Sträucher; aber die auswärts nach der
Ebene gerichtete Seite des Felſens war ziemlich kahl.
Kaum oben angelangt und die Blicke nach Oſten ge⸗
richtet, ſahen ſie die Erwarteten kommen, langſam, ſo,
wie Fußgänger marſchieren, die ſich nicht übermäßig er⸗
müden wollen.
„Da ſind ſie! Jott ſei Dank, da ſind ſie endlich!“
rief Fritze aus, indem er vor Freude ſeine Hände wie
ein Kind zuſammenſchlug. „Nun wird der Tanz bald
losjehen, Herr Doktor!“
Von da oben aus, wo die beiden Lauſcher hinter
den Sträuchern lagen, konnte man nicht nur weit hin⸗
aus in die Ebene blicken, ſondern auch nach innen das
ganze Tal überſehen. Dieſes letztere lag fo ſtill, ruhig
— 448 —
und unbelebt da, als ob ſich kein einziges menſchliches
Weſen in der Nähe befinde. Draußen kamen die Abi⸗
pones immer näher, voran die fünfzig Reiter. Schon
konnte man die einzelnen Geſichter unterſcheiden.
„Können Sie die Leute ſehen?“ fragte Fritze.
„Sehen Sie, wer an der Spitze reitet? Kennen Sie
ihn, den oberſten aller Halunken?“
„Ja; es iſt der Gambuſino.“
„Und rechts neben ihm?“
„Antonio Perillo, der Stierkämpfer. Aber wir
müſſen leiſer reden, ſonſt hören ſie uns, wenn ſie da
unten anjekommen ſind.“
Dieſe Mahnung war ganz am rechten Platz, denn
die Felſen, die das Tor zum Tal bildeten und auf deren
einem ſich die beiden befanden, waren höchſtens zwanzig
Ellen hoch. Wie bereits erwähnt, hielt der Zug am
Tor an und der Häuptling ritt ein Stück in das Tal
hinein, um zu unterſuchen, ob es leer ſei. Seine Un⸗
terſuchung war eine höchſt oberflächliche. Er kehrte
zurück und meldete, daß das Tal unbeſetzt ſei. Dann
führte er ſeine Roten in den Keſſel des ausgetrockneten
Sees.
Sie folgten ihm bis an den kleinen See, der in der
Mitte lag, und breiteten ſich an deſſen Ufer aus. Keiner
von ihnen ahnte, daß er ſich in einer Falle befand, aus
der es kein Entrinnen gab. Als der letzte der Roten
durch den Eingang geſchritten war, folgten die Reiter.
„Der Gambuſino will den Letzten machen,“ flüſterte
Fritze dem Doktor zu. „Schade, daß wir zu hoch hier
liejen! Ick möchte ihm jar zu jerne einen Klaps auf
die Naſe jeben!“
Er ſchwang ſeinen Knüppel, als ob er zuſchlagen
wolle. Der Buſch, hinter dem ſie lagen, hatte ſeine
— 449 —
Wurzeln jahrelang tief in den Boden eingeſchlagen;
durch den Einfluß des Wetters war der Boden riſſig und
brüchig geworden. Gerade unter ihnen hielt der Gam⸗
buſino auf ſeinem Pferd; jetzt drängte es ſich näher an
den Felſen; der Reiter war nicht mehr zu ſehen; darum
ſchob ſich Morgenſtern neugierig noch weiter vor, wobei
er leiſe fragte: „Ob er ſchon durch den Eingang iſt?“
Die Antwort auf dieſe Frage ſollte ihm ganz an⸗
ders werden, als er gedacht hatte und ihm lieb ſein
konnte. Er hatte ſich nämlich zu weit vorgeſchoben
und dem lockeren Boden zu viel Vertrauen geſchenkt;
dieſer letztere kam ins Rutſchen und zwar ſo ſchnell, daß
von einem rechtzeitigen Zurückweichen gar keine Rede
mehr ſein konnte; der Doktor ruſchte mit.
„Halt, halt! Um Jottes willen!“ rief Fritze vor
Angſt ſo laut, daß man es weithin hörte. „Wohin ſoll
die Reiſe jehen? Doch nicht etwa da hinunter! Dat
jebe ick nicht zu!“
Er faßte ſeinen Herrn an den beiden Beinen, um
ihn zu halten; da aber die Erde nun auch unter ihm
nachgab, kam auch er ins Rutſchen, und ſo glitten, roll⸗
ten und kugelten ſie, ohne daß ſie losließen, bald hier
an einen Buſch, bald dort an einen Baumſtamm
ſtoßend, den Felſen, der auf dieſer Seite glücklicherweiſe
nicht ſteil war, hinab und blieben gerade vor dem Pferd
des Gambuſino liegen. |
Diefer war mit Antonio Perillo und dem Haupt⸗
mann Pellejo noch allein zurück, da auch die andern
Weißen ſchon innerhalb des Eingangs verſchwunden
waren. Er hörte den Angſtruf des Dieners über ſich,
blickte empor und ſah die beiden verunglückten Lauſcher
von oben heruntergeflogen kommen. Sie blieben, wie
bereits geſagt, gerade vor ihm liegen und vergaßen in⸗
May, Das Vermächtnis dee Inka 29
— 450 —
folge der kräftigen Stöße, die ſie erlitten hatten, für
kurze Zeit das Aufſtehen.
„Wer iſt denn das?“ fragte er erſtaunt. „Die
ſollte ich doch kennen!“ i |
„Que sorpresal“ rief Antonio Perillo. „Ich will
des Teufels fein, wenn das nicht unſre Gefangenen
ſind, die wir geſtern vergeblich aufgehängt haben. Heda,
ihr Halunken, ſeid ihr tot oder lebt ihr noch?“
Er ſtieß fie vom Pferd herab mit feinem Gewehr⸗
kolben ſo derb an, daß ſie aus ihrer augenblicklichen Be⸗
täubung erwachten. Fritze nahm ſich am ſchnellſten zu⸗
ſammen; er befühlte ſeine Glieder und hob, als er dieſe
unzerbrochen fand, ſeinen Herrn auf.
„Wie iſt's abjelaufen?“ fragte er ihn, die Todfeinde
gar nicht beachtend. „Hat Ihr Körper jut zuſammen⸗
jehalten, oder ſind ein paar Jelenke zerriſſen?“
Der Doktor befühlte ſich auch und antwortete dann:
„Es ſcheint nichts zerbrochen zu ſein, aber der Kopf
brummt mir wie eine Pauke, lateiniſch Tympanum
genannt.“
„Dat jibt ſich wieder. Wie ſind Sie nur ins
Rollen jekommen?“ |
„Ganz fo wie du, der du doch auch —*
„Schweigt!“ fuhr ſie der Gambuſino an. „Jetzt
habe nur ich mit euch zu ſprechen! Wo ſeid ihr denn
geſtern abend hingekommen?“
„Hierher,“ antwortete Fritze.
„Das ſehe ich! Aber wer hat euch losgebunden?“
„Niemand. Wir haben uns losgebiſſen.“
„Menſch, wenn du ſo gute Laune haſt, daß es dir
beikommt, Scherz mit uns zu treiben, ſo will ich dich
bald in eine andre Stimmung bringen! Ich will
wiſſen, wer euch befreit hat!“
— 1
„Und ich kann nichts andres antworten, als was
ich ſchon geſagt habe. Wir haben uns ſelbſt losgemacht.“
„Auf welche Weiſe?“
„Fällt mir nicht ein, dies zu verraten! Wenn ich
es erkläre, und ihr hängt uns wieder auf, könnten wir
dann nicht herunter, denn ihr würdet euch beſſer vor⸗
ſehen.“
„Iſt das etwa wieder Hohn? Ich frage, wer euch
befreit hat. Iſt's nicht der Vater Jaguar geweſen?“
„Seid jetzt nicht ſo neugierig! Später werden wir
es Euch erzählen.“
Er nahm ſeinen Herrn bei der Hand und eilte mit
ihm fort, zum Felſentor hinein. Antonio Perillo zog
ſeine Piſtole, aber der Gambuſino meinte, indem er
höhniſch auflachte: „Laß ſie nur! Sie entgehen uns
nicht. Sie ſcheinen nicht zu wiſſen, daß ſich die Krieger
ſchon hier befinden und werden arg erſchrecken, wenn ſie
dieſe ſehen.“
Sie folgten den Vorangeflohenen. Der Hauptmann
Pellejo machten den Letzten. Als ſie das Tor hinter
ſich hatten, ſahen ſie den Doktor und ſeinen Diener eben
rechts hinter den nächſten Büſchen verſchwinden. Zu
gleicher Zeit aber erblickten ſie zu ihrer Beſtürzung
einen anderen ihrer Feinde: ſoeben trat der Vater Ja⸗
guar am linken Rande des Tals unter den Bäumen
hervor. |
„Todos los diablos!“ rief der Gambuſino. „Das
iſt der Vater Jaguar.“
Er hielt unwillkürlich ſein Pferd an, und die
beiden andern taten mit den ihrigen dasſelbe. Da
ſahen ſie hinter dem Vater Jaguar ein leichtes Rauch⸗
wölkchen erſcheinen, und im nächſten Augenblick krachte
— 452 —
ein Schuß. Was nun geſchah, kann unmöglich in der
zehnfachen, ja nicht in der fünfzigfachen Zeit erzählt wer⸗
den, in der es ſich abſpielte.
Der Vater Jaguar hatte durch das Gebüſch den
Anmarſch der Feinde beobachtet. Aber eben dieſes Ge⸗
büſch, das ſo dicht ſein mußte, daß es ihn verbarg, ver⸗
hinderte ihn, genau zu ſehen. Er konnte die Geſichts⸗
züge der einzelnen, oft ſogar ſelbſt ihre Geſtalten, nicht
erkennen. Er ſah erſt die Roten kommen, dann die
weißen Reiter, und als hierauf der Zuzug ſtockte, weil
der Gambuſino, Perillo und Pellejo draußen geblieben
waren, glaubte er, daß nun alle im Tale verſammelt
ſeien. Darum hatte er dem Leutnant Verano noch eine
Warnung zugerufen und war aus dem Geſträuch her⸗
vorgetreten. Zwar ſah er in dieſem Augenblick erſt den
Gambuſino mit ſeinen beiden Begleitern erſcheinen;
aber er konnte unmöglich wieder zurück. Verano aber
hielt ſeine Zeit für gekommen. Er hob ſein Gewehr,
legte es an, zielte auf den Häuptling der Abipones und
drückte ab. Der Schuß krachte und der Häuptling
ſtürzte, durch den Kopf getroffen, am Waſſer nieder.
Eine halbminutenlange Pauſe des Entſetzens folgte;
dann erhoben die Abipones ein Geheul, das von den
Wänden des Tales wiederhallte. Der Vater Jaguar
wendete ſich, als der Schuß hinter ihm krachte, blitz⸗
ſchnell um. Er ſah den Leutnant mit noch erhobenem
Gewehr ſtehen und ſtand 959 einigen raſchen Sprüngen
neben ihm.
„Schurke, Verräter, Mörder!“ donnerte er ihn an.
„Iſt das der Gehorſam, den ich von dir forderte?“
„Ich habe keinem Menſchen zu gehorchen,“ ant⸗
wortete der Mann trotzig.
„Auch Gott nicht, der den Mord verboten hat?
— 4583 —
Und du biſt nicht ein einfacher, ſondern ein Maſſen⸗
mörder!“
„Ich habe nur den Häuptling erſchoſſen!“
„Nein, denn dein Schuß iſt das Signal zu ſechs⸗
hundert andern. Horch!“
Von beiden Seiten des Tales krachten die Schüſſe
der Cambas unter den Bäumen hervor. Man ſah die
Abipones in Maſſe niederſtürzen, und vorn am Ein⸗
gang rief eine laute, donnernde Stimme: „Flieht,
rettet euch! Ihr ſeid von allen Seiten umzingelt!“
Es war der Gambuſino, der dieſe Worte mit ſolcher
Stimme rief, daß ſie über das ganze Tal hin ſchallten.
Dann warf er ſein Pferd herum und jagte hinaus. An⸗
tonio Perillo folgte ihm. Dabei kamen ſie an Kapitän
Pellejo vorüber, der ſoeben als Letzter das Tal hatte
betreten wollen. Ein teufliſches Lachen entrang ſich den
Lippen des Stierkämpfers. Er riß ſein Meſſer aus
dem Gürtel, bäumte ſich hoch auf im Sattel und ſtieß
es dem Offizier im Vorüberjagen in die Bruſt. „Du
wirſt nicht plaudern können, du Spion!“ rief er, wäh⸗
rend er mit dem Gambuſino enteilte.
Im gleichen Augenblick fuhr der Vater Jaguar
den Leutnant Verano an: „Schon ſind wenigſtens hun⸗
dert tot, und dort entkommen diejenigen, die ich haben
wollte und haben muß. Ich habe dir geſagt, wie ich
einen ſolchen Mord beſtrafen würde! Din nimm
deinen Lohn!”
Er riß den Revolver hervor, hielt ihn ben Leut⸗
nant blitzſchnell an die Schläfe und drückte ab. Der Un⸗
gehorſame brach augenblicklich tot zuſammen. Dann
warf der gewaltige Mann einen ſchnellen Blick über das
Tal. Eben krachte eine neue Salve der Cambas, die
— 464 —
zehnfach gefährlich waren, weil ſie von den Abipones
nicht geſehen werden konnten; die letzteren ſtürzten zu
zehn und zwanzig zuſammen. Was ſollte er tun? Den
Gambuſino und Antonio Perillo entkommen laſſen oder
hier bleiben, um dem Morden Einhalt zu tun? Da
eben kam Geronimo mit den Seinen durch den Ein⸗
gang geſtürmt; das brachte ihn ſchnell zur Entſcheidung.
Er rannte auf eins der Abiponespferde zu, die von den
Schüſſen erſchreckt, ſcheu im Tal herumrannten, und
ſprang auf. Zu gleicher Zeit mit ihm kam der alte An⸗
ciano mit geſchwungenem Gewehr geſprungen, warf ſich
auf ein zweites und rief ihm dabei zu: „Senor, An⸗
tonio Perillo, der Mörder meines Inka, entkommt. Ich
muß ihm nach, muß ihn haben!“
„Ich reite mit,“ antwortete er. „Halte dich zu
mir!“
Sie jagten nebeneinander nach dem Eingang zu.
Dort hielt der Vater Jaguar ſein Pferd für einen
Augenblick an und rief Geronimo zu: „Haſt du die
zwei fliehenden Reiter geſehen?“ |
„Ja. Wir konnten fie nicht halten, da wir keine
Pferde hatten.“
„Nach welcher Seite haben ſie ſich gewendet?“
„Nach links, vom Tal aus.“
„Tu ſchnell dem Blutvergießen Einhalt! Der
Kampf mag ruhen, bis ich wiederkomme!“
Dann ſchoß er mit dem alten Anciano zwiſchen den
beiden Felſen hindurch und riß ſein Pferd nach links
herum, wo er die Spuren der Flüchtigen im Gras ſah.
Von dem Augenblick an, wo der Gambuſino feine
Warnung ausgerufen und das Tal verlaſſen hatte, bis
zum gegenwärtigen Zeitpunkt waren höchſtens zwei Mi⸗
nuten vergangen, und doch waren die Geſtalten der
— 455 —
beiden Reiter ſchon faſt am nördlichen Horizont zu
ſehen.
„Wir holen ſie nicht ein, denn wir haben fremde
Pferde, die nichts taugen,“ knirſchte der alte Anciano.
„Wir holen fie ein, denn wir müſſen fie haben,“
knirſchte der Vater Jaguar.
Die beiden ſtanden, um ihre Laſt zu verringern,
mit vorgebeugten Oberkörpern hoch in den Bügeln und
trieben ihre Pferde durch Schläge und Sporen an. Der
Zwiſchenraum verringerte ſich langſam. Nicht nur Ans
ciano, ſondern auch Hammer, der ſonſt keinem Tier
etwas zu Leid tun konnte, preßte jetzt dem Pferd die
Sporen in die Weichen, daß es ſich vor Schmerz bäumte.
Sie flogen nur ſo über den ebenen, graſigen Plan, pa⸗
rallel mit dem Rande des Waldes, der ſich von dem Tal
des ausgetrockneten Sees aus nach Norden erſtreckte.
Der Zwiſchenraum verringerte ſich mehr und mehr und
die Fliehenden verloren zuſehends den Vorſprung, den
ſie gehabt hatten.
„Wenn man ihnen die Pferde unter den Beinen
wegſchießen könnte!“ keuchte Anciano.
„Leichtigkeit!“ antwortete der Vater Jaguar.
„Leichtigkeit? Ich halte es für unmöglich.“
„Ich könnte es; aber gerade dann würden ſie ent⸗
kommen. Sie würden ſich zu Fuß in den Wald retten
und dieſer iſt ſo dicht, daß wir die Verfolgung ſogleich
aufgeben müßten. Ich begreife überhaupt nicht, warum
ſie nicht ſchon längſt die Pferde preisgegeben und ſich in
den Wald gerettet haben. Solange ſie im Sattel blei⸗
ben, bin ich ſicher, ſie einzuholen. Wir müſſen alſo ver⸗
ſuchen, ſie vom Wald abzubringen und in den offenen
Campo hinauszutreiben.“
Leider glückte es nicht, dieſen Plan auszuführen.
— 456 —
Der Gambuſino hatte das beſſere Pferd; da er aber
viel ſchwerer war als Perillo, ſo blieb er nicht im Vor⸗
ſprung, ſondern die beiden Pferde jagten Kopf an Kopf
nebeneinander hin. Mit Bangen bemerkten die Flücht⸗
linge, daß ſich die Strecke zwiſchen ihnen und den Ver⸗
folgern mehr und mehr verringerte. Vergebens bohr⸗
ten ſie ihren armen Tieren die Meſſer in die Weichen,
um ſie zur äußerſten Kraftentfaltung anzutreiben. Jetzt
ſah der Gambuſino ſich wieder um und erſchrak.
„Cascaras!“ ſchimpfte er grimmig. „Die Schufte
ſind uns auf den Ferſen und wollen uns vom Wald ab⸗
bringen. Stecke alles, was du in den Satteltaſchen haſt,
zu dir und dann herab von den Pferden und ins Ge⸗
ſträuch hinein!“
Perillo ſagte kein Wort, denn er wußte, daß der
andre recht hatte. Sie leerten die Satteltaſchen, lenkten
ihre Pferde ſchräg dem Wald zu, ſprangen, als ſie dieſen
erreicht hatten, ab und jagten in das Dickicht hinein.
Perillo wollte raſch tiefer eindringen; der Gambuſino
aber hielt ihn am Arm zurück und gebot: „Bleib!
Hier ſind wir ſo ſicher wie in Abrahams Schoß. Meinſt
du, daß dieſer Vater Jaguar ſich heranwagt und ſich
unſern Kugeln ausſetzt?“
Sie ſtanden alſo hinter dem vorderen Gebüſch,
hielten ihre Gewehre ſchußbereit und lauſchten ange⸗
ſtrengt zurück, ob ſie die Nahenden ſehen oder hören
würden. Sie bekamen aber nichts zu ſehen, und es
blieb draußen ſtill und ruhig.
„Siehſt du, daß ich recht habe,“ meinte der Gam⸗
buſino. „Sie büten ſich ſehr, heranzukommen.“
„Dann ſcheinen wir gerettet zu fein. Wir können
bier rubig abwarten, bis die beiden Kerls ſich entfernt
daben, und reiten dann weiter.“
— 457 —
„Weiterreiten? Darauf müſſen wir verzichten.“
„Wieſo?“
„Weil wir keine Pferde haben werden.“
„Sie ſtehen doch draußen! Ich ſehe ſie von hier.
Sie ſind, als wir abſprangen, nur eine kleine Strecke
weiter gelaufen.“
„Das weiß ich wohl, denn ich ſehe ſie ebenfo gut
wie du. Aber denke ja nicht, daß der Vater Jaguar ſo
dumm fein wird, fie uns zu laſſen! Wir werden den
größten Teil des weiten Weges nach der Barranca del
Homikidio zu Fuß zurücklegen müſſen. Es war ein
kluger Gedanke, daß du den Kapitän um die Ecke ge⸗
bracht haſt; jetzt haben die Kerls keine Ahnung, wohin
wir uns wenden. Horch! Da ſiehſt du, daß ich recht
gehabt habe.“
Es waren nämlich draußen ſoeben zwei Schüſſe ge⸗
fallen, worauf die beiden Pferde, von den Kugeln Ham⸗
mers getroffen, tot niederſtürzten. Der Gambuſino
hatte den Vater Jaguar ganz richtig beurteilt. Als die
beiden Flüchlinge von ihren Pferden ſprangen und im
Wald verſchwanden, hatte der alte Anciano fröhlich
ausgerufen: „Sie ſehen ein, daß wir ſie einholen wer⸗
den und verſtecken ſich in den Büſchen. Jetzt haben wir
ſie. Wir müſſen ihnen nach, ſchnell hinter ihnen her!“
Er wollte ſein Pferd zu möglichſt noch größerer
Eile antreiben, um die Stelle, wo die beiden verſchwun⸗
den waren, ſchnell zu erreichen; aber Hammer, der eng
neben ihm ritt, griff ihm in die Zügel, und es gelang
ihm, die Pferde nach einigen Sätzen anzuhalten.
„Was fällt dir ein?“ ſagte er. „Willſt du in den
Tod reiten? Wir müſſen anhalten.“
„Anhalten? fragte der Alte erſtaunt. „Dann ent⸗
gehen ſie uns ja! Sie werden trotz der Dichtheit des
— 458 —
Waldes ſo tief darin eindringen, daß es uns unmöglich
iſt, ſie zu finden.“
„Nein, das werden ſie nicht. Ich wette, ſie ſind am
Rande des Gebüſches ſtehen geblieben, um uns, mit den
Gewehren in den Händen, zu erwarten. Wenn wir uns
ihnen nähern, bekommen wir ihre Kugeln.“
„Das iſt wahr, Senor; daran dachte ich nicht. Aber
ſollen wir dieſe Halunken entkommen laſſen?“
Der Vater Jaguar antwortete nicht ſofort. Sein
Geſicht nahm den Ausdruck grimmiger Entſagung an.
Er blickte eine Weile finſter vor ſich nieder und ſagte
dann, indem das zornige Knirſchen ſeiner Zähne zu
hören war: „Es bleibt uns wohl nichts andres übrig,
als zurückzureiten.“
„Aber ich will und muß dieſen Antonio Perillo,
dieſen Mörder, haben.“ a
„Und ich will und muß den Gambuſino erreichen;
aber wenn wir uns zur Unvorſichtigkeit hinreißen laſſen,
werden ſie uns bekommen, anſtatt wir ſie.“
„Gibt es denn kein Mittel, keinen Weg, Senor?
Sie ſind ſo erfahren, ſo liſtig. Sie ſind niemals um
eine Auskunft verlegen. Sollten Sie gerade jetzt, wo es
ſich um alles handelt, wo wir ſchon ſo nahe am Ziel
waren, von Ihrem Scharfſinn verlaſſen werden?“
„Nein, doch nicht ſo ganz, wie du denkſt,“ antwor⸗
tete Hammer, indem ſein Geſicht ſich wieder aufzuheitern
begann. „Wir müſſen ſie laufen laſſen, doch nur einſt⸗
weilen. Wir kennen den Ort, wo ſie ſich jetzt befinden,
und werden ihrer Fährte folgen.“
„Aber dies können wir doch nicht jetzt, ſondern erſt
ſpäter tun!“
— 459 —
„Allerdings. Jetzt müſſen wir nach dem Tal
zurückkehren, wo meine Anweſenheit zunächſt notwendi⸗
ger ſein wird als hier.“
„Dann kommen die beiden Schurken hervor, ſetzen
ſich auf ihre Pferde, die dort vor dem Gebüſch ſtehen,
und reiten davon, ſie erhalten dadurch einen Vorſprung,
den wir nicht einholen können.“
„Sie werden nicht reiten können, e gehen
müſſen. Dafür ſorge ich jetzt.“
Er legte ſein Doppelgewehr an und richtete es nach
der Stelle, wo die Pferde der Flüchtlinge ſtanden. Die
beiden Kugeln trafen ſo genau, daß die Tiere ſofort
niederſtürzten. Der Vater Jaguar wendete ſein Pferd,
ohne noch einmal zurückzublicken. Anciano aber folgte
ihm nicht eher, als bis er die Fauſt drohend gegen die
Stelle geſchüttelt hatte, wo die entkommenen Feinde zu
vermuten waren. Der ſonſt ſo ruhige und bedächtige
Greis zitterte vor Grimm darüber, daß die .
ein ſolches Ende genommen hatte.
Als ſie am Tale des ausgetrockneten Sees inte
men, wurden fie von einer Cambasſchar empfangen, die
den Eingang des Tales zu beaufſichtigen hatte. Der
„Harte Schädel“ befehligte ſie. Von dem Vater Jaguar
befragt, wie es im Tale ſtehe, antwortete dieſer: „Es
ſteht gerade fo, wie wir es erwartet haben, Senor. Wir
ſind Sieger geblieben.“
„Das verſteht ſich ganz von ſelbſt, denn uns zu be⸗
fiegen, war für die Abipones gar keine Möglichkeit vor⸗
handen. Wenn ich fragte, ſo geſchah es um dieſer
letzteren willen. Ihr habt nach meiner Entfernung doch
nicht wieder geſchoſſen?“ f
„Noch einigemal, Sehor.“
— 460 —
„Warum?“ fuhr Hammer auf. „Das iſt der reine
Mord!“
„Sie waren und find unſre Feinde und hätten uns,
wenn ſie Sieger geblieben wären, bis auf den letzten
Mann getötet.“
„So müßt ihr ſie ja faſt alle erſchoſſen haben! Ich
befahl doch Geronimo, dem Morden Einhalt zu tun.
Komm, Anciano, wir wollen ſehen!“
| Die beiden ritten durch den Eingang in das Tal.
Was ſie da ſahen, war ſehr traurig. Die Cambas,
welche vorher unter den Bäumen verborgen geweſen
waren, hatten ihre Verſtecke verlaſſen, um ihren Geg⸗
nern ſich und ihre Uebermacht zu zeigen. Sie hatten,
jetzt vor den Bäumen ſitzend und ihre Waffen noch
immer bereit haltend, den ganzen Rand des Tales
rundum eingenommen. Rechts, wo vorher der Vater
Jaguar poſtiert geweſen war, ſtand jetzt Geronimo mit
ſeinen weißen Gefährten. Doktor Morgenſtern und ſein
Fritze waren auch dabei.
Die Abipones befanden ſich noch am Ufer des
kleinen Sees; ſie wagten es nicht, einen Vorſtoß zu
unternehmen, und hatten ihre Toten und Verwundeten
zuſammengetragen. Der Augenſchein lehrte, daß wohl
mehr als die Hälfte von ihnen gefallen war. Das er⸗
regte den Zorn des Vater Jaguar. Er galoppierte zu
Geronimo hin, ſchwang ſich aus dem Sattel und fragte
in ſcharfem Ton: „Wie kommt es, daß ich ſo viele
Leichen ſehe, von den Verwundeten gar nicht zu
ſprechen? Ich hatte dir doch geſagt, daß bis zu meiner
Rückkehr nicht mehr geſchoſſen werden ſollte!“
„Ich trage nicht die Schuld, daß es anders gekom⸗
men iſt,“ antwortete Geronimo. „Man gehorchte mir
— 14681 —
nicht, und ich habe geradezu drohen müſſen, ehe man
Einhalt tat.“
„Dann wollen wir den Ueberlebenden wenigſtens
nicht die härteſten Bedingungen ſtellen. Leider hat
Leutnant Verano den Oberhäuptling der Abipones er⸗
ſchoſſen; wir werden alſo mit den Unterhäuptlingen zu
verhandeln haben. Sende einen Boten an fie! Sie mö-
gen zu mir kommen. Ich ſichere ihnen freies Geleit zu.
Aber ohne Waffen müſſen fie fein.”
Während der Bote abging, wendete ſich Hammer,
natürlich in deutſcher Sprache, an Morgenſtern: „Ich
hatte Ihnen doch angedeutet, draußen vor dem Tal bei
den Pferden zu bleiben. Wie find Sie denn eigentlich
auf die entgegengeſetzte Seite des Tales und noch dazu
in die Hände der Feinde gekommen?“
Der Kleine antwortete: „Infolge unſrer Tapfer⸗
keit, lateiniſch Fortitudo oder auch Strenuitas genannt.“
„Alſo Ungehorſam! Es iſt doch ſonderbar, daß
Ihre Tapferkeit ſtets Schaden zur Folge hat! Es muß
ſich alſo bei Ihnen beiden um eine ganz unglückliche Art
von Fortitudo oder Strenuitas handeln.“
In dieſem Augenblick kam einer ſeiner Gefährten,
um ihm mitzuteilen, daß der ſterbende Kapitän Pellejo
ihn zu ſprechen wünſche. Raſch eilte er, gefolgt von An⸗
ciano, zu der Stelle, wo man den Schwerverletzten auf
Laub gebettet und notdürftig verbunden hatte. Durch
den Verband rann das Blut, und er hielt die Hand auf
die Wunde, als ob er dadurch das entfliehende Leben
zurückhalten könne. Der Vater Jaguar ſah es ſeinem
todesbleichen Geſicht und den ſchon ſtarr werdenden
Augen an, daß jede Hilfe hier unmöglich ſei; dennoch
kniete er bei dem Verwundeten nieder, um die Wunde
zu unterſuchen.
— 462 —
„Geben Sie ſich keine Mühe, Senor,“ ſagte Pellejo
mit ſchwacher Stimme. „Ich fühle, daß der Stich im
Leben ſitzt.“
„Ich ſehe leider, daß es keine Rettung für Sie gibt.
Sie haben nur noch wenige Minuten zu leben. Wollen
Sie Ihr Gewiſſen erleichtern? Haben Sie einen Wunſch,
den ich Ihnen vielleicht erfüllen kann?“
| „Einen Wunſch — — —? Ja!“ antwortete der
Gefragte, indem ſein Auge für einige Sekunden neues
Leben bekam. „Rächen Sie meinen Tod, Senor!“
„Ich will es tun. Auch ich habe eine ſchwere Rech⸗
nung mit den Entflohenen und werde den an Ihnen
begangenen Mord dazu addieren. Aber unterſtützen Sie
mich! Kennen Sie die Pläne dieſer beiden Männer?“
„Ja,“ antwortete Pellejo, indem er die Hand
krampfhaft auf die Wunde drückte. „Meine Augen⸗
blicke ſind gezählt, aber ſie werden ausreichen, Ihnen
mitzuteilen, was ich erlauſcht habe. Der Gambuſino
und Perillo wollten durch den jetzigen Kriegszug und
das darauf folgende Pronunciamiento reich werden. Sie
hofſten, reiche Beute zu machen. Darauf müſſen ſie
nun verzichten. Dafür aber wollen ſie ſich den ge⸗
wünſchten Reichtum aus den Bergen holen.“
„Ach! Kennen Sie den Ort?“
„Ja. Er liegt in der Nähe der Salina del Condor.“
„Kennen Sie den Namen?“
„Ich kenne ihn; aber ich bin ſchon ſo ſchwach, daß
— daß ich mich erſt noch beſinnen muß.“
„War es vielleicht die Barranca del Homicidio?“
„Ja, ja, die war es!“ antwortete der Sterbende
lebhafter als bisher.
„Soll es denn dort Schätze geben?“
„Große Reichtümer aus der Inkazeit!“
„Woher weiß das der Gambuſino?“
„Antonio Perillo erzählte es ihm. Dieſer hat
einen Indianer belauſcht, der in einer Vollmondnacht
in die Barranca ſtieg und am nächſten Morgen mit
Koſtbarkeiten beladen wieder herauf kam. Er iſt dem
Indianer nach und hat ihn ermordet, um ihn zu be⸗
rauben. Sogar ſeine Kopfhaut hat er mitgenommen.“
Der alte Anciano ließ einige dumpfe, unverſtänd⸗
liche Worte hören. Der Vater Jaguar fragte weiter:
„Iſt Perillo ſpäter wieder in der Barranca geweſen?“
„Ja. Er hat nach den Schätzen geſucht, aber nichts
gefunden. Nun will er jetzt mit dem Gambuſino hin⸗
auf, weil dieſer erfahrener und ſcharfſinniger iſt.“
„Sie wiſſen das genau?“
„Ich hörte es von ihnen ſelbſt. Ich belauſchte ſie
geſtern, ohne daß fie es ahnten und — — —“
Er hatte nur in kurzen Abſätzen geſprochen und die
Worte oft einzeln und mühſam hervorgeſtoßen; ſeine
Stimme war dabei immer ſchwächer geworden. Jetzt
riß es ihm mitten in der Rede die Hand von der Wunde
weg; er bäumte ſich mit einem gurgelnden Schrei empor
und ſank dann wieder nieder. Seine Augen ſchloſſen
ſich; er röchelte leiſe und immer leiſer; ſeine Glieder
ſtreckten fi in krampfhaften Zuckungen aus — — —
er war tot.
„Vorüber!“ ſagte der Vater Jaguar, indem er ſich
aufrichtete. „Er war ein Empörer, ein Verräter und
hat hier den gerechten Lohn gefunden. Seine letzten
Worte aber ſind von der größten Wichtigkeit für uns.“
— 464 —
„Ja,“ nickte Anciano ernſt. „Antonio Perillo iſt
mir heute entkommen; aber ich werde mich wie ein
Hund auf ſeine Fährte legen, bis ich ihn ergriffen habe.“
„Was ſeine Fährte betrifft, ſo werden wir dieſe
nicht berückſichtigen. Da wir erfahren haben, daß die
Barranca del Homicidio das Ziel der Mörder iſt,
brauchen wir ja nur dorthin zu reiten, um ſie dort zu
erwarten.“
Fünfzehntes Kapitel
Doktor Morgenſtern am Stiel
Jetzt kamen die Unterhäuptlinge der Abipones her⸗
bei, und vom Eingang her näherte ſich der „Harte Schä⸗
del“, und ſo war es Zeit, die Verhandlungen zu be⸗
ginnen, zumal der Nachmittag ſich zur Rüſte zu neigen
begann.
An dieſer Verhandlung nahmen nur die Weißen
und die Häuptlinge teil. Der Vater Jaguar hielt
einige begütigende Reden, worin er die Forderungen
der Cambas zu mäßigen ſuchte und den Abipones be⸗
wies, daß ihre Freundſchaft mit dem Gambuſino und
ſeinem Anhang ihnen nur Unglück gebracht habe und
daß es für ſie am geratenſten ſei, mit ihren roten Brü⸗
dern in Eintracht und Frieden zu leben. Seine Worte
brachten nach beiden Seiten den beabſichtigten Eindruck
hervor und dann begann eine Art Handel in Beziehung
der Kriegsentſchädigung, welche die Abipones den Cam⸗
bas zu zahlen hatten. Es ging dabei ſehr erregt her,
doch brachte der Vater Jaguar nach einiger Zeit die be⸗
abſichtigte Einigung zuſtande.
Die Cambas hatten heute keinen Mann verloren,
Grund genug, ihre Forderungen nicht zu übertreiben.
Die Abipones waren durch die große Zahl ihrer Toten
May, Das Vermächtnis des Inda 30
— 466 —
und Verwundeten hart beſtraft. Sie mußten alle ihre
Waffen abgeben und dann Frieden ſchwören. Es war
dem Vater Jaguar gelungen, eine Straflieferung von
Pferden und Rindern zu hintertreiben, da die Abipones
dieſe Tiere doch, um ſie den Cambas bringen zu können,
den weißen Anſiedlern vorher hätten rauben müſſen.
Die Cambas jubelten und fanden kaum Worte,
dem Vater Jaguar ihre Dankbarkeit zu bezeigen. Die
Abipones aber waren ſelbſtverſtändlich im höchſten
Grad niedergeſchlagen. Sie ſaßen klagend bei ihren
Leichen und kühlten mit Waſſer die Wunden ihrer Bleſ⸗
ſierten. Heute blieben alle, Sieger und Beſiegte, im
Tal. Morgen ſollten die letzteren waffenlos abziehen,
natürlich nur die Geſunden und Leichtverwundeten,
während die Schwerverwundeten von den Cambas ge⸗
pflegt würden und dann nachkommen ſollten.
Kein Menſch freute ſich darüber, daß ſo viel Blut
gefloſſen war, in der Weiſe, wie Don Parmeſan Rui el
Ibario, denn er glaubte, nun das Licht ſeiner chirur⸗
giſchen Kenntniſſe und Geſchicklichkeit leuchten laſſen zu
können. Er wendete ſich an die Häuptlinge der Abi⸗
pones, um die Erlaubnis zu erhalten, ihre Kranken be⸗
handeln zu dürfen, wurde aber kalt und ohne Dank ab⸗
gewieſen, da dieſe Roten ſich auf die Behandlung der
Wunden weit beſſer als mancher weiße Arzt verſtehen.
Er kehrte darum ganz erboſt von ihnen zurück und ſagte
zu Morgenſtern, dem er ſich am liebſten mitzuteilen
pflegte: „Sind dieſe Kerls nicht Prügel wert, Senor?
Sie weiſen mich ab, obgleich ich ihnen meine Hilfe an⸗
geboten. Sie meinen doch auch, daß ich viele ihrer
Bleſſierten gerettet hätte?“
„Ich bin überzeugt davon,“ antwortete der Ge⸗
fragte in höflicher Weiſe.
— 467 —
„Ja, viele, viele hätte ich gerettet! Ich ſah ſie
liegen, blutend und mit zerſchoſſenen Gliedern. Dieſe
Glieder müſſen herunter, ſonſt kommt der Brand dazu.
Und wer kann ſie kunſtgerechter herunterbringen als
ich? Sie find doch vollſtändig überzeugt, Senor, daß ich
alles, alles herunterſäble?“
„Ich bezweifle es nicht im mindeſten.“
„Dann wollte ich, daß Sie einen Schuß in den
Arm, in das Bein oder in den Leib bekommen hätten.
