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Full text of "Der blaurote Methusalem. Eine lustige Studentenfahrt nach China"

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Karl May's 
Geſammelte Werke 


nun, Band AO vum 
Der blaurote Methuſalem 


Karl⸗May⸗Verlag 
Radebeul bei Dresden 


Der 


blaurote Methuſalem 


Eine luſtige 
Studentenfahrt nach China 


von 


Karl May 


Unna 


Karl⸗May⸗Verlag 
Radebeul bei Dresden 


Das Recht der Überfesung 


in fremde Sprachen bleibt vorbehalten 


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Al Inhalt 

Seite 
Erſtes Kapitel. Kong⸗kheou, das Ehren wort 1 
Zweites Kapitel. „Tſching, tſching, tſchin7“)U „ 2 
Drittes Kapitel. Ein Dauerlauf in der Sänfte 50 
Viertes Kapitel. Mijnheer Willem van Aardappelenboſch. 65 
Fünftes Kapitel. Auf der „Schui⸗heu“ nach Kanton 94 
Sechſtes Kapitel. Eine Geiſterbeſchwö'run ggg 119 
Siebentes Kapitel. Unter Piraten 142 
Achtes Kapitel. In Not und Gefah tet 169 
Neuntes Kapitel. Das Ende der Raubdſchunke . 196 
Zehntes Kapitel. Landeinwärt ss. 233 
Elftes Kapitel. Der Götterrannnnunn . 283 
Zwölftes Kapitel. Der Tempelbeſuch und ſeine Folgen 319 
Dreizehntes Kapitel. Hinter Schloß und Riegel.. 375 
Vierzehntes Kapitel. Zu Waſſer und zu Lande nach Hu⸗nan 416 
Fünfzehntes Kapitel. Die Schatzgräber und die Hoei⸗hoei . 467 
Sechzehntes Kapitel. Unter dem Schutz des Bettlerkönigs. 494 
Siebzehntes Kapitel. „Was iſt des Deutſchen Vaterland?“ 521 
Achtzehntes Kapitel. Kong⸗kheou, das Ehrenwort . . 562 


Druck der Spamerſchen Buchdruckerei in Lelpzig 


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Erſtes Kapitel. 


Rong⸗kheou, das Ehrenwort. 


Mein lieber Leſer, haſt du vielleicht den „blau⸗ 
roten Methuſalem“ gekannt? Ganz gewiß, wenn du 
nämlich in der betreffenden Univerſitätsſtadt zu Hauſe 
biſt oder jemals als Gaſt dort geweilt haſt. Er war das 
lebendige Wahrzeichen der dortigen Alma mater. Nie⸗ 
mand konnte an ihm vorüberſehen, und wer ihn einmal 
erblickt hatte, dem war es unmöglich, ihn wieder zu 
vergeſſen. 

Er wohnte ſeit wer weiß wie vielen Semeſtern im 
Pfeffergäßchen und ſtudierte — ja, wer konnte das wohl 
ſagen! Wem es eingefallen wäre, ihn danach zu 
fragen, dem hätte er mit der Klinge geantwortet, und er 
war als der beſte Schläger bekannt und gefürchtet. 

Zur ganz beſtimmten Minute trat er aus dem 
Haufe, in deſſen Parterre der chineſiſche Teehändler Ye⸗ 
Kin⸗Li einen prächtig eingerichteten Verkaufsladen 
beſaß, ſchritt, gefolgt von ſeinem Wichſier, die Straße 
entlang, bog rechts in die Humboldtſtraße ein und ver⸗ 

May, Der blaurote Methuſalem. 1 


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ſchwand dort in der Türe des „Geldbriefträgers von 
Ninive“. So nämlich nannten die Studenten dieſes 
vielbeſuchte Bierlokal. Genau zu einer ebenſo be⸗ 
ſtimmten Minute verließ er dasſelbe, um nach ſeiner 
Wohnung zurückzukehren. 

Das geſchah täglich dreimal: vormittags, nach⸗ 
mittags und abends, und zwar mit ſolcher Regel⸗ 
mäßigkeit, daß die Anwohner der Humboldtſtraße und 
des Pfeffergäßchens es ſich angewöhnt hatten, ihre 
ſtehen gebliebenen oder falſch gehenden Uhren nach ihm 
zu richten. 

Eines Tages aber warteten ſie vergeblich auf ſein 
Erſcheinen. Man wunderte ſich; man ſchüttelte den 
Kopf. Als er auch am nächſten Tag nicht erſchien, 
begann man, bedenklich zu werden. Am dritten Tag 
beſchloß man, Frau Stein, ſeine Wirtin, zu interviewen, 
und erfuhr auf dieſem Weg, daß er die Miete auf zwei 
Jahre vorausbezahlt habe und dann verſchwunden ſei. 
Wohin? Das war nicht zu erfahren. Und den Sohn 
der Wirtin hatte er mitgenommen! Dieſe mußte das 
Ziel der Reiſe kennen, und da ſie ſich kein Wort darüber 
entlocken ließ, ſo handelte es ſich jedenfalls um ein Ge⸗ 
heimnis, deſſen Enthüllung man der Zukunft überlaſſen 
mußte. 

An jenem Vormittag, an dem der „blaurote Me⸗ 
thuſalem“ zum letztenmal im „Geldbriefträger von Ni⸗ 
nive“ geſehen worden war, hatte er ſelbſt keine Ahnung 
davon gehabt, daß er am Nachmittag nicht wiederkom⸗ 
men und ſogar für viele Monate ſich fern vor hier be⸗ 
finden werde. 

Wie gewöhnlich ſchritt er in gravitätiſcher, bären⸗ 
hafter Langſamkeit die Humboldtſtraße zurück und er⸗ 
götzte ſich im ſtillen über die Aufmerkſamkeit, die er 


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heute wie ftet3 erregte. Seine Erſcheinung war frei⸗ 
lich auffallend genug. 

Er war von hoher, breiter, wahrhaft hünenartiger 
Geſtalt und trug ſein Hektoliterbäuchlein mit dem An⸗ 
ſtand eines chineſiſchen Mandarinen erſter Klaſſe. Sein 
Geſicht war von einem dunklen, wohlgepflegten Voll⸗ 
bart eingerahmt und zeigte die Fülle und Farbe eines 
braven Germanen, der ſich darüber freut, daß die 
deutſchen Biere längſt ihren Triumphzug um die Erde 
vollendet haben. Quer über dieſes Geſicht zog ſich eine 
breite Narbe, die Naſe in zwei ungleiche Hälften teilend 
— aber was für eine Naſe! Urſprünglich war ſie wohl 
das geweſen, was man eine Habichtsnaſe nennt; nach 
und nach aber hatte die Schärfe ihres Schnitts ſich ge⸗ 
mildert, um einer Fülle zu weichen, die von Semeſter 
zu Semeſter bedenklicher geworden war. Dazu war eine 
Färbung getreten, die mit der Zeit alle zwiſchen dem 
lieblichen Fleiſchrot und einem tiefen Rotblau liegenden 
Abſtufungen durchlaufen hatte. Der Beſitzer dieſer 
Naſe behauptete freilich, daß die Säbelwunde an der 
Färbung ſchuld ſei; ſeine Korpsbrüder hingegen waren 
andrer Meinung. O Jugend, bewahre dich vor ähn⸗ 
lichem Ungefähr! 

Mag dem nun aber ſein, wie es wolle; dieſer Naſe 
und der Anzahl ſeiner Semeſter hatte er den Namen 
„der blaurote Methuſalem“ zu verdanken. 

Er trug einen blauſamtenen Schnurenrock, eine rote 
Weſte, weiße Lederhoſen und hohe, lacklederne Stulpen⸗ 
ſtiefel, an denen ungeheure Sporen klirrten, die mexi⸗ 
kaniſchen Urſprungs waren und deren Räder einen 
Durchmeſſer von dritthalb Zoll beſaßen. Auf den lang 
herabwallenden, dichten Locken ſaß ein rotgoldenes Ce⸗ 
revis. Die Hände trug er weltverächtlich in den Hoſen⸗ 


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taſchen. Zwiſchen den Zähnen hielt er das Mundſtück 
einer perſiſchen Waſſerpfeife, deren Rauch er in dicken 
Schwaden von ſich ſtieß. 


Vor ihm her ſchritt gewichtig ein rieſiger Neufund⸗ 
länder, der das zwei Liter faſſende Stammglas ſeines 
Herrn im Maul trug. 


Hinter dem letzteren folgte der Wichſier, in der 
linken Hand die Waſſerpfeife tragend, deren Kopf we⸗ 
nigſtens ein Pfund Knaſter faßte. Ihr vier Ellen langer 
Gummiſchlauch führte nach dem Munde des qualmen⸗ 
den Studenten. In der rechten Hand, geſchultert wie 
ein Schießgewehr, hielt der Wichſier einen langen, dün⸗ 
nen Gegenſtand, in welchem die Begegnenden zu ihrem 
Erſtaunen eine — — Oboe erkannten; dieſes merkwür⸗ 
dige Inſtrument hatte die edle Beſtimmung, im „Geld⸗ 
briefträger von Ninive“ die Bierſignale zu geben und 
die zahlreichen „Hochs“, „Hurras“ und „Rundgeſänge“ 
zu begleiten. 

Der Pfeifen⸗ und Oboeenträger ſchien, ganz ebenſo 
wie ſein Herr, ein Original zu ſein. Er hatte eines 
jener Geſichter, deren Alter ſich nicht beſtimmen läßt. 
Es war von unzähligen kleinen Runzeln und Furchen 
durchzogen, ſo daß von eigentlichen Zügen keine Rede 
ſein konnte. Sah man ihn in ſtolzem Ernſt, nur auf 
ſeinen Herrn achtend, hinter dieſem herſchreiten, ſo war 
man verſucht, ihn für weit über vierzig Jahre alt zu 
halten. Fand man jedoch zu guter Stunde die Gelegen⸗ 
heit, das liſtige Blinzeln ſeiner kleinen Aeuglein zu be⸗ 
obachten, ſeine gewandten Bewegungen zu bemerken und 
ſich von ſeiner ſtets ſchlagfertigen geiſtigen Munterkeit 
zu überzeugen, ſo ſchätzt man ihn nicht viel über zwanzig 
Jahre. Auf darauf bezügliche Fragen antwortete er nie. 


5 


Er hielt ſein Alter ebenſo wie die Semeſter ſeines Herrn 
und Gebieters in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt. 

Seine lange, ſchmale Geſtalt war faſt genau ſo ge⸗ 
kleidet wie der „Methuſalem“, nur daß ihm anſtatt des 
Cerevis eine weißleinene, ſchirmloſe Mütze, wie Köche 
und Konditoren ſie tragen, auf dem kurz geſchorenen 
Haupt ſaß. 

So ſchritten fie die Humboldtſtraße und dann das 
Pfeffergäßchen entlang, voran der Hund, dann der Herr 
und hinter dieſem der Wichſier, einer gerade ſo würde⸗ 
voll und gemeſſen wie der andre. Lächelnd blickte man 
ihnen nach. 

Eben als ſie in den Flur des heimatlichen Hauſes 
einbiegen wollten, wurde die Tür des chineſiſchen Ladens 
geöffnet und der Beſitzer trat heraus, in die weite, ori⸗ 
ginelle Tracht des „himmliſchen Reiches“ gekleidet. Er 
hatte mit dem Studenten Freundſchaft geſchloſſen, von 
ihm ſich in der deutſchen Sprache, die er, als er ſich hier 
niederließ, nur gebrochen ſprach, unterrichten laſſen und 
ihm dafür ſo viel vom Chineſiſchen beigebracht, daß der 
„Methuſalem“ deſſen recht leidlich mächtig war. 

„Tſching!“ grüßte der Teehändler, indem er ſich ver⸗ 
neigte. 

„Tſching tſching, mein lieber Ye⸗Kin⸗Li!“ antwor⸗ 
tete der Student in ſeinem tiefen Bierbaß. „Wollen Sie 
ausgehen?“ 

„s ſche tſche, Tſchu — ja, Herr. Auf die Polizei.“ 

„Zur Polizei? Was haben Sie denn mit den Herren 
dort zu tun? Haben Sie einen verlorenen Hausſchlüſſel 
gefunden? Oder ſollen Sie wegen gefälſchten Tees in 
Strafe genommen werden?“ 

Der Chineſe ließ ſeinen Zopf zärtlich durch die 
Hände gleiten, zog die haarloſen Brauen empor und ant⸗ 


8 


wortete in verbindlichem Ton: „Es gefällt Ihnen, zu 
ſcherzen! Ye⸗Kin⸗Li wird niemals Strafe zahlen, denn 
alle Waren ſind echt, rein und ſpottbillig. Ich habe 
einen Brief aus der Heimat erhalten, den ich abgeben 
ſoll. Da der Name des Empfängers nicht im Adreßbuch 
ſteht, ſo muß ich mich im Einwohneramt erkundigen.“ 

„Deſſen bedarf es nicht, mein Verehrteſter. Das 
zuverläſſigſte Adreßbuch iſt hier vorhanden“ — er deutete 
nach ſeiner Stirn — „ich werde nicht umſonſt Methuſalem 
genannt. Viele wurden geboren, und viele ſtarben; Tau⸗ 
ſende kamen als grüne Füchſe und gingen fort als 
bleiche Philiſter; ich allein blieb ſtehen als Fels im 
fliegenden Sand, und ihre Namen ſind eingetragen in 
den noch ungedruckten Annalen meines Genius. Wie 
lautet denn die Adreſſe?“ 

Der Teehöndler zog einen Brief aus ſeinem weiten 
Aermel und zeigte denſelben hin. Die Chineſen be⸗ 
nutzen bekantlich die Aermel als Taſchen. Der Brief 
trug weder Marke noch Stempel; er war alſo jedenfalls 
als Einlage nach Deutſchland gelangt. Die nicht mit 
Feder, ſondern mit Pinſel geſchriebene Adreſſe lautete: 
„Dem Volksſchullehrer Joſeph Ferdinand Stein oder 
deſſen Verwandten, früher wohnhaft Obergaſſe 12 par» 
terre.“ 

Der Student blickte nachdenklich und kopfſchüttelnd 
auf das Papier. „Hm!“ ſagte er. „Der Mann iſt alſo 
nicht im Adreßbuch zu finden?“ 

„Nein.“ 

„Auch ich weiß, daß kein Lehrer dieſes Namens hier 
angeſtellt iſt. Wahrſcheinlich iſt der Adreſſat verſtorben 
und — ah! Heureka! Vielleicht iſt meine Wirtin feine 
Witwe! Vertrauen Sie mir den Brief auf einige Augen⸗ 


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blicke an, lieber Freund! Ich reite im Galopp hinauf 
und bringe Ihnen dann per Extrazug Beſcheid.“ 

Er eilte davon, ins Haus hinein. Hund und Wich⸗ 
ſier waren mit ihm ſtehen geblieben. Beide waren auf 
dieſen plötzlichen Aufbruch ihres Herrn nicht gefaßt ge⸗ 
weſen. Der Neufundländer ſprang raſch zur Seite; der 
Wichſier aber war weniger behend. Der „Methuſalem“ 
hatte während der Unterredung den Pfeifenſchlauch er⸗ 
griffen und nun beim Forteilen deſſen Spitze wieder in 
den Mund geſteckt. Wäre der Wichſier ſofort nach⸗ 
geſprungen, ſo hätte er das folgende Unglück vermieden; 
ſo aber zögerte er einen Augenblick, der Schlauch wurde 
angeſpannt und ihm dadurch die Waſſerſpitze aus der 
Hand geriſſen. Er wollte, um ſie zu retten, nach ihr 
greifen, gab dadurch aber ihrem Falle eine ſolche Rich⸗ 
tung, daß ſie auf den Neufundländer flog und dann zur 
Erde ſtürzte, wo das Waſſerbaſſin in Scherben zerbrach. 
Der Kopf hatte ſeinen glühenden Inhalt auf den Hals 
des Hundes ergoſſen; der übrige Teil wurde von dem 
eilfertigen Studenten mit bis zur halben Treppe geriſſen. 
Dann bemerkte der letztere, daß hinter ihm nicht alles in 
Ordnung ſei. Er blieb ſtehen und drehte ſich um. 

Da ſah er, daß er nur den Schlauch mit dem Fuß 
der Pfeife im Beſitze hatte. Der Hund heulte laut, denn 
ſeine Kopfhaare begannen zu glimmen, und der Wichſier 
war über ihn weggeſtürzt und lag mit der Oboe an der 
Erde. Dabei ſtand der Chineſe, ſchlug die Hände zu⸗ 
ſammen und rief erſchrocken: „O Nieou⸗nieou⸗nieoul! 
Chi⸗ichin! Chi⸗nieou!“ 

Das alles machte einen ſo drolligen Eindruck, daß 
der Student gar nicht an den Verluſt der teuren Pfeife 
dachte, ſondern lachend von der Treppe herabrief: „Aber, 
Gottfried von Bouillon, was haſt du da angerichtet!“ 


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Der Wichfier des „Methuſalem“ wurde nämlich aus 
nicht mehr bekannten Gründen von ſämtlichen Stu⸗ 
denten „Gottfried von Bouillon“ genannt. Er ſprang 
von der Erde auf und antwortete mehr zornig als ver⸗ 
legen: „Wat ich anjerichtet hab'? Als wie ich? Da hört 
mir allens off, allens, und die Umdrehung der Erde 
dazu! Wer hat mich denn die wäſſerige Hukah aus der 
Hand jeriſſen und mir mit ſamt der Oboe parterre je⸗ 
bracht? Da jeht man in aller Würde und Feierlichkeit 
von Jott Bachuſſen zu ſeine heimiſchen Penaten, und 
kaum iſt man in das Oſtium jetreten, ſo ſteht ein Mann 
des Zopfes da und ſchreit einen mit Nieou an! Wat hat 
des zu bedeuten?“ 

Dieſe zornige Frage war an den Chineſen gerichtet. 
An deſſen Stelle antwortete der Student: „Nieou heißt 
zu deutſch Ochſe. Dreimal hintereinander bedeutet es 

alſo dreifacher Wiederkäuer.“ 
| „Schön! Und Chi⸗tchin?“ 

„Ein Tölpel, ein langſamer Sancho Panſa.“ 2 

„Noch ſchöner! Herr Ye⸗Kin⸗Li, Sie wollten ſich ſo⸗ 
eben zur Polizei bejeben; det haben Sie nicht nötig, 
denn ich werde Ihnen hinführen laſſen. Sie werden ar⸗ 
retiert. Vorher aber will ich Sie zeigen, wie ein muſi⸗ 
kaliſch approbierter Europäer auf ſolche Beleidigungen 
mit ſeinem Lieblingsinſtrument antwortet.“ 

Er hob die Oboe vom Boden auf, fällte ſie wie ein 
Gewehr und drang dann damit auf den Chineſen ein. 
Dieſer war keineswegs ein Held und hielt es für das 
beſte, das Haſenpanier zu ergreifen. Er floh in ſeinen 
Laden und riegelte deſſen Tür hinter ſich zu. 

„So, da iſt er mit jütiges Verſchwinden hinter ſeine 
Kuliſſen jegangen,“ lachte Gottfried von Bouillon. „Ich 
habe jeſiegt, verzichte aber darauf, Viktoria ſchießen zu 


— 9 — 


laſſen und werde mir lieber bemühen, dieſe Ueberreſte 
einer ſeligen Vergangenheit einem glücklichen Verjeſſen⸗ 
ſein entjegenzuführen.“ 

Er ſuchte die Scherben zuſammen. Sein Herr warf 
ihm den Waſſerſchlauch zu und ging nach oben, um bei 
ſeiner Wirtin einzutreten. 

Dieſe bewohnte ein Stübchen, woran ein kleines 
Schlafgemach ſtieß. Die andren Räume ihrer Wohnung 
hatte ſie an den Studenten vermietet, um dadurch ihre 
dürftige Lage ein wenig zu verbeſſern. Sie war die 
Witwe eines Lehrers und bezog eine ſehr klägliche Pen⸗ 
ſion; manche Nacht hindurch mußte ſie am Nähtiſchchen 
oder Stickrahmen ſitzen, um die Not von ſich und ihren 
drei Kindern fern zu halten. 

Erſt von dem Tag an, an dem der „Methuſalem“ zu 
ihr gezogen war, hatte ihre gedrückte Lage eine Aende⸗ 
rung zum Beſſeren erfahren. Die vorherigen Mieter 
waren keine guten Zahler geweſen und hatten der braven 
Frau manche ſchwere Sorge bereitet; er aber war reich 
und beſaß ein gutes Herz. Er bezahlte nicht nur ſeine 
Miete ſehr regelmäßig, ſondern ließ ſeiner Wirtin auch 
manche unerwartete Einnahme zufließen. Er hatte gar 
bald eine herzliche Zuneigung zu den wohlgeſitteten Kin⸗ 
dern gefaßt, hörte es gern, wenn ſie ihn in zutraulicher 
Weiſe Onkel nannten und ſchien ſich im ſtillen die Auf⸗ 
gabe geſtellt zu haben, wie ein wirklicher Verwandter für 
ihr Wohlergehen Sorge zu tragen. 

Richard, der älteſte Sohn der Witwe, war ein ſehr 
begabter Knabe. Seine Lehrer liebten ihn und rieten 
ſeiner Mutter, ihn ſtudieren zu laſſen. Leider aber war 
ſie dazu zu arm. Das ſtimmte ſie traurig. Sie wußte 
ſehr wohl, daß das Handwerk einen goldenen Boden 
habe, doch empfand ihre Mutterliebe es mit ſtillem Kum⸗ 


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mer, daß ſie dem Knaben nicht eine ſeinen Anlagen ent⸗ 
ſprechende Erziehung und Zukunft bieten könne. 

Da war eines abends der „Methuſalem“ zu ihr ge⸗ 
kommen und hatte ſich mit ihr über dieſes Thema in 
ſeiner kurzen, beſtimmten Weiſe ausgeſprochen. Sie 
hatte ſeinen Vorſchlag, obgleich er ſie mit Entzücken er⸗ 
füllte, beſcheiden abgelehnt; er aber hatte das vertrau⸗ 
liche Geſpräch zum Schluß gebracht, indem er in ent⸗ 
ſchiedenem Ton erklärte: „Meine liebe Frau Stein, Sie 
werden bemerkt haben, daß ich nicht gern von mir und 
meinen Verhältniſſen ſpreche; heute will ich einmal von 
dieſer Gepflogenheit abweichen. Mein Vater war ein 
reicher Brauer. Er hatte den Ehrgeiz, ſich eines ge⸗ 
lehrten und berühmten Sohnes rühmen zu wollen. Ic) 
ſträubte mich dagegen, denn ich wollte nichts andres wer⸗ 
den, als was auch er geworden war, ein Brauer. Mein 
Sträuben half nichts. Ich mußte faba, die Bohne, 
deklinieren, obgleich mir der Hopfen über alle Bohnen 
ging. Ueber das Weitere will ich ſchweigen. Der Vater 
verwandelte ſeine Brauerei in ein Aktienunternehmen 
und hinterließ mir ein bedeutendes Vermögen. Ich aber 
habe es nur bis zum bemooſten Haupt gebracht, d. h. zu 
einem akademiſchen Schlachtenbummler, der dem wirk⸗ 
lichen Streiter verächtlich erſcheint. Ich beginne nun 
nachgerade die ganze Leere dieſes zweckloſen Daſeins 
ſchmerzlich zu empfinden. Ich ſchäme mich meiner ſelbſt. 
Ich will nicht länger ein unnützes Mitglied der menſch⸗ 
lichen Geſellſchaft ſein. Ich will Taten tun, und meine 
erſte Tat ſoll darin beſtehen, daß ich in Ihrem Sohn 
Erſatz biete für meine verlorene Studienzeit. Er ſoll 
ſtudieren, und ich zahle für ihn. Und das darf Sie nicht 
bedrücken, denn nicht Sie werden mir dadurch etwas 
ſchuldig, ſondern ich tilge eine Schuld, die mir ſchwer auf 


dem Herzen liegt. Indem Sie Ihren Sohn glücklich 
machen, leiſten Sie mir einen hohen Dienſt, den ich 
Ihnen niemals vergeſſen werde. Alſo ſagen Sie ja; 
ſchlagen Sie ein, und damit mag die Sache beſchloſſen 
und genehmigt ſein!“ 


Seit jener Zeit beſuchte Richard das Gymnaſium, 
und der „Methuſalem“ wachte über ihn, wie eine Henne 
über ihr einziges Küchlein wacht. Dieſes Küchlein war 
jetzt ſiebzehn Jahre alt geworden und gab ſich alle Mühe, 
die Hoffnungen der Mutter und des „Onkel Methuſalem“ 
zu erfüllen. 

Als der letztere jetzt eintrat mit dem Brief aus 
China in der Hand, fiel ſein Blick auf ein Bild ſtillen 
Familienfleißes. Frau Stein war mit einer Plätterei 
beſchäftigt. Der Gymnaſiaſt ſaß tief auf eine Landkarte 
gebeugt, deren Linien er mit der Spitze ſeines Bleiſtifts 
folgte. Seine jüngere Schweſter war an der Nähmaſchine 
beſchäftigt, die der Student ihr am letzten Weihnachtsfeſt 
beſchert hatte, und der kleine ſechsjährige Walter ſaß 
mäuschenſtill hinter dem Ofen und mühte ſich ganz ebenſo 
mit einem Chriſtgeſchenk ab. Er hatte ſich nämlich heim⸗ 
lich des Wichsapparates bemächtigt, um ſeinem ledernen 
Hanswurſt die Stiefel blank zu machen. Das koſtete ihm 
gar ſauren Schweiß, und weil er ſich die perlenden 
Tropfen nicht mit der Hand, ſondern mit der Bürſte ab⸗ 
wiſchte, ſo hatte er bald den ganzen Inhalt der Wichs⸗ 
ſchachtel im Geſicht kleben. 


Der „Methuſalem“ nahm ſich kaum Zeit, zu grüßen. 
„Frau Stein,“ fragte er, „haben Sie früher einmal 
Obergaſſe 12 parterre gewohnt?“ — „Ja,“ antwortete 
fie. — „Hieß Ihr Mann Joſeph Ferdinand?“ — „Ja.“ 
— „So ſtimmt es. Der Brief iſt für Siel“ 


en I 


Er reichte ihr dieſen hin. Sie nahm und betrachtete 
ihn, las die Adreſſe und fragte im Ton der Verwunde⸗ 
rung: „Nicht von der Poſt! Wo iſt er her?“ — „Aus 
China. Ye⸗Kin⸗Li gab ihn mir.“ — „Aus — — China! 
Wer könnte mir von dorther ſchreiben? Dieſer Brief 
kann nicht für mich beſtimmt ſein.“ — „Er iſt für Sie! 
Die Adreſſe ſtimmt ja genau.“ 

„Bitte, Mutter, zeig' einmal her!“ ſagte Richard, in⸗ 
dem er herbeitrat und nach dem Brief griff. Er betrach⸗ 
tete die Adreſſe und entſchied ſodann: „Er iſt an den 
Vater gerichtet. Dieſer lebt nicht mehr, folglich haſt du 
das Recht, den Brief zu öffnen.“ 

Dabei hatte er auch ſchon die Hülle mit dem Feder⸗ 
meſſer aufgeſchnitten. Er nahm den eng beſchriebenen 
Bogen, den es enthielt, heraus und warf, nachdem er ihn 
entfaltet hatte, einen Blick auf die Unterſchrift. „Vom 
Onkel Daniel!“ rief er ſchnell. 

„Der war doch in Amerika und iſt verſchollen,“ er⸗ 
widerte ſeine Mutter. 

„Er iſt nicht tot, wie wir bisher geglaubt haben. 
Welch eine Freude, daß er noch lebt! Hört, was er 
ſchreibt! Ich will den Brief vorleſen.“ 

Der „Methuſalem“ wollte ſich entfernen, wurde aber 
aufgefordert, zu bleiben. Vor ihm gab es keine Familien⸗ 
geheimniſſe. 

Der Inhalt des Briefes mußte von großer Wichtig⸗ 
keit ſein, denn der Student blieb weit über eine Stunde 
bei ſeiner Wirtin; als der Wichſier einmal an der Türe 
vorüberging und infolge eines frohlockenden Rufes, der 
drinnen ausgeſtoßen wurde, ſtehen blieb, hörte er, ob⸗ 
gleich er die einzelnen Worte nicht verſtehen konnte, daß 
jedenfalls eine ſtürmiſche Beratung abgehalten wurde. 


— 13 — 


„Wat da drinnen losjelaſſen worden iſt, dat ſcheint 
ſo eine Art von Kriegsrat zu ſind,“ murmelte er vor ſich 
hin. „Ich ziehe mir zurück, ſonſt könnte ich der Avant⸗ 
garde unter die Pferde geraten.“ 

Er tat ſehr klug daran, denn kaum hatte er ſich ent⸗ 
fernt, ſo kam ſein Herr in höchſter Eile heraus, eilte in 
ſeine Wohnung, packte den Wichſier, als er ihn dort er⸗ 
blickte, an den beiden Schultern und rief freudig: „Gott⸗ 
fried, das Schlaraffenleben hat ein Ende! Wir verreiſen!“ 

„So! Wohin? Vielleicht wieder mal nach Jüter⸗ 
bogk, um den dortigen Wein zu probieren?“ 

Er machte ein ſehr ſaures Geſicht. 

„Nein, nein, weiter, viel weiter! Biſt du zur See⸗ 
krankheit geneigt?“ 

„Unjeheuer ſehr!“ 

„Woher weißt du das?“ 

„Weil mein echt jermaniſcher Magen kein Waſſer 
vertragen kann. Er will immer noch eins, aber natürlich 
nur kein Waſſer!“ 

„So bleibſt du da, dann gehe ich zur See!“ 

„Dat iſt ja nicht jefährlich. Zur See kann man 
jehen, ohne die Seekrankheit zu bekommen. Man muß 
nur am Waſſer ſtehen bleiben.“ 

„Aber ich will über die See, über das Meer hinüber, 
nach Aſien!“ 

„Alle juten Jeiſter!“ rief Gottfried, die Hände zu⸗ 
ſammenſchlagend. 

„Nach China!“ 

„Da ſind wir ja ſchon!“ Er zeigte in dem Zimmer 
herum und hatte dabei nicht gar ſo unrecht; denn der „Me⸗ 
thuſalem“ war infolge ſeiner mit dem Teehändler ge⸗ 
ſchloſſenen Freundſchaft ein leidenſchaftlicher Sammler 
chineſiſcher Erzeugniſſe geworden. An den Wänden hin⸗ 


— 14 — 


gen und auf den Tiſchen lagen Geräte, Gefäße, Waffen, 
Muſikinſtrumente und eine ganze Menge ähnlicher 
Dinge, die aus dem „Reich der Mitte“ ſtammten. 

„Das iſt Talmi⸗China; ich aber will das echte 
ſehen,“ antwortete der Student. Die Erregung hatte 
ihm das Geſicht hochrot, die Naſe aber ultramarinblau 
gefärbt. „Du ſollſt mitkommen. Fürchteſt du dich aber 
vor der See, ſo bleibſt du da und kannſt aus Lange⸗ 
weile Mücken vergolden.“ 

Da ſtemmte der Wichſier beide Hände in die Sei⸗ 
ten, pflanzte ſich gerade vor ſeinem Herrn auf und 
meinte: „Wat? Wie? Wo? Warum? Ich, als der be⸗ 
rühmte Jottfried von Bouillon und ausjefprochener 
Erbfeind aller Sarazenen ſoll mir vor das bißchen See 
fürchten! Wat mache ich mich aus ſo einem alten He⸗ 
ringsteich! Uebrigens muß ich auf alle Fälle mit, denn 
Sie brauchen mir. Wer ſoll Ihnen die Stibbel wichſen, 
die Kleider klopfen, die Pfeife ſtopfen, die Uhr auf⸗ 
ziehen und beim Eſſen jeſegnete Mahlzeit wünſchen? 
Doch ich! Alſo ich fahre mit, nämlich wenn dieſe Reiſe 
nach China nicht etwa nur ein Ulk iſt, den ſich Ihr 
Jottfried ſtreng verbitten muß!“ 

„Es iſt kein Ulk, ſondern Ernſt. Ich habe keine 
Zeit, es dir zu erklären, denn morgen früh geht es mit 
dem erſten Zug fort, zunächſt nach der Reſidenz, der Ge⸗ 
ſandtſchaft wegen. Jetzt muß ich zum Bankier, zur Po⸗ 
lizei und in hundert Läden, um tauſend notwendige 
Sachen einzukaufen. Richard fährt auch mit, und —“ 

„Rich — — —!" unterbrach ihn der Wichſier, 
brachte aber vor Erſtaunen nur die erſte Silbe dieſes 
Namens über die Lippen. 

„Ja! Er iſt es ja, um deſſentwillen die Fahrt 
überhaupt unternommen wird. Wenn ich nicht ſo ſehr 


Zr SIR: 


eile, daß wir morgen bereits über alle Berge find, wird 
aus dieſer famoſen Reiſe gar nichts. Ich habe ſeine 
Mutter förmlich überrumpelt, und wir müſſen reiſen, 
bevor ſie ſich anders beſinnen kann.“ 

Er eilte fort. 


Gottfried ſchüttelte den Kopf, kratzte ſich mit beiden 
Händen hinter den Ohren, richtete ſeinen Blick auf 
einen großen chineſiſchen Laternendrachen, der an der 
Decke hing und ſagte: „Da hängſt du nun, altes Jötzen⸗ 
bild, und kuckſt mich höhniſch ins Jeſicht! Dir hab' ich 
nie ſo recht jetraut. Seit du hier unſern Zenith je⸗ 
pachtet haſt, iſt bei uns China und der Teufel los⸗ 
jeweſen. Ich habe dir ſogar im Verdacht, daß du um 
Mitternacht als Jeſpenſt und Jeiſterſpuk hier umher⸗ 
fliegſt. Du erſcheinſt dem Methuſalem im Traum; du 
haſt ihm den Jedanken einjeblaſen, die traute Heimat 
zu verlaſſen, um am Strand des gelben Meeres bei die 
Antipoden jebratene Regenwürmer, jeſchmorte Tauſend⸗ 
füße, jebackenen Seetang, marinierte Salamander und 
jekochte Rattenſchwänze zu verſpeiſen. Schäme dir! Aber 
du ſollſt dir doch nicht rühmen können, ihn ins Ver⸗ 
derben jeführt zu haben. Ich werde ihn begleiten als 
ſein Morjen⸗ und ſein Abendſtern. Wir werden ſieg⸗ 
reich gegen deine Vettern und Baſen kämpfen, gegen 
Drachen, Molche und Chineſen, und wenn wir wieder⸗ 
kehren, ſo hängen wir ſie hier als Trophäen auf, um 
dir zu ärjern, ſo wie du mir jeärjert haſt. Ich verachte 
dir!“ 

Er ging mit einer theatraliſchen Gebärde ab, um 
ſich bei der Wirtin zu erkundigen, wie ſein Herr auf 
den Gedanken gekommen ſei, nach China zu gehen. 

Inzwiſchen war der „Methuſalem“ gar nicht weit 


— 168 


gekommen. An der Ladentür des Chineſen hatte er ſich 
beſonnen und war bei dieſem eingetreten. 


„Nun?“ fragte der Sohn der Mitte. „Sie bringen 
den Brief nicht wieder?“ 

„Nein. Meine Wirtin iſt die Adreſſatin. Sie 
brauchen ſich alſo nicht weiter zu bemühen. Aber, bitte, 
wie iſt er in Ihre Hände gekommen?“ 

„Durch meinen Lieferanten in Kuang«⸗tſchéu⸗fu 
(Kanton), bei dem er für mich abgegeben wurde.“ 

„Hat dieſer Herr Ihnen mitgeteilt, wer der Ab⸗ 
ſender iſt?“ 

„Nein. Er hat mir die Weiſung gegeben, den 
Adreſſaten oder deſſen Erben hier ausfindig zu machen, 
ihnen den Brief zu übermitteln und dafür zu ſorgen, 
daß ſie ſofort antworten. Die Stelle, wohin die Ant⸗ 
wort zu richten iſt, ſei im Brief angegeben.“ 

„Das ſtimmt. Aber es iſt beſchloſſen worden, keine 
briefliche Antwort zu erteilen. Wir reiſen ſelbſt hin, 
nämlich Richard Stein, ich und mein Gottfried von der 

Oboe.“ 
ö Jetzt war es an dem Chineſen, zu erſtaunen. Er 
erging ſich in den fremdartigſten Ausrufewörtern, wo⸗ 
bei er die Hände mit weit ausgeſpreizten Fingern gen 
Himmel hielt und dabei den Kopf von einer Seite auf 
die andre warf, ſo daß dieſer wie ein Perpendickel ab⸗ 
wechſelnd herüber und hinüber flog. 

„Sie ſelbſt, Sie ſelbſt wollen nach Tſchung⸗kuo, dem 
Reich der Mitte, nach Tſchung⸗hoa, der Blume der 
Mitte!“ rief er aus. „Sie werden Tien⸗tſchao, das 
himmliſche Reich ſehen! Sie gehen nach Ki⸗tien⸗teh, 
dem Hauſe der himmliſchen Tugenden, nach Schan⸗ 
hoang⸗ti, dem Berg des erhabenen Herrſchers! Wie iſt 


Br 


das gekommen? Wodurch wurden Sie auf dieſen Ge⸗ 
danken gebracht?“ 

„Durch die Teilnahme, die ich für die Familie 
meiner braven Wirtin und insbeſondere für Richard 
hege. Um es Ihnen kurz zu ſagen, hat der verſtorbene 
Volksſchullehrer Stein einen Bruder gehabt, der in 
ſeiner Jugend, getrieben von der Luſt zu Aben⸗ 
teuern, in die weite Welt gegangen iſt. Er iſt lange 
Jahre erſt in Süd⸗ und dann in Nordamerika geweſen, 
ohne es zu etwas Sonderlichem zu bringen. Später 
wollte er nach Java; das Schiff ging aber in der Nähe 
der chineſiſchen Küſte unter, und er war einer der we⸗ 
nigen, die gerettet wurden. Unter den Chineſen erging 
es ihm zunächſt herzlich ſchlecht, da er ja ihrer Anſicht 
nach ein J-jin war, ein fremder Barbar. Er wurde wie 
ein Gefangener gehalten. Nach und nach lebte er ſich 
in die dortigen Verhältniſſe ein. Er erlernte die Sprache, 
trug chineſiſche Kleidung, nahm die dortigen Gewohn⸗ 
heiten an und brachte es dadurch ſo weit, daß er endlich 
wie ein Eingeborener behandelt wurde. Nur das Land 
durfte er nicht verlaſſen; der Verſuch dazu ſchon ſollte 
mit dem Tod beſtraft werden. Um ſeiner ganz ſicher zu 
ſein, wurde er in das Innere geſchafft, wo er es bald ſo 
weit brachte, daß er unter die Klaſſe der Anſäſſigen auf⸗ 
genommen wurde. Er entdeckte zufälligerweiſe im Ge⸗ 
birge eine Petroleumquelle. Da er die Art der Aus⸗ 
beutung und Verwertung des Oels in den Vereinigten 
Staaten kennen gelernt hatte, griff er die Sache auf 
amerikaniſche Weiſe an, dabei aber natürlich die chine⸗ 
ſiſchen Verhältniſſe in Rechnung ziehend. Er wurde ein 
reicher Mann und breitete ſeine Verbindungen nach und 
nach bis an die Küſte aus. Durch dieſen letzteren Um⸗ 
ſtand iſt es ihm ermöglicht geweſen, einen Brief, eben 

„Wa v. Der blaurote Methufalem, 2 


zur 18 


den, welchen Sie zur Beſorgung erhielten, in die Heimat 
zu ſenden. Er iſt unverheiratet und ohne Erben, dabei 
ſo kränklich, daß er mit dem baldigen Tod rechnet. Er 
will ſein Vermögen nicht in fremde Hände kommen 
laſſen. Darum bittet er ſeinen Bruder, ſofort nach 
China zu reifen. Falls dieſer Bruder tot iſt, ſoll deſſen 
älteſter Sohn, von deſſen Geburt er aus früheren Nach⸗ 
richten weiß, zu ihm kommen. Nur ſo iſt es möglich, die 
chineſiſchen Geſetze zu umgehen und die Früchte ſeines 
Fleißes in die Hände ſeiner Verwandten gelangen zu 
laſſen. Er bittet um augenblickliche Antwort, worauf 
er Geld zur Reiſe anweiſen will. Da ich mir aber ſage, 
daß dabei Monate verſchwendet werden und der kränk⸗ 
liche Herr inzwiſchen wohl gar ſterben könnte, habe ich 
unter Aufbietung meines ganzen Einfluſſes erreicht, daß 
Frau Stein ihren Richard ſofort reiſen laſſen will, 
natürlich nur unter der Bedingung, daß ich ihn begleite. 
Die Koſten der Reiſe trage ich. Das iſt alles ſo plötzlich 
gekommen und muß auch ſofort ausgeführt werden, ſonſt 
ſteht zu befürchten, daß die Wirtin ihre Zuſage wieder 
zurücknimmt. Es iſt für eine Mutter kein Spaß, ihr 
Kind in ſolche Ferne und in ein ſolches Land gehen zu 
laſſen. Morgen mit dem erſten Zug reiſen wir.“ 

Der Chineſe ſtand mit offenem Mund und ſtarren 
Blicks vor ihm. Er bewegte kein Glied ſeines Körpers. 

„Was iſt mit Ihnen?“ fragte der „Methuſalem“ 
beſorgt. „Sie ſind ja wie gelähmt! Wie kann meine 
Erzählung einen ſolchen Eindruck auf Sie hervor⸗ 
bringen?“ 

Er faßte den „Sohn des Himmels“ bei den Schul⸗ 
tern und ſchüttelte ihn. Dies gab dem Chineſen die 
Herrſchaft über ſich ſelbſt zurück. Er eilte zur Tür, rie⸗ 
gelte dieſe zu, um von keinem Käufer geſtört zu werden, 


— 19 — 


ergriff den Studenten beim Arm, führte ihn eilfertig 
nach dem kleinen, hinter dem Laden liegenden Privat⸗ 
raum und drückte ihn dort auf einen aus Bambus ge⸗ 
flochtenen Seſſel nieder. 

„Freund!“ rief er, in der Folge bald chineſiſch, bald 
deutſch ſprechend. „Sie reiſen wirklich, wirklich nach 
Tſchina, meinem heißgeliebten Vaterland?“ 

„Ja, morgen ſchon.“ 

„O, Herr des Himmels, Glanz der Sonne, Ur⸗ 
ſprung der Zeit und des Raumes! Welch ein Glück, 
welch eine Schickung! Freund, mein Leben gehört 
Ihnen; mein Vermögen iſt Ihr Eigentum. Alles, alles 
ſollen Sie haben, nur die Namen meiner Vorfahren 
kann ich Ihnen nicht ſchenken. Sie können mir einen 
Dienſt erweiſen, der ſo unendlich groß iſt, daß ſelbſt der 
größte Dank zu gering dafür ſein würde.“ 

„Gern, ſehr gern, wenn ich kann! Was iſt es, was 
ich tun ſoll?“ 

„Bringen Sie mir mein Weib, bringen Sie mir 
meine Kinder mit!” 

„Mit dem größten Vergnügen!“ lachte der Student. 
„Wenn es weiter nichts iſt!“ 

„Sprechen Sie nicht ſo! Was ich von Ihnen ver⸗ 
lange, iſt ſchwer, iſt faſt unmöglich auszuführen. Die 
Behörde wird ſich widerſetzen.“ | 

„O, mit den Herren Mandarinen werde ich wohl 
fertig werden!” 

„Kein Chineſe würde es fertig bringen. Sie aber 
ſind ſelbſt hier ein ungewöhnlicher Mann. Sie ſchrecken 
vor keinem Wagnis zurück. Sie werden beides an⸗ 
wenden, Liſt und Gewalt, um mich glücklich zu machen. 
Darum vertraue ich Ihnen. Wenn es überhaupt ein 
Menſch vermag, ſo ſind Sie allein es, der mir meine 


— 20 — 


Frau, meine Kinder und mein Vermögen, das ich ver⸗ 
graben habe, weil ich es bei meiner Flucht nicht mit⸗ 
nehmen konnte, bringen kann!“ 

„Wie? Ihr Vermögen haben Sie vergraben? War⸗ 
um haben Sie es Ihrer Frau nicht gelaſſen?“ 


„Ihr hätte man es abgenommen. Wiſſen Sie, ich 
bin ein — — —“ 


Obgleich ſie ganz allein und unbelauſcht waren, 
bog er ſich bis an das Ohr des Studenten und flüſterte 
ihm zu: „— ein zum Tod Verurteilter. Ich hatte das 
Unglück, unter Empörern betroffen zu werden. Was 
das in Tſchina heißt, das wiſſen Sie. Ich war ſchuldlos 
wie der junge Kia⸗niao, wie der kleine Sperling im 
Neſt; aber ich wurde bei ihnen geſehen, und ſo war ich 
verloren, wenn nicht augenblickliche Flucht mich rettete. 
Ich fand kaum ſo viel Zeit, mich von den Meinen zu 
verabſchieden und meine Gold⸗ und Silberbarren ein⸗ 
zupacken, um ſie dann heimlich zu vergraben. Nur einen 
kleinen Teil dieſes Metalls konnte ich mit mir nehmen, 
um mir im Ausland eine Exiſtenz zu gründen.“ 

„Höchſt intereſſant!“ bemerkte der Student. „So 
ſoll ich alſo den Schatzgräber machen?“ 

„Ja. Sie ſehen, welch großes Vertrauen ich zu 
Ihnen habe. Sie werden mich nicht betrügen. Das 
weiß ich gewiß.“ 

„Da ſei Gott vor! Was ich finde, wenn ich über⸗ 
haupt etwas finde, das erhalten Sie. Aber wo liegt es? 
Und wo finde ich die Ihrigen?“ 

„Wo das Gold und Silber liegt, darüber können 
Sie ſich leicht orientieren, denn ich habe einen genauen 
Plan gezeichnet, wonach Sie ſich nur zu richten brauchen, 
um die Barren zu entdecken. Aber wo Sie mein Weib 


an. GI. 


und meine Kinder treffen werden, das weiß ich leider 
nicht.“ 

„Ich werde nicht eher ruhen, als bis ich ſie finde, 
vorausgeſetzt, daß ſie noch leben,“ verſicherte der Stu⸗ 
dent, herzlich gerührt von dem Ausdruck aufrichtigen 
Schmerzes, der im Geſicht des Chineſen zu erkennen 
war. 

„Sie können getötet worden ſein,“ meinte dieſer, 
„denn die Rechtspflege meines Vaterlandes iſt keine ſo 
humane wie die hieſige. Dort müſſen ſehr oft die Ver⸗ 
wandten des Schuldigen die gleiche Strafe tragen 
wie er.“ 

„Nennen Sie mir den Ort, wo Sie ſich von ihnen 
getrennt haben! Ich werde mich dorthin begeben und, 
wenn ich ſie dort nicht finde, ihre Spur verfolgen wie 
der Indianer eine Fährte. Ich hoffe doch, Ihnen zum 
wenigſten eine ſichere Nachricht zu bringen.“ 

„Ja, ich weiß, daß Sie alles mögliche tun, kein 
Opfer ſcheuen und ſelbſt vor keiner Gefahr zurück⸗ 
ſchrecken werden, um mir die Ruhe meines Herzens 
zurückzugeben. Ich werde Ihnen alles aufſchreiben, 
was Sie wiſſen müſſen, und dieſe Notizen Ihnen heute 
abend einhändigen. Dabei werden ſich auch einige 
Empfehlungsſchreiben an frühere Freunde befinden, an 
die Sie ſich mit allem Vertrauen wenden können. Dieſe 
wiſſen, daß ich unſchuldig bin, und werden Ihnen gern 
allen möglichen Vorſchub leiſten. Alſo Sie ſind ent⸗ 
ſchloſſen, dieſe Sendung zu übernehmen?“ 

„Vollſtändig.“ 

„So betrachte ich Sie von dieſem Augenblick an als 
meinen Kie-tfchei, als meinen außerordentlichen Bevoll⸗ 
mächtigten, und frage Sie, ob Sie bereit ſind, mir Ihr 


— 22 — 


Kong⸗Kheou zu geben, Ihr unverbrüchliches Ehren⸗ 
wort?“ 


„Sie ſollen es haben, hier meine Hand!“ antwortete 
der „Methuſalem“, indem er dem Chineſen die Hand 
entgegenſtreckte. 


„Warten Sie!“ bat He⸗Kin⸗Li. „Ich werde Ihnen 
Ihr Wort nach der Sitte meines Landes abnehmen.“ 


Er holte ein Päckchen Tſan⸗hiang herbei. Das ſind 
wohlriechende Räucherſtäbchen, deren die Chineſen ſich 
bei Ausübung gewiſſer religiöſer Gebräuche bedienen. 
Der Student mußte eins davon in ſeine linke Hand neh⸗ 
men; der Teehändler tat ebenſo, worauf er die beiden 
Stäbchen anbrannte. Dann, als der duftende Rauch 
emporſtieg, ergriff er mit ſeiner Rechten diejenige des 
jungen Mannes und ſagte in feierlichem Ton: „Sie ſind 
mein Kis⸗tſchéi. Als ſolcher haben Sie genau fo zu 
handeln, als ob Sie ich ſeien. Sie dürfen keinen Hinter⸗ 
gedanken hegen, und Ihr Herz muß gegen mich ohne 
Arg und Falſchheit ſein. Wollen Sie mir alſo jetzt Ihr 
Kong⸗Kheou geben, daß Sie meinen Auftrag nach 
Kräften ausführen und gegen mich und die Meinen ehr⸗ 
lich ſein wollen?“ 


„Ja,“ antwortete der Student. „Ich denke nicht, 
daß ich mit dieſer Zeremonie ein heidniſches Werk be⸗ 
gehe. Sie hätte unterbleiben können, denn mein Ehren⸗ 
wort iſt wie der heiligſte Schwur. Aber da es Sie zu 
beruhigen ſcheint, ſo mag es ſo geſchehen, wie Sie es 
wünſchen. Ich verſpreche Ihnen, ſo zu handeln, wie 
Sie ſelbſt nicht anders handeln würden. Das iſt ein 
ehrliches deutſches Verſprechen, worauf Sie ſich ver⸗ 
laſſen können!“ 


— 23 — 


„Ich glaube und vertraue Ihnen. Und dieſes Ver⸗ 
trauen ſoll zwiſchen uns beſtehen, bis dieſe beiden Tſan⸗ 
hiang an meinem Sarge wieder angezündet werden.“ 

Er verlöſchte die Stäbchen und legte ſie dann, ſorg⸗ 
ſam eingewickelt, in ein Ebenholzkäſtchen, worin er nur 
Gegenſtände von ganz beſonderer Wichtigkeit aufzube⸗ 
wahren pflegte. 

So war das Ehrenwort gegeben, das für den Stu⸗ 
denten reiche und ſeltſame Folgen haben ſollte. Dieſer 
entfernte ſich jetzt, um die notwendigen Vorkehrungen 
zur baldigen Abreiſe zu treffen. 


Zweites Kapitel. 
„Cſching, tſching, tſchin!“ 


Unter denjenigen unſrer lieben Leſer, die in 
einer der an der Nord- und Oſtſee liegenden Hafenſtädte 
wohnen, gibt es vielleicht welche, die den Namen 
Turnerſtick gehört oder wohl gar dieſen braven, weit⸗ 
befahrenen Seemann von Angeſicht zu Angeſicht geſehen 
haben. 

Kapitän Frick Turnerſtick, ein echter frieſiſcher See⸗ 
bär, hatte lange Jahre im Dienſt eines New Yorker 
Reeders geſtanden, es da zumeiſt mit amerikaniſchen 
Topgaſten zu tun gehabt und deshalb ſeinen allerdings 
ſeltſamen deutſchen Namen Drechslerſtock in das eng⸗ 
liſche Turnerſtick verwandelt. Er hatte ſich gar manche 
amerikaniſche Gewohnheit angeeignet, war aber im 
Grunde dennoch ein Deutſcher vom reinſten Waſſer ge⸗ 
blieben. 

Er war in allen Meeren bekannt als ein tüchtiger, 
kühner, gewandter und erfahrener Schiffsführer, der 
außerdem die höchſt lobenswerte Eigenſchaft beſaß, daß 
er ſich ſtets bemühte, ſeinen Untergebenen mehr ein 
freundlich beſorgter Vater als ein ſtrenger Vorgeſetzter 
zu ſein. Darum hatte er ſtets nur zuverläſſige und tüch⸗ 
tige Mannen an Bord, die ihn liebten und achteten und 
über manches hinwegſahen, was andre wohl nicht mit 
denſelben Augen betrachtet hätten, 


— 25 — 


Kapitän Turnerſtick beſaß nämlich einige Eigentüm⸗ 
lichkeiten, die ſehr geeignet waren, die Ironie ſeiner 
Untergebenen herauszufordern. Daß man dennoch nicht 
heimlich über ihn lachte, hatte ſeinen Grund nur in dem 
kindlichen Reſpekt, den man ihm widmete. 

Daß er zu allerhand Sonderlichkeiten geneigt ſei, 
war ſchon ſeinem Aeußeren anzumerken. Er beſaß trotz 
ſeiner bedeutenden ſeemänniſchen Kenntniſſe kein ſehr 
geiſtreiches Angeſicht. Mitten darin ſaß das, was der 
Seemann eine Vorlukennaſe nennt. Sie war höchſt 
vorwitzig nach oben gerichtet und durch einen Fauſt⸗ 
ſchlag, den der gute Kapitän in ſeiner Jugend erhalten 
hatte, anſehnlich weit zur Seite getrieben worden, was 
ſeinem Antlitz ein höchſt ordnungswidriges Ausſehen 
gab. Ein gewaltiger Schnurrbart ließ dieſes Stumpf⸗ 
näschen doppelt naiv und lächerlich erſcheinen, ein Um⸗ 
ſtand, der keine Verbeſſerung dadurch erlitt, daß Tur⸗ 
nerſtick einen ungeheuren indiſchen Schutzhelm als 
Kopfbedeckung zu tragen pflegte. 