Sie ſollten ſtaunen, mit welcher Meiſterſchaft ich Ihnen
die Kugel und alle Knochenſplitter aus der Wunde
ziehen und nötigenfalls das verletzte Glied abſchneiden
würde. Es iſt wirklich jammerſchade, daß niemals ein
verſtändnisinniger Mann einen Schuß bekommt!“
Der Abend brach herein und mit ihm kamen Gäſte,
nämlich die Frauen und größeren Kinder der Cambas.
Sie wußten, für welche Zeit man den Kampf vermutet
hatte, und kamen nun, deſſen Ausgang zu erfahren, erſt
einzeln und verzagt, dann aber in hellen Haufen. Sie
hatten reichlich Speiſe und Trank mitgebracht, und da
Friede geſchloſſen war, ſo durften auch die Beſiegten an
dem Mahl teilnehmen. Es brannten viele Feuer, an
denen Freunde und Feinde in den verſchiedenſten Grup⸗
pierungen lagerten.
Obgleich von einer Gefahr keine Rede mehr ſein
konnte, hatte der Vater Jaguar doch einen Doppelpoſten
an den Eingang des Tales poſtiert. Es war das mehr
eine Folge der Gewohnheit. Das mochten die beiden
Indianer, denen dieſer Auftrag geworden war, auch
denken, denn als ſie einige Zeit allein geſtanden hatten,
wurde ihnen die Zeit lang und ſie kehrten, ohne daß der
Vater Jaguar dies bemerkte, an ihr Feuer zurück.
=. AB8:
Dieſer Ungehorſam, ſcheinbar nur eine kleine Nach⸗
läſſigkeit, ſollte von ſchweren Folgen ſein.
Der Gambuſino hatte nämlich mit Antonio Perillo
wohl eine Stunde lang im Gebüſch N ehe er es
wagte, hervorzulugen.
„Ich ſehe niemand,“ ſagte er.
„So ſind ſie fort,“ meinte ſein Genoſſe.
„Das möchte ich doch nicht als ſo gewiß annehmen.
Wie nun, wenn ſie in der Nähe in den Büſchen ſtecken,
um zu warten, bis wir wiederkommen!“
„Dann müßten wir doch die Pferde ſehen.“
„Nein. Der Wald iſt zwar ſehr dicht, aber der
Rand hat doch hie und da eine dünnere Stelle, wo man
zwei Pferde verſtecken kann.“
„Wenn du ſo übermäßig vorſichtig ſein willſt, können
wir bis zum jüngſten Tage hier ſtecken bleiben!“
„Gar ſo lange doch nicht ganz. Jetzt möchte ich
nicht hinaus auf den freien Campo treten; ich könnte
ſogleich eine Kugel bekommen. Aber wenn es finſter
geworden iſt, gibt es kein Wagnis dabei. Es iſt dann
ſogar möglich, daß wir nach dem Tal des ausgetrock⸗
neten Sees zurückkehren.“
„Biſt du toll? Sollen wir uns ergreifen laſſen?“
„Fällt mir gar nicht ein. Es iſt mir nur ein Ge⸗
danke gekommen, den ich für einen ſehr glücklichen halte.“
„Welcher?“
„Wir haben keine Pferde und können auch auf viele
Tagereiſen weit keins bekommen. Im Tal aber gibt es
welche.“
„Die du dir holen willſt?“
„Nicht alle, ſondern nur zwei.“
„Das wäre Tollkühnheit!“
— 469 —
„Pah! Wir wiſſen genau, daß die Cambas Sieger
ſind, und ich befürchte, daß ſie unſre Verbündeten bis
auf den letzten Mann aufgerieben haben. Nach einem
ſolchen Erfolg ſind dieſe ſüdamerikaniſchen Roten wie
betrunkene Kinder. Sie werden ſchreien und jubeln,
eſſen und trinken und an nichts andres denken, als daß
ſie uns überwunden haben. Da vergißt man es viel⸗
leicht, den Eingang zum Tal zu bewachen. Und ſtellt
man ja einen Wächter hin, ſo wird er unſchädlich ge⸗
macht, worauf es ſehr ſchlimm zugehen müßte, wenn wir
nicht zu zwei Pferden kämen.“
„Und wenn ſie nicht geſattelt ſind?“
„Dummkopf! Schau da hinaus! Siehſt du denn
nicht, daß der Vater Jaguar unſre Pferde zwar er⸗
ſchoſſen, aber ihnen nicht das Sattel⸗ und Zaumzeug ge⸗
nommen hat. Finden wir zwei ungeſattelte Pferde, ſo
reiten wir hierher, um das zu finden, was wir
brauchen.“
Perillo brachte noch einige Einwendungen vor, die
ihm aber der Gambuſino widerlegte. Darüber wurde
es Abend und die beiden verließen vorſichtig ihr Ver⸗
ſteck. Sie wendeten ſich nicht am Waldesrand zurück,
da ſie da leicht auf den befürchteten Hinterhalt ſtoßen
konnten, ſondern ſchlichen ſich eine Strecke weit in den
Campo hinein und bogen erſt dann, als ſie den Wald
nicht mehr ſehen konnten, nach rechts ab, in welcher
Richtung das Tal des ausgetrockneten Sees vor ihnen
lag.
Um dieſes zu erreichen, brauchten ſie jetzt viermal
ſo viel Zeit, als am Nachmittag, da ſie es zu Pferde als
Flüchtlinge verlaſſen hatten. Sie konnten es nicht ver⸗
fehlen, weil ſie ſich dem Wald nach und nach wieder
näherten und endlich an ihm hinſchritten. Noch ehe ſie
— 470 —
in der Finſternis den Eingang ſehen konnten, hörten ſie
den Lärm, der aus dem Tal drang.
„Horch!“ ſagte der Gambuſino, indem er lauſchend
ſtehen blieb. „Man bejubelt den Sieg. Verdammt,
daß es ſo kommen mußte! Meine Ahnung, daß der
Vater Jaguar uns voraus ſei, war alſo doch richtig.“
„So hätteſt du dich danach richten ſollen. Pellejo
— Friede ſei ſeiner Aſche! — hatte recht, als er uns zu
größerer Vorſicht aufforderte.“
„Schweig und ſprich mir nicht von dieſem Bur⸗
ſchen! Er wollte kommandieren. Es hat ſo ſollen ſein
und iſt nun nicht zu ändern. Bleib jetzt einmal hier
ſtehen! Ich will voranſchleichen, um zu ſpähen.“
Er huſchte fort. Als er nach ungefähr zehn Mi⸗
nuten zurückkehrte, berichtete er in freudigem Ton: „Es
iſt ſo, wie ich dachte. Kein Menſch ſteht Wache. Wir
können hinein, ohne bemerkt zu werden. Komm!“
Er nahm den andern bei der Hand und zog ihn mit
ſich fort. Als ſie das Felſentor des Tales erreichten,
glänzte ihnen der Schein von vielen Feuern entgegen,
ſo daß ſie ſich ganz zur Seite im Schatten des Felſens
halten mußten. Der Gambuſino deutete auf den
letzteren und ſagte: „Hier war es, wo uns die beiden
kleinen roten Kerls von oben herab vor die Füße flogen.
Ich ließ ſie aber laufen, weil ich glaubte, daß ſie uns
ſicher ſeien. Nun ſind ſie uns wieder entkommen!“
„Schadet nichts. Ich freue mich jetzt, daß wir ſie
nicht getötet haben.“
„Warum?“
„Weil ſie doch vielleicht das ſind, wofür ſie ſich aus⸗
geben. So oft wir ſie trafen, haben ſie ſich ſo kindiſch
albern benommen, daß es mir heute unmöglich iſt, noch
zu glauben, daß der eine Oberſt Glotino ſein ſoll.“
— 41 —
„Je länger ich mir den Kerl und feine Streiche ver⸗
gegenwärtige, deſto mehr kommt es auch mir ſo vor, als
ob wir uns geirrt hätten. Wir haben uns durch eine
Aehnlichkeit täuſchen laſſen. Wenn mir dieſe beiden
Roten wieder begegnen ſollten, ſo wird es mir gar nicht
einfallen, ſie als voll zu behandeln. Ich bedrohe keines⸗
wegs mehr ihr Leben. Was ſie von mir zu befürchten
haben, das ſind einige derbe Ohrfeigen, die ich ihnen da⸗
für geben werde, daß ſie es wagen, mir wieder und im⸗
mer wieder wie Ungeziefer über den Weg zu laufen.
Jetzt aber haben wir keine Zeit, von dieſen Knirpſen zu
ſprechen. Da ſieh einmal, wie gut wir es getroffen
haben!“
Er deutete nach dem Innern des Tales, wo beim
Schein der Feuer alle dort befindlichen Perſonen leidlich
zu erkennen waren.
„Schau da nach links hinüber! Kennſt du ihn?“
fuhr er fort.
„Der Vater Jaguar!“
„Ja. Oh, wenn ich dieſem Hund eine Kugel geben
könnte! Aber wir wollen uns jetzt ſputen. Glücklicher⸗
weiſe laufen hier Pferde in Maſſe herum.“
Dieſes letztere war allerdings richtig. Wie bereits
erwähnt, hatten die Cambas ihre Pferde anfänglich
unter der Aufſicht einiger Männer am Bach draußen
vor dem Tal gelaſſen. Jetzt war es da draußen dunkel,
und da der Kampf vorüber war, hatte man die Pferde
in das Tal gelaſſen, wo ſie ſich nach allen Richtungen
frei herumtrieben. Der Vater Jaguar hatte das ge⸗
ſtattet, weil er überzeugt war, daß vorn am Eingang
ein Doppelpoſten ſtehe. Hätte er geahnt, wer an deſſen
Stelle jetzt dort ſpähte!
— 472 —
Während die beiden Lauſcher ihre Augen auf die
Pferde richteten, die in ihrer Nähe weideten, meinte An⸗
tonio Perillo: „Wir haben doch ſchießen hören, und
trotzdem hat es allen Anſchein, als ob gar kein Kampf
ſtattgefunden habe.“
„Wieſo? Es iſt ſogar ein furchtbares Feuer gewe⸗
ſen, das man auf die Abipones eröffnet hat. Siehſt du
denn nicht die Menge von Leichen, die dort am See
liegen?“
„Aber wo ſind die andern Abipones hin?“
„Entflohen natürlich.“
„Unmöglich! Der Vater Jaguar hatte doch da
draußen einen Hinterhalt geſtellt, der wohl an die hun⸗
dert Mann zählte. Es gelang uns nur mit Not, dieſen
Leuten zu entgehen. Sie haben den Eingang beſetzt.
Wie konnten da die Abipones entkommen?“
„Hm! Was du da vorbringſt, hat guten Grund.
Sollten ſie wirklich alle aufgerieben worden ſein? Dann
müßte man doch viel mehr Leichen ſehen.“
„Man wird ſie in das Waſſer geworfen haben.“
„Denke das ja nicht! Es wird den Cambas nicht
im Traum einfallen, ſich dadurch dieſes koſtbare Waſſer
zu verderben, denn — — —“
Er hielt inne, beſchattete ſeine Augen mit der
Hand, blickte ſcharf nach einem der Feuer und fuhr
dann in heftigem Tone fort: „Demonio! Ich habe
mir bis jetzt noch keine Mühe gegeben, die Geſichtszüge
zu erkennen. Jetzt aber ſehe ich, daß Abipones mit den
Cambas zuſammen an den Feuern ſitzen.“
„Iſt das möglich?“
„Nicht möglich, ſondern wirklich. Sieh nur ſcharf
hin!“
— 473 —
Antonio Perillo überzeugte ſich, daß der Gambuſino
recht hatte, und fragte: „Wie kann ſo etwas geſchehen?
Man ſollte es nicht glauben!“
„Es iſt leicht zu begreifen. Die Abipones waren
umzingelt. Sie hätten ſelbſt den letzten Mann verloren.
Um ihr Leben zu retten, haben ſie um Gnade flehen
müſſen.“
„Gnade? Das ſieht keineswegs ſo aus. Sie ſind
ja nicht gefeſſelt; ſie eſſen mit und bewegen ſich wie freie
Leute.“
„Tempesta! Das iſt wahr! Daran iſt dieſer
Schurke, der Vater Jaguar, ſchuld. Er hat Frieden
zwiſchen den Abipones und den Cambas geſchloſſen.“
„Den aber die Abipones jedenfalls teuer bezahlen
müſſen!“
„Glaube dies ja nicht! Dieſer Menſch iſt klug.
Durch eine ſchwere Kriegsbuße würde er die Rachgier
erwecken und die Feindſchaft vergrößern. Ich wette,
daß den Abipones alles geſchenkt und vergeben worden
iſt. Man wird ihnen geſagt haben, daß ſie durch ihre
Verluſte hart genug geſtraft worden ſind.“
„Eine ſolche Milde kann ich mir nicht als möglich
denken.“
„Aber ich, da ich die Schlauheit dieſes Vater Ja⸗
guar kenne. Die Abipones ſind gewonnen und werden
als Freunde behandelt. Wir können von heute an nicht
mehr im Trüben fiſchen. Mit dem geplanten Pronun⸗
ciamiento iſt's vorüber, und es iſt nur gut, daß wir
beide ein neues Ziel und einen neuen Zweck haben. Da
haben wir zwei Tiere ganz nahe; ſie ſcheinen nicht
ſchlecht zu ſein. Nehmen wir ſie, ich das rechts und du
das links; aber vorſichtig! Bücke dich zum Boden
nieder!“
— 474 —
Sie legten ſich in das Gras und krochen auf die
beiden Pferde zu, die zwar keine Sättel, aber doch die
Zäume trugen. Bei ihnen angekommen, richteten ſie
ſich auf, zogen die feſtgeknüpften Zügel aus den Backen⸗
riemen, nahmen deren Enden in die Hände, bückten ſich
wieder nieder und krochen zurück, die Pferde langſam
hinter ſich herziehend. Draußen vor dem Felſentor an⸗
gelommen, ſagte der Gambuſino, indem er froh aufat⸗
mete: „Siehſt du nun, daß es ſehr leicht gegangen iſt!
Dadurch, daß wir uns beritten gemacht haben, erſparen
wir eine Fußwanderung von vielen Tagen. Jetzt holen
wir uns die Sättel; dann umreiten wir dieſen undurch⸗
dringlichen Wald, der uns ſo außerordentlich unbequem
liegt, und hernach, wenn wir ihn hinter uns haben,
geht's hinüber nach Tucuman, wo wir mit der Dili⸗
gence bis Salta fahren. Das geht ſchneller als im
Sattel, weil an jeder Station die Pferde gewechſelt
werden.“
„Und von Salta aus?“
„Nehmen wir Maultiere, da in den Bergen wegen
der dünnen Luft nicht mit Pferden auszukommen iſt.“
„Das weiß ich gar wohl; aber woher nehmen wir
das Geld für die Maultiere? Bei dem Zweck, den wir
verfolgen, können wir uns keine mieten, ſondern müſſen
welche kaufen, und ich ſage dir, daß ich nicht genug bei
mir habe, einen alten Ziegenbock, geſchweige denn ein
gutes Maultier zu kaufen.“
„Da laß dir ja nicht bange ſein. Ich bin zwar
auch nicht bei vollen Taſchen, aber ich habe in Salta
einen Freund, der mich mit allem Nötigen verſehen
wird.“
„Wer iſt das? Vielleicht kenne ich ihn auch.“
„Er heißt Rodrigo Sereno.“
— 45 —
„Meinſt du etwa den Spediteur draußen vor der
Stadt, an der Straße, die nach Injuy führt?“
„Ja. Er hat zugleich ein großes Gaſthaus, ver⸗
leiht Pferde und Maultiere und treibt noch zehn oder
zwanzig andre Geſchäfte.“
„Den kenne ich allerdings. Wenn er dein Freund
iſt, brauchen wir freilich nicht bange zu ſein.“
„Ich ſage ja, er wird mir geben, was ich brauche.
Jetzt laß uns aufſteigen. Wir haben in dieſer Nacht
einen weiten Ritt.“
Sie ſchwangen ſich auf die Pferde und galoppierten
fort. |
Später kamen zwei Cambas nach dem Eingang,
um den Doppelpoſten abzulöſen. Als ſie die beiden un⸗
treuen Wächter nicht ſahen, nahmen ſie zwar deren
Stelle ein, verfielen aber nicht auf den Gedanken, dem
Vater Jaguar zu melden, daß das Felſentor eine ganze
Zeitlang unbeaufſichtigt geweſen ſei. Hammer kam
ſpäter, den Poſten zu inſpizieren, fand alles in Ord⸗
nung und ahnte nicht, daß etwas geſchehen war, wo⸗
durch ſeine ganze Berechnung zunichte gemacht werden
mußte. Man entdeckte nicht einmal, daß zwei Pferde
fehlten, da dieſe den Abipones gehört hatten und alſo
von den Cambas nicht vermißt wurden.
Die letzteren blieben bis weit nach Mitternacht
munter. Die Freude, einem ſo grauenhaften Ueberfall
entgangen zu ſein, ließ ſie nicht ſchlafen. Und die
Weißen, denen ſie ihre Rettung zu verdanken hatten,
mußten mit ihnen munter bleiben.
Doktor Morgenſtern und ſein Fritze ſaßen in gräm⸗
licher Laune abſeits im Dunkeln und ſprachen, nur mit
ihrem Aerger beſchäftigt, ſelten ein Wort miteinander.
Warum? Das konnte man eben jetzt hören, als Fritze
— 476 —
ſeinem Herrn zuraunte: „Inwiefern könnte es denn
eine ſo jroße Dummheit jeweſen ſind?“
„Weiß ich's?“ antwortete Morgenſtern. „In Jü⸗
terbogk im Geſangverein werde ich anders anerkannt.“
„Dat mag die Möglichkeit ſind; aber hier im Gran
Chaco wird mehr verlangt als nur eine jute, wohljefäl⸗
lige Baritonſtimme. Da muß man vor allem Haare
auf die Zähne haben und ein jehöriges Quantum
Tapferkeit beſitzen.“
„Sind wir denn nicht tapfer geweſen? Wir haben
uns doch nicht nur in die vorderſte Reihe geſtellt, ſon⸗
dern ſind ſogar auf den Felſen geſtiegen, um den Feind
aus erſter Hand zu haben!“
„Hm! Soll ick aufrichtig ſind?“
„Natürlich!“
„Jut! Es kommt mich jetzt vor, als ob wir nicht
tapfer, ſondern voreilig jeweſen wären.“
„Voreilig, lateiniſch praeproperus genannt? Wieſo
denn, mein Lieber?“
„Weil wir ſo raſch nach vorn jeeilt ſind, obwohl
wir keine Erlaubnis dazu hatten.“
„Erlaubnis brauche ich nicht. Ich bin ein freier
Mann!“
„Ick auch. Dennoch kommt es auf jewiſſe Verhält⸗
niſſe an. Im Gran Chaco muß man ſich anders be⸗
nehmen als in Stralau am Rummelsburger See. Dort
bin ick dem Vater Jaguar über; hier aber iſt er mich
über, und darum finde ick es jeraten, mir nach ſeine
Weiſung zu verhalten.“
„Aber du biſt es ja doch geweſen, der den Vorſchlag
gemacht hat, von den Pferden fort und in das Tal zu
gehen!“
— 477 —
„Es fällt mich jar nicht ein, dies fälſchlicherweiſe
zu leugnen. Meine Abſichten ſind die beſten und tapfer⸗
ſten jeweſen. Ick wollte mir hervortun und auch Sie
Jelegenheit jeben, Ihnen Ruhm und Ehre zu erwerben.
Aber konnte ick wiſſen, daß der Felſen hier ſo locker und
ſo mürbe iſt wie ein Eierkuchen? Konnte ick ahnen,
daß er mir ſo verräteriſch hinunterſchicken würde, bis
jerade vor die Fußzehen dieſes Jambuſino? Wäre dat
nicht jeweſen, ſo wäre er nicht aufmerkſam jeworden,
ſondern in dat Tal jekommen, und jefangen jenommen
worden. Da muß ick dem Vater Jaguar vollſtändig
recht jeben.“
„Wenn du die Sache ſo darſtellſt, kann ich dir nicht
widerſprechen. Wir ſind wirklich blamiert!“
„Ja, wir ſind blamiert, trotz die ſchönen Knüp⸗
pels, die wir uns abjeſchnitten hatten. Sie ſind eben
liejen jeblieben, während wir hinunterjekollert ſind.
Umjekehrt wär's beſſer jeweſen. Wir konnten oben
bleiben und die Prügel hinunterſchicken. Aber da es
jeſchehen, iſt's nicht mehr zu ändern.“
„Zu ändern freilich nicht. Aber es geht mir doch
zu Herzen. Könnten wir die Blamage nicht von uns
abwaſchen? Könnten wir nicht eine tapfere Tat be⸗
gehen, die unſre befleckte Ehre, lateiniſch Dignitas oder
Honor geheißen, wieder zu reinigen vermag? Nenne
mir eine kühne Tat, Fritze, und ich führe ſie ſofort aus!“
„Und ick helfe Sie dabei. Hier in der Jejend
fliejen die Taten in der Luft herum; fie kommen von
ſelbſt. Nehmen wir die erſte beſte, die wir treffen, feſt,
um ſie aus⸗ und durchzuführen! Dann wird man
wieder Reſpekt vor uns haben.“
„Gut, ich bin dabei. Alſo die erſte kühne Tat, die
uns in den Weg kommt, wird ausgeführt!“
— 478 —
„Ja, ſie wird ausgeführt und ſollten wir dabei
eine Gigantochelonia verſäumen.“
„Nein,“ fiel Morgenſtern ſchnell ein. „So weit
würde ich mich von meiner Tapferkeit doch nicht hin⸗
reißen laſſen. Ein vorweltliches Rieſentier geht mir
über alles. Uebrigens werden wir bald zu einem ſol⸗
chen freudigen Ziel gelangen. Du weißt doch, daß der
Häuptling mir ein Rieſentier verſprochen hat.“
„Ob er es halten wird?“
„Jedenfalls. Wo nicht, ſo würde ich ihn zum
Kampf auf Leben und Tod herausfordern, und dies
würde zugleich die tapfere Tat ſein, womit ich meine
verwundete Ehre herſtellen könnte.“
„Wenn ick an Ihre Stelle wäre, würde ick den
Häuptling noch einmal fragen, zumal er ſoeben hier
vorüberjehen wird.“
Es paßte wirklich ſo, daß der „Harte Schädel“ jetzt
auf die beiden zugeſchritten kam. Sie ſtanden auf, und
Morgenſtern fragte ihn, ob er ſich ſeines Verſprechens
noch erinnere.
„Ja,“ antwortete er. „Ich habe noch nie einem
Freund eine Lüge geſagt.“
„So gibt es alſo wirklich ein ſolches Rieſentier?“
„Ja. Es liegt einen Tagesritt hinter dem Dorf
des klaren Baches. Ich ſchwöre es Ihnen zu.“
„Und Sie wollen es mir verkaufen?“
„Nicht verkaufen, ſondern ſchenken, Senor. Ihre
Kameraden haben uns einen großen Dienſt erwieſen
und vielen von uns das Leben und das Eigentum ge⸗
rettet. Wie könnte ich da Bezahlung für die Knochen
verlangen! Der Transport wird Ihnen ohnehin ein
großes und vieles Geld koſten.“
— 479 —
„Und wann werden Sie mir das Tier zeigen,
Senor?“
„Morgen noch nicht, weil es da noch viel zu ordnen
gibt; aber übermorgen bin ich gern bereit, mit Ihnen
nach der Stelle zu reiten.“
„Was iſt's für ein Tier? Ein Glpptodon, ein
Megatherium oder vielleicht ein Maſtodon?“
„Darauf kann ich nicht antworten, denn ich habe
dieſe Namen noch nie vernommen. Sie werden es
ſehen und dann wiſſen, wie Sie es zu nennen haben.“
Nach dieſen Worten entfernte er ſich, um ſich bei
dem Vater Jaguar niederzuſetzen. Dieſer fragte ihn,
was er mit dem kleinen Mann verhandelt habe, und
als er es erfuhr, ſagte er, indem ein unternehmendes
Lächeln über ſein Geſicht glitt: „Dieſer Doktor lebt und
ſtirbt für ſeine Rieſentiere. Er iſt ein guter Menſch,
und obgleich er mir ſchon manchen ſchlimmen Dienſt er⸗
wieſen hat, möchte ich ihm eine frohe Ueberraſchung be⸗
reiten. Wie weit habt ihr das Tier ausgegraben?“
„So weit, daß man den Kopf und die Knochen des
Rückens bis zu denen des Schwanzes ſah. Dann deckten
wir es wieder zu.“
„Sehr feſt, ſo daß es nur ſehr . auszugra⸗
ben iſt?“
„Nein, ſondern W weil wir es verkaufen
wollten.“
„Wie lange würde man zubringen, um das Ge⸗
rippe vollſtändig freizulegen?“
„Wenn acht oder zehn Männer daran arbeiten, iſt
es in einigen Stunden geſchehen, obgleich das Tier im
harten Kalkboden ſteckt.“
„Habt ihr Werkzeuge dazu?“
— 480 —
„Ja, Werkzeuge nach unſrer, wenn auch nicht nach
eurer Art; aber ſie ſind faſt ebenſo gut wie die eurigen.“
„Und übermorgen willſt du ihn an die betreffende
Stelle führen?“
„Ja..
„Gut! Willſt du mir morgen zehn Männer mit
den nötigen Werkzeugen mitgeben? Ich möchte hin⸗
reiten und dafür ſorgen, daß er das Tier ganz ausge⸗
graben findet. Aber er darf vorher nichts davon
wiſſen. Es ſoll eben eine Ueberraſchung für ihn
werden.“
„Sie ſollen haben, was Sie brauchen. Auch einen
Führer, der die Stellen genau kennt, ebenſo Riemen,
um die einzelnen Knochen zuſammenzubinden. Stützen,
um das Gerippe an Ort und Stelle aufzurichten, können
Sie ſich dort abſchneiden. Es wächſt da Bambus und
hohes Gebüſch in Menge.“
5 Das Verſprechen, daß er übermorgen das Rieſen⸗
tier zu ſehen bekommen ſolle, ließ den Doktor nicht ſchla⸗
fen. Er war übrigens nicht der einzige, welcher wachte.
Die Abipones ſchliefen auch nicht, teils aus Aufregung
über die erlittene Niederlage, teils wegen der Schmer⸗
zen, die ihre Wunden ihnen bereiteten. Es ſtarben
während der Nacht noch mehrere von ihnen.
Am andern Morgen erteilte der Vater Jaguar
ſeinem Geronimo die nötigen Verhaltungsmaßregeln
und ritt dann mit zehn Cambas fort, ohne zu ſagen,
wohin er zu gehen beabſichtige und wann er wieder⸗
kehren werde. Er glaubte ſich im Tal entbehrlich, da er
in Geronimo einen zuverläſſigen Vertreter hatte.
Zunächſt war über die Frage zu entſcheiden, wo
und wie die Leichen beerdigt werden ſollten. Es waren
ihrer ſo viele, daß zum Begraben außerordentlich viele
— 481 —
Arbeitskräfte und auch eine lange Zeit gehörten. Dar⸗
um kam man auf Geronimos Vorſchlag darin überein,
daß ſie draußen vor dem Tal verbrannt werden ſollten.
Man ſchaffte die Toten hinaus und errichtete aus ihren
Körpern und dürrem Holz hohe Scheiterhaufen, die in
Brand geſteckt wurden. Als das vorüber war, war der
Mittag vergangen, und die geſunden und leichtverwun⸗
deten Abipones mußten abziehen. Sie wären zwar
gern noch bei ihren Schwerverwundeten zurückgeblieben,
aber man traute ihnen denn doch noch nicht ſo recht, ob⸗
gleich ſie entwaffnet worden waren. Sie erhielten das
Verſprechen, daß man ihre Zurückgelaſſenen gut ver⸗
pflegen werde, und marſchierten dann ab, denn ihre
Pferde waren ganz ſelbſtverſtändlich als Beute zurück⸗
behalten worden. Ihre Meſſer hatte man ihnen mit⸗
gegeben, da ſie dieſe unterwegs unmöglich entbehren
konnten. |
Nun wollten die Cambas nach ihren verſchiedenen
Dörfern und Wohnſitzen zurückkehren. Es wurde be⸗
ſchloſſen, daß eine Anzahl von ihnen im Tal des aus⸗
getrockneten Sees bleiben ſollte, um die Schwerverwun⸗
deten da zu pflegen, bis ſie ſtark genug ſeien, das Tal
zu verlaſſen. Zu dieſem Zweck ſollten Hütten aus Laub
und Zweigen errichtet werden. Mit all dieſen Ausein⸗
anderſetzungen und Vorbereitungen war man nach Ver⸗
lauf der erſten Nachmittagsſtunden fertig. Dann wurde
zum allgemeinen Aufbruch geſchritten, woran ſich nur
die Kranken und deren Wärter nicht beteiligten. Die
Folge dieſes ſpäten Aufbruchs war, daß der Zug erſt
nach angebrochener Dunkelheit das Cambasdorf am
klaren Bach erreichte. Die Krieger zogen dort als
Sieger ein und wurden als ſolche empfangen und ge⸗
feiert. Es verſtand ſich ganz von &, dod man ur
May, Das Vermächtnis des Inka *
— 482 —
allen Dingen die Weißen ehrte, denen man ja doch die
Rettung aus ſo großer Gefahr zu verdanken hatte.
Die Feier des Sieges beſtand auch hier wieder in
einem Schmauſe, der bis tief in die Nacht hinein währte.
Am nächſten Morgen forderte der Häuptling den Doktor
zu dem verſprochenen Ritt auf. Die Weißen beteiligten
ſich ohne Ausnahme daran, und auch mehrere Cambas
ritten mit.
Der Weg führte nach Norden, durch Wälder und
Wüſten, bis man gegen Abend einen Salzſee erreichte,
der in einer tonigen Ebene lag, und von Wald und Ge⸗
büſch umgeben war.
„Iſt es hier?“ fragte Morgenſtern, welcher vor
Aufregung beinahe fieberte, den Häuptling.
„Ja, in der Nähe,“ antwortete dieſer.
„So führen Sie mich hin, ſchnell, ſchnell!“
„Haben Sie Geduld! Es iſt für heute zu ſpät.
Die Sonne iſt ſchon hinter den Bäumen verſchwunden,
und in wenigen Minuten wird es dunkel ſein. Da kön⸗
nen Sie doch nicht graben. Wir müſſen bis morgen
warten.“
„Iſt dies der Fall, ſo Neige ich vor Aufregung.
Wiſſen Sie, daß ich eigentlich das Recht habe, heute, ge⸗
rade heute die betreffende Stelle zu ſehen, wenn ich auch
keine Zeit zum Nachgraben finde?“
„Warum?“
„Weil heute mein Geburtstag iſt, lateiniſch Natalis
genannt.“
„Ihr Geburtstag? Wer hat das gewußt! Doch,
da es fo ſteht, Senor, will ich Ihnen die Stelle heute
noch zeigen. Aber nicht jetzt ſogleich, denn wir brauchen
alle Hände, um noch vor der Dunkelheit genug Holz
zum Feuer zu ſammeln. Daun, wenn wir für alles ge⸗
— 481 —
Arbeitskräfte und auch eine lange Zeit gehörten. Dar⸗
um kam man auf Geronimos Vorſchlag darin überein,
daß ſie draußen vor dem Tal verbrannt werden ſollten.
Man ſchaffte die Toten hinaus und errichtete aus ihren
Körpern und dürrem Holz hohe Scheiterhaufen, die in
Brand geſteckt wurden. Als das vorüber war, war der
Mittag vergangen, und die geſunden und leichtverwun⸗
deten Abipones mußten abziehen. Sie wären zwar
gern noch bei ihren Schwerverwundeten zurückgeblieben,
aber man traute ihnen denn doch noch nicht ſo recht, ob⸗
gleich ſie entwaffnet worden waren. Sie erhielten das
Verſprechen, daß man ihre Zurückgelaſſenen gut ver⸗
pflegen werde, und marſchierten dann ab, denn ihre
Pferde waren ganz ſelbſtverſtändlich als Beute zurück⸗
behalten worden. Ihre Meſſer hatte man ihnen mit-
gegeben, da ſie dieſe unterwegs unmöglich entbehren
konnten. | |
Nun wollten die Cambas nach ihren verſchiedenen
Dörfern und Wohnſitzen zurückkehren. Es wurde be⸗
ſchloſſen, daß eine Anzahl von ihnen im Tal des aus⸗
getrockneten Sees bleiben ſollte, um die Schwerverwun⸗
deten da zu pflegen, bis ſie ſtark genug ſeien, das Tal
zu verlaſſen. Zu dieſem Zweck ſollten Hütten aus Laub
und Zweigen errichtet werden. Mit all dieſen Ausein⸗
anderſetzungen und Vorbereitungen war man nach Ver⸗
lauf der erſten Nachmittagsſtunden fertig. Dann wurde
zum allgemeinen Aufbruch geſchritten, woran ſich nur
die Kranken und deren Wärter nicht beteiligten. Die
Folge dieſes ſpäten Aufbruchs war, daß der Zug erſt
nach angebrochener Dunkelheit das Cambasdorf am
klaren Bach erreichte. Die Krieger zogen dort als
Sieger ein und wurden als ſolche empfangen und ge⸗
feiert. Es verſtand ſich ganz von ſelbſt, daß man vor
May, Das Vermächtnis des Inka 81
— 482 —
allen Dingen die Weißen ehrte, denen man ja doch die
Rettung aus ſo großer Gefahr zu verdanken hatte.
Die Feier des Sieges beſtand auch hier wieder in
einem Schmauſe, der bis tief in die Nacht hinein währte.
Am nächſten Morgen forderte der Häuptling den Doktor
zu dem verſprochenen Ritt auf. Die Weißen beteiligten
ſich ohne Ausnahme daran, und auch mehrere Cambas
ritten mit.
Der Weg führte nach Norden, durch Wälder und
Wüſten, bis man gegen Abend einen Salzſee erreichte,
der in einer tonigen Ebene lag, und von Wald und Ge⸗
büſch umgeben war.
„Iſt es hier?“ fragte Morgenſtern, welcher vor
Aufregung beinahe fieberte, den Häuptling.
„Ja, in der Nähe,“ antwortete dieſer.
„So führen Sie mich hin, ſchnell, ſchnell!“
„Haben Sie Geduld! Es iſt für heute zu ſpät.
Die Sonne iſt ſchon hinter den Bäumen verſchwunden,
und in wenigen Minuten wird es dunkel ſein. Da kön⸗
nen Sie doch nicht graben. Wir müſſen bis morgen
warten.“
„Iſt dies der Fall, ſo eig ich vor Aufregung.
Wiſſen Sie, daß ich eigentlich das Recht habe, heute, ge⸗
rade heute die betreffende Stelle zu ſehen, wenn ich auch
keine Zeit zum Nachgraben finde?“
„Warum?“
„Weil heute mein Geburtstag iſt, lateiniſch Natalis
genannt.“
„Ihr Geburtstag? Wer hat das gewußt! Doch,
da es fo ſteht, Senor, will ich Ihnen die Stelle heute
noch zeigen. Aber nicht jetzt ſogleich, denn wir brauchen
alle Hände, um noch vor der Dunkelheit genug Holz
zum Feuer zu ſammeln. Dann, wenn wir für alles ge-
=. AB]
Arbeitskräfte und auch eine lange Zeit gehörten. Dar⸗
um kam man auf Geronimos Vorſchlag darin überein,
daß ſie draußen vor dem Tal verbrannt werden ſollten.
Man ſchaffte die Toten hinaus und errichtete aus ihren
Körpern und dürrem Holz hohe Scheiterhaufen, die in
Brand geſteckt wurden. Als das vorüber war, war der
Mittag vergangen, und die geſunden und leichtverwun⸗
deten Abipones mußten abziehen. Sie wären zwar
gern noch bei ihren Schwerverwundeten zurückgeblieben,
aber man traute ihnen denn doch noch nicht ſo recht, ob⸗
gleich ſie entwaffnet worden waren. Sie erhielten das
Verſprechen, daß man ihre Zurückgelaſſenen gut ver⸗
pflegen werde, und marſchierten dann ab, denn ihre
Pferde waren ganz ſelbſtverſtändlich als Beute zurück⸗
behalten worden. Ihre Meſſer hatte man ihnen mit⸗
gegeben, da ſie dieſe unterwegs unmöglich entbehren
konnten. |
Nun wollten die Cambas nach ihren verſchiedenen
Dörfern und Wohnſitzen zurückkehren. Es wurde be⸗
ſchloſſen, daß eine Anzahl von ihnen im Tal des aus⸗
getrockneten Sees bleiben ſollte, um die Schwerverwun⸗
deten da zu pflegen, bis ſie ſtark genug ſeien, das Tal
zu verlaſſen. Zu dieſem Zweck ſollten Hütten aus Laub
und Zweigen errichtet werden. Mit all dieſen Ausein⸗
anderſetzungen und Vorbereitungen war man nach Ver⸗
lauf der erſten Nachmittagsſtunden fertig. Dann wurde
zum allgemeinen Aufbruch geſchritten, woran ſich nur
die Kranken und deren Wärter nicht beteiligten. Die
Folge dieſes ſpäten Aufbruchs war, daß der Zug erſt
nach angebrochener Dunkelheit das Cambasdorf am
klaren Bach erreichte. Die Krieger zogen dort als
Sieger ein und wurden als ſolche empfangen und ge⸗
feiert. Es verſtand ſich ganz von ſelbſt, daß man vor
May, Das Vermächtnis des Inka 31
— 482 —
allen Dingen die Weißen ehrte, denen man ja doch die
Rettung aus ſo großer Gefahr zu verdanken hatte.
Die Feier des Sieges beſtand auch hier wieder in
einem Schmauſe, der bis tief in die Nacht hinein währte.
Am nächſten Morgen forderte der Häuptling den Doktor
zu dem verſprochenen Ritt auf. Die Weißen beteiligten
ſich ohne Ausnahme daran, und auch mehrere Cambas
ritten mit.
Der Weg führte nach Norden, durch Wälder und
Wüſten, bis man gegen Abend einen Salzſee erreichte,
der in einer tonigen Ebene lag, und von Wald und Ge⸗
büſch umgeben war.
„Iſt es hier?“ fragte Morgenſtern, welcher vor
Aufregung beinahe fieberte, den Häuptling.
„Ja, in der Nähe,“ antwortete dieſer.
„So führen Sie mich hin, ſchnell, ſchnell!“
„Haben Sie Geduld! Es iſt für heute zu ſpät.
Die Sonne iſt ſchon hinter den Bäumen verſchwunden,
und in wenigen Minuten wird es dunkel ſein. Da kön⸗
nen Sie doch nicht graben. Wir müſſen bis morgen
warten.“
„Sit dies der Fall, jo vergehe ich vor Aufregung.
Wiſſen Sie, daß ich eigentlich das Recht habe, heute, ge⸗
rade heute die betreffende Stelle zu ſehen, wenn ich auch
keine Zeit zum Nachgraben finde?“
„Warum?“
„Weil heute mein Geburtstag iſt, lateiniſch Natalis
genannt.“ Ä
„Ihr Geburtstag? Wer hat das gewußt! Doch,
da es fo ſteht, Senor, will ich Ihnen die Stelle heute
noch zeigen. Aber nicht jetzt ſogleich, denn wir brauchen
alle Hände, um noch vor der Dunkelheit genug Holz
zum Feuer zu ſammeln. Dann, wenn wir für alles ge-
— 483 —
ſorgt haben, ſollen Sie den Ort beim Schein einer Fackel
ſehen.“
Man begann Holz zu ſammeln, und zwar ſehr
langſam, denn man war eingeweiht in das, was ge⸗
ſchehen ſolle. Der Häuptling hatte es allen außer Mor⸗
genſtern und Fritze geſagt. Es galt, die völlige Dunkel⸗
heit abzuwarten, um die Ueberraſchung wirken zu laſſen.
Morgenſtern ſuchte mit allem Eifer nach dürrem
Holz, damit der erſehnte Augenblick baldigſt eintrete.
Dabei bemerkte er nicht, daß es in der Umgebung des
Lagerplatzes Huf⸗ und Fußſpuren gab, die unmöglich
von ihm und ſeinen Gefährten herrühren konnten.
Ebenſowenig beobachtete er, daß der Häuptling mit Ge⸗
ronimo auf längere Zeit verſchwunden war. Sie hatten
ſich zum Vater Jaguar begeben, um dieſem mitzuteilen,
daß heute, gerade heute der Geburtstag des kleinen Vor⸗
ſintflutlers ſei, eine Kunde, die gar nicht beſſer zu ihrem
Vorhaben paſſen konnte.
Endlich war Holz genug vorhanden und es wurde
ein Feuer angezündet. Erſt jetzt bemerkte Morgenſtern,
daß die beiden Perſonen fehlten.
„Es iſt doch grad, als ob man ſich gegen mich ver⸗
ſchworen hätte,“ klagte er gegen ſeinen Diener. „Nun,
da alles in Ordnung iſt, fehlt der Häuptling, und doch
weiß er, daß ich unmöglich länger warten kann.“
„Faſſen Sie Ihnen in Jeduld!“ tröſtete Fritze.
„Wat lange währt, wird jut. Dat heißt mit andern
Worten: Je länger Sie warten, deſto größer wird dat
Tier, das aus der Unterwelt vor Ihre Augen kommen
ſoll. Sehen Sie, da kommen die beiden und die Beſich⸗
tijung wird losjehen.“
Der Häuptling kam allerdings mit Geronimo
zurück, aber die Neu⸗ oder Wißbegierde des Kleinen
— 44 —
wurde trotzdem noch nicht befriedigt, da die beiden be⸗
haupteten, daß man vorher erſt eſſen müſſe, eine Zu⸗
mutung, die Morgenſtern mit Entſetzen erfüllte. Er
ahnte nicht, daß ſeines Geburtstags wegen noch erſt
eine Vorbereitung zu treffen ſei. Man aß; er aber
brachte keinen Biſſen über die Lippen. Da krachte aus
nicht zu großer Entfernung ein Schuß. Morgenſtern
ſprang erſchrocken auf und rief: „Was war das? Wer
ſchießt da? Sollten etwa wieder Abipones in der Nähe
ſein?“
„Nein, Senor,“ antwortete Geronimo. „Dieſer
Schuß iſt das Zeichen, daß die Zeit gekommen iſt, wo
Sie die Stelle ſehen ſollen, die Sie zu betrachten wün⸗
ſchen. Geben Sie mir Ihren Arm! Ich werde Sie
führen.“ |
Er ergriff ihn beim Arm und ging mit ihm voran;
die andern folgten. Den Arm Fritzens hatte der Häupt⸗
ling in den ſeinigen genommen. So ging es mit würde⸗
vollen, ja feierlichen Schritten zwiſchen mehreren Buſch⸗
gruppen hindurch, bis man ſich vor einem Dunkel be⸗
fand, wo Geronimo ſtehen blieb und mit lauter Stimme
ſagte: „Senor, heute an Ihrem Geburtstag befinden
Sie ſich an einem Ort, wo Ihr Liebling ſich vor vielen
tauſend Jahren an ſeinem Sterbetag niederlegte, um in
Ihren zärtlichen Armen zu neuem Leben zu erwachen.
La enhora buena, la enhora buena!“
„La enhora buena — wir gratulieren!“ ſtimmten
alle andern ein.
Zu gleicher Zeit ſah man vorn ein kleines Flämm⸗
chen leuchten. Es huſchte hin und her und auf und nie⸗
der; andre Flämmchen erſchienen, bei deren Schein man
ein breites und wohl vier Ellen hohes Bambusgeſtell
bemerkte, woran die aus dürren Bambusſtücken gefer⸗
— 483 —
ſorgt haben, ſollen Sie den Ort beim Schein einer Fackel
ſehen.“
Man begann Holz zu ſammeln, und zwar ſehr
langſam, denn man war eingeweiht in das, was ge⸗
ſchehen ſolle. Der Häuptling hatte es allen außer Mor⸗
genſtern und Fritze geſagt. Es galt, die völlige Dunkel⸗
heit abzuwarten, um die Ueberraſchung wirken zu laſſen.
Morgenſtern ſuchte mit allem Eifer nach dürrem
Holz, damit der erſehnte Augenblick baldigſt eintrete.
Dabei bemerkte er nicht, daß es in der Umgebung des
Lagerplatzes Huf⸗ und Fußſpuren gab, die unmöglich
von ihm und ſeinen Gefährten herrühren konnten.
Ebenſowenig beobachtete er, daß der Häuptling mit Ge⸗
ronimo auf längere Zeit verſchwunden war. Sie hatten
ſich zum Vater Jaguar begeben, um dieſem mitzuteilen,
daß heute, gerade heute der Geburtstag des kleinen Vor⸗
ſintflutlers ſei, eine Kunde, die gar nicht beſſer zu ihrem
Vorhaben paſſen konnte.
Endlich war Holz genug vorhanden und es wurde
ein Feuer angezündet. Erſt jetzt bemerkte Morgenſtern,
daß die beiden Perſonen fehlten.
„Es iſt doch grad, als ob man ſich gegen mich ver⸗
ſchworen hätte,“ klagte er gegen ſeinen Diener. „Nun,
da alles in Ordnung iſt, fehlt der Häuptling, und doch
weiß er, daß ich unmöglich länger warten kann.“
„Faſſen Sie Ihnen in Jeduld!“ tröſtete Fritze.
„Wat lange währt, wird jut. Dat heißt mit andern
Worten: Je länger Sie warten, deſto größer wird dat
Tier, das aus der Unterwelt vor Ihre Augen kommen
ſoll. Sehen Sie, da kommen die beiden und die Beſich⸗
tijung wird losjehen.“
Der Häuptling kam allerdings mit Geronimo
zurück, aber die Neu⸗ oder Wißbegierde des Kleinen
— 484 —
wurde trotzdem noch nicht befriedigt, da die beiden be⸗
haupteten, daß man vorher erſt eſſen müſſe, eine Zu⸗
mutung, die Morgenſtern mit Entſetzen erfüllte. Er
ahnte nicht, daß ſeines Geburtstags wegen noch erſt
eine Vorbereitung zu treffen ſei. Man aß; er aber
brachte keinen Biſſen über die Lippen. Da krachte aus
nicht zu großer Entfernung ein Schuß. Morgenſtern
ſprang erſchrocken auf und rief: „Was war das? Wer
ſchießt da? Sollten etwa wieder Abipones in der Nähe
ſein?“
„Nein, Senor,“ antwortete Geronimo. „Dieſer
Schuß iſt das Zeichen, daß die Zeit gekommen iſt, wo
Sie die Stelle ſehen ſollen, die Sie zu betrachten wün⸗
ſchen. Geben Sie mir Ihren Arm! Ich werde Sie
führen.“
Er ergriff ihn beim Arm und ging mit ihm voran;
die andern folgten. Den Arm Fritzens hatte der Häupt⸗
ling in den ſeinigen genommen. So ging es mit würde⸗
vollen, ja feierlichen Schritten zwiſchen mehreren Buſch⸗
gruppen hindurch, bis man ſich vor einem Dunkel be⸗
fand, wo Geronimo ſtehen blieb und mit lauter Stimme
ſagte: „Seüor, heute an Ihrem Geburtstag befinden
Sie ſich an einem Ort, wo Ihr Liebling ſich vor vielen
tauſend Jahren an ſeinem Sterbetag niederlegte, um in
Ihren zärtlichen Armen zu neuem Leben zu erwachen.
La enhora buena, la enhora buena!“
„La enhora buena — wir gratulieren!“ ſtimmten
alle andern ein.
Zu gleicher Zeit ſah man vorn ein kleines Flämm⸗
chen leuchten. Es huſchte hin und her und auf und nie⸗
der; andre Flämmchen erſchienen, bei deren Schein man
ein breites und wohl vier Ellen hohes Bambusgeſtell
bemerkte, woran die aus dürren Bambusſtücken gefer⸗
— 485 —
tigten Buchſtaben und Worte befeſtigt waren: „Zum
Geburtstag!“ Die Buchſtaben wurden entzündet und
brannten einige Minuten, ſo daß man die Worte deut⸗
lich leſen konnte.
„Welche Ueberraſchung, Fritze!“ rief der Doktor
aus, indem er ſich zu ſeinem Diener umwendete. „Hier
im Gran Chaco bereitet man mir zum Geburtstag ein
Feuerwerk. Aber das Rieſentier wäre mir doch noch
lieber.“
„Hm!“ brummte Fritze mißtrauiſch. „Wenn dat
nur kein Ulk iſt, der damit ein Ende nimmt, daß man
Sie Ihre eigene werte Perſönlichkeit als Rieſentier be⸗
zeichnet! Ah, wat iſt dat?“
Die Buchſtaben waren verbrannt und der Bam⸗
busrahmen verſchwand. Dann leuchteten rechts und
links wieder kleine Lichtpünktchen auf, die ſich ſchnell ver⸗
größerten und zu hohen Flammen anwuchſen. Es
brannten ungefähr ſechzehn Schritt voneinander zwei
mächtige Feuer und zwiſchen ihnen ſah man das weiße,
vollſtändige Gerippe eines rieſigen Tieres ſtehen, das
von ſtarken Bambusſchößlingen geſtützt wurde. Seit⸗
wärts ſtand lächelnd der Vater Jaguar mit den zehn
Cambas, die ihm geholfen hatten, dieſes Werk zu vollen⸗
den. Morgenſtern aber ſah weder dieſen noch jene; ſein
Auge hing ſtarr an dem Skelett; ſeine Bruſt rang nach
Atem; er reckte beide Arme aus; er wollte ſprechen,
rufen, brachte aber kein Wort hervor, bis er endlich mit
Aufbietung aller ſeiner Kräfte in gellendem Ton und
ſilbenweiſe fehrie: „Ein — Me — ga — the — ri —
um! — Ein — Rie — ſen — faul — tier!“ —
Die beiden Worte waren heraus und nun ſchien der
Bann, der auf ihm laſtete, gebrochen zu ſein. Er ſprang
auf das Gerippe zu, umarmte die ſtarken Schenkel⸗ und
— 486 —
küßte die andern Knochen; er ſtreichelte den Schädel wie
den Kopf eines lieben Kindes und bückte ſich zur Erde
nieder, um die an den Zehen befindlichen, ungeheuren
Sichelkrallen zu liebkoſen, und rief und ſchwatzte dabei
allerhand Zeug durcheinander, daß man hätte glauben
mögen, er ſei verrückt geworden. Er zog ſeinen Fritze
zu ſich heran und zeigte ihm alle Herrlichkeiten des Ske⸗
letts, „dieſen ſchönen, runden Schädel, die ſchönen,
zylindriſchen Backzähne, die ſchönen kurzen, breiten
Füße, die herrlichen, langen Sichelkrallen, die großartige
Länge von wenigſtens vier und einem halben Meter,
die gewaltige Höhe von dritthalb Meter!!“
Ohne ſich durch die ebenſo trockenen wie draſtiſchen
Randgloſſen ſeines Fritze beirren zu laſſen, fuhr er be⸗
geiſtert fort: „Und denke dir, daß nicht das kleinſte
Knöchelchen fehlt, während kein einziges Muſeum bis
jetzt ein vollſtändiges Megatherium beſeſſen hat!“
„Auch dieſe Vollſtändigkeit kann mir nicht be⸗
jeiſtern,“ warf Fritze ein, „denn ſie kommt auch bei an⸗
dern Jeſchöpfen vor. Da ſehen Sie doch einmal mir
jenauer an! Bei mich fehlt auch nichts; ſelbſt dat kleinſte
Knöchelchen iſt da, und noch dazu mit Fleiſch und
ſchöner Haut überzogen!“
„Fritze, du biſt ein Idiot. Dir kann man das
Herrlichſte bieten, ohne daß du Geſchmack daran findeſt.
Du biſt für die Wiſſenſchaft verloren.“
„Wenn ſie von weiter nichts als von Rieſenfaul⸗
tieren handelt, ſo kann ſie mich allerdings oft und
manchmal jeſtohlen werden. Wat werden Sie denn
nun mit dieſem toten Monſtrum anfangen?“
„Welche Frage! Ich ſchaffe es fort, nach Hauſe.“
„Auch jut. Wollen Sie es vor Jeld ſehen laſſen?“
— 485 —
tigten Buchſtaben und Worte befeſtigt waren: „Zum
Geburtstag!“ Die Buchſtaben wurden entzündet und
brannten einige Minuten, ſo daß man die Worte deut⸗
lich leſen konnte.
„Welche Ueberraſchung, Fritze!“ rief der Doktor
aus, indem er ſich zu ſeinem Diener umwendete. „Hier
im Gran Chaco bereitet man mir zum Geburtstag ein
Feuerwerk. Aber das Rieſentier wäre mir doch noch
lieber.“
„Fm!“ brummte Fritze mißtrauiſch. „Wenn dat
nur kein Ulk iſt, der damit ein Ende nimmt, daß man
Sie Ihre eigene werte Perſönlichkeit als Rieſentier be⸗
zeichnet! Ah, wat iſt dat?“
Die Buchſtaben waren verbrannt und der Bam⸗
busrahmen verſchwand. Dann leuchteten rechts und
links wieder kleine Lichtpünktchen auf, die ſich ſchnell ver⸗
größerten und zu hohen Flammen anwuchſen. Es
brannten ungefähr ſechzehn Schritt voneinander zwei
mächtige Feuer und zwiſchen ihnen ſah man das weiße,
vollſtändige Gerippe eines rieſigen Tieres ſtehen, das
von ſtarken Bambusſchößlingen geſtützt wurde. Seit⸗
wärts ſtand lächelnd der Vater Jaguar mit den zehn
Cambas, die ihm geholfen hatten, dieſes Werk zu vollen⸗
den. Morgenſtern aber ſah weder dieſen noch jene; ſein
Auge hing ſtarr an dem Skelett; ſeine Bruſt rang nach
Atem; er reckte beide Arme aus; er wollte ſprechen,
rufen, brachte aber kein Wort hervor, bis er endlich mit
Aufbietung aller ſeiner Kräfte in gellendem Ton und
ſilbenweiſe ſchrie: „Ein — Me — ga — the — ri —
um! — Ein — Rie — ſen — faul — tier!“ —
Die beiden Worte waren heraus und nun ſchien der
Bann, der auf ihm laſtete, gebrochen zu ſein. Er ſprang
auf das Gerippe zu, umarmte die ſtarken Schenkel⸗ und
— 486 —
küßte die andern Knochen; er ſtreichelte den Schädel wie
den Kopf eines lieben Kindes und bückte ſich zur Erde
nieder, um die an den Zehen befindlichen, ungeheuren
Sichelkrallen zu liebkoſen, und rief und ſchwatzte dabei
allerhand Zeug durcheinander, daß man hätte glauben
mögen, er ſei verrückt geworden. Er zog ſeinen Fritze
zu ſich heran und zeigte ihm alle Herrlichkeiten des Ske⸗
letts, „dieſen ſchönen, runden Schädel, die ſchönen,
zylindriſchen Backzähne, die ſchönen kurzen, breiten
Füße, die herrlichen, langen Sichelkrallen, die großartige
Länge von wenigſtens vier und einem halben Meter,
die gewaltige Höhe von dritthalb Meter!!“
Ohne ſich durch die ebenſo trockenen wie draſtiſchen
Randgloſſen ſeines Fritze beirren zu laſſen, fuhr er be⸗
geiſtert fort: „Und denke dir, daß nicht das kleinſte
Knöchelchen fehlt, während kein einziges Muſeum bis
jetzt ein vollſtändiges Megatherium beſeſſen hat!“
„Auch dieſe Vollſtändigkeit kann mir nicht be⸗
jeiſtern,“ warf Fritze ein, „denn ſie kommt auch bei an⸗
dern Jeſchöpfen vor. Da ſehen Sie doch einmal mir
jenauer an! Bei mich fehlt auch nichts; ſelbſt dat kleinſte
Knöchelchen iſt da, und noch dazu mit Fleiſch und
ſchöner Haut überzogen!“
„Fritze, du biſt ein Idiot. Dir kann man das
Herrlichſte bieten, ohne daß du Geſchmack daran findeſt.
Du biſt für die Wiſſenſchaft verloren.“
„Wenn ſie von weiter nichts als von Rieſenfaul⸗
tieren handelt, ſo kann ſie mich allerdings oft und
manchmal jeſtohlen werden. Wat werden Sie denn
nun mit dieſem toten Monſtrum anfangen?“
„Welche Frage! Ich ſchaffe es fort, nach Hauſe.“
„Auch jut. Wollen Sie es vor Jeld ſehen laſſen?“
— 487 —
„Nein. Ich werde es einer Univerſität, einem be⸗
rühmten Muſeum ſchenken, wo man ſeinem Namen
dann den meinigen hinzufügen wird.“
„Da haben Sie aber ja die Jüte, zu bitten, daß
nicht etwa auch der meinige mit anjehängt wird! Mit
ſo 'nen Rieſenfaultier will Fritze Kieſewetter auf keinen
Fall verewigt werden. Wenn Sie dat Vieh mit heim
nehmen wollen, muß dies per Schiff jeſchehen. Wie
aber wollen Sie es bis an die See bringen? Ja, wenn
es noch laufen könnte!“
„Es wird auseinander genommen und jeder Knochen
ſorgfältig einzeln verpackt. Dabei mußt du natürlich
helfen.“
„Sehr jern. Wann ſoll dieſe Arbeit losjehen?“
„Am liebſten ſofort, aber das iſt leider unmöglich,
da es vorher ſehr vieles zu beſchaffen gilt. Man muß
das aus der nächſten Stadt beſorgen.“
„Das würde Tucuman ſein,“ ſagte der Vater Ja⸗
guar, indem er herbeitrat. „Ich ſtelle mich Ihnen dabei
zur Verfügung, Herr Doktor. Wir reiten übermorgen
nach Tucuman. Dort kann ich Ihnen alles Nötige be⸗
ſorgen. Einige Cambas, die wir mitnehmen, können
Ihnen dann die Sachen bringen.“
„Verſtehen Sie ſich denn auf ſolche Einkäufe?“
„Ich denke wohl,“ lächelte der Vater Jaguar. „Se⸗
hen Sie ſich dieſes Megatherium genau an! Beſitzt
irgend ein Teil oder auch das kleinſte Teilchen eine
falſche, unrichtige Lage?“ |
„Nein. Es iſt alles fo genau am Platze, als ob die
Sintflut erſt geſtern geweſen wäre.“
„So ſage ich Ihnen, daß dieſes Gerippe, als wir
es ausgruben, einen wirren Haufen von Knochen
bildete.“
— 488 —
„Wie? Sie haben es ausgegraben?“
„Ausgegraben und zuſammengeſtellt. Sie meinen
doch nicht etwa, daß es ſeit der Sintflut hier zwiſchen
den Büſchen geſtanden hat?“
„Dann — ſind — Sie ja — ein ausgezeichneter
Geolog und Paläontolog!“ rief der Kleine aus, indem
er zwiſchen den Wörtern Pauſen des Erſtaunens machte.
„Wenn auch das nicht; aber wenn ich ein Megathe⸗
rium fehlerlos zuſammenzuſetzen verſtehe, bin ich wahr⸗
ſcheinlich auch imſtande, Ihnen in Tucuman alles ein⸗
zukaufen und zu ſenden, was zum Präſervieren und
Verpacken dieſer Knochen gehört.“
„Davon bin ich vollſtändig überzeugt. Alſo Sie
reiſen von hier ab? Schon übermorgen?“
„Ja.“
„Wohin?“
„Hinauf nach der Barranca del Homicidio.”
„Wie gern möchte ich mit! Aber Sie ſehen ein,
daß mir dies nun vollſtändig unmöglich iſt. Meine An⸗
weſenheit iſt hier ungeheuer notwendig, und auch Fritze
muß hier bleiben.“
„Ich begreife es und werde Sie den Cambas emp⸗
fehlen, auf deren Freundſchaft Sie ſich verlaſſen können.“
Nach dieſen Worten entfernte er ſich und gab auch
den andern einen Wink, den Gelehrten und ſeinen
Diener jetzt bei dem Skelett allein zu laſſen.
Es fiel Morgenſtern in ſeiner Freude gar nicht ein,
ſich zu bedanken oder auch nur zu fragen, wie der Vater
Jaguar denn eigentlich auf den Gedanken gekommen
ſei, das Megatherium für ihn auszugraben. Er war ſo
ſehr mit ſeinem wertvollen Fund und deſſen Einzel⸗
heiten beſchäftigt, daß er zunächſt für etwas andres gar
keine Gedanken hatte. Er betrachtete und betaſtete die
„Nein. Ich werde es einer Univerfität, einem be⸗
rühmten Muſeum ſchenken, wo man ſeinem Namen
dann den meinigen hinzufügen wird.“
„Da haben Sie aber ja die Jüte, zu bitten, daß
nicht etwa auch der meinige mit anjehängt wird! Mit
ſo 'nen Rieſenfaultier will Fritze Kieſewetter auf keinen
Fall verewigt werden. Wenn Sie dat Vieh mit heim
nehmen wollen, muß dies per Schiff jeſchehen. Wie
aber wollen Sie es bis an die See bringen? Ja, wenn
es noch laufen könnte!“
„Es wird auseinander genommen und jeder Knochen
ſorgfältig einzeln verpackt. Dabei mußt du natürlich
helfen.“
„Sehr jern. Wann ſoll dieſe Arbeit losjehen?“
„Am liebſten ſofort, aber das iſt leider unmöglich,
da es vorher ſehr vieles zu beſchaffen gilt. Man muß
das aus der nächſten Stadt beſorgen.“
„Das würde Tucuman ſein,“ ſagte der Vater Ja⸗
gnar, indem er herbeitrat. „Ich ſtelle mich Ihnen dabei
zur Verfügung, Herr Doktor. Wir reiten übermorgen
nach Tucuman. Dort kann ich Ihnen alles Nötige be⸗
ſorgen. Einige Cambas, die wir mitnehmen, können
Ihnen dann die Sachen bringen.“
„Verſtehen Sie ſich denn auf ſolche Einkäufe?“
„Ich denke wohl,“ lächelte der Vater Jaguar. „Se⸗
hen Sie ſich dieſes Megatherium genau an! Beſitzt
irgend ein Teil oder auch das kleinſte Teilchen eine
falſche, unrichtige Lage?“ ;
„Nein. Es iſt alles jo genau am Platze, als ob die
Sintflut erſt geſtern geweſen wäre.“
„So ſage ich Ihnen, daß dieſes Gerippe, als wir
es ausgruben, einen wirren Haufen von Knochen
bildete.“
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„Wie? Sie haben es ausgegraben?“
„Ausgegraben und zuſammengeſtellt. Sie meinen
doch nicht etwa, daß es ſeit der Sintflut hier zwiſchen
den Büſchen geſtanden hat?“
„Dann — ſind — Sie ja — ein ausgezeichneter
Geolog und Paläontolog!“ rief der Kleine aus, indem
er zwiſchen den Wörtern Pauſen des Erſtaunens machte.
„Wenn auch das nicht; aber wenn ich ein Megathe⸗
rium fehlerlos zuſammenzuſetzen verſtehe, bin ich wahr⸗
ſcheinlich auch imſtande, Ihnen in Tucuman alles ein⸗
zukaufen und zu ſenden, was zum Präſervieren und
Verpacken dieſer Knochen gehört.“
„Davon bin ich vollſtändig überzeugt. Alſo Sie
reiſen von hier ab? Schon übermorgen?“
„Ja.“
„Wohin?“
„Hinauf nach der Barranca del Homicidio.“
„Wie gern möchte ich mit! Aber Sie ſehen ein,
daß mir dies nun vollſtändig unmöglich iſt. Meine An⸗
weſenheit iſt hier ungeheuer notwendig, und auch Fritze
muß hier bleiben.“
„Ich begreife es und werde Sie den Cambas emp⸗
fehlen, auf deren Freundſchaft Sie ſich verlaſſen können.“
Nach dieſen Worten entfernte er ſich und gab auch
den andern einen Wink, den Gelehrten und ſeinen
Diener jetzt bei dem Skelett allein zu laſſen.
Es fiel Morgenſtern in ſeiner Freude gar nicht ein,
ſich zu bedanken oder auch nur zu fragen, wie der Vater
Jaguar denn eigentlich auf den Gedanken gekommen
ſei, das Megatherium für ihn auszugraben. Er war ſo
ſehr mit ſeinem wertvollen Fund und deſſen Einzel⸗
heiten beſchäftigt, daß er zunächſt für etwas andres gar
keine Gedanken hatte. Er betrachtete und betaſtete die
— 489 —
einzelnen Knochen zum zehnten⸗ und zum hundertſten⸗
mal und ſprach dabei unaufhörlich erklärend auf Fritze
ein, der die Feuer immerfort ſchüren mußte, damit das
Faultier ja im hellſten Licht ſtrahle.
Der Vater Jaguar aber ſagte zu Geronimo, als ſie
mit den andern nach dem Lagerplatz zurückgekehrt waren
und ſich dort niederließen: „Ich habe meinen Zweck er⸗
reicht. Dieſer Gelehrte wird uns mit ſeinem Diener
keinen Schaden mehr machen. Die beiden bleiben hier
feſt kleben. Wir können alſo ruhig hinauf in die Berge,
ohne befürchten zu müſſen, daß ſie uns wieder einen
ihrer Eulenſpiegelſtreiche ſpielen.“
„Und du willſt nicht direkt nach Salta, ſondern
über Tucuman?“
„Ja. Ueber Salta müßten wir reiten; der weite
Weg würde die Pferde ermüden, wodurch wir nur lang⸗
ſam vorwärts kämen. In Tucuman aber verkaufen wir
die Pferde und fahren mit der Diligence weiter. Das
geht wie ein Wetter, weil die Pferde oft gewechſelt wer⸗
den. In Salta aber nehmen wir Maultiere, die in den
Bergen unvermeidlich ſind.“
„Von wem?“
„Von Rodrigo Sereno, der ſtets die beſtgepflegten
Tiere hat. Auf dieſe Weiſe kommen wir mit einem
ſolchen Vorſprung vor dem Gambuſino in die Berge,
daß wir genug Zeit finden, alle unſre Vorbereitungen
zu treffen, daß weder er noch Antonio Perillo uns ent⸗
gehen kann.“
„Nimmſt du auch Cambas mit?“
„Fällt mir nicht ein. Aber der alte Anciano und
Hauka werden dabei ſein.“
„Eigentlich ſollte doch die Hälfte von uns im Chaco
bleiben, um da Tee zu ſammeln!“
— 490 —
„Das können dieſe Leute ſpäter nachholen. Jetzt
brauche ich ſie, um die beiden Mordbuben zu fangen.“
„Und Don Parmeſan, der Chirurg?“
„Dieſen Menſchen können wir nicht gebrauchen.
Ich werde es ſo einzurichten wiſſen, daß er hier bei
Morgenſtern und Fritze bleibt.“
So waren alſo alle Rollen verteilt, und man legte
ſich nieder, um zu ſchlafen, da frühzeitig nach dem Dorf
zurückgekehrt werden ſollte. Morgenſtern hätte gewiß
vor freudiger Aufregung nicht geſchlafen; aber da er
ſchon geſtern kein Auge zugetan hatte, fand er heute doch
für einige Stunden Ruhe. Die Sonne war jedoch noch
nicht aufgegangen, ſo ſtand er ſchon wieder bei ſeinem
Megatherium, um deſſen Größenverhältniſſe auszu⸗
meſſen und ſorgfältig in ſein Notizbuch einzutragen.
Er erſchrak förmlich, als er hörte, daß aufgebrochen
werden ſollte. Am liebſten wäre er hier geblieben, aber
da dies denn doch nicht möglich war, mußte er ſich von
ſeinem Schatze trennen. Aber er brachte es doch ſo weit,
daß vorher über dem Skelett ein Schutzdach aus Bambus
und Schilf errichtet wurde, damit es nicht durch Wind
und Regen leiden möge. Dann begann man den Rück⸗
weg nach dem Dorf am klaren Bache, das am Abend er⸗
reicht wurde.
Jetzt, da Morgenſtern das Megatherium nicht mehr
vor ſich ſah, war er imſtande, ſich auch mit andern Din⸗
gen zu beſchäftigen. Er konnte nun auch daran denken,
daß es ein ſehr reiches Geſchenk ſeitens der Cambas an
ihn ſei, und daß er dem Vater Jaguar eine ſehr ſchöne
und freudige Ueberraſchung verdanke. Das Verſäumte
holte er nunmehr ein, indem er ſich bei dieſem und dem
Häuptling auf das herzlichſte bedankte, er erhielt von
dem letzteren die Verſicherung, daß die Cambas das
— 489 —
einzelnen Knochen zum zehnten⸗ und zum hundertſten⸗
mal und ſprach dabei unaufhörlich erklärend auf Fritze
ein, der die Feuer immerfort ſchüren mußte, damit das
Faultier ja im hellſten Licht ſtrahle.
Der Vater Jaguar aber ſagte zu Geronimo, als ſie
mit den andern nach dem Lagerplatz zurückgekehrt waren
und ſich dort niederließen: „Ich habe meinen Zweck er⸗
reicht. Dieſer Gelehrte wird uns mit ſeinem Diener
keinen Schaden mehr machen. Die beiden bleiben hier
feſt kleben. Wir können alſo ruhig hinauf in die Berge,
ohne befürchten zu müſſen, daß ſie uns wieder einen
ihrer Eulenſpiegelſtreiche ſpielen.“
„Und du willſt nicht direkt nach Salta, ſondern
über Tucuman?“
„Ja. Ueber Salta müßten wir reiten; der weite
Weg würde die Pferde ermüden, wodurch wir nur lang⸗
ſam vorwärts kämen. In Tucuman aber verkaufen wir
die Pferde und fahren mit der Diligence weiter. Das
geht wie ein Wetter, weil die Pferde oft gewechſelt wer⸗
den. In Salta aber nehmen wir Maultiere, die in den
Bergen unvermeidlich ſind.“
„Von wem?“
„Von Rodrigo Sereno, der ſtets die beſtgepflegten
Tiere hat. Auf dieſe Weiſe kommen wir mit einem
ſolchen Vorſprung vor dem Gambuſino in die Berge,
daß wir genug Zeit finden, alle unſre Vorbereitungen
zu treffen, daß weder er noch Antonio Perillo uns ent⸗
gehen kann.“
„Nimmſt du auch Cambas mit?“
„Fällt mir nicht ein. Aber der alte Anciano und
Hauka werden dabei ſein.“
„Eigentlich ſollte doch die Hälfte von uns im Chaco
bleiben, um da Tee zu ſammeln!“
— 490 —
„Das können dieſe Leute ſpäter nachholen. Jetzt
brauche ich ſie, um die beiden Mordbuben zu fangen.“
„Und Don Parmeſan, der Chirurg?“
„Dieſen Menſchen können wir nicht gebrauchen.
Ich werde es ſo einzurichten wiſſen, daß er hier bei
Morgenſtern und Fritze bleibt.“
So waren alſo alle Rollen verteilt, und man legte
ſich nieder, um zu ſchlafen, da frühzeitig nach dem Dorf
zurückgekehrt werden ſollte. Morgenſtern hätte gewiß
vor freudiger Aufregung nicht geſchlafen; aber da er
ſchon geſtern kein Auge zugetan hatte, fand er heute doch
für einige Stunden Ruhe. Die Sonne war jedoch noch
nicht aufgegangen, ſo ſtand er ſchon wieder bei ſeinem
Megatherium, um deſſen Größenverhältniſſe auszu⸗
meſſen und ſorgfältig in ſein Notizbuch einzutragen.
Er erſchrak förmlich, als er hörte, daß aufgebrochen
werden ſollte. Am liebſten wäre er hier geblieben, aber
da dies denn doch nicht möglich war, mußte er ſich von
ſeinem Schatze trennen. Aber er brachte es doch ſo weit,
daß vorher über dem Skelett ein Schutzdach aus Bambus
und Schilf errichtet wurde, damit es nicht durch Wind
und Regen leiden möge. Dann begann man den Rück⸗
weg nach dem Dorf am klaren Bache, das am Abend er⸗
reicht wurde.
Jetzt, da Morgenſtern das Megatherium nicht mehr
vor ſich ſah, war er imſtande, ſich auch mit andern Din⸗
gen zu beſchäftigen. Er konnte nun auch daran denken,
daß es ein ſehr reiches Geſchenk ſeitens der Cambas an
ihn ſei, und daß er dem Vater Jaguar eine ſehr ſchöne
und freudige Ueberraſchung verdanke. Das Verſäumte
holte er nunmehr ein, indem er ſich bei dieſem und dem
Häuptling auf das herzlichſte bedankte, er erhielt von
dem letzteren die Verſicherung, daß die Cambas das
— 491 —
Rieſenfaultier gern nach einem andern Ort bringen
würden, von wo aus die Ueberführung nach einem Ha⸗
fenort leicht zu ermöglichen ſei. Als davon geſprochen
wurde, daß der Vater Jaguar mit ſeiner Geſellſchaft
morgen früh nach den Cordilleras aufbrechen werde,
hatte dieſer gar nicht nötig, Don Parmeſan einen Wink
zu geben, daß er ihn nicht gern bei ſich ſehe, denn der
Chirurg kam zu Morgenſtern und fragte: „Senor, Sie
reiten morgen nicht mit den andern?“
„Nein.“
„Sie bleiben alſo hier, um mit Ihrem vorwelt⸗
lichen Tier nach gebildeten Gegenden aufzubrechen?“
„Ja.“
„Ich habe eingeſehen, daß meine Kunſt im Chaco
und in den Bergen weit weniger geachtet wird als in
den Städten und in der Pampa. Sie wiſſen, ich bin
ein berühmter Chirurg und verſtehe jeden Bruch und
jede Verletzung zu heilen; ich ſäble alles herunter; aber
wenn man ſich meiner Hilfe nicht bedient, ſo iſt alle
meine Wiſſenſchaft und Fertigkeit ohne Nutzen. Dar⸗
um habe ich mich entſchloſſen, dem Vater Jaguar meine
Geſellſchaft zu entziehen. Ich bleibe auch hier, um
dann mit Ihnen nach Gegenden zurückzukehren, wo
Menſchen wohnen, welche die Wiſſenſchaft und ihre
Jünger zu würdigen verſtehen. Sind Sie damit ein⸗
verſtanden?“
„Jawohl. Ihre Geſellſchaft iſt mir ſehr angenehm,
peramoenus oder pergratus, wie der Lateiner ſagt.“
Als die Geſellſchaft am andern Morgen aufbrach,
waren alle Bewohner des Dorfes verſammelt, um ſich
nochmals für die Rettung zu bedanken und von den
Scheidenden Abſchied zu nehmen. Eine Abteilung von
t 8
“
— 492 —
Kriegern gab ihnen unter der Führung des Häuptlings
eine Strecke weit das Ehrengeleit, und zwei Cambas
ritten ganz mit bis Tucuman, um die Gegenſtände zu
bringen, die der Vater Jaguar dort für Morgenſtern
kaufen ſollte.
Gegen Mittag kam das Ehrengeleit zurück, und
dann ritt der Häuptling nach dem „Tal des ausgetrock⸗
neten Sees“, um dort die verwundeten Abipones und
deren Pfleger zu beſuchen. Er nahm einige ſeiner Leute
mit, und da Morgenſtern nichts zu tun und alſo Lange⸗
weile hatte, bat er, ſich mit Fritze anſchließen zu dürfen,
was ihm gern gewährt wurde. Sie fanden alles im
beſten Zuſtand; ſeit ihrer Abweſenheit war nichts ge⸗
ſchehen, was die am See Zurückgebliebenen hätte beun⸗
ruhigen können. Nur einen Umſtand gab es, welcher
das Bedenken des Cambas erregte, der den Befehl über
die andern führte. Er erkundigte ſich nämlich bei dem
Häuptling, wieviel Pferde von den Abipones und den
Weißen erbeutet worden ſeien, und ſagte, als er die
Zahl erfuhr: „Da fehlen zwei. Es ſind nur fünfzig
Reiter geweſen, welche fünfundfünfzig Pferde gehabt
haben. Diejenigen des Gambuſino und von Perillo ſind
erſchoſſen worden, alſo müßten wir dreiundfünfzig er⸗
beutete Pferde haben; du ſagſt aber, daß es nur einund⸗
fünfzig ſeien. Wo ſind die beiden fehlenden?“
„Es wird auf einem Irrtum beruhen,“ meinte der
Häuptling.