In einem Kampf mit malayiſchen Seeräubern 
hatte er das rechte Auge eingebüßt und trug an deſſen 
Stelle ein künſtliches, was übrigens nicht leicht zu be⸗ 
merken war. 

Kein Menſch hatte ihn jemals anders als in hohen, 
geteerten Waſſerſtiefeln geſehen, die ihm bis an den 
Leib reichten. Ebenſo unvermeidlich war der mit ver⸗ 
goldeten Ankerknöpfen geſchmückte Südkarolinafrack, 
ohne den er gar nicht leben zu können ſchien. Ferner 
trug er unendlich hohe Vatermörder, um die ein knall⸗ 
rotes Halstuch gelegt und vorn in eine rieſige Schmetter⸗ 
lingsſchleife geſchlungen war. Dazu kam ein goldener 
Klemmer, der an einem breiten, ſchwarzſeidenen Band 
hing, eine ſehr begründete Vorſichtsmaßregel, denn der 


— 26 — 


Kneifer konnte ſich niemals länger als einen einzigen 
Augenblick auf dem ihm angewieſenen Poſten erhalten. 
Er fiel immer wieder herab, und darum war die eine 
Hand des Kapitäns unausgeſetzt und allezeit damit be⸗ 
ſchäftigt, den herabgefallenen Klemmer wieder auf das 
unzulängliche Näschen zu quetſchen. 

Aufrichtig geſtanden, war der gute Frick Turnerſtick 
ein ganz klein wenig eitel, auch in Beziehung auf ſein 
Schiff, das ſtets, ſo weit tunlich, ein Muſter der Sauber⸗ 
keit und Ordnung war. Das konnte natürlich auch auf 
ſein Aeußeres nicht ohne Einfluß ſein. 

Seine Sprachkenntniſſe reichten für ſeine Bedürf⸗ 
niſſe vollſtändig aus. Mehr konnte nicht von ihm ver⸗ 
langt werden. Und dennoch gab es einen, welcher in 
ihm ein wahres Sprachgenie erblickte, und dieſer eine 
war — — er ſelbſt. 


Er hatte alle möglichen Küſtenländer angeſegelt 
und überall einige Worte der betreffenden Sprache mit 
davon genommen. Dieſe Reiſeergebniſſe lagen in ſeinem 
Kopf ſo wirr durcheinander wie ungefähr die Trümmer 
eines verunglückten Eiſenbahnzuges. Dennoch war er 
vollſtändig überzeugt, ſo einige Dutzend Sprachen und 
Dialekte zu beherrſchen, und brachte bei jeder paſſenden 
Gelegenheit dieſe unglückſeligen philologiſchen Trümmer 
herbeigeſchleppt. Zuweilen allerdings ſchien es, als ob 
auch eine leiſe, leiſe Selbſtironie dabei im Spiel ſei, 
denn der Kapitän liebte es ſehr, lachende Geſichter um 
ſich zu ſehen. | 

Heut befand ſich Frick Turnerſtick in einer wahr⸗ 
haft roſigen Stimmung, und er hatte allen Grund dazu. 
Unter ſeinen Füßen lagen die Planken des ſchnellſten 
Klipperſchiffes, das er jemals befehligt hatte. Ein 


— 27 — 


prächtiger Backſtagswind füllte die Segel. Der Hori⸗ 
zont lag als ſcharf gezeichnete Linie auf der See, und 
der Himmel lächelte wolkenlos auf die frohen Geſichter 
der Mannen herab. 

Dazu kam, daß man ſich dem Hafen nahe befand 
und daß der Kapitän Kajütengäſte bei ſich führte, die es 
verſtanden hatten, ſich ſein ganz beſonderes Wohlwollen 
zu erwerben. Er hatte ſie in Singapore aufgenommen 
und ſollte ſie nach Kanton bringen. Das waren präch⸗ 
tige Tage für ihn geweſen. So eine Unterhaltung hatte 
er ſeit Jahren nicht an Bord haben können. Und die 
Abſicht, welche die drei Paſſagiere nach Kanton führte, 
war ihm ſo ſympathiſch, daß er beſchloſſen hatte, ſich 
nicht allſogleich von ihnen zu trennen. Er konnte ſich ihnen 
eine längere Zeit widmen, denn ſein Steuermann war 
höchſt zuverläſſig; ihm durfte er das Schiff und die Be⸗ 
ſorgung aller Angelegenheiten ruhig anvertrauen. 

Dieſe drei Paſſagiere waren der Student Fritz 
Degenfeld, genannt der „blaurote Methuſalem“, ſein 
Wichſier Gottfried Ziegenkopf, ſtets Gottfried von 
Bouillon geheißen, und endlich Richard Stein, der 
Gymnaſiaſt, der ſich unterwegs befand, um die . 
ſiſche Erbſchaft anzutreten. 

Sie ſaßen miteinander auf der Kampanje und 
ſchauten vergnügt nach dem vordern Horizont, wo ſich 
mehrere Segel ſehen ließen. Aber eigentümlich war die 
Ordnung, in der ſie ſaßen. Die drei Feldſtühle, auf 
denen ſie Platz genommen hatten, ſtanden nämlich nicht 
nebeneinander. Das wäre dem guten Gottfried gegen 
alle gewohnte Subordination geweſen. Er war jahre⸗ 
lang hinter ſeinem „Methuſalem“ hergelaufen und 
konnte es unmöglich zugeben, daß jetzt eine andre Ord⸗ 
nung eingeführt werde. Darum ſaß er in der alt⸗ 


— 28 — 


gewohnten Entfernung von drei Schritten hinter ihm 
und hielt die Waſſerpfeife, deren Schlauchſpitze der Stu⸗ 
dent im Mund hatte, in den Händen, Sie war vor der 
Abreiſe mit einem neuen Glasballon verſehen worden. 

Beide, der Herr ſowohl wie auch ſein Wichſier, 
waren ganz genau noch ſo gekleidet, wie man ſie daheim 
in der Humboldtſtraße zu ſehen gewohnt geweſen war. 
Richard ſaß neben dem „Methuſalem“ und einige Fuß 
vor ihnen der bekannte Neufundländer, der es ſich alſo 
ebenſo angelegen ſein ließ wie Gottfried, die heimat⸗ 
liche Reihenfolge beizubehalten. 

Der „Methuſalem“ blies die gewohnten dicken 
Rauchſchwaden aus dem Mund und nickte dem Kapitän 
freundlich zu, der ſoeben von vorn kam und zu ihnen 
auf die Kampanje ſtieg. „Nun, Kommodore, wie 
ſtehts?“ fragte Degenfeld. „Werden wir bald die Küſte 
des himmliſchen Reiches zu ſehen bekommen?“ 

„Will es meinen,“ antwortete der Gefragte. „Wir 
werden bereits am Nachmittag vor Hongkong zu Anker 
gehen. Bald werden ſich da vorn die Segel mehren, 
welche die gleiche Richtung haben.“ | 

„So haben wir eine feine Fahrt gemacht!“ 

„Unvergleichlich! Wir machen ſiebzehn Knoten. 
Das will etwas ſagen. In nicht ganz vier Tagen von 
Singapore bis hierher, das ſoll dem Frick Turnerſtick 
ein andrer nachmachen!“ 

„Ja, Sie und Ihr gutes Schiff, da läßt ſich etwas 
erreichen. Ich hätte nicht geglaubt, China ſo ſchnell 
begrüßen zu können.“ 

„Wiſſen Sie denn auch, wie man dieſes gelobte 
Land der Zöpfe begrüßt?“ 

„Nun, wie?“ 


— 29 — 


„Tſching tſching! muß man rufen. Das iſt der echt 
chineſiſche Gruß.“ 

„Ach! Sie ſprechen wohl auch ein wenig chineſiſch?“ 

Turnerſtick ſetzte den Klemmer auf die Naſe, hielt 
ihn dort feſt, weil er ſonſt gleich wieder herabgefallen 
wäre, warf Degenfeld einen mißbilligenden Blick zu und 
antwortete: „Wie können Sie ſo fragen! Ein be⸗ 
mooſtes Haupt wie Sie hat doch an der Univerſität ein 
genug langes Garn geſponnen, um zu wiſſen, daß man 
dem Kapitän Turnerſtick ſo nicht kommen darf. Ein 
wenig chineſiſch! Da liegen Sie vor Topp und Tafel 
bei und treiben wohl bis ſieben Striche ab! Wenn ich 
einmal ein Tau in die Hand nehme, ſo nehme ich es 
ganz.“ 

„So ſprechen Sie vollſtändig chineſiſch?“ 

„Natürlich! Wie anders?“ 

Das war in einem Tone geſprochen, als ob er ge⸗ 
fragt worden ſei, ob er Waſſer trinken könne. 

„Das iſt mir neu!” geftand Degenfeld. „Sie haben 
darüber noch kein einziges Wort verloren!“ 

„Wozu ſollte ich davon reden? Von etwas, was 
ſich ganz von ſelbſt verſteht, macht man doch kein Ge⸗ 
ſchrei.“ 

„Nun, deſto wertvoller iſt mir die Entdeckung, die 
ich da an Ihnen mache. Sie haben zugeſagt, ſich uns 
für einige Tage anzuſchließen. Da iſt es für uns natür⸗ 
lich vom größten Vorteil, daß Sie geläufig chineſiſ ch 
ſprechen.“ 

„Pah! Nicht der Rede wert! Eine wahre Kleinig⸗ 
keit! Sie haben doch auch chineſiſch getrieben, wie Sie 
mir ſagten. 

„Nur zwei Jahre lang.“ 


— 30 — 


„Das iſt mehr als genug, denn dieſe Sprache iſt 
die leichteſte, die ich kenne.“ 

„Und ich habe ihre Erlernung für höchſt ſchwierig 
gehalten.“ 

„Da haben Sie freilich ein ſehr falſches Segel ge⸗ 
ſetzt. Sie natürlich müſſen mit dem obligaten Latein 
und Griechiſch den richtigen Kurs verlieren. Wem der 
Kopf mit ſo klaſſiſcher Ware vollgeſtaut wird, der hat 
eben zuletzt für das Leichteſte keinen Platz mehr übrig. 
Dann ſegeln ſolche überſtudierte Leute in der Welt 
herum und können kein Panzerſchiff von einer Herings⸗ 
kuff unterſcheiden. Ich ſage Ihnen, das Chineſiſche iſt 
mir geradezu angeboren geweſen. Es iſt ganz von ſelbſt 
gekommen.“ 

Der „Methuſalem“ kannte die Achillesferſe des Ka⸗ 
pitäns und ſagte im ernſteſten Ton: „Das kann eben 
nur Ihnen paſſieren. Sie ſind ein wahrer Walfiſch im 
Meer der Dialekte. Sie ſchwimmen ſpielend drin her⸗ 
um und blaſen die ſchwierigſten Worte nur ſo aus der 
Naſe.“ i 

Turnerſtick hielt den Klemmer empor, warf durch 
ihn einen forſchenden Blick auf den Sprecher und 
fragte: „Durch die Naſe! Soll das etwa eine Hin⸗ 
deutung auf meine Geſichtszüge enthalten?“ 

„Was fällt Ihnen ein! Ich ſpreche vom Walfiſch, 
und daß der bläſt, das wiſſen Sie wohl!“ 

„Ja, und zwar aus der Naſe. Sie haben recht. 
Wie der ſich im Waſſer wälzt, ſo wälze ich mich in den 
Sprachen herum. Und gerad das Chineſiſche iſt mir 
völlig Wurſt.“ | 

„Für mich iſt es im Gegenteil ein ſehr harter 
Knochen geweſen, woran ich mir die Zähne locker ge⸗ 


biffen habe. Bedenken Sie nur die Dialekte! Es find 
ihrer neun!“ 

„Das iſt wenig genug! So ein Dialekt läuft bei 
mir hinunter wie ein ſteifer Grog. Die Hauptſache iſt, 
daß man ſich eben an die Hauptſache hält, und das ſind 
im Chineſiſchen die Endungen.“ 

„So? Ich bin ſtets der Meinung geweſen, daß 
das Chineſiſche gar keine Endungen habe.“ 

„Was! Keine Endungen! Ja, nun iſt's mir frei⸗ 
lich ſehr erklärlich, daß Sie es trotz zwei voller Jahre 
zu nichts gebracht haben! Wenn Sie nichts von den 
Endungen wiſſen, ſo iſt das gerade ſo, als wenn Sie 
ohne Waſſer ſchwimmen oder ohne Flügel fliegen wollen. 
Ich ſage Ihnen, daß ich imſtande bin, Ihnen das ganze 
Chineſiſche mit allen neun Dialekten in fünf Minuten 
beizubringen!“ ; 

„Unglaublich!“ 

„Sie werden es gleich glauben müſſen. Nennen 
Sie mir doch einmal die Namen von einigen chineſiſchen 
Städten oder Flüſſen!“ 

„Das iſt ſehr leicht. Da haben wir z. B. Jang⸗tſe⸗ 
kiang, Ma⸗ſeng, Pe⸗king, Hong⸗ kong, Wu⸗ſung — —“ 

„Halt!“ unterbrach ihn der Kapitän. „Das genügt 
vollſtändig. Da haben Sie ja gleich fünf Endungen!“ 

„Endungen? Wohl nicht!“ 

„Was denn? Sie haben ſie ja genannt, ang, eng, 
ing, ong und ung! Wenn das keine Endungen ſind, 
dann bin ich nicht Frick Turnerſtick! Dieſe Endungen 
ſind die wirklichen Kaninchen! Mit ihrer Hilfe ſchüttelt 
man das Chineſiſche nur ſo aus den Aermeln. Die 
Endungen, die Endungen, die geben den Speck zu den 
dicken Erbſen. Sie freilich mit Ihrem Griechiſchen und 
Lateiniſchen haben gar keine Ahnung von einer anſtän⸗ 


u 8 


digen, brauchbaren und bequemen Endung! Ich glaube, 
auf allen Ihren Univerſitäten iſt keine einzige ordent⸗ 
liche und mundgerechte Endung zu finden wie ſo ein 
chineſiſches ing, ang oder ung! Mit fünf ſolchen En⸗ 
dungen ſtecke ich ganz China in den Sack. Da draußen 
hält ein Kutter auf uns zu. Es iſt ein Lotſe. Ich 
werde ihm ſogleich das Signal geben, daß er an Bord 
kommen ſoll. Dann werde ich chineſiſch mit ihm 
ſprechen, und Sie ſollen Ihre Freude daran haben. Sie 
werden ſich wundern, daß Sie nicht ganz von ſelbſt 
auch darauf gekommen ſind.“ 

Er gab den betreffenden Befehl, und bald wehte 
vom Vortop des Klippers das Zeichen „PT“ des inter⸗ 
nationalen Signalbuches. 

Der Lotſe ſah die Aufforderung und folgte ihr. Er 
hatte kein chineſiſches Boot. Sein Fahrzeug war ſehr 
ſcharf auf den Kiel gebaut, und der Vorſteven ſtand faſt 
rechtwinklig auf. Es führte eine ſehr hohe Stenge, hori⸗ 
zontal liegendes Bugſpriet, Gaffel⸗ und Gaffeltopſegel, 
Stackfock und großen Klüver. Es war eine Luſt, zu 
ſehen, wie ſchnell und anmutig es herbeigeſchoſſen kam. 
Es gab den Lotſen an Bord und hielt dann mit der Be⸗ 
dienung von dem Klipper ab. 

Der Lotſe ging chineſiſch gekleidet und trug auf 
dem Kopf einen ungeheuer breiten Grashut, der ſein 
Geſicht ſo beſchattete, daß es kaum zu erkennen war. 

„Jetzt paſſen Sie auf!“ ſagte der Kapitän zu Fritz 
Degenfeld. „Jetzt geht es los mit dem Chineſiſchen.“ 

Er trat auf den Lotſen zu und grüßte: „Tſching, 
tſching, tſching — —“ 

„Insaneness!“ unterbrach ihn der Mann grob. 
„Sagt einfach welcome, Sir! Ein Amerikaner hat es 
nicht nötig, mit dem chineſiſchen Zopf zu wedeln!“ 


ie BZ 


„Ihr ſeid kein Chineſe, loadsman?“ 

„Nein. Ich bin ein guter Schottländer aus 
Greenock am Clyde, wißt Ihr, wo die famoſeſten eiſer⸗ 
nen Schiffe gebaut werden. Wir können uns alſo 
Eurer Mutterſprache bedienen.“ 

„Ich wollte chineſiſch mit Euch reden,“ meinte 
Turnerſtick enttäuſcht. 

„Ach was, chineſiſch! Die ſchlitzäugigen Kerls ſind 
es gar nicht wert, daß man ſich um ihre Sprache küm⸗ 
mert. Sorgt lieber dafür, daß ich einen guten Rum 
zum Willkommen erhalte, ſonſt gehe ich wieder von 
Bord, und Ihr könnt Euch dann meinetwegen den Bug 
an der Lammainſel einrennen.“ 

Er ging nach der Kapitänskajüte, und Turnerſtick 
mußte ihm wohl oder übel folgen. 

„O weh!“ ſagte Richard Stein. „Da hat er ſein 
Chineſiſch leider nicht anbringen können! Was er nur 
mit ſeinen Endungen wollte!“ 

„Es dämmert eine leiſe Ahnung in mir auf; er 
wird doch nicht etwa ein mit ſeinen berühmten Endun⸗ 
gen verſehenes Deutſch ſprechen wollen! Das wäre 
allerdings im höchſten Grade drollig. Und dennoch iſt's 
ihm zuzutrauen. Ich ſehe luſtige Szenen kommen. 
Gottfried — — ho ſu!“ 

Dieſe beiden chineſiſchen Worte bedeuten „gib 
Feuer!“ Seit ſich die drei unterwegs befanden, hatte 
der Student die beiden anderen in die Lehre genommen. 
Beſonders der Wichſier erhielt ſeine Befehle und An⸗ 
weiſungen alle in chineſiſcher Sprache, was manches 
ſpaßhafte Mißverſtändnis hervorgerufen hatte. 

„Ki eulh — ich höre!“ antwortete er ſehr ernſt⸗ 
haft, indem er einen Fidibus aus der Taſche zog, ihn in 
Brand ſteckte und ſodann ſeinem Herrn half, die aus⸗ 

May, Der blaurote Methuſalem. 8 


— 34 — 


gegangene Pfeife wieder anzuzünden. Dann ſetzte er 
ſich wieder hinter ihm nieder. 

Nach kurzer Zeit kehrte der Pilot mit dem Kapitän 
aus der Kajüte zurück. Er übernahm das Kommando 
des Schiffes, und Turnerſtick hatte alſo Zeit, ſich mit 
ſeinen Paſſagieren zu beſchäftigen. 

Die Segel, die rings zu ſehen waren, wurden zahl⸗ 
reicher. Weißblaue Rauchſtreifen zeigten Dampfer an, 
welche nach Kanton wollten oder von dort kamen. Die 
See belebte ſich mehr und mehr mit Fahrzeugen, und 
dann tauchten die Felſenmaſſen Hongkongs und der an⸗ 
deren vor dem Perlenfluſſe liegenden Inſeln langſam 
auf. 

„Höchſt ärgerlich, daß der Lotſe kein Chineſe iſt,“ 
meinte der Kapitän. „Aber wir haben nur noch kurze 
Zeit zu warten, dann werden wir von Booten förmlich 
umringt ſein und ich kann Ihnen zeigen, wie ich die 
Sprache der Himmelsſöhne beherrſche. Es wird übrigens 
Zeit, daß Sie Ihre Koffer öffnen.“ 

„Warum?“ fragte Degenfeld. 

„Um Ihre chineſiſchen Anzüge hervorzuholen.“ 

„Wir haben keine.“ 

„Was? Sie wollen an das Land gehen und ſich 
mitten in das Treiben der Chineſenſtadt begeben, ohne 
ſich nach der Sitte dieſes Landes zu kleiden? Sie wollen 
gerade ſo gehen, wie Sie hier ſitzen, mit der bunten 
Studentenkappe auf dem Kopfe?“ 

„Warum nicht?“ 

„Weil dies grundfalſch iſt. Man wird Sie an⸗ 
ſtaunen und auslachen. Man wird Sie beläſtigen und 
einen fremden Barbaren ſchimpfen. Sie werden aller⸗ 
hand Aergerlichkeiten erleben und vielleicht ſogar in 
wirkliche Gefahr geraten.“ 


=, 95 


„Pah! Wer will es mir verbieten, mich jo zu 
kleiden, wie es mir beliebt?“ 

„Der geſunde Menſchenverſtand. Wenn Sie China 
und die Chineſen richtig kennen lernen wollen, ſo dürfen 
Sie möglichſt wenig verraten, daß Sie kein Chineſe 
ſind. Sie kennen dieſes Volk noch nicht. Man hat ſie 
gezwungen, uns ihre Häfen zu öffnen, aber ſie haſſen 
uns als Fremdlinge, die mit Gewalt bei ihnen einge⸗ 
drungen ſind. Sie werden als Ausländer nicht einmal 
im Bereich der Konſulargewalt vollſtändig ſicher ſein. 
Begeben Sie ſich aber gar darüber hinaus, wie es doch 
Ihre Abſicht iſt, ſo werden Sie nur auf Feinde ſtoßen.“ 

„Wollen ſehen. Ich habe wenig Luſt, aus reiner 
Angſt meine deutſche Abſtammung zu verleugnen.“ 

„Das iſt ſehr ehrenwert und ſehr national gedacht, 
aber — — hm, ſtreng genommen haben Sie freilich 
nicht unrecht. Denn ſelbſt wenn Sie ſich genau wie ein 
echter Chineſe kleiden, wird man an Ihrer Unkenntnis 
der Sprache ſofort den Ausländer erkennen, während ich 
für einen Eingeborenen gelten werde. Aber es iſt trotz⸗ 
dem beſſer, wenn Sie ſich den hieſigen Gebräuchen 
fügen.“ 

„Nun, was das betrifft, ſo iſt es gar nicht aus⸗ 
geſchloſſen, daß wir drei uns auch nach Landesſitte klei⸗ 
den. Zunächſt jedoch mag es ſo bleiben, wie es iſt. Wie 
lange werden Sie von Ihren Pflichten in Hongkong 
zurückgehalten?“ 

„Gar nicht. Ich werde dem Steuermann Voll⸗ 
macht geben. Nur einige kleinige Formalitäten ſind zu 
erfüllen, die mich aber kaum eine Stunde lang beſchäf⸗ 
tigen werden. Den amerikaniſchen Konſul, den ich auf⸗ 
ſuchen muß, treffe ich in Kanton.“ 


— 36 — 


„Das iſt mir lieb, weil wir uns ſonach nicht erſt 
zu trennen brauchen. Ich werde mich nämlich gar nicht 
in Hongkong verweilen, das mir gar nichts bietet. Es 
iſt eine auf chineſiſchen Boden geſetzte europäiſche Stadt, 
an die ich keine Stunde meiner Zeit verſchwenden 
möchte.“ 

„Mir auch ganz recht. Wir können uns eines 
Dampfers der China Navigation Compagnie bedienen, 
aber auch, um uns ſofort ins hieſige Leben zu ſtürzen, 
auf einer chineſiſchen Dſchunke nach Kanton fahren.“ 

„Ich ziehe das erſtere vor, weil ich möglichſt ſchnell 
dort ankommen möchte. Dann iſt es ja noch vollauf 
Zeit, mit dem chineſiſchen Drachen anzubinden. Unſre 
Koffer laſſen wir an Bord zurück, da wir uns nicht all⸗ 
zulange in Kanton aufhalten werden.“ 

Inzwiſchen hatte ſich der Klipper ſchnell der Mün⸗ 
dung des Tſchu⸗kiang (Perlenfluß) genähert. Alle Man⸗ 
nen ſtanden an ihren Plätzen, um die Befehle des 
Lotſen augenblicklich auszuführen. Das Schiff lenkte in 
die weſtliche Lamma⸗Straße ein, bog um die grüne 
Inſel und ſteuerte dann dem Hongkong⸗Kai zu, in das 
dichte Gewühl der Dampfer, Segelſchiffe, Ruderboote 
und Dſchunken hinein. Dort ließ es die Segel fallen, 
und der Anker ging auf Grund. 

„Tſching tſching!“ rief Turnerſtick, indem er be⸗ 
geiſtert die Arme ausbreitete, als ob er ganz Hongkong 
umarmen wolle. „Jetzt ſind wir da und werden zeigen, 
was für Kerls wir ſind.“ 

Der Hafen bot trotz des europäiſchen Charakters der 
Stadt immerhin ein genügendes Bild oſtaſiatiſchen Ver⸗ 
kehrslebens. Von dem wohl 1200 Fuß hohen Viktoria⸗ 
berge blickte das neben der Flaggenſtange ſtehende 
Wachthäuschen herab. An ſeinem Abhang zog ſich die 


Promenade der Kennedyroad hin. Darunter die be⸗ 
lebte Stadt mit der von Schiffen bedeckten Bai. Jen⸗ 
ſeits das chineſiſche Bergland, ziemlich gut angebaut, 
und links davon die vielen, ſich bis nach Macao hin⸗ 
ziehenden, leider kahlen Felſeninſeln. 

Am Landeplatz wimmelte es von Europäern aller 
Nationen, von Chineſen, Japaneſen, Malayen, Hin⸗ 
dus, Parſen, Singhaleſen, portugieſiſchen Meſtizen und 
tiefdunkel gefärbten Afrikanern. 

Und in der Nähe des Schiffes ſchoſſen eine ganze 
Menge von Kähnen und Flößen durcheinander, beladen 
mit friſchen Erzeugniſſen des Landes und allerhand chi⸗ 
neſiſchen Krimskrams. Jeder der Bootsführer wollte 
der erſte ſein, der den Neuangekommenen ſeine Ware 
anbot, um den mit den hieſigen Preiſen noch Unbe⸗ 
kannten die gewöhnliche mehrfache Bezahlung abzu⸗ 
nehmen. Das war ein Schreien, Rufen, Brüllen, Zan⸗ 
ken, Fluchen, Loben und Anpreiſen, daß einem die 
Ohren gellten. 


„Nur nichts kaufen!“ warnte der Kapitän. „Hier 
wird man rieſig übers Ohr gehauen. Am beſten iſt's, 
man läßt die Kerls gar nicht heran, ſonſt wimmeln ſie 
förmlich an Bord, und man iſt ſein eigener Herr nicht 
mehr. Ich verſtehe, mit dieſem Volk zu ſprechen. Das 
ſollen Sie gleich ſehen.“ | 

Er ließ ſchnell einige Waſſereimer füllen und hart 
an die Schanzkleidung ſtellen. Dann bog er ſich über 
die letztere hinaus und brüllte mit laut ſchallender 
Stimme in das Bootsgewühl hinein: „Zurück hier! 
Wir werden nichts kaufang! Fort mit euch, ihr Hallun⸗ 
king! Augangblickling fort mit euch, forteng, forting, 
fortung! Travaillez, travaillong, travaillang!“ 


— 38 — 


Nicht dieſe Worte waren es, welche wirkten, ſon⸗ 
dern ſeine gewaltige Stimme und ſeine wilden, drohen⸗ 
den Geſten hatten den Erfolg, daß unten das Geſchrei 
für einige Augenblicke verſtummte. Die Blicke der 
Händler richteten ſich erſtaunt auf ihn. — „Habt ihr's 
gehörengt!“ rief er weiter. „Wir können nichts ge⸗ 
brauching. Wir habeng kein Geld. Ihr könnt euch von 
danneng trolling!“ 


Noch waren die erſtaunten Kulis ſtill. Sie wußten 
nicht, was ſie denken ſollten. Gottfried von Bouillon 
ſah das rieſige Sprachrohr in ſeiner Nähe lehnen. Er 
ergriff es, hielt es dem Kapitän hin und ſagte im 
ernſteſten Ton: „Alle tauſend Teufling, Kapitäng! Da 
hört mang freiling, daß Sie in den neun Dialekteng 
etwas los habing. Bitte, das Sprachrohr zu nehmang! 
Das wird ungeheure Wirkung machung!“ 

„Was höre ich da!“ antwortete Turnerſtick. „Sie 
ſprechen ja ein ganz unvergleichliches Chineſiſch. Sehen 
Sie, wie ſchnell meine Lehre von den Endungen ge⸗ 
wirkt hat! Gratuliere herzlich! Mit dem Sprachrohr 
haben Sie recht. Geben Sie mal her!“ 


Die Bootsinſaſſen hatten ihre Ruder wieder in Be⸗ 
wegung geſetzt und drängten von neuem herbei. Da 
hielt Turnerſtick ihnen das Sprachrohr entgegen und 
donnerte ſie an: „Augenblickling halteng, ihr Schur⸗ 
kang, ihr Hallunking. Wollt ihr gleich folgeng und ge⸗ 
horchung! Zurück, zurück mit euch! Flink, flunk, flank, 
flink, flink!“ 

Das Sprachrohr ſandte dieſen Befehl weit hin über 
das Waſſer. Hunderte wurden aufmerkſam auf den 
Klipper und die ſich an ihn drängenden Boote. Turner⸗ 
ſtick ergriff jetzt einen der bereit geſtellten Waſſereimer 


— 39 — 


nach dem andern und ſchüttete deren Inhalt auf die 
Köpfe der zudringlichen Handelsleute. 

Dieſe mußten nun erkennen, daß man hier nichts 
von ihnen wiſſen wolle, und zogen ſich unter zornigem 
Geſchrei zurück. Geſchadet hatte das Waſſer ihrer Klei⸗ 
dung nichts. Viele von ihnen trugen nichts als kurze 
Leinen⸗ oder Kattunhoſen, und auf ihre unglaubliche 
Unſauberkeit konnte ein ſolches Sturzbad nur wohl⸗ 
tätig wirken. 

Jetzt wendete ſich der Kapitän zu Degenfeld und 
fragte triumphierend: „Nun, Freundchen, was ſagen 
Sie dazu? Bin ich nicht von den Kerls verſtanden 
worden?“ 

„Allerdings,“ antwortete der Gefragte ernſt. „Ich 
habe das zu meiner lebhaften Bewunderung erfahren.“ 

„O, zu bewundern gibt es da nichts. Es iſt ganz 
außerordentlich einfach. Die Endungen ſind's, die En⸗ 
dungen allein, mit denen man ſo etwas fertig bringt. 
Freilich gehört ein gewiſſes angeborenes Talent dazu. 
Wer das aber hat, dem iſt das bißchen Chineſiſch die 
reine Buttermilch.“ 

Da legte der Lotſe, welcher dabei geſtanden und 
alles gehört und geſehen hatte, ihm die Hand auf die 
Achſel und ſagte lachend: „Sir, ſoll das etwa heißen, 
daß Sie ſich einbilden, chineſiſch ſprechen zu können?“ 

„Was beliebt?“ fragte Turnerſtick ſchnippiſch, in⸗ 
dem er den Klemmer empornahm und den Sprecher ge⸗ 
ringſchätzend muſterte. 

„Ich frage, ob Sie denken, da mit den Kulis chine⸗ 
ſiſch geſprochen zu haben?“ | 

„Natürlich. Was ſonſt?“ 

„All devils! Das iſt luſtig! Redet der Mann ein 
Kauderwelſch, daß man meint, es ziehe einem alle Zähne 


— 40 — 


aus, und das gibt er für Chineſiſch! Mein beſter Sir, 
ich bin ſo ziemlich der hieſigen Mundarten mächtig, 
nämlich des Punti, Hakka, Hah⸗kian, Fuh⸗kian, Fu⸗tſcheu, 
Nan⸗tſchang und Ooei⸗tſcheu, denn ich treibe mich nun 
bereits an die fünfzehn Jahre hier herum, aber was Sie 
da zuſammengereimt . das habe ich noch nicht ge⸗ 
hört!“ 

Turnerſtick ließ den Klemmer fallen, ſpreizte die 
Beine nach Seemannsart weit aus und öffnete bereits 
den Mund zu einer geharniſchten Entgegnung, da aber 
ſchnitt ihm der Lotſe dieſe mit den Worten ab: „Bitte, 
keine Reden halten! Ich habe keine Zeit, ſie anzu⸗ 
hören. Zahlen Sie mir meine Gebühr, und ich gebe 
Ihnen meine Quittung; dann ſcheiden wir in Frieden 
voneinander.“ 

„Ja,“ ſtieß der Kapitän hervor, „machen wir uns 
ſchleunigſt voneinander los, ſonſt geraten Sie auf 
Seegerwall und können ſich nicht wieder abarbeiten. War⸗ 
um haben Sie vorhin nicht mit mir chineſiſch reden wol⸗ 
len? Weil Sie es nicht können! So iſt es!“ 

Er ging wie ein beleidigter, ſeiner Ueberlegenheit 
wohl bewußter Held nach der Kajüte ab. Der Lotſe 
folgte ihm und kehrte bald darauf N um das Schiff 
zu verlaſſen. 

Turnerſtick ließ ſich noch nicht ſehen. Nach Ver⸗ 
lauf von faſt einer Stunde, während welcher der 
Steuermann das Bergen der Segel und anderes Not⸗ 
wendige angeordnet und beauffichtigt hatte, hielt Fritz 
Degenfeld es doch für geboten, einmal nach dem Be⸗ 
leidigten zu ſehen. 

Eben als er an die Kajütentür klopfen wollte, 
wurde dieſe geöffnet und heraus trat — — ein Mann, 
den der Student für einen Vollblutchineſen gehalten 


— 41 a 


hätte, wenn nicht der goldene Klemmer geweſen wäre, 
der ſoeben von dem ſchiefen Stumpfnäschen herab⸗ 
rutſchte. N 

„Kapitän!“ rief Degenfeld. „Faſt hätte ich Sie 
nicht erkannt!“ 

„Nicht wahr!“ antwortete Turnerſtick, indem er 
eine höchſt befriedigte, ſelbſtgefällige Miene zeigte. „Ja, 
ich bin der reine Chinamann! Nicht?“ 

„Allerdings! Gerade wie im kaiſerlichen Luſt⸗ 
ſchloß zu Puan⸗ning⸗yuen geboren und erzogen! Laſſen 
Sie ſich doch einmal anſehen!“ Er faßte ihn bei den 
Achſeln und drehte ihn nach allen Seiten, um die Ver⸗ 
wandlung, der Turnerſtick ſich unterworfen hatte, genau 
in Augenſchein zu nehmen. 

„Fein, ſehr fein! Alles aus Seide!“ erklärte der 
Kapitän, indem er die Obergewänder öffnete, damit 
Degenfeld auch die Unterkleider ſehen könne. 

Er trug eine außerordentlich weite Hoſe aus roter, 
weiß geblümter Seide, die unten über den Knöcheln mit 
breiten Bändern zuſammengebunden war, und darüber 
eine Weſte von dem gleichen Stoff, die ihm bis auf die 
Hälfte der Oberſchenkel ging. Darüber kam ein weißes, 
ärmelloſes Hemd von Seide. Dann folgte ein ziemlich 
enges, ſchlafrockähnliches, blaues Gewand, das faſt bis 
zur Erde reichte. Die Aermel desſelben wurden nach 
unten außerordentlich weit und hingen bis über die 
Hände herab; ſie konnten als Taſchen gebraucht werden. 
Um die Hüfte war ein langer, golddurchwirkter Gürtel 
gebunden, deſſen Enden bis über das Knie niedergingen. 
An ihm hingen nebſt der Taſchenuhr allerlei Futterale 
mit den verſchiedenſten Gegenſtänden, wie man ihrer in 
China in jedem Augenblick bedarf. Darüber hatte er 
noch ein weites, burnusartiges Gewand gezogen, welches 


— 42 — 


etwas kürzer war als das vorige. Es zeigte auf grünem 
Grund rote Raupen und gelbe Schmetterlinge und hatte 
Aermel, die nicht ganz bis zum Ellbogen gingen. 

An den Füßen trug er abſatzloſe, rotſeidene Schuhe, 
deren Spitzen weit nach oben gebogen waren. Die 
Sohlen, die aus feſtem, unten mit Leder belegtem Papp⸗ 
deckel beſtanden, waren gut drei Finger breit hoch. 

Den Kopf beſchützte ein aus Rohr geflochtener und 
mit einem weichen Stoff gefütterter Hut, der einer rie⸗ 
ſigen, umgekehrten Schüſſel glich. Er war verziert 
durch einen großen Buſch rot gefärbter Pferdehaare und 
eine aus dünnem, goldig ſchimmerndem Blech gefertigte 
Drachengeſtalt. u 

An einem über die Schulter gehenden Wehrgehäng 
waren zwei krumme Säbel befeſtigt, deren einer etwas 
kürzer war, während der andre auf dem Boden raſſelte. 

Und um die Hauptſache nicht zu vergeſſen, trug er 
in der Hand einen Fächer, hinter dem er, als er ihn jetzt 
entfaltete, ſeinen ganzen Oberkörper wenigſtens zwei⸗ 
mal verſtecken konnte. Dieſes notwendige Stück, das 
keinem Chineſen fehlen darf, war mit einer blutigen 
Kriegsſzene bemalt, über welcher in goldenen Zeichen 
eine chineſiſche Inſchrift prangte. 

„Nun, wie gefalle ich Ihnen?“ fragte er. 

„Ausgezeichnet!“ antwortete Degenfeld. „Aber wo 
haben Sie denn dieſe Kleidung her?“ 

Die Wahrheit zu ſagen, mußte Turnerſtick nach 
chineſiſchen Begriffen einen höchſt ſtattlichen Eindruck 
machen. N 

„In Singapore gekauft,“ erklärte er. „Dort habe 
ich mir auch die Aufſchrift auf den Fächer machen laſſen. 
Es war gerade noch Zeit dazu. 

„Können Sie ſie leſen?“ 


un AG 


„Nein. Mit der chineſiſchen Schrift ſtehe ich nicht 
auf beſtem Fuße. Bitte, leſen Sie.“ 

Degenfeld betrachtete ſich die Zeichen genau und er⸗ 
klärte: „Die Chineſen haben kein „r“; ſie ſprechen das⸗ 
ſelbe wie „l“ aus. Es iſt darum ſchwer, hier die erſte 
Silbe zu enträtſeln. Jedenfalls ſoll man anſtatt Tul 
Tur ſagen?“ 

„Natürlich. Es iſt ja mein Name, ins Chineſiſche 
übertragen.“ 

„Ah, da iſt der Zweifel gelöſt. Die Inſchrift lautet 
alſo Tur⸗ning⸗ſti⸗king Kuo⸗ngan⸗ta⸗fu⸗tſiang!. Stimmt 
es ſo?“ 

„Ich denke. Können Sie es überſetzen?“ 

„Ja. Es lautet: „Turnerſtick, der große General- 
major Exzellenz'. Sind Sie denn des Teufels, Ka⸗ 
pilän! Ein Generalmajor wollen Sie fein, und noch 
dazu ein großer, d. h. doch wohl ein berühmter?“ 

„Warum denn nicht?“ lachte der Gefragte. „So 
geſcheit wie ein chineſiſcher Generalmajor bin ich alle⸗ 
mal.“ 

„Aber wenn Sie nun beweiſen ſollen, daß Sie es 

wirklich ſind?“ 
„demjenigen, der dies von mir verlangt, werde ich 
es ſofort beweiſen, und zwar mit meinen beiden guten 
Fäuſten. Das iſt eine Legitimation, der ſicherlich kein 
Chineſe zu widerſtehen vermag. Und was meinen Sie 
nun zu dieſem da?“ Er lüpfte den Hut ein wenig, und 
ſofort ſchlängelte ſich ein allerliebſter Zopf herab, den er 
bisher darunter verborgen hatte. 

„Ein Pen⸗tſe,“ lachte der Student; „wahrhaftig ein 
richtiger Pen⸗iſe, ein Zopf, wie er im Buche ſteht. Wie 
haben Sie ihn denn befeſtigt?“ 


— 44 — 


„Er hängt an einem äußerſt feinen, faſt unſicht⸗ 
baren Netz, das ich über mein eigenes Haar ziehe. Sie 
ſehen, daß ich vollſtändig vorbereitet bin, eine Wande⸗ 
rung zu den Himmelsſöhnen anzutreten.“ 

„Wenn Sie dabei nur nicht zu viel wagen!“ 

„Wagen? Nicht, daß ich wüßte! Kapitän Frick 
Turnerſtick weiß ſtets, was er tut. Denken Sie nur an 
meine Sprachfertigkeit, an meine Endungen und Di⸗ 
alekte! Was kann mir geſchehen? Uebrigens bin ich 
geborener Deutſcher und amerikaniſcher Staatsbürger. 
Was kann mir geſchehen, wenn ich mich als Gentleman 
betrage? Nichts, gar nichts! Ich habe mir einen Titel 
beigelegt, damit die Herren Chineſen nicht etwa denken 
ſollen, daß ich nur von Holunderſuppe lebe. Was kön⸗ 
nen ſie dagegen haben? Alſo ich bin zum Aufbruch 
bereit. Will nur dem Steuermann noch einiges ſagen. 
Wie ſteht es mit Ihnen? Haben Sie Ihre Vorberei⸗ 
tungen getroffen?“ 

„Große Vorbereitungen habe ich nicht zu treffen. 
Wenn Sie mit dem Steuermann fertig ſind, werden wir 
drei uns Ihnen anſchließen können. Gepäck nehmen 
wir ja nicht mit; alſo ſind wir ſchnell bereit.“ 

„Nun, ganz ſo ſchnell, wie Sie denken, wird es 
doch nicht gehen. Da kommt das Polizeiboot, deſſen 
Inſaſſen wir Rede und Antwort zu ſtehen haben. Ein 
Glück, daß wir nicht aus einer verſeuchten Gegend kom⸗ 
men und keine Kranken an Bord haben, ſonſt würde 
man uns zu einer Quarantäne zwingen, die bis zehn 
Tage währen könnte. Eigentlich hätte uns dieſes Boot 
ſchon weit draußen anſegeln ſollen.“ 

Das Boot legte an, und der Polizeikommiſſar kam 
mit dem Arzt und einem Unterbeamten an Bord. Das 
waren Engländer, denn Hongkong iſt ja engliſche Be⸗ 


zei, AR, ges 


ſitzung. Sie erſtaunten nicht wenig, als Turnerſtick ſich 
ihnen als Kapitän vorſtellte; aber als ſie einige Redens⸗ 
arten mit ihm gewechſelt hatten, erkannten ſie, wes 
Geiſtes Kind er ſei, und gaben ſich Mühe, ihre amtlichen 
Fragen in ernſter Höflichkeit an ihn zu richten. Sie 
fanden alles in Ordnung, und da der Steuermann alles 
weitere zu beſorgen hatte, ſo ſtand, als ſie ſich entfernt 
hatten, dem wackern Kapitän nichts im Wege, an das 
Land zu gehen. 

Während der letzteren Verhandlung war es dem Be⸗ 
ſitzer eines der vielen Boote, die ſich vorhin herbei⸗ 
gedrängt hatten, doch gelungen, am Fallreep anzulegen 
und an Bord zu kommen. Er war ein alter Chineſe in 
ſchmutzigem Gewand, barfuß und mit einem rieſigen 
Binſenhut auf dem Kopf. Hinten hing ihm ein ma⸗ 
geres, kurzes Zöpfen wie ein Rattenſchwanz herab, und 
vorn tanzte eine rieſige Brille auf dem mongoliſchen 
Stumpfnäschen. Als er bemerkte, daß der Kapitän ihn 
zornig fortweiſen wollte, kam er ihm zuvor, indem er 
ihn höflich und zwar in dem hier gebräuchlichen Pitchen⸗ 
engliſch fragte: „Money, money! To want you money? 
I am money-exchanger; to be banker. I will ex- 
change!“ | 

Er hatte einen Teil der Unterredung Turnerſticks 
mit den Beamten mit angehört und wußte alſo, daß der 
Kapitän trotz ſeiner koſtbaren chineſiſchen Kleidung kein 
Eingeborener ſei. Sein Anerbieten beſeitigte ſofort den 
Unwillen Turnerſticks, der überzeugt war, daß ein wenig 
Kleingeld in der Taſche ſtets von Vorteil ſei. Darum 
hellte ſich die finſtere Miene des Kapitäns auf; er zog 
einen langen, dicken, wohlgefüllten Lederbeutel aus der 
Taſche ſeiner weißen Hoſe, öffnete ihn, nahm ein Geld⸗ 
ſtück heraus und ſagte — aber nicht etwa engliſch, o 


ir A0: 


nein, denn er wollte ja als Chineſe gelten: „Ja, ja! 
Ich brauching Moneteng, kleinang Moneteng. Wechs⸗ 
lung Sie mir eineng Dollaring!“ 

Er hielt das Geldſtück dem Wechsler entgegen. 
Dieſer öffnete die Augen doppelt weit, ſtarrte ihn ob 
dieſes Chineſiſch ganz betroffen an und antwortete: 
„LJ can not understand. I shall exchange this dollar?“ 

„Ja, yes, oui! Ich habing doch deutling genung 
geſprocheng!“ N 

Der Chineſe ſchüttelte dennoch leiſe den Kopf; aber 
da er wenigſtens das Yes verſtanden hatte, jo erkundigte 
er ſich: „Which money to wish you?“ 

Turnerſtick wendete ſich an den Methuſalem, der 
die Szene mit ſtillem Vergnügen beobachtete: „Bitte, 
wie heißt denn eigentlich die hieſige Scheidemünze? Ich 
will möglichſt Kleingeld haben.“ 

Um die Lippen des Gefragten ſpielte ein nicht zu 
unterdrückendes Lächeln, als er erwiderte: „Die kleinſte 
Münze iſt die Sapeke, hier Li genannt. Zehn Li ſind 
ein Fen, zehn Fen ein Tſchung und zehn Tſchung ein 
Liang.“ 

Turnerſtick bedankte ſich mit einem Kopfnicken für 
die Auskunft und befahl dem Wechsler: „Gebeng Sie 
mir Li, lauter Li! Ich will Li, nichts als Li bekom⸗ 
ming!“ 

Dabei gab er ihm den Dollar in die Hand. Der 
Wechsler blickte drei⸗, viermal zwiſchen dem Dollar und 
dem Geſicht des Kapitäns hin und zurück, öffnete den 
Mund noch weiter als vorher, zog die Stirn in ſolche 
Falten, daß ihm die Brille über das Näschen rutſchen 
wollte, und meinte bedenklich: „Li, li. li! I have li, 
li, li!“ 


8 


Er trat an die Regeling und rief den beiden Bur⸗ 
ſchen, die in ſeinem Boot ſaßen, einige chineſiſche Worte 
zu, worauf ſie einen Holzkaſten heraufgeſchleppt brachten, 
den ſie vor ihn hinſtellten. Er legte den Zeigefinger an 
die Naſe, machte in halblautem Ton ſeine Berechnung 
und öffnete dann den Kaſten. 

„Gebeng Sie mir für zwei Dollaring, für drei Dol⸗ 
laring!“ gebot Turnerſtick, indem er noch zwei Dollar 
aus dem Beutel zog und ſie dem Wechsler reichte. Dieſer 
wiederholte die ſchon erwähnte Grimaſſe, griff dann in 
den Kaſten und zog drei Schnüre hervor, an N je 
600 Li gereiht waren. 

Es ſind dies jene chineſiſchen Scheidemünzen, die in 
der Mitte ein viereckiges Loch haben, durch das man die 
Schnur ſteckt. Man pflegt ſie wie Ketten um den Hals 
zu tragen. 

„Potztauſend!“ rief der Kapitän. „So viel ſoll ich 
bekommeng für drei Dollaring?“ 

„Yes, yes!“ nickte der Wechsler, der zwar nicht 
ſeine Worte, deſto beſſer aber ſeine Miene verſtanden 
hatte. „I am reasonable. Good bye Sir!“ 

Er ſteckte die drei Dollar ein und eilte das Fallreep 
hinab. Die beiden Burſchen folgten ihm mit dem Kaſten 
in der nämlichen Eile. Turnerſtick hielt die Schnüre in 
den Händen und ſagte zu dem Methuſalem: „Sollte 
man es glauben, daß man für drei Dollar ſo eine Maſſe 
von Geld bekommt?“ 

„Viele Stücke ſind es, jawohl,“ lachte der Student; 

„aber Sie hatten noch mehr zu erhalten.“ 
| „Wieviel denn?“ a 

„Drei Dollar geben 1965 Li. Der Mann hat 165 

weniger gegeben, was alſo neunthalb Prozent Gewinn 


für ihn macht.“ 


Zu, YO wie 


„Neunthalb Prozent in fünf Minuten! Das ergibt 
für das Jahr über hunderttauſend Prozent! Der Kerl 
muß zurück! Er muß mir mehr zahlen, ſonſt hänge ich 
ihn an der Raa auf, daß er baumelt!“ 

Er trat an die Regeling hin und rief zornig hinab: 
„Wolleng Sie ſofortong wieder heraufkomming, Sie 
Schurkung, Sie Spitzbubang! Ich kann höchſtenfallſing 
nur zwei Prozentang erlaubeng!“ 

Aber das Boot war ſchon vom Schiff geſtoßen. Die 
beiden Burſchen ruderten aus Leibeskräften, und der 
alte Chineſe winkte freudegrinſend herauf und antwor⸗ 
tete: „Tſching leao! I have been noble, extraordinary 
noble. Tſching leao tſching!“ 

„Da ſegelt er hin, der Spitzbube!“ zürnte Turner⸗ 
ſtick. „Hätte ich ihn, wie wollte ich ihn, nämlich ver⸗ 
hauen, und zwar mit dem ſtärkſten Tauende! Und dabei 
ruft er mir noch ein Tſching tſching zu! Wenn der erſte 
Gruß dieſes Landes gleich in einem Betrug beſteht, ſo 
können dieſe Chinamänner mir alle geſtohlen werden. 
Aber was mache ich nun mit dieſem Geld? Ich kann 
es doch unmöglich in den Beutel ſtecken!“ 

„Das glaube ich Ihnen gern,“ lachte der Student. 
„Dieſe Scheidemünze wiegt wenigſtens zehn Pfund. Sie 
müſſen die Schnüre um den Hals hängen.“ 

„Daß ſie mich erwürgen! Sind Sie des Teufels?“ 

„Man trägt ſie hier nicht anders.“ 

„Wirklich?“ 

„Ja, und wenn Sie für einen echten Chineſen 
gelten wollen, ſo müſſen Sie ſich dieſem Gebrauch an⸗ 
bequemen.“ 

„Gelten wollen!“ meinte der Kapitän vorwurfs⸗ 
voll, wobei er den Klemmer verlor. „Von gelten iſt 
keine Rede. Ich bin einer, ein wirklicher, wahrhaftiger 


=: SAD: 


Chineſe. Sehen Sie mich doch an! Und denken Sie an 
meine Sprachkenntniſſe!“ 

„Aber der Wechsler wollte Sie doch nicht verſtehen!“ 

„War auch ganz und gar nicht nötig! So ein 
Spitzbube ſoll und braucht mich nicht zu verſtehen. 
Uebrigens war ihm das Chineſiſche vollſtändig fremd; 
er ſprach engliſch, aber wie! Geradezu haarſträubend. 
Er war ein Hottentotte oder Peſcherä. Kein Chineſiſch 
kann ſo deutlich und ſo einfach ſein wie das meinige. 
Die achtzehnhundert Li will ich umhängen und dann 
gehen wir von Bord. Wir wollen unſre koſtbare Zeit 
nicht hier an Deck verſäumen.“ 

Er hing ſich die drei Geldſchnüre um den Hals und 
holte ſich Schießwaffen, welche er mitnehmen wollte; 
dieſe beſtanden in zwei Revolvern und einer Doppel- 
büchſe. Auch der Methuſalem und Gottfried von Bouillon 
waren mit den gleichen Waffen verſehen, nur daß ſie 
anſtatt der Doppelbüchſe gute Hinterlader mitgebracht 
hatten. Die kriegeriſche Ausrüſtung Richard Steins be⸗ 
ſtand in einem langen Meſſer und einer Drehpiſtole. 
Ein Gewehr verſtand er noch nicht zu handhaben. 


May, Der Blaurotz Methuſalem. ̃ 4 


Drittes Kapitel. 


Ein Dauerlauf in der Sänfte. 


Die Landebrücke wurde vom Bord aus auf die 
Höhe des Quais gelegt, und dann verließen die vier 
Abenteurer das Schiff. 

Turnerſtick ſchritt langſam und würdevoll wie ein 
chineſiſcher Mandarin hinüber. Ihm folgten die drei 
andern, der Methuſalem und Gottfried, ganz genau in 
dem gleichen Aufzug, wie man ſie in der Heimat täglich 
dreimal nach dem „Geldbriefträger von Ninive“ hatte 
hin und zurück gehen ſehen. 

Voran ſtolzierte der rieſige Neufundländer. Er trug 
wahrhaftig auch hier das große Stammſeidel im Maul. 
Außerdem war ihm eine Art Torniſter ſattelartig auf 
den Rücken geſchnallt, der allerlei notwendige Gegen⸗ 
ſtände enthielt. An dieſem Torniſter befand ſich ein 
Futteral, welches bei längeren Touren das Bierglas 
aufzunehmen hatte. 