„Nein, denn es ſind dreiundfünfzig Sättel dage⸗
weſen. Es fehlen zwei Pferde, die des Abends oder des
Nachts abhanden gekommen ſind.“
„Wohin ſollten ſie ſein?“
„Der Gambuſino hat ſie geholt.“
— 491 —
Rieſenfaultier gern nach einem andern Ort bringen
würden, von wo aus die Ueberführung nach einem Ha⸗
fenort leicht zu ermöglichen ſei. Als davon geſprochen
wurde, daß der Vater Jaguar mit ſeiner Geſellſchaft
morgen früh nach den Cordilleras aufbrechen werde,
hatte dieſer gar nicht nötig, Don Parmeſan einen Wink
zu geben, daß er ihn nicht gern bei ſich ſehe, denn der
Chirurg kam zu Morgenſtern und fragte: „Senor, Sie
reiten morgen nicht mit den andern?“
„Nein.“
„Sie bleiben alſo hier, um mit Ihrem vorwelt⸗
lichen Tier nach gebildeten Gegenden aufzubrechen?“
„Ja.“ |
„Ich habe eingeſehen, daß meine Kunſt im Chaco
und in den Bergen weit weniger geachtet wird als in
den Städten und in der Pampa. Sie wiſſen, ich bin
ein berühmter Chirurg und verſtehe jeden Bruch und
jede Verletzung zu heilen; ich ſäble alles herunter; aber
wenn man ſich meiner Hilfe nicht bedient, ſo iſt alle
meine Wiſſenſchaft und Fertigkeit ohne Nutzen. Dar⸗
um habe ich mich entſchloſſen, dem Vater Jaguar meine
Geſellſchaft zu entziehen. Ich bleibe auch hier, um
dann mit Ihnen nach Gegenden zurückzukehren, wo
Menſchen wohnen, welche die Wiſſenſchaft und ihre
Jünger zu würdigen verſtehen. Sind Sie damit ein⸗
verſtanden?“
„Jawohl. Ihre Geſellſchaft iſt mir ſehr angenehm,
peramoenus oder pergratus, wie der Lateiner ſagt.“
Als die Geſellſchaft am andern Morgen aufbrach,
waren alle Bewohner des Dorfes verſammelt, um ſich
nochmals für die Rettung zu bedanken und von den
Scheidenden Abſchied zu nehmen. Eine Abteil sd sun
— 492 —
Kriegern gab ihnen unter der Führung des Häuptlings
eine Strecke weit das Ehrengeleit, und zwei Cambas
ritten ganz mit bis Tucuman, um die Gegenſtände zu
bringen, die der Vater Jaguar dort für Morgenſtern
kaufen ſollte.
Gegen Mittag kam das Ehrengeleit zurück, und
dann ritt der Häuptling nach dem „Tal des ausgetrock⸗
neten Sees“, um dort die verwundeten Abipones und
deren Pfleger zu beſuchen. Er nahm einige ſeiner Leute
mit, und da Morgenſtern nichts zu tun und alſo Lange⸗
weile hatte, bat er, ſich mit Fritze anſchließen zu dürfen,
was ihm gern gewährt wurde. Sie fanden alles im
beſten Zuſtand; ſeit ihrer Abweſenheit war nichts ge⸗
ſchehen, was die am See Zurückgebliebenen hätte beun⸗
ruhigen können. Nur einen Umſtand gab es, welcher
das Bedenken des Cambas erregte, der den Befehl über
die andern führte. Er erkundigte ſich nämlich bei dem
Häuptling, wieviel Pferde von den Abipones und den
Weißen erbeutet worden ſeien, und ſagte, als er die
Zahl erfuhr: „Da fehlen zwei. Es ſind nur fünfzig
Reiter geweſen, welche fünfundfünfzig Pferde gehabt
haben. Diejenigen des Gambuſino und von Perillo ſind
erſchoſſen worden, alſo müßten wir dreiundfünfzig er⸗
beutete Pferde haben; du ſagſt aber, daß es nur einund⸗
fünfzig ſeien. Wo ſind die beiden fehlenden?“
„Es wird auf einem Irrtum beruhen,“ meinte der
Häuptling.
„Nein, denn es ſind dreiundfünfzig Sättel dage⸗
weſen. Es fehlen zwei Pferde, die des Abends oder des
Nachts abhanden gekommen ſind.“
„Wohin ſollten ſie ſein?“
„Der Gambuſino hat ſie geholt.“
— 491 —
Rieſenfaultier gern nach einem andern Ort bringen
würden, von wo aus die Ueberführung nach einem Ha⸗
fenort leicht zu ermöglichen ſei. Als davon geſprochen
wurde, daß der Vater Jaguar mit ſeiner Geſellſchaft
morgen früh nach den Cordilleras aufbrechen werde,
hatte dieſer gar nicht nötig, Don Parmeſan einen Wink
zu geben, daß er ihn nicht gern bei ſich ſehe, denn der
Chirurg kam zu Morgenſtern und fragte: „Senor, Sie
reiten morgen nicht mit den andern?“
„Nein.“
„Sie bleiben alſo hier, um mit Ihrem vorwelt⸗
lichen Tier nach gebildeten Gegenden aufzubrechen?“
30: |
„Ich habe eingeſehen, daß meine Kunſt im Chaco
und in den Bergen weit weniger geachtet wird als in
den Städten und in der Pampa. Sie wiſſen, ich bin
ein berühmter Chirurg und verſtehe jeden Bruch und
jede Verletzung zu heilen; ich ſäble alles herunter; aber
wenn man ſich meiner Hilfe nicht bedient, ſo iſt alle
meine Wiſſenſchaft und Fertigkeit ohne Nutzen. Dar⸗
um habe ich mich entſchloſſen, dem Vater Jaguar meine
Geſellſchaft zu entziehen. Ich bleibe auch hier, um
dann mit Ihnen nach Gegenden zurückzukehren, wo
Menſchen wohnen, welche die Wiſſenſchaft und ihre
Jünger zu würdigen verſtehen. Sind Sie damit ein⸗
verſtanden?“
„Jawohl. Ihre Geſellſchaft iſt mir ſehr angenehm,
peramoenus oder pergratus, wie der Lateiner ſagt.“
Als die Geſellſchaft am andern Morgen aufbrach,
waren alle Bewohner des Dorfes verſammelt, um ſich
nochmals für die Rettung zu bedanken und von den
Scheidenden Abſchied zu nehmen. Eine Abteilung von
— 492 —
Kriegern gab ihnen unter der Führung des Häuptlings
eine Strecke weit das Ehrengeleit, und zwei Cambas
ritten ganz mit bis Tucuman, um die Gegenſtände zu
bringen, die der Vater Jaguar dort für Morgenſtern
kaufen ſollte.
Gegen Mittag kam das Ehrengeleit zurück, und
dann ritt der Häuptling nach dem „Tal des ausgetrock⸗
neten Sees“, um dort die verwundeten Abipones und
deren Pfleger zu beſuchen. Er nahm einige ſeiner Leute
mit, und da Morgenſtern nichts zu tun und alſo Lange⸗
weile hatte, bat er, ſich mit Fritze anſchließen zu dürfen,
was ihm gern gewährt wurde. Sie fanden alles im
beſten Zuſtand; ſeit ihrer Abweſenheit war nichts ge⸗
ſchehen, was die am See Zurückgebliebenen hätte beun⸗
ruhigen können. Nur einen Umſtand gab es, welcher
das Bedenken des Cambas erregte, der den Befehl über
die andern führte. Er erkundigte ſich nämlich bei dem
Häuptling, wieviel Pferde von den Abipones und den
Weißen erbeutet worden ſeien, und ſagte, als er die
Zahl erfuhr: „Da fehlen zwei. Es ſind nur fünfzig
Reiter geweſen, welche fünfundfünfzig Pferde gehabt
haben. Diejenigen des Gambuſino und von Perillo ſind
erſchoſſen worden, alſo müßten wir dreiundfünfzig er⸗
beutete Pferde haben; du ſagſt aber, daß es nur einund⸗
fünfzig ſeien. Wo ſind die beiden fehlenden?“
„Es wird auf einem Irrtum beruhen,“ meinte der
Häuptling.
„Nein, denn es ſind dreiundfünfzig Sättel dage⸗
weſen. Es fehlen zwei Pferde, die des Abends oder des
Nachts abhanden gekommen ſind.“
„Wohin ſollten ſie ſein?“
„Der Gambuſino hat ſie geholt.“
— 493 —
„Sage das nicht!“ rief der „Harte Schädel“ er⸗
ſchrocken aus. „Wie wäre er in das Tal gekommen, da
an deſſen Eingang ſtets ein Doppelpoſten geſtanden hat?“
„Frage dieſe Poſten, ob ſie ihre Pflicht getan oder
etwa mit bei den Feuern geſeſſen haben! Mir fällt
etwas auf, was ich mir nur dadurch erklären kann, daß
der Gambuſino die beiden Pferde heimlich entführt hat.“
„Was?“
„Ich ſandte geſtern einige meiner Leute hinaus,
um die Sättel der beiden vom Vater Jaguar erſchoſſenen
Pferde holen zu laſſen. Da ſtellte es ſich heraus, daß
dieſe Sättel fehlten. Iſt das nicht auffällig?“
„Nein, denn Perillo und der Gambuſino haben ſie
jedenfalls abgeſchnallt und mitgenommen, um ſie zu
brauchen, ſobald ſie zu neuen Pferden kommen werden.“
„Dann hätten ſie doch auch das Zaumzeug mitge⸗
nommen.“ |
„War dies denn noch da?”
„Ja, meine Leute brachten es mit.“
„Das iſt freilich unbegreiflich, denn wer den Sattel
braucht, der braucht den Zaum noch notwendiger; ja,
man kann ohne Sattel eher reiten als ohne Zügel.“
„Ich finde es nicht unbegreiflich, ſondern leicht er⸗
klärlich. Die Pferde, die wir erbeuteten, trugen die
Zäume und Zügel noch. Es fehlen zwei von ihnen.
Der Gambuſino hat ſie geholt, und weil ſie Zäume
hatten, ſo brauchte er dann den erſchoſſenen Pferden nur
die Sättel abzunehmen.“ |
„Wie aber kann er in das Tal gekommen fein, da
deſſen Eingang von zweien unſrer Krieger beſetzt war!“
„Ich fürchte, daß dieſe ihren Poſten verlaſſen ha⸗
ben! Höre weiter! Ich ritt nun ſelbſt hinaus und
ſuchte nach Spuren. Ich fand die Fährte, welche die
— 494 —
beiden Flüchtlinge und ihre Verfolger zurückgelaſſen
hatten. Ich fand auch die Spur, die der Vater Jaguar
und der alte Anciano bei ihrer Rückkehr gemacht hatten;
ſie führte nahe dem Walde hin. Dann aber ſah ich die
Fährte zweier Fußgänger, die da begann, wo ſich die
Flüchtlinge verſteckt hatten, eine Strecke hinaus in den
Campo führte und dann nach dem Tal zeigte. Hierauf
gab es noch zwei Pferdeſpuren, die aus dem Tal kamen
und, von den andern Fährten etwas entfernt, nach der
Stelle führten, wo die beiden toten Pferde lagen. Dort
war angehalten und abgeſtiegen worden, worauf dieſe
Doppelſpur dann immer am Wald entlang nach Norden
weiter lief. Die Reiter haben den nal umreiten
wollen. Was ſagſt du dazu?“
Jetzt machte der Häuptling ein ſehr bedenkliches
Geſicht. Er ſchüttelte den Kopf, ſann eine Weile nach
und meinte dann: „Wenn das ſo iſt, dann iſt der Gam⸗
buſino mit Antonio Perillo im Tal geweſen, um dort
die beiden Pferde zu holen.“
„Das ſage ich auch. Und noch eins behaupte ich,
nämlich daß der Vater Jaguar in großer Gefahr
ſchwebt, denn der Gambuſino wird ihm nun zuvorkom⸗
men. Wann iſt der Vater Jaguar fort?“
„Heute früh.“
„So hat der Gambuſino einen Vorſprung von drei
Tagen, ein Vorſprung, der gar nicht eingeholt werden
kann.“
„Vielleicht doch, denn der Vater Jaguar iſt nach
Tucuman, um von dort aus mit der Diligence zu fah⸗
ren, während der Gambuſino jedenfalls durch die Wäl⸗
der und Wüſten nach Salta iſt.“
„O, auch er iſt klug. Wie nun, wenn er auch nach
Tucuman geritten iſt?“
— 493 —
„Sage das nicht!“ rief der „Harte Schädel“ er⸗
ſchrocken aus. „Wie wäre er in das Tal gekommen, da
an deſſen Eingang ſtets ein Doppelpoſten geſtanden hat?“
„Frage dieſe Poſten, ob ſie ihre Pflicht getan oder
etwa mit bei den Feuern geſeſſen haben! Mir fällt
etwas auf, was ich mir nur dadurch erklären kann, daß
der Gambuſino die beiden Pferde heimlich entführt hat.“
„Was?“
„Ich ſandte geſtern einige meiner Leute hinaus,
um die Sättel der beiden vom Vater Jaguar erſchoſſenen
Pferde holen zu laſſen. Da ſtellte es ſich heraus, daß
dieſe Sättel fehlten. Iſt das nicht auffällig?“
„Nein, denn Perillo und der Gambuſino haben ſie
jedenfalls abgeſchnallt und mitgenommen, um ſie zu
brauchen, ſobald ſie zu neuen Pferden kommen werden.“
„Dann hätten ſie doch auch das Zaumzeug mitge⸗
nommen.“
„War dies denn noch da?“
„Ja, meine Leute brachten es mit.“
„Das iſt freilich unbegreiflich, denn wer den Sattel
braucht, der braucht den Zaum noch notwendiger; ja,
man kann ohne Sattel eher reiten als ohne Zügel.“
„Ich finde es nicht unbegreiflich, ſondern leicht er⸗
klärlich. Die Pferde, die wir erbeuteten, trugen die
Zäume und Zügel noch. Es fehlen zwei von ihnen.
Der Gambuſino hat ſie geholt, und weil ſie Zäume
hatten, ſo brauchte er dann den erſchoſſenen Pferden nur
die Sättel abzunehmen.“
„Wie aber kann er in das Tal gekommen ſein, da
deſſen Eingang von zweien unſrer Krieger beſetzt war!“
„Ich fürchte, daß dieſe ihren Poſten verlaſſen ha⸗
ben! Höre weiter! Ich ritt nun ſelbſt hinaus und
ſuchte nach Spuren. Ich fand die Fährte, welche die
— 494 —
beiden Flüchtlinge und ihre Verfolger zurückgelaſſen
hatten. Ich fand auch die Spur, die der Vater Jaguar
und der alte Anciano bei ihrer Rückkehr gemacht hatten;
ſie führte nahe dem Walde hin. Dann aber ſah ich die
Fährte zweier Fußgänger, die da begann, wo ſich die
Flüchtlinge verſteckt hatten, eine Strecke hinaus in den
Campo führte und dann nach dem Tal zeigte. Hierauf
gab es noch zwei Pferdeſpuren, die aus dem Tal kamen
und, von den andern Fährten etwas entfernt, nach der
Stelle führten, wo die beiden toten Pferde lagen. Dort
war angehalten und abgeſtiegen worden, worauf dieſe
Doppelſpur dann immer am Wald entlang nach Norden
weiter lief. Die Reiter haben den Wald umreiten
wollen. Was ſagſt du dazu?“
Jetzt machte der Häuptling ein ſehr bedenkliches
Geſicht. Er ſchüttelte den Kopf, ſann eine Weile nach
und meinte dann: „Wenn das ſo iſt, dann iſt der Gam⸗
buſino mit Antonio Perillo im Tal geweſen, um dort
die beiden Pferde zu holen.“
„das ſage ich auch. Und noch eins behaupte ich,
nämlich daß der Vater Jaguar in großer Gefahr
ſchwebt, denn der Gambuſino wird ihm nun zuvorkom⸗
men. Wann iſt der Vater Jaguar fort!“
„Heute früh.“
„So hat der Gambuſino einen Vorſprung von drei
Tagen, ein Vorſprung, der gar nicht eingeholt werden
kann.“
„Vielleicht doch, denn der Vater Jaguar iſt nach
Tucuman, um von dort aus mit der Diligence zu fah⸗
ren, während der Gambuſino jedenfalls durch die Wäl⸗
der und Wüſten nach Salta iſt.“
„O, auch er iſt klug. Wie nun, wenn er auch nach
Tucuman geritten iſt?“
— 495 —
„In dieſem Falle ſchwebt der Vater Jaguar frei⸗
lich in größter Gefahr. Ich muß ihm einen Boten
nachſenden. Vorher aber will ich mich erkundigen, wer
die Poſten geweſen ſind, die am Taleingang geſtanden
haben.“ |
Er ſtieg auf fein Pferd, um mit feinen Begleitern
ſchnell davonzureiten; die Pferde wurden, als man den
Wald hinter ſich hatte, angetrieben, daß ſie wie Pfeile
über die Ebene flogen. Wenn dem Vater. Jaguar ein
Bote nachgeſchickt werden ſollte, ſo hatte man keine Zeit
zu verlieren.
Der Häuptling ſprengte mit ſeinen Indianern vor⸗
an; die beiden Deutſchen folgten hinterdrein. Das, was
ſie gehört hatten, ging ihnen im Kopf herum. Wäh⸗
rend ſie eng nebeneinander dahinritten, ſagte Morgen⸗
ſtern: „Fritze, wie lange meinſt du wohl, daß mein
Megatherium unter dem Schutzdach ſtehen kann, bevor
es Schaden leidet?“
„Jedenfalls monate⸗, vielleicht auch ſogar jahre⸗
lang.“
„Wirklich?“ |
„Janz jewiß! Warum fragen Sie?“
„Weil ich einen Gedanken habe, den ich nicht wieder
loswerden kann.“
„Welchen?“
„Den Gedanken an die Gelegenheit einer tapferen
Tat. Weißt du, wir ſprachen davon!“
„Ick entſinne mir. Sobald ſich die Jelejenheit zu
einer ſolchen Tat zeigt, wollten wir ſie ausführen, um
unſre Ehre wieder herzuſtellen.“
„Nun, die Gelegenheit iſt da. Der Vater Jaguar
befindet ſich in einer großen Gefahr, lateiniſch Peri-
culum genannt.“
„Dat habe ick jehört, aber wat haben wir damit
zu tun?“
Der ſchlaue Fritze zeigte ſich jetzt ſo ſchwerhörig,
weil er ſich nicht wieder ſagen laſſen wollte, daß er
ſeinen Herrn verleitet habe.
„Das kannſt du mich fragen!“ wunderte ſich Mor⸗
genſtern. „Wir haben ihm viel, ſehr viel, ſogar unſer
Leben zu verdanken, und jetzt fragſt du, was wir mit
der Gefahr zu tun haben, in die er geraten wird?“
„Da müſſen wir ihm alſo nachreiten?“
„Allerdings.“
„Aber der Häuptling will ihm doch einen Boten
nachſenden. Da ſind wir ja überflüſſig.“
„Nein. Wie nun, wenn der Bote ihn nicht mehr
in Tucuman antrifft? Er wird umkehren, weil er
meint, ſeine Pflicht getan zu haben.“
„Wir aber würden dem Vater Jaguar nachreiſen?“
„Ganz ſelbſtverſtändlich. Wir würden nicht ruhen,
bis wir ihn gefunden und aus den Händen des Gambu⸗
ſino befreit hätten. Meinſt du nicht auch?“
„Sm! Ick möchte wohl, wenn nur eins nicht wäre.“
„Was?“
„Dat Megatherium.“
„Das geht doch dich nichts an; das iſt meine Sache.
Wenn ich es einſtweilen ſtehen laſſe, brauchſt du dich
nicht zu grämen; es bleibt uns ja gewiß.“
„Ja, fortlaufen wird es nicht. Tun Sie, wat Sie
wollen. Ick richte mir janz nach Sie.“
„Aber wird der Häuptling uns fortlaſſen?“
„Wir brauchen ihm doch nur zu ſagen, daß Sie
verjeſſen haben, dem Vater Jaguar verſchiedenes zu
ſagen, wat Sie noch für dat Megatherium brauchen.
Darum möchten wir mit dem Boten jern nach Tucuman
— 495 —
„In dieſem Falle ſchwebt der Vater Jaguar frei⸗
lich in größter Gefahr. Ich muß ihm einen Boten
nachſenden. Vorher aber will ich mich erkundigen, wer
die Poſten geweſen ſind, die am Taleingang geſtanden
haben.“
Er ſtieg auf ſein Pferd, um mit ſeinen Begleitern
ſchnell davonzureiten; die Pferde wurden, als man den
Wald hinter ſich hatte, angetrieben, daß ſie wie Pfeile
über die Ebene flogen. Wenn dem Vater Jaguar ein
Bote nachgeſchickt werden ſollte, ſo hatte man keine Zeit
zu verlieren.
Der Häuptling ſprengte mit ſeinen Indianern vor⸗
an; die beiden Deutſchen folgten hinterdrein. Das, was
fie gehört hatten, ging ihnen im Kopf herum. Wäh⸗
rend ſie eng nebeneinander dahinritten, ſagte Morgen⸗
ſtern: „Fritze, wie lange meinſt du wohl, daß mein
Megatherium unter dem Schutzdach ſtehen kann, bevor
es Schaden leidet?“
„Jedenfalls monate⸗, vielleicht auch ſogar jahre⸗
lang.“
„Wirklich?“
„Janz jewiß! Warum fragen Sie?“
„Weil ich einen Gedanken habe, den ich nicht wieder
loswerden kann.“
„Welchen?“
„Den Gedanken an die Gelegenheit einer tapferen
Tat. Weißt du, wir ſprachen davon!“
„Ick entſinne mir. Sobald ſich die Jelejenheit zu
einer ſolchen Tat zeigt, wollten wir ſie ausführen, um
unſre Ehre wieder herzuſtellen.“
„Nun, die Gelegenheit iſt da. Der Vater Jaguar
befindet ſich in einer großen Gefahr, lateiniſch Peri-
culum genannt.“
"dd
— 496 —
„Dat habe ick jehört, aber wat haben wir damit
zu tun?“
Der ſchlaue Fritze zeigte ſich jetzt ſo ſchwerhörig,
weil er ſich nicht wieder ſagen laſſen wollte, daß er
ſeinen Herrn verleitet habe.
„Das kannſt du mich fragen!“ wunderte ſich Mor⸗
genſtern. „Wir haben ihm viel, ſehr viel, ſogar unſer
Leben zu verdanken, und jetzt fragſt du, was wir mit
der Gefahr zu tun haben, in die er geraten wird?“
„Da müſſen wir ihm alſo nachreiten?“
„Allerdings.“ |
„Aber der Häuptling will ihm doch einen Boten
nachſenden. Da ſind wir ja überflüſſig.“
„Nein. Wie nun, wenn der Bote ihn nicht mehr
in Tucuman antrifft? Er wird umkehren, weil er
meint, ſeine Pflicht getan zu haben.“
„Wir aber würden dem Vater Jaguar nachreiſen?“
„Ganz ſelbſtverſtändlich. Wir würden nicht ruhen,
bis wir ihn gefunden und aus den Händen des Gambu⸗
ſino befreit hätten. Meinſt du nicht auch?“
„Hm! Ick möchte wohl, wenn nur eins nicht wäre.“
„Was?“
„Dat Megatherium.“
„Das geht doch dich nichts an; das iſt meine Sache.
Wenn ich es einſtweilen ſtehen laſſe, brauchſt du dich
nicht zu grämen; es bleibt uns ja gewiß.“
„Ja, fortlaufen wird es nicht. Tun Sie, wat Sie
wollen. Ick richte mir janz nach Sie.“
„Aber wird der Häuptling uns fortlaſſen?“
„Wir brauchen ihm doch nur zu ſagen, daß Sie
verjeſſen haben, dem Vater Jaguar verſchiedenes zu
ſagen, wat Sie noch für dat Megatherium brauchen.
Darum möchten wir mit dem Boten jern nach Tucuman
— 497 —
reiten, um es zu holen. Dajejen kann ja kein Menſch
wat haben.“
„Das iſt wahr. Du biſt ein Schlaukopf. Alſo as
iſt abgemacht: wir reiten nach Tucuman.“
„Ja, wenn es ſich herausſtellt, daß die Jeſchichte
von der Jefahr, worin der Vater Jaguar ſchwebt, wirk⸗
lich Br iſt.“
Leider ſtellte es ſich heraus, daß der Unteranführer
im Tal des ausgetrockneten Sees ſich nicht geirrt oder
verrechnet hatte. Die beiden Poſten wurden ermittelt
und gaben zu, daß ſie den Eingang verlaſſen und ihre
zwei Stunden am Feuer in der Geſellſchaft der andern
zugebracht hatten. Der Häuptling hatte keinen Grund,
die beiden Deutſchen von dem Ritt abzuhalten, und ſo
jagten die drei Reiter noch vor Mitternacht zum Dorf
hinaus, der Richtung nach Tucuman zu. Doktor Par⸗
meſan aber blieb zurück, um ihre — wie er glaubte —
baldige Rückkehr zu erwarten.
May Das Vermächtnis des Inka 32
Sechzehntes Kapitel
Die Gäſte des Senor Sereno
Jalta, oder wie die argentiniſche Stadt vollſtändig
heißt, San Miquel de Salta, liegt in einer von mehreren
Bergwäſſern durchfloſſenen Ebene des Tales von
Lerma, iſt ziemlich gut bevölkert und treibt einen lebhaf⸗
ten Speditionshandel mit Bolivia. Einer der bedeu⸗
tendſten Spediteure der Stadt war Senor Rodrigo Se⸗
reno, deſſen Anweſen vor dem nördlichen Tor von Salta
lag und vielleicht noch heute liegt. Es beſtand aus
weiten Stallungen und Lagerhäuſern, vor denen gerade
an der Straße das langgeſtreckte Hauptgebäude lag,
deſſen eine Seite die Wohnung des Beſitzers und ſeiner
Familie bildete, während die andre Seite dem öffent⸗
lichen Verkehr und vornehmlich der Aufnahme von Rei⸗
ſenden und andern Gäſten diente.
Es war am ſpäten Abend. Die Stadtbeſucher
hatten das Lokal ſchon verlaſſen, und die fremden Gäſte
und das Perſonal waren ſchlafen gegangen. Senor Ro⸗
drigo ſaß allein in der Stube und machte ſeinen heutigen
Kaſſenabſchluß. Da ließen ſich draußen nähernde
Schritte hören. Sofort warf er ein Tuch über das Geld
und ſtand auf, um den Tiſch zu verlaſſen, damit man
nicht bemerke, wo und womit er beſchäftigt geweſen war.
Man kann in jenen Gegenden nicht vorſichtig genug
— 499 —
ſein. Sein Geſicht nahm einen mißtrauiſchen, zurück⸗
haltenden Ausdruck an. Da wurde die Tür geöffnet,
und es traten zwei Männer ein, bei deren Anblick ſein
Geſicht ſich augenblicklich wieder aufhellte.
„Buenas tardes — guten Abend!“ grüßten ſie und
reichten ihm die Hände, die er ihnen, ihren Gruß erwi⸗
dernd, kräftig ſchüttelte. Es war der Gambuſino und
ſein Gefährte Antonio Perillo. |
Der erſtere ließ fein Auge forſchend durch die Stube
ſchweifen, blieb mit dem Blick an dem Tiſch und dem
Tuch hängen, ging hin, hob es auf und fragte lachend:
„Geld gezählt und vor uns verſteckt, Seüor Rodrigo?
Seit wann haltet Ihr mich für einen Menſchen, dem
man nicht trauen kann?“
„Redet nicht,“ antwortete der Wirt, „ihr wißt doch
nur zu gut, daß ihr nicht gemeint ſeid. Als ich Schritte
hörte, wußte ich nicht, wer eintreten werde. Seid will⸗
kommen; ſetzt euch, und befehlt, was ich euch bringen
ſoll!“
„Zu eſſen, was Ihr habt, und zwei Flaſchen Wein.
Dann macht uns ſo viel Proviant zuſammen, wie zwei
Männer brauchen, die über eine Woche in die Berge
wollen, ohne zu wiſſen, ob ſie ſich von der Jagd ernähren
können.“
Der Wirt verſchwand und kehrte bald mit dem
Eſſen und dem Wein zurück. Er ſetzte ſich zu ihnen, die
wortlos aßen und tranken, und ſah zu, wie es ihnen
ſchmeckte. Aber er war kein Freund von langem Schwei⸗
gen; darum fragte er ſchon nach einer kleinen Weile:
„Woher, Seüore3?“
„Aus Tucuman,“ antwortete der Gambuſino.
„Mit der Diligence?“
— 50 —
„Ja. Soeben erſt angekommen.“
„Ihr werdet heut bei mir bleiben?“
„Nur die halbe Nacht, dann reiten wir weiter. Wir
denken, daß Ihr zwei gute Maultiere für uns haben
werdet?“
„Das verſteht ſich. Für Seüores, wie ihr feid, habe
ich ſtets das Nötige bereit.“
„Wie teuer das Stück?“
„Ihr zahlt nicht mehr als zwanzig Bolivianos.“
Das waren achtzig Mark für ein gutes, ſtarkes,
fußſicheres und ſchwindelfreies Maultier, gewiß ein ſehr
niedriger Preis.
„Aber wenn wir nun kein Geld haben?“ lachte ihm
der Gambuſino in das Geſicht.
„So iſt es auch nicht anders, als wenn ihr welches
hättet. Ihr ſeid mir noch nie etwas ſchuldig geblieben.“
„Gut! Wir zahlen alſo, wenn wir wiederkommen.
Sorgt für ein gutes Lager, denn die Diligence hat uns
arg zuſammengeſchüttelt, und ſagt uns vor allen Din⸗
gen, wo die Mojosindianer jetzt zu treffen ſind!“
„Wollt ihr zu dieſen? Verwegene und unterneh⸗
mende Kerls! Möchte mich ihnen aber nicht anver⸗
trauen.“
„Weil ſie Euch nicht kennen; ich aber bin befreundet
mit ihnen.“
„Ihr werdet ſie in der Gegend des Guanacotales
finden, wo ſie gegenwärtig jagen.“
„Das iſt mir unlieb, denn ich muß dabei Zeit ver⸗
ſäumen, weil ich nach einer andern a wollte.”
„Wohin?“
„In die Berge. Das möge Euch genügen. Ihr
bekommt Euer Geld, auch ohne daß Ihr wißt, wohin
wpir reiten.“
— 5301 —
„Das weiß ich. Verzeihung, Seßores, ich wollte
nicht zudringlich ſein.“
Damit war die kurze Unterhaltung zu Ende. Die
Gäſte aßen ihre Portionen auf und legten ſich dann in
einer Ecke nieder, wo der Wirt ihnen aus Decken und
weichen Fellen ein Lager bereitet hatte. Er zählte ſein
Geld vollends, ſchob es klirrend in die tiefe Taſche und
verſchwand dann durch die Tür, um ſich auch niederzu⸗
legen. Es war dunkel in der Stube geworden. Die
Schläfer ſchnarchten; eine halbe Stunde nach der andern
verging; es wurde Mitternacht und dann ein Uhr. Da
trat der Wirt wieder ein, mit dem Licht in der Hand; er
ging zu den beiden Schlafenden und weckte fie: „Señores,
erwacht! Die Zeit des Aufbruchs iſt gekommen.“
Sie ſtanden auf, bekamen jeder eine kleine Kala⸗
baſſe Mate zu trinken und einen warmen Brotkuchen zu
eſſen. Dann ließen ſie ſich von dem Wirt in den Hof
führen, wo die beiden Maultiere ſtanden. Sie waren
trefflich aufgeſchirrt und in den Satteltaſchen ſteckte der
Proviant, den der Gambuſino beſtellt hatte. Der Wirt
beleuchtete die Tiere von allen Seiten und fragte dann:
„Seid ihr zufrieden, Seüores? Das Geſchirrzeug leihe
ich euch. Ihr könnt es mir wiederbringen, ſobald es
euch paßt.“ N
„Tie Tiere find gut, Seßor Rodrigo,“ antwortete
der Gambuſino. „Das Riemenzeug bringen wir nach
einer Woche, höchſtens einige Tage ſpäter zurück. Lebt
wohl!“
„Lebt wohl! habt eine glückliche Reiſe!“
Sie ritten davon, und Sereno ſah ihnen mit einer
Miene nach, als ob er ein ſehr gutes Geſchäft gemacht
habe. Er hatte dem Gambuſino, wenn dieſer auf die
Goldſuche ging, ſchon oft Pferde oder Maultiere, auch
— 502 —
Geld und andres geborgt und den Betrag immer mit
guten Zinſen zurückerhalten. Als der Hufſchlag in der
Stille der Nacht verhallt war, ging er wieder ſchlafen. —
Am nächſten Abend war es faſt genau ſo, wie am
vorhergehenden, nur daß ſich mehr als bloß zwei Gäſte
einſtellten. Sereno hatte eben ſein Geld gezählt und
eingeſchloſſen, jo hörte er die Fußtritte vieler Menſchen
vor der Tür. Dieſe wurde geöffnet, und es traten ſechs⸗
undzwanzig wohlbewaffnete Männer ein, die alle vom
Kopf bis zu den Füßen ganz gegen Landesſitte in Leder
gekleidet waren und breitkrämpige Hüte trugen. Nur
zwei von ihnen hatten keine Hüte. Sie gingen bar⸗
häuptig und hatten ihr Haar lang über den Rücken hin⸗
abhängen. Ihren Geſichtszügen nach ſchienen ſie In⸗
dianer zu ſein. Der eine war jung, der andre aber ſehr
alt.
Der Wirt kannte einige von den Männern und be⸗
grüßte insbeſondere den Vater Jaguar herzlich. Dieſer
beſtellte Wein und fragte, ob er und ſeine Begleiter bin⸗
nen einer Stunde gut gebratenen Asado con cuero be-
kommen könnten.
„So viel Sie wollen, Senor.“
„Nur ſo viel, wie ſechsundzwanzig hungrige Män⸗
ner eſſen können. Und dann laſſen Sie Ihre Maul⸗
tiere in den Hof, denn wir werden ſie uns anſehen, um
ſechsundzwanzig Stück zu kaufen.“
Sechsundzwanzig Stück! Und zwar ſofort bezahlen,
ganz ſicher nicht borgen! Dazu ſechsundzwanzig Braten
in der Haut und dreizehn Flaſchen Wein. Welch ein
Geſchäft! Rodrigo Sereno duckte ſich vor Hochachtung
zuſammen, daß es ausſah, als ob er eine Elle kleiner ge⸗
worden ſei. Dann fuhr er hinaus in die Küche und
weckte ſein ganzes Perſonal, damit der Braten ſo ſchnell
‘
— 508 —
wie möglich fertig werde und es die Maultiere ſo blank
putze, daß nicht ein Stäubchen mehr an ihnen hafte.
Dann kehrte er in die Gaſtſtube zurück, um, in der Nähe
der zuſammengeſchobenen Tiſche ſitzend, der Winke ſeiner
Gäſte gewärtig zu ſein.
Sie ſaßen nachdenklich und ſchweigend, und keiner
ſprach ein Wort. Das konnte der neugierige und mit⸗
teilſame Rodrigo auf die Länge der Zeit nicht aushal⸗
ten. Er fuhr in immer wachſender Ungeduld auf ſeinem
Stuhl hin und her und fragte endlich, freilich in höf⸗
lichſtem Ton, deſſen ſeine Stimmwerkzeuge fähig waren:
„Darf ich vielleicht erfahren, Seüor Jaguar, woher Sie
heute kommen?“
„Von Tucuman,“ lautete die zurückhaltende Ant⸗
wort. |
„Aber doch nicht mit der Diligence?“
„Nein.“
„Ja, der Ankunftstag der Diligence iſt geſtern ge⸗
weſen. Es kehrten bei mir zwei Seüores ein, die mit
ihr gefahren waren, zwei bekannte und ſehr berühmte
Señores. Sie würden ſich wundern, wenn Sie ihre Nas
men hörten.“
Die andern ſchwiegen, aber der luſtige Picaro, der
nicht gern eine Gelegenheit zu einer Schalkhaftigkeit vor⸗
übergehen ließ, antwortete: „Wir würden uns nicht
über ihre Namen wundern, ſondern nur darüber, dieſe
von Ihnen zu hören; denn Sie ſcheinen der ſchweig⸗
ſamſte Mann der ganzen argentiniſchen Staaten zu ſein.“
„O, gar ſo ſchlimm ſteht es nun nicht mit meiner
Zurückhaltung. Ich ſpreche zwar ſehr wenig, aber ſol⸗
chen Seßores gegenüber würde Schweigſamkeit zur
Grobheit werden. Darum will ich Ihnen ſagen, daß einer
— 504 —
der Seßores der berühmte Stierkämpfer Antonio Pe⸗
rillo war.“
Er bemerkte in ſeiner Harmloſigkeit gar nicht, wel⸗
chen Eindruck dieſe Mitteilung auf ſeine Gäſte machte.