Hinter dem Hunde ſchritt in ernſter Gewichtigkeit 
der Methuſalem. Er trug ſeinen heimatlichen Stu⸗ 
dentenanzug, hatte beide Hände in den Hoſentaſchen und 
die Spitze des Pfeifenſchlauches im Munde, dicke Rauch⸗ 
wolken vor ſich hinſtoßend. 


— 51 — 


Ihm folgte Gottfried von Bouillon, genau drei 
Schritte Diſtanz haltend. Quer über dem Rücken hingen 
ihm die beiden Hinterlader. In der linken Hand trug 
er die Waſſerpfeife, deren Spitze ſein voranſchreitender 
Herr im Mund hatte, und in der rechten Hand hielt er 
— ſollte man es für möglich halten! — ſeine „Oboe“! 
Der wackere Gottfried war ſo unzertrennlich von dem 
alten Blasinſtrument, daß es ihm gar nicht in den 
Sinn gekommen war, ſich zu fragen, ob es ihm in China 
nützlich oder läſtig ſein werde. Er hatte es eben ganz 
ſelbſtverſtändlich eingepackt, und. feinem Herrn war es 
gar nicht eingefallen, eine Bemerkung darüber zu 
machen. 

Hinter dieſem Schild⸗ und Pfeifenträger kam 
Richard Stein. Er trug die grüne Gymnaſiaſtenmütze 
und war in Beziehung auf ſeine übrige Bekleidung das 
getreue Abbild des Methuſalem, der ihn vor der Ab⸗ 
reiſe in genau denſelben „Wichs“ geworfen hatte. 

Als ſie die Landungsbrücke überſchritten hatten, 
wendete ſich Turnerſtick nach rechts, wo er das Dampf⸗ 
ſchiff vermutete, mit dem ſie nach Kanton fahren wollten. 
Aber der Methuſalem rief ihm zu: „Halt! Wohin, 
Maſter?“ 

„Zum Steamer natürlich,“ antwortete der Kapitän, 
indem er ſtehen blieb. 

„Jetzt noch nicht. Erſt muß eins getrunken wer⸗ 
den. Wir müſſen unſern Einzug im Reich der Mitte 
feiern. Wollen alſo ſehen, welchen Stoff man hier ver⸗ 
zapft!“ 

„Aber wir verlieren Zeit!“ 

„Pah! Man verliert überall und bei allem Zeit, 
beim Fahren und Sitzen, beim Kneipen und Arbeiten, 
beim Lachen und beim Weinen. Uebrigens muß ich 


— 52 — 


unbedingt unſern hieſigen Konſul aufſuchen, um mich 
ihm vorzuſtellen und mir verſchiedene Auskünfte holen. 
Ich führe euch alſo nach dem Hongkonghotel, wo ihr 
warten könnt, bis ich zurückkehre.“ | 

„Well! Iſt mir auch recht. Aber wie kommen 
wir durch dieſes Gedränge? Was dieſe Leute nur von 
uns wollen!“ | 

„Was fie wollen? Ich will Ihnen mit einem 
ſchönen Studentenverſe antworten und dabei nur den 
Namen ändern, nämlich: 

ö „Da kommt ein Untier hergerannt, 

Turnerſtick wird es genannt, 


Und 's ſteht ein Haufe Volk davor, 
Wie die Kuh vor dem neuen Tor!“ 


Das Bild, das er anwandte, war gar nicht ſo übel 
gewählt, nur daß er anſtatt den Namen des Kapitäns 
ſeinen eigenen hätte nennen ſollen, da man ihn, Gott⸗ 
fried und Richard weit mehr anſtaunte als Turnerſtick. 


Drei ſo gekleidete Menſchen hatte man hier noch 
nie geſehen. Sobald ſie über die Landebrücke waren, 
hatten ſich alle im Geſichtskreis befindlichen Männlein 
und Weiblein beeilt, herbei zu kommen und einen Halb⸗ 
kreis um ſie zu bilden. Männer in allen Farben und 
Trachten, untermiſcht mit ſchmutzigen Kuliweibern und 
noch viel ſchmutzigeren Kindern, ſtanden da und ſtarrten 
die unerhörten Erſcheinungen an. Aber ihr Staunen 
war ein achtungsvolles. Man ſah, daß ſie die drei Per⸗ 
ſonen für ganz beſondere, hochſtehende Leute hielten, 
wozu deren würdevolle Haltung das meiſte beitrug. 

Während dieſe taten, als ob ſie die von ihnen er⸗ 
regte Aufmerkſamkeit gar nicht bemerkten, erweckte die⸗ 
ſelbe den Stolz des Kapitäns. Er war überzeugt, daß 


— 53 — 


die Bewunderung vorzugsweiſe ihm gelte, und ſo kam 
ihm der Gedanke, ſich als hohen Mandarin zu zeigen. 
Darum ſagte er zu den andern: „Es ſchickt ſich nicht für 
uns zu gehen; Leute wie wir, mit achtzehnhundert Li 
um den Hals, müſſen fahren oder ſich wenigſtens eines 
Palankin bedienen. Dort ſehe ich Sänftenträger ſtehen, 
mieten wir fie!” 

Er deutete auf eine Gruppe von Kulis, die mit 
ihren Sänften in der Nähe hielten. 

„Habe keine Luſt,“ antwortete der Methuſalem. 
„Bin ſo lange auf dem Schiff geweſen, daß ich mich 
ordentlich darauf freue, mir die Beine einmal vertreten 
zu können. Laſſen Sie ſich alſo vorantragen! Wir 
folgen Ihnen zu Fuß und treffen Sie im Hotel.“ 

„Schön! Sie werden ſich ſelbſt die Schuld zuzu⸗ 
ſchreiben haben, wenn man Sie dann nicht mit der 
Hochachtung behandelt, die uns gebührt.“ 

Der Methuſalem antwortete nicht darauf. Er fragte 
einen der Kuli nach dem Hongkonghotel, und als er auf 
die in engliſcher Sprache ausgeſprochene Erkundigung 
eine in derſelben Sprache gegebene Auskunft erhalten 
hatte, ſchritten die drei mit dem Hunde in der bisherigen 
Reihenfolge davon. Dabei ſpielte um die Lippen des 
Studenten ein eigenartiges Lächeln. Er war vielleicht 
der Anſicht, daß er zu Fuß das Hotel wohl beſſer er⸗ 
reichen werde als der Kapitän in ſeiner Sänfte. Und 
daß er ſich da nicht geirrt habe, ſollte er ſchon nach 
wenigen Augenblicken erkennen. 

Turnerſtick war nämlich zu der Gruppe der Kulis 
getreten und hatte zu zweien derſelben, welche die hüb⸗ 
ſcheſte Sänfte beſaßen, geſagt: „Was koſting es, mich von 
hier bis zum Hotelung Hongkong zu trageng?“ 


— 54 — 


Sie ſahen ihn verwundert an, ſchüttelten die Köpfe 
und einer antwortete: „Yes, Sir; You are in Hong- 
kong.“ 

Er hatte nur das Wort Hongkong verſtanden und 
war der Anſicht, Turnerſtick wolle wiſſen, ob er ſich in 
Hongkong befinde. Daß er ihn Sir nannte, war ein 
ſicheres Zeichen, daß er ihn trotz der chineſiſchen Klei⸗ 
dung nicht für einen Sohn der Mitte hielt. Das erregte 
den Zorn des Kapitäns; er ſetzte den Klemmer auf ſein 
Vorlukennäschen, warf dem Kuli durch denſelben einen 
möglichſt großartigen Blick zu und ſagte: „Ich muß mir 
ausbitting, daß Ihr mit mir chineſiſch ſprechengt! Ich 
bin ein Mandaring der oberſten Klaſſong und habe keine 
Luſt, fremde Dialekting zu duldung! Alſo was habe ich 
von hier bis ins Hotel zu zahleng?“ 

„Hotel?“ fragte der Kuli, der jetzt dieſes eine Wort 
verſtanden hatte. 

„Ja, Hotel Hongkong.“ 

„Ah, we shall to bear to Hongkong-Hotel?“ 

„Ja, dorthing will ich getrageng ſeiang. Wievicl 
habeng ich dafür zu bezahlong?“ 

Da er bei dem „Ja“ zuſtimmend nickte, ſo wurde 
er verſtanden. Bei ſeiner letzten Frage machte er die 
Pantomime des Geldzählens, die in aller Herren Länder 
ganz dieſelbe iſt. Darum wußte der Kuli, was er 
meine, und antwortete: „Fifteen Fen or Candarins.“ 

„Fünfzehn Fen ſind hundertfünfzig Li, alſo eine 
ganze Mark; das iſt zu viel!“ brummte der Kapitän vor 
ſich hin. Und laut ſetzte er hinzu: „So viel zu bezahling 
kann mir nicht einfalleng. Ich bin chineſiſcher Manda⸗ 
ring und laſſe mich von keinem Kuli überteuerong. Ihr 
ſollt hundert Li bekommung, aber keinen Pfennig mehr!“ 


— 55 — 


Er knüpfte eine der Schnüre auf, zählte hundert Li 
ab und gab ſie dem einen der Kuli. Dieſer zählte nach, 
ſchüttelte den Kopf und ſagt: „Hundred -fifty Li, not 
hundred!“ ö 

„Ich gebe hundert; dabei hat's zu bleibing,“ be⸗ 
harrte Turnerſtick. 

Der Kuli ſah aus der Miene des Kapitäns, was 
dieſer meinte, und entgegnete: „Sir, do you are a 
miser, a nigard, a churl?“ 

„Was, ich ſolling ein Geizhals ſeiung? Ein Knicker? 
Das iſt ſtark! Das iſt im höchſteng Grade beleidigingd! 
Gebt mir mein Geld zurück! Ich werde mich von an⸗ 
dern trageng laſſung!“ 

Er rief das ſo laut und zornig, daß die zahlreichen 
Zuſchauer ſich in Erwartung einer Szene näher heran⸗ 
drängten. Die beiden Kulis wechſelten einige halblaute 
chineſiſche Sätze, muſterten Turnerſtick noch einmal, und 
zwar genauer als vorher, und wollten ihm dann Be⸗ 
ſcheid ſagen. Er aber kam ihnen zuvor, indem er, um 
ihnen zu imponieren, ſeinen rieſigen Fächer öffnete, 
und, auf die goldenen Zeichen deutend, ſie anherrſchte: 
„Solltet ihr mir nicht anſeheng, wer ich eigentlich bing, 
ſo leſt hier meine Viſitingkartong! Turningſticking, 
kuongan ta⸗fu⸗tſiang! Ich bing Generalmajoring! Ver⸗ 
ſtanding? Euch ſoll der Teufling holang, wenn ihr nicht 
gehorchung wollt! Ihr tragt mich für hundert Li, ſonſt 
werde ich euch bei den Ohreng nehmang!“ 

Die Umſtehenden ließen ein Gemurmel des Un⸗ 
willens hören. Der Kuli aber beruhigte ſie mit einigen 
chineſiſchen Worten, die Turnerſtick nicht verſtand, und 
ſagte unter einer tiefen Verbeugung zu ihm: „Well, 
hundred Li; get into, Sir!“ 


— 56 — 


Dabei öffnete er die Tür der Sänfte und lud durch 
eine Handbewegung den Kapitän ein, ſich hineinzuſetzen. 
Turnerſtick freute ſich über den Sieg, den er errungen 
zu haben meinte. Er beachtete die ſchadenfroh erwar⸗ 
tungsvollen Blicke nicht, die auf ihn gerichtet waren, und 
ſtieg ein. 

Kaum hatte er es ſich auf dem Polſterſitz bequem 
gemacht, ſo hoben die beiden kräftigen Kulis die beiden 
Tragſtangen auf ihre Schultern. Zugleich ſprangen 
zwei andre Kulis herbei, einer an die rechte und der 
andre an die linke Seite der Sänfte. Der Boden der 
letzteren war beweglich; er konnte, wohl der bequemeren 
Reinigung wegen, nach unten geöffnet werden, indem 
man rechts und links je einen Haken aus ſeiner Oeſe zog. 
Die zwei letzterwähnten Kulis taten dies; der Boden der 
Sänfte klappte nach unten auf; Turnerſtick rutſchte 
natürlich nach und kam auf die Beine zu ſtehen. 

„Alle Teufel!“ ſchrie er. „Was ſoll das heißing? 
Die Sänftang iſt anſtatt des Bodens mit einer Falltür 
verſehang! Ich will — — —“ 

Weiter kam er nicht, denn die beiden Träger ſetzten 
ſich, ohne auf ihn zu achten, in Bewegung. Sie rannten 
nach dortiger Weiſe in raſchem Trab davon. Turnerſtick 
ſteckte in der Sänfte und mußte mittraben, er mochte 
wollen oder nicht; aber ſein Brüllen und Zetern war 
noch aus der Ferne zu hören. Die Zeugen dieſes für ihn 
nicht ſehr ehrenvollen Vorkommniſſes lachten im ſtillen 
über den gelungenen Streich, ohne aber ihre Befriedi⸗ 
gung laut werden zu laſſen. Man mußte ja ſo tun, 
als ob der Unfall des „Generalmajors“ gar nicht be⸗ 
merkt worden ſei. | 

Jedermann, an dem der ſeltſame Transport vor⸗ 
überkam, blieb ſtehen. Man ſah zwei Kulis mit einer 


— 57 — 


berhängten Sänfte daherſtürmen, deren Boden nieder⸗ 
hing. Unten erblickte man zwei Beine, deren mit rot⸗ 
ſeidenen Schuhen bekleidete Füße krampfhaft tätig wa⸗ 
ren, mit den Kulis gleichen Schritt zu halten. Dabei 
brüllte der unglückliche Beſitzer dieſer Beine in einem 
fort: „Halt, Halt! Wollt ihr gleich anhalteng! Donner 
und Doria! Ich kann nicht mehr laufing; der Atem 
geht mir aus! Halt, ſage ich, ihr Schurking, halt, ſtopp, 
au — oh — ahl“ 

Der Anblick dieſes eigenartigen Transports mußte 
den ernſteſten Menſchen zum Lachen bringen. Ein Haufe 
Jungens rannte ſchreiend, johlend und pfeifend hinter⸗ 
her. Am draſtiſchſten wirkten die beiden ernſten Ge⸗ 
ſichter der Kulis, die ſo große Eile zeigten und dabei gar 
nicht taten, als ob ſie wüßten, daß ihr Paſſagier zum 
Laufen gezwungen ſei. 

Sie mußten auch an dem Methuſalem, Gottfried 
von Bouillon und Richard Stein vorüber. Dieſe drei 
hörten hinter ſich die ſcheltende Stimme ihres Gefährten. 
Sie blieben ſtehen und blickten zurück. Da ſahen ſie, in 
welcher Lage ſich ihr Turningſticking kou⸗ngan ta⸗fu⸗ 
tſiang befand; aber ehe es ihnen möglich war, einzu⸗ 
ſchreiten, waren die Kulis mit der Sänfte an ihnen vor⸗ 
übergeſauſt. 

„Herrjott!“ rief Gottfried von Bouillon. „Wat war 
das? Wenn das nicht die Beine unſres Seehelden je⸗ 
weſen ſind, ſo kann ich mir nicht mehr auf meine eigenen 
Augen verlaſſen. Und ſeine Stimme war es auch. Wie 
kommt er dazu, in dieſer Weiſe an uns vorüberzujondeln?“ 

„Man möchte allerdings ſeinen Augen nicht trauen,“ 
antwortete der Methuſalem. „Turnerſtick war es; es iſt 
kein Zweifel möglich. Wie aber iſt er in dieſe lächer⸗ 
liche Lage gekommen? Pyramidale Blamage!“ 


— 58 — 


„Dat is richtig. So eine Palankin⸗Spinde zu be⸗ 
zahlen und dennoch laufen, dieſer Jedanke iſt jrad ſo 
bodenlos wie die Sänfte ſelber. Ich habe mal einen 
Elefanten jeſehen, der in ähnlicher Weiſe transportiert 
wurde. Bei ſo einem Tier hat das ſeine Iründer, bei 
einem Menſchen aber iſt es jrundlos zu nennen.“ 

„Wer weiß, welche Dummheit er begangen hat. Wir 
werden es ja hören. Wollen uns beeilen, damit er nicht 
etwa noch ärgeres unternimmt.“ Sie ſchritten ſchneller 
aus als bisher und nahmen ſich nicht Zeit, auf die Auf⸗ 
merkſamkeit, die ſie erregten, zu achten. Glücklicher⸗ 
weiſe lag das Hotel in ziemlicher Nähe. 

Hongkong heißt bei den Chineſen Hiang⸗Kiang und 
iſt eine bergige Inſel, die rechts vor dem Eingange des 
Mündungsgolfes des Tſchu⸗kiang liegt. Es beſitzt einen 
der beſten Häfen des chineſiſchen Reiches und kann als 
das engliſche Gibraltar des Oſtens angeſehen werden. 
Die Hauptſtadt iſt Viktoria. Sie iſt faſt ganz europäiſch 
gebaut, hat breite Straßen, ſchöne große Häuſer, groß⸗ 
artige Warenſpeicher und elegante Villen. Wer chine⸗ 
ſiſches Leben kennen lernen will, wird ſich hier nicht ver⸗ 
weilen, ſondern die erſte Gelegenheit benutzen, nach 
Kanton zu gehen, was ja auch die Abſicht des „blauroten 
Methuſalem“ war. 

Als dieſer mit ſeinen Begleitern das Hotel erreichte, 
hörten ſie aus dem Innern die laute, zornige Stimme 
Turnerſticks erſchallen. Sie traten in die Reſtaurations⸗ 
ſtube und ſahen da den Kapitän, umgeben von den in 
langen, blauen Gewändern ſteckenden Kellnern und meh⸗ 
reren Poliziſten. Dieſe letzteren ſtammen meiſt aus 
Vorderindien, tragen dunkelblaue Uniformen und 
rote Turbane und ſind mit kurzen Keulenſtäben be⸗ 
waffnet. 


— 59 — 


Dieſe Leute hörten die Erzählung des Seemanns 
an, konnten aber nichts verſtehen, da er nicht dazu zu 
bringen war, engliſch zu ſprechen. Er ſtieß die ihm im 
Wege ſtehenden beiſeite, eilte auf den Methuſalem zu 
und ſagte: „Es iſt unerhört, wirklich unerhört! Erſt 
zwingt man mich, in der wohlbezahlten Sänfte zu 
laufen, und dann, als ich mich darüber beſchweren will, 
kann kein einziger dieſer Eingeborenen chineſiſch ver⸗ 
ſtehen. Es iſt zum Verzweifeln!“ 

„Sie irren ſich, Kapitän, wenn Sie dieſe Leute für 
Eingeborene halten,“ belehrte ihn der Angeredete. 
„Sprechen Sie doch engliſch, ſo wird man Sie verſtehen.“ 

„Engliſch? Fällt mir gar nicht ein! Wenn ich 
mich in China befinde, ſo bediene ich mich der Sprache 
des himmliſchen Reiches. Ich kann verlangen, daß man 
mich verſteht, mich, einen Mandarin von achtzehnhun⸗ 
dert Sapeken!“ 

„Sie ſind noch nicht in China, ſondern in England, 
Hongkong iſt engliſche Beſitzung.“ 

„Das weiß ich wohl; aber ich verlange, daß man 
auch hier ſich meiner Sprachkenntniſſe erfreue. Wiſſen 
Sie, was mir paſſiert iſt?“ 

„Ja. Es hat Ihnen beliebt, in einer Sänfte 
Dauerlauf zu üben.“ 

„Beliebt? Wollen Sie mich auch noch foppen? Ge⸗ 
zwungen hat man mich, hinterliſtig gezwungen!“ 

„Und Sie haben ſich nicht gewehrt?“ 

„Konnte ich mich etwa wehren?“ 

„Warum nicht?“ 

„Weil man mir den Kopf eingeſtoßen hätte, wenn 
ich nicht mitgelaufen wäre. Ich nahm vergnügt in der 
Sänfte Platz; da ſchwand der Boden unter mir, und ich 
geriet mit den Beinen in die Unterwelt. Das wäre noch 


0 


gar nicht ſchlimm geweſen, denn der Boden konnte leicht 
wieder eingehakt werden; aber anſtatt das zu tun, 
rannten die Kerls wie beſeſſen von dannen, und mir 
blieb nichts andres übrig, als mitzurennen.“ 

„Vielleicht haben die Leute gar nicht bemerkt, daß 
Sie aus dem obern Stockwerk ins Parterre geraten 
waren?“ 

„Oho! Die haben es gar wohl gewußt. Ich wollte 
ja ſtehen bleiben; ſie ſchoben aber aus Leibeskräften; ich 
bekam Stoß auf Stoß. Mein Kopf brummt mir noch 
jetzt wie eine Baßgeige; mein Rücken muß in allen 
Farben ſchillern, und in den Beinen habe ich eine Emp⸗ 
findung, als ob ich auf dem hohen Turmſeil getanzt 
hätte. Mir zittern alle achtundneunzig Glieder; es iſt 
mir ganz ſchwindelig zu Mute, und der Schweiß mar⸗ 
ſchiert mir in dicken Strömen und Kolonnen vom Leibe. 
Soll ich mir das gefallen laſſen?“ 

„Sagen Sie mir vor allen Dingen, wo die beiden 
Kulis ſind!“ 

„Wo die ſind? Ja, wo ſind ſie denn? Ich weiß es 
nicht.“ 

„Aber gerade Sie müſſen doch am beiten wiſſen, 
wo ſie ſich befinden. Sie haben ſich ja von ihnen tragen 
laſſen.“ 

„Tragen laſſen! Tragen laſſen!!! Welch eine 
Schlechtigkeit von Ihnen! Ich ſage Ihnen ja, daß ich 
nicht getragen, ſondern gelaufen worden bin! Ich danke 
für dieſes chineſiſche Reich, wo man hundert Li bezahlen 
muß, um Sänfte rennen zu dürfen! Das ging ſo atem⸗ 
los raſch, daß ich keine Zeit fand, einen rettenden Ge⸗ 
danken zu faſſen. Ich weiß nur noch, daß ich gebrüllt 
habe wie ein Tiger; aber geholfen hat es nichts, denn die 
Kerls verſtanden kein Sterbenswort chineſiſch. Und als 


=u.6 


fie endlich hier vor der Tür anhielten, ſchütteten fie die 
Sänfte um, ſo daß ich dick auf die Mutter Erde zu ſitzen 
kam und rannten von dannen. ‚Tſching leao“ haben ſie 
mir noch zugerufen. Was bedeutet das?“ 

„Es iſt der chineſiſche Abſchiedsgruß.“ 

„Danke für ſolchen Gruß! Ich bin natürlich ſofort 
hier hereingegangen und habe nach Polizei und Staats⸗ 
anwalt verlangt. Statt deſſen aber kamen dieſe Blau⸗ 
kittels, die nichts tun, als die Mäuler aufſperren. Iſt 
das etwa Zucht und Sitte?“ 

„Nein, jedenfalls geſchieht es nur aus Bewunderung 
Ihrer Sprachkenntniſſe.“ 

„Wenn das der Fall wäre, ſo wollte ich es mir ge⸗ 
fallen laſſen.“ 

„Leider ſcheinen dieſe braven Leute ſich noch zu 
wenig mit der chineſiſchen Sprache beſchäftigt zu haben. 
Man bedient ſich hier vorzugsweiſe des Pitchenengliſch. 
Wollen Sie verſtanden werden, ſo müſſen Sie engliſch 
ſprechen.“ 

„Leider ſcheinen Sie da recht zu haben. Aber iſt es 
nicht eine Schande, hier in Hongkong nicht verſtanden zu 
werden? Freilich iſt es gerade wie im Deutſchen. Der 
Plattdeutſche kann den Hochdeutſchen nicht verſtehen, 
und weil ich nur das reinſte Hochchineſiſch mit eleganten 
Endungen ſpreche, ſo können ſich dieſe Menſchen nicht in 
meine Linguiſtik finden. Ich werde mich alſo des Eng⸗ 
liſchen bedienen müſſen, wenn ich Genugtuung haben 
will. Denn beſtraft müſſen die Halunken werden, exem⸗ 
plariſch beſtraft. Man muß ſie mir ausliefern. Ich 
transportiere fie auf mein Schiff und laſſe fie da aus⸗ 
peitſchen, daß ſie für ewig und noch länger an mich 
denken ſollen!“ 


— 62 — 


Er hatte noch immer im zornigſten Ton geſprochen. 
Die Poliziſten und Hotelbedienſteten ſtanden wartend da, 
neugierig, wie die Angelegenheit ſich weiter entwickeln 
werde. War das Erſcheinen des Kapitäns für ſie ein 
ungewöhnliches geweſen, ſo doch noch viel mehr das Auf⸗ 
treten der drei ſtudentiſch gekleideten Perſonen. Sie 
wußten nicht, was ſie von dieſen halten ſollten, doch 
zeigten ihre reſpektvollen Mienen, daß ſie keine geringe 
Meinung von ihnen hatten. Sie verſtanden zwar nicht 
die Worte des Methuſalem, aber ſein Ton und ſeine 
ernſte, ſelbſtbewußte Haltung imponierten ihnen. Er 
hielt es für angezeigt, den Kapitän von Weiterungen 
abzuhalten. Darum zog er ihn am Arm zur Seite und 
ſagte zu ihm: „Auf das Auspeitſchen wollen wir doch 
lieber verzichten, mein lieber Freund.“ 

„Verzichten? Was fällt Ihnen ein! Wenn Sie 
mich um meine Satisfaktion bringen wollen, ſo brauchen 
Sie mich gar nicht Ihren ‚lieben Freund“ zu nennen. 
Mein Freund iſt nur derjenige, der in meinem Intereſſe 
handelt.“ 

„Das tue ich ja, indem ich Sie davor bewahre, ſich 
abermals zu blamieren.“ 

„Blamieren — — abermals? Habe ich mich denn 
ſchon blamiert?“ 

„Rieſig ſogar.“ 

„Oho, Herr Degenfeld! Wie kommen Sie mir vor! 
Wollen Sie mich beleidigen? Sie würden mich da 
zwingen, die Angelegenheit durch ſcharf geſchliffene 
Säbel mit Ihnen auszumachen!“ 

„Das könnte für Sie nur eine ſchlimme Wendung 
nehmen, denn ich darf wohl ſagen, daß man mich daheim 
für den beſten Schläger hielt. Ihr hochgeehrtes, ſterb⸗ 
liches Gehäuſe würde jedenfalls eine ebenſo intime wie 


— 63 — 


unliebſame Bekanntſchaft mit meiner Klinge machen. 
Zu einem ſolchen Verfahren iſt übrigens nicht der ge⸗ 
tingite Grund vorhanden, da ich es nicht bös, ſondern 
herzlich gut mit Ihnen meine. Es ſah jedoch wirklich 
gar zu abſonderlich aus, Ihre Beine in ſo angeſtrengter 
Tätigkeit zu beobachten. Konnte doch ich ſelbſt mich 
kaum des Lachens enthalten.“ 

„So? Alſo haben Sie mich geſehen?“ 

„J a.“ 

„Und es fiel Ihnen nicht ein, mir zu helfen, mich 
aus dieſer fatalen Lage zu befreien!“ 

„Natürlich hatte ich dieſe Abſicht; aber ich konnte ſie 
nicht ausführen, da Sie ſo außerordentlich ſchnell vor⸗ 
über waren. Die Kulis haben unbedingt gewußt, daß 
der Boden der Sänfte offen war; es muß für ſie alſo ein 
Grund vorhanden geweſen ſein, ſich ſo zu verhalten, als 
ob ſie es nicht bemerkt hätten.“ 

„Natürlich! Die Kerls haben ſich für die fünfzig 
Li, die ich ihnen abzog, rächen wollen. Ich ſollte näm⸗ 
lich hundertfünfzig bezahlen.“ 

„Ah! Und Sie haben nur hundert gegeben? Sie 
haben ihnen lumpige dreißig Pfennige abgezogen? War 
das eines Mandarins, der Sie doch ſein wollten, 
würdig?“ 

„Etwa nicht?“ 

„Nein. Ein General geizt nicht mit fünfzig Li. 
Durch dieſe übel angebrachte Sparſamkeit haben Sie ver⸗ 
raten, daß Sie weder Chineſe noch Mandarin find. 
Hätte man Sie für einen ſolchen Beamten gehalten, ſo 
hätte man es ſicherlich nicht gewagt, Sie Sänfte wan⸗ 
deln zu laſſen. Dringen Sie nun auf die Beſtrafung 
dieſer Leute, ſo wird das für Sie jedenfalls fatale Er⸗ 
eignis noch bekannter, als es jetzt iſt; man wird Sie 


Bea. ee 


behördlicherſeits auffordern, ſich als Generalmajor zu 
legitimieren, und da Sie das nicht können, ſo dürften 
Sie in eine Lage kommen, die ich wenigſtens mir nicht 
wünſchen mag.“ 

Turnerſtick fuhr ſich mit beiden Händen hinter die 
Ohren, um ſich zu kratzen. „Sapperlot!“ brummte er. 
„Daran habe ich nicht gedacht. Soll ich etwa als Ange⸗ 
klagter vor dieſen Tſching⸗Tſchang⸗Tſchongs ſtehen? Da 
will ich die Hallunken doch lieber laufen laſſen.“ 

„Das iſt es eben, was ich Ihnen raten will. Sie 
meinten, es ſchicke ſich nicht für uns, nach dem Hotel zu 
gehen. Sie ſind dennoch nicht nur gegangen, ſondern 
gelaufen. Sie ſprachen davon, daß man mich nicht mit 
der nötigen Hochachtung behandeln werde. Welche Hoch⸗ 
achtung hat man denn Ihnen erwieſen?“ 

„Ja, nun können Sie wohl dicke tun! Aber es ſoll 
mir ſo etwas gewiß nicht wieder paſſieren!“ 

„Dasſelbe ſagten Sie, als Sie von dem Geldwechsler 
geprellt worden waren!“ 

„Hm, ja! Es iſt kein angenehmes Tſching⸗tſching, 
womit mich das Reich der Mitte begrüßt, aber ich werde 
den ‚Söhnen des Himmels‘ ſchon noch Ehrerbietung ab⸗ 
zwingen. Als guter Diplomat will ich auf die Ver⸗ 
folgung der Kulis verzichten. Aber wehe dem Chineſen, 
dem es einfallen ſollte, ſich fernerhin einen ähnlichen 
Spaß mit mir zu erlauben! Ich würde ihn an ſeinem 
eigenen Zopf aufhängen. Alſo dieſe Angelegenheit iſt 
erledigt. Was tun wir jetzt?“ 

„Das, wozu mein Hund uns das Beiſpiel gibt: wir 
trinken eins.“ 


Diertes Kapitel. 


Miinheer Willem van Aardappelenboſch. 


Das Zimmer, das auch als Speiſeſaal benutzt zu 
werden ſchien, war ganz nach europäiſcher Art mit 
Tiſchen und Stühlen möbliert. Der Neufundländer war 
gleich nach ſeinem Eintritt zu einem der Tiſche gegangen 
und auf einen Stuhl geſtiegen; das Glas hatte er vor 
ſich hingeſetzt. Da ſaß er nun, mit dem Torniſter auf 
dem Rücken, ſah unverwandt in das leere Bierſeidel und 
ließ dabei ein ungeduldiges Knurren hören. Er war 
vom „Geldbriefträger von Ninive“ her gewöhnt, daß das 
Glas ſofort gefüllt werde. 

Der Methuſalem erklärte den Poliziſten, daß man 
ihrer Hilfe nicht bedürfe, worauf ſie ſich entfernten. 
Dann nahmen die vier Reiſenden an dem Tiſch Platz, 
den der Hund für ſie eingenommen hatte. Degenfeld er⸗ 
kundigte ſich, ob man Bier bekommen könne und erhielt 
eine bejahende Antwort. „So bringen Sie uns vier gute 
Schlucke!“ befahl er. Die Kellner eilten geſchäftig von 
dannen, um dieſer Weiſung Folge zu leiſten. 

Da trat ein neuer Gaſt herein, deſſen Perſon ganz 
geeignet war, die Blicke der Anweſenden auf ſich zu 
ziehen. 

May, Der blaurote Methuſalem. 5 


* 


a 


Zee SO: 


Der Mann war nicht hoch, aber ſo dick, daß er wohl 
ſeit Jahren ſeine eigenen Füße nicht hatte ſehen können. 
Sein Körper war ein ungeheurer Fleiſchklumpen zu 
nennen. Das glatt raſierte, runde Vollmondsgeſicht 
glänzte in dunkler Röte. Ebenſo auffällig wie ſeine 
Geſtalt war ſeine Kleidung. Er trug Hoſe, Weſte und 
Jacke von feinem, weißem Linnen. Die letztere war ſo 
kurz, daß die gewaltige Halbkugel des Bauches zur 
vollſten Geltung kam. Die Füße ſteckten in niedrigen 
chineſiſchen Schuhen mit vier Zoll hohen Filzſohlen. Um 
den Leib — denn Hüfte konnte man unmöglich ſagen — 
trug er eine rotſeidene Schärpe, aus welcher der ein⸗ 
gelegte, koſtbare Griff eines malayiſchen Kris hervor⸗ 
blickte. Der Schädel bildete eine einzige große, haarloſe 
Platte, die kaum halb von einer kleinen, ſchwarz und 
weiß karierten, ſchottiſchen Mütze bedeckt wurde, von 
der zwei lange, breite, ebenſo gefärbte Schleifen bis auf 
den Rücken herabhingen. Zwei lange Flinten, die ſich 
hinten und deren Riemen ſich vorn über der Bruſt 
kreuzten, hingen ihm auf dem Rücken. Ueber die beiden 
Läufe dieſer Gewehre war eine ſchwarze, wohlgefüllte 
und ſorgfältig zugeſchnallte Ledertaſche gehängt, und in 
der Rechten trug er einen chineſiſchen Sonnenſchirm von 
ſolcher Größe, daß eine ganze Familie darunter Platz 
finden konnte. 

„Goeden dag, mijne Heeren!“ grüßte er in breiter, 
holländiſcher Sprache. „Het is tijd, dat wij aan tafel 
gaan!“ Das heißt zu deutſch: „Guten Tag, meine 
Herren! Es iſt Zeit, daß wir zu Tiſche gehen!“ 

Das war eine ganz eigene Art und Weiſe, zumal er 
die Anweſenden dabei gar nicht anblickte und, ohne ſie zu 
beachten, mit kleinen, gewichtigen Schritten auf den 
nächſten Tiſch zuſteuerte. Der Wirt ſchien ihn zu kennen, 


er 26T 


denn er ſtürzte dienſtfertig herbei, ſchob unter mehreren 
tiefen Verbeugungen zwei Stühle zuſammen, da der Gaſt 
auf nur einem nicht genügend Platz gefunden hätte, nahm 
ihm die Taſche, die beiden Flinten und den Regenſchirm 
ab und brachte dieſe Gegenſtände mit zarter Sorgfalt in 
der Nähe unter. 

Ueber das Geſicht des Methuſalem war beim An⸗ 
blick und beim Gruß dieſes Mannes ein heiteres Lächeln 
geglitten. Er erhob ſich, machte eine Verneigung und 
antwortete in luſtigem Ton: „Neemt plaats; maakt geene 
Komplimenten; doet als of gij thuis waart — ſetzen Sie 
ſich; machen Sie keine Umſtände; tun Sie, als ob Sie zu 
Hauſe wären!“ 

Jetzt erſt blickte der Dicke zu den vieren herüber. Er 
muſterte ſie einige Sekunden lang, zog dann die haar⸗ 
loſen Brauen zuſammen und ſagte zu dem höflichen 
Methuſalem: „Zij zijn een ongelukkige nijlpaard — Sie 
ſind ein unglückliches Nilpferd.“ Dann krachte er ſeuf⸗ 
zend auf die zwei Stühle nieder und gähnte, als ob er 
die halbe Atmoſphäre einſchlucken wolle. 

„En zij zijn een dick ſtekelvarken — und Sie find ein 
dickes Stachelſchwein!“ rief der Student ihm lachend zu. 

„Zij ſchaap — Sie Schaf!“ antwortete der Dicke 
verächtlich. 

„Zij neushoorn — Sie Nashorn!“ warf der Methu- 
falem- zurück. 

„Zij — zij — zij papegaai — Sie Papagei!“ don⸗ 
nerte der Dicke. 

„Zij hooi⸗hofd — Sie Heukopf!“ lachte Degenfeld. 

Da ſtand der Dicke auf, ſtreckte beide Fäuſte aus und 
brüllte mit überſchnappender Stimme: „Zij dor vlam⸗ 
metje, zij droogen kleermaker — Sie dürres Streich⸗ 
hölzchen, Sie trockener Schneider. Zij — zij — zij —“ 


— 68 ee 


Er kam nicht weiter. Der Neufundländer hatte das 
feindſelige Verhalten des Dicken bemerkt, war von ſeinem 
Stuhl geſtiegen und kam langſam auf ihn zugeſchritten. 
Bei ihm angekommen, richtete er ſich auf, legte ihm die 
Pfoten auf die Achſeln, zeigte die Zähne und knurrte 
ihm warnend in das rote Geſicht, als ob er ſagen wolle: 
„Du, nun iſt's genug, ſonſt bekommſt du es mit mir zu 
tun!“ ö 

Dem Bedrohten blieb das beabſichtigte Schimpfwort 
im Mund ſtecken. Er ließ ſich auf ſeine Stühle nieder⸗ 
ſinken, wodurch der Hund wieder vierfüßig zu ſtehen 
kam, und rief wider alles Erwarten dem Wirt zu: „Ik 
heb honger; gevt mij eene ſoep en kalfsvleeſch — ich 
habe Hunger; geben Sie mir eine Suppe und Kalb⸗ 
fleiſch!“ 

Das ſah ſo komiſch aus und klang ſo drollig, daß die 
vier andern in ein lautes Gelächter ausbrachen. Der 
Hund zog die Oberlippe in Falten, als ob er in dieſes 
Lachen einſtimmen wolle, und kehrte ſchweifwedelnd zu 
ſeinem Herrn und auf ſeinen Stuhl zurück. Als der 
Dicke ſich nicht mehr von dem Tier bedrängt ſah, wendete 
er ſich um und rief zornig: „Mijne heeren, ik zoude mij 
ſchaamen, zoo dom de lagchen. Eet gij liefſt een vleeſch 
of en eyeren⸗koek; dit is buiten twijfel beter dan dit on⸗ 
deugende foeikzen — meine Herren, ich würde mich 
ſchämen, ſo dumm zu lachen. Eſſen Sie lieber ein 
Fleiſchernes oder einen Eierkuchen; dies iſt ohne Zweifel 
beſſer als dieſes nichtsnutzige Feixen!“ 

Dieſe geharniſchte Rede hatte nur ein vermehrtes 
Gelächter zur Folge, was den Dicken ſo erboſte, daß er, 
vorher tief Atem holend, die Lachenden mit wahrer 
Donnerſtimme anfuhr: „Mijne heeren, gij zijt ſlecht, gij 
zijt ſlechter, gij zijt de allerſlechtſten; gij zijt myne vyan⸗ 


— 69 — 


den; gij — gij — gij zijt vier zuuren aapen — meine 
Herren, Sie ſind ſchlecht, Sie ſind ſchlechter, Sie ſind die 
allerſchlechteſten; Sie ſind meine Feinde; Sie — Sie — 
Sie ſind vier ſaure Affen!“ 

Es läßt ſich denken, daß die Lacher durch dieſe 

Donnerworte nicht in eine ernſtere Stimmung verſetzt 
wurden. 
Da aber brachte einer der Kellner dem Holländer die 
verlangte Suppe, und er zog es vor, dieſer ſeine Auf⸗ 
merkſamkeit zu widmen. Er knurrte nur noch: „Eene 
ſoep is beter dan zoo een bedorven ſchaap — eine Suppe 
iſt beſſer als ſo ein verdorbenes Schaf!“ 

Er warf dem Gottfried, der am lauteſten gelacht 
hatte, eine verächtliche Handbewegung zu, knüpfte ſich 
die Serviette um den Hals und begann dann, ſeine 
Suppe mit ſo ſchmatzendem Wohlbehagen zu eſſen, daß 
es klang, als ob ein halbes Dutzend „Varken“ (Ferkel) 
am Trog ſäßen. 

Dann wurde das Kalbfleiſch gebracht. Er griff mit 
beiden Händen nach dem Teller, roch die Portion prü⸗ 
fend an, gab durch ein freundliches Nicken zu erkennen, 
daß der Duft ihm behage und befahl: „Gebt mij een ſtuk 
oſſevleeſch met erwten en zuurkool — geben Sie mir ein 
Stück Ochſenfleiſch mit Erbſen und Sauerkraut!“ 

Den vier Zuſchauern war es zweifelhaft, ob man 
hier in China Erbſen oder gar Sauerkohl bekommen 
könne. Der Holländer ſchien aber die Leiſtungen der 
Hotelküche genau zu kennen, denn eben als er das Kalb⸗ 
fleiſch verzehrt hatte, wurde ihm der verlangte zweite 
Gang gebracht. Er beroch auch dieſen, nickte wieder 
freundlich und beſtellte: „Gevt mij een gebraden varken⸗ 
vleeſch met mierook en gebaken peeren — geben Sie mir 
Schweinebraten mit Meerrettich und gebackenen Birnen!“ 


— 70 — 


Als auch dies dann gebracht wurde, verlangte er 
„hammelsbout met ſalade“, Hammelsbruſt mit Salat, 
dann „eend met ſpinazie en knoflook“, Ente mit Spinat 
und Knoblauch, ſpäter „zeeviſch met gebaken pruimen“, 
Seefiſch mit gebackenen Pflaumen. Dann zuletzt be⸗ 
gehrte er zum Nachtiſch „zeekreeften, boter, kaas en een 
grooten kelk brandewijn“, Seekrebſe, Butter, Käſe und 
einen großen Kelch Branntwein. 


Die Portionen waren ſo reichlich, daß eine einzige 
davon hingereicht hätte, einen gewöhnlichen Eſſer zu 
ſättigen, dieſer Dicke aber machte, als er fertig war, als 
ob er noch immer Appetit verſpüre. Er legte die 
Hände an den Leib und betaſtete dieſen prüfend. Und 
wirklich ſchien er eine noch leere Stelle entdeckt zu 
haben, denn er begehrte nach kurzem Nachdenken noch 
„een brood met worſt en mostaard“, ein Brot mit 
Wurſt und Senf. 


Die Mahlzeit hatte ihn ſo in Anſpruch genommen, 
daß ſeine Aufmerkſamkeit nur ein einziges Mal von ihr 
abgewichen war. Dies geſchah, als den vier andern 
Gäſten das verlangte Bier gebracht wurde. 


Der Methuſalem hatte für jeden einen guten 
Schluck beſtellt, infolgedeſſen der Kellner vier ganz 
kleine Fläſchchen brachte, die nicht einmal ein drittel 
Liter faßten. Der dienſtbare Geiſt glaubte, ſeine Sache 
gut gemacht zu haben; Degenfeld aber öffnete ſie alle 
vier, goß den Inhalt in ſein Studentenglas, führte 
dieſes an den Mund, leerte es in einem Zug bis auf die 
Nagelprobe, ſetzte es ab und befahl, indem er mit der 
Zunge ſchnalzte: „Nicht ganz übel! Das genügte aber 
nur zur Probe. Bringen Sie für jeden eine folche 
Portion! Fünf Perſonen.“ 


— ; 


„Fünf?“ fragte der Kellner, der nach nochmaliger 
Umſchau nur vier Individuen herausbrachte. 

„Ja, ich ſage es doch!“ 

„Aber Sie ſind nur vier!“ 

„Wir ſind fünf. Dieſer da hat auch ſeinen Durſt.“ 

Bei dieſen Worten deutete er auf den Hund. Der 
Kellner zog eine dumm verwunderte Grimaſſe und 
fragte, um ganz ſicher zu gehen, in ſeinem Pitchen⸗ 
engliſch: „Alſo zwanzig Flaſchen, Sir?“ 

„Ja doch!“ 

„Aber, Sir, kennen Sie den Preis des Bieres hier 
in Hongkong?“ 

Da ſtieß der Methuſalem ſein Glas auf den Tiſch, 
daß letzterer krachte, und wetterte den Frager an: „Kerl, 
willſt du etwa meine Moneten vorher okularinſpizieren? 
Lauf Philiſter! ſonſt brenne ich dir zehntauſend Füchſe 
auf den Leib!“ 

Der Kellner rannte erſchrocken fort und zwei andre 
hinter ihm drein, da er nicht zwanzig Flaſchen allein 
tragen konnte. Sie brachten dieſe. Der Methuſalem 
goß abermals viere in ſein Glas, ſchwenkte dieſes gegen 
den Kapitän und ſagte: „Ich komme Ihnen dieſes 
Tröpfchen!“ 

„Wie? Was?“ fragte Turnerſtick. „Sie kommen? 
Mir? Wieſo? Das nennen Sie ein Tröpfchen!“ 

Er hatte noch nicht ausgeſprochen, ſo hatte der Me⸗ 
thuſalem ſchon ausgetrunken. Dieſer füllte das Glas 
von neuem mit vier Flaſchen, ſchob es dem Kapitän zu 
und antwortete: „Natürlich iſt es nur ein Tropfen. 
Jetzt kommen Sie mir nach, und ich hoffe, daß Sie ſich 
nicht vor uns und dieſen ſtaunenden Kulis blamieren 
werden!” 


EU, > FERN 


„Blamieren? Pahl Sind Sie ſchon einmal durch 
eine Seemannsgurgel gekrochen? Da ſind Sie gewiß 
nicht ſtecken geblieben. Ihr Gläschen macht mir keine 
Angſt. Proſit, mein lieber Freund von Bouillon!“ 

„Jiduzit!“ nickte der Namensvetter des Eroberers 
von Jeruſalem. 

Turnerſtick bewies, daß er nicht zuviel geſagt habe. 
Er trank das Glas aus. Gottfried nahm es ihm ſofort 
aus der Hand, füllte es für ſich und leerte es ebenſo wie 
die beiden andern. | | 

Der Wirt und die Kellner ſtanden von fern und 
warfen ſich große Blicke zu. Solche Trinker ſahen ſie 
noch niemals. Der dicke Holländer hatte, obgleich ſehr 
intim mit ſeinem „Vleeſch“ beſchäftigt, den Vorgang 
dennoch bemerkt. Er war ein tüchtiger Eſſer; jetzt ſah 
er Leute, die im Trinken wenigſtens ebenſoviel leiſteten 
wie er im Eſſen. Das gefiel ihm; das ließ ſeinen Groll 
ſofort verſchwinden. Er fühlte ſich getrieben, ihnen 
ſeine Anerkennung auszuſprechen. Darum erhob er ſich 
von ſeinen zwei Stühlen, kam herbei, wiſchte ſich mit der 
Serviette den Mund und ſagte: „Mijne Heeren, gij zijt 
braave en dappere makkers. Gij drinkt tamelijk goed. 
Ik ben uw vriend en uw broeder; gij wordt het begrij⸗ 
pen. Ik bidd, gevt mij uwe handen — meine Herren, 
Sie ſind brave und tapfere Geſellen. Sie trinken ziem⸗ 
lich gut. Ich bin Ihr Freund und Bruder; das werden 
Sie begreifen. Ich bitte, reichen Sie mir Ihre Hände!“ 

Er ſchüttelte jedem von ihnen die Hand und kehrte 
dann an ſeinen Tiſch zurück, um weiter zu eſſen. 

Was Richard Stein betrifft, ſo wagte er ſich nicht 
an das volle Stammglas. Er ließ ſich ein kleineres 
bringen und eignete ſich auch nur eine Flaſche an. Gott⸗ 
fried machte ſich ſofort an die drei übrigen, leerte fie in 


Zi. MR. 2 


das Glas und trank es aus, nachdem er vorher gerufen 
hatte: „Proſit Magen! Es iſt zwar kein Wolkenbruch, 
doch ein angenehmes jelindes Plätſcherchen.“ 

Dann nahm er ſeine weiße Mütze, die waſſerdicht 
gefüttert war, vom Kopf, legte ſie verkehrt, alſo offen 
auf den Tiſch, gerade vor den Neufundländer hin und 
goß dieſem die letzten vier Fläſchchen hinein. Der Hund 
nahm den Gerſtenſaft mit großem Wohlbehagen zu ſich 
und leckte zuletzt die Mütze ſehr ſorgfältig aus, welche 
Gottfried ſich wieder auf ſein Haupt ſtülpte, um dann zu 
fragen: „So! Jeprobt hätten wir. Wat aberſt nun? 
Wollen wir uns nach ſo langem Entbehren noch een 
loyales Seidel leiſten?“ 

„Was fällt dir ein,“ entgegnete Methuſalem. „Wir 
befinden uns hier nicht im ‚Geldbriefträger von Ninive“, 
von dem aus wir nur um die Ecke zu gehen brauchten, 
um heimzuſteigen. Ich vor allen Dingen muß zum 
Konſul. Auch habe ich eine Anweiſung zu präſentieren 
und mich mit dem unvermeidlichen Mammon zu ver⸗ 
ſehen. Wartet hier, bis ich wiederkomme! Habt ihr 
Luſt, ſo trinkt meinetwegen inzwiſchen noch eins, aber 
nicht mehr! Ich werde es bezahlen.“ 

„Halt!“ fiel da der Kapitän ein. „Das Zahlen iſt 
meine Sache. Wir befinden uns noch in der Hafenſtadt, 
und ich muß Sie alſo bitten, meine Gäſte zu ſein.“ 

„Habe nichts dagegen,“ lächelte der Methuſalem. 
„Aber wird Ihnen nicht die Zeche zu hoch ſein?“ 

„Was denken Sie! Sehen Sie doch meine Schnu⸗ 
ren! Die reichen jedenfalls noch wochenlang.“ 

Der Student ließ ihn bei dieſem Glauben und ent⸗ 
fernte ſich, die Pfeife und auch den Hund zurücklaſſend. 
Turnerſtick beſtellte zu den bisherigen vierundzwanzig 
Flaſchen noch ſechs, um eine runde Dreißig zu bekommen. 


u 7 


Gottfried rümpfte zwar die Naſe dazu, ſagte aber nichts, 
weil der Kapitän der Zahlende war und, um einem allzu 
ſchnellen Verbrauch vorzubeugen, zwei kleine Gläſer kom⸗ 
men ließ. 

Mittlerweile hatte der Holländer ſeine Mahlzeit vol⸗ 
lendet. Er band die Serviette ab, trocknete ſich damit 
das von der Anſtrengung des Eſſens ſchwitzende Geſicht 
und machte auf ſeinen Stühlen eine Wendung, daß er 
die drei andern nun gegenüber hatte. Es war ihm an⸗ 
zuſehen, daß er nun ein kleines Geſpräch im Intereſſe 
der Verdauung für nützlich hielt. Er hatte gehört, 
welcher Sprache ſich die andern bedienten, und ſagte 
daher in leidlichem Deutſch: „Ik verzoek — ich bitte, 
mijne Herren, ſind Sie nicht Deutſche?“ 

„Ja,“ antwortete Gottfried. 