Sie ſahen einander an, blickten ſich Schweigen zu, und
dann meinte Hammer in gleichgültigem Ton: „Und der
andere?“
„Das war der noch berühmtere Gambuſino Benito
Pajaro.“
„So? Wirklich? Woher kamen die beiden?“
„Von Tucuman mit der Diligence. Es war die
gegenwärtige Zeit. Sie kauften zwei Maultiere nebſt
Proviant für eine Woche, und ich weckte fie eine Stunde
nach Mitternacht, weil ſie da abreiſen wollten.“
„Wohin?“
„Zu den Mojosindianern, die ſich jetzt in der Ge⸗
gend des Guanacotals aufhalten.“
Jetzt wurde der Wirt in die Küche gerufen, und das
gab den Gäſten Zeit, ihre Meinungen ungehört von ihm
auszutauſchen. Der Vater Jaguar ſagte in unterdrück⸗
tem Ton: „Sollte man es glauben! Was meinſt du
dazu, Geronimo?“
„Der Gambuſino und Antonio Perillo müſſen ſehr
ſchnell zu Pferden gekommen ſein,“ antwortete der Ge⸗
fragte. „Das iſt die einzige Löſung dieſes Rätſels.“
„Das ſage ich auch. Wie gut, daß wir hier einge⸗
kehrt ſind, und wie gut, daß wir nicht auf die nächſten
Diligencewagen warteten, ſondern Relaispferde nah⸗
men! Der Gambuſino iſt uns einen vollen Tag vor⸗
aus; aber wir werden dennoch eher an Ort und Stelle
ankommen, weil er erſt zu den Mojos will und alſo
eımen Umweg machen wird. Und zugleich iſt es ein
großer Vorteil für uns, zu wiſſen, aus welcher Rich⸗
— 505 —
tung er kommen wird. Wir haben ihn vom Guanaco⸗
tal her zu erwarten.“
„Was mag er bei den Mojosindianern wollen?“
fragte einer.
„Seltſame Frage!“ antwortete Hammer. „Was er
dort will, iſt ſehr leicht zu erraten. Er will mit An⸗
tonio Perillo in der Mordſchlucht nach einem Schatz
ſuchen. Dazu gehört Zeit, viel Zeit, während welcher
der Proviant leicht ausgehen kann. Dieſer muß durch
die Jagd erneuert werden, und dazu ſind die Mojos
engagiert. Ferner gehört dazu ein genügender Schutz,
das Fernhalten jeder Störung, jeder Begegnung mit
einem Reiſenden, Jäger oder andern Menſchen, der die
beiden überraſchen und ihre Abſicht erraten könnte.
Darum werden ſie Mojospoſten ausſtellen, die alle
Störung abhalten müſſen.“
„Aber da können doch dieſe Poſten ſelbſt leicht er⸗
raten, was die beiden beabſichtigen.“ |
„Mögen fie das, es ſchadet nichts, wenn der Gam⸗
buſino nur ſeinen Zweck erreicht. Er ſchießt die Mojos,
die ihn beſchützen mußten, einfach nieder und verſchwin⸗
det dann mit dem Schatz auf Nimmerwiederſehen, um
nicht der Rache ihrer Anverwandten zu verfallen.“
„Das wäre eine Niederträchtigkeit, die ihresgleichen
ſucht! Er iſt ein gewiſſenloſer Menſch; aber ſo etwas
ſollte man ihm doch nicht zutrauen.“
„Nicht!?“ fragte der Vater Jaguar. „Ich habe es
bisher verſchwiegen, aber nun will ich es euch ſagen.
Er hat an meinem Bruder genau ebenſo gehandelt.
Mein Bruder war Gambuſino oder Proſpektor, wie die
Goldſucher in den Vereinigten Staaten genannt wer⸗
den; er hatte einen ungewöhnlich reichen Fund gemacht.
Da kam dieſer Gambuſino, ermordete ihn auf eine ent⸗
— 506 —
ſetzliche, unmenſchliche Weiſe und verſchwand mit dem
Gold. Das hat mein dunkles Haar gebleicht. Ich
folgte der Fährte dieſes Menſchen, die nach Argentinien
führte, konnte ihn aber nicht zu ſehen bekommen. Erſt
jüngſt iſt er mir in die Arme gelaufen, ich habe ihn und
er hat mich erkannt, und nun ſind die Stunden eines
von uns beiden gezählt, entweder die meinigen oder die
ſeinigen.“
„Die ſeinigen, die ſeinigen!“ rief es im Kreiſe, und
die Fäuſte fielen dröhnend auf die Tiſche nieder.
„Still!“ gebot der Vater Jaguar. „Keinen Lärm!
Niemand braucht zu hören, wovon wir reden.“
Jetzt trat der Wirt wieder ein, und ihm folgten
einige Bedienſtete, welche auf Platten den duftenden
Asado con cuero brachten. Die Gäſte aßen und tran⸗
ken ſchweigend und zeigten dabei ſo ernſte Geſichter, daß
dem Wirt der Mut entfiel, ein neues Geſpräch anzu⸗
knüpfen. Als das Mahl zu Ende und auch der Wein
getrunken war, begaben ſich die Männer in den Hof, um
ſich die Maultiere zeigen zu laſſen. Sie hatten in Tu⸗
cuman die hier in den Bergen unbrauchbaren Pferde
verkauft und mußten ſich nun von neuem beritten
machen. Tiere und Sattelzeug gab es bei Rodrigo Se⸗
reno mehr als genug.
Beim Schein brennender Lichter und Laternen
wurde die Auswahl getroffen, worauf der Wirt eben⸗
falls den billigen Preis von zwanzig Bolivianos für
das Stück berechnete. Dann wurden die Sättel in die
Stube geſchafft, weil die Taſchen dort mit Proviant ge⸗
füllt werden ſollten. Dies war nach Verlauf von einer
halben Stunde geſchehen, und inzwiſchen forderte der
Vater Jaguar den Wirt auf, ihm die Rechnung nieder⸗
zuſchreiben. Er griff in den Gürtel, zog eine Handvoll
— 507 —
Goldſtücke hervor und zählte ihm die ſchuldige Summe
auf den Tiſch.
Gleich darauf verließen die Männer das Gaſtzim⸗
mer, ſchwangen ſich auf die Maultiere und jagten in die
Nacht hinaus, während Senor Sereno mit dem erheben⸗
den Gefühl zurückblieb, ein gutes Geſchäft gemacht zu
haben. — — —
Und ſchon am nächſten Morgen, als man kaum auf⸗
geſtanden war, gab es auch wieder fremde Gäſte. Ro⸗
drigo Sereno ſchlürfte ſoeben gemächlich ſeinen Mate
aus der ſilbernen Röhre, da traten zwei kleine, überaus
rot gekleidete Menſchen ein, die bis an die Zähne be⸗
waffnet waren. Der eine fragte ſofort, als er die Tür
geſchloſſen hatte: „Sind Sie der Wirt Rodrigo Sereno,
Senor?“
„Ja, Señores,“ antwortete der Gefragte.
„So ſind wir in das richtige Haus, lateiniſch
Domus oder auch Aedificium genannt, gekommen; ha⸗
ben Sie Maultiere zu verkaufen?“
„Gern, ſo viele Sie brauchen.“
„Und außerdem kann man bei Ihnen zu eſſen und
zu trinken bekommen?“ |
„Alles, was die Seüores wünſchen. Setzen Sie ſich
nieder und teilen Sie mir Ihre Befehle mit!“
Er rückte ihnen zwei Stühle am Tiſche bequem und
forderte ſie durch eine Handbewegung auf, ſich nieder⸗
laſſen. Seine Worte hatten einen Ton, der ein klein
wenig ironiſch klang. Er ſchien die kleinen Männer
trotz der Waffen, die ſie trugen, nicht für voll anzu⸗
ſehen. Sie bemerkten dies gar nicht, verlangten heißen
Mate und Gebäck dazu und machten es ſich dann auf
den Stühlen bequem, die er ſeinen Gäſten hinſtellte.
— 508 —
Als er ihnen das Verlangte gebracht und vorgeſetzt
hatte, nahm er bei ihnen in der Weiſe Platz, wie man
es bei Leuten tut, die man nicht ganz für ſeinesgleichen
hält, muſterte ſie mit einem von oben herab gerichteten
Blick und ſagte: „Darf man vielleicht erfahren, ob die
Señores ſich hier in Salta aufzuhalten gedenken?“
„Wir kaufen Maultiere, alſo wollen wir fort,“ ant⸗
wortete Fritze Kieſewetter.
„Wo kommen Sie her?“
„Aus Tucuman.“
„Auch aus Tucuman? Und natürlich auch nicht
mit der Diligence?“
„Nein. Wir haben Poſtpferde geritten. Aus Ihrer
Frage geht hervor, daß noch andre von dorther gekom⸗
men ſind, und zwar auch nicht mit der Diligence?“
„Ja. Geſtern abend kam eine ganze Geſellſchaft
hier an, und vorgeſtern trafen auch ſchon zwei Männer
ein. Wo wollen Sie hin, Seüores?”
„Zunächſt hinauf nach der Salina del Condor.
Aber wir kennen den Weg nicht. Iſt es wohl möglich,
hier einen Führer zu bekommen, auf den man ſich ver⸗
laſſen kann?“
„Warum nicht? Wenn Sie ihn gut bezahlen, will
ich Ihnen ſofort einen beſorgen. Ich habe einen Knecht,
welcher früher einigemal da oben geweſen iſt und ſich
wohl beſtimmen laſſen wird, Ihr Führer zu ſein. Sie
werden ihn bei den Maultieren finden, die Sie ſich an⸗
ſehen können, ſobald es Ihnen beliebt.“
Der Peon, von dem er ſprach, war jedenfalls kein
zuverläſſiger Knecht, ſonſt hätte er ihn nicht ſo bereit⸗
willig hergegeben. Als die beiden Reiſenden dann mit
dieſem Mann ſprachen, erklärte er, daß er gern mit
ihnen reiten werde, und ſtellte auch ſo günſtige Bedin⸗
— 509 —
gungen, daß ſie ohne Handel darauf eingingen. Deſto
teurer aber waren die Maultiere, die ſie kauften. Sie
mußten für das Stück fünfzig Bolivianos bezahlen, alſo
über noch einmal ſo viel, als der Wirt geſtern und vor⸗
geſtern erhalten hatte. Dazu kamen die Sättel und die
Proviantvorräte, die ſie ſich mitnahmen. Während die
letzteren im Zimmer eingepackt wurden, fragte Doktor
Morgenſtern den Wirt im Lauf des Geſpräches: „Senor,
Sie ſprachen von Leuten, die geſtern und vorgeſtern aus
Tucuman hier angekommen ſeien. Kannten Sie dieſe
vielleicht?“
„Allerdings. Es waren Männer von ſehr berühm⸗
ten Namen.“
„Darf ich dieſe Namen erfahren?“
„Warum nicht? Ich bin ſogar ſtolz darauf, Ihnen
mitteilen zu können, daß ſolche Senores bei mir ver⸗
kehren. Am vorgeſtrigen Abend hatte ich den weitbe⸗
kannten Benito Pajaro mit noch einem Herrn als Gäſte
bei mir.“
„Den Gambuſino? So ſind wir alſo auf der rich⸗
tigen Spur, lateiniſch Semita oder auch Vestigium ge⸗
nannt. Der andre iſt jedenfalls Antonio Perillo ge⸗
weſen?“
„Ja, er war es. Kennen Sie denn dieſe Seüores?“
„Beſſer, als Sie vielleicht denken. Und wer waren
die Herren, die geſtern hier einkehrten?“
Der Wirt betrachtete die beiden jetzt abermals mit
einem forſchenden Blick, wobei ſein Geſicht einen weni⸗
ger geringſchätzenden Ausdruck annahm. Wer den Gam⸗
buſino ſo gut kannte, der konnte nach ſeiner Anſicht denn
doch kein ſo ganz gewöhnlicher Menſch ſein. Dann ant⸗
— 510 —
wortete er fragend: „Sie ſprachen von einer Spur.
Wollen Sie vielleicht dem Gambuſino nach?“
„Ja.“
„Und wiſſen Sie, wohin er iſt?“
„Sehr genau.“
„So müſſen Sie ſich ſputen, denn er ſchien große
Eile zu haben. Noch weit größere Eile aber hatten die
geſtrigen Seüores. Das waren über zwanzig Perſonen,
die von dem berühmten Vater Jaguar angeführt wur⸗
den. Den werden Sie wohl ſchwerlich kennen.“
„Warum nicht? Wir gehören ja zu ſeiner Geſell⸗
ſchaft und wollen ihr nach.“ |
„Was? Sie gehören zu ihm und wollen doch auch
dem Gambuſino folgen? Daraus iſt zu ſchließen, daß
der Vater Jaguar mit dem Gambuſino zuſammentreffen
will?“
„Sie erraten es. Es handelt ſich nämlich um eine
ſehr intereſſante Angelegenheit, lateiniſch Negotium ge⸗
nannt, die für uns von großer Wichtigkeit iſt. Näm⸗
4%
ih
Ter kleine Mann ſtand im Begriff, dem Wirt eine
voreilige Mitteilung zu machen. Fritze, der weit vor⸗
ſichtiger war, fiel ihm ſchnell in die Rede: „Es betrifft
nämlich eine Silberader, die droben in den Bergen auf⸗
gefunden worden ſein ſoll, und alle die genannten
Senores, auch wir beide, reiten hinauf, um dieſe, falls
etwas Wahres daran iſt, auszubeuten.“
„Da gratuliere ich Ihnen,“ meinte der Wirt, und
zwar jetzt im Ton der Hochachtung. „Ein Unternehmen,
woran ſich der Vater Jaguar und der Gambuſino be⸗
teiligen, muß auf alle Fälle ein rentables werden. Ich
hoffe, daß Sie, ſo oft Sie hier vorüberkommen, ſich
meiner erinnern und bei mir einkehren. Empfehlen Sie
ze A,
mich dem Vater Jaguar! Ich achte und bewundere ihn,
wie ich Ihnen gleich beweiſen werde. Nämlich, da Sie
zu ihm gehören, will ich Ihnen die Maultiere billiger
laſſen, als Sie dieſe bezahlt haben; das Stück ſoll nicht
fünfzig, ſondern dreißig Bolivianos koſten; ich zahle
Ihnen den Ueberſchuß heraus.“
Er tat dies ſofort, ein Verfahren, worüber ſich die
beiden Deutſchen nicht wenig wunderten.
Siebzehntes Kapitel
Unerwartete Begegnungen
Wer von Oſten aus die Anden (Cordilleren) er⸗
ſteigt, um weſtwärts nach Chile oder Peru zu kommen,
hat verſchiedene Gebirgsſtufen zu erklimmen, die ſich in⸗
folge der Verſchiedenheit ihrer Höhe auch im Klima
unterſcheiden.
Die erſte Stufe beſteht aus den Pungas, die bis
1600 Meter anſteigen. Hier herrſcht die ganze Ueppig⸗
keit der Tropenregion mit ihren weiten, undurchdring⸗
lichen Urwäldern, die zuweilen von ſaftigen Grasfluren,
die man Pajonales nennt, unterbrochen werden. Die
Medio Pungas erreichen als zweite Stufe eine Höhe von
durchſchnittlich 2900 Meter. Hier herrſcht noch das
Klima der gemäßigten Zone, und man kommt durch un⸗
geheure Wälder, die beſonders reich an Cinchona⸗Arten
ſind. Darauf folgen die Cabezeras de los valles*) bis
3300 Meter Höhe. Sie ſind gegen die Stürme des
oberen Gebirges geſchützt und infolgedeſſen auch noch
reich an den verſchiedenſten Vegetationsformen. Bis
hierher erſtreckt ſich der geſchloſſene Baumwuchs, alſo der
Wald, während auf der nächſten Stufe Bäume nur ver⸗
einzelt und zwar nur in beſonders geſchützter Lage anzu⸗
treffen ſind. Dieſe nächſte Stufe, welche Buna genannt
) Die oberen Talſtufen
— 513 —
wird, ſteigt bis zu 3900 Meter Höhe empor. Man trifft
auf ihr außer den vereinzelten Bäumen nur Kräuter
und Gräſer (Gentiana, Valeriana, Yereta uſw.) an,
die den Tieren als Weidefutter dienen. Es herrſcht hier
eine große Trockenheit, die nur in der Regenzeit unter⸗
brochen wird. Die nun folgende Stufe wird Puna brava
genannt und umfaßt bis zu den höchſten Bergesſpitzen
alles, was über 3900 Meter liegt. Dieſe Höhen ſind
reich an wertvollen Erzen; hier führen die Päſſe zwiſchen
den Bergesrieſen über das Gebirge. In dieſer Region
verwandelt ſich ſelbſt im hohen Sommer der Regen ſehr
oft in Schnee und Hagel; im Winter aber herrſchen wü⸗
tende Schneeſtürme, welche denjenigen Reiſenden, die ſo
kühn ſind, in dieſer Jahreszeit den Uebergang über die
Anden zu wagen, häufig verderblich werden.
Da, wo jenſeits der argentiniſchen Grenze auf boli⸗
vianiſchem Gebiet die Puna an die obere Cabezera grenzt,
zieht ſich ein ziemlich dichter Wald von Cinchona⸗Caliſaya⸗
Bäumen an den öſtlichen Berghängen hinab. Auf den
freien Stellen, die dieſer Wald umſchließt, befinden ſich die
Wohnſtätten der Mojosindianer. Etwas höher, jenſeits
der Punagrenze, liegt das Guanacotal, das eine Abtei⸗
lung dieſer Indianer jetzt zur Jagd aufgeſucht hatte.
Und weiter oben, beinahe in der Puna brava gelegen,
breitet auf einem kleinen Hochplateau die Salina del
Condor ihre ſalzigen Waſſer aus, höher noch liegt die
Mordſchlucht. Nahe an ihr führt ein Pfad vorüber,
der über einen Paß von Chile herüberkommt, hinab zur
Salina del Condor ſteigt und dann über die argentini⸗
ſche Grenze hinunter nach Salta leitet. In der Nähe
der genannten Grenze vereinigt ſich mit dieſem Pfad ein
zweiter, der weiter nördlich her von Peru herüberkommt.
Der Ausdruck Pfad iſt hier eigentlich falſch angewendet,
May, Das Vermächtnis des Inka. 33
— 514 —
denn von dem, was wir unter Pfad und Weg oder gar
Straße verſtehen, iſt hier keine Rede. Das Saumtier
ſchreitet über Felſen und Steingetrümmer, durch Täler
und Schluchten, ohne eine Spur, woraus ein wirklich
ausgetretener Weg entſtehen könnte, zu hinterlaſſen. Nur
der erfahrene Jäger oder Führer kennt die Gegend; der
unerfahrene Reiſende aber verliert ſehr leicht die Rich⸗
tung und kann dann tage⸗ und wochenlang zwiſchen den
Bergen umherirren, ohne den Weg, den Paß zu finden,
der ihn zum Ziel bringen ſollte. Selbſt der Kenner
kann, wenn er nicht ſcharf aufpaßt, die Stelle, wo die
beiden erwähnten Saumpfade zuſammenſtoßen, leicht
überſehen und infolgedeſſen den falſchen einſchlagen.
So erging es dem Peon aus Salta, der die beiden
Deutſchen nach der Salina del Condor bringen ſollte.
Er war wohl in Geſellſchaft hier oben geweſen, hatte ſich
aber nicht genug um die Einzelheiten der Gegend be⸗
kümmert, und wurde jetzt irre.
Es war Mittag, und ſchon ſeit dem frühen Morgen
hatte er ſich auf eine ganz eigentümliche Weiſe verhalten.
Er war von der heute eingeſchlagenen Richtung oft abge⸗
wichen und nach rechts oder links eingeſchwenkt, um
dann wieder nach links oder rechts umzubiegen. Er
beobachtete die Gegend mit verlegenem Blick und gab ſich
dabei Mühe, dieſe Verlegenheit nicht bemerken zu laſſen.
Dem Doktor fiel dieſes Verhalten nicht auf; Fritze
aber war ſcharfſinniger und hatte es gar wohl bemerkt.
Die drei Reiter befanden ſich jetzt an einer Stelle, wo
ſich zwei ſchmale Täler vor ihnen öffneten; das eine
führte nach links und das andre geradeaus. Der Peon
blieb halten, um ſich zu beſinnen. Er ſchaute bald nach
links und bald vor ſich hin und wußte ſicher nicht, wohin
er ſich wenden ſolle. Da verlor Fritze endlich die Geduld
— 515 —
und ſagte: „Warum halten Sie an, Senor? Es
ſcheint, Sie haben den Weg verloren?“
„Wie kommen Sie auf dieſen Gedanken?“ antwor⸗
tete der Führer in beleidigtem Ton. „Meinen Sie, ich
wüßte nicht, wo ich bin?“
„Sie wiſſen jedenfalls ganz genau, daß Sie ſich in
den Anden befinden; aber auf welchem Punkt derſelben,
das ſcheinen Sie leider nicht zu wiſſen.“
„Wollen Sie mich beleidigen, Senor? In dieſem
Fall laſſe ich Sie hier halten und reite zurück!“ bemerkte
er drohend.
„Zurückreiten? Das würden Sie wohl nicht fertig
bringen,“ antwortete Fritze gleichmütig.
„Warum nicht?“
„Weil das Maultier, auf dem Sie ſitzen, uns ge⸗
hört. Sie würden alſo nur zurücklaufen können.“
„Und wenn ich es nicht hergebe?“
„Reden Sie nicht ſolch dummes Zeug! Sie ſehen,
daß wir bewaffnet ſind. In dieſer Gegend pflegt man
auf Diebe zu ſchießen, ohne zu fragen, ob ihnen das an⸗
genehm iſt. Sobald Sie wenden, um zurückzureiten, be⸗
kommen Sie meine Kugel! Und nun vorwärts, wenn
Sie den Weg wirklich genau kennen, wie Sie behaupten!“
Der Peon hatte keineswegs das Ausſehen eines
furchtſamen Menſchen, ließ ſich aber doch durch das ener⸗
giſche Verhalten des kleinen Deutſchen einſchüchtern und
bog in das Tal ein, das nach links führte. Die andern
folgten ihm. =
Dieſes Tal hatte viele Schlangenwindungen; es
führte bald in der einen und bald nach der andern Rich⸗
tung; dabei ſchien es endlos zu ſein und verengte ſich
— 516 —
mehr und mehr, bis es zur tiefen, ſchmalen Schlucht
wurde, die man mit einem nordamerikaniſchen Canon
vergleichen konnte.
Der Peon ritt jetzt langſamer und immer lang⸗
ſamer voran. Er ſah ein, daß er noch niemals hier ge⸗
weſen ſei, denn eine ſo lange Schlangenſchlucht war ihm
noch nie vorgekommen. Endlich hielt er an und ſagte:
„Sie haben mich vorhin irre gemacht. Ich hätte nicht
nach links einbiegen, ſondern geradeaus reiten ſollen.
Das war der richtige Weg. Kehren wir alſo um,
Senores!“
„Habe es gedacht!“ brummte Fritze unmutig. „Nun
müſſen wir den weiten Weg zurück! Aber wiſſen Sie
denn auch genau, daß dieſer der falſche und jener dann
der richtige iſt?“ |
„Ja. Wenden Sie getroft um! Wir find zu weit
nach links gekommen und müſſen alſo mehr nach rechts
hinunter.“ N
„Wenn es richtig iſt, will ich es loben, denn — —“
Er hielt mitten im Satz inne und lauſchte.
„Was gibt's?“ fragte der Doktor. „Hörſt du
elwas?“
„Ja. Es war mir, als ob da vor uns ein Jeräuſch
jeweſen wäre. Horch!“
Er hatte ſich nicht geirrt, denn das Geräuſch wieder⸗
holte ſich und kam näher. Es klang wie Hufſchlag.
„Sollte ich mich dennoch auf dem richtigen Weg be⸗
funden haben?“ fragte der Peon, indem ſein beſorgtes
Geſicht ſich aufheiterte.
Die Schlucht machte vor ihnen abermals eine Bie⸗
gung. Um die Ecke, die dadurch gebildet wurde, kamen
drei Reiter. Dem vorderſten ſah man es an, daß er ein
Maultiertreiber, ein Arriero war. Hinter ihm kam ein
— 517 —
hochbeladenes Packtier, dem ein Reiter folgte, welcher
der Beſitzer des Gepäcks zu ſein ſchien. Er war in die
Tracht des Landes gekleidet, von hoher Geſtalt und ſehr
gut bewaffnet. Sein Haar und Bart waren blond, und
die Augen, die er überraſcht auf die drei Reiter vor ſich
richtete, hatten die helle Farbe der Nordländeraugen.
Hinter ihm ritt der dritte, der jedenfalls auch ein Ar⸗
riero war.
Sie hielten an, und beide Parteien muſterten ſich
einige Sekunden lang, ohne ein Wort zu ſagen. Dann
rief der dritte Reiter, indem er ſeine Worte an den Peon
richtete: „Iſt's möglich, oder irre ich mich? Iſt das
nicht Malzeſo, der Peon von Rodrigo Sereno in Salta?“
„Der bin ich allerdings,“ antwortete der Angeredete.
„Woher kennen Sie mich?“
„Von Salta her. Ich pflege bei Ihrem Herrn ein⸗
zukehren und habe Sie da geſehen. Sind Sie etwa der
Führer der Señores, die ſich bei Ihnen befinden?“
„Gewiß.“ |
„Cielo! Wie kommen Sie dazu, fremden Reiſenden
den Weg über das Gebirge zeigen zu wollen! Das zu
tun, iſt doch nur ein erfahrener Arriero imſtande!“
„Ich kenne das Gebirge beſſer, als Sie meinen,“
antwortete der Peon gekränkt. „Ueberdies wollen wir
keineswegs über dasſelbe hinüber.“
„So bleiben Sie auf dieſer Seite? Das iſt etwas
andres. Aber Sie haben doch die Grenze der Puna be⸗
reits überſchritten, und dieſer Weg führt nach der Puna
brava, nicht aber nach einem bewohnten Ort. Darf ich
fragen, wohin Sie wollen?“
„Dahin, woher Sie jedenfalls kommen, nämlich nach
der Salina del Condor hinauf.“
— 518 —
„Nach der Salina? Dios! Sie meinen, daß wir
von dort herunterkommen?“
„Jedenfalls.“
„Da irren Sie ſich gewaltig, Seüor. Wir kommen
von Peru herüber und wollen nach Salta. Es gibt hier
nur zwei Wege. Der eine iſt der, auf dem wir uns be⸗
finden, und der andre kommt von Chile herüber, geht an
der Salina del Condor vorbei und trifft mit dem erſteren
an einem Punkt zuſammen, der über eine halbe Tage⸗
reiſe hinter Ihnen liegt.“
„Das ſtimmt allerdings; das weiß ich auch!“
„Und doch ſcheinen Sie nicht zu wiſſen, daß Sie irre
geritten ſind! Sie haben die Stelle überſehen, wo die
beiden Wege zuſammentreffen. Anſtatt ſich nach links
zu wenden, ſind Sie immer weiter geritten.“
„Das iſt's, was ich dachte!“ rief Fritze jetzt dem
Peon zu. „Wir mußten nach links, und doch haben Sie
bis jetzt behauptet, daß wir uns mehr nach rechts halten
müßten. Infolgedeſſen haben wir einen Umweg ge⸗
macht, den wir gar nicht wieder einholen können. Ich
glaube, daß wir drei Viertel eines Tages verloren
haben.“
„Nein, fo viel nicht, Senor,“ wendete ſich der Ar⸗
riero höflich an ihn. „Der Weg, den Sie hätten ein⸗
ſchlagen ſollen, zieht ſich weſtlich von hier in die Berge
hinauf. Wenn Sie am Ende dieſer Schlucht gerade nach
Sonnenuntergang reiten, werden Sie ihn in drei Stun⸗
den erreichen.“
„m!“ brummte Fritze nachdenklich. „Es iſt ein
Glück für uns, daß wir Ihnen begegnet ſind. Wenn es
auf dieſen unſern Führer angekommen wäre, ſo hätten
wir leicht unſern Untergang finden können, denn er
wollte hier umkehren und ſich dann noch weiter nach
— 519 —
rechts wenden. Auch klingt es ſehr tröſtlich, wenn Sie
ſagen, daß wir binnen drei Stunden den richtigen Weg
erreichen können, aber ob wir den Weg zu dieſem Weg
finden, das iſt die Frage. Wie ich ſah, gibt es da hinauf
einen Wechſel zwiſchen Bergen und Höhen, Tälern und
Schluchten, die wohl nicht alle zu paſſieren ſind.“
„Das iſt wahr. Es kommt nur einer, der die Ge⸗
gend kennt, hinauf. Es wird Ihnen nichts andres übrig
bleiben, als umzukehren und mit uns bis dahin zurück⸗
zureiten, wo die beiden Wege ſich vereinigen. Dann werde
ich Ihnen genau beſchreiben, wie Sie reiten müſſen.“
„Das iſt ſehr gut, hilft uns aber nichts. Wir haben
viel Zeit verloren, und wenn wir umkehren, verlieren
wir noch viel mehr!“
„Iſt Ihre Zeit ſo kurz bemeſſen?“
„Freilich. Wir wollen in der Salina del Condor
mit Leuten zuſammtreffen, von denen Sie vielleicht auch
einige kennen, wenigſtens den Namen nach. Wir ge⸗
hören nämlich zu einer ee deren Anführer der Va⸗
ter Jaguar iſt.“
„Der Vater Jaguar? Den kenne ich! Er iſt der
berühmteſte Mann des Gebirges, und ich bin einigemal
mit ihm zuſammengetroffen. Tut mir doppelt leid, daß
ich Ihnen nicht helfen kann. Wir ſind von dieſem
Senor engagiert, ihn bis Salta zu begleiten, und fo wie⸗
derhole ich, was ich vorhin ſagte: Es iſt am beſten, Sie
kehren mit uns um.“
Der blonde Fremde hatte aufmerkſam zugehört und
dabei den Doktor und deſſen Diener mit prüfendem Blick
betrachtet. Jetzt zog er ſeine Uhr hervor, ſah nach der
Zeit und fragte dann den Arriero, der bisher geſprochen
hatte: „Sie kennen alſo die Gegend ſo genau, daß Sie
— 520 —
dieſe Señores von hier aus auf den richtigen Weg brin-
gen könnten?“
Ja. |
„Und das würde bis zur Dämmerung geſchehen
ſein?“
„Ja.“
„Der Weg da oben trifft nach Salta zu mit unſrem
gegenwärtigen zuſammen?“
„Ja.“
„Nun, fo können wir ja dieſen Señores helfen,
ohne daß Sie mich zu verlaſſen brauchen. Sie machen
ihren Führer und ich reite mit. Die Zeit, die ich da⸗
durch verſäume, beträgt nur drei Stunden, die wir
morgen wieder einbringen können; dieſe Herren aber
würden mehr als einen Tag verſäumen. Haben wir ſie
beim Einbruch des Abends auf den richtigen Weg ge⸗
bracht, ſo werden ſie uns vielleicht erlauben, die nächſte
Nacht mit ihnen zu lagern; morgen früh reitet dann
jedes ſeines Weges weiter. Wir wollen eilen!“
Er wendete ſein Pferd, ohne die Antwort abzu⸗
warten. Seine beiden Führer folgten ihm und ſo konn⸗
ten die beiden Deutſchen nichts beſſeres tun, als hinter⸗
herreiten. Die Enge der Schlucht hinderte ſie, ihre
Tiere nach vorn zu drängen, um dem voranreitenden
Fremden für ſeine große Freundlichkeit zu danken. Den
Zug beſchloß der Peon, der kein weiteres Wort zu ſagen
gewagt hatte und jetzt eine wahre Armeſündermiene
zeigte.
Noch war keine Viertelſtunde vergangen, ſo hatte
man das obere Ende der Schlucht erreicht. Sie mün⸗
dete auf eine kleine Ebene, von wo aus ein freier Blick
auf die weſtlich ſich erhebenden Berge gewonnen wurde.
Nun ſank die Ebene in ein ſchmales Tal hinab, das ſich
— 521 —
nach und nach verbreiterte und zwiſchen hohe, ſchroff
aufgebaute Berge hineinzog. Die Spitzen dieſer Berge
waren kahl; an den Hängen gab es hie und da eine
grüne Stelle, noch von der Regenzeit her; Waſſer aber
war nirgends zu ſehen, nur da und dort ſtanden ver⸗
einzelte Büſche, bei denen die Arrieros und der Peon
anhielten, um dürres Gezweig zu ſammeln.
Jetzt endlich bot ſich die Gelegenheit, ſich dem lie⸗
benswürdigen Fremden vorzuſtellen und ihm zu dan⸗
ken. Morgenſtern lenkte ſein Pferd neben ihn heran
und ſagte in ſpaniſcher Sprache: „Senor, Sie erweiſen
uns eine Gefälligkeit, um die zu bitten wir nie gewagt
hätten. Sie werden mir erlauben, mich Ihnen vorzu⸗
ſtellen. Ich heiße Morgenſtern, Doktor Morgenſtern,
und bin aus Deutſchland nach Argentinien gekommen,
um paläontologiſche Studien zu treiben. Und dies hier
iſt mein Diener Fritze Kieſewetter.“
„Sie ſind Deutſche?“ erwiderte der Blonde in herz⸗
lichem Ton und im reinſten Hochdeutſch. „Wie mich das
freut, Landsleuten gefällig ſein zu können!“
„So ſind Sie auch ein Deutſcher?“
„Ich bin ſtolz darauf, es zu ſein.“
„Drüben oder hüben geboren?“
„Drüben im Vaterlande. Ich heiße Engelhardt,
und mein Stand — — eigentlich beſitze ich keinen mehr;
ich wohnte bisher in Lima, alſo in Peru, habe aber
mein Geſchäft verkauft und will nun auch nach Deutſch⸗
land hinüber. Zunächſt allerdings reiſe ich über Salta
nach Buenos Aires, wo ich Verwandte habe.“
„Von Buenos Aires kommen wir,“ entgegnete der
Doktor. „Ich wohnte dort bei dem Bankier Salido,
den Sie vielleicht kennen.“
„Salido?! Wurde dort nicht mein Name genannt?“
1
— 522 —
Engelhardt ſprach dieſe Frage mit ſichtlicher Span⸗
nung aus. Der Doktor antwortete nachdenklich: „Als
Sie vorhin ſagten, daß Sie Engelhardt heißen, war es
mir ganz ſo, als ob ich dieſen Namen ſchon einmal ge⸗
hört haben müſſe; aber wo — — hm — — hm!“
„Herr Doktor, Herr Doktor,“ fiel da Fritze freudig
ein. „Freilich kennen wir den Namen! Bejreifen Sie
denn nicht, daß dieſer Herr Engelhardt der männliche
Teil von die Eltern unſres Antons iſt?“
Der Doktor öffnete den Mund, ſah erſt Fritze und
dann Engelhardt fragend an, ließ ſein Auge wieder und
wieder von dem einen auf den andern ſchweifen und
antwortete dann, indem er den Kopf ſchüttelte: „Du
irrſt dich, Fritze. Würde der Vater von Peru über die
Anden nach Argentinien gehen, wenn er weiß, daß ſein
Sohn, lateiniſch puer oder filius geheißen, zu derſelben
Zeit unterwegs hinüber nach Peru iſt?“
„Gewiß, Herr Doktor,“ ſagte Engelhardt, „ich bin
der Vater Antons, den Sie im Hauſe Salidos kennen
lernten. Aber mein Sohn iſt nicht unterwegs nach
Lima, denn ich habe Salido telegraphiert, daß ich ſelbſt
kommen würde, Anton abzuholen!“
„So iſt leider die Depeſche zu ſpät eingetroffen;
denn der Junge iſt wirklich unterwegs. Wir find meh⸗
rere Tage mit ihm zuſammen gereiſt. Aber ich begreife
nicht, weshalb Ihnen Salido nicht ſchnell zurücktele⸗
graphiert hat!“
„Das begreifen Sie nicht? Sie wiſſen doch jeden⸗
falls, daß zwiſchen Peru und Chile ein Krieg ausge⸗
brochen iſt?“
„Kein Wort!“
„Peru iſt durch Chile von aller Verbindung mit
Argentinien abgeſchnitten. Mein Telegramm war, wie
— 523 —
ich nun erfahre, eins der letzten, die befördert wurden;
die Antwort Salidos aber iſt nicht nach Lima gekom⸗
men. So bin ich bis heute der feſten Ueberzeugung ge⸗
weſen, daß Anton ſich noch bei ihm befindet. Eine böſe
Verwicklung!“
„Sie haben Ihr Geſchäft verkauft, ſagen Sie?“
„Ich bin, wie Sie wiſſen werden, Bankier. Die
Verhältniſſe lagen ſo, daß ich durch den Krieg mein
Vermögen verlieren konnte; da ſich nun glücklicherweiſe
eine Gelegenheit bot, ſehr günſtig zu verkaufen, habe
ich dieſe augenblicklich benutzt. Aber nicht nur das Ge⸗
ſchäft, ſondern überhaupt alles, was ich drüben beſaß,
habe ich veräußert, und ſo wurde es mir möglich, auf
das ſchnellſte ein Land zu verlaſſen, deſſen politiſche
Verhältniſſe einen ſicheren Beſitz und ein ruhiges Ge⸗
nießen nicht geſtatten. Ich telegraphierte an Salido,
daß ich kommen würde, und zwar auf dem Landweg
über die Anden, weil ich in Salta, Tucuman und Cor⸗
dova noch geſchäftliche Verwickelungen zu löſen habe.
Meine Frau hat mit dem andern Sohn den Seeweg
vorgezogen, wozu ich meine Einwilligung gab, weil ich
ein gutes, neues Schiff fand, deſſen Kapitän ein
Freund von mir iſt. In Buenos Aires werde ich mit
ihnen zuſammentreffent. Dort hoffte ich natürlich, auch
Anton zu treffen. Und nun iſt er fort! Welch ein Un⸗
glück! Er findet uns nicht in Lima; man wird ihn
zwingen, Soldat zu werden, denn er iſt für ſein Alter
ſehr gut entwickelt und — — —
„Machen Sie Ihnen keine a fiel ihm Fritze
in die Rede. „Ihr Anton kommt jar nicht über die
Irenze. Die Leute, bei denen er ſich befindet, find
ſchon ſo jeſcheit, ihm unter die jejenwärtigen Verhält⸗
niſſe nicht hinüber zu laſſen.“
— 524 —
„Woher wiſſen Sie das? Wie können Sie das be⸗
haupten?“
„Weil ick dieſe Leute kenne.“
„So ſagen Sie ſchnell, wer dieſe Leute ſind, und
wo ich ſie finde.“
„An der Salina del Condor! Ihr Herzensanton
iſt beim Vater Jaguar, der über zwanzig tapfre Män⸗
ner bei ſich hat. Sie ſehen alſo ein, daß Sie Ihnen
keine Sorje zu machen brauchen!“
Der Ausdruck der Beſorgnis wich aus Engelhardts
Geſicht; er ſchlug erfreut die Hände zuſammen und rief
aus: „So iſt es, ſo? Bei dem Vater Jaguar befindet
er ſich? Alſo droben an der Salina del Condor, die
gar nicht weit von hier liegt?“
„Ja, da oben. Der Vater Jaguar ſollte ihm über
dat Jebirge bringen, wird ihm aber nun in Ihre
Hände lejen.“
„Welch ein Zufall, oder vielmehr welch eine
Schickung!“ |
„Es iſt kein Zufall,“ nahm da der Doktor das
Wort; „das haben Sie Ihrem gütigen Herzen zu ver⸗
danken. Wären Sie an uns vorübergeritten, ohne uns
aus unſrer Verlegenheit zu helfen, ſo würden Sie die
Trennung von Ihrem Sohne länger zu beklagen haben.
Wir werden Ihnen alles erzählen.“
Der gute Doktor wollte eine lange Geſchichte be⸗
ginnen, die ſicherlich bei der Sintflut ihren Anfang ge⸗
nommen hätte; aber der bedächtigere Fritze legte Wider⸗
ſpruch ein, indem er ſagte: „Nicht jetzt, nicht jetzt,
meine Herren. Sehen Sie doch, wie weit wir zurück⸗
jeblieben ſind! Da oben halten die andern und warten
auf uns. Reiten wir alſo weiter! Wir können unter⸗
— 525 —
wegs auch ſprechen, und wenn wir lagern, haben wir
jenug Zeit, alles zu erzählen, wat jeſchehen iſt.“
Die beiden mußten ihm recht geben, und ſo folgten
ſie ihm, als er ſein Maultier in raſche Bewegung ſetzte.
Das Tal wand ſich zwiſchen zwei Bergen empor und
ſchien ſich dann wieder abwärts zu ſenken. Droben
hielten die beiden Arrieros mit dem Peon, um die
Zurückgebiebenen zu erwarten. Als dieſe nachgekom⸗
men waren, ging es mit verdoppelter Schnelligkeit vor⸗
wärts, bald durch tiefe Senkungen und bald über
Höhen, die ſo ſteil waren, daß ſie von Pferden gar nicht
überwunden hätten werden können. Die Sonne ſank
hinter den Bergen, und der Arriero, der den Führer
machte, trieb zu noch größerer Eile an. Droben in den
Lüften ſchwebte ein Condor. Der Arriero deutete zu
ihm empor und ſagte: „Der ſucht ſein Neſt auf; tun
auch wir dasſelbe, denn ehe eine halbe Stunde vergan⸗
gen iſt, wird es dunkel ſein.“
„Iſt denn der geſuchte Pfad noch nicht bald er⸗
reicht,“ fragte Engelhardt.
„In wenigen Minuten werden wir dort ſein.“
„Und der Ort, wo wir übernachten können?“
„Iſt dann auch nicht weit. Nur liegt er leider
nicht nach Süden, wohin wir morgen reiten werden,
ſondern nach Norden, was wieder einen Zeitverluſt
ergibt.“
„Alſo nach der Salina del Condor zu?“
„Ja.“
„So werden wir keinen Zeitverluſt haben, denn ich
werde morgen früh nicht direkt nach Salta, ſondern
vorher nach der Salina reiten. Denken Sie, Seßor,
ſoeben erfahre ich, daß au mein Sohn beim Vater Ja⸗
guar befindet!“
— 526 —
Nur einige Minuten ſpäter gelangte man auf
einen ebenen, ſandigen Plan, welcher halb durchquert
wurde. Dann hielt der Führer an, deutete auf den Bo⸗
den und ſagte: „Senñores, ſehen Sie die Spuren hier
im Sande? Sie ſind alt und auch ſchon halb verweht,
kaum mehr zu erkennen. Das iſt der Weg nach der Sa⸗
lina. Wir werden ihm noch eine Strecke folgen, aber
ſchnell. Der Weg iſt gut; treiben wir unſre Tiere an!“
Er ſetzte ſein Maultier in Galopp, und die andern
taten mit den ihrigen dasſelbe. Sie flogen raſch über
den Plan und darauf am Fuß eines Berges hin, deſſen
Seite aus tief zerklüfteten Felſen beſtand. Dann zü⸗
gelte der Arriero ſein Tier, deutete auf eine breite, aber
nicht ſehr hohe Oeffnung im Geſtein und ſagte: „Hier
iſt der Ort, wo wir übernachten werden, Seüoreg, eine
Art Höhle, die zwei Eingänge hat. Der Wind trifft
hier nicht an, und wenn wir ein Feuer anzünden und
uns in unſre Decken hüllen, werden wir gerade ſo gut
und angenehm ſchlafen, als ob wir uns im Innern
eines Rancho befänden.“
Man ſtieg ab, um die Höhle zu beſichtigen. Sie
hatte keinen Hintergrund, ſondern beſtand aus zwei un⸗
gefähr zwanzig Schritt voneinander in der Felſenwand
befindlichen Eingängen oder Oeffnungen, die durch
einen nach innen gebogenen leeren Raum verbunden
waren. Sie beſaß alſo ungefähr die Geſtalt eines
Halbrings, deſſen Enden ſich nach außen öffneten.
Vor der Höhle wuchs niedriges aber dichtes Punagras,
das den Maultieren eine vortreffliche Weide bot. Man
ſchirrte ſie ab und feſſelte ihnen die Beine in der Weiſe,
daß ſie zwar frei graſen, aber ſich nicht weit entfernen
konnten.
Die kurze Zeit des noch übrigen Tageslichts wurde
— 527 —
benutzt, die Höhle zum Lager einzurichten, indem man
die Recadoſättel aufſchlug, damit ſie als Bettſtellen die⸗
nen ſollten. Als die Decken darüber gebreitet worden
waren, bildeten ſie Lagerſtätten, die man ſich in dieſer
Wildnis gar nicht beſſer wünſchen konnte. Inzwiſchen
war es dunkel geworden, und das Feuer wurde ange⸗
brannt. Man hatte unterwegs ſoviel Brennmaterial
geſammelt, daß es einige Stunden geſchürt werden konnte.
Nun wurde zunächſt gegeſſen, und als dies vor⸗
über war, brannten ſich die Männer Zigaretten an,
von denen Engelhardt einen kleinen Vorrat beſaß. An
der einen Seite des Feuers, das in der Höhle brannte,
ſaßen die beiden Arrieros und der Peon, welche ſpaniſch
miteinander ſprachen, auf der andern die drei Deutſchen,
die ſich ihrer Mutterſprache bedienten. Fritze und der
Doktor erzählten dem Bankier abwechſelnd, was ſich ſeit
jenem Tage in Buenos Aires ereignet hatte, und es iſt
ſelbſtverſtändlich, daß Engelhardt ein Zuhörer war, der
dem Bericht das allergrößte Intereſſe ſchenkte. Einen
Wächter draußen auszuſtellen, daran dachte keiner.
Wäre der Vater Jaguar mit hier geweſen, er hätte
ſicher nicht verſäumt, dieſe in ſolcher Gegend unbedingt
erforderliche Vorſichtsmaßregel zu treffen. —
Der Gambuſino hatte ſich mit Antonio Perillo,
wie bereits erwähnt, nach dem Guanacotal gewendet,
um einige der dort jagenden Mojosindianer für ſeinen
Ritt nach der Mordſchlucht zu engagieren. Er hatte
zwar Mundvorrat in Salta mitgenommen, aber keines⸗
wegs ſo viel, wie unter Umſtänden gebraucht werden
konnte. Es war ſeine feſte Abſicht, ſo lange in der
Mordſchlucht zu bleiben, bis das Verſteck gefunden ſei.
Dies konnte aber mehrere Tage, ja wochenlang dauern,
und dann mußte der mitgebrachte Proviant ausgehen.
— 528 —
Es waren alſo Leute nötig, welche jagen mußten, um
Fleiſch herbeizuſchaffen, und dazu ſollten die Mojos
dienen. Außerdem mußte der Gambuſino, um nicht von
zufällig Vorüberkommenden überraſcht zu werden, zwei
Wächter aufſtellen, einen ober⸗ und einen unterhalb der
Mordſchlucht, eine Aufgabe, deren ſich die Mojos auch
zu unterziehen hatten. ö
Selbſtverſtändlich mußte es dieſen Indianern ver⸗
boten ſein, ſelbſt in die Schlucht zu kommen. Aber mit
welchen Gründen konnte man ihnen die geheimnisvolle
und vielleicht lange währende Anweſenheit zweier Men⸗
ſchen in der Mordſchlucht erklären? Der Gambuſino
ſann darüber nach und ſagte dann zu Perillo: „Dieſe
Halunken ſind zu ſcharfſinnig, als daß wir ihnen mit
gewöhnlichen Finten kommen dürfen. Wir müſſen nach
einem Grund ſuchen, der mit der Religion zuſammen⸗
hängt; das iſt die einzige Möglichkeit, ſie zu täuſchen.
Was meinſt du zu einem Gelübde?“
„Wahrhaftig! Da triffſt du gleich das allerbeſte.
Wir haben in großer Todesnot das Gelübde getan,
etwas Gott Wohlgefälliges, worauf wir ſchon noch kom⸗
men werden, in der Mordſchlucht vorzunehmen, wobei
wir ungeſtört und einſam bleiben müſſen. Die Roten
ſind alle außerordentlich abergläubiſch; ſie werden ſo
voller Scheu und Ehrfurcht ſein, daß ſie ſicherlich nicht
auf den Gedanken kommen, uns zu belauſchen.“
„Ja. Und wenn wir dann finden, was wir
ſuchen, bringen wir ſie einfach um die Ecke. Das wird
uns nicht viel Arbeit machen, da es vollſtändig genügt,
wenn wir ihrer nur ſechs oder acht engagieren.“
Die beiden gewiſſenloſen Menſchen waren von den
Mojos freundlich aufgenommen worden und hatten dem
Häuptling ihren Wunſch mitgeteilt. Er war nicht nur
— 529 —
darauf eingegangen, ſondern ſogar bereit geweſen, ſich
ſelbſt an dem Ritt nach der Mordſchlucht zu beteiligen.
Das war ihnen freilich höchſt unangenehm; da aber eine
Zurückweiſung für ihn eine große Beleidigung geweſen
wäre und er dann gewiß auch ſeinen Leuten die Teil⸗
nahme verſagt hätte, ſo waren ſie wohl oder se ges
zwungen, darauf einzugehen.
Sie brachen alſo mit ihm und noch ſeben Mojos
vom Guanacotal nach der Mordſchlucht auf, die ſo fern
lag, daß ſie in einem Tage nicht erreicht werden konnte.
Gegen Abend des erſten Tages waren ſie bis an den
Saumpfad gekommen, der hinauf nach der Salina del
Condor führte. Sie folgten ihm, bis es dunkel war, und
dann wollte der Gambuſino an der erſten beſten Stelle
Lager machen; da aber meinte das „ſpitze Meſſer“, der
Häuptling: „Der ſcharfe Nordwind wird ſich bald er⸗
heben, und dann iſt es gut, wenn wir uns an einem
Ort befinden, wo er uns nicht treffen kann.“
„Weißt du denn einen ſolchen?“
„Ja. Es iſt eine Höhle, die gar nicht weit von
hier liegt, eine Höhle mit zwei Eingängen.“
„So führe uns hin!“
Sie ritten weiter, das „ſpitze Meſſer“ voran und
die andern hinter ihm drein. Nach einiger Zeit blieb
der Häuptling plötzlich halten und beugte ſich weit vor,
um auszuſpähen. |
„Was Haft du? Siehſt du etwas Verdächtiges?“
fragte ihn Perillo mit leiſer Stimme.
„Ja,“ antwortete er. „Ich ſehe den Schein eines
Feuers, das in der Höhle brennt.“
„So befinden ſich Menſchen drin! Wer mag es
fein?” Ä
May, Das Vermächtnis des Inka 34
— 580 —
„Ich werde es ſehen. Haltet mein Tier; bleibt
hier und ſeid ſtill!“
Er glitt aus dem Sattel und huſchte weiter. Auch
die Zurückgebliebenen ſtiegen von ihren Pferden. Es
dauerte über eine Viertelſtunde, bevor er zurückkehrte:
da meldete er: „Vor und ſeitwärts der Höhle weiden
Maultiere, und drinnen ſitzen ſechs Männer am Feuer.“
„Indianer?“ fragte der Gambuſino.
„Es ſind Weiße.“
„Wie bewaffnet?“
„Sehr gut.“
„Was treiben ſie?“
„Sie ſprechen miteinander. Drei reden Spaniſch,
und die andern drei haben eine Sprache, von der ich
kein Wort verſtehe.“
„Das iſt auffällig, höchſt auffällig. Ich werde
ſelbſt nachſehen.“
Er winkte Perillo und ſchlich mit ihm vorwärts.
Der Lichtſchein war ihr Wegweiſer, ſo daß ſie die Höhle,
obgleich ſie dieſe nicht kannten, unmöglich verfehlen
konnten. Als ſie in deren Nähe angekommen waren,
legten ſie ſich nieder und krochen weiter, bis ſie den einen
Eingang faſt erreicht hatten.
„Wenn einer zufällig herauskommt, wird er uns
ſehen!“ raunte Perillo dem Gambuſino zu.
„Nein, außer er fällt über uns weg. Hier iſt es
dunkel, drin aber hell; das blendet beim Heraustreten.
Komm noch weiter heran!“
Sie ſchoben ſich noch ein wenig vor und lagen dann
ſo, daß ſie in die Höhle ſehen konnten. Sie erblickten
die beiden Arrieros und den Peon; die andern drei
konnten ſie nicht ſehen, aber ſie hörten ſie ſprechen.
Nach einigen Augenblicken zog der Gambuſino ſeinen
Vi
— 531 —
Gefährten zurück, bis ſie ſich ſo weit entfernt hatten,
daß ſie ſich wieder aufrichten konnten.
„Haſt du ihn erkannt?“ fragte Perillo.
„Wen?“
„Den Knecht des Wirtes in Salta.“
„Ja.“?
„Aber die beiden andern kenne ich nicht.“
„Es ſind Arrieros, wie du ſchon an ihrer Kleidung
ſiehſt. Ich habe ſie ſchon geſehen, kenne aber ihre Na⸗
men nicht. Haſt du eine Ahnung, was das für eine
Sprache iſt, welche die drei andern ſprechen? Fran⸗
zöſiſch iſt es nicht, Portugieſiſch und Engliſch auch nicht.“
„Es klingt wie Deutſch. Ich habe in Buenos
Aires oft Deutſche miteinander ſprechen gehört.“
„Demonio! Deutſch! Sollte etwa —“
„Wer? Was?“
„Still jetzt! Wir müſſen ſie unbedingt ſehen. Die
Höhle hat noch einen Zugang. Wenn wir dorthin
gehen, erblicken wir ſie wahrſcheinlich, weil ſie an der
andern Seite des Feuers ſitzen. Komm!“
Sie ſchlugen einen Bogen, um nicht in den Bereich
des Feuerſcheins zu gelangen, und näherten ſich dann
von der andern Seite der zweiten Oeffnung, ebenſo krie⸗
chend wie vorher.
Die Vermutung des Gambuſino erfüllte ſich; die
drei Deutſchen waren zu ſehen. Engelhardt ſaß ſo, daß
er den Lauſchern das Geſicht voll zukehrte, natürlich
aber ohne ſie zu bemerken; der Doktor und Fritze waren
im Profil zu ſehen.
Der Gambuſino griff nach dem Arm Perillos und
drückte ihn in ſeiner Aufregung ſo, daß der Stier⸗
kämpfer hätte laut aufſchreien mögen. Sein Atem
ging hörbar, faſt röchelnd; doch beherrſchte er ſich und
— 532 —
gab Perillo einen Wink, ſich mit zu entfernen. Als ſie
in Sicherheit gelangt waren, ſchimpfte er, indem er mit
den Zähnen knirſchte: „Verwünſcht ſeien dieſe beiden
Kerle! Wie kommen die hierher in die Höhle?“
„Der Teufel iſt ihr Führer geweſen!“
„Das muß ſo ſein! Er führt ſie uns immer in den
Weg. Wir haben uns zwar geirrt, als wir den einen
für Glotino hielten, aber ſie ſind uns doch gefährlich,
denn ſie begegnen uns immer grad dann, wenn wir
etwas Wichtiges vorhaben.“
„O, das iſt noch lange nicht das Gefährlichſte! Am
bedenklichſten iſt jedenfalls der Umſtand, daß ſtets da,
wo ſie ſind, ſich auch der Vater Jaguar befindet.“
„Das iſt wahr. Ich will doch nicht hoffen, daß der
Teufel auch ihn herbeigeführt hat!“
„Was das betrifft, ſo iſt dem Teufel und dieſem
Vater Jaguar alles zuzutrauen!“
„Mich beruhigt allerdings der Umſtand, daß nur
ſechs Reitſättel in der Höhle liegen. Daraus iſt zu
ſchließen, daß ſich nur die ſechs Perſonen hier befinden.
Den Vater Jaguar haben wir alſo wenigſtens jetzt noch
nicht zu befürchten.“
„Was tun wir? Reiten wir etwa weiter? Ich
möchte dieſen beiden kleinen Deutſchen endlich einmal
einen Denkzettel anhängen.“
Der Gambuſino blickte eine Weile ſinnend vor ſich
nieder und antwortete dann: „Ich habe einen Ge⸗
danken — —“
„Nun?“
„Sie ſind uns eigentlich ungefährlich, und wenn ich
auch nicht ſo dumm bin, mir eines Menſchenlebens we⸗
gen ſchwere Gedanken zu machen, ſo halte ich es doch
für überflüſſig, ſie zu töten. Wenn wir ſie feſtnehmen,
— 533 —
ſo beſitzen wir in ihnen zwei Geiſeln gegen den Vater
Jaguar, falls er ſich wirklich hier befinden ſollte.“
„So meinſt du, daß wir ſie mit uns herumſchleppen
ſollen?“
„Hm! Unbequem würde es fein; aber ich habe
einen Grund, es dennoch zu tun: ſie ſind reich.“
„Meinſt du?“
„Ja. Wer ſolche Reiſen macht, muß reich ſein.
Aber es gibt noch einen zweiten Grund. Kennſt du den
Dritten, den blonden Deutſchen, der bei ihnen ſitzt?“
„Nein.“
„Und biſt doch in Peru drüben, in Lima geweſen!“
„Iſt er von dort?“
„Ja. Ich habe ihn wiederholt geſehen; er aber
kennt mich jedenfalls nicht. Haſt du einmal den Namen
Engelhardt gehört?“
„Meinſt du etwa den ſteinreichen Bankier in Lima,
den Millionär?“
„Ja.“
„Iſt der es etwa?“
„Ja, er iſt's. Es gibt gar keinen Zweifel, denn ich
kenne ihn genau. Denke, welch ein Löſegeld!“
„Hei, das iſt ein herrlicher Gedanke! Falls aus
unſrem Schatze nichts wird, könnten wir uns durch
dieſen Engelhardt entſchädigen. Er müßte zahlen, ſein
halbes Vermögen hergeben, um wieder frei zu ſein.“
„Wieder frei? Damit er uns dann verraten kann?
Dummheit! Erſt zahlt er, und dann — — verſchwindet
er. Biſt du dabei? Selbſt wenn wir deinen Schatz
finden, können wir das Löſegeld dieſes Burſchen noch
mitnehmen.“
„Du haſt recht, vollkommen recht. Alſo wir neh⸗
men ihn und die beiden Kleinen?“
— 584 —
„Ja.“
„Und was wird mit den andern?“
„Weggeputzt. Drei Kugeln oder Meſſerſtiche.“
„Diablillo! Du machſt kurzen Prozeß; aber es iſt
ganz richtig ſo. Es fragt ſich nur, ob die Indianer mit⸗
machen werden.“
„Wir verſprechen ihnen Anteil an der Beute, ge⸗
ben ihnen aber ſtatt deſſen ſpäter die Kugel. Warte
hier, bis ich wiederkomme!“
Er entfernte ſich vorſichtig, während Perillo ſich
niederlegte und an die Erde ſchmiegte. Als der Gam⸗
buſino zurückkehrte, kam er nicht allein, ſondern brachte
den Häuptling und ſechs Indianer mit; der ſiebente
war bei den Tieren geblieben, um dieſe zu bewachen.
„Sie ſind einverſtanden,“ flüſterte er Perillo zu.
„Der Bankier für uns und die Kleinen für ſie. Aber
töten wollen ſie niemand. Wir müſſen alſo die Ar⸗
rieros und den Peon auf uns nehmen; darum habe ich
dir dein Gewehr mitgebracht.“
„Gib her! Von weſſen Kugeln die Kerls fallen, ob
von den unſrigen oder von denen der Roten, das bleibt
ſich gleich. Wann ſoll es losgehen?“
„Sofort. Wir beide ſchleichen uns hinüber auf die
Seite, wo die Arrieros ſitzen, und die Indianer huſchen
an die diesſeitige Oeffnung der Höhle. Sobald unſre
Schüſſe fallen, dringen ſie in dieſe ein und werfen ſich
auf die Deutſchen, die ſofort entwaffnet und gebunden
werden. Es iſt alles verabredet. Komm!“
Sie begaben ſich nach der andern Seite und näher⸗
ten ſich dem Eingang ſo weit, daß ſie ihre Opfer ſitzen
ſehen konnten.
„Ich nehme die beiden Arrieros und du den Peon,“
flüſterte der Gambuſino ſeinem Mordgenoſſen zu.
— 535 —
„Wir ſchießen ſie durch die Köpfe; das iſt das aller⸗
ſicherſte. Wenn ich ‚drei‘ ſage, drückſt du ab. Biſt du
bereit?“ N
„Ja,“ antwortete Perillo, indem er ſein Gewehr
anlegte.
„So ziel gut! Alſo — eins — zwei — dreil“
Er rief das letzte Wort mit lauter Stimme und
drückte dann ſchnell hintereinander ſeine beiden Läufe
ab; Perillo ſchoß gleichzeitig. Die drei armen, nichts
ahnenden Menſchen ſtürzten, durch die Köpfe getroffen,
nieder. Zu gleicher Zeit erhoben die Indianer ein
markdurchdringendes Geheul und drangen in die Höhle
ein. Das geſchah alles in der Zeit von einigen Augen⸗
blicken, ſo daß die Deutſchen niedergeriſſen und gebun⸗
den waren, ehe ſie nur den Gedanken an eine Gegen⸗
wehr zu faſſen vermochten. Dann machten ſich die Ro⸗
ten über die Erſchoſſenen her und ſchleppten ſie ins
Freie, wo ſie ihnen alles nahmen, was bei ihnen zu
finden war.
Der Gambuſino ſchürte das Feuer heller und ſtellte
ſich dann mit Perillo ſo vor die Gefangenen, daß dieſe,
die ſich von ihrem Schrecken noch nicht erholt hatten,
ihre Feinde deutlich ſehen konnten.
„Willkommen hier oben in den Bergen, Seßores!“
redete er ſie höhniſch an. „Ich bin ganz entzückt, Sie
hier zu ſehen. Es ſcheint mir beſchieden zu ſein, mich
immer wieder an Ihrem Anblick erquicken zu dürfen.
Wie geht es Ihnen?“ |
„Sehr gut, Senor,“ antwortete Fritze, der ſich zu⸗
erſt gefaßt hatte, und nun in dieſer Weiſe antwortete,
um dem Gambuſino die Freude zu verderben, ihn klein⸗
laut und erſchreckt zu ſehen. „Wenn es Ihnen ſo ums
Herz wäre, wie mir, könnte man Sie beneiden.“
— 536 —
„Ihr Herz geht mich weniger an als Ihr Geld⸗
beutel. Wie ſteht es mit dieſem? Sind Sie reich?“
„Sehr.“
„So können Sie ein Löſegeld zahlen?“
„Ja.“
„Aber Sie haben kein Geld mit?“
„Leider iſt es ſo. Es liegt bei meinem Bankier.“
„Das tut nichts. Sie werden mir eine Anweiſung
geben. Wie ſteht es mit Ihrem Gefährten?“
Damit war Doktor Morgenſtern gemeint; Fritze
antwortete für ihn: „Der arme Teufel hat weiter
nichts, als was in ſeiner Taſche ſteckt, eine Handvoll
Bolivianos; das iſt alles.“
„So muß er ſterben. Ich könnte ihn nur gegen
ein Löſegeld freigeben.“
„Fällt ihm nicht ein, zu ſterben, da er weiß, daß
ich für ihn bezahle. Wie hoch ſoll die Summe ſein?“
„Zehntauſend Bolivianos für beide; das iſt die ge⸗
ringſte Summe, die ich fordern darf.“
„Schön! Sollen Sie haben! Geben Sie mir
Tinte, Feder und gutes, weißes Papier, ſo ſoll die An⸗
weiſung ſofort geſchrieben werden!“
„Nur langſam! Es hat keine ſo große Eile. Ich
muß doch auch mit dieſem Senor ſprechen.“
Er pflanzte ſich breitſpurig vor Engelhardt auf
und fragte ihn: „Kennen Sie mich N Senor
Engelhardt?“
„Nein,“ antwortete der Gefragte, der ſein Herz er⸗
leichtert fühlte, da es ſich nicht um ſein Leben, ſondern
nur um ein Löſegeld zu handeln ſchien.
„Nicht? Nun, das ſchadet nichts, denn Sie wer⸗
den mich kennen lernen, und wenn Sie ſich bereitwillig
zeigen, wie dieſer kleine Seüor, der keinen einzigen von
— 587 —
den zehntauſend Bolivianos abgehandelt hat, jo wird
unſre Bekanntſchaft eine für beide Teile ſehr angenehme
ſein.“
„Wieviel verlangen Sie für meine Freiheit?“
„Das wird ſich finden, nachdem ich erfahren habe,
wie hoch ſich Ihr Beſitz beläuft. Ich pflege nämlich
nach Prozenten zu rechnen und — —“
Er wurde unterbrochen, und zwar von dem Häupt⸗
ling, der haſtig hereintrat und ihm einen Wink gab, auf
die Seite zu kommen. Als er dieſem Wink gefolgt war,
flüſterte ihm das „ſpitze Meſſer“ zu: „Wir ſind nicht
ſicher; wir werden belauſcht. Einer meiner Leute hatte
eine Geſtalt geſehen, die an der Erde herbeigekrochen
kam.“
„Vielleicht irgend ein Tier!“
„Nein, Senor; es war ein Menſch, denn als er
ſah, daß er bemerkt worden war, ſprang er auf und lief
davon.“
„Habt ihr ihn nicht verfolgt?“
„Wer kann das in der Finſternis, die draußen
herrſcht? Der Mann iſt in einem einzigen Augenblick
verſchwunden geweſen.“
„Qué disgusto! So müſſen wir augenblicklich
fort. Wer weiß, wer ſich hier herumtreibt.“
„Gewiß der Vater Jaguar,“ antwortete Antonio
Perillo, der ſo nahe ſtand, daß er die Meldung des
Häuptlings gehört hatte.
„Nein, dieſer ſicher nicht, denn wenn er es wäre,
ſo würde er nicht zögern, über uns herzufallen, um die
Gefangenen zu befreien. Aber mag es ſein, wer es
will; er ſoll uns nichts anhaben; wir führen ihn irre.“
Er trat das Feuer aus, damit es nicht zum Ver⸗
räter werden möge, und erteilte noch einige leiſe Be⸗
— 538 —
fehle. Einige Indianer holten die Maultiere der Ge⸗
fangenen und Erſchoſſenen zuſammen, und andre nah⸗
men die gefeſſelten Deutſchen auf und trugen ſie nach
der Stelle, wo der Indianer die Tiere bewachte. Dort
gab es ein kurzes Durcheinander, und dann hörte man,
daß ſich der Trupp entfernte, aber nicht in der Richtung
der Salina del Condor, ſondern in die entgegengeſetzte.
Der vorher ſo belebte Platz lag wieder ſtill und laut⸗
los da.
Wirklich lautlos? Doch nicht ganz, denn gar nicht
weit von der Höhle, wo ſie hart an die Felswand ge⸗
ſchmiegt gelegen hatten, erhoben ſich zwei dunkle Ge⸗
ſtalten, und eine Stimme flüſterte: „Sie haben dich
geſehen; darum ſind ſie fort. Wie leicht konnten ſie
dich ergreifen, o Herrſcher!“
„Mich niemals, lieber Anciano,“ antwortete Hau⸗
karopora, der Sohn des Inka. „Sie haben eine falſche
Richtung eingeſchlagen, um uns irre zu leiten; aber wir
laſſen uns nicht täuſchen. Unſre Füße ſind ſchneller
als die Hufe ihrer Pferde. Sie reiten ſicher nach der
Salina. Laß uns ihnen dorthin voraneilen, um dem
Vater Jaguar ihr Nahen zu verkünden!“
Die beiden Nachkommen der alten Peruaner ver⸗
ſchwanden im Dunkel der Nacht. Sie waren vom Va⸗
ter Jaguar als Kundſchafter ausgeſandt worden, um
ihm die Annäherung des Gambuſino zu melden. Dieſer
letztere hatte zwar anfänglich einen Vorſprung von
einem Tag gehabt; da er aber erſt zu den Mojos⸗
indianern geritten war, während der Vater Jaguar mit
ſeinen Leuten das Ziel direkt hatte aufſuchen können,
ſo war dieſer weit eher als der Gambuſino an der Bar⸗
ranca angekommen, in deren Nähe er jetzt mit ſeiner
Schar lagerte.
Achtzehntes Kapitel
Das Vermächtnis des Inka
Der Name Barranca del Homicidio, alſo Mord⸗
ſchlucht, war ein unheimlicher, und die Umgebung dieſes
Ortes, die ganze Gegend, ſtand im Einklang mit dem
Eindruck, den dieſe Bezeichnung machte. Die Vormit⸗
tagsſonne verſchwendete ihre Wärme an ein Bild troſt⸗
loſer Einſamkeit. Leblos und kahl erhoben ſich im
Weſten die Rieſen des Gebirges; öde ſtanden rings die
Felſenhöhen in der Nähe und weder an ihren Hängen
noch in den Tälern war eine Spur von Vegetation zu
bemerken.
Was die Schlucht ſelbſt betraf, ſo fiel ſie ſo ſteil in
die Tiefe hinab, daß nur Fußgänger, aber nicht Reiter,
und ſelbſt erſtere nicht leicht, hinabkommen konnten.
Auch hier gab es, weder an den Seiten noch auf dem
Grunde der Schlucht, irgend eine Art von Pflanzen⸗
wuchs, und nur an deren Rand, da wo die Reiter ab⸗
geſtiegen waren, ſah man einige halb aus der Erde ge⸗
riſſene Wurzeln, deren Stengel von früher Dageweſenen
als Feuerungsmaterial benutzt worden waren. Hier
oben gab es nur glatten Fels, auf dem ſelbſt die Hufe
der Maultiere kaum eine Spur zurücklaſſen konnten;
die Tiefe aber war angefüllt von Geſteinstrümmern, die
ſich im Lauf der Zeit von den Wänden abgelöſt hatten
— 540 —
und hinuntergeſtürzt waren. Nicht weit von den La⸗
gernden, vielleicht fünfzig Schritt von der Schlucht ent⸗
fernt, lag ein großer Felsblock, welcher auf der der
Schlucht abgewendeten Seite überhing und ſo einen
Raum zum Unterſchlüpfen bildete, worin eine Perſon
bequem Schutz gegen Wind und Wetter finden konnte.
Der Vater Jaguar ſagte zu Anciano, indem er auf
dieſen Fels deutete: „Unter dieſem Stein hat wohl
Antonio Perillo gelegen, als er den Inka belauſchte, ehe
er ihn dann am folgenden Morgen weiter unten ermor⸗
dete. Es gibt hier oben keine andre Stelle, wo man ſich
verbergen kann. Und dort unten in der Tiefe ruht
ſchweigſam das Geheimnis des Schatzes.“
Die beiden ſprachen jetzt in Gegenwart aller an⸗
dern von dem Schatz, und bedienten ſich dabei des Wor⸗
tes Inka, denn der alte Anciano und Haukaropora
hatten während der letzten Tage ihre ſcheue Zurückhal⸗
tung mehr und mehr aufgegeben. Anciano erwiderte
bejahend: „Da drüben, unterhalb des jenſeitigen Ab⸗
grunds, iſt die Stelle, die der Gambuſino und Perillo
ſuchen wollen.“
„Du kennſt ſie natürlich?“ fragte Hammer.
„Ja.“
„Auch Hauka?“
„Nein. Für ihn iſt es bisher ein Geheimnis ge⸗
weſen, da er erſt ſeit kurzer Zeit das Alter erreicht hat,
wo er nach dem Willen ſeines Vaters das Geheimnis
vollſtändig erfahren ſoll.“
„Er erfährt es von dir?“
„J a.“
„So biſt du ganz darin eingeweiht?“
„Nur ſoweit es notwendig iſt, um Hauka den Weg
zu zeigen.“
— 541 —
„Liegt der Schatz vergraben in der Erde? Ich
meine, ob man ein Loch gegraben und dann wieder zu⸗
geſchüttet hat?“
„Nein; er befindet ſich in einer Höhle, in einem
alten Stollen, den unſre Vorfahren gegraben haben, um
nach Gold oder Silber zu ſuchen. Sie haben aber nichts
gefunden, und als ſie dann gar einen breiten, unter⸗
irdiſchen Querſpalt erreichten, der ſo tief war, daß man
keinen hinuntergeworfenen Stein auffallen hörte, gaben
ſie das Graben auf und ſchütteten den Eingang des
Stollens zu. Die Lage des Stollens blieb aber bekannt,
und als der Vorfahre Haukaroporas floh, wendete er
ſich mit den Treuen, die bei ihm waren, hierher und ver⸗
barg darin alles, was er von ſeinen Schätzen gerettet
hatte. Die Feinde folgten ihnen ſpäter und überfielen
ſie. Alle wurden getötet, außer zweien, welche entka⸗
men; der eine war der Inka und der andre mein Ahne.
Das Geheimnis erbte ſich auf die Nachkommen dieſer
beiden, bis auf Haukaropora und mich, fort. Ich weiß,
wo die Höhle liegt, bin aber noch nie in deren Innern
geweſen, da nur mein Herr, der Vater Haukaroporas,
das Recht hatte, ſie zu betreten. Heute werde ich Hauka
den Eingang zeigen, und wenn er es mir erlaubt, darf
ich dabei zum erſtenmal ſehen, welche Gegenſtände die
Höhle birgt.“
„Natürlich erlaube ich es dir, mein alter, treuer
Anciano,“ fiel da Haukaropora ein. „Du biſt mein
zweiter Vater, und was mir gehört, das iſt auch dein
Eigentum.“
„Ich danke dir,“ antwortete der Alte erfreut. „Ich
wünſche mir nichts als die Fortdauer deiner Liebe.
Dennoch habe ich einen großen Wunſch, um deſſen Er⸗
füllung ich dich bitte.“
— 642 —
„Sage ihn!“
„Du ſollſt die Höhle nur nach der Erreichung eines
gewiſſen Alters betreten, eines Alters, worin die Unvor⸗
ſichtigkeit der erſten Jugend überwunden iſt. Das hat
einen ſehr triftigen Grund. Der Stollen iſt nämlich
nicht ohne Gefahr zu betreten. Worin dieſe Gefahr be⸗
ſteht, das weiß ich nicht. Dein Vater, mein früherer
Herr, wollte es mir noch mitteilen; da er aber ermordet
worden iſt, hat er keine Zeit gefunden, dies zu tun.“
„So haſt du keine Ahnung davon?“
„Eine Ahnung allerdings, aber keine Gewißheit.
Du weißt, daß unſre Vorfahren ein Feuer herzuſtellen
verſtanden, das jahrhundertelang verborgen ruhen kann,
dann aber, wenn es flüſſig gemacht wird, mit unwider⸗
ſtehlicher Gewalt alles zerſtört, was es ergreift. Viel⸗
leicht gleicht es dem jetzigen Schießpulver, von dem
unſer Volk nichts wußte, bis es dasſelbe bei den Spa⸗
niern ſah. Aus einigen Andeutungen deines Vaters
vermute ich, daß die Höhle von einem ſolchen Feuer be⸗
wacht wird, das jeden Unberechtigten, der den Stollen
betritt, vernichten ſoll.“
„Dann iſt es allerdings gefährlich dem Schatz zu
nahen!“
„Ja. Und darum möchte ich dich bitten, auch den
Vater Jaguar mitzunehmen. Seine Augen ſind die
ſchärfſten und erfahrenſten von allen, ſo daß er dieſes
verborgene Feuer jedenfalls eher entdecken wird als
wir.“
„Er ſoll mitgehen. Ich hätte ihn auch ohnedies
darum gebeten. Und auch mein lieber Freund Antonio
mag bei uns ſein, damit er zu den erſten gehört, die den
Schatz ſehen. Oder fürchteſt du die Gefahr des verbor⸗
genen Feuers?“
— 543 —
Dieſe Frage war an Anton Engelhardt gerichtet,
der ſogleich antwortete: „Ich fürchte mich nicht. Wie
das Pulver, ſo wird auch euer Feuer erſt dann gefährlich
ſein, wenn es angezündet wird, alſo wenn man es mit
andrem Feuer in Berührung bringt, und dies zu tun,
werden wer uns doch hüten.“
„Wenn wir vorſichtig ſind, haben wir jedenfalls
nichts zu befürchten,“ ſtimmte der Vater Jaguar bei,
„Ihr wollt die Höhle alſo ſchon heute aufſuchen?“
„Ja,“ nickte Anciano.