„Dachte es mir. Auch ich bin in Deutſchland ge⸗ 
weſen, als Kommis in Köln am Rhein; damals war ich 
noch jünger als jetzt.“ 

„Wahrſcheinlich!“ 

„Nein, wirklich! Damals zählte ich twintig Jaaren, 
und jetzt bin ich faſt vijf en veertig. Damals war ich een 
ongelukkige nijlpaard, en jetzt bin ich een zwaare (ſchwe⸗ 
rer) Mann mit gezouten (geſalzenen) Erfahrungen. Da⸗ 
mals habe ich die deutſche Sprache erlernt, und das 
freut mich jetzt, weil ich mich mit Ihnen unterhalten 
kann.“ 

„Die Freude iſt beiderſeitig, Mijnheer.“ 

„Sehr ſchön! Gefalle ich Ihnen?“ 

„Außerordentlich!“ 

„Sie mir auch. Ich bin nämlich Mijnheer Willem 
van Aardappelenboſch und komme von Java, wo ich 
Pflanzungen von Ryſt (Reis) und Tabak hatte. Ich 


— 75 — 


habe verkauft und will nun ſehen, ob ich hier in China 
etwas Aehnliches finde.“ 

„Etwas Aehnliches? Warum haben Sie dann dort 
verkauft?“ N 

„Wegen des Klimas, das mir ſchädlich wurde. Ich 
konnte niet mehr eſſen und niet mehr trinken; ich 
ſchwand zuſammen, daß ich jetzt nur noch een Geſpenſt 
von früher bin.“ 

„Hallo! Dann möchte ich Sie früher geſehen 
haben, Herr Erdapfelbuſch!“ 

„Jawohl!“ ſeufzte der Dicke, indem er ſich mit bei⸗ 
den Händen liebkoſend über den Bauch ſtrich. „Damals 
aß ich für twaalf Männer, jetzt aber eſſe ich niet mehr 
für eenen halfen!“ 

„Schrecklich!“ 

„Nicht wahr! Ich bin ganz ſterfelyk (ſterblich) ge⸗ 
worden. Was nützt mir mein Zilver (Silber), mein 
Goud (Gold), mein Rykdom (Reichtum), wenn ich niet 
eſſen und niet trinken kann? Nur wer tüchtig eſſen und 
trinken kann, darf gelukkig (glücklich) und tevreden (zu⸗ 
frieden) ſein. Darum habe ich Abſchied von dem dor⸗ 
tigen Klima genommen und bin nach China gekommen, 
um mich wieder dick und fett zu eſſen.“ 

„Nun, hoffentlich iſt dieſes Vorhaben von gutem 
Erfolg. Aber Ihre Haut, Mijnheer, Ihre Haut!“ 

„Was iſt mit der Haut? Nicht wahr, ſie hat ein 
ganz krankhaftes Ausſehen?“ 

„Das möchte ich nicht behaupten; aber ob ſie zu⸗ 
langen, ob ſie ausreichen wird!“ 

„Zulangen? Ausreichen?“ 

„Ja. Wenn Sie noch dicker werden wollen, ſo 
muß ſie unbedingt platzen.“ 


BE 


„Platzen? O mijn hemelſche Vader!) Da hätten 
Sie mijne Haut früher ſehen ſollen! Die glänzte wie 
eene roſenrote Speckſwarte! Wenn ich niet baldige 
Beterjchap?) finde, fo ſterbe ich im Handumdrehen.“ 


„Und dieſe Beſſerung ſuchen Sie in China?“ 


„Ja. Mijn Geneesheer?) ſagte, das Klima ſei in 
Java zu ſüdlich. Vielleicht werde ich hier wieder ge⸗ 
ſund. Früher glich ich im Geſicht der hellen Sonne; 
jetzt aber bin ich nur noch die reine Maansverduiſte⸗ 
rung).“ 

„So müſſen Sie wohl an einer abzehrenden Krank⸗ 
heit leiden?“ 

„An einer, nur einer? Dann wäre ich ganz glück⸗ 
lich! O nein, ich leide an twintig, dertig, veertig, an 
hondert verſchiedenen Krankheiten.“ 

„Das iſt ſchlimm. Wo liegen dieſe denn?“ 

„Im ganzen Ligchaam'“), im Angezigt, im Oog⸗ 
appel, in de Ooren und de Ooorlapjes, im Kinnebak, in 
de Geel und Gorgel, im Elleboog und in de Vingers, im 
Maag und zwiſchen den Ribben, in den Beenen und den 
Voetzoolen, in de Long und de Lever, in de Gal und de 
ganze Rompe). Ich ſchwebe ſtündlich zwiſchen Leven 
und Dood, und nur Eſſen und Trinken kann mij retten. 
Ich bin ein elendes Schepſel') und würde gern honderd⸗ 
duizend Gulden geben, wenn ich einen Offizier van der 
Gezondheit') wüßte, der mich retten kann!“ 


Er zählte ſeine Leiden in ſo traurigem Ton auf, 
und ſeine Geſtalt ſtand ſo im Widerſpruch mit dieſen 
Klagen, daß es großer Selbſtbeherrſchung bedurfte, nicht 


95 . Dater. — ) Geneſun ) Arzt. — ) Mondfſtnſternis. 
— 5 Leib. — ) Rumpf. — ) Geſchöpf. 8 9 ) Ausbruf für für Hairkärange 


— — 


zu lachen. Gottfried machte fein mitleidigſtes Geſicht 
und fragte teilnehmend: „Glauben Sie etwa, daß die 
chineſiſchen Aerzte die Kunſt beſitzen, Sie herzuſtellen?“ 

„Vielleicht. Es iſt mijn letzter Verſuch, den ich 
mache. Ich habe geſprochen mit Doktors aus Deuitſch⸗ 
land, aus Nederland, aus Frankrijk, aus Ooſtenrijk, aus 
Spanje, aus Zweden, aus Ooſtindie, aber keiner hat 
mij helfen konnt. Jetzt will ich es mit China verſuchen; 
es ſoll da Leute geben, welche wahre Wunder wirken.“ 

„Ich hätte zu andern mehr Vertrauen. Sie ſind 
jedenfalls nur mit Pfuſchern zuſammengekommen. Hat 
man Ihnen Arzneien verſchrieben?“ 

„Alle möglichen Boomen und Heeſters, alle Bladen 
und Bloems)), die es nur geben kann.“ 

„Das war verkehrt, weil Ihre Krankheit durch 
ſolche Mittel nur verſchlimmert wird.“ 

„Wie können Sie das wiſſen?“ 

„Ich? Ich bin ja Jachmann.“ 

„Sie? Fachmann?“ 

„Ja, Student!“ 

„Student? Was ſtudieren Sie denn?“ 

„Was ich jetzt ſtudiere? Nichts, gar nichts mehr,“ 
antwortete Gottfried, indem er ſich in die Bruſt warf. 
„Ich habe das nicht mehr nötig, denn ich habe ſtudiert, 
verſtehen Sie, ich habe, habe, habe, alſo Perfektum; das 
heißt, ich bin perfekt. Ich habe alles ſtudiert, alles ohne 
Ausnahme. Das ſoll heißen, ich erfreue mich der außer⸗ 
ordentlichſten Meiſterſchaft. Ich pflanze meinen Kohl 
wie der reichſte Rittergutsbeſitzer; ich dirigiere die ge⸗ 
fährlichſten Eilzüge wie der erfahrenſte Lokomotivführer; 
ich entwerfe Schlachtenpläne wie der berühmteſte Feld⸗ 


5) Bäume und Sträucher, Blätter und Blumen. 


— 78 — 


marſchall; ich ſpreche in allen Zungen der Erde wie die 
Poeten des Erdenrundes am Maifeſt; ich ſchlachte 
Schweine und Kälber wie der meiſterhafteſte Metzger; ich 
halte Parlamentsreden wie ein Bismarck; ich gewinne 
die verwickeltſten Prozeſſe leichter als jeder andre Juriſt; 
ich predige trotz einem Biſchof oder Konſiſtorialrat; ich 
gerbe alle Häute und Tierfelle, am liebſten mit dem 
Ziegenhainer, ich baue Brücken über die Täler und 
Viadukte über die Flüſſe; ich fahre mit dem Luftſchiff, 
wohin Sie nur wollen und ſogar noch einige Meilen wei⸗ 
ter; ich ſchreibe geognoſtiſche Werke über die Algen und 
Zangen und zoologifche Bücher über den Venusdurch⸗ 
gang; ich beſohle die Pferde und beſchlage die Reiter; ich 
fertige aus Watte die feinſten Chronometer und bediene 
mich als Ziergärtner des beſten Meißener Porzellans; 
ich tanze Seil; ich laufe Schlittſchuhe; ich heize mir und 
andern ohne Holz und Kohlen ein; ich entdecke Naphtha 
am Nordpol und Eis in Arabien; ich — ich — ich — — 
nun, ich kann eben alles, alles, alles!“ 

Der liebe Gottfried hatte ſich erhoben und brachte 
dies alles in ſo begeiſterter Schnelligkeit hervor, daß der 
Dicke nicht die Hälfte der Lobrede verſtand. Mijnheer 
van Aardappelenboſch hatte den Mund weit geöffnet 
und machte Augen, als ob er ein wahres Wunder vor 
ſich ſehe. Er hatte von der ſchnellen Rede nur das be⸗ 
halten, daß er einen hoch und tief ſtudierten Mann vor 
ſich habe. Aber eins hatte er vermißt und zwar gerade 
das, was ihm am liebſten geweſen wäre. Darum ſagte 
er jetzt, als Gottfried ihn erwartungsvoll von oben 
herab anblickte: „Solche Schulen ſind Sie durch, ſo 
außerordentlich viele, Mijnheer?“ 

„Ja — freilich!“ 

„Aber die Medizin, die Medizin, die fehlt!“ 


2 


„Fehlt? Fällt mir gar nicht ein! Das fehlte noch, 
daß die fehlt! Die Medizin iſt ja gerade mein Lieblings⸗ 
fach!“ 

„Wirklich? Haben Sie ſchon kuriert, Kranke ge⸗ 
ſund gemacht?“ 

„Und wie! Dem Dalai⸗Lama habe ich ein Band⸗ 
wurmmittel gegeben, und als das Tier zum Vorſchein 
kam, war es ein Lindwurm, ſehr einfach deshalb, weil 
ich ihn mit Lindenblütentee behandelt hatte — — —“ 

„Wie? Mit Lindeboombloeſem?“ 

„Ja, mit Lindeboombloeſem, wie Sie es holländiſch 
nennen. Und dem türkiſchen Großweſier habe ich den 
Flamingo operiert. Was ſagen Sie dazu?“ 

„Fla — fla — fla —, was iſt das für ein Weſen?“ 

„Ein Vogel, eigentlich viel größer als ein Storch. 
Die Aerzte hatten die Krankheit für den grauen Star 
gehalten; aber als dann ich den Kerl herausgeſchnitten 
hatte, zeigte es ſich, daß es ein roter Flamingo war.“ 

„Das — das verſtehe ich niet!“ 

„Iſt auch nicht notwendig. Das iſt nur Sache für 
den Ophthalmologen.“ 

„Aber ſo ein großer Vogel!“ 

„Tut nichts! In leichten Fällen nennt man es 
bloß Star, in ſchweren jedoch Flamingo; das ſind die 
wiſſenſchaftlichen Ausdrücke.“ 

„Aber, Mijnheer, ſo kennen und heilen Sie alle 
Krankheiten?“ 

„Alle, nämlich wenn der Patient nicht zu dick iſt.“ 

„Mijn Hemel — mein Simmel! Warum dieſe Aus⸗ 
nahme?“ 

„Sehr ſelbſtverſtändlich, weil es dann ganz unmög⸗ 
lich iſt, ihm in das Innere zu blicken. Sie z. B. ſind zu 
fett.“ 


ur RN 


„Dit Ongelukk! Ich war erſt viel dicker als jetzt! 
So können Sie mij alſo niet kurieren?“ 

„Schwerlich! Aber mein Kommilitone, der vorhin 
fortgegangen iſt, kann Ihnen vielleicht helfen.“ 

„Der mit vier Flaſchen Bier in drei Minuten?“ 

„Ja, derſelbe. Ich heile alles, aber bei ſo korpu⸗ 
lenten Patienten iſt er mir doch überlegen. Wenden 
Sie ſich alſo nur getroſt an ihn! 

In dieſem Augenblick ging die Tür auf, und der 
Methuſalem trat herein. Sofort ſprang der Holländer 
auf ihn zu, ergriff ihn am Arm und fragte haſtig: „Mijn⸗ 
heer, wat leert het Woordenboek van mijn maag en van 
mijne zenuwen?“ | 

Fritz Degenfeld maß ihn vom Kopf bis zu den 
Füßen herab, ſchüttelte den Kopf und antwortete: „Was 
das Wörterbuch von Ihrem Magen und Ihren Nerven 
lehrt? Um da zu wiſſen, woran man iſt, bedarf es gar 
keines Buches.“ 

„Sehen Sie, Mijnheer! Habe ich es Ihnen nicht 
vorherjeſagt!“ rief Gottfried, jetzt wieder in ſeine Mund⸗ 
art fallend. „Er weiß eben allens, und zwar janz ohne 
in dat Wörterbuch zu kieken.“ 

„Du!“ mahnte der Methuſalem, ihm mit dem Fin⸗ 
ger drohend. „Da haſt du dich wohl wieder einmal 
gehen laſſen!“ 

„Nicht die Spur von da! Er iſt krank an alle inner⸗ 
liche und äußerliche Extremitäten. Mit die äußerlichen 
wollte ich's ſchon gern probieren, aber wegen die inner⸗ 
lichen habe ich mir erlaubt, den Mijnheer an Ihnen zu 
adreſſieren, weil Ihr Blick ſojar durch Fleiſch und 
Knochen jeht. Jeſtatten Sie mich aberſt vor allen Din⸗ 
gen, ihn vorzuſtellen, nämlich Mijnheer Willem van 
Aardappelenboſch aus Java. Dat Klima hat ihn dort 


23,59, u 


fo abjemagert, daß er nach hier jekommen ift, um ſich 
da wieder emporzueſſen. Der Offizier van der Gezond⸗ 
heit hat es ihm jeraten.“ 

„Wirklich?“ fragte Degenfeld, ſich an den Holländer 
wendend. 

„Ja, Mijnheer, antwortete dieſer. „Ik ben ſeit 
einiger Zeit ganz und gar vom Vleeſch gefallen.“ 

„Waren Sie früher noch dicker?“ 

„Ik was een reus — ich war ein Rieſe; jetzt aber 
kann man mij nur mit Mitleid betrachten.“ 

Er begann, ſeine Leiden wieder aufzuzählen. Degen⸗ 
feld ließ ihn ruhig ſprechen und wandte ſich an Gott⸗ 
fried: „Habt ihr euch dem Mijnheer denn auch ſchon 
vorgeſtellt?“ 

„Namentlich noch keineswegs,“ antwortete dieſer; 
„aberſt daß ich ein jroßes Lumen bin, das hat er bereits 
jemerkt.“ 

„So will ich die Verſäumnis nachholen. Mijnheer, 
hier ſehen Sie zunächſt den jungen Herrn Richard Stein, 
einen deutſchen Gymnaſiaſten. Neben ihm ſitzt unſer 
Freund Tur⸗ning ſti⸗king kuo⸗ngan ta⸗fu⸗tſiang — —“ 

„Alſo ein Chineſe! Vorhin ſprach er doch deutſch!“ 
meinte der Dicke. 

„Von Haus aus iſt er allerdings ein Deutſcher. 
Da er aber jetzt aus dem Häuschen iſt, ſo dürfen 
Sie ihn für einen Chineſen halten. Ferner ſehen Sie 
hier meinen Spiritus familiaris, beim heiligen Fem⸗ 
gericht eingetragen als Gottfried von Bouillon.“ 

„Iſt das niet een tapperer Ritter?“ 

„Ja. Vor ungefähr achthundert Jahren hat er 
einen Kreuz zug gegen die Ungläubigen unter⸗ 
nommen; jetzt aber kriecht er vor jedem Gläubiger 

May, Der blaurote Methuſalem. 6 


3 8 


zu Kreuz. Was nun mich ſelbſt betrifft, ſo bin ich 
einfach der allbekannte Methuſalem.“ 

„Von dem die Bibel vertalt?“ 

„Ja, von dem die Bibel verzählt, der Sohn Henochs 
und Vater des Lamech. Da ich aber weder Henoch noch 
Lamech gekannt habe, ſo möchte ich zuweilen an mir 
ſelbſt verzweifeln. In ſolchen trüben Augenblicken nenne 
ich mich Fritz Degenfeld und nehme an, daß ich in einem 
deutſchen Brauhauſe dem irdiſchen Daſein guten Morgen 
ſagte.“ 

Mijnheer van Aardappelenboſch ſah von einem zum 
andern und wußte nicht, was er denken ſolle. Degen⸗ 
feld erlöſte ihn aus ſeiner Pein, indem er ihm wohl⸗ 
wollend ſagte: „Nicht wahr, Sie können nicht recht be⸗ 
greifen, wen Sie vor ſich haben? Sie ſollen bald Klar⸗ 
heit haben. Wo wohnen Sie?“ 

„Hier im Hotel, Mijnheer.“ 

„So nehmen Sie bei uns Platz, denn wir werden 
auch hier logieren!“ Er ſchob ihm zwei Stühle zuſam⸗ 
men, und der Holländer ließ ſich darauf nieder. 

„Hier logieren?“ fragte Turnerſtick. „Das fällt 
mir nicht ein! Wir müſſen ja nach Kanton. Wir fahren 
mit dem Dampfboot.“ 

„Das geht wöchentlich nur zweimal. Ich habe mich 
beim Konſul erkundigt. Das nächſte geht erſt in drei 
Tagen ab.“ 

„Was? Wie? Und fo lange ſollen wir hier warten?“ 

„Ja, wenn wir es nicht vorziehen, uns auf einer 
chineſiſchen Dſchunke einzuſchiffen.“ 

„So tun wir das, wenn wir da auch viel langſamer 
vorwärts kommen.“ 

„Nun, eine Dſchunke läuft ziemlich ſchnell, wenn ſie 
guten Wind hat und mit der Flut aufwärts geht. Aber 


BEE, ER 


wollen Sie es wirklich wagen, ſich einem ſolchen Fahr⸗ 
zeug anzuvertrauen?“ 

„Warum nicht? Fürchten Sie ſich?“ 

„Fürchten, nein, obgleich ich geleſen habe, daß man 
ſich möglichſt in acht nehmen ſoll, da es Dſchunken gibt, 
denen nicht zu trauen iſt. Aber ich denke an die Un⸗ 
reinlichkeit, die uns ſehr läſtig werden könnte.“ 

„Pah! Werde die Kerls ſchon zur Reinlichkeit brin⸗ 
gen. Ich als Mandarin mit meiner Kleidung, meiner 
perſönlichen Würde, meinen tiefen Sprachkenntniſſen 
und vortrefflichen Endungen. Die Hauptſache iſt nur, 
ſchnell eine Dſchunke zu finden.“ 

„Habe mich auch in dieſer Beziehung erkundigt. Mit 
der morgen vormittag ſteigenden Flut ſegelt eine hier 
ab. Sie heißt Schui⸗heu, zu deutſch Königin des Waſſers. 

„Schöner Name, der etwas verſpricht. Eine Königin 
muß ſauber ſein. Unreinlichkeit werden wir alſo nicht 
zu befürchten haben. Was hat ſie geladen?“ 

„Allerlei Artikel. Etwas Genaueres konnte ich 
nicht darüber erfahren. Ich habe ſie übrigens ſchon ge⸗ 
ſehen.“ 

„Sah ſie ſchmuck aus?“ 

„Recht leidlich.“ 

„Und haben Sie mit dem Kapitän geſprochen? Das 
iſt ja die Hauptſache.“ 

„Da haben Sie unrecht, obgleich Sie ſelbſt Kapitän 
ſind. Der eigentliche Kapitän oder Pilot, hier Ho⸗ 
tſchang genannt, hat mit der Ladung, mag ſie nun aus 
Gütern oder Menſchen beſtehen, gar nichts zu ſchaffen. 
Er hat ſich allein nur mit der Leitung des Schiffes zu 
beſchäftigen. Wer Fracht aufgeben oder ſelbſt mitfahren 
will, hat ſich an den Eigentümer der Dſchunke oder 
deſſen Superkargo zu wenden. Und das habe ich getan.“ 


„Schon mit ihm abgeſchloſſen?“ 

„Nein, denn ich wußte nicht, ob ich Ihre Einwilli⸗ 
gung erhalten würde. Uebrigens gefiel mir der Mann 
gar nicht ſo recht. Er hatte ein Geſicht, das mir Miß⸗ 
trauen einflößte, und ſeine allzu große Höflichkeit ſtieß 
mich ab.“ 

„Unſinn! Geſicht! Danach darf man gar nicht 
gehen. Mancher Schurke hat das einnehmendſte Geſicht, 
und mancher Häßliche iſt ein Ehrenmann. Und Höflich⸗ 
keit muß ſein. Ich wollte es keinem Sohne der Mitte 
raten, es daran fehlen zu laſſen. Schließen Sie immer⸗ 
hin ab! Morgen ſegeln wir. Kennen Sie die Höhe des 
Paſſagepreiſes?“ 

„Das Fahrgeld wird hier ſehr drolliger, aber ganz 
bezeichnenderweiſe Schui⸗kio genannt; d. h. wörtlich 
‚Wafjerbeine‘. Die Geldſtücke, die man bezahlt, find die 
Beine, mit denen man über das Waſſer läuft. Der 
Mann verlangte pro Perſon nur einen Dollar bis 
Kanton. Auf dem Dampfer hätten wir das Vierfache 
zahlen müſſen.“ 

„So ſegeln wir. Speiſung iſt nicht dabei?“ 

„Nein. Man hat hier eben für alles zu ſorgen, 
auch für die Betten.“ 

„Brauche ich nicht. Schlafe ſo, wie ich es finde. 
Alſo abgemacht! Nicht wahr, Gottfried?“ 

„Ich bin dabei,“ meinte der Genannte. „Warum 
ſollen wir hier hocken bleiben! Je eher wir abjondeln, 
deſto eher werfen wir um, und dat iſt doch auch eine 
jewiſſe Art von Vergnüjen.“ 

„Ja, Onkel Methuſalem,“ bat Richard. „Wollen 
hier nicht unſre Zeit verſchwenden. Ich möchte gern ſo⸗ 
bald wie möglich am Ziel ſein.“ 


— 85 — 


„Gut, ſo werde ich nachher gehen, um die Paſſage 
feſt zu machen und Lebensmittel einzukaufen, mit denen 
wir bis Kanton reichen. Zunächſt aber will ich mal 
unſre Zeche bezahlen.“ 

„Das iſt meine Sache,“ fiel Turnerſtick ein. „Sie 
ſind ja hier noch meine Gäſte, und ich habe noch ſiebzehn⸗ 
hundert Li!“ Und auf den Tiſch klopfend und ſich nach 
dem Wirt umdrehend rief er: „Heda, Hoteliering, ich will 
bezahleng. Was koſtang dreißing Flaſchong?“ 

Der Wirt kam langſam herbei. Er hatte Turner⸗ 
ſtick nicht verſtanden, verbeugte ſich tief und fragte: 
„What bid you, Sir — was befehlen Sie, Sir?“ 

„Bezahleng!“ 

„JI can not understand.“ 

„Was? Sie könning mich nicht verſteheng?“ rief 
Turnerſtick. „Das iſt mir unbegreifling! Ich drücküng 
mich doch deutling aus. Paſſeng Sie nur richting auf! 
Ich will bezahling!“ 

Der Wirt ſchüttelte verlegen den Kopf. Da ſprang 
der Kapitän vom Stuhl auf und ſchrie erboſt: „Habing 
Sie keine Ohreng? Ich will bezahlung, bezahleng, be⸗ 
zahling, bezahlong und bezahlung!“ 

Der Wirt fuhr erſchrocken zurück. Sein Geſicht 
verriet, daß er ratlos ſei; darum belehrte ihn der Methu⸗ 
ſalem in halblautem Ton: „He will to pay .“ 

„Ja, to pay, to payeng will ich, payeng, verſtan⸗ 
dung?“ rief Turnerſtick. „Aber Li, lauter Li will ich 
geben.“ 

Bei dieſen Worten zeigte er auf die Geldſchnuren, 
die um ſeinen Hals hingen. Im Geſicht des Methu⸗ 
ſalem war der Ausdruck luſtiger Spannung zu bemerken. 
Der Wirt verſtand den Kapitän jetzt; er gab ſich Mühe, 


— 86 — 


ein Lächeln zu unterdrücken, und ſagte ſehr höflich: 
„Thirty bottles, Sir? I beg, ten thousand Lil“ 

Turnerſtick prallte zurück, als ob er einen Hieb in 
das Geſicht erhalten habe. 

„Wa—a—a— -s?“ fragte er. „Zehntauſend Li?“ 

„Jawohl, zehntauſend Li!“ beſtätigte der Methu⸗ 
ſalem. 

„Unmöglich! Bedenken Sie, zehntauſend Li ſind 
nach deutſchem Geld ungefähr ſechzig Mark! Alſo für 
die Flaſche, die daheim fünfzehn Pfennige koſtet, zwei 
Mark!“ 

„Wir ſind nicht daheim. Wir haben deutſches Bier 
getrunken und dieſes Bier muß den Aequator zweimal 
paſſieren. Haben Sie denn noch nie ſo fern von der 
Heimat unſer Bier gekoſtet?“ 

„Nein.“ 

„Nun, dann iſt es eben kein großes Wunder, daß 
Sie ſich um die betreffenden Preiſe nicht bekümmert 
haben.“ 

„Wußten Sie es denn?“ 

„Ja.“ 

„Und da verlangen Sie vierundzwanzig Flaſchen! 
Das ſind achtundvierzig Mark, die in noch nicht fünf 
Minuten durch die Gurgel gelaufen ſind! Ihr Hund 
allein hat acht Mark vertrunken. Welche Verſchwendung!“ 

Der gute Turnerſtick war ein ſparſamer Mann, 
wenn auch kein Filz. Sechzig Mark, ſage zehntauſend 
Li für Bier, das war ihm doch zu viel; darüber hatte ihn 
der Zorn ergriffen. Der Methuſalem berückſichtigte das, 
indem er in ruhigem Ton meinte: „Meine Mittel er⸗ 
lauben mir das. Uebrigens war es ein Willkommtrunk, 
den ich nicht zu wiederholen beabſichtige, und ich konnte 
nicht wiſſen, daß Sie dieſe Zeche auf ſich nehmen wollten. 


— 87 — 


Jetzt denke ich, daß Sie die Abſicht, zu bezahlen, auf⸗ 
geben werden?“ 

Mijnheer von Aardappelenboſch war der Szene mit 
großer Aufmerkſamkeit gefolgt. Seine Kenntnis der 
deutſchen Sprache ermöglichte es ihm, jedes Wort zu 
verſtehen. Um dem Kapitän, welcher vorher den großen 
Mund gehabt hatte und nun mit der Bezahlung zögerte, 
einen kleinen Hieb zu geben, ſagte er zu dem Kellner, der 
ihn bedient hatte: „Oppaſſer, ik zull mijn gelag betalen, 
maar in Li — Kellner, ich will meine Zeche bezahlen, 
aber in Li!” 

„Drie duizend en bijf hondert Li,“ antwortete der 
Markeur. 

„Zijnvijf Dollars, twintig Mark en tachtig feningen 
— ſind fünf Dollars, zwanzig Mark und achtzig Pfen⸗ 
nige.“ Er griff in die Taſche, zog die fünf Dollars und 
noch ein Trinkgeld heraus und gab es ihm. 

Turnerſtick hatte alles verſtanden, da die hollän⸗ 
diſchen Zahlwörter den deutſchen und engliſchen ähnlich 
klingen. „Faſt einundzwanzig Mark!“ ſagte er. „Das 
nenne ich Preife!” 

„Ik heb goed ontbeten en goed gedronken; ik heb 
mij goed vermaakt en will dus book gaarne goed betalen 

— ich habe gut gefrühſtückt und gut getrunken; ich habe 
mich gut unterhalten und will alſo gern gut bezahlen,“ 
antwortete der Dicke. 

Turnerſtick merkte den Stich. Er fühlte ſich an der 
Ehre gepackt, zog ſeinen Beutel und ſagte in ſpitzem Ton: 
„Das will ich auch, obgleich ich gar nicht gegeſſen und 
nur einige Schlucke Lagerbier getrunken habe. Hier ſind 
fünfzehn Dollars! Das macht ſogar noch mehr als die 
Zeche. Der Ueberſchuß mag Trinkgeld ſein. Ein chine⸗ 
ſiſcher Mandarin läßt ſich nicht lumpen.“ 8 


— 88 — 


„Ganz recht!“ lachte der Methuſalem. „Wie lange 
haben wir uns noch als Ihre Gäſte zu betrachten?“ 

„Bis zu dieſem Augenblick; nun aber iſt es aus. 
Ich habe ohnedies, wohin ich ſehe, meinen grünen 
Aerger. Habe ich nicht das herrlichſte Chineſiſch ge⸗ 
ſprochen, ohne daß der Wirt mich verſtehen wollte? Das 
war die ſtrafwürdigſte Auflehnung gegen meine Manda⸗ 
rinenwürde!“ 

Inzwiſchen hatte der Mijnheer dem Wirt heimlich 
einige Worte geſagt. Infolgedeſſen brachten die Kellner 
dreißig Bierflaſchen herbei, die ſie in Reih und Glied auf 
den Tiſch pflanzten. 

„Wat iſt dat?“ fragte Gottfried elektriſiert. „So 
einen halben Zug Garde du Corps laſſe ich mich jefallen! 
Welcher glänzende Stratege hat dieſe Helden ins Vorder⸗ 
treffen jeſchickt?“ 

„Ik ben deze veldheer,“ antwortete der Dicke. „Hier 
is het slagveld en de belegering, en wij zijn dappere 
krijgslieden. Jagen wij alzoo onze vyanden buiten veld 
— ich bin dieſer Feldherr. Hier iſt das Schlachtfeld und 
die Belagerung. Wir ſind tapfere Kriegsleute. Jagen 
wir alſo unſre Feinde aus dem Felde!“ 

Sein fettes Geſicht ſtrahlte in ſolcher Freundlichkeit, 
daß ihm ſeine Gaſtlichkeit unmöglich übel genommen 
werden konnte. Der Kapitän aber hatte ihm den vorher⸗ 
gehenden Stich noch nicht vergeben und ſagte: „Wie, 
Mijnheer, Sie wollen uns einladen? Das iſt doch nur 
unter guten Bekannten geſtattet. Sie aber ſind uns 
völlig fremd.“ 

„Gerade weil ik Ihnen niet fremd bleiben will, 
habe ik Sie gebeten,“ antwortete der Dicke ohne allen 
Groll. „Ik möcht ſo gaarne Ihr vriend ſein und mit 


Ihnen nach Kanton reizen, weil ik ſonſt niet wieder fo 
goede Gezelſchap finde. Werden Sie mij das erlauben?“ 


„Natürlich, natürlich, lieber Freund!“ erwiderte der 
Methuſalem: „Ich trinke zwar nicht gern aus andrer 
Leute Beutel, aber in dieſer Weiſe und unter ſolcher Vor⸗ 
ausſetzung angeboten, kann ich die Gaſtfreundſchaft nicht 
zurückweiſen. Wollen's heut mal gelten laſſen; deutſches 
Bier kriegt man in dieſem Land der Zöpfe nicht allemal! 
Hier meine Hand; wollen gute Kameradſchaft halten!“ 

Er ſchüttelte dem Holländer die Hand. Auch Gott⸗ 
fried ergriff dieſelbe, drückte ſie begeiſtert und rief: „Hier 
auch die meinigen fünf Finger; ſpäter drücke ich viel⸗ 
leicht ſogar Ihr liebes Anjeſicht an mein ſanft wallendes 
Herz. Seien Sie einer von uns, und zwar der Dickſte 
von allen! Ich bejrüße Sie als würdige Maſche in 
unſrem Strumpf. Möge Ihr Wohltun nie erlahmen 
und Ihre Einſicht nie verſiegen. Und nun Iläſer her, 
denn dat Jefecht ſoll bejinnen!“ 

„Neen, neen,“ wehrte der Dicke ab. „Niet kleine 
Gläſer! Ik will ook mal aus deze drooten Stamper 
trinken! Ik will zeigen, daß ik niet bloß eſſen, ſondern 
ook trinken kann!“ 

Dieſer Vorſchlag wurde gern angenommen. Das 
Stammqglas ging, immer wieder gefüllt, von einem zum 
andern; nur Richard Stein wurde verſchont, und der 
Neufundländer durfte faſten. Mijnheer van Aardap⸗ 
pelenboſch trank gerade ſo wie die andern das Glas bis 
auf die Nagelprobe aus. Er gab in den wunderlichſten 
Worten ſeiner Freude Ausdruck, eine ſo gute „Reize⸗ 
gezelſchap“ gefunden zu haben. 

„So wird aus dem Saulus ein Paulus!“ lachte 
Gottfried vergnügt. „Erſt nannten Sie ſich unſern Feind 


— 90 — 


und nun haben Sie uns Ihr janzes Herz jewidmet. Wat 
hat Sie denn mit ſolche Alljewalt in unſern ſchönen 
Kreis jetrieben?“ 

„Daß Sie ſo wacker Bier trinken, das hat Ihnen 
mijne Vriendſchap zugewandt, ſodann heb ik mij geſagt, 
daß Mijnheer Methuſalem mij vielleicht gezond machen 
kann.“ 

„Wollen ſehen!“ nickte der Blaurote. „Dazu aber 
muß ich Sie erſt näher kennen lernen; ich muß Sie be⸗ 
obachten, um den eigentlichen Sitz der Krankheit zu ent⸗ 
decken. Erſt dann kann ich ſie anfaſſen und vertreiben.“ 

„Gradd ſoo wie Mijnheer mn den Lindeboom⸗ 
worm,“ nickte der Dicke. 

„Wen? Was? Einen Lindwurm? Gottfried, Gott⸗ 
fried, du ſcheinſt dich in meiner Abweſenheit der Zügel 
zu entledigen! Ich muß ſie ſtraffer anziehen! Alſo in 
China wollen Sie bleiben, Mijnheer Aardappelenboſch? 
Sich völlig da niederlaſſen!“ 

„Ja, das will ik, namelyk mijne Gezondheit wegen. 
Ik will eene Plantage kaufen, und finde ik niets, ſo lege 
ik eene an.“ 

„Aber wo?“ 

„Das weiß ich nook niet; ich ſuche derhalve überall.“ 

„Sprechen und verſtehen Sie denn Chineſiſch?“ 

„Weniger als niets.“ 

„So iſt es ſehr gewagt von Ihnen, ſich in das 
Innere des Landes zu begeben.“ 

„O, ik heb keene Furcht. Ik nehme eenen Dol⸗ 
metſcher mit. Onze Konſul geft mij eenen goeden. Ik 
brauche niet Sorgen zu hebben. Vor wen ſoll ik Angſt 
hebben? Mijn Geld heb ik niet bei mij, und auf dem 


Rug!) trag ik tive Geweeren; Kruit und Kogels') heb ik 
ook genug.“ 

„Wiſſen Sie bereits, wohin Sie von Kanton aus 
gehen wollen?“ 

„Neen, ik word den Konſul fragen.“ 

„Mir ſcheint, Ihr Arzt hat Sie ins Blaue hinein⸗ 
dirigiert. Hat er ein Intereſſe an Ihrer Entfernung 
gehabt?“ 

„Wohl niet, ofſchoon zijn Schoonvader“ mij die 
Plantage abgekauft heeft.“ 

„Da haben wir es! Sie ſind ein lieber, vertrauens⸗ 
voller Herr. Haben Sie Familie?“ 

„Ik heb keine Vrouw und keine Kinderen. Aber 
mijn Grootvader lebt noch in Nederland. Er wohnt bei 
mijne Zujter*) und hat eene ſehr goede Unterkunft.“ 

„Wollen Sie denn nicht lieber zu dieſen Verwandten 
in die Heimat gehen?“ 

„Neen. Nederland iſt für mijne Gezondheit niet 
paſſend. Ik heb mijn Vaderland lieb, aber es iſt dort 
niet benaauwd') genug. Ik kann da niet eſſen und niet 
trinken. Mijn geheele Ligchaam) wird krank vom Hoofd“) 
bis zu den Voeten') herab. Was nützt mij het Vleeſch, 
wenn ik es niet eſſen kann, und de Wijn, wenn ik ihn 
niet trinken darf? Ik werde dünn und immer dünner 
bis endlich wie eene Breinaald') und de Armen und 
Beenen wie een Draad!°) fo ſchwach. Ik ſehe mijn Tod 
vorher vor de Oogen. Neen, ik wäre een ongelukkige 
Nijlpaard, wenn ik nach Nederland gehen wollte. Ik 
bleib hier, weil ik niet ſterben will.“ 

) Rücken. — ) Pulver und Kugeln. — 9 Schwiegervater. — 9 S 


chweſter. 
= u Br ) Ganzer Körper. — ) Kopf. ) Füßen. — 95 Strick⸗ 


— 92 — 


„Haben Sie denn alles, was Sie hier zum Reiſen 
brauchen?“ 

„Ik heb mijn Paspoort') und überall Kredit. Ik 
brauche niet mehr.“ 

„Nun, wir ſind nicht beſſer ausgerüſtet als Sie und 
wollen es miteinander verſuchen. Da wir nun heut doch 
nicht abreiſen können, ſo ſchlage ich vor, uns Hongkong 
anzuſehen. Bei dieſer Gelegenheit werde ich Ihnen die 
Dſchunke zeigen. Gottfried, ſtopfe die Pfeife und fülle 
neues Waſſer in den Ballon!“ 

„Dat könnte eijentlich der Kellner oder der Haus⸗ 
knecht machen. Hier bin ich anjenehmer und anjeſehener 
Voyageur, mit deſſen männlicher Würde ſich dat Reinigen 
der ollen Pipe nicht vertragen dürfte.“ 

„Ach ſo! Du willſt den Herrn ſpielen? Habe nichts 
dagegen, verſuche es auf deine Weiſe; dann reiſe ich mit 
einem andern Wichſier. Kündigung haben wir nicht; 
den Vorſchuß, welchen du haſt, will ich dir ſchenken.“ 

„Wat? Abjegangen ſoll ich werden? Dat fehlte 
mich jerade noch! Da will ich mir doch lieber mit die 
jewohnte Bejeiſterung über die jute Waſſerpipe her⸗ 
machen! Ich verbleibe Ihr treuer Jottfried nebſt 
Bouillon in tiefſter Erjebenheit nach wie vor!“ 

Er öffnete eine der noch übrigen vollen Flaſchen, 
trank ſie aus und trollte ſich dann mit der Pfeife aus dem 
Zimmer. Kurze Zeit ſpäter machte ſich die Geſellſchaft 
auf den Weg. 

Es war wie immer: Voran der Hund, dann der 
Herr, die Spitze des Schlauches im Munde, und hinter 
ihm Gottfried von Bouillon mit Pfeife und Oboe. Ihnen 
folgte Richard im ſchmucken Wichs, und nach dieſem 


1) Paß. 


a2, 409.42 


ſchritten Turnerſtick und Mijnheer van Aardappelenboſch 
nebeneinander her. | 

Der Kapitän hatte feinen kleinen, gegen den Hol» 
länder gehegten Groll aufgegeben. Der letztere war 
überhaupt ein Mann, dem man höchſtens nur auf Mi⸗ 
nuten zürnen konnte. 

Eigentlich braucht es gar nicht wieder erwähnt zu 
werden, daß ihr Erſcheinen das größte Aufſehen erregte. 
Beſonders ſpaßhaft nahm ſich der Mijnheer neben dem 
Talmi⸗Mandarin aus. Er hatte ſich nicht entſchließen 
können, ſeine Gewehre und den Torniſter im Hotel zu 
laſſen; er trug die drei Gegenſtände in der ſchon beſchrie⸗ 
benen Weiſe auf dem Rücken und hatie darüber feinen - 
Rieſenſchirm geſpannt. 

So wanderten ſie langſam und gravitätiſch nach dem 
Quai, um zu der Dſchunke zu gelangen. Sie entfernten 
ſich dabei aus der Gegend, wo die europäiſchen Schiffe 
vor Anker lagen. 


Fünftes Kapitel. 
Auf der „Schuichen" nach Kanton. 


Die chineſiſchen Fahrzeuge find ganz geeignet, das 

Auge des landfremden Europäers auf ſich zu ziehen. 

Die großen Handelsdſchunken ſind ungeſchlachte 
Schiffe von bedeutender Größe, deren Vorder⸗ und 
Hinterdeck bedeutend höher iſt als der Mittelbord, was 
ihnen ein ſeltſames Ausſehen gibt. Sie ragen mit nil⸗ 
pferdartiger Unbehilflichkeit aus dem Waſſer. 

Ihr Stern iſt ſehr breit, gleich demjenigen eines 
altholländiſchen Linienſchiffes, bunt bemalt und zuweilen 
vergoldet, und das Deck iſt mit einem ungeheuren Stroh⸗ 
dach verſehen, wodurch das Fahrzeug noch viel ſchwer⸗ 
fälliger erſcheint. Die Maſten, die ungemein dick ſind, 
aus einem einzigen Stück beſtehen und keine Stengen 
haben, tragen an der Spitze eine Rolle, durch die ein 
ſchweres, ſtarkes Tau läuft, mit deſſen Hilfe das gewich⸗ 
tige Mattenſegel aufgehißt wird. Das Vorderteil iſt 
meiſt rot bemalt. Rechts und links vom Steven erblickt 
man je ein Auge, oft vier bis fünf Fuß im Durchmeſſer 
haltend und in möglichſt grellen Farben gemalt. Von 
dieſen beiden Augen, die einen eigenartig glotzenden Aus⸗ 
druck zeigen, haben die Dſchunken den allgemein gebräuch⸗ 


— 95 — 


lichen Namen „Lung⸗yen“, d. i. Drachenaugen, erhalten. 
Sie ſollen dem Schiffe jenen drohenden Ausdruck ver⸗ 
leihen, durch welchen böſe Geiſter und andre unirdiſche 
Ungetüme, die ſich zu gewiſſen Zeiten zur Erde und be⸗ 
ſonders in das Waſſer niederlaſſen, vertrieben werden 
ſollen. Das Wort Dſchunke bedeutet Schiff und lautet 
im Hochchineſiſchen „dſchuen“, in der Mundart von 
Kanton aber „dſchonk“. 

Die größeren Dſchunken haben bis 500 Tonnen Ge⸗ 
halt und ſind dreimaſtig. Sie ſind leicht und kunſtlos 
zuſammengefügt, ſo daß ſie eine ſchwere See und die 
Schüſſe von großen Geſchützen nicht ertragen können. 
Dennoch haben ſelbſt Handelsdſchunken wegen der mit 
Recht gefürchteten Flußpiraterie eine oder ſogar zwei Ka⸗ 
nonen an Bord. Sie können wegen der Einfachheit ihrer 
Takelage und ihres Segelwerks nicht kreuzen, ſondern nur 
mit günſtigem Wind fahren und daher z. B. zwiſchen 
China und Java oder Singapore jährlich nur eine Hin⸗ 
und Rückreiſe machen, weil dort halbjährliche Winde, die 
ſog. Monſuns, wehen, die nur auf einer Richtung günſtig 
ſind. 

Die Kriegsdſchunken ſind etwas ſchärfer und beſſer 
gebaut, auch nicht ſo ſehr hochbordig. Sie ſegeln nicht 
ſchlecht, eignen ſich aber dennoch nur für Flüſſe und die 
Küſtenſtrecken, da ſie ſchwere See nicht bewältigen kön⸗ 
nen. Sie führen gewöhnlich vier bis ſechs Drei⸗ oder 
Vierpfünder an den Seiten, einen oder zwei Sechs⸗ bis 
Neunpfünder im Vorderteil und zuweilen auch im Stern 
einige kleine Kanonen. Mehrere Gingals oder Wall⸗ 
büchſen mit einem ſechs bis acht Fuß langen Lauf und 
einer zwei Zoll lichten Mündung drehen ſich in Zapfen 
auf ihren Geſtellen, die an den Seitenborden befeſtigt ſind. 
Die Mannſchaft iſt mit Flinten, Lanzen, Säbeln und 


u. 96: 


Schilden bewaffnet, doch haben viele auch noch Bogen 
und Pfeile im Gebrauch. Die Segel werden durch 
fünfundzwanzig bis dreißig Ruder unterſtützt. Die Dis⸗ 
ziplin iſt ſelbſt auf den Kriegsdſchunken eine echt chine⸗ 
ſiſche. Täglich wird dreimal ein Gebet zu dem Kriegs⸗ 
gott gehalten, wobei ein wahrhaft ohrenzerreißendes 
Klingeln und Pauken, Brüllen und Schreien nebſt Ab⸗ 
brennen von Schwärmern, Raketen und andrem Feuer⸗ 
werk ſtattfindet. 

Erſt am 8. Juni 1869 lief das erſte nach euro⸗ 
päiſcher Weiſe gebaute Kriegsſchiff in Fu⸗Tſchésu vom 
Stapel. Heute beſitzt China eine Anzahl ähnlicher 
Schiffe, was aber bei einem Reich von rund 500 Mil⸗ 
lionen Einwohnern ſo viel wie gar nichts bedeutet. 

Iſt es mit der Disziplin auf den Kriegsdſchunken 
nicht gut beſtellt, ſo ſieht es auf den Handelsdſchunken 
in dieſer Beziehung noch viel ſchlechter aus. 

Der Eigentümer oder Superkargo des Schiffes hat 
die unumſchränkte Herrſchaft über die ganze Schiffs⸗ 
ladung; er kauft und verkauft zu und von ihr ganz nach 
Belieben und führt ebenſo die Aufſicht über die etwaigen 
Paſſagiere, die ganz in ſeine Willkür gegeben ſind. 
Ueber das Kommando des Schiffes und das Treiben der 
Mannſchaft hat er kein Wort zu ſagen. 

Das Kommando führt, wie bereits erwähnt, der 
Kapitän, Ho⸗tſchang genannt, was wörtlich „bejahrtes 
Licht“ bedeutet und für Pilot zu nehmen iſt. Ihm liegt 
bei Tag und Nacht die Führung des Schiffes ob und 
die genaue Beobachtung derjenigen Punkte, nach denen 
er den Lauf desſelben zu richten hat. Das iſt ein ſehr 
ermüdender Poſten, weshalb es Ho⸗tſchangs gibt, die es 
fertig bringen, ſelbſt im Stehen zu ſchlafen. Obgleich er 
der Kommandierende iſt, gehorchen ihm die Matroſen 


= 297 


nur dann, wenn feine Befehle nach ihrem Sinn find. 
Im andren Falle ſchmähen und ſchimpfen ſie offen auf 
ihn und tun oder laſſen, was ihnen beliebt. 

Sein nächſter Untergebener iſt der Steuermann, 
To⸗kung geheißen. Er führt das Steuer und gehorcht 
bald dem Ho⸗tſchang, bald den Matroſen, je nachdem es 
zu ſeinem augenblicklichen Vorteil iſt. 

Die Matroſen zerfallen in zwei Abteilungen, die 
Tau⸗mu oder Vordermänner und die Ho⸗keh oder Ka⸗ 
meraden. Es iſt das eine Unterſcheidung ungefähr wie 
zwiſchen unſren Voll⸗ und Leichtmatroſen. Von dieſen 
Leuten hat jeder dem andern zu befehlen, keiner aber 
will gehorchen. Iſt nichts zu tun, ſo ſind ſie alle da; 
ſoll jedoch eine ſchwere Arbeit geſchehen, ſo ſind ſie ver⸗ 
ſchwunden. 

Sodann iſt ein Schreiber da, um die Rechnungen 
zu führen, ein Proviantmeiſter, der den ganzen Tag 
kaut und ſchlingt, und diejenigen, denen er nicht wohl 
will, halb verhungern läßt. In ſeine Fußſtapfen tritt 
der Koch. Bei ſeiner Anſtellung iſt er gewöhnlich 
ſpindeldürr; nach kurzer Zeit aber hat er ſich gewiß 
ein anſehnliches Bäuchlein angemäſtet. Es ſoll aber 
auch anderwärts ſo ſein, in andern Ländern und an⸗ 
dern Branchen. Auch mehrere Barbiere gibt es, unent⸗ 
behrliche Leute, da der Todestag des Kaiſers der ein⸗ 
zige Tag iſt, an dem ſich kein Chineſe raſieren laſſen 


darf. f 

Um eine Hauptperfon nicht zu vergeſſen, ſei noch 
der Hiang⸗kung genannt, zu deutſch der Wohlgerüche 
Streuende. Er iſt der Schiffsprieſter, der den Gottes⸗ 
oder vielmehr Götzendienſt verſieht. Dieſe Obliegenheit 
beſteht aber nur darin, daß er an jedem Morgen und 
Abend eine gewiſſe Anzahl Räucherſtäbchen verbrennt. 

May, Der blaurote Methuſalem. 7 


— 98 — 


Jeder einzelne der Mannſchaft betrachtet ſeine Ar⸗ 
beit als Nebengeſchäft. Hauptſache dagegen iſt für ihn 
der Handel, den er treiben will und zu deſſen Zweck er 
ſeinen jetzigen Poſten eingenommen hat. Jeder darf 
eine gewiſſe Quantität Waren an Bord bringen; ſobald 
nun irgendwo gelandet wird, rennen alle mit ihren 
Waren fort oder locken Käufer herbei, und ſo liegt 
jeder ſeinen eigenen Geſchäften ob, ohne ſich um andres 
zu kümmern. Ob die Dſchunke früher oder ſpäter 
ihren Beſtimmungsort erreicht, das iſt dieſen Leuten 
gleich. Der Ho⸗tſchang muß ſich nach ihnen richten; 
durch Zwang erreicht er nichts, und oft ſieht er ſich ver⸗ 
anlaßt, das, was er eigentlich mit Strenge verlangen 
könnte, mit kriechender Freundlichkeit zu erbitten. 


Da kann man ſich nun wohl denken, wie Reiſende 
auf ſo einer Dſchunke aufgehoben ſind. Ja, es gibt 
Fahrzeuge, in denen ſich die Matroſen ſämtlicher Räume 
bemächtigt haben. Kommt dann ein Paſſagier, den der 
Beſitzer aufnimmt, ſo kann er ſich nur damit helfen, 
daß er einen Matroſen überredet, ihm ſeinen Platz 
gegen eine Sonderbezahlung zu überlaſſen. So ſind 
die berühmten Lung⸗ven beſchaffen. 


Wehe aber dem Paſſagier, der eine zweideutige 
Dſchunke benutzt! Er glaubt, es mit ganz braven, wenn 
auch rohen, aber doch ehrlichen Leuten zu tun zu haben, 
und nichts verrät, daß das Gegenteil ſtattfindet. Unter⸗ 
wegs aber fällt die Maske, er wird ausgeraubt und 
getötet. 


Und ſolcher Piratendſchunken gibt es noch gar 
viele. Die Regierung iſt faſt ohnmächtig gegen ſie. 
Zehn Kriegsdſchunken wagen es nicht, eine gleiche An⸗ 
zahl von Raubdſchunken anzugreifen, denn ſie wiſſen, 


— 99 — 


daß die Bemannung jeder Kriegsdſchunke, die kampf⸗ 
unfähig wird und den Piraten in die Hände fällt, über 
die Klinge ſpringen muß. Man ſegelt nicht allzuweit 
hinan, verpafft einige Zentner Pulver, ſchreit und 
brüllt ſich heiſer, wendet um, opfert der Meeresgottheit 
Mat⸗ſu⸗po einige Taſſen Tee und ſendet der Behörde 
den Bericht über einen glorreichen Sieg ein, der gar 
nicht möglich war, weil überhaupt kein Kampf ſtatt⸗ 
gefunden hatte. So geſchieht den Piraten nichts, wenn 
nicht einmal der Kreuzer einer europäiſchen Seemacht 
einige dieſer Kiang⸗lung oder „Flußdrachen“, wie fie 
dort im Mund des Volkes auch heißen, leck ſchießt, ſo 
daß ſie mit Mann und Maus zugrunde gehen. Es 
ſcheint aber ganz ſo, als ob zehn Lebendige dann an die 
Stelle eines Toten träten. — 

Als der blaurote Methuſalem und ſeine vier Ge⸗ 
fährten die Seite der chineſiſchen Fahrzeuge erreichten, 
ſahen ſie Dſchunke bei Dſchunke liegen, eine ſo fremd⸗ 
artig und grotesk wie die andre. Aber welch ein Unter⸗ 
ſchied zwiſchen dieſen Schiffen und den europäiſchen auf 
der andern Seite! Während unſre Seeleute eine Ehre 
darin ſuchen, ihr Schiff ſo ſauber und nett wie möglich 
ab⸗ und aufzuputzen und dafür ſchon längſt vor der 
Landung eifrig tätig ſind, ſahen dieſe Dſchunken aus, 
als ob nie ein Tropfen über die Waſſerlinie empor⸗ 
gekommen ſei. Von den Borden und Tauen hingen 
ſchmutzige Fetzen; von überall blickten ſchmutzige Män⸗ 
ner mit ſchmutzigen Geſichtern, die ſich mit ſchmutzigen 
Händen feſthielten. Dabei gab es zwiſchen Quai und 
Borden allerlei ſchmutzigen Verkehr, und auf der Waſſer⸗ 
ſeite hinter den Schiffen machten ſich ſchmutzige Boote 
mit ſchmutzigen Inſaſſen zu ſchaffen. Auf dem Quai 
ſelbſt gab es ſchmutzige Verkaufsſtände mit ſchmutzigen 


— 10 — 
Verkäufern, und dazwiſchen riefen ſchmutzige fliegende 
Händler ihre ſchmutzigen Waren aus. n 

Ein Zwiebelröſter hockte auf der Erde vor ſeinem 
kleinen Bratöfchen und ſchälte Zwiebeln. Der Duft 
drang ihm in Naſe und Augen. Er nieſte einen wahren 
Sprühregen in ſeine kräftig duftenden Scheiben hinein 
und brüllte dabei förmlich — a — abziehhh, ein Laut, 
der ſich auf der ganzen Erdenrunde gleich bleibt. Der 
Mongole, der Kaffer, der Indianer und der Malaye, 
die erſte Hofdame des Kaiſers der Reußen und die 
koboldartige Frau des Papuaauſtraliers, ſie alle, alle 
nieſen a — a — abziehhhh. Zuweilen wird eine der 
beiden Silben aus geſundheitsſchädlichem Schicklichkeits⸗ 
gefühl etwas verkürzt, ſie iſt aber ſtets da, wenn auch 
in Verſtümmelung. Hier ſollten die Weltſprachfabri⸗ 
kanten der Neuzeit anfaſſen; ab — zieh oder ha — tzieh 
ſind die beiden Grund⸗ und Urſilben der Menſchheit, ihr 
von der Natur geſchenkt, die, ſobald dies einmal ver⸗ 
geſſen wird, den Vergeßlichen durch einen tüchtigen 
Schnupfen wieder auf ihren Fingerzeig aufmerkſam 
macht. Was nun dieſen Zwiebelröſter betrifft, ſo kam 
er aus dem Nieſen gar nicht heraus, denn ſo oft ihm 
die Augen im Waſſer ſchwammen, wiſchte er ſich dieſe, 
wohl um ſeine ſchmutzigen Hände zu ſchonen, mit einer 
aufgeſchnittenen Zwiebel aus und putzte auch die Naſe 
damit, worauf dann natürlich ein neuer Nieſerich explo⸗ 
dierte. Die angewiſchte Zwiebel aber wurde geröſtet 
und dann von den Kunden wohlgemut verzehrt. Käufer 
hatte er genug. 

Solche und noch andre Szenen, die ſich nicht gut in 
Worte kleiden laſſen, konnte man häufig beobachten, doch 
ſoll damit nicht ein Urteil über den Chineſen im allge⸗ 
meinen ausgeſprochen ſein. In den Hafenorten ſam⸗ 


— 101 — 


melt ſich eben der ſoziale Schmutz, den beide, das Waſſer 
und das Land, nach der Küſte treiben. 


Auf einer der ſchmuckeren Dſchunken, die einen 
ziemlich ſcharfen Bau und keinen ſo hohen Vor⸗ und 
Achterbord hatte, war kein Menſch zu ſehen. Die Maſten 
ragten kahl empor, denn die großen Mattenſegel lagen 
zuſammengerollt auf dem Deck. Die Drachenaugen zu 
beiden Seiten des Vorderſteven waren neu gemalt. Das 
Hinterteil trug einige Kübel mit blühenden Gewächſen; 
kein ſchmutziges Wäſcheſtück war zu ſehen, und auch 
ſonſt ließ ſich erkennen, daß der Patron dieſes Schiffes 
etwas mehr auf Sauberkeit und Ordnung halte als 
andre ſeinesgleichen. Auf ein ebenſo hohes wie breites 
Brett waren blaue Wogen gemalt, in denen eine 
Frauengeſtalt ſchwamm, die fünf Pfauenfedern im 
Haare trug. Darunter waren die beiden Zeichen Schui 
und Heu mit Silberfarbe in die blauen Wogen gezeich⸗ 
net. Dieſe Dſchunke war alſo „Schui⸗heu“, die „Kö⸗ 
nigin des Waſſers“. Eine ſchmale, leiterartige Bam⸗ 
bustreppe führte vom Land aus zum Deck empor. 


„Das iſt das Fahrzeug, das ich nehme,“ erklärte der 
Blaurote. 


Turnerſtick ſetzte den Klemmer auf das Näschen, 
muſterte das Schiff mit Kennerblick und meinte: „Hm, 
nicht übel! Schlank auf den Kiel gebaut, ſcharfe Bruſt, 
kurzes, aber tief greifendes Steuer und ſchmale, lange 
Segel. Das Steuer iſt der Schwanz, und die Segel 
ſind die Flügel, ruhige Fahrt, gehorcht dem Steuer 
leicht und legt ſich nicht unter der Bi. Kann mir ge⸗ 
fallen. Hat auch ſonſt einen netten Anguck und iſt die 
ſauberſte Schwimmerin unter allen, die hier liegen. 
Will meinen Dollar gern bezahlen und auch noch etwas 


— 102 — 


mehr, wenn das Innenwerk der Außenſeite entſpricht. 
Was ſagen Sie dazu, Mijnheer van Aardappelenboſch?“ 

„Het ſcheep is fraai,“ antwortete der Gefragte. „Ik 
ben tevreden — das Schiff iſt hübſch; ich bin zufrieden.“ 

„Das denke ich auch, denn ich bin Kenner. Wenn 
ich zufrieden bin, können andre es auch ſein. Die 
ſchwimmende Frau ſoll wohl die Waſſerkönigin ſein?“ 

„Ja,“ antwortete der Methuſalem. 

„Was bedeuten denn die beiden Krikelkrakel dar⸗ 
unter?“ | 

„Das iſt die Unterſchrift, eben Schui⸗heu.“ 

„Schui⸗heu? Unſinn. Das ſind doch keine Buch⸗ 
ſtaben, alſo keine Worte.“ 

„Buchſtaben hat der Chineſe nicht, ſondern Zeichen. 
Das erſte Zeichen iſt der fünfundachtzigſte Schlüſſel der 
chineſiſchen Schrift, beſteht aus einer ſenkrechten Linie, 
zwei krummen, divergierenden Halbdiagonalen und zwei 
Quaſten an denſelben; es iſt das Zeichen für Waſſer. 
Das zweite Zeichen beſteht aus —“ 

„Um des Himmels willen, halten Sie ein!“ rief 
Turnerſtick, ſich mit den Händen nach den Ohren lan⸗ 
gend. „Mir brummt der Kopf ſchon von dieſem einen 
Zeichen. Wie viele ſolcher Zeichen hat denn eigentlich 
die chineſiſche Schrift?“ 

„Wohl achtzigtauſend.“ 

„Alle guten Geiſter — —! Da lobe ich mir unſre 
Schrift mit den wenigen Buchſtaben!“ 

„Aber Sie, der Sie ſo ausgezeichnet chineſiſch 
ſprechen, ſollten wenigſtens die zweihundertvierzehn 
Schlüſſel dieſer Schrift kennen lernen!“ 

„Wozu der Schlüſſel, wenn ich gar nicht hinein 
will! Meine Schlüſſel ſind die Endungen; mit ihrer 
Hilfe bin ich in die Tiefen der Sprache eingedrungen, 


— 103 — 


die Schrift aber iſt mir Leberwurſt. Laſſen wir das 
alſo ſein, und ſteigen wir lieber zum Deck der Dſchunke 
empor. Aber, Methuſalem, ich bitte mir aus, daß Sie 
ſchweigen! Sie mit Ihrem Bücherchineſiſch könnten 
leicht alles falſch verſtehen.“ 

Degenfeld nickte beſcheiden und ſchickte ſich an, vor⸗ 
anzuſteigen; aber der Kapitän faßte ihn hinten an dem 
blauſamtnen Schnurenrock, zog ihn zurück und ſagte: 
„Halt, Muſenalmanach! Ich bin der Sprecher und 
muß alſo voran. Ich heiße Tur⸗ning ſti⸗king und 
mache meine Rechte als Mandarin geltend.“ 

„Habe ja gar nichts dagegen, alter Seebär! Aber 
ich muß Sie warnen: Nennen Sie ſich einem Chineſen 
gegenüber ja nicht Mandarin!“ | 

„Warum nicht? Denken Sie vielleicht, man er⸗ 
kenne den Eſel unter der Löwenhaut, und ich werde 
wegen der Führung eines geſtohlenen Titels beſtraft?“ 

„Iſt auch möglich; aber ich meine nicht das, ſon⸗ 
dern etwas andres. Die Chineſen kennen das Wort 
Mandarin gar nicht.“ 

„Nicht? Da ſind ſie dumm genug! Wenn wir es 
kennen, muß es ihnen doch erſt recht geläuſig ſein!“ 

„Eben nicht. Mandarin kommt her von dem Sans⸗ 
kritwort Mantri, ein weiſer Ratgeber, ein Miniſter. 
Die Portugieſen hörten dieſes Wort und machten es ſich 
mundrechter, indem ſie es in Mandarin umwandelten. 
Mit dieſem Titel belegten ſie dann die chineſiſchen Be⸗ 
amten. Die Chineſen aber wenden dieſes ihnen ganz 
fremde Wort niemals an. Sie nennen ihre Beamten 
alle Kuan, welches Wort ein Dach bezeichnet, einen 
Ort, wo viele beiſammen ſind. Zur näheren Erläute⸗ 
rung ſetzen ſie das Zeichen Ju dazu, welches Vater oder 
Greis bedeutet, einen erfahrenen, weiſen Mann, der 


— 104 — 


alſo zum Beamten geeignet iſt. Kuan⸗fu bedeutet alſo 
eine Vielheit von klugen Leuten, von Beamten. Hier 
unterſcheidet man nun wieder Zivil⸗ und Militär⸗ 
beamte; die erſteren werden Wen⸗kuan genannt, lite⸗ 
rariſche Beamte, und die letzteren heißen Wu⸗kuan, tapfere 
Beamte. Sie dürfen ſich alſo nie Mandarin nennen, 
auch nicht Kuan⸗fu im allgemeinen, ſondern weil Sie 
ein Generalmajor, alſo ein Militär ſind, ſo gehören Sie 
zu der Abteilung der Wu⸗kuan. Merken Sie ſich das ja!“ 

Turnerſtick kratzte ſich hinten unter dem falſchen 
Zopf. „Alle Wetter, iſt das eine Not!“ ſeufze er. „Kuan⸗ 
tſchu, Wäng⸗Kuan, Wau⸗kuan. Das iſt eine Tſchu⸗ und 
Wäng⸗ und Wau⸗kuanerei, daß es einem die Ohrläpp⸗ 
chen hinten im Genick zuſammenzieht!“ 

„Sie ſprechen die Worte ganz falſch aus!“ 

„Wegen der vielerlei Kuans. Sagen Sie mir noch 
einmal, was für einer ich bin! Das werde ich mir 
ſchon merken.“ 

„Ein Wu⸗kuan!“ 

„Wu, Wu, Wu, Wu⸗kuan! Nun werde ich das 
Wu wohl im Kopfe haben, wenn ich dabei nur das 
Kuan nicht wieder vergeſſe. Es iſt ein ſehr ſchlechtes 
Chineſiſch. Die richtige Endung fehlt; es muß ein ng 
hintenan, alſo Wung⸗Kuang. Das wäre hochchineſiſch. 
Haben Sie vielleicht einen Bleiſtift bei ſich?“ 

„Ja. Hier iſt er.“ 

„Danke! Will mir dieſes Wu⸗kuan, zu welcher 
Sekte ich nun einmal gehöre, doch lieber aufſchreiben, 
und zwar hierher auf den Fächer, wo ich es ſtets vor 
Augen habe. Fällt mir es nicht gleich bei, ſo öffne ich 
den Fächer und fächle mir meine Kriegerklaſſe zu. Präch⸗ 
tiger Gedanke! Man ſollte ſich eigentlich jedes chine⸗ 


— 105 — 


ſiſche Wort, das man leicht vergeſſen könnte, auf den 
Fächer notieren.“ 

„Wie groß müßte er dann bei Ihnen ſein?“ 

„Wie groß? Ah, Sie wollen mich wohl foppen? 
Ich denke, mein Kopf faßt ebenſoviel wie der Ihrige!“ 

„O, noch weit mehr. Ihr Zopf beweiſt das ja. 
Wie heißt Zopf in chineſiſcher Sprache?“ 

„Jedenfalls Zopfing oder Zopfeng.“ 

„Nein. Dieſes Mal ſind Sie leider falſch unter⸗ 
richtet.“ 

„Wie denn?“ 

„Pen⸗tſe, zu deutſch Sohn des Gehirnes. Die Chi⸗ 
neſen gehen von der Anſicht aus, daß aus einem ge⸗ 
ſunden Kopf auch ein geſunder, alſo recht langer Zopf 
wachſen müſſe. Demzufolge muß alſo ein langer Zopf 
das ſichere Zeichen eines guten Gehirnes, eines klugen 
Mannes ſein. Daher lachen ſie über unſer geſchorenes 
Haar und halten uns für Dummköpfe. Je höher ein 
Chineſe ſteht, deſto länger und dicker wird ſein Zopf 
ſein, ob Natur oder Kunſt, das iſt Nebenſache. Da Sie 
nun ſo einen gewaltigen Zopf beſitzen, während ich - 
leider keinen Pen-tfe habe, fo müſſen Sie mir geiſtig un⸗ 
geheuer überlegen ſein.“ 

„Das iſt auch gewiß ſehr richtig. Wart, den Zopf 
muß ich mir auch ſofort notieren. Alſo Pen⸗dſe?“ 

„Nein, denn dſe heißt vier.“ 

„Alſo Pen⸗ße?“ 

„Auch nicht, denn ße oder ſſe bedeutet den akade⸗ 
miſchen Grad eines Doktors.“ 

„Wohl Pen⸗ſe?“ 

„Bewahre, denn ſe heißt Liebe, Farbe, Figur, Ma⸗ 
lerei. Sie müſſen ein hartes t vor das ſ ſetzen.“ 

„Folglich Pen⸗tße?“ 


— 106 — 


„Unmöglich; tße bedeutet nämlich: ſich, ſelbſt, 
Eigenart, innere Beſchaulichkeit, Gleichheit und Ver⸗ 
gleichung.“ 

Turnerſtick hielt den Fächer in der Linken und den 
Bleiſtift in der Rechten zum Schreiben erhoben; aber 
er ſchrieb nicht, ſondern zog ein ganz merkwürdiges Ge⸗ 
ſicht und rief: „Jetzt hören Sie nun mal auf, Sie 
Sprachen⸗Akrobat! Es brauſt mir ja um die Ohren, 
als ob ich den Niagarafall im Kopfe hätte!“ 

„Ja, mein Lieber, Sie müſſen die beiden Konſo⸗ 
nanten genau und ſcharf unterſcheiden. Im Chineſiſchen 
iſt ein großer Unterſchied zwiſchen je, fie, ſze, tie, tze, 
dſe und dze.“ 

„Ihr Unterſchied kann mir geſtohlen werden! War⸗ 
um bringen Sie mir lauter Worte ohne eine meiner 
Endungen! Peng tſeng wäre richtig; warum ſoll ich da 
Pen⸗tſe jagen? Ich ſchreibe mir den unglückſeligen 
Zopf gar nicht auf. Hier haben Sie Ihr Stückchen 
Bleiſtift zurück. Mir brauchen Sie mit Ihrem höl⸗ 
zernen Pantoffelchineſiſch nicht zu kommen. Da hat 
das meinige doch mehr Saft und Kraft. Pang, peng, 
ping, pong und pung, das iſt der wahre Jakob; das 
klingt wie Glockengeläute! Was würden Sie ſagen, 
Mijnheer van Aardappelenboſch, wenn einer von Ihnen 
verlangte, ſieben⸗ oder achterlei dſe und tſe zu unter⸗ 
ſcheiden?“ 

„Ik zoude ihm ſagen: Gij zijt een ongelukkige Nijl⸗ 
paard!“ antwortete der Dicke, indem er ſo tief und ängſt⸗ 
lich Atem holte, als ob an ihn das Verlangen geſtellt 
worden ſei, den ſchrecklichen Pen⸗tſe zu deklinieren. 

Die fünf ſonderbaren Perſonen hatten durch ihr 
längeres Verweilen an dieſer Stelle eine große Anzahl 
von Neugierigen herbeigezogen. Dennoch zeigte ſich 


— 107 — 


oben auf dem Deck der Dſchunke kein Menſch. Unſer 
Kapitän ſchob ſeinen Fächer zuſammen und ſtieg die 
Treppe empor. Hinter ihm folgten Richard Stein, der 
Wichſier, der Dicke und zuletzt der Methuſalem. Dieſe 
Ordnung der Perſonen hatte für den dicken Holländer 
eine kleine Beläſtigung zur Folge. Da Gottfried den 
Kopf der Hufaht) trug und der Methuſalem die Spitze 
des Schlauches im Mund hatte, ſo führte der letztere 
an Mijnheer van Aardappelenboſch vorüber und machte 
ihm das Emporſteigen ſchwieriger, zumal die Treppe 
für ſeine volle Geſtalt viel zu ſchmal war. Er blieb auf 
der vierten oder fünften Stufe halten, um wenigſtens 
ſeinen Rieſenſchirm, der ihm ſehr beſchwerlich wurde, 
zuzumachen, verwickelte ſich aber dabei in den langen 
Pfeifenſchlauch. Der Schirm entging ſeiner Hand. Um 
ihn zu ergreifen, machte er eine ſchnelle Bewegung, ver⸗ 
lor den Halt und rutſchte von der Leiterſproſſe ab. 

„Gottfried, halte die Pfeife feſt!“ rief der Methu⸗ 
ſalem, indem er deren Spitze fahren ließ. 

Der Dicke ſtürzte auf ihn, und zwar mit ſolchem 
Gewicht, daß der Blaurote ſich und ihn nicht zu halten 
vermochte; beide krachten von der Treppenleiter herab 
und auf die Erde nieder. 

Der Methuſalem raffte ſich augenblicklich wieder 
auf; der Dicke aber blieb liegen, hielt die Hände und 
Füße empor, ſpreizte alle zehn Finger auseinander und 
ſchrie: „Mijn God, mijn hemel, o mijn rug en mijne 
neus! Daar ligg ik hoe een walviſch in de fontein! Ik 
ben dood. Goede nacht, gij booſe wereld — mein Gott, 
mein Himmel, o mein Rücken und meine Naſe! Da 
lieg ich wie ein Walfiſch im Springbrunnen! Ich bin 
tot. Gute Nacht, du böſe Welt!“ 


) perſiſche Waſſerpfeife. 


— 18 — 


Gottfried hatte die Pfeife feſtgehalten, fo daß fie 
ihm nicht entriſſen worden war. Er kam herabgeſtiegen, 
um den beſchmutzten Anzug ſeines Herrn mit dem 
Taſchentuch zu reinigen. Dabei fragte er ihn: „Wie 
nennt man eigentlich im Holländiſchen das Parterre?“ 

„Gelykvloers,“ antwortete der Blaurote. ö 

„Und Strohſack?“ 

„Stroozak.“ 

„Danke!“ 

Sich nun an den Holländer, der noch immer alle 
vier Extremitäten von ſich ſtreckte und die Augen ge⸗ 
ſchloſſen hielt, wendend, rief er: „Mijnheer, wollen Sie 
hier gelykvloers liegen bleiben wie ein Stroozak? Er⸗ 
heben Sie ſich doch in Ihre janze Herrlichkeit!“ 

„Ik kan niet!“ antwortete der a im 
kläglichſten Ton. | 

„Warum nicht?“ 

„Ik ben dood, muisdood. Ik ſterv in deze oogen⸗ 
blik. Ik ben een ongelukkige nijlpaard. Wij worden 
afſchied nemen!“ 

„Wat, ſo mauſetot ſind Sie, dat Sie Abſchied neh⸗ 
men wollen?“ lachte der Wichſier. „Wer ſo weich fällt 
wie Sie, der kann ſich jar nie zu Tode fallen. Sollten 
Sie aber dennoch bereits nach dem Jenſeits hinüber⸗ 
jeſchlummert ſein, ſo habe ich da meine Poſaune des 
letzten Jerichts, womit ich Ihnen aus dat Erbbejräbnis 
blaſen werde. Wollen Sie jefälligſt auf?“ 

„Neen! Ik kan niet!“ 

„Dann werde ich nachhelfen.“ Er hielt ihm die 
Oboe an das Ohr und blies. Es kam ein ſo entſetz⸗ 
licher, langgezogener Mißton zum Vorſchein, daß ſich 
der Holländer ſofort in ſitzende Stellung aufrichtete und 
beide Ohren mit den Händen verſchloß. ö 


— 109 — 


„Dat hilft! Nicht wahr?“ kicherte Gottfried ihn 
an. „Weiter! Noch einmal!“ Aber obgleich der zweite 
Ton noch ſchrecklicher als der erſte war: der Dicke blieb 
ſitzen. Er zog zwar ein jämmerliches Geſicht, hielt ſich 
aber die Ohren zu und bewegte ſich nicht. 

„Will's nicht weiter wirken?“ fragte Gottfried mit⸗ 
fühlend. „Auf, Mijnheer! Es wird ſchon jehen!“ 

„Ik kan niet; ik word ſterven!“ erwiderte der Dicke 
kopfſchüttelnd. 

„Laß ihn!“ rief der Methuſalem, der mittlerweile 
mit dem Neufundländer die Leiter emporgeſtiegen war. 
„Man ſoll jedem Toten ſeine Ruhe gönnen. Möge ihm 
die Erde leicht werden! Wir aber haben mehr zu tun. 
Hier oben an Deck riecht es geradezu zum Entzücken. 
Ich glaube, es wird an Bord ein feines Diner abgehal⸗ 
ten. Ich rieche Rumpſteaks mit Schmorkartoffeln; auch 
nach Sellerieſalat duftet es. Man ſcheint alſo ſchon 
beim zweiten Gang zu ſein. Komm alſo ſchnell herauf, 
Gottfried! Ein chineſiſches Eſſen, das dürfen wir un⸗ 
möglich verſäumen!“ | 

„Gebraden rumppleeſch?“ rief der Dicke, indem er 
die Hände von den Ohren nahm. „Selriſalade? Een 
middageten in een chijnediſchen ſcheep? Ik word ool 
met eten. Ik kom book met in't ſcheep!“ 


Was Gottfried mit ſeiner Oboe nicht fertig gebracht 
hatte, das war dem Methuſalem mit ſeiner Ankündi⸗ 
gung gelungen. Einem Rumpſteak konnte der Dicke 
nicht widerſtehen; er ſprang vom Boden auf, ſteckte den 
Torniſter, der ihm entfallen war, wieder auf die beiden 
Gewehrläufe, ergriff den Familienſchirm und kletterte 
dann mit einer Beweglichkeit, die ihm vorher niemand 
zugetraut hätte, an der Leiter empor. Gottfried ſtieg 


— 110 — 


lachend hinter ihm her und beeilte ſich, dem Methu⸗ 
ſalem den Pfeifenſchlauch wieder hinzureichen. 

Zunächſt war kein Schiffsbewohner zu ſehen. Auch 
von einem Bratengeruch war nichts zu verſpüren, was 
den Dicken zu dem Ausruf der Enttäuſchung veran⸗ 
laßte: „Ik ben verſchrikt! Hier wordt niets kocht — ich 
bin erſchrocken. Hier wird nichts gekocht.“ 

Er hielt ſeine Naſe in alle Richtungen der Wind⸗ 
roſe, und da er von einem Bratenduft keine Spur be⸗ 
merkte, ſo ſtieß er den Schirm zornig auf und rief: „Ik 
houd niet van zulk een gedrag; ik loop waarlyk naar 
mijne herberg — ich halte nichts von ſo einem Be⸗ 
tragen; ich gehe wahrhaftig nach meinem Gaſthof!“ 

Er wollte ſich wieder nach der Treppe wenden, ließ 
ſich aber durch einen intereſſanten Anblick, der ſich ihm 
bot, daran hindern. Es duftete plötzlich wirklich nach 
gebratenem Fleiſch, wodurch der Scherz des Blauroten 
zum Ernſt wurde. In der Stützwand des hohen Hinter⸗ 
decks wurde eine Mattentür geöffnet, und es traten vier 
Chineſen hervor, die einen Tiſch trugen. Auf dieſem 
ſtanden mehrere Porzellangefäße verſchiedener Formen 
mit gebratenem Fleiſch, Kuchen, Wein und duftenden 
Blumen. 

„Het middageten komt!“ rief der Dicke, indem ſein 
Geſicht einen freudigen Ausdruck annahm. 

„Dat ſcheint wirklich ſo!“ nickte Gottfried von 
Bouillon. „Sollte man unſre Ankunft jemerkt haben 
und nun mit einem Freundſchaftsimbiß feierlichſt be⸗ 
jehen wollen? So eine diplomatiſche Jeſchicklichkeit 
hätte ik bei dieſe Söhne der Mitte freilich nicht jeſucht!“ 

„Abwarten!“ lachte der Methuſalem. „Dieſe Deli⸗ 
kateſſen ſind jedenfalls nicht für uns.“ N 


— 111 — 


„Dann könnten mir dieſe Kinder des Zopfes immer 
wieder jeſtohlen werden.“ 

Es zeigte ſich, daß der Methuſalem recht hatte, 
denn die vier Chineſen machten ſehr erſtaunte Geſichter, 
als ſie die Fremden erblickten. Sie trugen den Tiſch bis 
zwiſchen den Mittel⸗ und Hintermaſt, ſetzten ihn dort 
nieder und entfernten ſich ſchleunigſt, jedenfalls um die 
Anweſenheit der Europäer zu melden. 

Gleich darauf kamen aus derſelben Tür zwei Män⸗ 
ner, die ſich in langſamen und würdevollen Schritten 
näherten. Beide waren lang und hager. Sie trugen 
die gewöhnliche chineſiſche Tracht, ohne Abzeichen eines 
literariſchen oder militäriſchen Ranges und hatten breit⸗ 
krempige Baſthüte auf den rundum kahlgeſchorenen 
Köpfen. Nur auf den Scheitelſtellen waren die Haare 
nicht entfernt worden; ſie hingen von dort aus in Ge⸗ 
ſtalt von Zöpfen unter den Hüten hervor. 

Als ſie herangekommen waren, blieb der eine einen 
Schritt hinter dem andren ſtehen. Der letztere ver⸗ 
beugte ſich tief und ſagte in ziemlich gutem Engliſch und 
mit höflichem Lächeln: „Die hochgeborenen Herren be⸗ 
ehren mein ſchmutziges Schiff mit Ihrer glänzenden 
Anweſenheit. Welchem glücklichen Umſtand habe ich, 
der allerunwürdigſte Ihrer Diener, dieſe leuchtende 
Gnade zu verdanken?“ 

Selbſt im Verkehr mit ſeinesgleichen gebietet näm⸗ 
lich die Höflichkeit dem Chineſen, von ſich nur in weg⸗ 
werfenden, von dem andern aber in erhebenden Aus⸗ 
drücken zu ſprechen. 

Der Methuſalem verbeugte ſich ebenſo tief und 
öffnete bereits den Mund, um zu antworten; da aber 
trat Turnerſtick ſchnell vor und rief: „Tſching, tſching, 
tſching! Wir kommeng als Paſſagierings und wollang 


— 12 — 


mit der ‚Königing des Waſſers“ fahrung. Wir hoffeng, 
gute Wohnung zu finding und werdeng nobel bezahlung. 
Fünf Perſonung und ein Hund. Was habeng wir da⸗ 
für zu bezahlung?“ 

Der Chineſe warf einen unbeſchreiblich verblüfften 
Blick auf den Kapitän, ſchüttelte den Kopf und ſah die 
andern fragend an. 

„Nun!“ ſagte Turnerſtick ungeduldig. „Sie wer⸗ 
deng doch hoffentling Chineſiſch verſtehang! Ich laſſe 
nur den reinſteng und feinſteng Dialekting hörung. Ver⸗ 
ſtanding? Ich will Antwort habeng!“ 

Der Chineſe ſtand noch ebenſo verwundert wie vor⸗ 
her. Darum fuhr Turnerſtick in erhöhtem Ton fort: 
„Seid ihr beideng etwa taubſtumming? Ich kann ver⸗ 
langung, gehört zu werdeng. Ich bin — bin — bing —“ 

Leider hatte er das Wort nun ſchon vergeſſen. Er 
entfaltete alſo ſeinen Fächer, um es abzuleſen, und er⸗ 
gänzte: „Ich bing ein Wu⸗kuan und heiße Tur⸗ning ſti⸗ 
king, Schiffskapitäng und chineſiſcher Obermandaring; 
ich werde —“ | 

Er wurde unterbrochen. Der Chineſe veranlaßte 
ihn durch eine Armbewegung zu ſchweigen und fragte 
den Methuſalem, ſich wieder der engliſchen Sprache be⸗ 
dienend: „Wer iſt dieſer erlauchte Herr? Meine unge⸗ 
horſamen Ohren vermögen es nicht, ſeine Worte zu 
verſtehen.“ f 

Der Gefragte antwortete in derſelben Sprache: „Er 
iſt ein Wu⸗kuan, ein Fu⸗tſiang ſeines Vaterlandes, und 
bedient ſich des höchſten Dialekts der Beamten von der 
Pfauenfeder, den andre nicht zu kennen ſcheinen.“ 

„So muß es ſein, denn ich kenne dieſe Sprache 
nicht. Wollen uns alſo lieber derjenigen der Yan⸗kui⸗ 


— 13 — 


tfet) bedienen, in welcher ich die weiſen Herren wohl 
verſtehen kann. Ich bin der ganz unwürdige Ho⸗tſchang 
dieſes Schiffes, und mein Kamerad hier iſt der To⸗kung 
desſelben. Unſre Tau⸗muh' haben uns gejagt, daß 
einige erleuchtete Männer an Bord gekommen ſeien, 
und ſo haben wir uns beeilt, unſre ganz demütigen 
Dienſte anzubieten.“ 

„Hat der Beſitzer dieſer Dſchunke nicht davon ge⸗ 
ſprochen, daß ein Tao⸗dſe⸗kuen) hier geweſen iſt, um für 
ſich und noch vier andre Platz für Kanton zu bekom⸗ 
men?“ 

„Er hat es geſagt. Wenn ihr dieſe vom Himmel 
geſandten Herren ſeid, ſo wird es für uns eine ganz 
unverdiente Ehre ſein, euch bei uns eee und 
nach Kuang⸗tſcheu⸗fu“) zu bringen.“ 

„Wir ſind es. Wo iſt der Schiffsherr?“ 

„Er befindet ſich bei dem Hiang⸗kung, um mit ihm 
für das Gelingen unſrer Reiſe zu beten. Wenn das 
Gebet vollendet iſt, werden wir hier auf dem Deck das 
Kong⸗pit vornehmen, um ganz ſicher zu ſein, daß uns 
unterwegs kein Uebel widerfahre.“ 

„Werdet ihr uns erlauben, dieſer Zeremonie beizu⸗ 
wohnen?“ 

„Ja, da ihr mit uns fahren wollt. Aber da muß 
ich nach euren berühmten Namen und euren glänzenden 
Würden fragen, damit ich euch die euren hohen Ver⸗ 
dienſten angemeſſenen Plätze anweiſen kann.“ 

„Ihr ſollt ſie erfahren. Dieſer berühmte Held iſt, 
wie bereits erwähnt, ein Wu⸗kuan. Sein Titel iſt auf 
feinem Fächer verzeichnet: Tur⸗ning ſti⸗ king kuo⸗nyan 


5 l Engländer. — ) Matrofen. — ) Deutſcher. — ) Chineſiſcher Name für 
Nav, Der blaurote Methusalem. | 8 


— 14 — 


ta⸗fu⸗tſiang. Mein Name iſt Mesthu-faslem-tjiung-wan, 
woraus ihr erſehen werdet, wen ihr vor euch habt.“ 

Die Klaſſe der Tſiung⸗wan iſt nämlich die erſte der 
fünf oberſten Klaſſen des perſönlichen Adels, wohin nur 
die Mitglieder und Abkommen der kaiſerlichen Familie 
gehören. Als die beiden Chineſen dieſe zwei Silben 
hörten, verbeugten ſie ſich ſo tief, daß ihnen ihre Zöpfe 
nach vorn über die Köpfe flogen, und der Ho⸗tſchang 
fragte im Ton tiefſter Ergebenheit: „So ſind Sie der 
Nachkomme eines glänzenden Ahnen?“ 

„Des glänzendſten, den es gibt. Er hieß A⸗dam; 
vor ihm beugten ſich alle Geſchöpfe der Erde, und er iſt 
der Urvater aller Kaiſer und Könige. Mein Name 
wird alſo genügen, ſo daß ich diejenigen meiner andern 
Begleiter nicht zu nennen brauche. Jeder von ihnen iſt 
ein Tao⸗kuang!) in unſerm Vaterlande, und wenn wir 
mit euch fahren, werdet ihr alle ihre zehntauſend Vor⸗ 
trefflichkeiten kennen lernen. Vor allen Dingen aber 
möchten wir wiſſen, wie viele ‚Waflerfüße‘ wir haben 
müſſen, um mit euch nach Kanton zu gelangen.“ 

„Der Herr des Schiffes hat mir bereits geſagt, daß 
er für die Perſon einen Dollar verlangt hat. Da ihr 
aber ſo vornehme Herren ſeid, denke ich, daß ihr uns 
beiden außerdem noch ein Kom⸗tſcha:) geben werdet.“ 

„Ihr ſollt pro Mann einen Dollar bekommen.“ 


„Herr, eure Gnade iſt über alles Erwarten groß. 
Wenn ihr das Geld ſogleich bezahlt, werdet ihr Zeuge 
des Kong⸗pit fein.“ 

Turnerſtick und der Mijnheer zahlten je zwei Dol⸗ 
lar, der Methuſalem für ſich, Gottfried und Richard vier 
Dollar, folglich hatten die Schiffsoffiziere drei Dollar 


1) Glanz der Vernunft. — ) Tſcha = Tee, Geld für Tee, alſo Trinkgelb 


— 15 — 


Trinkgeld, worüber fie ſich außerordentlich erfreut 
zeigten. 

Während des Geſpräches harte ſich das vorher ſo 
menſchenleere Deck bevölkert. Die Bemannung war 
unter Deck geweſen und nun heraufgekommen. Die 
Leute ſtanden in der Nähe des Tiſches. Von ihnen 
löſten ſich zwei ab, die langſam herbeikamen. Der 
Methuſalem erkannte den Schiffseigner. Der andre 
trug eine mönchsähnliche Tracht. Jedenfalls war er 
der Hiang⸗kung, der Prieſter des Schiffes. f 

Der erſtere erhielt von dem Kapitän das Paſſage⸗ 
geld, natürlich aber nicht das Trinkgeld. Die vier Chi⸗ 
neſen traten beiſeite, ſprachen eine Weile miteinander 
und warfen dabei ſcharf forſchende Blicke auf die Paſſa⸗ 
giere. Der Schiffseigner hatte, wie von Degenfeld ganz 
richtig bemerkt worden war, kein vertrauenerweckendes 
Geſicht, der Prieſter ſah noch finſterer aus. Ihre Blicke 
glichen denen von Händlern, die eine Ware ſcharf ab⸗ 
ſchätzen wollen. 


„Die Kerls gefallen mir gar nicht,“ ſagte der Me⸗ 
thuſalem. „Sie betrachten uns wie Waren, die in ihren 
Beſitz übergehen ſollen. Warum ſprechen ſie heimlich 
miteinander?“ 

„Das ficht mich nichts an,“ antwortete Turnerſtick. 
„Ein Kapitän muß wiſſen, wen er an Bord hat, und 
daß wir ihr Befremden erregen müſſen, verſteht ſich ganz 
von ſelbſt. Laſſen Sie die Kerls immer reden. Mir ge⸗ 
fallen ſie, obgleich ſie kein Wort von meinem Hochchine⸗ 
ſiſch verſtehen. Ueberdies iſt dieſe ‚Schui⸗heu“ ein wah⸗ 
res Prachtſchiff, ſchmuck und ſauber im höchſten Grad. 
Vielleicht läßt man uns auch einen Blick unter Deck 
werfen. Am liebſten möchte ich gleich hier bleiben. 


— 16 — 


Vielleicht tue ich es auch, wenn fie es erlauben. Warum 
ſoll ich im Hotel übernachten und ſo viel Geld be⸗ 
zahlen?“ 

Als ob ſie die Worte des Kapitäns gehört hätten, 
kamen die vier jetzt wieder herbei, und der Kapitän 
ſagte: „Ich habe den Hiang⸗kung benachrichtigt, daß ihr 
das Kong⸗pit mit anſehen wollt. Er würde es gern 
erlauben, darf aber nicht, weil ihr dann wohl das Schiff 
verlaſſen werdet, um erſt morgen früh wieder an Bord 
zu kommen.“ 

„Das beabſichtigen wir allerdings,“ beſtätigte De⸗ 
genfeld. „Aber warum ſoll dieſer Umſtand ein Hin⸗ 
dernis ſein?“ 

„Weil dann das Kong⸗pit nicht zutreffen würde. 
Wer bei demſelben geweſen iſt, darf das Schiff vor der 
Abfahrt nicht wieder verlaſſen, wie ſich ganz von ſelbſt 
verſteht.“ 

„Was iſt denn dieſes Kong⸗pit für ein Dings?“ er⸗ 
kundigte ſich Turnerſtick in deutſcher Sprache. „Kennen 
Sie es, Methuſalem?“ 

„Ich habe davon geleſen,“ antwortete der Gefragte. 
„Kong⸗pit heißt wörtlich: ‚das Herabſteigen zum Pinſel“. 
Es iſt das Geiſterſchreiben bei den Chineſen, ähnlich wie 
bei uns der Unſinn des Tiſchrückens oder des Spiritis⸗ 
mus.“ 

„Geiſterſchreiben? Das muß ich ſehen! Ich habe 
zeit meines Lebens noch keinen Geiſt geſehen, auch noch 
keinen Brief von ſo einem Weſen erhalten.“ 

„Ik ook nok niet; ik will ook zien ſchryven dezen 
Keerl van ginds — ich auch noch nicht; ich will auch 
dieſen Kerl aus dem Jenſeits ſchreiben ſehen,“ meinte 
der Mijnheer. 


— 17 — 


Und Richard Stein bat: „Einen Geiſt, welcher 
ſchreibt? Lieber Onkel Methuſalem, den möchte ich 
auch gern ſehen. Können wir nicht gleich hier bleiben?“ 


„Warum denn nicht?“ antwortete Gottfried von 
Bouillon. „So ne Jeiſterjeſchichte iſt mich zwar im⸗ 
mer verdächtig. Jeiſter können mich eben nie impo⸗ 
nieren. Der einzige ehrliche Jeiſt iſt doch nur der auf 
Flaſchen je⸗ und wohljezogene. Aberſt ich möchte es 
mich doch mal jenehmigen, eenen Jeiſt mit Pen⸗tſe, alſo 
mit Zopf zu ſehen, und ſo erhoffe ich, dat unſer Methu⸗ 
ſalem es möglich macht.“ 

„Hm!“ zuckte der Genannte die Achſel. „Was hin⸗ 
dert uns, gleich hier zu bleiben? Das wenige, was wir 
am Lande noch zu tun haben, iſt bald geordnet, und ſo 
will ich mich in euren Wunſch fügen.“ 

Er ſagte das dem Kapitän. Dieſer ſandte ſofort 
mehrere Leute ab, die für die Reiſenden einkaufen ſoll⸗ 
ten, was der Methuſalem als nötig beſtimmte. Einer 
von ihnen mußte in das Hongkong⸗Hotel gehen, um dort 
dem Wirt zu melden, daß die Gäſte nicht zurückkehren 
würden; der Mijnheer gab ihm eine ſchriftliche Beſchei⸗ 
nigung mit. 

Als dieſe Veranſtaltungen getroffen waren, durften 
die Paſſagiere das Innere des Schiffes beſichtigen und 
die Koje oder vielmehr Kajüte in Augenſchein nehmen, 
die ihnen als Aufenthaltsort dienen ſollte. 

Die Dſchunke machte auch in ihrem Innern ihrem 
Baumeiſter und den ſie führenden Offizieren alle Ehre. 
Sie führte nur zwei Deckkanonen. Der Kapitän ver⸗ 
ſicherte, vor den Räubern vollſtändig ſicher zu ſein, da 
die „Königin des Waſſers“ das am ſchnellſten ſegelnde 
Schiff des chineſiſchen Meeres ſei. 


— 18 — 


Nach Kanton follte das Schiff in Ballaſt gehen 
und erſt dort Ladung nehmen, da es hier in Hongkong 
die bisherige gelöſcht hatte. Nur eine Anzahl großer, 
ſchwerer Kiſten ſtanden im Güterraum. Sie enthielten 
die Maſchinenteile einer großen Brennerei, die in der 
Nähe von Kanton gebaut worden war und deren Eigen⸗ 
tümer die Maſchinen in Europa beſtellt hatte. Sie waren 
von der „Königin des Waſſers“ in Singapore in Emp⸗ 
fang genommen worden. 

So erzählte der Ho⸗tſchang und die Reiſenden 
hatten keine nähere Veranlaſſung, die Wahrheit ſeiner 
Angaben in Zweifel zu ziehen. 


Sechſtes Kapitel. 
Eine Geiſterbeſchwörung. 


Der Raum, der den Paſſagieren angewieſen 
wurde, war wirklich mehr Kajüte als Koje. Sie war 
zwar leer und nur mit einer Strohmatte belegt, aber ſo 
hoch, daß man aufrecht ſtehen konnte, und ſo lang und 
breit, daß die fünf Reiſenden gut Platz hatten. Wenn 
die an das Land geſchickten Matroſen die gewünſchten 
Decken brachten, ſo ließ ſich ein für die Nacht recht be⸗ 
quemes Lager herſtellen. 

Lieb war es den Reiſenden, daß zu ihrer ausſchließ⸗ 
lichen Bedienung ein Matroſe kommandiert wurde, der 
des Engliſchen ziemlich mächtig war. Er beſaß kein 
mongoliſches Geſicht, war klein und ſchmächtig und teilte 
ihnen mit, daß er ein Malaye ſei und ſein Engliſch in 
Oſtindien gelernt habe. Er war ſehr gefällig und 
brachte allerlei Gegenſtände herbei, die ihm geeignet er⸗ 
ſchienen, der Kajüte ein wohnlicheres Ausſehen zu geben. 

Es verſtand ſich ganz von ſelbſt, daß die Schiffs⸗ 
offiziere mehr zu tun hatten, als ſich nur mit ihren 
Paſſagieren abzugeben. Dieſe ſaßen beieinander an 
Deck, um die Rückkehr ihrer Boten zu erwarten, die nach 
chineſiſcher Art ungewöhnlich lang ausblieben. Es 


— 120 — 


wurde indeſſen dunkel, und der Malaye hing eine Pa⸗ 
pierlaterne in ihrer Nähe auf. Dann ließ er ſich ſo 
nieder, daß er ihre Befehle gleich hören konnte. Ob er 
auf ihr Geſpräch achtete, war ihnen gleich, da ſie ſich in 
deutſcher Sprache unterhielten, die ſehr wahrſcheinlich 
hier kein Menſch verſtand. 

Endlich kamen die Matroſen, welche die eingekauften 
Gegenſtände brachten und in die Küche ſchaffen mußten. 
Die Paſſagiere gingen natürlich auch dorthin. Das gab 
dem Malayen Gelegenheit, ſich von ihnen unbemerkt 
zum Kapitän zu begeben, bei welchem ſich in dieſem 
Augenblick der Prieſter befand. 

„Nun,“ fragte der erſtere in engliſcher Sprache, 
„haſt du etwas erlauſcht?“ 

„Sehr viel. Ich kenne ſie nun ſo genau, als ob ich 
ſchon wochenlang ihr Diener geweſen wäre.“ Der Ma⸗ 
laye ſprach jetzt ein ſehr gutes amerikaniſches Engliſch, 
während er vorher den Paſſagieren gegenüber getan 
hatte, als ob er es nur radebreche. „Vier von ihnen 
ſind Deutſche, und der Dicke iſt ein Holländer.“ 

„Reich?“ 

„Dem Anſchein nach haben ſie viel Geld bei ſich.“ 

„Und was ſind ſie? Der mit der blauroten Naſe 
ſagte, er ſei vom höchſten Adel; Adam nannte er ſeinen 
Ahnherrn.“ 

„Das glaube ich. Adam iſt der erſte erſchaffene 
Menſch, alſo der Ahnherr aller Menſchen.“ 

„5 so hat dieſer Menſch mich belogen?“ 

„Vielleicht iſt die Reihe ſeiner Ahnen eine be⸗ 
rühmte. Er und ſeine zwei Begleiter tragen die Tracht 
derjenigen jungen Leute, die in Deutſchland Kuan⸗fu 
werden wollen.“ 


— 1211 — 


„Alſo find fie es noch nicht! Dieſe Betrüger! Was 
ſind die beiden andern?“ 

„Der Dicke iſt ein Hong⸗tſe, ein Kaufmann, der 
hier ein Geſchäft gründen will und alſo viel Geld bei ſich 
haben muß. Der chineſiſch Gekleidete aber muß ein Ho⸗ 
tſchang fein wie du. Er iſt halb verrückt und gibt ſich 
für einen Fu⸗tſiang aus.“ N 

„Und was wollen dieſe Deutſchen in China?“ 

„Sie ſuchen den Oheim des jüngſten von ihnen, 
welcher ſehr, ſehr reich ſein muß. Auch ſuchen ſie eine 
Frau und deren Kinder.“ 

„Das haſt du gehört? Haben ſie denn engliſch ge⸗ 
ſprochen?“ 

„Nein, ſondern deutſch, ihre Mutterſprache.“ 

„Und die verſtehſt du?“ 

„Ja. Du weißt doch, daß ich geborener Yankee bin 
und meinem Kapitän davonlief, weil ich einem Ma⸗ 
troſen das Meſſer in den Leib geſtoßen hatte und dafür 
in Eiſen gelegt werden ſollte. Ich bin da auf die ‚Kö⸗ 
nigin des Waſſers“ gekommen, wo mich keiner findet und 
es mir noch viel beſſer gefallen wird, wenn ich erſt Chi⸗ 
neſiſch beſſer verſtehe. Ich bin mit deutſchen Matroſen 
gefahren und habe von ihrer Sprache, die der engliſchen 
ähnlich iſt, ſo viel gelernt, daß ich dieſe fünf Paſſagiere 
ziemlich gut verſtehe.“ 

„Das iſt vortrefflich! Horche nur weiter; aber laß 
dir nichts merken! Ich werde dich extra belohnen. Das 
Geld haben ſie bei ſich?“ 

„Natürlich! Aber dieſe Leute tragen ihr Vermögen 
nicht in Metall, ſondern in Wechſeln und andern Pa⸗ 
pieren bei ſich.“ 

„Davon verſtehe ich nichts. Ich werde alſo ihnen 


— 12 — 


die Münzen abnehmen und die Papiere an den Hui⸗ 
tſchu!) in Ngo⸗feu verkaufen.“ 

„Du willſt alſo nicht nach Kuang⸗tſchéu⸗fu?“ 

„Fällt mir gar nicht ein! Während die Kerls ſchlo⸗ 
fen, gehen wir in See.“ 

„Wir haben aber Flut; da wird es ſchwer gehen.“ 

„Wir warten, bis die Ebbe eintritt.“ 

„Die Leute werden es merken.“ 

„O nein, denn ſie bekommen Opium in das Ge⸗ 
tränk und der Landwind wird uns ganz geräuſchlos in 
die See treiben, wo wir ſie in das Waſſer werfen. Meine 
Papiere ſind in Ordnung; ich kann alſo fort, wenn es 
mir beliebt.“ 

„Ertränken willſt du ſie?“ 

„Gewiß! Haſt du Mitleid mit ihnen? Meinſt du, 
daß ich ſie leben laſſen ſoll, damit ſie dann verraten, 
daß meine ‚Schuisheu‘ ein Tſeu⸗lung⸗ yen iſt?“ 

„Daran denke ich nicht. Aber jetzt dürfen ſie noch 
nicht ſterben, ſondern erſt ſpäter in Ngo⸗feu bei dem 
Hui⸗tſchu.“ 

„Warum?“ 

„Weil wir ohne ſie ihre Papiere nicht verkaufen 
oder ſonſt verwerten können. Ich kenne das.“ 

„Du mußt es freilich beſſer wiſſen als ich. Müſſen 
ſie denn dabei ſein?“ 

„Ja, ſie müſſen ihre Einwilligung und Unterſchrift 
geben.“ 

„Das werden ſie nicht tun.“ 

„Sie werden es, wenn du ihnen ſagſt, daß ſie ſonſt 
ſterben müſſen. Sie werden N ſich dadurch vom 
Tode loszukaufen.“ 


9 Oberſter der Genofſenſchaft. 


— 123 — 


„Und wenn ſie es getan haben, ſo töten wir ſie 
dennoch! Das meinſt du doch?“ 

„Ja.“ 

„Du biſt ein kluger Menſch und wirſt es gut bei mir 
haben. Kehre jetzt zu ihnen zurück und ſuche noch mehr 
zu erfahren! Wir werden ſie trotz ihrer Waffen leicht 
überwältigen, denn ſie werden ſchlafen wie die Toten. 
Nur der Hund macht mir Sorge. Er iſt ein gewaltiges, 
ſtarkes Tier.“ j 

„Gib ihm vergiftetes Fleiſch!“ 

„Da haſt du recht. Dein Rat iſt gut, und ich werde 
ihn befolgen. Alſo gehe jetzt! Wir werden nun das 
Kong⸗pit vornehmen und ſie dazu einladen. Das gibt 
uns Gelegenheit, ihnen Sam⸗chu mit Opium zu trinken 
zu geben.“ 

„Da will ich dich noch auf eins aufmerkſam machen. 
Vielleicht kommen ſie auf den Gedanken, auch den Geiſt 
zu befragen. Nach dem, was ich dir von ihnen mit⸗ 
geteilt habe, kann er ſeine Antworten ſehr leicht ein⸗ 
richten, wenn er ein Geiſt der Klugheit iſt.“ 

Er ging und begab ſich nach der Kajüte, wo er die 
Keiſenden tätig fand, ſich möglichſt behaglich einzurich⸗ 
ten. Während er ihnen dabei behilflich war, bediente er 
ſich wieder des gebrochenen Engliſch und achtete auf 
jedes Wort, das geſprochen wurde. 

Dann kam der Kapitän, um ſeine Paſſagegäſte zum 
Kong⸗pit abzuholen. 

In China pflegt man mit Hilfe feiner Pinſel zu 
ſchreiben. Der Name „das Herabkommen zum Pinſel“ 
bezeichnet alſo einen Vorgang, bei welchem ein Geiſt 
herabſteigt, um mit Hilfe eines beſonders zu dieſem 
Zweck konſtruierten Pinſels die ihm vorgelegten Fragen 
ſchriftlich zu beantworten. Der Geiſt zeigt ſich nicht in 


— 124 — 


ſichtbarer Geſtalt, ſondern er bedient ſich ſtets einer be⸗ 
ſtimmten Perſon von hervorragender Stellung, um ſich 
bemerkbar zu machen. Man hat es alſo, gerade wie in 
unſern ſpiritiſtiſchen Verſammlungen, mit einem „Me⸗ 
dium“ zu tun. Dieſer angebliche ſchriftliche Verkehr mit 
der Geiſterwelt beſteht in China ſchon ſeit Jahrhunder⸗ 
ten, und es iſt gewiß höchſt merkwürdig, zu erfahren, daß 
das Kong⸗pit auch zu jenen „Erfindungen“ gehört, in 
oder mit denen die Chineſen uns vorangegangen ſind. 

Es wird vorher von einem Aprikoſenbaum unter 
gewiſſen Zeremonien ein dünner Zweig abgeſchnitten. 
Dabei entſchuldigt man ſich bei dem Baum über die ihm 
widerfahrene Verletzung dadurch, daß man diejenigen 
Zeichen in ſeine Rinde ſchneidet, die ihm ſagen, daß der 
Zweig als „Geiſterpinſel“ gebraucht werden ſolle. So⸗ 
dann verſchafft man ſich ein Stück Bambus, einen Zoll 
dick und ungefähr einen Fuß lang. Der Aprikoſenzweig 
wird wie ein Pinſel zugeſchnitten und rechtwinkelig 
genau in die Mitte des Bambusſtückes geſteckt, jo daß 
beide die Geſtalt eines lateiniſchen T beſitzen. 

Das Medium hat dieſe Vorrichtung mit nach oben 
gerichteten Händen an den beiden Enden des Bambus ſo 
anzufaſſen, daß der Aprikoſenpinſel nach abwärts zeigt, 
und hält dann den Pinſel über einen Tiſch, deſſen 
Platte mit feinem, glattgewalztem Sand beſtreut iſt; 
nun kann der Geiſt, indem er auf die Hände des Mediums 
einwirkt und den Pinſel über den Sand führt, die ihm 
vorgelegten Fragen beantworten. 

Bei der unnatürlichen Stellung der Hände kommen 
dieſe bald ins Zittern, dennoch wird es einem geübten 
Medium nicht ſchwer werden, lesbare Zeichen in dem 
Sande hervorzubringen. Ganz ſelbſtverſtändlich fällt bei 
verfänglichen Fragen die Antwort ſtets ſo aus, daß ſie 


— 15 — 


verſchiedene Deutungen zuläßt, deren eine wohl in Er⸗ 
füllung gehen und das Richtige treffen wird. 

Da das Kong⸗pit als eine religiöſe Handlung be⸗ 
trachtet wird, ſo darf es nur unter gewiſſen Zeremonien 
vorgenommen werden. Uebrigens hat ſich der Geiſt zu 
legitimieren. Er hat ſeinen Namen, ſeinen Stand und 
die Dynaſtie, unter der er als Menſch auf Erden wan⸗ 
delte, anzugeben. Je älter dieſe letztere iſt, bei welcher 
Angabe es aber auf einige hundert oder gar tauſend 
Jahre nicht ankommt, deſto ehrfurchtsvoller wird der 
Geiſt behandelt. 

Als die Männer auf das Deck traten, war es dunkle 
Nacht. Zwiſchen Mittel- und Hintermaſt hingen Papier⸗ 
laternen, die den Platz leidlich erleuchteten. In der 
Nähe des bereits erwähnten Tiſches, der die Weih⸗ 
geſchenke für den Geiſt enthielt, ſtand ein zweiter, der 
mit einer glatten Schicht Sand bedeckt war. Die Mann⸗ 
ſchaft bildete um dieſe Stelle einen Kreis, in den der 
Ho⸗tſchang die Deutſchen führte. Dort waren mit Hilfe 
von Kiſten Sitze für ſie hergerichtet. 

Als ſie ſich unter allgemeinen Verbeugungen da 
niedergelaſſen hatten, trat der Prieſter hervor und be⸗ 
gann, natürlich in chineſiſcher Sprache: „Wir ſtehen im 
Begriff, einen Geiſt über den Verlauf unſrer Fahrt zu 
befragen. Wir bringen hierzu die ernſteſten, weihe⸗ 
vollſten Geſinnungen mit und werden unſre Bitte an 
Mat⸗ſupo, die erhabene Gottheit des Meeres, richten.“ 

Er gab einen Wink, worauf zwei Seſſel und das 
Bild der Meeresgottheit gebracht wurden. Er ſtellte die 
Stühle eng nebeneinander an eine Seite des mit den 
Opfergaben bedeckten Tiſches und forderte die Gottheit 
auf, ſich auf den Ehrenplatz niederzulaſſen. Da in China 
der Vornehme zur Linken ſitzt, ſo wurde das Bild auf 


— 126 — 


den betreffenden Seſſel geſtellt, während der jetzt noch 
leere rechte Stuhl für den zu erwartenden Geiſt be⸗ 
ſtimmt war. 

Jetzt zog der Prieſter ein gelbes, beſchriebenes Pa⸗ 
pier hervor und las deſſen Inhalt laut ab. Dieſer lautete: 
„Wir haben an dieſem Abend Sam⸗chu und andre Ga⸗ 
ben vorbereitet und erſuchen unſern mächtigen Schutz⸗ 
patron, uns einen allwiſſenden Geiſt zu rufen, dem wir 
unſre Fragen vorlegen können. Wir werden dieſen dort 
an der Schiffstreppe empfangen.“ Er verbrannte das 
Papier und warf die Aſche in die Luft. Nun entſtand 
eine mehrere Minuten lange Pauſe des Wartens, denn 
man mußte doch dem Schutzpatron Zeit laſſen, einen 
paſſenden Geiſt zu finden. Während dieſer Pauſe hatte 
der Prieſter das Götzenbild mit einem Tuch bedeckt, 
um anzudeuten, daß die Meeresgottheit ſich auf der 
„Suche“ nach dem Geiſt befinde und alſo abweſend ſei. 