„Noch vor der Ankunft unſrer Feinde?“
„Noch vorher.“
„Ich möchte raten, zu warten. Wir würden Spu⸗
ren zurücklaſſen, wodurch wir leicht unſre Anweſenheit
verraten könnten.“
„Haben wir denn nicht Zeit, dieſe Spuren ſo zu
vertilgen, daß ſie nicht zu bemerken find, Senor? Der
Gambuſino kann vor morgen nicht da ſein, und jetzt
haben wir erſt Vormittag. Es ſteht zu erwarten, daß
es morgen zum Kampf kommt; wenn ich dabei getötet
würde, ſo könnte ich meinem jungen Herrn den Ort
dann nicht zeigen und die ganze Erbſchaft würde ver⸗
loren gehen.“
„Du brauchſt dich nur am Kampf nicht zu be⸗
teiligen!“ |
„Senor, was trauen Sie mir zu!“ rief da der Alte
aus. „Wir wollen den Mörder meines ermordeten
Herrn ergreifen, und ich ſollte dabei meine Arme und
meine Waffen ruhen laſſen? Verlangen Sie von mir
alles, aber nur dieſes nicht!“
„Gut! Ich kann begreifen, was du denkſt und
fühlſt. Du magſt alſo deinen Willen haben. Aber ehe
wir nach dem Stollen ſuchen, müſſen wir an andres
— 544 —
und Notwendigeres denken. Wir ſind vielleicht gezwun⸗
gen, mehrere Tage hier zu bleiben. Für uns iſt Pro⸗
viant genug vorhanden, aber wir müſſen auch für unſre
Maultiere ſorgen. Waſſer und Gras gibt es nur unten
an der Salina del Condor für ſie; leider dürfen wir dort
nicht lagern, weil unſre Gegner über die Salina kom⸗
men werden. Wir müſſen alſo nach einem andern Ort
ſuchen, und wenn er noch ſo ſehr entlegen von hier wäre,
wo unſre Tiere trinken und weiden können.“
„Was das betrifft, da brauchen Sie ſich keine Sorge
zu machen, Seßor. Eine Reitſtunde von hier liegt ein
tiefes Loch, worin es immerfort Waſſer gibt und an
deſſen Rand Gras wächſt. Haukaropora und ich ſind
wohl die einzigen Menſchen, die dieſen Ort kennen. Ich
werde Sie hinführen.“
„Ein tiefes Bergloch? Können denn da unſre
Tiere hinab?“
„Für Pferde würde der Abſtieg unmöglich ſein;
unſre Maultiere aber kommen gewiß hinunter. Wir
wiſſen freilich nicht, ob wir ſie zur etwaigen Verfolgung
unſrer Feinde hier in der Nähe bedürfen.“
„Dies abzuwarten, haben wir genugſam Zeit.
Fürs erſte kannſt du, wenn wir uns ein wenig ausge⸗
ruht haben, die andern nach dem Bergloch führen; ich
bleibe mit Haukaropora und Anton, die mit in die Höhle
ſollen, hier, um deine Rückkehr zu erwarten.“
Es läßt ſich denken, daß auch die andern Mitglieder
der Geſellſchaft ſich außerordentlich gern an der Auf⸗
ſuchung des Schatzes beteiligt hätten, doch ſprachen ſie
dieſen Wunſch nicht aus, ſondern fügten ſich in die ge⸗
troffene Anordnung und ritten nach einer Weile unter
der Anführung des alten Anciano fort, um den verbor⸗
genen Waſſer⸗ und Weideplatz aufzuſuchen. Der Vater
— 545 —
Jaguar ſah ihnen nach, bis ſie verſchwunden waren,
und wendete ſich dann an Haukaropora, der mit Anton
Engelhardt am Rand der Schlucht ſaß und nachdenklich
hinabblickte: „Getrauſt du dir, den Stollen zu finden,
ohne daß Anciano dir die Stelle zeigt?“
„Nein,“ antwortete der Sohn des Inka. „Mein
Vater hat den Eingang jedenfalls ſo unkenntlich ge⸗
macht, daß ihn kein Menſch entdecken kann.“
„Wollen einmal ſehen! Nun ich weiß, daß in der
Schlucht etwas verborgen iſt, halte ich es nicht für un⸗
möglich, die Stelle zu finden. Ich werde es verſuchen
und jetzt hinabſteigen. Bleibt indeſſen hier! Es ſteht
zwar nicht zu erwarten, daß jemand kommen wird, aber
ihr dürft doch immerhin die Augen offen halten. Ihr
könnt von hier aus die Gegend überſehen. Solltet ihr
die Annäherung eines Menſchen bemerken, ſo ruft ihr
mich; ich werde eure Stimme hören.“
Er ſtieg mit gewandten Schritten die ſteile Felſen⸗
böſchung hinab. Sie folgten ihm mit ihren Blicken, bis
er unten angekommen war, und dann meinte Hauka,
indem er verneinend den Kopf ſchüttelte: „Er findet
den Ort nicht. Er iſt ein berühmter Mann, berühmter
als alle, die ich kenne, aber die Stelle wird ſelbſt für ihn
unkenntlich ſein.“
„Haſt du nicht ſein Lächeln geſehen, als du dieſes
behaupteteſt?“ fragte Anton. „Er ſcheint überzeugt zu
ſein, daß er die Höhle entdeckt, und ich glaube, daß dies
wirklich geſchieht. Heute wirſt du reich werden, ſehr
reich, jedenfalls noch viel reicher, wie ich bin oder viel⸗
mehr wie mein Vater iſt. Haben deine Vorfahren denn
wirklich ſo viel Gold und Silber gehabt, wie erzählt
wird und wie man in den Büchern lieſt?“
May, Das Vermächtnis des Inka. 385
— 546 —
„Gewiß. Damals, als die Inkas von den Spa⸗
niern überfallen und ausgeraubt wurden, haben viele,
viele Reiche des Landes ihre Koſtbarkeiten vergraben
oder in andrer Weiſe verſteckt, und nach ihrem Tode hat
niemand gewußt, wo es verborgen iſt. So liegen nun
Millionen und aber Millionen in der Erde verſteckt, die
keinem Menſchen — — Schaden bringen können.“
„Schaden? Wollteſt du nicht Nutzen ſagen?“ ö
„Nein, ſondern Schaden. Die großen Reichtümer
meines Volkes ſind ſchuld, daß es untergegangen iſt.
Wäre es arm geweſen, ſo hätten die Spanier, als ſie
nach Peru kamen, ſich entfernt, ohne wiederzukommen.
Weißt du, wie der unglücklichſte aller meiner Ahnen be⸗
trogen worden iſt?“
„Nein.“
„Als er gefangen war, wurde er in einen großen,
weiten Saal gebracht, und Pizarro, der Eroberer, zog
mit der Spitze ſeines Schwertes, ſo hoch er reichen
konnte, einen Strich um die vier Wände hin und ver⸗
ſprach ihm die Freiheit, wenn er den Saal bis an den
Strich hinauf mit Gold und Silber füllen werde. Der
Inka kam dieſer Forderung nach, aber der Spanier hielt
nicht Wort. Der Saal wurde zum zweitenmal bis an
den Strich gefüllt, und auch da hielt der Lügner ſein
Verſprechen nicht. Er war ein Chriſt, der dann die
Lehre von der Wahrheit und von der Liebe gewaltſam
im Lande verbreiten ließ. Du ſiehſt, daß der Reichtum
mein Volk ins Verderben gebracht hat.“
„Ja, zwei große Säle voller Gold und Silber!
Sollte man dies für möglich halten!“
„Du wunderſt dich? Dann weißt du nichts von
den Schätzen, die in den beiden Sonnentempeln zu
Kuzko und Tſchukitu, in den Tempeln von Huanakauri,
— 547 —
Katſcha, Vilikanota und an den vielen andern heiligen
Orten, welche Huakas genannt werden, zu finden wa⸗
ren. Im Sonnentempel zu Kuzko gab es über vier⸗
tauſend Prieſter und Diener. Alle Türen hatten maſſiv
goldene Pfoſten, und die Fenſteröffnungen waren mit
Smaragden und andern Edelſteinen ausgekleidet. Alle
Wände waren mit Goldplatten getäfelt. Da ſtanden
die Bildſäulen der Götter und Göttinnen aus purem
Gold und diejenigen der Inkas aus reinem Silber. Es
gab da unzählige Gefäße und Gerätſchaften, alle aus
edlen Metallen gefertigt. Aus den fünf Quellen der
umliegenden Berge führten goldene Röhren das Waſſer
in goldene oder ſilberne Becken, zum Trinken, zum Rei⸗
nigen der Gefäße und zum Baden der Opfertiere. Soll
ich dir noch mehr erzählen? Haſt du eine Zahl, ein
Maß für den Wert ſolcher Reichtümer?“
„Nein, nein! halt ein; es wird mir angſt dabei!
Wenn du von ſolchen Gebäuden, Bildſäulen und Ge⸗
fäßen redeſt, muß es bei euch große Künſtler gegeben
haben.“
„Es hat ſie gegeben, obgleich unſre Kunſt eine
andre als die eurige war.“
„Und die Wiſſenſchaft?“
„Ich bin ein Knabe, in der Einſamkeit der Berge
aufgewachſen, und kann nicht von dem ſprechen, was
ihr Wiſſenſchaft nennt. Aber gelehrte Leute hatten
auch wir. Denke nur an die Kippu⸗Kamayoks, von
denen du wohl gehört haben wirſt.“
„Ja, das waren eure Schriftgelehrten; aber eure
Schrift beſtand nicht aus Buchſtaben und Wörtern wie
die unſrige, ſondern aus Schnüren, in welche Knoten
geknüpft wurden. Wie iſt es möglich, ſolche Schnüre
— 548 —
ſo zu leſen, wie wir unſre Bücher, Zeitungen und an⸗
dern Schriften leſen!“
„Das war freilich eine nicht leichte Kunſt, und
nicht jeder konnte wie bei euch das Leſen und Schreiben
erlernen. Ein ſolcher Kippu konnte nur von einem
Schriftgelehrten, welcher Kamayok genannt wurde, ge⸗
knüpft oder geleſen werden. Es wurden nur die zuver⸗
läſſigſten Leute zu Kippu⸗Kamayoks gewählt, und in
jedem Dorf fanden ſich Kippuverwalter, die ihre Kunſt
nur auf ihre Nachkommen vererbten. Mein alter An⸗
ciano ſtammt aus einer ſolchen Familie und würde
heut noch jeden Kippu, den er fände, leſen und entzif⸗
fern können.“
„Kannſt du das auch?“
„Ja, denn ich bin der Nachkomme der Herrſcher,
die vor allen Dingen dieſe Kunſt verſtehen mußten.
Bring mir ein Schnurenbündel, und ich leſe es dir ſo
vor, wie du die Worte eines Briefes vom Papier lieſeſt.
Mein Vater hat mich in allem unterrichtet, was ein
Inka wiſſen muß, denn er glaubte, unſer Reich könne
wieder erſtehen und ich würde —“
Er hielt inne und blickte ſtill vor ſich nieder. Seine
ſo ernſten Züge nahmen jetzt den Ausdruck düſterer
Trauer an. Dann holte er tief Atem und fuhr fort:
„Er glaubte es vordem, ſpäter aber nicht mehr, wie mir
Anciano jetzt erſt mitgeteilt hat. Auch ich habe ſtets die
Hoffnung gehegt, daß das Tote wieder lebendig werden
könne, nun aber, ſeit ich dich kenne, habe ich dieſe Hoff⸗
nung aufgegeben.“
„Seit du mich kennſt?“ fragte Anton betroffen.
„So meinſt du, ich ſei ſchuld daran?“
„Ja, doch ohne daß du es beabſichtigt haſt. Ich
kannte nur meine Berge und die Wildnis der Wälder;
ich hatte immer nur von meinem Volk, nicht aber von
andern Völkern gehört. Da lernte ich dich kennen, und
du erzählteſt mir von vielen Nationen und Reichen; ich
weiß erſt jetzt, wie groß die Erde iſt, und wie klein da⸗
gegen ein Menſch, ein einſamer Knabe, obgleich ſeine
Ahnen einſt mächtige Sonnenſöhne waren. Ich habe
geträumt und bin erwacht und würde, ſelbſt wenn ich
heute alle Reichtümer der Erde da unten in der Schlucht
vorfände, nie wieder in den trügeriſchen Traum zurück⸗
verfallen. Die Geſchichte meines Volkes iſt zu Ende;
die Vergangenheit geht mich nichts mehr an, und ich
will nun nur noch vorwärts blicken. Ich möchte ler⸗
nen, was du gelernt haſt; ich möchte ein Mann werden,
wie diejenigen waren oder ſind, von denen du mir er⸗
zählteſt. Darum werde ich meine Berge verlaſſen und
dahin gehen, wo dieſer Wunſch Erfüllung findet. Der
Vater Jaguar ſoll mir raten, und was er ſagt, das
werde ich tun. Das könnte ich nicht, wenn ich arm
wäre; darum freut es mich, jetzt das Vermögen und das
Vermächtnis meines Vaters vor mir zu haben. Hätte
es nicht dieſen Zweck, ſo würde ich alles Gold und Sil⸗
ber, das meiner wartet, verachten, denn es wäre leicht
möglich, daß es auch mir das brächte, was es meinen
Ahnen gebracht hat, das Verderben, den Tod, den Un⸗
tergang.“
Er hatte ſehr langſam und in verſchiedenen Ab⸗
ſätzen geſprochen. Jetzt ſtand er auf und entfernte ſich,
als ob er in der Einſamkeit über das Geſagte weiter
nachdenken wolle. Anton folgte ihm nicht; er fühlte
trotz ſeiner Jugend, daß der Freund an einem bedeut⸗
ſamen Wendepunkt ſtehe und feine Entſchlüſſe aus
ſeinem eigenen Innern ſchöpfen müſſe.
Als der Inka nach einiger Zeit wiederkam, hatte
ſein Geſicht einen beinahe heiteren Ausdruck angenom⸗
— 590 —
men. Er reichte dem jungen, weißen Freund die Hand
und ſagte: „Du willſt jetzt nach Lima und dann in das
Land deiner Väter nach Deutſchland hinüber, um noch
mehr zu lernen. Ich weiß von dir, welch ein Land
dies iſt und welch ein Volk da wohnt. Würdeſt du mich
mit hinübernehmen?“
„Gern, gar zu gern!“ antwortete Anton, indem er
überraſcht aufſprang. „Haſt du dieſe Worte im Ernſt
geſprochen?“ N
„Ja; aber ich will vorher mit dem Vater Jaguar
und mit Anciano reden. Ohne den treuen Alten ginge
ich nicht fort von hier.“
„Er geht mit; er geht mit. Er betrachtet dich als
ſeinen Gebieter und wird tun, was du beſtimmſt.“
„Aber er iſt ſo alt und verſteht die Sprache deines
Vaterlandes ebenſowenig, wie ich ſie verſtehe.“
„Er iſt ſo rüſtig wie ein junger Mann, und wäh⸗
rend der langen Reiſe auf dem Schiff werdet ihr von
mir ſo viel Deutſch lernen, als ihr für die erſte Zeit
dort nötig habt.“
In dieſem Augenblick kam der Vater Jaguar aus
der Schlucht geſtiegen, und zu gleicher Zeit hörten ſie
das Getrab eines Maultieres. Anciano kam um die
nächſte Berghalde gebogen und hielt dann vor ihnen an.
Von ſeinem Tier ſpringend, ſagte er: „Ich habe ſie alle
gut untergebracht, und nun wollen wir hinabſteigen,
um die Höhle zu öffnen.“
„Der Vater Jaguar war bereits unten, um zu
verſuchen, ob er ſie auch ohne dich fände,“ benachrich⸗
tigte ihn Hauka.
„Wirklich?“ fragte der Alte, indem er ſich an Ham⸗
mer wandte. „Sie haben nachgeforſcht? Höchſtwahr⸗
ſcheinlich aber ohne Erfolg?“
ER
„Bit du denn deiner Sache gar jo ſicher?“
„Ja, Senor.“
„Nun, ſo wollen wir ſehen, ob ich mich irre. Ich
glaube nämlich, den Eingang zum Stollen gefunden zu
haben.“
„Wo?“
„Im Hintergrund der Schlucht.“
„Das können Sie leicht ſagen, da Sie erfahren ha⸗
ben, daß ſich das Verſteck dort befindet.“
„Pah! Steigen wir hinab! Ich zeige euch die
Stelle.“
Sie feſſelten ihren Maultieren die Füße und mach⸗
ten ſich dann an den Abſtieg. War dieſer beſchwerlich,
ſo zeigte ſich, als ſie unten angelangt waren, das Gehen
nicht weniger unbequem. Es war, als ob hier ein
Berg zuſammen⸗ und in lauter kleine Stücke zerbrochen
ſei, ſo wirr und tief oder hoch lagen die verſchieden
großen Trümmer auf» und übereinander.
Der Vater Jaguar ſchritt voran, über Stock und
Stein, wie man ſich auszudrücken pflegt, ohne nach
rechts oder nach links zu blicken, bis beinahe an die hin⸗
tere Wand der Schlucht. Da gab es eine Stelle, wo die
rechte Seitenwand einige Meter weit vortrat. Dadurch
entſtand eine Spitze, die mit der Felſenwand zwei
ſtumpfe Winkel bildete. Hammer ſchritt nach dem hin⸗
teren Winkel, zeigte mit der Hand dort auf den Boden
nieder und ſagte im Ton der größten Sicherheit: „Hier
iſt die Stelle. Habe ich recht, Anciano, oder nicht?“
Der Alte machte ein Geſicht, worin ſich das größte
Erſtaunen ausſprach, und antwortete: „Ja, hier iſt's,
Senor. Aber wie können Sie das wiſſen? Wie konn⸗
ten Sie das entdecken? Sind Sie allwiſſend geworden?
„Dazu gehört keine Allwiſſenheit.“
— 552 —
„Nicht? So begreife ich wenigſtens Ihre Feinde,
wenn dieſe behaupten, daß Sie ein außerordentlich ge⸗
fährlicher Gegner ſind. Wie nun, wenn Sie früher,
ohne daß wir eine Ahnung hatten, das Verſteck entdeckt
und ausgeräumt hätten!“
„Das war auf keinen Fall zu befürchten. Ich hätte
hier ſtundenlang ſtehen oder ſitzen können, ohne zu be⸗
merken, worum es ſich handelt. Daß ich den Ort ge⸗
funden habe, verdanke ich ganz allein dem Umſtand,
daß ich von dir erfuhr, daß ſich in der Schlucht ein
Stollen befindet.“ a
„Aber wie konnten Sie deſſen Stelle finden?“
„Die Höhle konnte ſich natürlich nicht in der Mitte,
alſo auf der Sohle der Schlucht, ſondern ſie mußte ſich
an einer Seite, und zwar im Hintergrund befinden.
Der Stollen mußte in den Felſen gehauen ſein. Er
war verſchüttet und maskiert worden, nicht durch die
Natur, ſondern durch die Hand eines Menſchen, alſo
künſtlich. Ich brauchte alſo nur nach einer Stelle zu
ſuchen, wo im Gegenſatz zur Unregelmäßigkeit dieſes
Steinwirrwarrs eine Spur von Regelmäßigkeit auf
eine Arbeit von Menſchenhänden ſchließen ließ. Und
das war hier der Fall.“
„Wieſo?“ |
Der Vater Jaguar deutete auf mehrere Steine, die
nahe an der Felſenwand lagen, und antwortete: „Bil⸗
den dieſe vier Steine nicht die Ecken eines ganz regel⸗
mäßigen Quadrats?“
„Allerdings.“ |
„Sind fie nicht von ganz gleicher Größe und
Schwere, nicht zu ſchwer für einen kräftigen Mann,
aber auch nicht ſo leicht, daß ſie durch irgend einen Zu⸗
fall verſchoben oder gar ganz entfernt werden könnten?“
— 553 —
„Auch das iſt richtig, Senor.“
„Warum liegen in dem Viereck, das ſie bilden, nur
leichte Steine, keiner größer als eine Männerfauſt?
Wenn dieſe kleinen Steine größer und ſchwerer wären,
würden ſie die Decke des Schachtes eindrücken, die von
den vier großen Steinen an den Ecken gehalten wird.“
Der alte Anciano ſchüttelte ſtaunend den Kopf und
meinte: „Es iſt jo, genau fo, wie Sie jagen, Senor!“
„Ich wußte es. Die Sache wird durch das ein⸗
fachſte Nachdenken erklärt. Das Loch mußte zugedeckt
werden. Ein großes Felsſtück war dazu nicht zu
brauchen, weil ein einzelner Menſch es nicht hätte ent⸗
fernen können, um den Stollen zu öffnen. Bretter oder
dergleichen gab und gibt es hier nicht; man hat alſo
irgend eine Decke oder ein Fell genommen, über das
Loch gebreitet und auf die vier Ecken vier Steine gelegt,
die von einem Mann fortgerollt werden können, aber
doch ſchwer genug ſind, das Fell zu halten und auch die
kleinen Steine, die man daraufgelegt hat, um das Men⸗
ſchenwerk zu verbergen und dem Ort ein natürliches
Ausſehen zu geben.“
| „Sehr richtig, ſehr richtig, Seüor! Auch das mit
dem Fell ſtimmt ganz genau. Das Loch iſt früher unter
den oben liegenden Steinen mit Holzſtangen zugedeckt
geweſen; dieſe ſind aber morſch geworden, und als mein
Herr den Stollen beſuchte, fand er deſſen Bedeckung ein⸗
geſtürzt. Um einen neuen Verſchluß zu haben, blieb
ihm nichts andres übrig, als ſein Maultier zu er⸗
ſchießen und deſſen Haut mit Hilfe dieſer vier Steine
über das Loch auszuſpannen. Er ſchüttete dann kleine,
leichte Steine darauf, und dieſe Decke hat ſich lange
Jahre und, wie Sie ſehen, bis heute bewährt. Es kann
ſich ſogar ein Mann darauf ſtellen, ohne daß ſie auch
— 554 —
nur im mindeſten nachgibt. Ihr Scharfſinn iſt wirklich
außerordentlich! Wollen wir jetzt öffnen?“
„Ja, denn es gibt nichts, was uns davon abhalten
könnte.“
Die vier Perſonen kauerten ſich nieder, um die
Lage kleiner Steine zu entfernen. Dieſe war nicht hoch
und bald kam unter ihr das Fell zum Vorſchein, das die
Härte und Steifheit eines Eiſenblechs angenommen
hatte. Es wurde von den erwähnten vier Steinen aus⸗
geſpannt und feſtgehalten. Als dieſe fortgeſchoben wa⸗
ren, konnte man die Haut wegnehmen, und da kam ein
Loch zum Vorſchein, das ſo groß war, daß ein ſtarker
Mann hineinkriechen konnte. Es führte ſenkrecht hin⸗
ab. Darum meinte der Vater Jaguar: „Das iſt doch
kein Stollen, ſondern ein Schacht!“
„Nur der Eingang geht ſenkrecht hinab,“ erwiderte
Anciano, indem er einen kleinen Stein hinunterwarf.
„Hören Sie, daß er nicht tief fällt? Das Loch iſt ge⸗
rade ſo tief, wie ein Mann hoch iſt; dann macht es
einen Winkel und führt ein wenig abwärts wagrecht in
den Felſen hinein. Ich werde hinunterſteigen.“
„Wie ſteht es mit der Beleuchtung?“
„Für dieſe hat mein Herr geſorgt. Es liegen Kerzen
unten, die wir ſelbſt aus Talg gegoſſen haben.“
Er ließ ſich langſam in das Loch hinab. Als er
mit den Füßen den Boden erreicht hatte, konnte er mit
den ausgeſtreckten Händen den oberen Rand erfaſſen.
Hammer reichte ihm einige Zündhölzer hinab, worauf
man bald die Kerzenflamme unten erſcheinen ſah. Hau⸗
karopora ſtieg, von oben und unten unterſtützt, da er
kleiner war, nach; ihm folgte Anton Engelhardt, worauf
der Vater Jaguar den vierten machte.
— 555 —
Dieſer letztere mußte ſich bücken, um in den wag⸗
rechten Stollen zu gelangen, doch wurde derſelbe bald
höher, ſo daß man aufrecht ſtehen konnte. Nach weni⸗
gen Schritten verbreiterte er ſich und bildete eine Art
kleines Gemach, worin die vier Perſonen gerade Platz
fanden. Sie blickten umher, fanden aber nichts als
einen kleinen Holzpflock, der in eine Ritze eingetrieben
war und von dem eine vielleicht 30 Zentimeter lange,
ſtricknadelſtarke Schnur herniederhing. Sie war drei⸗
farbig und hatte mehrere Knoten; einige viel kürzere
und dünnere Schnüre waren an ihr feſtgeknüpft; auch
dieſe zeigten verſchieden entfernte Knoten.
„Ein Kippu!“ rief Anciano, indem er das kleine
Schnurbündel vom Pflock nahm und, es mit dem Licht
beleuchtend, aufmerkſam betrachtete. Die Farben waren
ziemlich verblichen, aber doch noch zu erkennen.
„Kannſt du es entziffern?“ fragte der Vater
Jaguar. |
„Ja, Sehor. Dieſer Kippu ermahnt uns, keine
andre Kerze anzubrennen, als bis wir den zweiten
Kippu geleſen haben. Es iſt alſo noch einer da, wohl
weiter hinten. Gehen wir!“
Auch Haukaropora unterſuchte den Kippu und be⸗
ſtätigte die Löſung des Alten. Sie ſchritten weiter vor,
die beiden Männer jetzt tief gebückt, weil der Stollen
niedriger wurde. Er war ſehr trocken; nur drückte die
Luft ein wenig auf die Lungen. Nach ungefähr fünfzig
Schritten wurde er nicht nur wieder höher, ſondern
auch viel breiter als vorher und bildete einen ſtuben⸗
artigen Raum, der vier Ellen hoch, ſieben Ellen breit
und ebenſo tief ſein mochte. Den Hintergrund bildete
nicht die Felſenwand, ſondern eine dunkle, gähnende
Kluft, die ſenkrecht in eine unbekannte Tiefe fiel. Aber
An
— 556 —
nicht dieſe breite Felſenſpalte war es, worauf man zu⸗
nächſt achtete, ſondern die Aufmerkſamkeit der vier Per⸗
ſonen wurde von den Gegenſtänden, die ſich in dieſem
Raum befanden, aufs mächtigſte angezogen.
Es glänzte rechts und links wie pures Gold und
Silber. Da ſtanden und lagen auf Unterlagen, die
bankartig aus Steinen hergeſtellt worden waren, allerlei
Gegenſtände, deren Metall- und Kunſtwert jedes Auge
blenden mußte. Da gab es Götterfiguren, in Kinder⸗
größe aus blinkendem Gold hergeſtellt, Herrſcherſtatuen,
in derſelben Größe aus maſſivem Silber gearbeitet, Gefäße
in den verſchiedenſten Formen und Größen, Waffen
aller Art, Schmuckſachen, Sonnen, Monde und Sterne.
Ja, das war ein Reichtum, der nur von einem Inka
oder einem königlichen Prinzen abſtammen konnte, denn
im alten Peru gehörte alles Gold dem Herrſcher. Ohne
ſeine Erlaubnis durfte kein andrer Gold oder Silber
verwenden.
Dieſe Metalle auszuführen, war bei Todesſtrafe
verboten. Alles Silber und Gold mußte nach der
Hauptſtadt geliefert und dem König zu Füßen gelegt
werden. Da gab es Jahre, in denen nach ſicheren An⸗
gaben über zwölftauſend Zentner Silber und über vier⸗
tauſend Zentner Gold in der Schatzkammer des Inka
zuſammenliefen, denn das edelſte der Metalle wuchs in
zahlreichen Adern des Gebirgs und fand ſich in erſtaun⸗
licher Menge im Sand der Flüſſe und wurde durch
billige oder gar nichts koſtende Fronarbeit gewonnen.
Anton Engelhardt war wie geblendet; Anciano und
. Haufaropora ſtanden in ſtaunender Andacht da, halb
die hier befindlichen Reichtümer bewundernd und halb
durchſchauert von einem Gefühl ehrfurchtsvoller Pietät
für die einſtigen Götter und Herrſcher ihres Volkes.
— 557 —
Der Vater Jaguar war am wenigſten befangen. Er
hatte dem Alten das Licht aus der Hand genommen und
war zunächſt nach dem Hintergrund der Schatzkammer
getreten, um hinab in den ſchauerlich und geheimnis⸗
voll gähnenden Schlund zu ſpähen. Beim matt flak⸗
kernden Kerzenſchein glaubte man unterhalb des Ran⸗
des dämoniſche Spukgeſtalten zu erblicken, die hin und
her flogen, und zu winken ſchienen. Ein Stein, den
Hammer hinabwarf, ſchlug vielfach an den Wänden
auf, doch ließ ſich nicht erkennen, in welcher Tiefe er
liegen blieb.
Der Vater Jaguar trat vom Abgrund zurück, um
jetzt ſorgfältig nach dem Sitz des verborgenen Feuers
zu ſuchen. Seine Nachforſchung hatte bald Erfolg.
Nämlich unten, in der Nähe des Bodens liefen an den
Steinbänken ſchmale, tönerne Rinnen hin, die mit einer
weißgelben, wachsartigen Maſſe gefüllt waren; aus
dieſer ragten in gewiſſer Entfernung dochtartige Fäden
hervor, die in Geſtalt von kurzen Lichtſtümpfen mit
derſelben Maſſe umgeben waren. N
„Das muß das gefährliche Feuer ſein,“ ſagte er zu
Anciano, indem er auf dieſe Rinnen deutete, „von denen
dein toter Gebieter geſprochen hat. Und dieſe mit Doch⸗
ten verſehenen Spitzen ſind die Lichte, von denen wir
keins anbrennen ſollen, bevor wir den zweiten Kippu
geleſen haben. Wo aber mag dieſer ſein? Wir müſſen
ihn ſuchen.“
Sie brauchten gar nicht lange zu forſchen, denn er
hing gleich vorn am Eingang an der Wand. Er hatte
nicht die einfache Geſtalt des erſten Schnürbündels,
ſondern beſtand aus einem ſehr kunſtvoll gearbeiteten
Geflecht, das als Handgriff diente, und an deſſen Seiten
mehrere Reihen von Schnüren franſenartig herabhin⸗
— 558 —
gen. Dieſe Schnüre hatten verſchiedene Farben; fie
waren von verſchiedener Länge und in viel hundert
Knoten von verſchiedener Größe geknüpft. Der Alte
griff ſchnell zu, um dieſes Kunſtwerk der Schriftknüpferei
zu betrachten. Er tat dies eine ziemlich lange Zeit und
erklärte dann: „Dieſer Kippu iſt ein ſehr langer und
ausführlicher Brief, den ich aber hier nicht leſen kann,
weil die Farben gelitten haben und das Licht der Kerze
nicht hinreichend iſt.“
„Aber draußen im Licht der Sonne könnteſt du ihn
leſen?“ fragte der Vater Jaguar.
„Ich denke es.“
„So müſſen wir hinaus.“
„Schon fort von dieſen Schätzen, die wir ſo gern
noch bewundern wollen?“
„Ja. Ihr dürft nicht eher einen dieſer Gegen⸗
ſtände anrühren, als bis wir den Inhalt dieſes Kippu
erkennen. Die Gefahr, mit der die Hebung dieſer
Schätze verbunden iſt, iſt uns noch unbekannt. Jede
falſche Bewegung, jeder falſche Griff kann uns den Tod
bringen. Ich warne euch alſo. Wollt ihr bleiben, ſo
bleibt; ich aber entferne mich und ſteige nicht eher wie⸗
der hinab, als bis ich den Inhalt dieſes Briefes genau
kennen gelernt habe.“
Der alte Anciano ſchien, geblendet von dem Gold
und Silber, dennoch bleiben zu wollen; da nahm Hauka
ihm den Kippu aus der Hand, unterſuchte ihn, ſoweit es
hier unten möglich war, und erklärte dann: „Dieſer
Kippu enthält das Vermächtnis meines Vaters, des er⸗
mordeten Inka. Er iſt mir teurer als alles, was ſich
außer ihm hier befindet, und darum mag das Gold und
Silber hier liegen bleiben, bis ich ihn geleſen habe. Ich
gehe an das Tageslicht.“
— 559 —
| Das entſchied. Die vier Perſonen verließen den
unterirdiſchen Raum und begaben ſich durch den Stollen
nach dem Eingang zurück, um in das Freie zu gelangen.
Auf dem Boden des Schachtes, da, wo dieſer in den
Stollen überging, lagen mehrere Talglichte, die Haukas
Vater zum jeweiligen Gebrauch da niedergelegt hatte.
Anciano löſchte ſein halb abgebranntes Licht aus und
gab es wieder mit hinzu, ehe er ſich hinausſchwang.
Draußen ſetzten ſich die vier auf die Steine, und
Anciano und der junge Inka nahmen die Schnüre vor,
um ſie zu entziffern. Das ging freilich nicht ſo ſchnell
wie bei dem erſten und ſo einfachen Kippu. Es waren
der Farben und Knoten, der Nebenſchnüre ſo viele, und
die erſteren waren ſo verblichen, daß, wenn zwei von
ihnen einander ähnlich geweſen waren, ſie jetzt kaum
voneinander unterſchieden werden konnten. Es ver⸗
ging eine Viertelſtunde nach der andern; aus der halben
wurde dann eine ganze Stunde; nachher verlief noch
eine halbe, und doch waren die beiden Peruaner über die
Bedeutung einzelner Knoten und Schnüre noch nicht im
klaren oder miteinander einig. Der Vater Jaguar war
vielleicht um elf Uhr mit ſeinem Trupp an der Schlucht
angekommen; dann hatte es zwei Stunden gedauert, bis
Anciano von dem neuen Lagerplatz zurückgekehrt war;
jetzt zeigte die Uhr ſchon über drei am Nachmittag; dar⸗
um ſagte Hammer: „Es wird jetzt gefährlich, länger
hier zu bleiben. Kommt zufälligerweiſe jemand da oben
am Rand der Schlucht vorüber, ſo ſieht er uns hier
unten am offenen Schacht ſitzen, und unſer Geheimnis
iſt verraten. Wir wollen alſo das Loch wieder ver⸗
ſchließen und dann hinaufgehen. Dort könnt ihr eure
Arbeit fortſetzen, und wir werden nicht überraſcht, weil
— 560 —
wir jede Annäherung ſchon von weitem bemerken
müſſen.“
Man konnte nicht anders, als ihm beiſtimmen.
Darum wurde die Haut wieder über den Eingang ge⸗
breitet, mit den vier ſchweren Steinen belegt und be⸗
feſtigt und dann mit kleinerem Geſtein und Gras be⸗
deckt. Hierauf ſtiegen ſie wieder hinauf zu ihren Maul⸗
tieren, wo Hauka und der Inka ſogleich ihre Arbeit
fortzuſetzen begannen.
Es war, als ob ihr Scharfſinn hier oben findiger
ſei, als unten in der düſteren Schlucht, denn noch war
keine halbe Stunde vergangen, ſo erklärten beide, daß
ſie jetzt über die Bedeutung jedes Knotens einig und im
klaren ſeien.
„Darf ich vielleicht den Inhalt erfahren?“ fragte
der Vater Jaguar.
„Ja, Señor,“ antwortete Hauka. „Es iſt, wie ich
ſchon ſagte, das Vermächtnis meines Vaters, lautet
aber anders, als Sie gedacht haben werden, und auch ich
gedacht habe. Anciano, lies es vor!“
Der Alte gehorchte. Er kniete aus Ehrerbietung
vor dem letzten Willen ſeines einſtigen Herrn nieder,
ließ Knoten nach Knoten, Schnur nach Schnur durch
die Finger gleiten und entzifferte dabei langſam und in
abgeriſſenen Sätzen folgendes: „Haukaropora, meinem
Sohn, dem letzten Inka. — — Siehſt du dieſen Kippu,
fo bin ich tot. — — Auch Völker fterben. — — Das
unſrige iſt tot, wie ich geſtorben bin. — — Hoffe nicht,
daß es wieder aufleben wird! — — Du wirſt niemals
Herrſcher ſein. — — Es ſtarb an ſeinem Gold und
Silber. Willſt du an dem deinigen fterben? — —
Wäre es arm geweſen, ſo lebte und wirkte es noch. Sei
du arm, ſo wirſt du leben und wirken. — — Sei nicht
— 561 —
reich an Metallen, ſondern werde reich am Geiſt und
im Herzen, ſo wirſt du glücklicher ſein als alle deine
Ahnen. — — Ich bitte dich; ich befehle dir nicht. Dieſes
Gold gehört dir; nimm es, oder nimm es nicht! — —
Nimmſt du es, ſo wirſt du ſein Sklave; verſchmähſt du
es, jo wirft du frei. — — Du haſt den goldenen Streit⸗
kolben der Inkas. Verkaufe ihn, ſo haſt du genug, um
zu lernen und ein Mann zu werden, den Arbeit ehrt;
Genuß im Nichtstun aber ſchändet. — — Willſt du das
Gold, ſo nimm es; doch hüte dich dabei vor dem Feuer
in den Rinnen! — — Willſt du Ehre und wahres
Glück, ſo gib das Metall der Erde wieder, der es geraubt
worden iſt; dann wirſt du den wahren Reichtum er⸗
langen. Brenne da die erſte Kerze des ſchlafenden
Feuers an und eile aus der Höhle! — — Nun wähle,
aber wähle gut! Du beſitzeſt das Blut der Herrſcher;
beherrſche alſo dich ſelbſt; es wird dir gelingen. — —
Ich bin bei dir und bleibe bei dir. Mach, daß meine
Seele ſich über dich freut! — — Dann ſchaut mein Geiſt
wonnig auf dich nieder, bis du mir folgeſt dahin, wo
weder Gold noch Silber gilt, ſondern nur die Schätze
des Herzens gewogen werden. — — Handle als mein
Sohn, denn ich bin dein Vater!“ ö
Der alte Anciano hatte ſo geleſen, daß die Pauſen
zwiſchen den einzelnen Sätzen immer länger geworden
waren. Jetzt blickte er, auf den Knien liegen bleibend,
erwartungsvoll zu ſeinem jungen Herrn auf. Das
gleiche tat auch Anton, den der Inhalt des Vermächt⸗
niſſes tief ergriffen hatte. Der Vater Jaguar war
voller Bewunderung über die Anſchauung, zu der ſich
der Tote emporgeſchwungen gehabt hatte; aber ſeiner
praktiſchen Natur ſagte das Opfer nicht zu, das dieſer
von ſeinem Sohn erwartete. Haukaropora ſtand hoch
Mah. Das Vermächtnis des Inta 36
—
— 562 —
aufgerichtet da und blickte in die Sonne. Seine Ahnen
hatten ſie verehrt, zu ihr gebetet. Jetzt wollte ſie hinter
den Gipfeln der Berge verſchwinden. So war auch der
Glanz des Inkareiches verſchwunden und dieſes ſelbſt
untergegangen. Der letzte Reſt dieſes Glanzes ſtrahlte
unten in der Felſenkammer, wo die Statuen der Götter
und Herrſcher ſtanden, beim Schein einer armſeligen
Kerze. Sollte dieſer letzte Schimmer auch erlöſchen?