Dann entfernte er das Tuch. Das Bild ſtand auf 
ſeinem Platz; die Gottheit war alſo wieder zurück und 
hatte jedenfalls einen Geiſt, der nun unten an der 
Schiffstreppe wartete, mitgebracht. Darum gab der 
Prieſter dem Ho⸗tſchang und dem To⸗kung einen Wink, 
dieſen dort abzuholen. 

Die beiden Offiziere gingen nach der Treppe und 
forderten den Geiſt in lauten, höflichen Worten auf, 
herauf zu kommen und ſich bei ihnen niederzulaſſen. 
Höchſt wahrſcheinlich hatte er dieſer Einladung Folge 
geleiſtet, denn ſie brachten ihn zwiſchen ſich geführt, in⸗ 
dem ſie ſich unaufhörlich gegen ihn verbeugten. Der 
Prieſter empfing ihn mit ebenſo tiefen Verneigungen 
und erſuchte ihn ehrerbietigſt, auf dem für ihn bereit⸗ 
geſtellten Stuhl Platz zu nehmen. Dieſe Szene war ſo 
wunderlich, daß die Deutſchen kaum imſtande waren, ihr 


— 127 — 


Lachen zu unterdrücken. Der Geiſt war natürlich un⸗ 
ſichtbar, und darum nahmen ſich die Verbeugungen und 
die an ihn gerichteten Worte außerordentlich komiſch 
aus. ö 

Alle an einen Geiſt gerichteten Fragen müſſen auf 
ein Papier geſchrieben werden, das man dann ver⸗ 
brennt, um den geſchriebenen Zeichen, wie man meint, 
eine geiſtige Form zu geben. Jetzt ſchrieb der Prieſter 
zunächſt die Frage auf, ob der „wolkenwandelnde“ Geiſt 
angekommen ſei, verbrannte das Papier und ſtreute die 
Aſche in die Luft. Dann ergriff er den Geiſterpinſel in 
der beſchriebenen Weiſe und hielt ihn über den mit 
Sand beſtreuten Tiſch. Seine Hände begannen zu zit⸗ 
tern; das Werkzeug kam in Bewegung, und der Apri⸗ 
koſenzweig fuhr hörbar durch den Sand. Der Methu⸗ 
ſalem ſchaute nach; da ſtand deutlich geſchrieben: „To“, 
d. i. angekommen. 

Er war alſo da. Weil der Prieſter den Pinſel zu 
halten hatte, mußte im weiteren Verlauf der Kapitän 
die Fragen aufſchreiben und die Papiere in Aſche ver⸗ 
wandeln. Der Geiſt teilte durch den Pinſel mit, daß er 
zuletzt Kia⸗tſong geheißen habe und unter der Dynaſtie 
der Wustit) ein Wang?) des Oſtens geweſen ſei. Da die 
berühmten Wu⸗ti vor über viertauſend Jahren gelebt 
haben und ein Wang der höchſte Beamte des Reiches iſt, 
ſo war der unſichtbar anweſende Vizekönig jedenfalls ein 
Geiſt, auf den man ſtolz ſein konnte. 

Das ſah der Prieſter natürlich ein. Er fühlte ſich 
zur größten Höflichkeit verpflichtet, legte ſeinen Geiſter⸗ 
pinſel beiſeite, verbeugte ſich zur Erde und bat den 
Geiſt, doch die Güte zu haben und von dem Wein zu 


) Fünf Kaiſer. — ) Bigelönig. 


— 128 — 


koſten. Dieſer Wein war kein Traubenwein, ſondern 
gegorener Reis, Sam⸗chu genannt. Ein Geiſt iſt natür⸗ 
lich zu ſtolz, zu eſſen oder zu trinken, wenn Leute es 
ſehen, die noch ungeſtorben ſind. Darum wurden die 
Laternen mit Matten, welche zu dieſem Zweck bereit 
gehalten waren, verhängt, ſo daß es rundum dunkel war. 


Der Methuſalem war der einzige unter den Paſſa⸗ 
gieren, der alles verſtand. Gottfried von Bouillon und 
Richard Stein hatten ſich während der Schiffsreiſe zwar 
auch mit der chineſiſchen Sprache beſchäftigt, waren je⸗ 
doch noch nicht ſo weit, einer ſolchen Feier von Wort zu 
Wort folgen zu können. Turnerſtick und der Dicke ver⸗ 
ſtanden aber gleich gar keine Silbe. Darum benutzte 
Degenfeld jede eintretende, wenn auch noch ſo kleine 
Pauſe, ihnen mit leiſer Stimme das Gehörte zu ver⸗ 
dolmetſchen und das Geſehene zu erklären. 

Der Tiſch mit dem Sand war, ſobald das Fragen 
und Antworten begann, an den Opfertiſch gerückt wor⸗ 
den, ſo daß nur drei Seiten des letzteren frei blieben. Die 
erſte dieſer Seiten nahmen die beiden Seſſel ein, auf 
denen die Meeresgottheit und der Geiſt thronten; an den 
beiden übrigen Seiten ſaßen die fünf Paſſagiere, und 
zwar ſo, daß der Mijnheer ſich zur rechten Hand des 
Geiſtes befand. Dieſem flüſterte, ſobald die Laternen jetzt 
verdunkelt waren, der Blaurote zu: „Paſſen Sie auf, 
Mijnheer, ob der Geiſt trinken wird! Man wird es doch 
vielleicht hören.“ 

Nach einer kurzen Pauſe berichtete der Dicke in 
ebenſo leiſem Ton: „Hij drinkt, hij drinkt! Ik hoor t 
ſlaarpen — er trinkt, er trinkt! Ich höre es ee 

„Es tft der Prieſter!“ 

„Deze vos! — dieſer Fuchs!“ 


— 129 — 


Als dann auf einen Befehl des Prieſters die Mat⸗ 
ten wieder von den Laternen entfernt worden waren, 
konnte jedermann ſehen, daß der Geiſt getrunken hatte, 
denn der Inhalt des Gefäßes hatte ſich vermindert. 

Nun wurde der Geiſt gefragt, ob man gutes Wetter 
bekommen, ob die Fahrt glücklich ſein und ob man gute 
Geſchäfte machen werde. Die Antworten fielen ſo 
günſtig aus, daß der Prieſter ſich verpflichtet fühlte, den 
Geiſt aufzufordern, ein Stück des auf dem Tiſch liegen⸗ 
den Kuchens zu eſſen. 

Das Gebäck ſah höchſt appetitlich aus und war in 
acht gleich große Teile geſchnitten. Wieder wurden die 
Lampen verhängt, dieſes Mal für längere Zeit, denn 
ſelbſt ein Geiſt bedarf mehr Friſt, um ein Stück Kuchen 
zu eſſen als um einen Schluck Branntwein zu nehmen. 

Als aber die Laternen wieder enthüllt wurden, 
ſtaunten alle. Der Geiſt hatte ſich nicht mit einem Achtel 
begnügt, ſondern den ganzen Kuchen verzehrt. Er war 
jedenfalls aus ſehr weiten Regionen herabgeſtiegen, da 
er einen ſo großen Hunger hatte. Am meiſten erſtaunt 
war der Prieſter ſelbſt. Seine Augen waren ganz er⸗ 
ſchrocken auf den Teller gerichtet, auf dem der Kuchen 
gelegen hatte. Der Zopf wollte ihm vor Schreck zu 
Berge ſteigen. Er hatte gemeint, einen Hokuspokus zu 
begehen. Sollte es doch in Wirklichkeit Geiſter geben? 
Sollte das Kong⸗pit kein Betrug ſein? Sollte in Wahr⸗ 
heit dort auf dem ſcheinbar leeren Seſſel ein Geiſt ſitzen, 
der in ſo kurzer Zeit die übrigen ſieben Achtel ver⸗ 
ſchlungen hatte? Denn das eine Achtel hatte er, der 
Prieſter, im Schutz der Finſternis zu ſich genommen. 

Sein Auftreten war von jetzt an weniger ſicher als 
vorher. Die Hauptfragen waren beantwortet, und nun 
wurde es den Matroſen erlaubt, ſich mit mn 

May, Der blaurote Methuſalem. 


— 130 — 


an den Geiſt zu wenden. Die abergläubigen Leute 
machten davon reichlichen Gebrauch. Das war den 
Offizieren lieb, da ſie durch die Ausſprüche des Orakels 
eine gewiſſe Macht über dieſe ſonſt ſchwer lenkbaren 
Menſchen gewannen. | 

Der Geiſt gab auch jetzt ſo vortreffliche Antworten, 
daß der Prieſter ihn bat, die Gnade zu haben, noch einen 
Schluck zu trinken. Sobald die Laternen verdunkelt wor⸗ 
den waren, ſchlich der betrügeriſche Geiſterbanner ſich 
herbei, um nach dem Krug zu greifen und einen tüch⸗ 
tigen Schluck zu tun. Wie erſchrack er aber, als ſeine 
Hand die Stelle leer fand, wo das Gefäß ſoeben noch 
geſtanden hatte. Faſt hätte er laut aufgeſchrieen. Es 
war alſo doch ein Geiſt vorhanden, welcher Kuchen aß 
und Sam⸗chu trank. Welch ein Triumph, wenn man 
das den Leuten zeigen konnte! Welch ein Anblick, einen 
in der Luft ſchwebenden Krug zu ſehen, ohne aber den 
Trinkenden erblicken zu können! Er gab ſofort den 
Befehl, die Hüllen von den Lampen zu entfernen. Als 
das geſchah — — — ſtand der Krug wieder auf feinem 
Platz, aber vollſtändig leer. Er war ausgetrunken wor⸗ 
den. Der Geiſt mußte ebenſo durſtig wie hungrig ſein. 
Der Prieſter machte ein ganz unbeſchreibliches Geſicht. 
Richard Stein aber, der neben dem Mijnheer ſaß, 
flüſterte dieſem zu: „Was ſoll man denken? Ich * 
es wirklich trinken hören.“ 

„Zoo?“ lächelte der Dicke. „Ik kan't niet 88 
— ſo? Ich kann es nicht glauben!“ 

„O doch! Ich hörte es ſo gluckſen und ſchlürfen, 
wie wenn jemand recht haſtig trinkt, um ſchnell fertig 
zu werden.“ 

„Zoo is de dorſt zeer groot geweeſt — fo iſt der 
Durſt ſehr groß geweſen!“ 


— 131 — 


Was den Prieſter und die Offiziere, die den 
Schwindel des Kong⸗pit kannten, in Schrecken verſetzte, 
das erregte den Jubel der Mannſchaften, die nun über⸗ 
zeugt waren, daß ein Geiſt vorhanden ſei, und zwar ein 
ſehr vornehmer, der ſich nicht mit einem Schluck Reis⸗ 
wein und einem Stück Kuchen abſpeiſen laſſe. Der 
Geiſterbeſchwörer faßte ſich und fragte nun die Gäſte, ob 
ſie vielleicht wünſchten, auch eine Frage an den Geiſt 
zu richten. Der Methuſalem hatte ſich bereits vor⸗ 
genommen, darum zu bitten, und ging alſo ſchnell auf 
dieſen Vorſchlag ein. Er ließ die Frage aufſchreiben, ob 
er und ſeine Gefährten den Zweck ihrer Reiſe erreichen 
würden. Als dann der Geiſt mit Hilfe des Mediums 
die Antwort in den Sand geſchrieben hatte, trat Degen⸗ 
feld hinzu, um den Beſcheid ſelbſt zu leſen. Er geriet in 
das höchſte Erſtaunen, denn ſie lautete: „Ja. Ihr werdet 
den reichen Oheim finden, auch die Frau mit den Kin⸗ 
dern, und der Holländer wird ein großes Geſchäft 
kaufen.“ 

Der Methuſalem überſetzte ſeinen Kameraden dieſe 
Antwort ins Deutſche, was ihre höchſte Verwunderung 
zur Folge hatte. Es war klar: der Geiſt kannte ihr Vor⸗ 
haben, welches ſie ſo geheim gehalten hatten! Die 
Genugtuung über ihre ſichtbare Betroffenheit war bei 
dem Prieſter ſo groß, daß er die in ihm aufgetauchten 
Bedenken bezüglich des Geiſtes ganz vergaß und dieſen 
höflich aufforderte, ein Stück Braten zu ſich zu nehmen. 

Dieſer Braten war natürlich kalt geworden. Die 
ſieben oder acht großen Stücke, die auf dem Teller lagen, 
ſahen recht einladend aus, faſt wie ein knuſpriger 
Kalbsbraten. Natürlich wurden die Lichter wieder ver⸗ 
hüllt, und der Prieſter ſchlüpfte herbei, um heimlich 
zuzulangen. Da er aber der Sache nicht traute und in 


— 132 — 


Erwartung deſſen, daß er als Stellvertreter des Geiſtes 
werde tüchtig eſſen müſſen, am Tage gar nichts zu ſich 
genommen hatte, nahm er zwei Stücke weg, um nicht 
ganz ſchlecht wegzukommen, falls der Geiſt nochmals 
ſelbſt auch zulangen werde. Dieſe zwei Stücke verzehrte 
er raſch und gebot dann, die Laternen wieder zu ent⸗ 
hüllen. Kaum fiel deren Schein auf den Tiſch, ſo konnte 
man ſehen, daß der Teller vollſtändig geleert ſei. 

Dem Prieſter wurde es angſt und bange, zumal er 
die bedenklichen Blicke bemerkte, welche die in ſeine 
Kunſtgriffe eingeweihten Offiziere auf ihn warfen. Die⸗ 
jenigen Stücke, die der Geiſt übrig zu laſſen pflegte, 
waren ſtets für ſie beſtimmt. Jetzt meinten ſie natür⸗ 
lich, daß fie von dem Medium übervorteilt worden feien; 
ſie mußten annehmen, daß der Prieſter das Fehlende zu 
ſich geſteckt habe, um es ſpäter zu verzehren. 

„Alle Wetter!“ ſagte der Methuſalem halblaut. 
„Dieſer Geiſt eines Vizekönigs muß wirklich ſeit über 
viertauſend Jahren gehungert und gedurſtet haben. Er 
ißt und trinkt ja wie ein deutſcher Bauernknecht beim 
Dreſchen!“ 

„Kann mich leid tun, der arme, liebe Großpapa!“ 
meinte Gottfried von Bouillon. „Bei ſonne jeſegnete 
Mahlzeit muß ſein Magen platzen, und dann iſt es mit 
ſeine jute Geſundheit vorüber.“ 

„Ich hörte ihn eſſen,“ bemerkte Richard. „Das 
Schnalzen und Schmatzen war ganz deutlich.“ 

„Zoo?“ fragte der Dicke. „Heeft hij geſnaalzen en 
ſmaazt?“ 

„Ganz deutlich. Es war ſo nahe, als ob Sie es 
ſeien.“ 

Um aus ſeiner Verlegenheit zu kommen, ſah ſich 
der Prieſter nun veranlaßt, den Geiſt zu verabſchieden. 


— 133 — 


Er ſchrieb eine höfliche Dankſagung auf einen Zettel 
und verbrannte dieſen. Der Geiſt aber beſaß nicht 
weniger guten Ton, denn er fuhr in den Prieſter und 
zwang ihn, mit Hilfe des Pinſels in den Sand zu 
ſchreiben: „Meine Herren, ich war ſehr erfreut, Sie 
kennen zu lernen und danke Ihnen innigſt für die 
Gaben, mit denen Sie mich beglückt und geſtärkt haben. 
Ich muß nun ſchleunigſt fort, denn es warten noch viele 
andre auf meine Hilfe, und ſo erſuche ich Sie, mich 
gefälligſt nach der Treppe zu geleiten.“ 

Dieſen Abſchiedsworten wurde alsbald Folge ge⸗ 
leiſtet. Jeder der Anweſenden bekam ein brennendes, 
gelbes Papier in die Hand, und dann wurde ein Zug 
gebildet, um dem Geiſt das Ehrengeleit nach der Schiffs⸗ 
leiter zu geben. Er ging wieder ſo, wie er gekommen 
war, nämlich zwiſchen dem Kapitän und dem Steuer⸗ 
mann, und obgleich er nicht zu ſehen war, verbeugten 
ſich doch alle unaufhörlich, bis er das Schiff verlaſſen 
hatte. 

Die Deutſchen waren auf ihren Plätzen geblieben. 
Es fiel ihnen nicht ein, den Hokuspokus mitzumachen 
und dadurch die Meinung zu erwecken, als ob ſie ihm 
Glauben ſchenkten. Einiges daran war ihnen freilich 
unverſtändlich. 

„Ein tüchtiger Eſſer und Trinker war dieſer Jeiſt,“ 
meinte Gottfried. „Er muß ſehr lange jefaſtet haben.“ 

„Unſinn!“ ſagte Turnerſtick. „Der Prieſter hat 
alles getrunken und gegeſſen.“ 

„Dieſer dürre, kleine Kerl? Dat will mich nicht in 
den Kopf. Ich habe von hier aus jerochen, dat der 
Branntwein nicht janz ohne war. Er duftete wie neun⸗ 
zigjrädiger Spiritus. Und ſo ein Topf voll? Nein, dat iſt 
der Prieſter nicht jeweſen.“ 


— 134 — 


„Ik ben't geweeſt,“ erklärte da der Dicke. „Ik heb 
den Brandewijn dronken.“ 

„Sie?“ fragte Methuſalem erſtaunt. „Sie haben 
ihm den Krug wegſtibitzt?“ 

„Ja.“ 

„Und ihn vollſtändig geleert?“ 

„Ja; hij was dook zeer klein en de Brandewijn 
zwack — ja, er war doch ſehr klein und der Branntwein 
ſchwach.“ 

„Da geht mir freilich ein Licht auf! Dann haben 
Sie wohl auch den ganzen Kuchen gegeſſen?“ 

„Ik heb hij opefreten — ich habe ihn aufgefreſſen.“ 

„Und das viele Fleiſch?“ 

„Heb ik ook opefreten.“ 

„Aber Sie haben doch vorher im Hotel ſo reichlich 
geſpeiſt! Wie iſt es Ihnen denn da zu Mut? Wie 
befinden Sie ſich da?“ 

„Zeer wel, allerbeſt; ik heb den koek zeer gaarne en 
ook het vleſch — ſehr wohl, vortrefflich; ich habe den 
Kuchen ſehr gern und auch das Fleiſch.“ 

„Nun, dann brate nicht mir, ſondern Ihnen einer 
einen Storch! Ich glaube, Sie würden auch dieſen ver⸗ 
zehren!“ 

„Een boijevaar? Waarom niet, als hij goed 
gebraden is — einen Storch? Warum nicht, wenn er 
gut gebraten iſt?“ 

Er ſagte das mit einem ſolchen Ernſt und ſo un⸗ 
befangen, daß die andern ein lautes Gelächter auf⸗ 
ſchlugen. Soeben kehrten die Chineſen von der Be⸗ 
gleitung des Geiſtes zurück. Die Matroſen zerſtreuten 
ſich über das Verdeck; die Offiziere aber nahmen den 
Prieſter in ihre Mitte und begannen mit ihm ein ſehr 
erregtes Verhör über den außerordentlichen Appetit, den 


— 135 — 


der Geiſt entwickelt hatte. Er beteuerte ſeine Unſchuld; 
ſie aber glaubten ihm nicht und zwangen ihn, ſeine 
Taſchen zu zeigen. Wie erſtaunten ſie, als ſie dieſe leer 
fanden! Sie hatten den Prieſter nicht aus den Augen 
gelaſſen; er konnte alſo den Kuchen und das Fleiſch nicht 
anderweit verſteckt haben, und ſo gaben ſie endlich kopf⸗ 
ſchüttelnd zu, daß heute einmal ausnahmsweiſe ein 
wirklicher Geiſt dageweſen ſei. 

Der Methuſalem hatte ſie von weitem beobachtet. 
Er erriet aus ihren Bewegungen den Gegenſtand und 
Inhalt ihres Geſprächs. Jetzt kamen ſie herbei, um ſich 
zu erkundigen, welchen Eindruck das Kong⸗pit auf ihn 
und ſeine Gefährten gemacht habe. Degenfeld hätte ihnen 
ſeine Meinung ſo gern aufrichtig geſagt, aber damit 
hätte er ſich ſofort in Mißkredit gebracht, denn die Sitte 
befiehlt dem Chineſen, in allen Fällen höflich zu ſein, 
und erlaubt ihm keine Ausnahme von dieſer Regel. 
Darum verheimlichte der Blaurote ſeinen Unglauben 
und beantwortete die an ihn gerichteten Fragen 
mit möglichſter Gleichgültigkeit. Darüber verwunderten 
ſie ſich ſo, daß der Ho⸗tſchang fragte: „Hat euch denn 
die Anweſenheit des Geiſtes nicht in Verwirrung ge⸗ 
bracht?“ — „Nein. Wie könnte ſie das?“ — „Der Geiſt 
iſt doch ein höheres Weſen als der Menſch.“ — „Das 
ſagt ihr; ihr werdet mir aber wohl erlauben, andrer 
Meinung zu ſein.“ — „Dürfen wir dieſe Meinung er⸗ 
fahren?“ — „Ja. Welches iſt das höchſte irdiſche 
Weſen?“ — „Der Menſch.“ — „Woraus beſteht er?“ 
— „Aus dem Leibe und dem Geiſte.“ — „Ganz richtig. 
Wäre der Leib allein auch ein Menſch?“ — „Nein.“ — 
„Oder der Geiſt allein?“ — „Auch nicht.“ — „Wenn 
alſo weder der Leib allein noch der Geiſt allein würdig 
iſt, ein Menſch genannt zu werden, ſo ſteht ihre Ver⸗ 


— 136 — 


einigung, der Menſch, hoch über beiden. Wie könnte 
daher mich, der ich zu der Klaſſe der höchſten irdiſchen 
Geſchöpfe zähle, die Anweſenheit eines Geiſtes, der unter 
mir ſteht, in Verwirrung bringen!“ 

Dieſe Schlußfolgerung verblüffte den Ho⸗tſchang. 
Dennoch fand er eine Entgegnung: „Aber dieſer Geiſt 
iſt ein Wang geweſen!“ 

„Jetzt iſt er es nicht mehr, und euer berühmtes 
Li⸗king, das Buch, wonach ihr euch in allen Lebens⸗ 
lagen zu richten habt, befiehlt euch, jedem die Ehre des 
Standes zu geben, dem er augenblicklich angehört. Wie 
könnt ihr euch vor einem Geiſt fürchten, der zwar Wang 
war, aber nicht mehr iſt!“ 

„Vielleicht hat euer Volk recht, vielleicht das 
unſrige. Wir wollen uns nicht ſtreiten. Aber da uns 
eine ſo glückliche Fahrt prophezeit worden iſt, müſſen 
wir uns darüber freuen, und dieſe Freude wollen wir 
durch ein Mahl feiern, wozu wir euch ehrerbietigſt ein⸗ 
laden.“ 

„Wir danken euch! Wir wiſſen, was uns die Höf⸗ 
lichkeit gebietet, und bitten euch alſo, euer Mahl allein 
zu verſpeiſen.“ 

„Ihr verſteht mich falſch. Wir meinen unſre Ein⸗ 
ladung in vollem Ernſt.“ 

„Auch mir iſt es völlig Ernſt mit meiner Ab⸗ 
weiſung. Ihr ſeid ſo höflich, uns einzuladen, wie dürf⸗ 
ten wir da ſo unhöflich ſein, euch dadurch zu beläſtigen, 
daß wir euern Wunſch erfüllen!“ Der Blaurote hatte 
nach chineſiſchen Begriffen vollſtändig recht. Man darf 
nur derjenigen Einladung folgen, die in aller Form und 
unter Ueberreichung eines großen, farbigen, eigens dazu 
beſtimmten Papierbogens geſchieht. 


— 137 — 


„Wir meinen unſern Wunſch wirklich aufrichtig,“ 
drängte der Ho⸗tſchang. „Wir haben keine gedruckten 
Einladungen an Bord, und da ich engliſch ſpreche, meine 
ich meine Einladung nicht chineſiſch.“ — „Darf ich es 
glauben?“ — „Ja, ich bitte ſehr darum.“ — „So will 
ich es wagen, die Einladung anzunehmen. Wann wird 
das Eſſen beginnen?“ — „In einer halben Stunde. Ich 
ſelbſt werde euch abholen. Fleiſch kann ich euch leider 
nicht vorſetzen, denn das hat der Geiſt verzehrt.“ — „Ich 
habe es bisher nicht gewußt, daß Geiſter Fleiſch eſſen. 
Vielleicht haben ſie eine beſondere Vorliebe für den⸗ 
jenigen Braten, den ihr vorſetztet. Werdet ihr die Güte 
haben, mir zu ſagen, von welchem Tier dieſes Fleiſch 
geweſen iſt?“ — „Es war Dicht, das beſte Eſſen, das es 
nur geben kann. Darum hat der Geiſt uns leider nichts 
übrig gelaſſen.“ 

Indem der Methuſalem zu ſeinen Gefährten zurück⸗ 
kehrte, die während dieſer Unterredung abſeits ge⸗ 
ſtanden hatten, lachte er über dieſes Dſchi ſtill in ſich 
hinein. Er teilte ihnen mit, daß ſie zum Abendeſſen ein⸗ 
geladen ſeien, und fügte lächelnd hinzu: „Aber Mijn⸗ 
heer van Aardappelenboſch wird da wohl nicht viel 
leiſten können.“ — „Waarom niet?“ fragte der Dicke. 
„Ik heb evenwel alreeds wederom honger — allerdings, 
doch habe ich trotzdem ſchon wiederum Hunger.“ — 
„Mijnheer, iſt das möglich? Was für einen Magen 
müſſen Sie haben!“ — „Ja, mijn maag is goed, maar 
mijn buik niet. Hij is zoo zwak — ja, mein Magen iſt 
gut, aber mein Bauch nicht. Er iſt ſo ſchwach.“ 

Er legte mit der traurigſten Miene die Hände an 
den Bauch und fragte dann den Methuſalem in dring⸗ 
lichem Ton: „Wat zegt het woordenboek von de buik?“ 
— „Was das Wörterbuch von dem Bauch ſagt? Das 


— 138 — 


wollen wir nicht erörtern. Ich halte es für viel in⸗ 
tereſſanter, Sie zu fragen, ob Sie wiſſen, was für Fleiſch 
Sie gegeſſen haben.“ — „Gebraden kalfvleeſch.“ — 
„Nein. Es war nicht Kalb, ſondern Dſchi.“ — „Dſchi? 
Dat weet ik niet.“ — „Sie wiſſen nicht was Dſchi iſt? 
So raten Sie einmal!“ — „Goed; is't een dier?“ — 
„Ja, es iſt ein Tier.“ — „Kan't vliegen?“ — „Nein, 
fliegen kann es nicht.“ — „Kan't zwemmen?“ — „Ja, 
ſchwimmen kann es.“ — „Kan't ook loopen?“ — 
„Laufen kann es auch.“ — „Is het geſchoten worden 
van de jager?“ — „Nein, es iſt nicht vom Jäger ge⸗ 
ſchoſſen worden. Der Jäger ſchießt es nie, denn er 
nimmt es als beſte Hilfe mit auf die Jagd.“ 

Das runde Geſicht des Mijnheer wurde zuſehends 
länger. „O mijn Holland en Nederland!“ rief er er⸗ 
ſchrocken aus. „Is het een hond?“ — „Ja, Hund iſt es. 
Dſchi heißt Hund. Sie haben Hundebraten gegeſſen. 
Wiſſen Sie nicht, daß man in China gewiſſe Hunde⸗ 
raſſen, welche ſchnell fett werden, mäſtet, um ſie dann 
zu ſchlachten und zu verzehren?“ — „Hondvleeſch, 
Hondvleeſch heb ik gegeten!“ ſchrie der Dicke. 

Er raffte ſich von ſeinem Sitz auf und wollte davon⸗ 
eilen, beſann ſich aber doch eines andern. Er drehte ſich 
wieder um, ſchlug ſehr energiſch mit der einen Hand in 
die andere und rief: „Neen, en driemal neen, en duizend⸗ 
mal neen! Wat in de maag is, dat moet ook in de maag 
blijven — nein, und dreimal nein und tauſendmal nein! 
Was in dem Magen iſt, das muß auch in dem Magen 
bleiben!“ 

„Selbſt wenn es ein Hund iſt!“ lachte der Methu⸗ 
ſalem. 

„Ja, de Hond moet blijven! Ik et nook en gebraden 
openop — ja, der Hund muß bleiben! Ich eſſe noch 


— 139 — 


einen Braten obendrauf.“ Alle lachten. Er aber nahm 
wieder auf ſeiner Decke Platz, und in ſeinem fetten, zu⸗ 
friedenen Angeſicht war nicht die mindeſte Spur des 
Ekels zu bemerken, den er ſoeben empfunden hatte. 

„So, den Hund haben wir begraben,“ fuhr der 
Methuſalem halblaut fort. „Nun zu etwas anderem! 
Haben Sie ſich nicht über die Antwort gewundert, die 
der Geiſt auf meine Frage gab?“ 

„Außerordentlich!“ ſagte Turnerſtick. „Es war 
höchſt ſeltſam.“ N 

„Ja. Wir ſind doch wohl alle darüber einig, daß 
von einem Geiſt keine Rede iſt. Der Prieſter gibt die 
ſchriftlichen Antworten nach eigenem Ermeſſen und nicht 
infolge der Einwirkung eines überirdiſchen Weſens. Er 
muß alſo wiſſen, welchen Zweck wir in China verfolgen. 
Er hat es erfahren; aber von wem?“ 

„Von mich kein Wort!“ verſicherte Gottfried. 

„Van mij ok niet!“ beteuerte der Mijnheer. 

„Das glaube ich gern. Es iſt nur die eine Er⸗ 
klärung möglich, daß wir belauſcht worden ſind und 
zwar hier auf dem Schiff. Wann haben wir von unſren 
Abſichten geſprochen? Als wir beim Eintritt der Dunkel⸗ 
heit vor unſrer Kajüte ſaßen. Und wer von der Schiffs⸗ 
mannſchaft war da bei uns? Der Malaie, der uns be⸗ 
dient. Er alſo muß es ſein, der das Erlauſchte dem 
Prieſter verraten hat.“ 

„Aber wie ſollte dat möglich ſein? Wir haben ja 
deutſch jeſprochen.“ 

„Kann ein Malaie nicht mit Deutſchen in Be⸗ 
rührung gekommen ſein? Iſt dieſer Mann wirklich das, 
wofür er ſich ausgibt? Er trägt ſein Geſicht zwar raſiert, 
hat aber dichten Barkwuchs, was bei einem echten 
Malaien nicht vorkommt. Seine Farbe iſt nicht ſehr 


— 140 — 


braun und von vorſtehenden Backenknochen iſt keine 
Rede. Dazu kommt, daß ſein Engliſch einen eigentüm⸗ 
lich amerikaniſchen Beigeſchmack hat. Er ſpricht ge⸗ 
brochen, bringt aber dabei zuweilen Wortverbindungen, 
deren ſich nur einer, dem die Sprache geläufig iſt, be⸗ 
dienen kann. Auf das alles habe ich vorher kein Gewicht 
gelegt; nun ich aber Verdacht faſſe, denke ich daran. Faſt 
möchte ich ihn für einen Yankee halten, und in dieſem 
Fall wäre es kein Wunder, daß er deutſch verſteht, da 
ſich in den Vereinigten Staaten Millionen unfrer Lands⸗ 
leute befinden.“ 

„Ein Yankee unter chineſiſchen Matroſen?“ meinte 
Turnerſtick. „Könnte einer ſich wirklich ſo vergeſſen?“ 

„Warum nicht. Kann er nicht aus irgend einer 
Urſache vom Schiff gelaufen ſein?“ 

„Hm! So etwas kommt freilich öfters vor. Und 
die Zopfleute nehmen einen befahrenen Matroſen jeden⸗ 
falls ſehr gern bei ſich auf. Wenn Sie recht haben, ſo iſt 
der Kerl ein Deſerteur, dem nichts Gutes zuzutrauen 
iſt.“ 

„Das iſt auch meine Anſicht. Warum lauſcht er? 
Warum verſchweigt er ſeine Nationalität? Warum ſagt 
er wieder, was er gehört hat? Warum bekennt er nicht 
offen, daß er uns verſteht? Warum hat man gerade ihn 
zu unſrer Bedienung kommandiert? Er ſteht im Ein⸗ 
vernehmen mit dem Kapitän gegen uns. Man hat 
irgend etwas Böſes gegen uns vor.“ 

„So ſchlimm wird es wohl nicht ſein. Iſt er wirk⸗ 
lich ein entlaufener Matroſe, ſo hat er doch ſchließlich 
Grund, es uns nicht wiſſen zu laſſen.“ 

„Mag ſein! Aber wir wollen ihn ſcharf beobachten 
und in ſeiner Gegenwart nicht wieder von unſern An⸗ 
gelegenheiten ſprechen. Ich werde ihm auf den Zahn 


— 141 — 


fühlen und zwar fo, daß er ſich verraten muß. Am 
liebſten möchte ich das Schiff verlaſſen. Die Geſichter 
gefallen mir nicht.“ 

„Pah! Wer wird da gleich ſo Böſes denken. Ich 
habe Sie gar nicht für ſo ängſtlich gehalten, wie ich Sie 
jetzt finde.“ | 

„Ich bin nur vorfichtig, nicht furchtſam. Vielleicht 
täuſche ich mich. Wäre ich allein, ſo würde ich von 
Bord gehen und mein Fahrgeld ſchwimmen laſſen. Sie 
aber ſind andrer Anſicht, ich muß mich fügen.“ 

„Wij blijven op uwe ſcheep,“ meinte der Dicke. 
„Wij bekomen een goed avondeten. Zou den wij daar 
foort gaan, zoo zouden wij zeere ongelukkige nijlpaarde 
zyn — wir bleiben auf unſrem Schiff. Wir bekommen 
ein gutes Abendeſſen. Wollten wir da fortgehen, ſo 
würden wir ſehr unglückliche Nilpferde ſein.“ 

Dies war auch die Meinung der andern, und ſo 
mußte der Methuſalem ſich fügen. 


Stebentes Kapitel. 


Unter Piraten. 


Der Ho⸗tſchang kam, um feine Paſſagiere zum 
Mahl abzuholen. 

Die ihnen angewieſene Kajüte lag am Steuerbord 
des Vorderteils. Ein direkt am Steven gelegener ſchma⸗ 
ler Raum wurde zur Aufbewahrung von allerlei 
Schiffsgerätſchaften benutzt. Der daran grenzende brei⸗ 
tere Teil des Aufdecks war in zwei Hälften geteilt, deren 
jede einen beſonderen Eingang hatte. Die rechts lie⸗ 
gende Hälfte hatten die Reiſenden inne. Ihre Wohnung 
wurde durch zwei Lukenöffnungen, welche in der Schiffs⸗ 
wand angebracht waren, erleuchtet. Die Fenſter waren 
nicht mit Glas, ſondern mit hölzernen Schiebern ver⸗ 
ſehen, um ſie bei ſchlechtem Wetter verſchließen zu 
können. 

Das Mahl ſollte auf dem Mitteldeck eingenommen 
werden, an derſelben Stelle, an der vorhin die Geiſter⸗ 
beſchwörung ſtattgefunden hatte. Der Platz war jetzt 
mit vielen Lampen erleuchtet, die aus gummiertem 
Reispapier gefertigt waren und einen ſehr hübſchen 
Eindruck hervorbrachten. An zwei zuſammengeſchobenen 
Tiſchen ſtanden neue Bambusſeſſel. Die Gedecks be⸗ 


— 143 — 


ſtanden für jeden Gaſt aus einem Teller, einer kleinen 
Taſſe, die als Trinkglas zu dienen hatte, einer Art von 
dickem Porzellanlöffel, der aber ſo unförmlich war, daß 
er kaum in den Mund gebracht werden konnte, und den 
elfenbeinernen Eßſtäbchen, von den Engländern Chop⸗ 
ſticks genannt, während fie bei den Chineſen Kweistze 
heißen. ö 

Der Chineſe hat keine eigentlichen Löffel; ebenſo⸗ 
wenig bedient er ſich des Meſſers oder der Gabel bei 
Tafel. Alle feſten Speiſen, Fleiſch uſw. werden klein 
geſchnitten ſerviert. Der Ungeübte ſpießt ſich dieſe mit 
Hilfe der Kwei⸗tze aus der Brühe heraus, was jedoch 
der chineſiſchen Sitte Hohn ſpricht. Der geübte Eſſer 
nimmt das eine Stäbchen zwiſchen den Daumen und 
Zeigefinger der rechten Hand, das andre zwiſchen den 
Mittel⸗ und Ringfinger; ſtoßen nun die Enden der 
Stäbchen zuſammen, ſo bilden ſie einen beweglichen 
Winkel, eine Art Zange, womit man alles, ſelbſt dünnen 
Reis, zum Mund zu bringen vermag. Wer erfahren 
will, welch ſpaßhaften Anblick es gewährt, einen Unge⸗ 
übten auf dieſe Weiſe eſſen zu ſehen, der mag einmal 
ſelbſt verſuchen, mit zwei ſechs Zoll langen und faſt 
ſtreichholzdünnen Stäbchen eine Gerſtenſuppe zu ge⸗ 
nießen, ohne vom Teller bis zum Munde alles zu ver⸗ 
lieren. 

Der Platz, wo die Tiſche ſtanden, war durch an 
Schnuren hängende Landkarten von rieſiger Größe von 
dem übrigen Verdeck abgeſchloſſen. Dieſe Karten ſtellten 
die Länder der Erde dar, aber nach chineſiſcher An⸗ 
ſchauung. Sie hatten eine Größe von wenigſtens je 
vierzig Quadratfuß. Neununddreißig Quadratfuß nahm 
das Reich der Mitte ein. Die andern Länder der Erde 
ſamt allen Meeren waren auf dem vierzigſten ange⸗ 


— 1441 — 


bracht. Rußland hatte die Größe einer Wallnuß; daran 
klebte Frankreich haſelnußgroß. Jenſeits dieſer beiden 
Länder, von ihnen durch einen Fluß getrennt, welcher 
Tſin⸗tſe, wahrſcheinlich Themſe, hieß, lagen Deutſchland 
und England in der imponierenden Größe einer Erbſe. 
Spanien war neben die Vereinigten Staaten und Hol⸗ 
land neben Java gemalt, und zwar nadelkopfgroß. Da⸗ 
gegen hatte der Jang⸗tſe⸗kiang eine Breite von zwei 
Männerſpannen, und Peking war dreimal größer dar⸗ 
geſtellt als ſämtliches Ausland zuſammengenommen. 
So hat Gott nach Anſchauung der Chineſen die Erde 
unter die verſchiedenen Völker verteilt. Da iſt es gar 
nicht Wunder zu nehmen, daß ſie einen außerordent⸗ 
lichen Nationalſtolz beſitzen und ſich für das bevor⸗ 
zugteſte Volk der Erde halten. 

Außer den fünf Gäſten nahmen noch der Ho⸗ 
tſchang, der To⸗kung, der Hiang⸗kung oder Prieſter und 
der Beſitzer des Schiffes an den Tiſchen Platz. Und nun 
wurden die Speiſen gebracht. 

Das erſte Gericht beſtand aus geſottenen Eiern, 
die mit Brenneſſeln zerhackt und mit Eſſig gewürzt 
waren. „Wat voor eyeren zijn deze eyeren?“ fragte 
der Dicke. — „Es ſind Krokodilseier,“ erklärte ihm 
Gottfried von Bouillon ernſthaft. — „Foei! En deze 
eyeren zullen wij eten?“ — „Natürlich!“ — „Blikſem! 
Ik ete niets!“ | 

Das Gericht ſah ganz appetitlich aus; er hatte 
auch ſchon ſeinen Löffel ergriffen, um ſich davon auf den 
Teller zu nehmen, legte ihn aber ſchnell wieder weg. 
Gottfried aber langte zu und gebrauchte ſeine Kweis⸗tze 
mit der Geſchicklichkeit eines Chineſen. Er hatte ebenſo 
wie der Methuſalem und Richard Stein die Eßſtäbchen 
daheim bei De⸗kin⸗li kennen gelernt und ſich dann wäh⸗ 


— 145 — 


rend der Seereiſe in deren Gebrauch geübt. Der Mijn⸗ 
heer aber rührte die Speiſe nicht an; doch ſchien ihm 
ſein Verzicht ſchwer zu werden, als er ſah, wie gut es 
den andern ſchmeckte. 

Dann wurde eine Brühe gebracht, worin kleine 
Fleiſchſtückchen ſchwammen. Als er alle andern zu⸗ 
langen ſah, fragte der Dicke vorſichtig: „Is dit Hond?“ 
— „Nein,“ antwortete Gottfried. — „Dann ete ik ook!“ 


Er füllte ſich den Teller und aß mit dem unförm⸗ 
lichen Löffel, ohne ſich der Kwei⸗tze zu bedienen. Auch 
bekümmerte er ſich gar nicht um die Blicke, welche die 
Chineſen ihm ob dieſer Verletzung des Anſtandes zu⸗ 
warfen. Als er fertig war, nickte er dem Gottfried 
freundlich zu und ſagte: „Neen, dit is niet Hond.“ — 
„Hund nicht, aber Katze!“ antwortete Gottfried. — 
„Wat? Katenvleeſch?“ — „Freilich!“ — „Mijn Himmel! 
O mijne gorgel, mijn maag en mijne darmen! Mijn⸗ 
heer Methuſalem, wat zeggt het woordenboek van den 
darmen?“ 

„Was das Wörterbuch von den Därmen ſagt? Daß 
ſie ſieben Meter lang ſind,“ lachte der Gefragte, denn 
der Dicke hielt ſich mit beiden Händen den Bauch und 
ſchnitt ein jämmerliches Geſicht dazu. „Fühlen Sie ſich 
in den Ihrigen krank?“ — „Ja, zeer! Ik heb ſmart 
en ontſteking.“ — „Was? Schmerz und Entzündung 
haben Sie? Warum?“ — „Ik heb katenvleeſch ge⸗ 
geten.“ — „Unſinn! Laſſen Sie ſich von dem Gottfried 
nicht ſo dummes Zeug weismachen! Der weiß ſelbſt 
nicht, was er gegeſſen hat.“ 

Da machte der Mijnheer ſeinem Nachbar eine 
Fauſt und raunte ihm zornig zu: „Donderſlag! Gif 
zijt een ongelukkige nijlpaard!“ | 

May, Der blaurste Methuſalem. 10 


— 16 — 


Der nächſte Gang beſtand in einer durchſichtigen 
und doch nicht dünnen Suppe mit ſehr fein geſchnittenem 
Wurzelwerk. Sie duftete ſehr einladend. 

„Soup of salangans!“ rief der Ho⸗tſchang ſeinen 
Gäſten zu, indem er eine ſehr bedeutungsvolle Miene 
machte, um ihnen anzudeuten, daß es ſich hierbei um 
eine ganz beſondere Delikateſſe handle. Das war alſo 
Suppe von den berühmten Schwalbenneſtern! 


Ueber dieſe ſogenannten indiſchen Vogelneſter iſt 
viel Unwahres verbreitet worden. Richtig iſt nur folgen⸗ 
des: Die Salangane (Collacelia nidifica) ſind 12 em 
lange Segler mit ungefähr 30 em Flügelweite. Oben 
dunkelbraun, ſind ſie an der untern Seite heller gefärbt 
und kommen in Vorder⸗ und Hinterindien und den 
Sundainſeln vor, wo ſie in großen Scharen vorzugs⸗ 
weiſe an unzugänglichen Felſenklippen niſten. Sie 
lieben beſonders ſolche Stellen, wo die hohe Küſte ſenk⸗ 
recht aus der kochenden Brandung ſtrebt. 


Kurz vor der Brutzeit, alſo zur Zeit des Neſtbaus, 
ſondern die ſtark anſchwellenden Speicheldrüſen dieſer 
Tiere einen zähen Schleim ab, der einer dicken Gummi⸗ 
löſung ähnlich iſt. Dieſen Schleim kleben ſie in der 
Weiſe an die glatte, ſenkrechte Fläche des Felſens, daß 
der Vogel unzähligemale und immer wieder gegen die⸗ 
ſelbe Stelle fliegt und dabei ein wenig von der Aus⸗ 
ſonderung mit dem Schnabel oder der Zunge andrückt. 
Dadurch entſteht ein feſt⸗gallertartiger Unterbau von 
der Geſtalt einer hohlen Viertelkugel, auf welchem aus 
Gras, Federn, Moos und Seetang das eigentliche Neſt 
errichtet und mit dem gleichen Schleim befeſtigt und 
kalfatert wird. Nicht dieſes Neſt, wie man irrtüm⸗ 
licherweiſe gemeint hat, ſondern nur der aus erhär⸗ 


— 147 — 


tetem Schleim beſtehende Unterbau wird als Nahrungs⸗ 
oder vielmehr Genußmittel verwandt. 

Aus dem Geſagten geht hervor, daß das Einſam⸗ 
meln dieſer Neſter ſehr gefährlich iſt. Der Salangan⸗ 
jäger muß ſich an einem Seil von der Höhe der Klippe 
herablaſſen und ſchwebt über der Brandung in ſteter 
Todesgefahr. An gewiſſen Fundorten hat man dem 
dadurch abgeholfen, daß ganze Küſtenſtrecken durch aus⸗ 
geſpannte Seile und Strickleitern zugänglich gemacht 
worden ſind. 

Die Salangane kommen in ſolcher Menge vor, daß 
von Java allein jährlich gegen neun Millionen Neſter 
ausgeführt werden. In China, wo jährlich durchſchnitt⸗ 
lich ſechs Millionen eingeführt werden, wird das Stück 
mit ungefähr einer Mark bezahlt, was bei den Geld⸗ 
verhältniſſen dieſes Landes keineswegs billig iſt, da ein 
gereinigtes Neſt oft ein Gewicht von nur wenigen Gram⸗ 
men hat. Nur die Wohlhabenden können ſich dieſen 
Genuß bieten. 

Uebrigens iſt ein ſolches Neſt an ſich nicht etwa ein 
Leckerbiſſen. Unzubereitet kann es gar nicht gegeſſen 
werden, und gekocht ſchmeckt es nur fade. Wer das 
aus der Rinde tretende Harz eines Kirſchbaums, der 
am Gummifluß leidet, kaut, hat ganz denſelben Genuß. 
Dieſe zweifelhafte Delikateſſe muß vielmehr erſt durch 
die Zubereitung ſchmackhaft gemacht werden. Der Chi⸗ 
neſe kocht ſie in Waſſer oder Fleiſchbrühe und tut Wur⸗ 
zelwerk, Gewürz, Fleiſch, Fiſchrogen, Holothurien, zer⸗ 
ſchnittene Früchte und anderes dazu. Nur dieſe Bei⸗ 
mengſel ſind es, die den Neſtern Geſchmack und Nähr⸗ 
wert verleihen. 

Mijnheer van Aardappelenboſch ſchien dieſe Speiſe 
ſchon von Java her zu kennen. Er aß auch ſie mit dem 


— 148 — 


Löffel und machte dabei ein außerordentlich wonne⸗ 
volles Geſicht. 

Turnerſtick wollte ſich weder mit dem großen 
Löffel den Mund aufreißen, noch hatte er das Geſchick, 
ſich der Kwei⸗tze zu bedienen. Er machte alſo kurzen 
Prozeß und trank die Suppe aus dem Teller, was ihm 
heimliche Verachtungsblicke der Chineſen zuzog. Die 
drei andern aber brachten es fertig, die fremdartige 
Brühe mit den Stäbchen bis auf den letzten Tropfen 
auszulöffeln. ö 

„Fein, außerordentlich fein!“ meinte der Kapitän, 
indem er mit der Zunge ſchnalzte. — „Ja wel!“ nickte 
der Dicke vergnügt. „Ongemeen heerlijk, op mijn 
woord!“ — „War es wirklich ſo herrlich, ſo vortreff⸗ 
lich?“ fragte ihn der Methuſalem. — „Gewis, op mijne 
eer!“ — „Und wiſſen Sie, was Sie gegeſſen haben?“ 
— „Natürlich!“ fiel Turnerſtick ein. „Salangan⸗ 
neſter!“ — „Unſinn! Dieſe Kerls werden uns mit 
indiſchen Vogelneſtern bewirten! Das würde ihnen, 
ſelbſt wenn ſie welche hätten, gar nicht einfallen.“ 
— „Nun, was ſoll es dann geweſen ſein?“ — „Rinds⸗ 
haut, fein geſchnitten und zu Gallerte verſotten. Das 
gibt eine Brühe, welche derjenigen der Vogelneſter leid⸗ 
lich ähnlich iſt.“ — „Alle Wetter! Wenn das wärel 
Verzehrt man denn in China auch die Felle der Ochſen 
und Kühe?“ — „Allerdings. Es gilt das ſogar als ein 
ganz vorzügliches Gericht.“ — „O mijn god, o mijn 
ſchepper!“ jammerte da ſofort der Dicke, indem er mit 
den Händen nach dem Leib fuhr. „Ik ben ziek, ik ben 
ziek!“ — „Siech ſind Sie? Krank? Was fehlt Ihnen 
denn?“ — „Ik heb een gezwel in de maag.“ — „Ein 
Geſchwür im Magen? Hm!“ — „En een aanval in de 
lever. Wat zeggt het woordenboek van de lever?“ — 


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„Ihr Leberanfall wird wohl nicht von ſolcher Be⸗ 
deutung ſein, daß er uns zwingt, ein mediziniſches 
Wörterbuch zu Rate zu ziehen. Schauen Sie mal, da 
kommt ein neues Gericht! Das ſind Seekrebſe, wie es 
cheint.“ 

Sofort hellte ſich das Geſicht des Dicken wieder auf. 
„Zeekreeften?“ rief er. „God dank, deze ete ik!“ — 
Er nahm ſich den größten Hummer, der vorgelegt 
wurde und ſchien vor Freude über dieſen „Zeekreeft“ 
das „Gezwel“ und den „Aanval“ vollſtändig vergeſſen 
zu haben. 

Nach dieſem Gang gab es noch geſottene Fiſche als 
letzte Nummer des Speiſezettels. Es waren alſo nicht 
allzu viele Gerichte geweſen. Die Gaſtgeber ſchienen es 
mehr auf das Trinken als auf das Eſſen abgeſehen zu 
haben, denn zwiſchen jedem Gang wurden die Taſſen 
zweimal mit Sam⸗chu gefüllt, und da der Ho⸗tſchang 
die ſeinige immer ſchnell austrank, mußten die Gäſte 
ſeinem Beiſpiel folgen. Dieſer Sam⸗chu ift, gut zu⸗ 
bereitet, ein leicht berauſchendes, dem Arak ähnliches 
Getränk, das die Chineſen ſehr lieben. 

Durch die Seemannskehle Turnerſticks war man⸗ 
cher ſtarke Rum und ſteife Grog gerollt, und Mijnheer 
van Aardappelenboſch hatte ſo viele Genevers genoſſen, 
daß der Sam⸗chu dieſen beiden nicht wohl gefährlich ſein 
konnte. 

„Wir trinken mit und wollen ſehen, ob ſie uns 
oder wir ſie unter die Tiſche trinken,“ ſagte der erſtere. 

„Ja, wij drinken tapper met!“ nickte der Dicke. „Ik 
drink als een nijlpaard.“ 

Der Methuſalem und Gottfried von Bouillon hatten 
gar manchen Eimer „Türkenblut“ ausgeſtochen; auch 
ſie fürchteten ſich vor dem Sam⸗chu nicht. Richard aber 


— 150 — 


hatte von der erſten Taſſe nur einmal genippt und das 
Zeug dann nicht wieder berührt. Auf die wiederholte 
Aufforderung Turnerſticks, doch noch einen Schluck zu 
verſuchen, antwortete er: „Ich mag nicht. Ich mag 
überhaupt keinen Schnaps und dieſen nun ſchon gar 
nicht. Er iſt mir zu bitter.“ 

„Zu ſtark, wollen Sie wohl ſagen.“ 

„Nein. Er hat einen bittern Nebengeſchmack, der 
mich anwidert.“ 

„Hm! Marzipan wird freilich nicht dazu ge⸗ 
nommen.“ 

Er glaubte ebenſo wie die andern, daß der Sum⸗chn 
dieſen Beigeſchmack haben müſſe. Auch achtete er eben⸗ 
ſowenig wie ſie darauf, daß die geleerten Taſſen nicht 
am Tiſch, ſondern hinter den Landkartenvorhängen wie⸗ 
der gefüllt wurden. Er hätte ſonſt bemerkt, daß dort aus 
zweierlei Gefäßen eingegoſſen wurde: in dem einen be⸗ 
fand ſich Sam⸗chu mit Opium, den nur die Gäſte 
bekamen. 

Der Neufundländer ſaß zwiſchen ſeinem Herrn und 
Richard Stein. Er wich keinen Augenblick von ihnen 
und beobachtete jede Bewegung der Chineſen mit feind⸗ 
lichen Blicken. Nahte ſich ihm zufällig einer, ſo fletſchte 
er die Zähne und knurrte ihn grimmig an. Ja, als der 
Hostihang ihm ein Stück Fleiſch bringen ließ, biß der 
Hund nicht nach dem Fleiſch, ſondern nach der Hand des 
Gebers. Er nahm es auch dann nicht, als der Methu⸗ 
ſalem ſelbſt es ihm hinreichte. Das Mißtrauen des 
Hundes war glücklicherweiſe ebenſo groß wie die Un⸗ 
vorſichtigkeit ſeiner Herren. Die Hoffnung der Chineſen, 
das Tier auf dieſe Weiſe töten zu können, erwies ſich 
ſomit als vergeblich. 


— 151 — 


Deſto größere Mühe gaben ſie ſich, die Gäſte zum 
Trinken zu bewegen, und das gelang ihnen freilich weit 
beſſer. Nur hatten ſie ſich getäuſcht, als ſie glaubten, 
ihnen gar ſo leicht einen tüchtigen Rauſch beizubringen; 
die vier Perſonen tranken wie die berühmten Leine⸗ 
weber im Studentenlied. 

Dagegen zeigte ſich bei den Chineſen ſehr bald die 
Wirkung des Sam⸗chu. Der Sohn des Reiches der 
Mitte beſitzt überhaupt nicht die Eigenſchaft, ſtarke 
geiſtige Getränke vertragen zu können, und ſo bemerkte 
der Ho⸗iſchang, daß der Reisbranntwein eine nicht 
wünſchenswerte Wirkung auf ihn äußere. Das Be⸗ 
nehmen ſeiner Kameraden verriet, daß auch ſie be⸗ 
gannen, duſelig zu werden. Das mußte verhindert 
werden, da er mit betrunkenen Leuten ſeinen Plan nicht 
auszuführen vermochte. Er ließ alſo für ſich und ſie 
einen ſchwachen Tee in die Taſſen gießen, was die Gäſte 
nicht bemerken konnten, da der Aufguß faſt genau die 
Farbe des Sam⸗chu hatte. 

Aber dieſe Liſt war nicht von langer Dauer. Der 
angeheiterte Methuſalem hielt ſeinen Gaſtgebern, um 
ihnen ſeinen Dank auszudrücken, eine kurze Rede und 
forderte dann den Ho⸗tſchang auf, mit ihm eine Freund⸗ 
ſchaftstaſſe, das heißt, mit gegenſeitig verſchlungenen 
Armen zu leeren. Er ſchob ſeinen linken Arm in den 
rechten des Chineſen. Dabei mußte die Taſſe des letzteren 
ſo nahe an der Naſe des Blauroten vorüber paſſieren, 
daß dieſer den Teegeruch bemerkte. Er griff ſogleich nach 
der Taſſe, zog ſie aus der Hand des Ho⸗tſchang und 
koſtete von dem Inhalt. 

„Tee! Brrrrr!“ rief er aus. „Schämt euch doch! Ich 
habe wohl geſehen, daß ihr uns einen Rauſch antrinken 
wollt, aber wenn ihr dabei ſo unehrlich handelt, ſo trinkt 


— 152 — 


euern Tſcha allein. Wer nicht mit gleichen Waffen mit 
uns kämpft, mit dem haben wir nichts zu ſchaffen. 
Nehmt unſern Dank, und laßt uns gehen!“ 

Die Chineſen widerſprachen nicht. Sie glaubten, 
ihre Gäſte hätten genug getrunken, ſo daß das genoſſene 
Opium die beabſichtigte Wirkung tun werde. Die 
Reiſenden zogen ſich in ihre Kajüte zurück. Dabei kamen 
ſie hinter den Landkarten an der Stelle vorüber, wo die 
Taſſen gefüllt worden waren. Der Mijnheer ſah den 
Krug ſtehen, in welchem ſich noch ein ziemliches Quan⸗ 
tum des Sam⸗chu befand, roch daran und ſagte: „Ik 
nem den brandewijn met; hij is zeer goed.“ 

Er ergriff den Krug und trug ihn, als ob er das 
größte Anrecht darauf habe, nach der Kajüte. Die 
Chineſen freuten ſich natürlich über dieſe Unver⸗ 
frorenheit, denn wenn die Gäſte den Krug vollends 
leerten, ſo mußten ſie unbedingt in einen tiefen Schlaf 
verfallen und konnten dann um ſo leichter überwältigt 
und ausgeraubt werden. Der Methuſalem aber wußte 
nicht, ob er über die Formloſigkeit des Dicken lachen 
oder ſchelten ſolle. Er verſuchte es mit dem letzteren, 
denn er ahnte nicht, daß ihm der Sam⸗chu noch vom 
größten Vorteil ſein werde, kam aber nicht weit, denn 
der Mijnheer ſchnitt ihm die Strafrede mit den Worten 
ab: „Deze Keerls hebben thee gedronken en ons dezen 
brandewijn gegeven; daarom is hij onze brandewijn; 
wij worden hem drinken. Hij is goed, zeer goed. Ik 
word hem niet ſtaan laten!“ 

Gegen dieſe Erklärung war nichts zu machen, zumal 
ſie in einer ſo drolligen Weiſe vorgebracht wurde, daß 
man darüber lachen mußte. 

Turnerſtick holte zwei der draußen noch brennenden 
Laternen herein, um die Kajüte zu erleuchten, was ihm 


— 153 — 


nicht verwehrt wurde, und darauf verriegelte Gottfried 
von Bouillon die Tür. Die Reiſenden hüllten ſich in 
ihre Decken; ſie fühlten ſich jetzt von einer ganz außer⸗ 
ordentlichen Müdigkeit ergriffen, und doch vermochten 
ſie nicht, ſofort zu ſchlafen. Sie waren innerlich erregt. 
Ihr Blut kreiſte ſchneller als gewöhnlich, und ihre Pulſe 
befanden ſich in einer Anſpannung, die dem Reisbrannt⸗ 
wein unmöglich zugeſchrieben werden konnte. Das fiel 
ihnen natürlich auf. 

„Dieſer armſelige Sam⸗chu!“ polterte Gottfried. 
„Dat iſt ein janz hinterliſtiges Jetränk.“ 

„Biſt du berauſcht?“ fragte ihn Degenfeld. 

„Berauſcht? Fällt mir jar nicht ein! Aber es iſt 
ein ziemlich ähnlicher Zuſtand. Ich habe mal von einem 
jeleſen, welcher das Opiumrauchen verſuchte. Er be⸗ 
ſchrieb die Wirkung des Jiftes jenau. Mein jetziger 
Zuſtand iſt janz der ſeinige, als er ſich im erſten 
Stadium dieſer Wirkung befand. Sollte ſich Opium in 
dieſem Sam⸗chu befunden haben?“ 

„Hm! Auch ich befinde mich in einer eigentümlich 
heimtückiſch dumpfen Aufregung. Aber ich ſehe keinen 
Grund, den Branntwein mit Opium zu verſetzen. Wie 
iſt es dir zu Mute, Richard?“ 

„Ich befinde mich ganz wohl,“ antwortete der 
Gefragte. 

„Weil du nicht getrunken haſt. Alſo iſt unſer Zu⸗ 
ſtand gewiß eine Wirkung des Sam⸗chu. Wollen es ab⸗ 
warten.“ 

Es verging eine halbe Stunde, während welcher 
ſich die vier Männer ruhelos von einer Seite auf die 
andre drehten. Dann ſchien einer nach dem andern ein⸗ 
sufchlafen. 


— 154 — 


Richard war noch wach. Er hörte zahlreiche Schritte 
draußen auf dem Deck; dabei klang es, als ob Taue über 
Rollen bewegt würden; eine Kette raſſelte längere Zeit. 
Mehreremal wurde von draußen an die Tür der Kajüte 
geſtoßen, als ob man etwas an dieſe ſchiebe. Der Neu⸗ 
fundländer knurrte, beruhigte ſich aber wieder, da 
niemand den Verſuch machte, hereinzukommen. 

So verging abermals eine halbe Stunde und noch 
eine. Es kam Richard vor, als ob der Boden der Kajüte 
jetzt eine abſchüſſige Lage habe. Durch die zwei offenen 
Fenſter ſtrömte ein friſcher, ſehr fühlbarer Luftzug her⸗ 
ein, was vorher nicht der Fall geweſen war. 

Richard ſtand auf und ſah hinaus. Die Lichter des 
Hafens waren verſchwunden; das konnte dadurch erklärt 
werden, daß ſie wegen der ſpäten Stunde ausgelöſcht 
worden ſeien. Aber auf jedem Schiff muß doch wenig⸗ 
ſtens eine Laterne brennen, und jetzt war keine einzige 
zu ſehen, obgleich ſo viele Dſchunken in der Nähe der 
„Schui⸗heu“ gelegen hatten. Der Himmel war klar und 
rein; die Sterne blinkten hell herab. Ihr Schimmer 
war hinreichend geweſen, die Umgebung des Schiffes 
erkennen zu laſſen, und doch war keine Dſchunke, kein 
Haus zu ſehen. Vielmehr dehnte ſich vor dem Auge 
Richards eine weite, ſanft bewegte, durch nichts unter⸗ 
brochene Fläche aus, worin ſich die Sterne ſpiegelten; 
das war die See. 

Es wurde dem Knaben angſt. Sollte die Dſchunke 
ſich vom Anker losgeriſſen haben und von der Ebbe aus 
dem Hafen getrieben worden ſein? Obgleich er kein 
Seemann war, wußte er doch, wie oft die Gezeiten 
wechſeln. Von einer Gezeit zur andern vergehen zwölf 
und eine halbe Stunde. Morgen am Vormittag hatte die 
„Schui⸗heu“ mit der Flut nach Kanton gehen wollen; 


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jetzt war es vielleicht eine Stunde nach Mitternacht, 
folglich ſtand die See höchſtwahrſcheinlich am Beginn 
der Ebbe. Da war es möglich, daß das losgeriſſene 
Schiff aus dem Hafen getrieben worden war, ohne daß 
die Beſatzung, die vielleicht bis zum letzten Mann ſchlief, 
etwas davon bemerkt hatte. 

Richard beſchloß, den Onkel Methuſalem zu wecken. 

Der aber ſchlief ſo feſt, daß er den Zuruf des 
Knaben nicht hörte und es auch nicht fühlte, als dieſer 
ihn kräftig rüttelte. Die Angſt des Knaben vergrößerte 
ſich. Er wollte hinaus auf das Deck, um Lärm zu 
machen, und ſchob den Riegel von der Tür. Aber er 
vermochte ſie nicht zu öffnen; ſie war von draußen ver⸗ 
barrikadiert. 

Jetzt begann ihm eine Ahnung aufzugehen, die 
noch viel ſchlimmer als ſeine erſte Vermutung war: die 
Chineſen waren keine ehrlichen Leute; vielleicht war die 
„Königin des Waſſers“ gar eine Raubdſchunke. Man 
hatte den Europäern Opium in den Sam⸗chu gegeben, 
um ſie einzuſchläfern und dann auszurauben und zu 
töten! 

Bei dieſem Gedanken erwachte die ganze Spann⸗ 
kraft des Knaben. Er verſuchte noch einmal, den 
Methuſalem oder einen der andern aus dem Schlafe zu 
rütteln, doch vergebens. „Sie ſchlafen fort,“ ſagte er. 
„Sie wachen vielleicht erſt nach Tagesfriſt auf. Ich und 
der Hund ſind allein munter. Wir werden die Kajüte 
verteidigen. Dieſe Halunken ſollen erfahren, daß ein 
deutſcher Gymnaſiaſt ſich nicht vor ihnen fürchtet! Nicht 
wahr, mein tapfrer Kerl?“ 

Er ſtreichelte dem Hunde das ſchöne, langhaarige 
Fell; dieſer blickte ihn mit hellen Augen an, ſchlug mit 
der Rute wedelnd auf den Fußboden, drehte dann den 


— 156 — 


Kopf nach der Tür und ließ ein leiſes, tiefes Knurren 
hören, als ob er ſagen wolle: „Weiß ſchon! Habe aber 
keine Angſt, denn ich bin da!” 

Dann holte Richard die Gewehre ſeiner Gefährten 
aus der Ecke und unterſuchte ſie. Er war kein Schütze; 
er wußte nicht, ob die Hinterlader geladen ſeien und 
hätte ſie im Verneinungsfall auch nicht laden können; 
aber die Konſtruktion der beiden Flinten des Mijnheer 
war eine ſo einfache, daß er ſich dieſer Gewehre leicht 
bedienen konnte. Er öffnete die Hähne und erkannte an 
den Zündhütchen, daß die Läufe geladen ſeien. Uebrigens 
waren ja auch die Revolver vorhanden, mit deren 
Handhabung er vollſtändig vertraut war; er zog ſie aus 
den Taſchen der Schläfer und hatte nun ein ſtattliches 
Arſenal beiſammen. 

Da horchte plötzlich der Hund auf, ging zur Tür, 
ſchnoberte daran und begann zu knurren; es mußte ſich 
jemand draußen befinden. 

Richard hörte, daß man draußen etwas Schweres 
wegſchob; dann wurde verſucht, die Türe leiſe zu öffnen. 
Dies gelang aber nicht, da ſie verriegelt war. Der 
Knabe winkte den Hund zu ſich und gebot ihm durch 
eine Handbewegung Schweigen. 

Draußen wurde geflüſtert; dann vergingen einige 
Minuten, bis ein neues Geräuſch zu hören war. Es 
klang, als ob man mit einem Bohrer an der Tür 
arbeitete. Richard trat nahe an dieſe heran und ſah 
wirklich die Spitze eines ſtarken Bohrers erſcheinen. 
Man wollte ein Loch machen, um in die Kajüte blicken 
zu können. 

Als dasſelbe fertig war und der Bohrer zurück⸗ 
gezogen wurde, wich Richard zur Seite, damit man ihn 
nicht ſehen könne. Der Blick des Spähers konnte nur 


— 157 — 


die vier Schläfer und den Hund erreichen; wahrſchein⸗ 
lich glaubte man nun, Richard liege in der Ecke und 
ſchlafe auch. Der Neufundländer ſaß mitten in der 
Kajüte und hielt die Augen ſcharf auf das Loch gerichtet. 
Das kluge Tier ſchien deſſen Bedeutung zu kennen. Es 
war ihm anzuſehen, daß er ſich auf den erſten, der es 
wagen werde, einzutreten, ſtürzen werde. Bei der Stärke 
des Tieres war der Betreffende dann jedenfalls ver⸗ 
loren und darum ſagte ſich Richard, daß man zunächſt 
trachten werde, den Hund unſchädlich zu machen. 

Aber wie? Er war nicht anders als durch einen 
Schuß zu erreichen. Sollte man das verſuchen? In 
dieſem Fall war es nötig, noch ein Loch zu bohren, eines 
für die Schußwaffe und eines für das Auge, um zielen 
zu können. ö 

Der Knabe hatte ſich nicht geirrt, denn er hörte 
jetzt das bohrende Geräuſch von neuem. Da er ſich ſagte, 
daß eine Revolverkugel wohl durch die ſchwache Tür 
dringen, aber den draußen Stehenden nicht verletzen 
werde, ſo griff er nach den beiden Gewehren des Mijn⸗ 
heers, ſpannte die Hähne und ſtellte ſich ſo, daß er von 
draußen nicht geſehen werden konnte. Das eine Gewehr 
neben ſich gelehnt und den Lauf des andern nach der 
Tür gerichtet, wartete er auf das, was man nun tun 
werde. 

Der Bohrer drang durch die Tür, und Richard ſah 
beim Schein der beiden an der Decke hängenden Later⸗ 
nen, daß es eine Art Zentrumbohrer war, der ein weit 
größeres als das erſte Loch geſchnitten hatte. Was er 
geahnt hatte, das geſchah: man ſteckte den Lauf einer 
Piſtole herein. Der Hund hatte den klugen Blick noch 
immer ſcharf auf die Tür gerichtet. Er ſah die Waffe 
und wich ſchnell zur Seite. In demſelben Augenblick 


— 158 — 


drückte Richard ab. Er hatte, da ſich das Auge des 
Attentäters jedenfalls am oberen Loch befand, den Lauf 
ungefähr fünfzehn Zoll tiefer gerichtet, wo ſich die Bruſt 
befinden mußte. Der Schuß krachte und draußen er⸗ 
tönte ein lauter Schrei. Der Knabe griff ſchnell nach 
der zweiten Flinte und gab einen zweiten, mehr ſeit⸗ 
wärts gehenden Schuß ab, denn er ſagte ſich, daß jeden⸗ 
falls mehrere Perſonen draußen ſeien. Ein zweiter 
Schrei erſcholl, dann ertönten die Rufe vieler Stimmen, 
in die ſich das wütende Gebell des Hundes miſchte. 

Der umſichtige Knabe zog ſchnell ſein Notizbuch 
aus der Taſche, riß einige Blätter los, befeuchtete ſie 
mit der Zunge und klebte ſie auf die vier Schuß⸗ und 
Bohrlöcher, damit man nicht mehr hineinſehen könne. 
Wer ſich der Tür wieder in der Abſicht nahte, herein⸗ 
zublicken, mußte eins der Papiere wegſtoßen, und dann 
wußte Richard genau, wohin er zu zielen hatte. Es 
ſchien aber keiner der Chineſen daran zu denken, ſich in 
die ſo gefährliche Nähe der Tür zu wagen. Auch wurde 
die Aufmerkſamkeit des Knaben zunächſt von ihr ab⸗ 
und auf ſeine Gefährten gezogen. 

So tief deren Betäubung war, das Krachen der 
beiden Schüſſe war doch in ihr Gehör gedrungen. Sie 
bewegten ſich, doch freilich in ſehr verſchiedenem Grade. 

Der Dicke regte ſich nur ein wenig und murmelte 
ohne die Augen zu öffnen: „Hem! Jemand ſchiet. Dat 
gevt gebraden kater — hm! Jemand ſchießt. Das gibt 
Katerbraten.“ Dann ſank er wieder in ſeine Betäubung 
zurück. 

Turnerſtick wendete ſich langſam auf die andre Seite 
und ſagte: „Nochmals Feuer, Jungens! Und gut ge⸗ 
zielt! Gebt es ihm!“ Er ſchien zu glauben, daß ſein 
Schiff ſich mit einem andern im Kampf befinde. 


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Gottfried von Bouillon richtete den Kopf in die 
Höhe, lauſchte einen Augenblick und ſchimpfte dann: 
„Dummkopf, wat fällt dich ein! Wie kannſt du mit 
meine Oboe ſchießen! War ſie denn jeladen?“ Dann 
ſenkte er den Kopf wieder und ſchlief weiter. 

Eine größere Wirkung als auf dieſe drei hatten die 
Schüſſe auf den Methuſalem geübt. Er richtete den 
ganzen Oberkörper auf und öffnete die Augen. Stier 
vor ſich hinblickend, fragte er: „War das geſchoſſen? 
Wer — — wo — — — warum — — — wa — wa 
— — wa — —1“ 

Weiter kam er nicht. Er ſchloß die Augen und ſank 
wieder zurück. Richard trat zu ihm, faßte ihn bei den 
Schultern und zog daran. „Onkel, wach auf, Onkel 
Methuſalem!“ 

Dieſe Aufforderung des Knaben fand kein Gehör. 
Er richtete mit Mühe den ſchweren Oberkörper des Be⸗ 
täubten wieder auf und rief: „Onkel, ſo höre doch! Ich 
habe zwei Chineſen erſchoſſen. Man will uns morden!“ 

„Laß — laß — — laß mich!“ murmelte Degen⸗ 
feld, der abermals umſinken wollte. 

Richard aber hielt ihn feſt und bat: „Wach auf, wach 
auf! Wir befinden uns in großer Gefahr!“ 

„Ge — — — fahr?“ lallte der andre. 

„Ja. Oeffne doch wenigſtens die Augen!“ 

„Au — au — Augen!“ 

Man ſah, daß er ſich Mühe gab, die Lider zu heben; 
aber es gelang ihm nicht. Da verfiel Richard auf ein 
ſonderbares Mittel: er rief dem Studenten in zor⸗ 
nigem Ton zu: „Hörſt du denn nicht, dummer Junge!“ 

Dieſe Beleidigung zeigte ſofort den gewünſchten 
Erfolg. Der Methuſalem riß die Augen auf und ſchrie: 
„Schandfuchs! Ich haue dir eine herunter! Scharfe 


— 160 — 


Schläger her, Gottfried!“ Er erkannte Richard trotz 
geöffneten Augen nicht. 

„Selber Fuchs!“ antwortete dieſer. „Dreimal 
relegierter Affe!“ ö 

Dieſer Vorwurf erwies ſich ſtärker als die Betäu⸗ 
bung. Der Methuſalem ſchleuderte den Knaben von 
ſich, richtete ſich auf die Knie empor und donnerte: 
„Wie? Was? Rele — — rele — — — ich — — — ich?“ 

„Ja, du! Infam relegiert!“ 

Da ſprang der Blaurote vollends auf, ſtreckte beide 
Hände nach dem Beleidiger aus und rief mit faſt über⸗ 
ſchnappender Stimme: „Mir das! Mir das! Hündiſcher 
Knochen, ich zermalme dich!“ 

Er wollte auf Richard einſpringen, taumelte aber 
gegen die Wand und blieb, die Augen wieder ſchließend, 
daran lehnen. Mit beiden Händen an den ſchweren 
Kopf greifend, wäre er wohl wieder niedergeſunken, 
wenn Richard nicht auf ein neues Mittel gekommen 
wäre, auf ſeine Spannkraft zu wirken. Er rüttelte ihn 
an der Schulter und ſagte: „Methuſalem, wache doch 
auf! Es gilt dein Ehrenwort. Willſt du dich hier ab⸗ 
ſchlachten laſſen und dann dein Ehrenwort nicht halten 
können? Hörſt du, dein Ehrenwort, dein Kong⸗kheou, 
dein Kong⸗kheou!“ 

„Ehrenwort — Kong⸗kheou! Das — das — — 
halte ih! Was — was — — — ah du, Richard?“ Er 
richtete ſich ſtramm auf, öffnete die Augen und er⸗ 
kannte nun den Knaben. 

„Ich bitte dich um Gottes willen,“ ſagte dieſer, 
„denk an das Kong⸗kheou! Denk an meine Mutter und 
denk auch an He⸗kin⸗li daheim, denen du dein Wort ver⸗ 
pfändet haſt. Wenn du dich jetzt nicht aufraffſt, wird 
dein Kong⸗lheon zu Schanden werden.“ 


— 161 — 


„Warum?“ 
„Weil man uns ſonſt hier ermorden wird.“ 
„Er — mor — — den?!“ 


„Ja. Haſt du meine Schüſſe nicht gehört? Ich habe 
zwei Chineſen erſchoſſen.“ 

„Alle Wetter! Träume ich? Mein Kopf, mein Kopf! 
Was iſt mit mir und mit meinem Kopf? Warum liegen 
dieſe drei wie tot am Boden?“ 

„Weil man euch Opium gegeben hat, um euch zu 
betäuben. Die Halunken haben zwei Löcher dort in die 
Tür gebohrt, um zunächſt den Hund zu erſchießen; ich 
aber habe ihnen zwei Kugeln gegeben, die ſicherlich ge⸗ 
troffen haben.“ 

„Du — haſt — — geſchoſſen! Wer — wer ſprach 
vorhin vom Relegieren?“ 

„Ich. Es war das einzige Mittel, dich wach zu 
bringen.“ 

„Ah — — ah — — braver Kerl! Kluger Burſche! 
Aber mein Kopf, mein Kopf!“ Er legte ſich die Hände 
an die Schläfen und gab ſich Mühe, ohne Taumeln feſt 
zu ſtehen. i 

„Bleib munter, bleib munter, Onkel! Es hängt 
unſer Leben davon ab!“ 

„Ja, Leben — Ehrenwort — Kong⸗kheou — 
Relegatio cum infamia! Kerl, das war ein ſtarker 
Tabak, aber er ſoll geraucht werden. Opium! Richard, 
mir iſt's zum Umſinken dumm im Kopf. Du mußt mir 
helfen!“ 

„Gern! Aber wie?“ 

Degenfeld wankte noch immer hin und her. Er 
ſtemmte eine Hand gegen die Wand und antwortete: 
„Du mußt es aber auch tun, unbedingt!“ 

„Wenn ich kann, tue ich es.“ 

May, Der blaurote Methuſalem. 11 


— 162 — 


„Gut!l Stecke mir alſo eine Ohrfeige, aber eine aus 
Herzensgrund!“ 

„Onkel!“ 

„Pah! Warte nicht ewig! Es muß ſein; es geht 
nicht anders, mein Junge. Nicht ich, ſondern das 
Opium bekommt den Hieb. Alſo vorwärts!“ 

„Wird's denn wirklich helfen?“ 

„Ich denke es. Alle Wetter, mach raſch, ſonſt ſetze 
ich mich wieder nieder!“ 

„Na, denn gut!“ Richard holte aus und verſetzte ihm 
die verlangte Ohrfeige, und zwar ſo „aus Herzens⸗ 
grund“, daß der Getroffene taumelte, nach ſeiner Wange 
griff und rief: „Hol's der Kuckuck, Junge! Gar ſo kräftig 
hatte ich es nicht gemeint! Aber es ſchadet nichts. Viel 
hilft viel, ſagte der Bauer, da ſprang er ins Bett und 
brach durch. Jetzt iſt mir's wohler. Nun ſage ſchnell, 
was iſt geſchehen?“ 

Richard gab ihm kurz Bericht. Der Methuſalem 
trat an das Fenſter und ſah hinaus, ging zur Tür, um 
deren Beſchädigungen zu betrachten, und ſagte dann: 
„Richard, hier haſt du meine Hand! Du biſt ein kluger 
und tapferer Junge und haſt uns das Leben gerettet. 
Halte nur noch kurze Zeit aus, bis ich wieder in vollem 
Beſitz meines Kopfes bin. Sobald ich laß werde, gibſt 
du mir wieder eine Backpfeife; das hilft; ich fühle es. 
Wir haben jetzt kein andres Mittel. Ich will zunächſt 
nach den Gewehren ſehen und die Flinten des Dicken 
wieder laden. Behalte die Tür ſcharf im Auge. Nimm 
mein Gewehr und ſobald du ſiehſt, daß jemand von 
draußen das Papier entfernt, ſchickſt du augenblicklich 
eine Kugel nach der betreffenden Stelle.“ 

Er ſchob zwei Patronen in den Hinterlader und 
gab dieſen dem Knaben. Eben als das geſchah, wendete 


— 163 — 


ſich der Hund knurrend gegen die Fenſter. Der Blau⸗ 
rote warf einen Blick nach dieſer Richtung, riß ſofort 
Richard das Gewehr aus der Hand und legte an. 

Man ſah erſt die Beine und dann den Leib eines 
Mannes, der dort erſchien. Jedenfalls wurde er vom 
Bord aus an einem Seil niedergelaſſen. 

„Sie wollen es von dort aus verſuchen; das ſoll 
ihnen aber auch verleidet werden,“ flüſterte der Student. 
Jetzt, wo es galt, ſtand er ohne Wanken. Das Opium 
hatte keine Gewalt mehr über ihn. 

„Willſt du ihn erſchießen?“ fragte Richard. 

„Ich bin nun überzeugt, daß wir uns unter See⸗ 
räubern befinden: die geben keine Gnade; wir können 
uns nur dadurch retten, daß auch wir an keine Milde 
denken. Leben gegen Leben! Vielleicht will der Kerl 
einen Stinktopf hereinwerfen. Gelingt ihm das, ſo ſind 
wir verloren.“ 

Jetzt war der Mann ſo weit niedergeglitten, daß ſein 
Geſicht an der Fenſteröffnung erſchien. Der Methu⸗ 
ſalem drückte los, das Geſicht zuckte und verſchwand. 
Man hörte zornige Rufe erſchallen. 

Degenfeld trat an das Fenſter und ſah hinaus. 
„Richtig!“ ſagte er. „Da neben dem Seil ſehe ich einen 
Strick, woran ein Topf hängt. Das iſt auf jeden Fall 
ein Hi⸗thu⸗tſchang, wie dieſe Kerls die Steintöpfe 
nennen, ein ‚Gefäß der wohlriechenden Kräuter“. Wehe 
dem, in deſſen Nähe ſo ein Topf zerplatzt! Die chine⸗ 
ſiſchen Seeräuber werfen ſolche Töpfe auf das Deck der⸗ 
jenigen Schiffe, die ſie kapern wollen. Der entſetzliche 
Geſtank, den dieſelben entwickeln, betäubt die ganze 
Bemannung des Fahrzeugs. Gib nun acht auf die 
Fenſter!“ 

„Willſt du ſie nicht zumachen?“ 


— 164 — 


„Das nützt nichts, denn man kann die Schieber 
auch von draußen zurückſtoßen. Uebrigens denke ich, daß 
ſich nicht gleich wieder einer herabwagen wird. Ich will 
den abgeſchoſſenen Lauf wieder laden.“ 

Während er das tat, fiel ſein Blick auf ſeine drei 
Gefährten, die den Schuß wieder gehört hatten. Gott⸗ 
fried von Bouillon hatte ſich in ſitzende Stellung auf⸗ 
gerichtet und lehnte an der Wand, doch war er gleich 
wieder eingeſchlafen. Turnerſtick lag mit halb empor⸗ 
gerichtetem Oberleib auf dem Ellbogen und ſtarrte die 
beiden mit ſeelenloſem Blick an. Der Mijnheer hatte 
ſich umgewendet, jedoch falſch; er lag auf dem Bauch, 
was ihn verhindert hatte, wieder in den Schlaf zu 
ſinken. Er gab ſich vergebliche Mühe, auf die Seite oder 
den Rücken zu kommen, und ſtöhnte dabei: „Imand heeft 
weder geſchoten. Hij heeft mij getroffen. Ik been dood 
— jemand hat wieder geſchoſſen. Er hat mich getroffen. 
Ich bin tot!“ 

Er war der munterſte von den dreien, obgleich er 
ebenſoviel wie ſie getrunken hatte. Der Methuſalem 
drehte ihn auf den Rücken, richtete ihn mit Mühe zum 
Sitzen auf, ſchob ihn an die Wand, damit er ſich an⸗ 
lehnen könne, und ſagte zu ihm: „Sie ſind nicht tot, 
Mijnheer; Sie leben. Sehen Sie mich einmal an!“ 

„Neen,“ behauptete der Dicke, „ik been geſtorven.“ 

„Nein, Sie ſind nicht geſtorben, ſondern nur be⸗ 
täubt.“ 

„Goed, ſoo ſlape ikl“ 

„Sie ſollen aber nicht ſchlafen! Wachen Sie auf! 
Oeffnen Sie die Augen!“ 

„Ik heb geene oogen!“ 

„Freilich haben Sie Augen! Geben Sie ſich nur 
Mühe, ſie aufzumachen!“ 


— 165 — 


Der Dicke wollte dieſer Aufforderung gehorchen. Er 
zog die Brauen möglichſt hoch empor, brachte aber die 
Lider nicht auf. „Het gaat niet — es geht nicht,“ meinte 
er, indem er gähnte. 

Da nahm Richard ſich der Sache an. Er dachte an 
den Erfolg, den er beim Onkel Methuſalem gehabt hatte, 
und packte nun auch den Dicken bei ſeiner hervorragen⸗ 
den Eigentümlichkeit, indem er ihm zurief: „Mijnheer, 
haben Sie keinen Hunger? Wollen Sie nichts eſſen?“ 
— „Eten?“ fragte Aardeppelenboſch. „Wat hebt gij?“ 
— „Was wir haben?“ Was eſſen Sie denn am lieb⸗ 
ſten?“ — „Gebraden gans met koolſalade.“ — „Das 
haben wir, Gänſebraten mit Krautſalat!“ — „Heiza! Ik 
wil hem hebben!“ 

Die Liſt gelang. Der Dicke machte die Augen weit 
auf und ſtreckte beide Arme nach dem verheißenen 
Gänſebraten aus. Degenfeld mußte, obgleich die Situa⸗ 
tion keine behagliche war, laut auflachen und ſagte: 
„Noch ein wenig Geduld, Mijnheer. Sie bekommen ihn 
nicht eher, als bis Sie aufgeſtanden ſind.“ 

„Ik word opſtaan!“ Indem er ſich mit beiden 
Händen an der Wand feſthielt, gelang es ihm wirklich, 
ſich aufzurichten. Durch dieſe Anſtrengung mehr zur 
Beſinnung gekommen, ſah er die beiden verwundert an; 
dann griff er nach feinem Kopf und fagte: „Mijn hoofd, 
mijn hoofd (Haupt)! Ik heb een Nijlpaard tußchen 
mijnen herſenen — mein Kopf, mein Kopf! Ich habe 
ein Nilpferd zwiſchen meinem Gehirn!“ — „Aber Sie 
ſehen und erkennen uns?“ — „Ja wel.“ — „So ſagen 
Sie zunächſt, wo Sie Ihre Munition haben!“ — „Daar 
— dort!“ 

Er deutete nach dem Torniſter. Der Methuſalem 
öffnete ihn und erblickte eine beträchtliche Anzahl ver⸗ 


— 16 — 


ſchiedenfarbiger Tüten; er nahm eine heraus und fragte: 
„Was iſt der Inhalt dieſes Papieres?“ — „Hooizaad,“ 
lautete die Antwort. — „Heuſamen! Und hier?“ — 


„Driekleurigviooltjetee.“ — „Alſo Stiefmütterchentee. 
Und hier?“ — „Kruizemuntentee.“ — „Krauſeminztee! 
Und in dieſer Tüte?“ — „Lindeboombloeſemtee.“ — 


„Lindenblütentee!! Weiter hier?“ — „Seringatee.“ — 
„Alſo Fliedertee. Aber, Mijnheer, das ſind zwanzig 
Tüten, eine ganze Apotheke! Wozu ſchleppen Sie denn 
dieſe verſchiedenen Tees mit ſich herum?“ — „Voor 
mijne gezondheid. Ik heb vele ongeſteldheiden — für 
meine Geſundheit. Ich habe viele Krankheiten.“ 


Degenfeld nahm die Tüten alle heraus, bis er ganz 
unten auf die Munition kam und die beiden abge⸗ 
ſchoſſenen Gewehre nun laden konnte. Dies brachte den 
Dicken vollends zu ſich. Er erkundigte ſich, weshalb man 
ſeine Gewehre lade; als er hörte, in welch großer Gefahr 
er ſich befand, wurde er äußerſt beweglich. Er packte 
nun ſelbſt die Tüten wieder ein, um ſeine ſieben Sachen 
beiſammen zu haben, zog ſich dann mit den Gewehren, 
dem Schirm und dem Torniſter in eine Ecke zurück und 
erklärte, jeden durch und durch zu ſchießen, der es 
wagen werde, ihm auch nur ein finſteres Geſicht zu 
machen. 


Nun galt es, den Kapitän und Gottfried von 
Bouillon zur Beſinnung zu bringen. Es gelang, wenn 
auch nur ſchwer. Sobald ſie hörten, daß man ihnen nach 
Eigentum und Leben trachte, flog der Rauſch von ihnen. 
Aber auf wie lange, das war die Frage; vielleicht war 
das Gift noch gar nicht in ſeine volle, eigentliche Wir⸗ 
kung getreten; vielleicht begann es erſt noch, dieſe zu 
entfalten. Dem mußte vor allen Dingen vorgebeugt 


— 167 — 


werden. Aber wie und womit? Ein Gegenmittel gab 
es ja nicht hier in der Kajüte. 

Als erſtes Mittel hat der Arzt das Erbrechen und, 
wenn nötig, die Magenpumpe anzuwenden, um das 
etwa noch im Magen vorhandene Gift zu entfernen. 
Deshalb riet Degenfeld ſeinen Genoſſen, ihre Magen 
durch mechaniſche Mittel zum Erbrechen zu reizen. Dies 
reichte aber natürlich nicht aus, da das Opium bereits 
ins Blut übergetreten war. Die ſonſt anzuwendenden 
Medikamente wie Koffein oder Quaranaabkochung gab 
es nicht. Eine Tanninlöſung — ah, das brachte den 
Methuſalem auf einen guten Gedanken. „Mijnheer, Ihr 
Torniſter muß uns retten!“ ſagte er zu dem Holländer. 

„Mijn ransden (Ranzen)?“ fragte dieſer erſtaunt. 
„Welt gij hem als Medizin opvreten — wollen Sie ihn 
als Medizin auffreſſen?“ 

„Nein, ich habe es nicht auf den Ranzen, ſondern 
nur auf deſſen Inhalt abgeſehen. Die verſchiedenen 
Tees, die er enthält, ſind wohl alle mehr oder weniger 
gerbſäurehaltig. Wenn wir ſie ſtark einkochen und dieſen 
Aufguß trinken, werden ſich die Alkaloide des Opiums 
im Körper in unlösliche Tannate verwandeln. Es iſt 
ein Glück, daß Sie auf den Gedanken gekommen ſind, 
den Branntwein mitzunehmen; wir können ihn jetzt als 
Brennmaterial benutzen. Eine Teemaſchine und Trink⸗ 
waſſer haben die Matroſen uns am Nachmittag beſorgt; 
fo haben wir alles Nötige beiſammen.“ 

„Ja,“ meinte der Dicke, „mijne tee's zijn goed; wij 
worden ze drinken.“ 

Bald war der Tee zubereitet; außer Richard bekam 
jeder die gleiche Portion des heißen, übel ſchmeckenden 
Getränks. Außerdem war es nötig, dem Opium durch 
unausgeſetzte Körperbewegung und tiefes Einatmen 


— 168 — 


friſcher Luft zu begegnen. Auf den Vorſchlag des Methu⸗ 
ſalem wurden darum Turnfreiübungen vorgenommen, 
bei denen ſich der Dicke außerordentlich komiſch aus⸗ 
nahm. Er ahmte aber alle Bewegungen und Stellungen, 
die der Blaurote als Vorturner kommandierte, mit 
wahrer Begeiſterung nach, denn er fühlte an ſich ſelbſt, 
daß dieſes Mittel den gewünſchten Erfolg hatte, obgleich 
es für ihn ſehr anſtrengend war. Er ſchwitzte aus allen 
Poren. 

Wären die vier Perſonen nicht ſo tüchtige Trinker 
geweſen, ſo hätte das Opium eine noch viel größere und 
nachhaltigere Macht auf ſie geäußert. So aber milderte 
ſich die Herrſchaft des Giftes mehr und mehr, bis end⸗ 
lich nur noch eine leicht zu ertragende Beklommenheit 
der Köpfe zurückblieb. 

Während ſie aus Leibeskräften exerzierten und 
während der Pauſen den ſtarken Abſud des Tees tran⸗ 
ken, hielt Richard treulich Wache. Er ſtand mit ge⸗ 
ladenem Gewehr bereit, dem erſten, der ſich an die Tür 
oder eine der Luken wagte, eine Kugel zu geben. Dabei 
mußte er ſich allerdings mehr auf ſein Geſicht als auf 
ſein Gehör verlaſſen, weil die Turnenden zu viel Ge⸗ 
räuſch verurſachten. 


Achtes Kapftel, 


In Not und Gefahr. 


Az die Freunde einmal auf wenige Augenblicke 
ruhten und es infolgedeſſen ſtill in der Kajüte wurde, 
vernahmen ſie ein leiſes Klopfen an der Tür. „Schui 
nguat — wer iſt draußen?“ fragte der Methuſalem. 

„Su—ten A—bend!“ erklang die Antwort, leiſe und 
indem die einzelnen Silben langſam und mit Bedacht 
ausgeſprochen wurden, damit man die Worte deutlich 
verſtehen könne. 

„Was!“ flüſterte der Student ſeinen Gefährten zu. 
„Das iſt ja deutſch!“ — „Ja,“ nickte der Gottfried er⸗ 
ſtaunt. „Dat iſt der traute Abendjruß unſrer jeliebten 
Mutterſprache. Wie hat der ſich in die olle Dſchunke 
verirrt?“ — „Jedenfalls handelt es ſich um eine Falle, 
die man uns ſtellt. Man kennt zufällig dieſe beiden deut⸗ 
ſchen Worte. Werden ja ſehen!“ — Und lauter ant⸗ 
wortete er, gegen die Tür gerichtet: „Guten Abend! Wer 
iſt draußen?“ — „Ein Freund,“ antwortete es ebenſo 
leiſe wie vorher. — „Gut! Aber wer?“ — „Ein Un⸗ 
glücklicher, der auch gefangen iſt.“ Dieſe Worte wurden 
wieder ſo wie vorhin in ihre Silben abgeteilt und ſehr 
langſam ausgeſprochen, wie einer tut, welcher der be⸗ 


— 170 — 


treffenden Sprache nicht ganz mächtig iſt und doch gern 
verſtanden ſein will. 

„Das glaube ich nicht,“ ſagte der Methuſalem. 
„Was wollen Sie?“ — „Hinein zu Ihnen.“ — „Pahl 
Bleiben Sie nur hübſch draußen! Sie ſind jedenfalls der 
Lump, der ſich für einen Malaien ausgegeben hat.“ — 
„Der Amerikaner, Ihr Diener? O nein! Ich bin ein 
Chineſe.“ — „Und ſprechen doch deutſch!“ — „Mein 
Herr hat es mich gelehrt.“ — „Wer iſt das?“ — „Herr 
Sei⸗tei⸗nei in Hu⸗nan.“ 

„Das iſt Schwindel,“ bemerkte Degenfeld leiſe zu 
ſeinen Gefährten. „Sei⸗tei⸗nei iſt kein chineſiſches Wort 
und kein chineſiſcher Name.“ 

„Kenne das Wort auch nicht,“ antwortete Turner⸗ 
ſtick ſelbſtbewußt. „Sei⸗tei⸗nei hat keine einzige von 
meinen fünf Endungen.“ 

„Sehr richtig!“ lächelte der Student. „Man will es 
auf dieſe Weiſe verſuchen, uns zutraulich zu machen. Ich 
bin überzeugt, daß es der Yankee iſt. Sobald wir 
öffneten, würden ſich ſo viele hereindrängen, daß wir 
gar keinen Raum zur Gegenwehr fänden.“ 

Und gegen die Tür gewendet, fragte er weiter: „Wo 
kamen Sie denn in die Gefangenſchaft der Seeräuber?“ 
— „Im Hafen von Schang⸗hai. Ich wollte in Ge⸗ 
ſchäften nach Kanton und fuhr mit der „Schui⸗heu', 
weil man mir ſagte, daß ſie dorthin gehe. Erſt unter⸗ 
wegs ſah ich, unter welche Leute ich geraten war. Man 
ließ mir die Wahl zwiſchen dem Tod und dem Beitritt.“ 
— „Hml So ſind Sie Seeräuber geworden?“ — „Nur 
zum Schein!“ — „Und man läßt Sie frei umhergehen?“ 
— „Nur auf hoher See, im Hafen aber nicht. In Hong⸗ 
kong bin ich in den Unterraum geſchloſſen worden; erſt 
als man den Anker gezogen hatte, durfte ich herauf.“ — 


— 11 — 


„So! Wer ift bei Ihnen draußen vor der Tür?“ — 
„Niemand.“ — „Aber man muß es doch ſehen, daß Sie 
mit uns reden!“ — „Nein. Die Laternen wurden aus⸗ 
gelöſcht. Er brennt keine einzige, da kein uns begegnen⸗ 
des Schiff uns ſehen oder gar anrufen ſoll.“ — „Hm! 
Wo iſt der Ho⸗tſchang?“ — „Der ſchläft. Die andern 
Offiziere auch. Nur der To⸗kung ſteht hinten am 
Steuer.“ — „Und die Matroſen?“ — „Es ſind nur 
drei Wachen an Deck. Die andern ſollen alle ruhen, weil 
es mit Tagesanbruch viel zu tun geben wird.“ — „Wer⸗ 
den Sie von dieſen Wachen nicht beobachtet?“ — „Nein. 
Einer ſteht oben am Innenbug; er kann mich alſo nicht 
ſehen. Der zweite hält am Hintermaſt; ſeine Augen 
reichen nicht bis hierher. Und der dritte ſchläft am 
Mittelmaſt. Jedenfalls ſchlafen die beiden andern 
auch.“ — „Sonderbar! Fühlt man ſich denn vor uns ſo 
ſicher, daß man uns nicht einmal einen Poſten vor die 
Tür gibt?“ — „Es wollte keiner her, weil Sie ſchießen. 
Man hat Ihre Tür ſo verrammelt, daß Sie nicht 
öffnen können.“ — „Und da fordern Sie uns auf, Sie 
zu uns hereinzulaſſen? Sie widerſprechen ſich.“ — 
„Nein, denn ich kann ja die Bambusſtützen, die man 
gegen die Tür geſtemmt hat, wegnehmen. Sie dürfen 
mir vertrauen.“ — „Welche Abſichten hegt man mit 
oder vielmehr gegen uns?“ — „Sie ſollen getötet wer⸗ 
den, ſobald es Tag wird. Man wird das Dach Ihrer 
Kajüte einſchlagen und Stinktöpfe hineinwerfen.“ — 
„Alle Wetter! Bis dahin aber will man nichts unter⸗ 
nehmen?“ — „Nein. Wenn Sie dann je ausbrechen, ſo 
glaubt man, am Tage ſich beſſer gegen Sie verteidigen 
zu können.“ — „Alſo haben die Kerls doch Angſt vor 
uns?“ — „Sogar große Angſt. Sie haben doch bereits 
mehrere getötet.“ — „Hm. Und was wollen denn Sie 


= 10 


eigentlich bei uns?“ — „Ich mwoilte Sie um Ihre Hilfe 
bitten, denn ich ſelbſt bin allein zu ſchwach, um die 
Freiheit wieder zu erlangen.“ — „Wir ſind ja ebenſo 
wie Sie gefangen!“ — „Freilich wohl! Aber nach dem, 
was ich von Ihnen gehört habe, beſitzen Sie genug 
Mut, Entſchloſſenheit und Waffen, ſich wieder zu be⸗ 
freien. Darum wollte ich mich ſo gern in Ihren Schutz 
begeben.“ — „Das klingt alles ſehr gut, aber ich darf 
Ihnen nicht trauen.“ — „Sie dürfen es. Ich meine es 
ehrlich. Glauben Sie mir das!“ ' 

Da legte Gottfried dem Studenten die Hand auf 
den Arm und flüfterte ihm zu: „Dat klingt ſo jut und 
erbärmlich. Der Kerl kann mich leid tun. Laſſen Sie 
ihn rin in die Bude, oller Methuſalem!“ — „Es iſt zu 
gefährlich!“ — „Jefährlich? Dat will mich nicht ein⸗ 
leuchten. Wat kann uns ſo ein einzelner Mann an⸗ 
haben?“ — „Weißt du ſo genau, daß er allein iſt?“ — 
„Jenqau freilich nicht; aberſt es iſt wat in feine Rede, 
wat mich ins Herze jeht. Und wat verhindert Ihnen, 
dat Papier wegzunehmen und dann hinauszuſchauen, 
wat für Jeiſter draußen ſind?“ — „Das iſt richtig. 
Wollen ſehen.“ 

Er trat leiſe an die Tür, entfernte eines der Papiere 
und blickte durch das Kugelloch. Es war ſo ſternenhell 
auf dem Verdeck, daß er ſich genau orientieren konnte. 
Es war niemand da. Erſt als er das unterſte der 
Papiere wegnahm, ſah er den Mann, der draußen am 
Boden lag, das Geſicht nahe an die Tür gelegt. Er 
klebte die beiden Papiere wieder auf die Löcher und ſagte 
zu dem Wartenden: „Ich will es verſuchen. Entfernen 
Sie alſo die Stützen!“ 

Gleich nach dieſen Worten wurde draußen ein 
ſtoßendes und ſchiebendes Geräuſch hörbar, und dann 


— 173 — 


öffnete der Methuſalem die Tür, die ſich in ihren 
ledernen Angeln bewegte. Der Mann kam ſchnell her⸗ 
ein, und der Student verriegelte die Tür ſofort wieder. 
Dann muſterte er den Eingetretenen. 

Dieſer war ein junger Mann von vielleicht vier⸗ 
bis fünfundzwanzig Jahren. Er trug eine beſſere Klei⸗ 
dung als die Matroſen und ſogar deren Offiziere. 
Waffen ſah man bei ihm nicht. Er ergriff die Hand 
des Methuſalem und ſagte in herzlichem Ton: „Ich 
danke Ihnen, mein Herr! Nun darf ich doch Hoffnung 
haben, wieder frei zu kommen.“ 

„Hm!“ meinte der Student kopfſchüttelnd. „Ein 
Chineſe, welcher deutſch ſpricht und unter ſolchen Ver⸗ 
hältniſſen ſich uns vorſtellt, das iſt ungewöhnlich. Sie 
find doch Chineſe?“ — „Sogar Vollblutchineſe!“ — 
„Und weshalb ſprachen Sie uns deutſch an? Wie er⸗ 
fuhren Sie, daß wir Sie verſtehen würden?“ — „Ich 
hörte, daß der Amerikaner zu dem Ho⸗tſchang ſagte, 
daß Sie Deutſche ſeien.“ — „Hm. Was für einen Beruf 
haben Sie denn?“ — „Ich bin Kaufmann und handle 
mit Petroleum.“ — „Hm! Sie haben ein ehrliches 
Geſicht; ich möchte Ihnen gern mein Vertrauen ſchen⸗ 
ken, wenn nur der ſog. Herr „Sei⸗tei⸗ nei“ nicht wäre! 
Dieſer Rame iſt nicht chineſiſch!“ — „Das iſt richtig. 
Sprechen Sie vielleicht chineſiſch?“ — „Ja.“ — „Nun, 
ſo werden Sie wiſſen, daß wir fremde Worte nach 
unſrer Weiſe ausſprechen. Es fällt uns ſchwer, gewiſſe 
Konſonanten, wenn ſie nebeneinander ſtehen, richtig 
hervorzubringen. So ſagen wir z. B. ſtatt Chriſtus 
Chi⸗li⸗ſu⸗tu⸗ſu und anſtatt Spiritus Su⸗pi⸗l⸗i⸗tu⸗ſu.“ 
— „Das weiß ich; aber Sie ſelbſt ſprechen dieſe beiden 
Worte doch richtig aus!“ — „Nur weil ich mich jahre⸗ 
lang habe üben können. Der Name Sei-teisnei iſt auch 


4 


deutſch, aber mit chineſiſcher Zunge ausgeſprochen. Er 
heißt eigentlich ..“ 

„Halt!“ unterbrach der Methuſalem ihn ſchnell. 
„Sollte das möglich ſein! Was ahne ich! Sie ſprachen 
von Petroleum! Sie ſprachen ferner von einem Herrn 
Sei⸗tei⸗nei, der in der Provinz Hu⸗nan wohnt! Sei⸗ 
tei⸗nei! Da haben Sie ein ‚ei‘ zwiſchen die Konſo⸗ 
nanten und dann noch eines an das Ende des Wortes 
geſetzt, weil der einzige und eigentliche Vokal des ein⸗ 
ſilbigen Wortes eben auch ein ‚ei‘ iſt?“ — „So iſt es.“ 
— „Der Name lautet alſo Stein?“ — „Ja, Stein. 
Herr Stein iſt mein Pi⸗li⸗ni⸗zi⸗pa⸗la, mein Prinzipal.“ 
— „Wie iſt fein Vorname?“ — „Da⸗ni⸗ne⸗le, alſo Da⸗ 
niel.“ 

Da ſtieß Richard einen Schrei des Entzückens aus, 
eilte auf den Chineſen zu, faßte ihn an der Hand und 
rief: „Stein — Daniel — ein Deutſcher — in der 
Provinz Hu⸗nan — Sie kennen alſo meinen Oheim! 
Welch eine Ueberraſchung, welches Entzücken! Wie gut, 
daß wir Sie herein gelaſſen haben!“ 

Der Chineſe ſah den Jüngling erſtaunt an und 
fragte ihn: „Wie? Was? Sie kennen den Herrn?“ — 
„Natürlich! Er iſt ja mein Oheim!“ — „So ſind 
Sie .. . ſo haben Sie feinen Brief empfangen?“ — 
„Ja. Wiſſen Sie von dieſem Brief?“ — „Alles! Ich 
ſelbſt habe ihn ja nach Kanton zu unſerm Agenten ge⸗ 
bracht. Und eben jetzt wollte ich dieſen Agenten be⸗ 
ſuchen, um ihn im Auftrag meines Prinzipals zu fra⸗ 
gen, ob vielleicht eine Antwort eingelaufen ſei! Dabei 
bin ich unter die Piraten geraten.“ — „Ich ſelbſt bin 
die Antwort. Ich bin, anſtatt zu ſchreiben, ſofort ſelbſt 
abgereiſt. Onkel Methuſalem hier tat es nicht anders. 
Wir wollten nach Kanton zu dem Agenten, um uns zu 


— 175 — 


erkundigen, welche Reiſegelegenheit zu wählen ſei.“ — 
„Methuſalem? Auch ein Onkel?“ fragte der Chineſe. 
„Dieſen Namen habe ich noch nie gehört.“ 

„Er iſt ſehr ſelten,“ fiel der Blaurote lachend ein. 
„Es hat, ſeit die Erde ſteht, nur ein einziger außer mir 
noch ſo geheißen und der iſt nun leider endlich tot. Wir 
heißen Sie natürlich alle auf das herzlichſte willkommen. 
Zwar befinden wir uns gegenwärtig in keiner ange⸗ 
nehmen Lage, aber wir werden ſchon Mittel und Wege 
finden, uns zu befreien, und dann werden wir ſofort 
nach Hu⸗nan aufbrechen, oder genauer nach Ho⸗tſing⸗ 
ting. So heißt doch wohl der Ort?“ — „Ja, Herr. 
Er hat ſeinen jetzigen Namen erſt, ſeit Herr Stein ſich 
dort befindet.“ — „Dachte es mir. Ting bedeutet eine 
kleine Stadt, und Ho⸗tſing heiß ſoviel wie Feuer⸗ 
brunnen oder Feuerquelle. Der Ort würde alſo zu deutſch 
Feuerbrunnenſtadt heißen. Wir wiſſen, daß Herr Stein 
eine Petroleumquelle entdeckt hat. Darum, als Sie 
ſeinen Namen nannten und von Petroleum ſprachen, 
begann ich zu ahnen, daß Sie den meinen, welchen wir 
aufſuchen wollen.“ — „Welch ein Zuſammentreffen! 
Aber gehören Sie alle zuſammen? Sind Sie alle mit⸗ 
einander verwandt? Werden Sie alle nach Ho⸗tſing⸗ 
ting reiſen?“ — „Alle, dieſen einen Herrn ausgenom⸗ 
men, der uns wohl nicht ſo weit begleiten wird.“ 

Er zeigte auf den Dicken, welcher ebenſo wie der 
Kapitän und der Gottfried der Szene mit größtem In⸗ 
tereſſe gefolgt war. Die Begegnung mit dieſem Chi⸗ 
neſen, der ein Beamter des Onkels Daniel war, war 
eine ſo ungewöhnliche, daß man zunächſt faſt gar nicht 
an die Gefährlichkeit der Lage dachte, in welcher man 
ſich befand. Es gab ſo viel zu fragen und zu beant⸗ 
worten. Der Kapitän meinte kopfſchüttelnd: „Es hat 


— 176 — 


doch ſchon manches Schiff ſehr unerwartet meinen Kurs 
gekreuzt, aber eine ſo ſeltſame Begegnung iſt mir noch 
nicht vorgekommen!“ 

„Mich auch nicht,“ ſtimmte Gottfried bei. „Ich bin 
janz jerührt von dieſe Jüte des Schickſals. Ich möchte 
das Fatum beim Kopf nehmen und mich von ihm einen 
Kuß jeben laſſen. Kommen Sie her, oller Chineſige! 
Ich ſchüttle Sie die Hände und rufe ee ein herzliches 
Tſching⸗tſching⸗tſching entjegen!“ 

Er umarmte den Chineſen und küßte ihn auf die 
Wange. Darüber war der Dicke ſo gerührt, daß er ſich 
eine Träne aus dem Auge wiſchte und beinahe ſchluch⸗ 
zend ſagte: „Ik been ook uw vriend. Heb gij eene goede 
gezondheid?“ 

Der Chineſe ſah ihn fragend an, denn er hatte ihn 
nicht verſtanden. Der Methuſalem erklärte ihm: „Mijn⸗ 
heer von Aardappelenboſch verſichert, daß auch er Ihr 
Freund ſei, und erkundigt ſich, ob Sie eine gute Ge⸗ 
ſundheit beſitzen.“ 

„O, meine Geſundheit iſt ausgezeichnet,“ antwor⸗ 
tete nun der Chineſe. 