In dem ernſt⸗ſchönen Angeſicht des Jünglings regte ſich
kein Zug. Er blickte in die Sonne, ohne daß die Augen
ihn ſchmerzten, bis das höchſte Bergeshaupt ſie deckte;
dann wendete er ſich zu Anciano, nahm ihm den Kippu
aus der Hand, verbarg dieſen unter dem ledernen
Jagdhemd auf der Bruſt und ſagte: „Stehe auf, An⸗
ciano! Es gibt keinen Inka mehr. Die Söhne der
Sonne gingen dahin mit ihrem Reich, und ich gehorche
dem Geiſt meines Vaters, der geglaubt hat, ich ſei ſtark
genug, das Richtige zu wählen. Ich gebe das Gold der
Erde zurück, denn es bringt nur als Lohn der Arbeit
Segen, und meine Arbeit ſoll erſt noch beginnen.“
Da ſprang der Alte auf, ergriff ſeine beiden Hände
und rief im Ton inniger Rührung und Liebe aus: „Sei
geprieſen für dieſen Entſchluß, mein Sohn; ich habe
von dir nichts andres erwartet. Du bedarfſt keiner
ſchillernden Schätze, denn der größte Schatz, den es gibt,
ruht in deiner Bruſt.“
Der Vater Jaguar aber fragte: „Wie? Du willſt
dem Inhalt des Stollens da unten entſagen? Das
war es doch, was du meinteſt?“
„Ja.“
„Das kann nur das Ergebnis einer vorübergehen⸗
den Stimmung ſein. Bedenke, was du von dir wirfſt,
— 568 —
und welch ein Leben vor dir liegt, wenn du die Erb⸗
ſchaft deines Vaters antrittſt!“
„Sein Vermächtnis liegt nicht da unten in der
Höhle, ſondern hier auf meinem Herzen.“
Er deutete nach der Stelle, wo er den Kippu ver⸗
borgen hatte.
„So willſt du in Wirklichkeit das verzehrende Feuer
dort unten anbrennen und die Reichtümer zerſtören?“
„Ja.“
„Das iſt Wahnſinn! Wenn du ſie nicht willſt, ſo
muß ich dich darauf aufmerkſam machen, wie viel Gutes
du mit ihnen tun, wie viele Menſchen du mit ihnen
glücklich machen kannſt. Dich ſelbſt magſt du berauben,
andre aber nicht!“
„Das Erbe gehört nicht ihnen, ſondern mir; ich tue
mit ihm, was ich will. Ich vernichte es, weil ich
wünſche, meinen Nebenmenſchen andre und beſſere Ga⸗
ben zu bringen!“ N
„Ueberſchwenglichkeit! Ich werde mich einem ſol⸗
chen Beginnen widerſetzen!“
Da nahm Haukaropora ſeinen goldenen Streitkolben
von der Erde, wo er gelegen hatte, auf, richtete ſich ſtolz
empor und antwortete: „Senor, ich achte und liebe Sie,
aber in dieſer Sache gibt es nur einen Willen, und das
iſt der meinige. Dieſen Kolben aber werde ich nach dem
Wunſch meines Vaters verkaufen, um leben und lernen
zu können; wollten Sie ſich mir wirklich widerſetzen, ſo
würden Sie mich zwingen, ihn vorher im Kampf mit
Ihnen zu erproben!“
Hammer warf den Kopf ſtolz zurück. Er wollte
eine ſcharfe, vielleicht ironiſche Antwort geben, tat dies
aber doch nicht, ſondern erwiderte beruhigend: „So war
es nicht gemeint, mein junger Inka. Dein Entſchluß
— 564 —
iſt heroiſch und bewundernswert, wenn du den Wert
des Geldes kennſt. Ich bezweifle aber, daß dies der Fall
iſt. Uebrigens iſt das, was du ſagſt, noch nicht getan.“
„Ich werde es aber ſofort tun! Ich ſteige jetzt hin⸗
ab in den Stollen und zünde das Feuer an.“
„Um uns zu verraten und den Mörder deines Va⸗
ters entkommen zu laſſen? Ich kenne euer Feuer nicht,
befürchte aber, daß es eine Exploſion hervorbringt. Das
Geſtein wird auseinanderfliegen. Wenn dann der
Gambuſino mit Perillo kommt, ſo werden ſie, wenn ſie
die Spuren ſehen, ſich augenblicklich davonmachen.“
Hauka ſah ihm eine Weile forſchend ins Geſicht
und antwortete dann: „Sie haben recht, Senor; ich muß
noch warten. Zwar könnten wir dieſe Männer auf
eine andre Weiſe und an einem andern Ort fangen;
aber da die Mordſchlucht die beſte Falle für ſie iſt, ſo
darf ich Ihrem Plan nicht entgegen handeln.“
„Das meine ich auch,“ nickte Hammer befriedigt.
„Wir müſſen jedoch vorher genau erfahren, wann die
Feinde kommen, und brauchen alſo einen tüchtigen
Kundſchafter. Willſt du dieſen Poſten übernehmen?“
„Ja, ſehr gern,“ antwortete Hauka, der ſich ge⸗
ſchmeichelt fühlte, einen ſo wichtigen Auftrag zu bekom⸗
men. Er ahnte nicht, daß der Vater Jaguar zugleich die
Abſicht verfolgte, ihn von hier zu entfernen, damit er
ja keine Zeit und Gelegenheit fände, ſeinen offenbar
übereilten Vorſatz auszuführen. Darum fuhr Hammer
fort: „Du mußt aber ſofort aufbrechen, weil du nicht
reiten darfſt und der Weg zu Fuß fehr weit iſt. Reitend
würdeſt du Gefahr laufen, entdeckt zu werden.“
„Ich bin bereit, Senor. Sagen Sie mir nur, wie
weit ich gehen ſoll!“
— 565 —
„Zunächſt zurück bis zur Salina del Condor, wo
der Gambuſino vielleicht ſchon heute abend ankommen
wird.“
„Und wenn er nicht kommt?“
„So ſteht zu erwarten, daß er in einer Doppelhöhle
lagert, die von der Salina rückwärts in der Richtung
nach dem Guanacotal liegt, woher die Mojosindianer
kommen müſſen.“
„Ich kenne dieſe Höhle und werde mitgehen,“ fiel
da der alte Anciano ein. „Erlauben Sie das, Senor?“
„Sehr gern, denn vier Augen ſehen mehr als zwei.“
„Und wo werden wir Sie bei unſrer Rückkehr
treffen?“
„Da eure Ankunft erſt morgen früh zu erwarten
iſt, ſo werde ich dieſe Nacht bei den Gefährten zubrin⸗
gen, am Morgen aber wieder hier ſein, um euren Be⸗
richt zu hören. Nach ihm haben wir uns dann zu
richten. Es iſt vor allem nötig, daß du deine Freunde,
die Mojosindianer heimlich zu ſprechen und für uns zu
gewinnen ſuchſt.“
Er erhielt von Anciano eine Beſchreibung des We⸗
ges nach dem Bergloch und ritt dann mit Anton Engel⸗
hardt davon, indem er die beiden Maultiere der Pe⸗
ruaner mit ſich führte. Dieſe letzteren aber ſtiegen zu
Tal, indem ſie die Richtung nach der Salina del Condor
einſchlugen.
Sie kamen dort nach Einbruch der Dunkelheit an
und gingen dann, da ſie niemand fanden, weiter, um
die Höhle aufzuſuchen. Als ſie dieſe zu ſpäter Abend⸗
ſtunde erreichten, wurden ſie, wie bereits erwähnt, Zeu⸗
gen der Ermordung des Peon und der beiden Arrieros,
worauf ſie nach der Salina zurückeilten. Dort warteten
ſie und fanden nach einer Weile ihre Vermutung be⸗
— 566 —
ſtätigt, denn der Gambuſino langte mit den Indianern
dort an. Da er aber wegen Mangel an Holz kein Lager⸗
feuer machen konnte, ſo vermochten ſie nichts zu ſehen.
Auch zu lauſchen gab es nichts, weil die Feinde ſich ſehr
ſtill verhielten, und darum blieben ſie nur ſo lange, als
geraten war, wenn fie mit Tages anbruch wieder bei der
Mordſchlucht ſein wollten.
Dort trafen ſie den Vater Jaguar bereits ihrer
wartend und berichteten ihm das Ergebnis ihres Kund⸗
ſchafterganges. Das war viel und doch nicht viel. Sie
wußten, daß drei Männer erſchoſſen worden und drei
leben geblieben waren. Sie wußten auch, daß ſich bei
den letzteren die zwei kleinen, rot gekleideten Deutſchen
befanden, was Hammer ſehr in Harniſch brachte; aber
wer der dritte war, das wußten ſie nicht. Da ſie vor
allen Dingen verſuchen ſollten, die heranziehenden In⸗
dianer unvermerkt zu ſprechen, ſo mußten ſie ſich hinter
einem nahen, felſigen Hügel poſtieren, um dieſe bei
ihrer Ankunft zu beobachten, während Hammer zurück⸗
ritt, um die Gefährten näher heranzuholen und ihnen
die ganz unerwartete Mitteilung zu machen, daß der
unvermeidliche deutſche Gelehrte mit ſeinem Diener
ihnen wieder nachgefolgt und dabei abermals in die
Hände des Gambuſino gefallen ſei.
Dieſer letztere kam am frühen Vormittag mit An⸗
tonio Perillo, den acht Indianern und ſeinen drei Ge⸗
fangenen angeritten und machte an dem Rand der
Schlucht Halt, wo er die Maultiere entlaſten ließ. Die
Habgier trieb ihn, ſofort eine Unterſuchung der Schlucht
vorzunehmen, und da die Gefangenen doch auch Wert
für ihn hatten und er ſie den Indianern nicht anver⸗
trauen wollte, ſo mußten ſie mit in die Schlucht ge⸗
nommen werden. Man gab ihnen alſo die Beine frei,
— 567 —
daß ſie hinabklettern konnten. Unten aber, und zwar
im Hintergrund angekommen, wurden ihnen die Füße
wieder gefeſſelt; man band ſie an Steine, damit ſie ſich
auch nicht einmal durch Wälzen von der Stelle bewegen
konnten. Dann entfernten ſich der Gambuſino und Pe⸗
rillo, allerdings nicht weit, um ihre Nachforſchung zu
beginnen. Die Indianer waren oben zurückgeblieben,
da ihnen verboten worden war, die Schlucht zu betreten.
Zufälligerweiſe waren die Gefangenen gerade nach
der vorſpringenden Felſenſpitze, in deren hinterem Win⸗
kel der Eingang zum Stollen lag, gebracht und an drei
von den vier erwähnten großen Steinen gebunden wor⸗
den. Doktor Morgenſtern lag zufällig genau auf dem
Steingries, der die verborgene Maultierhaut bedeckte.
Als ſie ihre Peiniger ſo weit entfernt ſahen, daß ſie von
ihnen nicht gehört werden konnten, ſagte Fritze Kieſe⸗
wetter: „Da ſind wir nun bei unſrem Ziel anjelangt,
aber als Jefangene. Wenn der Vater Jaguar ſchon da
iſt, werden wir uns bald wieder auf unſre freien Füße
befinden.“ |
„Das gebe Gott!“ ſeufzte Engelhardt. „Es handelt
ſich um unſer Leben, denn ich bin überzeugt, daß dieſe
Schufte uns ermorden werden, ſobald ſie das Löſegeld
empfangen haben.“
Er riß vor Grimm an ſeinen Feſſeln und zerrte an
dem Stein, woran er hing. Dabei zog er ihn nach und
nach von der Stelle, wo er lag.
„Das glaube ich nicht,“ antwortete der Doktor.
„Sie haben uns ſchon einigemal gefangen genommen,
ohne einen Mord, lateiniſch Homicidium genannt, an
uns zu begehen.“
„Weil uns der Vater Jaguar immer raſch heraus⸗
— 568 —
jeholt hat,“ erklärte Fritze. „Läßt er uns diesmal
ſitzen, ſo iſt's um uns jeſchehen.“
„Gefangen zu ſein, während ich meinen Sohn in
der Nähe weiß!“ knirſchte der Bankier. „An Händen
und Füßen gefeſſelt und an einen Stein gebunden, wie
ein wildes Tier!“
Er zog wieder an dem Stein, der auf einer Ecke der
Haut lag und jetzt weiter verrückt wurde, ſo daß dieſe
nachgab. Sie begann ſich langſam unter Doktor Mor⸗
genſtern zu ſenken. Darum meinte dieſer: „Ich ſcheine
weich zu liegen, obgleich meine Unterlage aus Steinen
beſteht; denn ſie gibt nach. Ich ſinke tiefer.“
„Und ich wollte, ich könnte auch ſinken, tief in die
Erde hinein!“ fuhr Engelhardt grimmig fort. „Hätte
ich nur eine Hand frei, ich wollte mich bald meiner
Feſſeln entledigen, und dann wehe den Halunken!“
Er zog, zerrte und riß, daß der Stein immer weiter
rutſchte.
„Jeben Sie ſich keine Hoffnung hin!“ antwortete
Fritze. „Wen dieſer Jambuſino feſſelk, der kommt nicht
los; ich kenne das. Nicht wahr, Herr Doktor, wir haben
das erlebt?“ |
„Leider ja,“ antwortete der Gefragte. „Wir find
ſogar noch ſchlimmer daran geweſen als jetzt. Wir
haben ſchon am Baume gehangen und — — Herr —
Himmel — Jemineh — —!“
Er ſchrie vor Schreck laut auf, denn Engelhardts
Stein war jetzt vom Fell heruntergerutſcht; dieſes gab
nach, und der kleine Gelehrte fuhr mit den Beinen und
dem Oberleib in das Loch.
„Wat iſt denn los! Wohin wollen Sie verreiſen?“
fragte Fritze. „Soll dat etwa eine Abfahrt in die Unter⸗
oder Urwelt ſein?“
—
— 569 —
„Scherze nicht!“ jammerte der Kleine. „Ich ſtecke
in einem fürchterlichen Loch, lateiniſch Puteus genannt;
ich ſchwebe über einer entſetzlichen Tiefe, lateiniſch Vorago
oder Barathrum geheißen, und wenn der Strick zerreißt,
ſo bin ich verloren!“
Der kleine Gelehrte wog wohl nicht mehr als
neunzig Pfund, und. da der Stein, woran er mit dem
Strick befeſtigt war, weit über die Schwere eines Zent⸗
ners hatte, ſo wurde er von dieſem feſtgehalten. Den⸗
noch zeterte er ſo laut, daß der Gambuſino und Perillo
es hörten. Sie kamen herbei und waren nicht wenig
erſtaunt, ihren Gefangenen halb in der Erde verſchwun⸗
den zu ſehen. Sie zogen ihn heraus, und dabei kam ein
Teil der Maultierhaut zum Vorſchein.
„Was iſt das?“ fragte Perillo. „Ein Leder, womit
dieſes Loch bedeckt iſt! Am Ende haben wir — — —“
ö „Schweig!“ raunte ihm der Gambuſino zu. „Wir
ſind am Ziel. Das haben wir dem Zufall zu verdan⸗
ken. Die Gefangenen brauchen nicht zu ſehen, was wir
hier treiben. Schaffen wir ſie fort!“
Sie ſchleppten die drei Gefeſſelten eine genügende
Strecke fort, um unbeobachtet zu ſein, und kehrten dann
wieder nach dem Loch zurück, um es zu unterſuchen.
Sie fanden das Fell und entfernten es. Sie warfen
Steine in das Loch und hörten, daß es nicht tief war.
Darum ließ ſich der Gambuſino hinab. Schon nach
einigen Augenblicken rief er herauf: „Wir ſind am
rechten Ort. Es iſt gelungen! Hier liegen Talglichte.
Komm ſchnell herab, während ich eins anbrenne.“ Als
Perillo unten ankam, war das Licht ſchon in Brand
geſteckt. Sie achteten des Umſtandes nicht, daß auch ein
halbes dalag, dem man es leicht anſehen konnte, daß es
erſt vor kurzem im Gebrauch geweſen war, und drangen
— 570 —
langſam in den wagrechten Stollen ein. Indem ſte
vorſichtig weiterſchritten, teilten ſie ſich ihre Bemerkun⸗
gen und Hoffnungen mit. Sie befanden ſich in einer
fieberhaften Aufregung, die ſich faſt bis zum Wahnſinn
ſteigerte, als ſie endlich die hintere Kammer erreichten
und deren Inhalt erblickten. Sie ſtanden zunächſt
wie ſprachlos da und ließen ihre wonneglänzenden
Augen über alle dieſe Gegenſtände ſchweifen. Dann
rief der Gambuſino: „Entdeckt, entdeckt! Hier liegen
Millionen. Das haſt du mir zu danken.“
„Nein, du mir, mir, mir!“ entgegnete Perillo.
„Laß uns abſchätzen. Hier ſtecken viele Lichte in dieſen
Rinnen, jedenfalls, damit man bei ihrem Glanz dieſe
ungeahnten Reichtümer beſſer funkeln ſehen kann. Soll
ich ſie anbrennen?“
f
„„Ja, denn bei diefem einen Talgſtummel ift gar
nichts, gar nichts zu ſehen.“
Perillo riß dem Gambuſino das Licht aus der
Hand und hielt es an einen der bereits beſchriebenen
Dochte, der wie ein ganz gewöhnlicher Docht anbrannte.
Das kleine Flämmchen hatte zunächſt einen ruhigen,
hellen Schein; dann begann es zu flackern, wobei es eine
blaue Farbe annahm; hierauf ſprühte es plötzlich nach
allen Seiten Funken, an denen ſich die andern Dochte
entzündeten, und ſchoß alsdann gar zu einer bis an die
Decke reichenden Feuergarbe auf. Ein ſcharfer, unaus⸗
ſtehlicher Geruch oder vielmehr Geſtank verbreitete ſich
in den Raum. Schon brannten zehn, fünfzehn, zwan⸗
zig und noch mehr Lichte in den Rinnen. Sie flacker⸗
ten, glühten, ſprühten, pufften und lärmten.
„Was iſt das?“ fragte Perillo ganz betroffen. „Wer
hat ſchon einmal ſolche Lichte geſehen?“
8 — 571 —
„Was es iſt?“ antwortete der Gambuſino. „Unſer
Verderben iſt es, wenn wir nicht augenblicklich fliehen.
Dieſe Lichte ſind für unberufene Eindringlinge ange⸗
bracht. Alſo müſſen — —“
Er wurde von einem Knall unterbrochen, worauf
den Lichten feurige Schlangen entfuhren, die wie
zuckende Blitze in der Kammer umherfuhren und die
Kleider der beiden Männer ſogleich in Brand ſetzten.
„Fort, augenblicklich fort!“ ſchrie er und eilte in
den Stollen hinein, um ſo ſchnell wie möglich das Freie
zu erreichen. Perillo folgte ihm. Ihre Anzüge brann⸗
ten. Sie nahmen ſich aber nicht Zeit, ſie zu löſchen,
ſtießen rechts und links mit den Köpfen oben an dem
Stollen an. Noch hatten ſie dieſen nicht erreicht, ſo gab
es einen lauten Knall, unter dem die Erde erbebte.
„Ich brenne, ich verbrenne!“ brüllte Perillo.
„Ich auch,“ ſchrie der Gambuſino, indem er vor⸗
wärts ſtürmte. f
„Rette mich! Löſch meine Flammen!“
„Habe keine Zeit. Fort, fort, der Felſen explo⸗
diert!“
Er ſtürmte vorwärts, erreichte den Schacht und
ſchwang ſich hinaus ins Freie. Perillo folgte ihm auf
dem Fuße. Unten im Gang hatten ihre Anzüge mehr
geglimmt als gebrannt; jetzt aber in der freien Luft ent⸗
ſtanden helle Flammen, die ſofort über ihnen zuſam⸗
menſchlugen. Vor Entſetzen brüllend warfen ſie ſich
nieder und wälzten ſich auf dem Boden herum, um die
Flammen zu erſticken. Da tat es im Innern einen
zweiten Knall, einen dritten, vierten, fünften und ſechs⸗
ten, einer immer ſtärker als der andre. Die Schlucht
ſchien förmlich hin und her zu ſchaukeln; es war, als ob
alle ihre Felswände zuſammenbrechen wollten. Dann
— 572 — R
ſchoß ein ſchwerer, dicker, dunkler Rauch aus dem
Schachtloch hervor, begleitet von einem Ziſchen wie von
hundert Lokomotiven, worauf ein dumpfes Poltern
folgte, wie von unter der Erde dahinpolternden Kegel⸗
kugeln. Hierauf wurde es ſtill, aber der Rauch ſchoß
noch mächtig aus dem Mundloch des Schachtes und
hüllte das ganze hintere Tal in fiinfende Wolken, die
keine Geſtalt, keinen Gegenſtand erkennen ließen. Deſto
deutlicher aber hörte man das Schmerzgebrüll der beiden
noch immer ſich am Boden windenden und wälzenden
Menſchen.
Und der Vater Jaguar mit ſeinen Leuten?
Er hatte mit ihnen, ſie herbeiführend, eine Stelle
erreicht, die nur noch zehn Minuten von der Schlucht
entfernt war, als ihm Anciano und der Inka entgegen⸗
kamen. Erſterer meldete: „Senor, es iſt das „ſpitze
Meſſer“, der Häuptling der Mojos, mit ſieben Mann,
ein ſehr guter Freund von mir. Soll ich mit ihm
reden?“
„Ja; aber natürlich nur auf eine Weiſe, daß der
Gambuſino es nicht merkt.“
„Der kann es weder ſehen noch hören, denn er iſt
nach ſeiner Ankunft mit Perillo und den drei Gefan⸗
genen ſofort in die Schlucht hinab.“
„Meinſt du, daß das ſpitze Meſſer“ mit ſich reden
laſſen wird?“
„Ja. Ich bin überzeugt, daß er ſofort zu uns über⸗
geht, wenn er mich ſieht und zudem erfährt, daß Sie bei
mir find.“ |
„So lauf voran; wir kommen langſamer nach, da-
mit du einige Worte mit ihm reden kannſt, ehe er uns
ſieht.“ N ö
— 573 —
Anciano eilte fort, und die andern folgten ihm, feſt
überzeugt, heute gewiß zum Ziel zu gelangen. Noch
ehe ſie die Schlucht erreichten, kam ihnen der Alte wieder
entgegen. Er führte den Häuptling der Mojos an der
Hand und rief dem Vater Jaguar zu: „Hier iſt er,
Senor, hier iſt er. Er freut ſich, den berühmten Vater
Jaguar, den er noch nie geſehen hat, kennen zu lernen,
und will ſich gern auf unſre Seite ſchlagen.“
„Haſt du nur die ſieben Mann bei dir?“ fragte
Hammer den Häuptling.
„Ja, Senor.“
„Die zwei kleinen Gefangen kennen wir. Wer iſt
der dritte?“
„Ein reicher Seüor aus Lima, welcher Engelhardt
heißt und Bankier iſt.“
„Mein Vater, mein Vater!“ ſchrie da Anton auf,
indem er von ſeinem Maultier ſprang. „Aber es iſt
nicht möglich. Warum könnte er herübergekommen
fein?”
„Um feinen Sohn in Buenos Aires zu ſehen.“
„So iſt er's doch; er iſt's! Hinab, hinab, ihn zu
erretten!“ :
Sein Gewehr ſchwingend, eilte er der Schlucht zu
und war gleich darauf von deren Rand verſchwunden.
Die andern wollten ihm nach, doch der Vater Jaguar
gebot: „Halt! Nicht alle hier hinab. Sechs Mann
reiten um die Schlucht und ſtellen ſich jenſeits auf, da⸗
mit da drüben niemand entkommen kann.“
Daraufhin galoppierten ſechs Reiter fort. Die
übrigen ließen ſich aber nun nicht länger halten; ſie
ſprangen aus den Sätteln und kletterten, Hammer und
— 574 —
die Indianer mit ihnen, fo ſchnell wie möglich in die
Schlucht hinab. Noch waren ſie nicht unten, ſo ſahen
ſie zwei brennende Geſtalten aus dem Schacht klettern;
ſie hörten deren Gebrüll und darauf mehrere Explo⸗
ſionen.
„Die Hunde haben den Stollen entdeckt und das
Feuer angezündet,“ rief der Vater Jaguar ergrimmt.
„Jetzt iſt der Schatz verloren!“
Alle rannten, ſo ſchnell ſie konnten, nach dem von
Rauch erfüllten hinteren Teil der Schlucht, ihnen voran
Anton und der Inka, der ihm am ſchnellſten gefolgt
war. Die beiden Knaben ſahen die Gefangenen liegen
und ſprangen zu ihnen hin.
„Mein Vater, mein Vater!“ rief Anton, indem er
ſich neben dem Bankier niederwarf, um ihn zu um⸗
armen und zu küſſen, und dann ſeine Feſſeln zu durch⸗
ſchneiden. |
Niemand hatte ein Auge für diefe Begrüßungs⸗
ſzene, denn die Blicke aller waren auf die hintere Fel⸗
ſenwand gerichtet, wo zwei Geſtalten mühſam und unter
vor Schmerz zuckenden Bewegungen emporklimmten.
Der Gambuſino und Perillo waren es. Sie hatten die
Nahenden bemerkt und trotz ihrer halb verbrannten
Leiber an die Flucht gedacht, die nur nach dieſer Rich⸗
tung möglich zu ſein ſchien. Aber da erſchienen jetzt die
ſechs Reiter oben, und der Vater Jaguar rief befriedigt:
„Haltet ein! Laßt die Schurken immer ſteigen! Sie
werden oben in Empfang genommen.“
Er wendete ſich zu den Gefangenen, um zunächſt
Engelhardt zu begrüßen, und dann die beiden Kleinen
im Ton des Zornes zu fragen: „Welcher Teufel hat Sie
— 575 —
uns denn abermals nachgeſchickt? Konnten Sie es
denn ſelbſt bei Ihrem Rieſentier nicht aushalten?“
| „Nein,“ antwortete der allezeit fertige Fritze. „Der
Rieſenſpitzbube, den wir fangen wollten, war noch viel
jrößer.“
„Aber er hat euch wieder gefangen, anſtatt ihr
ihn!“
„Dat war nur Verſtellung von uns. Wir taten
nur ſo, um ihn hierher in dat Loch zu bringen, wo er
in Brand jeraten iſt. Fragen Sie meinen Herrn! Der
hat ihm voran in dat Loch jeſteckt.“
„Jawohl!“ beſtätigte der Privatgelehrte. „Die
Erde tat ſich unter mir auf, und ich verlor den Grund
und Boden, lateiniſch Solum genannt — — —“
„Sie ſind ein unverbeſſerlicher Faſelhans,“ unter⸗
brach ihn Hammer, „und faſſen jedes Ding, lateiniſch
Res genannt, beim falſchen Ende an. Meine Geduld
mit Ihnen, lateiniſch Placabilitas, Clementia und
auch Mansuetudo geheißen, iſt nun zu Ende. Ich mag
von Ihnen nichts mehr wiſſen!“ f
Morgenſtern ſtand mit offenem Mund da, als er
unerwartet lateiniſche Brocken an den Kopf geworfen
bekam. Hammer aber hatte ſeine Worte zuletzt nicht
mehr ernſt gemeint und wendete ſich, innerlich lachend,
von dem Verblüfften ab.
Der Gambuſino und Perillo hatten jetzt die Höhe
erſtiegen und ſahen da zu ihrem Entſetzen die ſechs
Männer ſtehen, von denen fie wieder zurück- und hinab⸗
getrieben wurden. Unten angekommen, wurden ſie zu dem
Vater Jaguar gebracht. Sie widerſtrebten nicht, denn der
fürchterliche Schmerz, den ihre entſetzlichen Brandwun⸗
den verurſachten, machte jeden Widerſtand völlig un⸗
— 576 —
möglich. Ihr Anblick war grauenhaft. Alle ihre Klei⸗
dungsſtücke waren ihnen bis auf einige Zunderfetzen
vom Leibe gebrannt, und ſchwere, unheilbare Wunden
bedeckten alle ihre Glieder. Es gehörte gar nicht das
Auge eines erfahrenen Arztes dazu, um einzuſehen, daß
dieſe Verletzungen tödlich ſeien.
„Benito Pajaro, kennſt du mich noch?“ fragte Ham⸗
mer den Gambuſino.
„Ja,“ antwortete dieſer, von Qualen gefoltert. „Ich
bin der Mörder deines Bruders. Töte mich, aber ſo
raſch wie möglich!“
„Das wäre eine Wohltat für dich. Wieviel Men⸗
ſchen haſt du auf deinem Gewiſſen? Erſt geſtern abend
wieder drei! Gott hat gerichtet; ich bin gerächt und
greife ihm nicht vor. Du biſt frei und kannſt gehen,
wohin du willſt.“
„Töte mich, töte mich!“ bat der Gefangene, denn
auch er ſah ein, daß ein ſchneller Tod eine Gnade für
ihn ſei.
„Nein!“ antwortete Hammer feſt.
„So fahre ſelbſt auch zum Teufel, und ſei ver⸗
flucht!“
Indem er dieſe grauſigen Worte ausſprach, entriß
er dem unvorſichtig neben ihm ſtehenden Anton Engel⸗
hardt das geladene Doppelgewehr, legte blitzſchnell auf
den Vater Jaguar an, drückte ab und jagte dann ſich
ſelbſt, ehe man es verhindern konnte, die zweite Kugel
durch den Kopf. Zum Tod getroffen, brach er zuſam⸗
men; er hatte als beiſpielloſer Böſewicht gelebt und als
ſolcher geendet, aber doch ſeine letzte Abſicht nicht er⸗
reicht, denn Hammer war ebenſo ſchnell, wie auf ihn
gezielt worden war, zur Seite geſprungen und der
— 577 —
Kugel entgangen. Ohne ein Wort darüber zu verlieren,
deutete er auf Antonio Perillo und ſagte zu Haukaro⸗
pora: „Hier ſteht der Mörder deines Vaters. Er iſt
dein.”
„Er gehört auch mir!“ fiel da der kleine Gelehrte
ein. „Er hat in Buenos Aires auch meine Ermordung,
lateiniſch Trucidatio, geplant.“
Niemand hörte auf ihn. Der Inka ſah dem Stier⸗
kämpfer finſter in das angſt⸗ und ſchmerzverzerrte Ge⸗
ſicht und ſagte dann: „Ich will nicht hart, ſondern
gnädig ſein. Er ſoll nicht lange Qualen erleiden, ſon⸗
dern raſch ſterben.“
Er legte ſein Gewehr auf den Mörder an. Da
ſank dieſer vor ihm in die Knie und flehte ihn an:
„Nicht töten, nicht töten! Laß mich leben!“
„Gut, ſo lebe noch, um nach zwei oder drei Tagen
wie ein Hund zu ſterben,“ antwortete Hauka, indem er
ſein Gewehr ſenkte und ſich verächtlich von ihm wendete. 7
Kein Menſch bekümmerte ſich um den Feigling,
der zwiſchen den Steinen zuſammenbrach und da wim⸗
mernd liegen blieb. Man wollte gern erfahren, welche
Vernichtung das Feuer in der unterirdiſchen Kammer
angerichtet hatte. Es hatte deren Decke zerſprengt und
da einen Riß in den Felſen getrieben, durch den noch
jetzt der Rauch ausſtrömte. Dadurch war eine Venti⸗
lation entſtanden, die den Stollen von ſchädlichen Gaſen
reinigte, und es ermöglichte, daß man ihn ſchon nach
einer Stunde betreten konnte. In die Schatzkammer
aber vermochte niemand den Fuß zu ſetzen; deren Boden
war verſchwunden und durch die Gewalt der Explo⸗
ſionen mit allen Schätzen, die ſich da befunden hatten,
im den gähnenden Schlund des erwähnten Felſenſpaltes
May, Das Vermächtnis des Inka 37
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gedrückt und geſchleudert worden. Haukaropora ſagte
ruhig lächelnd zum Vater Jaguar: „Sie ſehen, Senor,
daß die Vorſehung mir recht gegeben hat. Das Erbe iſt
fort; das Vermächtnis meines Vaters, des Inka, aber
trage ich wohlverwahrt hier auf der Bruſt. Sein letzter
Wunſch und Wille wird in Erfüllung gehen.“
Der Schacht wurde mit Steinen verſchüttet; dann
ſtiegen die Männer nach oben, um da zu lagern und
das Geſchehene zu beſprechen. Am meiſten hatten ſich
Anton und ſein Vater zu erzählen, da ſie ſo lange ge⸗
trennt geweſen waren. Als der letztere hörte, welchen
Plan der Inka in Beziehung auf ſeine Zukunft gefaßt
hatte, erbot er ſich, ihm den maſſiv goldenen Streit⸗
kolben abzukaufen und nach deutſchem Geld für das
Pfund 1400 Mark zu zahlen, was bei der Schwere der
Waffe eine Summe ergab, durch deren Benutzung ſich
der Abkömmling der Sonnenſöhne eine ſichere Zukunft
zu gründen vermochte.
Man blieb bis zum andern Morgen oben lagern.
Während der ganzen Nacht war das Wimmern und
Stöhnen Antonio Perillos zu hören; nach Tagesanbruch
fand man ihn zuſammengekrümmt und tot zwiſchen den
Steinen liegend. Die Leichen der beiden Mörder wur⸗
den unter dem Geröll begraben; dann brachen die Reiter
auf, um über Salta und Tucuman zu den befreundeten
Cambas zurückzukehren. Engelhardt und ſein Sohn
hatten eigentlich von Tucuman aus einen andern Weg,
ſchloſſen ſich aber gern den Freunden an, die bei den
Cambas natürlich einen ſehr freundlichen Empfang
fanden.
Dort hatte der Doktor Parmeſan Rui el Ibario
auf ſie gewartet. Als er erfuhr, was geſchehen war,
rief er bedauernd aus: „Wie ſchade, daß ich nicht mit
— 579 —
den beiden deutſchen Gelehrten nachgekommen bin! Die
beiden verbrannten Mörder wären am Leben geblieben,
denn ich hätte die große und einzig daſtehende Operation
gemacht, ihnen die verſengte Haut vom Körper zu ſchnei⸗
den und dadurch der unterbrochenen Transſudation
Luft zu machen. Sie wiſſen ja, ich ſäble alles herunter.“
Der Aufenthalt bei den Cambas wurde benutzt,
dem Doktor Morgenſtern beim Zerlegen und Verpacken
ſeines Rieſentieres beizuſtehen. Die einzelnen Teile
ſollten auf Packpferden befördert werden. Dann zog die
Hälfte der Truppe des Vater Jaguar in die Wälder, um
Paraguaytee zu ſammeln, während die andern, unter
Anführung Hammers, Engelhardt, ſeinen Sohn, Mor⸗
genſtern und Fritze nach Buenos Aires begleiteten. Der
Inka war mit ſeinem Anciano auch dabei, da der
letztere ſeine Bereitwilligkeit erklärt hatte, die Seereiſe
nach Deutſchland mit ihm zu unternehmen.
Jahre ſind ſeitdem vergangen. Leider ſoll der
Name der deutſchen Stadt nicht genannt werden, wo
Doktor Morgenſtern ſeinen Studien lebt. Er iſt durch
ſein Megatherium berühmt geworden und unternimmt
mit ſeinem treuen Fritze zuweilen eine Reiſe in ferne
Gegenden, um das Skelett eines Urmenſchen zu ent⸗
decken. Nächſtens wird er zu dieſem Zweck nach Si⸗
birien gehen. Der Inka hat die Forſtakademie in Tha⸗
randt beſucht und iſt Forſtmann und Jäger geworden,
in welchem Beruf ihn der nun uralte Anciano noch
immer rüſtig unterſtützt. Engelhardt lebt als Rentier
am ſchönen grünen Rhein, wo Anton mit ſeinem Bru⸗
der eine bedeutende Weinhandlung gegründet hat. Der
Vater Jaguar aber ſtreift noch immer durch die Pam⸗
pas und den Gran Chaco, die ihm zur zweiten Heimat
A
il 3
— 580 —
geworden ſind, ohne daß er jedoch ſein deutſches Vater⸗
land vergeſſen kann.
Alle dieſe Perſonen aber korreſpondieren lebhaft
und freundſchaftlich miteinander, und ſtets bezieht ſich
ein Teil des Inhalts der Briefe auf die gemeinſchaft⸗
lichen Erlebniſſe, denn das Haupt⸗ und Lieblingsthema
iſt und bleibt bei ihnen für alle Zeit
„Das Vermächtnis des Inka.“