„En mijne gezondheid is niet goed. Ik ben altijd 
onpatelift — und meine Geſundheit iſt nicht gut; ich 
bin immer krank (allzeit unpäßlich).“ 

Der Chineſe wußte nicht recht, wie er zu dieſer in⸗ 
timen Mitteilung komme; der Mijnheer aber fuhr eifrig 
fort: „Gij alle zijt mijne vrienden. Ik reiz met naar 
Ho⸗tſing⸗ting. Gij zullt mij niet verliezen — Ihr alle 
ſeid meine Freunde. Ich reiſe mit nach Ho⸗tſing⸗ting. 
Ihr ſollt mich nicht verlieren.“ 

Er reichte allen die fetten Hände und empfing von 
ihnen die Verſicherung, daß dieſer ſein Entſchluß ihnen 


=. Wr. 


außerordentlich angenehm ſei. Darüber war er fo er⸗ 
freut, daß ſein Geſicht vor Vergnügen glänzte. 

Nun aber beſann ſich der Methuſalem auf den 
Ernſt der Lage. Er wagte es, die Tür zu öffnen und 
hinauszutreten. Als er wieder hereingekommen war 
und den Riegel vorgeſchoben hatte, berichtete er: „Es iſt 
wirklich niemand zu ſehen, dieſe Menſchen ſind außer⸗ 
ordentlich nachläſſig. Meinen ſie denn, uns ſo ſicher 
zu haben, daß ſie ſich gar nicht um uns zu kümmern 
brauchen?“ 

„So iſt es,“ antwortete der Chineſe. „Wir be⸗ 
finden uns auf hoher See und können ihnen alſo nicht 
davonlaufen.“ 

„Aber ſie uns auch nicht! Aus wie vielen Köpfen 
beſteht die Bemannung?“ 

„Es ſind über ſechzig Leute.“ 

„So viele habe ich nicht geſehen.“ 

„Sie hielten ſich verborgen.“ 

„Und wie ſind ſie bewaffnet?“ 

„Nach Ihren Begriffen herzlich ſchlecht, nach den 
unſrigen aber ſehr gut. Daß ſie mit Stinktöpfen ver⸗ 
ſehen ſind, haben Sie ja ſchon bemerkt; es ſind aber 
auch Kanonen vorhanden.“ 

„Wir haben noch keine geſehen!“ 

„Sie ſtecken in den Kiſten, die ſich unten im Raum 
befinden. Sobald der Tag anbricht, ſollen ſie aus dieſen 
Hüllen genommen und aufgewunden werden. Erſt 
dann wird die ‚Waſſerkönigin“ als Raubdſchunke zu er⸗ 
kennen fein.” 

„So iſt ſie jetzt auf Raub ausgelaufen?“ 

„Ja. Erſt ſollen Sie ermordet werden, dann will 
der Ho⸗tſchang auf Handelsdſchunken Jagd machen. Der 

Nay, Der blaurote Methuſalem. | 12 


— 178 — 


Raub wird dem Hui⸗tſchu, dem eise der Genoſſen⸗ 
ſchaft gebracht.“ 
W Welcher Art find dieſe Kanonen?“ 

„Von derjenigen, die bei uns Pao genannt wird. 
Eine jede hat ihren Namen. Nach dieſen Bezeichnungen 
müſſen die Geſchütze außerordentlich gefährlich ſein. Es 
gibt da einen ‚fpeienden Drachen“, einen sverſchlingen⸗ 
den Tiger‘, einen ‚fiegerziwingenden‘, einen ‚himmel⸗ 
jtürmenden‘ und einen ‚menfchenfrefjenden Pao“. Mit 
Ihren Geſchützen ſind aber dieſe Kanonen nicht zu 
vergleichen.“ 

„Und die Handwaffen?“ 

„Da gibt es Schwerter, Lanzen, Beile, Meſſer, 
Pfeile, Bogen und alte Piſtolen. Außerdem Flinten 
verſchiedenſter Art.“ 

„Sind dieſe letzteren gut?“ 

„Nein. Man hat alte Luntenflinten; dieſe werden 
Niao⸗tſiang genannt, was ſoviel wie Vogelflinte be⸗ 
deutet. Dann dreiläufige alte Gewehre; ſie führen den 
Namen San⸗yan⸗tſchung, „Flinte mit drei Oeffnungen“. 
ferner gibt es Schloßflinten; man nennt fie Tſe⸗lai⸗ho⸗ 
tſiang, ‚von ſelbſt losgehende Gewehre“. Auch Schrot⸗ 
flinten hat man; ſie führen die Bezeichnung Sian⸗tſiang, 
dünne Flinten“. Und endlich habe ich noch Wind⸗ 
büchſen geſehen; man nennt ſie Fung⸗tſiang, was ſoviel 
wie ‚Windgeivehr‘ bedeutet. In der Mandſchuſprache 
heißen ſie Tſchirgabuku miootſchan, was man als „Flinte 
mit eingeſperrter Luft überſetzen muß.“ 

„Nun, das iſt ja eine ganze Maſſe von Mordwerk⸗ 
zeugen. Man möchte ſich wirklich fürchten,“ lachte der 
Blaurote. 

„Sie fürchten ſich?“ fragte der Chineſe beſorgt. 

Er ſah den Studenten dabei ängſtlich an. Die 


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Chineſen ſind durchaus nicht wegen ihres perſönlichen 
Mutes berühmt, und dieſer hier machte ſehr wahrſchein⸗ 
lich keine Ausnahme. Er hatte zwar ein ganz ehrliches 
und vertrauenerweckendes Geſicht; aber er war klein 
und ſchmächtig und hatte keineswegs das Ausſehen eines 
furchtloſen Mannes oder gar eines Helden. Es war von 
ihm ſchon eine ſehr mutvolle Handlung geweſen, ſich von 
den Piraten loszuſagen und zu den Deutſchen zu gehen. 
Sollte ſeine Hoffnung etwa getäuſcht werden? In dieſem 
Fall hätte er es wohl für beſſer gehalten, bei den TChine⸗ 
ſen zu bleiben. Um ihn in dieſer Beziehung auf die 
Probe zu ſtellen, erwiderte der Methuſalem: „Ganz 
geheuer iſt es mir natürlich nicht. Mehr als ſechzig 
Feinde, welche in dieſer Weiſe bewaffnet find! Was 
können wir gegen die Kanonen tun?“ 

„O wehe, Herr! halten Sie es für gefährlich?“ 

„Sehr!“ 

„So raten Sie mir wohl, mich lieber wieder fort⸗ 
zuſchleichen, damit die Piraten gar nicht erfahren, daß 
ich bei Ihnen geweſen bin?“ 

„Ich kann Ihnen weder zu⸗ noch abraten. Aber ich 
denke, daß Ihr Platz bei dem Neffen Ihres Prin⸗ 
sipals iſt.“ 

„Da werde ich ja erſchoſſen!“ 

„Pah! Glauben Sie das nicht! Ich habe Sie nur 
prüfen wollen und da leider erfahren, daß wir im Fall 
eines Kampfes auf Sie nicht allzuſehr rechnen dürfen. 
Aber es kann nicht jeder ein großer Krieger ſein; es 
muß auch Männer des Friedens geben, Kaufleute, 
Petroleumhändler und andere. Ich denke, daß wir Sie 
mit durchſchleppen werden. Oder, ſagen Sie, Mijnheer, 
wollen wir etwa auch, um unſer Leben zu retten, See⸗ 
räuber werden?“ 


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„Ik niet,“ antwortete der Gefragte. „Ik heb 
geweeren en een mes. Ik ben een groote veldheer — 
ich nicht. Ich habe Gewehre und ein Meſſer. Ich bin 
ein großer Feldherr.“ 

„Und du, Gottfried?“ 

„Na, wenn Sie mir fragen, ſo können Sie mich 
leid tun!“ polterte der Pfeifenträger. „Eine Handvoll 
Chineſen werden doch mir nicht aus der Faſſung brin- 
gen. Dieſe Kerls blaſe ich mit meine Oboe an, daß ſie 
nur ſo durch die Lüfte fliegen.“ 

„Schön! Und Sie, Kapitän?“ 

„Auch mich fragen Sie?“ meinte Turnerſtick. „Ich 
kann Ihnen weiter nichts ſagen, als daß ich ein See⸗ 
mann bin, der in Gefahren groß geworden iſt.“ 

„Gut, ſo ſind wir alſo einig. Was nun tun? Wo 
ſchlafen die Matroſen?“ 

Dieſe Frage war an den Chineſen gerichtet. Er ant⸗ 
wortete: „Unten im Raum bei den Kanonen.“ 

„Schlafen ſie ſtets da unten?“ 

„Ja.“ 

„So iſt die Einrichtung eine ganz andre als auf 
unſern Schiffen. Drei Wachen und der Steuermann auf 
Deck und die andern alle unten. Eine heilloſe Wirt⸗ 
ſchaft, beſonders für einen Piraten! Wo ſchläft der 
Kapitän?“ 

„Gewöhnlich hier nebenan,“ antwortete der Chineſe. 
„Heute aber wagte er das nicht, da er Ihre Gewehre 
fürchtete. Die Kugeln dringen durch die dünne Wand. 
Er befindet ſich mit dem Schiffsherrn und dem Prieſter 
in der hintern Kajüte.“ 

„Das iſt gut. Aber ſagen Sie mir zunächſt, wie ich 
Sie nennen ſoll. Sie haben uns Ihren Namen noch 
nicht geſagt.“ 


— 181 — 


„Mein Titelname iſt Liang⸗ſſi.“ Dieſer Name be⸗ 
deutet zu deutſch: ‚gute Geſchäfte“ und ließ auf geſchäft⸗ 
liche Tüchtigkeit ſeines Trägers ſchließen; kriegeriſcher 
Sinn aber war da nicht zu erwarten. 

„Mich,“ ſagte der Student, „können Sie verſchieden 
nennen. Ich heiße Degenfeld, zuweilen auch Methu⸗ 
ſalem. Wollen Sie ſich aber lieber des Chineſiſchen be⸗ 
dienen, fo rufen Sie mich Tſing⸗hung“. 

„Tſing⸗hung?“ fragte der Chineſe erſtaunt. „Das 
heißt ja der Blaurote! Nennt man Sie ſo?“ 

„Jawohl, und zwar wegen meiner Naſe; es iſt 
mein Scheng ming.“ 

„Ihr Studentenname? Was haben Sie ſtudiert?“ 

„Das, was Sie Tſchu nennen.“ 

„Das heißt alles?“ 

„Ja. Ich hatte wenig Luſt, aber ſehr viel Zeit; 
darum lernte ich alles, und kann nun nichts. Doch er⸗ 
lauben Sie mir, Ihnen die Namen der andern Herren 
zu nennen! Dieſer Herr iſt Kapitän Turnerſtick, welcher 
Name von einem Chineſen, der unſre Sprache nicht 
kennt, wie Tu⸗ru⸗ne⸗re⸗ſi⸗ti⸗ki ausgeſprochen würde. 
Hier mein Diener Gottfried, welches Wort wie Go⸗to⸗ 
to⸗fi⸗ri⸗di lauten müßte. Und nun dieſer, mein lieber 
Freund, heißt Aardappelenboſch; ein Prachtchineſe 
würde jagen A⸗ra⸗da⸗pa⸗pe⸗le⸗ne⸗bo⸗ſcho. Und nun muß 
ich unſeren lieben Kapitän Tu⸗ru⸗ne⸗re⸗ſi⸗ti⸗ki etwas 
fragen: wie viele Hände braucht ſo ein Ho⸗tſchang, um 
mit oder auf der Dſchunke ein Manöver ausführen zu 
laſſen?“ 

„Da muß ich wiſſen, welches.“ 

„Wenden.“ 

„Wenden? Hm! Das kommt ſehr auf den Wind an.“ 

„Ich meine den jetzigen.“ 


— 182 — 


„Alſo Landwind. Wir gehen vor dem Wind. Eine 
ſolche Dſchunke iſt ein ſehr ungehorſames Ding. An⸗ 
kreuzen kaun man nur ganz wenig. Warum fragen 
Sie?“ 

„Wir fahren nach Hong⸗kong zurück.“ 

„Nach — Hong — kong?“ dehnte Turnerſtick. „Sind 
Sie verrückt? Die Chineſen werden ſich hüten, umzu⸗ 
kehren!“ 

„Das denke ich auch. Wir fragen fie aber gar 
nicht.“ N 

„Alle Teufel! Ich verſtehe! Maſter Methuſalem, 
welch ein Streich! So etwas wäre noch nie dageweſen.“ 

„Deſto beſſer! Ich tue gern etwas, was andre nicht 
fertig bringen. Alſo, wie viele Hände brauchen Sie, 
wenn Sie das Kommando der ‚Königin des Waſſer 
übernehmen?“ 

„Will ſehen.“ Er öffnete leiſe die Tür, trat hinaus 
und ſah ſich um. Sein ſcharfes Seemannsauge erkannte 
den Wächter, der ſchlafend am großen Maſt ſaß. Er 
prüfte das Schiff, die See, den Wind, kehrte dann in die 
Kajüte zurück und ſagte: „Landwind und Ebbe, da iſt 
bei dieſer Takelung und mit den wenigen und ſchweren 
Mattenſegeln nichts zu machen.“ 

„Wirklich gar nichts?“ 

„Ja. Höchſtens könnte man die Segel fallen laſſen, 
aber dennoch würde man durch die Ebbe weiter in See 
getrieben werden.“ 

„Können Sie nicht wenigſtens beidrehen?“ 

„Ja, wir können uns eben vor. Topp und Tafel 
legen, aber es nützt uns nichts. Zwar iſt die Dſchunke 
in ihrer Art ſehr gut gebaut. Ich müßte es doch ver⸗ 
ſuchen, indem ich die Segel killen und lähnkich braſſen 
laſſe. Wenn ich ſelbſt das Steuer nehme, ſo kann ich es 


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vielleicht fertig bringen, daß wir wenigſtens keine Fahrt 
machen. Wir treiben dann nicht weiter in See und 
können warten, bis früh der Seewind aufkommt und 
nachher die Flut eintritt. Mit beiden können wir nach 
Hong⸗kong zurück.“ 

„Gut, machen wir es ſo! Alſo wie viele Leute ſoll 
ich Ihnen zur Verfügung ſtellen?“ 

„Zur Verfügung? Können Sie denn die Matroſen 
ſo aus den Aermeln ſchütteln?“ 

„Ja. Unſer Freund Liang⸗ſſi geht hinunter zu den 
Chineſen und ſchickt uns unter irgend einem Vorwand 
ſo viele wie Sie brauchen herauf. Er muß ſie einzeln 
wecken und ebenſo einzeln ſchicken, damit unten keiner 
von dem andern etwas weiß. Die übrigen dürfen nicht 
erwachen. So wie die Kerls einzeln kommen, über⸗ 
wältigen wir ſie. Dann ſind ſie gezwungen, zu tun, 
was wir wollen. Die andern nageln wir ein, daß ſie 
nicht herauf können.“ 

„Herrlicher Gedanke! Methuſalem, Sie ſind ein 
Prachtkerl!“ 

„Ja,“ ſtimmte der Dicke bei, „hij wil het gaanze 
ſcheep muiſen — ja, er will das ganze Schiff mauſen!“ 

„Ja, dat wollen wir!“ fiel Gottfried luſtig ein. 
„Donner und Doria, wat werden die daheim im Jeld⸗ 
briefträger von Ninive für Jeſichter machen, wenn wir 
ihnen erzählen, daß wir fünf Perſonen eine janze 
Dſchunke mitſamt die Bemannung jeſtohlen und in die 
Weſtentaſche davonjetragen haben!“ 


„Iſt es nicht zu gefährlich?“ fragte der Chineſe. 
„Nein,“ antwortete der Methuſalem. 
„Aber ich ſoll die Leute heraufſchicken?“ 


— 184 — 


„Die werden Sie nicht freſſen!“ beruhigte ihn der 
Kapitän. „Sinnen Sie ſich nur einen guten Vorwand 
aus! Gibt es Stricke hier in der Nähe?“ 

„Genug, in dem Behältnis vor dieſer Kajüte.“ 

„Dahinein kann man aber nur von oben gelangen?“ 

„Ja.“ 

„Und da ſteht der Vorderpoſten, das iſt unange⸗ 
nehm!“ 

„Gar nicht!“ ſagte der Methuſalem. „Ich werde 
gleich ein Wort mit dem Mann ſprechen. Paſſen Sie 
'mal auf! Gottfried mag mitgehen und ſein Taſchen⸗ 
tuch als Knebel bereit halten.“ 

Die beiden verließen die Kajüte. Sie ſahen die 
Leinen, an denen am Abend die Laternen gehangen 
hatten. Der Methuſalem ſchnitt ein Stück davon ab, 
um es als Feſſel gebrauchen zu können. Er ſah den 
ſchlafenden Mann am Großmaſt ſitzen und flüſterte 
Gottfried zu: „Ich faſſe ihn bei der Kehle. Er wird den 
Mund öffnen, um zu ſchreien oder Atem zu holen. Da 
ſteckſt du ihm dein Taſchentuch ſo weit wie möglich 
hinein.“ 

„Schön! Werde ihm jut bedienen!“ 

Geräuſchlos ſchlichen fie ſich heran“ dann legte 
Degenfeld dem Mann die Hände um den Hals. Er 
wollte erſchrocken auffahren und ſchreien. Im Nu ſchob 
ihm der Wichſier das Tuch in den Mund. „So!“ nickte 
der letztere. „Der ſingt uns nun keine Quadrille vor. 
Soll ich ihn binden? Halten Sie ihm jetroſt feſt!“ 

Der ſo unzart Ueberraſchte ſchlug mit Händen und 
Füßen um ſich, konnte aber nicht verhüten, daß Gott⸗ 
fried ihn ſo feſſelte, daß er ſich nicht mehr zu bewegen 
vermochte. 


185 


„Mit dem ſind wir fertig,“ meinte Degenfeld. „Nun 
nach vorn!“ N 

Dort führte eine ſchmale Treppe neben der Kajüte 
auf deren Dach. Sie ſtiegen leiſe die Stufen hinan und 
ſahen den Poſten ſchlafend oben ſitzen. Es erging ihm 
genau ſo, wie ſeinem Kameraden. Der Methuſalem 
hatte ſein Taſchentuch herausgezogen, um ihn damit zu 
knebeln; aber Gottfried ſagte: „Laſſen Sie es in der 
Taſche! Wir brauchen unſre Jelegenheitstücher ſelber. 
Ich ſchneide ihm ein Stück von ſeinem Schlafrock ab. 
Dat wird dieſelben Dienſte tun.“ 

So geſchah es. Dann ſtiegen die beiden wieder 
hinab, um den Kameraden zu ſagen, daß ihr Vorhaben 
glücklich ausgeführt worden ſei. 

„Nun haben wir noch zwei,“ meinte Turnerſtick, 
„den Hinterpoſten und den Steuermann. Dabei muß 
ich ſein, des Steuers wegen. Es iſt geraten, es feſtzu⸗ 
binden.“ 

Jetzt wurde zunächſt Liang⸗ſſi in das kleine Käm⸗ 
merchen nach Stricken geſchickt. Dann begaben ſich 
Richard und der Mijnheer leiſe zur Mittellucke, um 
den Eingang zum Matroſenraum zu überwachen, wäh⸗ 
rend die vier andern alle nach dem Hinterteil des 
Schiffes ſchlichen; hier führte auch eine Treppe hinauf 
auf das hohe Quarterdeck. Auf deren Stufen ſaß die 
Wache und — — ſchlief. Sie wurde leicht und in der⸗ 
ſelben Weiſe wie die beiden andern bewältigt. 

Dann galt es noch dem Steuermann, der jeden⸗ 
falls wach war. Deshalb konnte man ſeiner nicht ſo 
leicht Herr werden, und doch mußte alles Geräuſch ver⸗ 
mieden werden, da der Ho⸗tſchang unter ihm ſchlief. 
„Wie fangen wir es an?“ fragte Turnerſtick. „Wenn wir 
— ah, ich bin ja als Chineſe angezogen; er wird mich 


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alſo für einen der Leute halten. Paſſen Sie auf! Sobald 
ich ihn habe, kommen Sie mit den Stricken nach.“ 

„Greifen Sie aber ja feſt zu, daß er nicht ſchreien 
kann!“ 

„Keine Sorge! Die Kehle, die ich in meine Hand 
bekomme, bringt ſicherlich keinen Laut hervor.“ Während 
die andern zurückblieben und nur heimlich über die 
Kante des Quarterdeckes lugten, ſtieg Turnerſtick die 
wenigen Stufen hinan und ging ſtracks auf den To⸗kung 
zu. Dieſer fragte ihn in mürriſchem Ton, was er wolle. 
Er hielt ihn in der Dämmerung wirklich für eine der 
Wachen. 

„Das kangſt du noch frageng?“ antwortete der 
Kapitän. „Ich will 'mal deinen Hals unterſuching, 
Burſche. Da, warte, du erbärmlicher ſpitzbübiſcher Ha⸗ 
lunking!“ Während er dieſe prachtvolle chineſiſche Ant⸗ 
wort gab, legte er ihm die Seemannshände um den 
Hals und drückte dieſen fo feſt zuſammen, daß der Steuer⸗ 
mann lautlos zuſammenbrach. Er wurde gefeſſelt und 
geknebelt wie die andern. 

„Das geht gut,“ meinte Liang⸗ſſi. „So leicht habe 
ich es mir nicht vorgeſtellt.“ 

„Na, ſo leicht, wie es den Anſchein hat, iſt es frei⸗ 
lich nicht,“ antwortete Gottfried. „Wenn Sie etwa dat 
Jejenteil behaupten, ſo verſuchen Sie es nur einmal 
mit dem Ho⸗tſchang, der nun wohl an die Reihe kommt.“ 

„Ich danke, ich danke! Ich würge keinen ab!“ 

„Wir auch nicht. Wir ſäuſeln ihnen nur ſo ein bis⸗ 
ken um die Gurjel, aberſt leben laſſen tun wir ihnen 
doch. Ich wenigſtens habe keine Luſt, mir als Mörder 
an den Galjen offknobeln zu laſſen. So wat iſt meine 
Paſſion nie nicht jeweſen, weshalb ich mir noch jetzt 
des beſten Wohlſeins erfreue.“ 


— 187 — 


Turnerſtick band raſch das Steuerrad feſt, dann 
forderte der Methuſalem den Chineſen auf, ihnen zu 
zeigen, wo der Ho⸗tſchang mit dem Eigentümer des 
Schiffes ſchlafe. Das war unterhalb des Steuers in der 
Achterkajüte. Auch der Prieſter befand ſich dort. 

Es waren Stellen da, an denen die dünne Wand 
nicht ſchloß. Ein Lichtſchein drang durch die Fugen. 
Degenfeld trat hinzu und blickte hinein. Er konnte nicht 
den ganzen Raum ſehen, erkannte aber doch die drei 
Männer, welche auf dicken Strohdecken ſchliefen, die auf 
dem Fußboden lagen. Von der niedrigen Decke hing 
eine Papierlaterne herab. „Die Dummheit und Sorg⸗ 
loſigkeit dieſer Menſchen ſind wirklich faſt noch größer 
als ihre Schlechtigkeit,“ ſagte er. „Sie müſſen voll⸗ 
ſtändig überzeugt ſein, uns feſt im Sack zu haben. Uns 
fo zu behandeln und dennoch wie die Raten zu ſchlafen, 
das iſt Stark! Sie verlaſſen ſich allzu ſehr darauf, daß fie 
unſre Tür verrammelt haben. Schläft die Mannſchaft 
unter ihnen?“ 

„Nein,“ antwortete Liang-ffi. „Die Leute liegen 
alle im Mittelraum, alſo mehr nach vorn.“ 

„So können wir immerhin ein wenig Lärm ris⸗ 
kieren, der ſich auch gar nicht vermeiden läßt, da ſie ſich 
eingeriegelt haben. Gibt es ſtarke Nägel und einen 
Hammer?“ 

„Ja, da wo die Stricke lagen.“ 

„Holen Sie das, während wir hier dieſen Herr⸗ 
ſchaften einen guten Morgen ſagen!“ ö 

Der Chineſe ging. Degenfeld ſah nach, an welcher 
Stelle der Tür ſich innen der Riegel befand. Dann 
ſtemmte er ſich dagegen und ſprengte die Tür. Die drei 
Schläfer erwachten und richteten ſich halb auf. Der 
Blaurote hatte ſeine beiden Revolver gezogen, Gottfried 


— 188 — 


und Turnerſtick ebenſo. „Bleibt ſitzen, oder ihr bekommt 
die Kugeln!“ herrſchte der Methuſalem die Erſchrockenen 
in engliſcher Sprache an. „Wer einen Laut hören läßt, 
ohne daß ich es ihm erlaubt habe, der iſt verloren!“ 

Die Geſichter, die ſie zeigten, hätte kein Maler 
wiedergeben können. Sie ſtarrten die Eingetretenen ſo 
entſetzt an, als ob ſie Geiſter vor ſich hätten. „Sie — 
Sie ſind es?“ ſtammelte endlich der Ho⸗tſchang. „Was 
wollen Sie?“ 

„Uns für das Opium bedanken, das ihr uns bei⸗ 
gebracht habt.“ 

„Opium? Was meinen Sie?“ 

„Stellen Sie ſich nicht unwiſſend! Sie haben uns 
Opium in das Getränk getan, um uns zu betäuben!“ 

„Nein, Herr! Aus welchem Grund hätten wir das 
tun ſollen?“ 

„Um uns zu berauben und zu ermorden.“ 

„Tien⸗na! Himmel! Halten Sie uns für Mörder?“ 

„Allerdings. Meint ihr, wir wiſſen nicht, daß eure 
Schui⸗heu“ eine Piratendſchunke iſt?“ 

„Herr, was ſagen Sie! Ich werde ſofort alle meine 
Leute kommen laſſen, die bezeugen können, daß wir 
ehrliche Menſchen find.” 

Er wollte aufſtehen. Der Methuſalem hielt ihm 
den Revolver gegen die Stirn und gebot: „Sitzen blei⸗ 
ben, ſonſt ſchieße ich! Ich glaube wohl, daß Sie Ihre 
Leute gern rufen möchten!“ 

„Herr, der Himmel und die Erde ſind meine Zeu⸗ 
gen, daß wir ehrlich ſind; Sie ſelbſt ſind es, die unſre 
Freundſchaft mit Undank vergolten haben. Sie haben 
drei meiner Leute erſchoſſen und dabei noch einen vier⸗ 
ten verwundet!“ 


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„So hat die eine Kugel ſogar zwei getroffen; das 
freut mich außerordentlich. Warum haben Sie Löcher in 
unſre Tür gebohrt?“ 

„Um zu ſehen, ob Sie ſchliefen.“ 

„Woher brauchten Sie das zu wiſſen? Und warum 
ſchickten Sie dann einen Mann an der Schiffswand 
herunter nach unſrer Luke?“ 

„Weil Sie uns nicht erlaubten, durch die Tür zu 
jehen.” 

„Alberne Ausrede und Lüge! Der Mann follte 
einen Hithu⸗iſchang zu uns hereinwerfen! Warum find 
Sie nicht bis zum Vormittag in Hong⸗kong geblieben?“ 

„Sind wir denn nicht mehr dort?“ 

Er machte zu dieſer Frage ein ſo dreiſtes Geſicht, 
daß der Methuſalem ihn empört anfuhr: „Verſtellen Sie 
ſich nicht! So ein Kerl wie Sie bringt es nicht fertig, 
uns zu täuſchen. Sie ſind von Anfang an darauf aus⸗ 
gegangen, ſich unſer zu bemächtigen. Warum haben Sie 
uns durch den Amerikaner belauſchen laſſen?“ 

„Amerikaner? Wen meinen Sie?“ 

„Den Menſchen, der ſich für einen Malaien aus⸗ 
geben mußte.“ 

„Das iſt er ja auch!“ 

„Er wird uns das beweiſen müſſen! Dann, als er 
Ihnen unſre Reden mitgeteilt hatte, konnte Ihr Geiſt 
meine Frage allerdings ſehr leicht beantworten.“ 

„Das kann er ſtets, der Geiſt iſt allwiſſend.“ 

„Wirklich? Hm. Der Geiſt hat Ihnen auch geſagt, 
daß Sie und wir alle glücklich nach Kanton kommen 
werden. Darin hat er ſich nun leider doch geirrt, denn 
wir werden zwar Kanton ſehen, Sie aber kommen nie 
im Leben wieder hin.“ 

„Wieſo?“ 


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„Weil man Sie in Hongkong ein wenig aufhängen 
wird, wie man mit Seeräubern zu verfahren pflegt.“ 

Der Ho⸗tſchang blickte feine beiden Nachbarn an, 
als ob er Hilfe bei ihnen ſuche; ſie wichen aber ſeinen 
Blicken aus und wagten auch nicht, ein Wort zu ſprechen. 
Dieſe Menſchen waren feig. Als er ſah, daß ſie ihm die 
Verteidigung überließen, beteuerte er: „Herr, alles, was 
Sie uns vorwerfen, beruht auf einem großen Irrtum, 
der ſich ſofort aufklären läßt, wenn Sie mir erlauben, 
meine Leute zu rufen.“ 

„Ich brauche nur einen einzigen von ihnen, und der 
iſt hier. Wollen Sie jetzt noch immer leugnen?“ Liang⸗ſſi 
war eingetreten, nachdem er erſt vorſichtig herein⸗ 
geſehen hatte. Als der Ho⸗tſchang ihn erblickte, ver⸗ 
ſtummte er, warf aber einen wütenden Blick auf ihn. 

„Nun, antworten Sie doch! Wozu ſind die Kanonen 
unten in den Kiſten?“ 

„Sollen denn Kanonen in den Kiſten ſein?“ lautete 
die freche Gegenfrage. „Führen Sie uns hinab, ſo werde 
ich Ihnen beweiſen, daß dies eine Lüge ift!“ 

„Dazu habe ich keine Luſt, weil Ihre ehrlichen 
Marxoſen dort ſchlafen. Aber in Hongkong wird man 
Sie ſchon zum Geſtändnis bringen.“ 

„Gut, ſo laſſen Sie mich hinaus! Das Schiff ſcheint 
ſich losgeriſſen zu haben und mit der Ebbe in See ge⸗ 
gangen zu ſein. Ich werde es zurückführen, und dann 
bringen Sie Ihre Klagen bei dem Hing⸗kuan!) an!“ 

„Dieſen Rat werde ich nicht befolgen. Um die 
Dſchunke nach Hongkong zurück zu bringen, brauchen 
wir Sie nicht. Und wenn wir dort angekommen ſind, 
werden wir zwar Klage erheben, aber nicht bei Ihrem 


u Juſtis- Mandarin. 


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Kuan, ſondern bei unſern Konſuln. Dieſen werden wir 
auch das Schiff ausliefern.“ 

Die Kerls erbleichten. 

„Herr, das dürfen Sie nicht!“ rief der a 

„Warum nicht? Weil es Ihnen dann ſchnell an den 
Hals geht? O, wir kennen das Rechtsverfahren Ihres 
Landes! Wir haben keine Luſt, auf die Entſcheidung 
von ſechs Untergerichten zu warten und dann noch zu 
erfahren, daß der Tutſcha⸗yuen!) oder der Ta⸗ki⸗ſſe“) Sie 
doch noch laufen läßt. Sie ſind Räuber; das beweiſen 
wir. Sie haben uns, die wir Ausländer ſind, ermorden 
wollen, alſo gehört die Angelegenheit vor die Vertreter 
der Länder, deren Bürger wir ſind. Und dieſe Konſuln 
werden dafür ſorgen, daß Ihnen der Strick bald um den 
Hals zu liegen kommt! Gottfried, Kapitän, binden Sie 
die Kerls!“ 

Dieſe letztere Aufforderung wurde natürlich in 
deutſcher Sprache geſprochen. Der Ho⸗tſchang und feine 
beiden Spießgeſellen wagten angeſichts der drohenden 
Revolver des Methuſalem keinen Widerſtand und ließen 
ſich binden und ſogar knebeln. 

Nun galt es, ſich der Mannſchaft zu verſichern. 
Turnerſtick ſagte, daß er höchſtens zehn Mann zur Be⸗ 
dienung des Schiffes brauche. Da man unter den ſieben 
Gefangenen ſchon fünf Seeleute hatte, benötigte man 
nur noch weitere fünf. Die ſollte Liang⸗ſſi einzeln her⸗ 
aufſchicken, unter dem Vorwand, der Ho⸗tſchang wolle 
fie heimlich ſprechen. Da bis jetzt alles fo gut abgelaufen 
war, erklärte er ſich dazu bereit und ſtieg durch die 
Mittelluke in den Raum hinab. Von ſeiner Klugheit 
hing das fernere Gelingen des Handſtreichs ab. Hoffent⸗ 
lich war ſeine Verſchlagenheit größer als ſein Mut. Die 

) Großunterſuchungsrichter. — 9) Kaffationshof. | 


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fünf verbargen ſich hinter mehreren großen Körben und 
leeren Kiſten, an denen die Leute vorüber mußten. 
Stricke waren nach Bedarf vorhanden. 

Der erſte kam. Als er vorüber wollte, wurde er 
von Degenfeld und Gottfried gepackt. Der Schreck ließ 
ihn verſtummen, und das übrige taten die Drohungen, 
die er zu hören bekam. Er wurde mit beiden Händen an 
den Vordermaſt gebunden. 

Ebenſo erging es den andern. Liang⸗hſſi entledigte 
ſich ſeiner Aufgabe auf das vortrefflichſte und ſchickte 
nach und nach fünf Perſonen herauf, ohne daß die 
andern aufgeweckt wurden. Dieſe wurden ſtets auf die 
beſchriebene Weiſe feſtgenommen und an die Maſten 
oder das Geländer gebunden. 

Hierauf kam Liang⸗ſſi ſelbſt wieder auf das Deck. 
„Sie haben Ihre Sache weit beſſer gemacht, als ich es 
Ihnen zutraute,“ lobte ihn Degenfeld. „Jetzt nageln wir 
die Luke zu und wälzen einige von dieſen ſchweren Kör⸗ 
ben darauf. Dann ſoll es keinem gelingen, den Deckel 
aufzuſprengen.“ 

Als die Hammerſchläge ertönten, erwachten natür⸗ 
lich die im Raum befindlichen Matroſen. Sie kamen die 
Lukentreppe herauf, um zu erfahren, was der Lärm zu 
bedeuten habe. Als ſie nun erfuhren, daß die Luke ver⸗ 
nagelt wurde, erhoben ſie ein wildes Geſchrei und ver⸗ 
ſuchten, ſie aufzuſprengen, was ihnen aber nicht gelang. 
Man drohte ihnen mit ſcharfen Schüſſen und bald ver⸗ 
ſtummte das Rufen und Klopfen; ſie waren einge⸗ 
ſchüchtert. 

Dennoch beorderte der Methuſalem Richard Stein 
an die Luke, um da als Wache zu bleiben. 

Jetzt war man ſo weit, daß der Kapitän ſeine 
Manöver beginnen konnte. Er ſtieg hinauf an das 


— 193 — 


Steuer, um dieſes zu regieren und von da aus ſeine Be⸗ 
fehle zu erteilen. Die zehn Chineſen ſollten die Aus⸗ 
führung übernehmen und dabei von Degenfeld, Gott⸗ 
fried, dem Mijnheer und Liang⸗ſſi überwacht werden. 
Wer ſich nicht gehorſam zeigte, ſollte augenblicklich er⸗ 
ſchoſſen werden. Dies wurde ihnen geſagt; keiner hatte 
eine Waffe, und die Feſſeln wurden ihnen nur ſo weit 
gelockert, als unbedingt notwendig war. Darum ſahen 
ſie ein, daß ſie ſich fügen müßten, und verzichteten auf 
allen Widerſtand. Jedenfalls war nebenbei ihre Ver⸗ 
blüffung ſo groß, daß ſie gar nicht auf den Gedanken 
kamen, ſich zu wehren. 


Turnerſtick hatte dem Methuſalem bedeutet, drei 
Matroſen an den Vor⸗, drei an den Hinter⸗ und vier an 
den Großmaſt zu poſtieren. Dieſe Kräfte waren ge⸗ 
nügend, die Taue zu regieren, welche an die beiden Enden 
der Raagen, alſo an die Oberecken der Segel befeſtigt 
ſind. Dieſe Taue werden bei uns Braſſen genannt. Sie 
dienen dazu, die Segel horizontal zu bewegen, damit der 
Wind mehr oder weniger auf deren Fläche trifft. 
Die Braſſen nach der Windſeite heißen Luvbraſſen; 
die andern werden Leebraſſen genannt. Voll braſſen 
heißt, die Segel ſo richten, daß ſie den Wind ſenkrecht 
auf ſich auffangen; in den Wind braſſen oder lähnlich 
braſſen heißt, die Segel ſo ſtellen, daß der Wind ſie nur 
am Rand trifft. 

Als der Kapitän ſah, daß die Leute ihre Plätze ein⸗ 
genommen hatten, kommandierte er: „Hoiho, ihr Jun⸗ 
gengs, aufpaſſeng, aufpaſſing, aufpaſſong!“ 

Sie blickten nach ihm hin, verſtanden ihn aber nicht. 
Als er die Geſichter der Hinterbordmannen auf ſich ge⸗ 
richtet ſah, fuhr er fort: „All Hand an Steuerringbor⸗ 

Ray, Der blaurote Methuſalem. 13 


— 194 — 


ding! Nehmt die Leebraſſeng! Holt ſcharf an! Feſt 
zieheng, ziehing, ziehung!“ 

Sie ſtanden da und wußten nicht, was ſie machen 
ſollten. „Alle Teufling, könnt ihr nicht höring! Könnt 
ihr nicht chineſiſch verſtehung! Gebt die Luvbraſſeng frei, 
und holt im Lee feſt an! Anholeng, anholing, anholung!“ 

Jetzt nahmen Degenfeld und Liang⸗ſſi ſich der Sache 
an, indem ſie die Worte des großen Chinologen halb⸗ 
laut verdolmetſchten. Die Befehle wurden ausgeführt 
und zwar ſo leidlich, daß Turnerſtick vom Steuer her 
fragte: „Nun, Maſter Methuſalem, was ſagt man jetzt 
zu meinem Chineſiſch? Tüchtiger Kerl, der Frick Tur⸗ 
nerſtick, nicht? Kann in allen Dialekten kommandieren!“ 

„Ja, es iſt erſtaunlich!“ antwortete Degenfeld. 

„Habt mir's ſo gar nicht zugetraut, weiß es ſchon. 
Habe aber da mal Leute gefunden, die das richtige Hoch⸗ 
chineſiſch im Kopf haben. Paßt nur mal auf!“ 

Und mit donnernder Stimme gebot er weiter: „Jetzt 
ganz in den Wind die Braſſeng, ganz, ganz, vollſtändig, 
vollſtändang, vollftändung! Legt ſie feſt, feſtlegang, feſt⸗ 
leging — leging — legang!“ Da der Befehl den Leuten 
wieder verdolmetſcht wurde, was Turnerſtick entweder 
gar nicht hörte oder doch nicht hören wollte, ſo wurde 
er vollzogen. 

„So iſt's brav; jo iſt's gut!“ rief er. „Fällt ſchon 
ab nach Steuerbord, die alte Dſchunke. Macht ſo fort, 
ihr Burſche, Burſching, Burſcheng, Burſchung!“ 

Ganz ebenſo ging es bei den folgenden Komman⸗ 
dos. Er brachte es wirklich ſo weit, daß das Fahrzeug 
ohne Fahrt lag, band das Ruder wieder feſt und kam 
dann herabgeſtiegen, um die Matroſen aufs neue an⸗ 
binden zu laſſen. Nun klopfte er Degenfeld auf die Achſel 
und ſagte in vergnügtem Ton: „Ja, meine Endungen, 


— 195 — 


meine Endungen, beſter Methuſalem. Wenn doch auch 
Sie ſich mit ihnen befreunden wollten!“ 

„Werde mich bemühen! Aber wie ſteht es? Die 
Dſchunke macht doch einen Bogen?“ 

„Scheint nur ſo, ſcheint nur ſo. Sie liegt bei, ganz 
feſt bei. Nun warten wir den Morgenwind, der be⸗ 
kanntlich nach dem Lande bläſt, und die Flut ab. Dann 
geht's nach Hongkong zurück.“ 

„Sind wir weit davon entfernt?“ 

„Weiß es nicht genau. Habe keine Inſtrumente mit 
und kann mich auf die Karten dieſes Ho⸗tſchang nicht 
verlaſſen. Habe auch unſer „In die See ſtechen“ ganz 
verſchlafen. Vermute aber, daß wir uns noch vor der 
Mirs⸗Bai befinden. Muß den Morgen abwarten.“ — 

Der kühne Handſtreich war gelungen. Sechs Per⸗ 
ſonen, Liang⸗ſſi eingerechnet, hatten ſich einer Piraten⸗ 
dſchunke bemächtigt, deren Bemannung eine zehnmal 
ſtärkere war. Die Freude darüber wirkte beſſer als alle 
Medizin. Die Reiſenden fühlten keinen Kopfſchmerz 
mehr; ſie befanden ſich ſo wohl, als ob es weder Sam⸗ 
chu noch Opium gegeben habe. 


Neuntes Kapitel. 


Das Ende der Raubdſchunke. 


Degenfeld ging auf dem Deck hin und her. Er kam 
an Liang⸗ſſi vorüber, blieb bei ihm ſtehen und ſagte: 
„Vorhin, als Sie zu uns in die Kajüte kamen, gab es 
keine Zeit zu eingehenden Erkundigungen. Jetzt aber 
möchte ich Sie fragen, wie Sie mit unſerm Landsmann 
Stein bekannt geworden ſind. Wie lange befinden Sie 
ſich bei ihm?“ 

„Nach Ihrer Rechnung genau ſeit vier Jahren.“ 

„Iſt die Provinz Hu⸗nan Ihre Heimat?“ 

„Nein. Ich ſtamme aus der Nachbarprovinz Kwsi⸗ 
tſchou.“ 

„Ah, das iſt mir höchſt intereſſant!“ 

„Das glaube ich, denn Kwei⸗tſchou iſt die intereſſan⸗ 
teſte Provinz des ganzen Reichs.“ 

„Warum?“ 

„Weil dort die Seng und Miao⸗tſe wohnen.“ 

„Das iſt richtig. Man hält ſie für Ueberreſte der 
Urbevölkerung von China, und ſie ſind ſeit mehr als 
drei Jahrtauſenden dem ſpezifiſch chineſiſchen Volks⸗ 
element fern und fremd geblieben. Aber das war es 
nicht, was ich meinte. Ich intereſſiere mich für dieſe 
Provinz, weil ich hin will.“ 


=» 197. 


„Sie nach Kwsi⸗tſchou? Herr, das iſt gefährlich!“ 

„Mag ſein, aber ich muß hin, denn ich habe es mit 
meinem Ehrenwort verſprochen. Sind Sie dort be⸗ 
kannt?“ 

„Nicht allzu ſehr, da ich die Heimat ſeit acht Jahren 
meiden mußte. Ihr Ehrenwort haben Sie gegeben?“ 

„Ja, mein Kong⸗Kheou.“ 

„Sogar Ihr Kong⸗Kheou? Wo iſt das geſchehen? 
Hier in China?“ 

„Nein, ſondern in Deutſchland, meiner Heimat.“ 

„Iſt das möglich? Sind dabei auch Tſan⸗hiang an⸗ 
gebrannt worden?“ 

„Räucherſtäbchen, ja.“ 

„Herr, ſo iſt es ein wirklicher Chineſe geweſen, der 
Ihnen das Kong⸗Kheou abgenommen hat!“ 

„Allerdings. Er iſt Kaufmann und hat in der Stadt, 
wo ich lebe, einen Laden für alle möglichen chineſiſchen 
Artikel errichtet. Er hat China als Flüchtling verlaſſen 
müſſen.“ 

„Hatte er Familie?“ 

„Ja. Leider mußte er ſie zurücklaſſen.“ 

„Dann wehe ihr, denn ſie hat jedenfalls für ihn 
büßen müſſen! Ich habe ganz dasſelbe Unglück auch er⸗ 
fahren. Mein Vater mußte fliehen.“ 

„Seltſam! Wann war das?“ 

„Vor nunmehr acht Jahren. Ich war damals ſech⸗ 
zehn Jahre alt.“ 

„Was hatte er getan?“ 

„Nichts. Er war unſchuldig. Sie werden vielleicht 
wiſſen, daß die Taipings eine neue Religion gründen 
und die herrſchende Dynaſtie ſtürzen wollten. Faſt wäre 
ihnen das gelungen. Es dauerte lange Zeit und koſtete 
blutige Kämpfe, bis ſie überwunden wurden. Sie löſten 


— 198 — 


ſich endlich in Banden auf, welche raubend das Land 
durchzogen und bis in die ſüdlichen Provinzen kamen. 
Eine derſelben warf ſich auch nach Kwéi⸗tſchou. Einer 
der Unteranführer war ein früherer Freund meines 
Vaters, ſuchte uns auf und wohnte einige Tage bei uns, 
ohne daß wir ahnten, daß er zu den Taipings gehörte. 
Man fand ihn bei uns. Er wurde verhaftet und mit 
ihm mein Vater, obgleich dieſer ſeine Unſchuld beteuerte 
und der Freund ihm bezeugte, daß er nichts gewußt habe. 
Beide wurden in das Sing⸗pu! gebracht und dort wie 
wilde Tiere in Käfige geſperrt. Einer der Beamten 
wollte meinem Vater wohl, weil dieſer ihm viel Gutes 
getan hatte. Er ſchlich ſich des Nachts zu ihm, öffnete 
den Kerker und ließ ihn entkommen. Der Vater kam für 
einige Augenblicke zu uns, um Abſchied von uns zu 
nehmen. Seit dieſer Stunde haben wir nichts von ihm 
gehört.“ 

Der Methuſalem hatte dieſen Bericht mit unge⸗ 
wöhnlicher Teilnahme vernommen. „Sonderbar!“ ſagte 
er. „In welcher Stadt iſt das geſchehen?“ 

„In Seng⸗ho.“ 

„Und wie iſt Ihr Geſchlechtsname?“ 

„Pang.“ 

„Pang, in Seng⸗ho! Werden Sie mir erlauben, Sie 
nach Ihrem Milchnamen zu fragen, obgleich das eigent⸗ 
lich eine Unhöflichkeit iſt?“ 

„Gern! Ich habe Ihnen meine Freiheit zu ver⸗ 
danken; wie könnte ich Ihnen da wegen dieſer Frage 
zürnen! Mein Milchname iſt „Fuk⸗ku“, was ‚Urſache des 
Glücks“ bedeutet. Die Eltern waren kinderlos geweſen; 
darum gaben ſie mir, ihrem Erſtgeborenen, dieſen 
Namen, um anzudeuten, daß ſie nun glücklich ſeien.“ 


1) Krim imalgebäude. 


0 
— 199 — 


„Welch ein Zuſammentreffen! Nicht wahr, Ihre 
Mutter hieß Hao⸗keu, lieblicher Mund?“ 

„Ja. Woher wiſſen Sie das?“ 

„Sie hatten noch einen Bruder und zwei Schwe⸗ 
ſtern. Der erſtere hieß Hin⸗Tſian, Güte des Himmels, 
und die beiden letzteren Meéi⸗pao, ſchöne Geſtalt, und 
Sim⸗ming, Herzenslicht?“ 

Der Chineſe fuhr einen Schritt zurück und rief: 
„Herr, was höre ich! Sie kennen die Namen meiner 
Verwandten!“ 

„Noch mehr! Ihr Vater heißt De⸗kin⸗li!“ 

„Ja, ja! Wer hat Ihnen dieſe Namen genannt?“ 

Da legte Degenfeld ihm die Hand auf die Achſel 
und erwiderte: „Ihr Vater.“ 

„Mein — — iſt's wahr, iſt's wahr?“ 

„Ja. Er iſt es, dem ich mein Kong⸗Kheou gegeben 
habe, daß ich alles aufbieten werde, ihm ſeine Familie 
oder wenigſtens ſichere Kunde von ihr zu bringen.“ 

„Er lebt alſo, er lebt?“ 

„Er befindet ſich wohl, und es geht ihm ſehr 
gut.“ 

„O Himmel, o Himmel! Welch eine Nachricht, welch 
eine Botſchaft! Faſt kann ich es nicht glauben. Acht volle 
Jahre habe ich vergeblich auf eine Nachricht von dem 
Verſchollenen gewartet; ich mußte ihn für tot halten. 
Und nun höre ich ſo plötzlich, ſo ganz unerwartet, daß 
er in Deutſchland lebt! Mir iſt, als ob ich träume!“ 

„Auch ich bin tief ergriffen, mein Freund. Ich 
fühle mich ſehr glücklich, Sie gefunden zu haben, denn 
dadurch erſpare ich eine lange Zeit des Suchens.“ 

„O, ſuchen werden Sie, werden wir doch noch 
müſſen! Sie ſollen doch nicht nur mich, ſondern auch die 
Mutter und die Geſchwiſter finden?“ 


5 
— 200 — 


„Natürlich! Hoffentlich aber wiſſen Sie, wo fie zu 
treffen ſind?“ ö 

„Nein, eben das weiß ich nicht. Ich habe ebenſo 
lang, acht Jahre lang, ſie weder geſehen noch etwas von 
ihnen gehört.“ | 

„Wie iſt das möglich?“ 

„Es iſt ſehr einfach. Sie wiſſen wohl, daß in China 
häufig die Verwandten eines Uebeltäters ſein Vergehen 
mit zu büßen haben?“ 

„Ja.“ 

„Als der Vater entkommen war, bemächtigte man 
ſich unſrer. Wir wurden eingeſperrt, aber einzeln, damit 
wir nicht miteinander verkehren könnten. Derſelbe 
Freund, der meinen Vater befreit hatte, öffnete auch 
mir den Kerker; er gab mir Geld, wies mich über die 
Grenze von Kwsi⸗tſchou und nannte mir einen Ort, 
wo ich auf die Meinigen warten ſollte. Sie ſind nicht 
gekommen. Darum vermute ich, daß es ihm nicht ge⸗ 
lungen iſt, ſie zu befreien.“ 

„Warum öffnete er nur Ihnen die Tür und nicht 
auch den Ihrigen zugleich?“ 

„Das war unmöglich, da wir zu weit voneinander 
getrennt waren.“ 

„Haben Sie nicht ſpäter Erkundigungen einge⸗ 
zogen?“ 

„Viel ſpäter, ja. Aber da war eine zu große Zeit 
vergangen, als daß ich etwas hätte erfahren können.“ 

„So hätten Sie es eher tun ſollen.“ 

„Das ging nicht an. Ich konnte mich doch keinem 
Menſchen anvertrauen, und ſelbſt durfte ich mich ſo bald 
nicht nach Kwéi⸗tſchou wagen. Als ich nach fünf Jahren 
mich ſo verändert hatte, daß ich glauben durfte, nicht er⸗ 
kannt zu werden, reiſte ich nach Seng⸗ ho. Der Freund 


— 201 — 


war geſtorben, und von den Meinen wußte kein Menſch 
etwas.“ 

„Das iſt traurig für Sie und unangenehm für mich. 
Ich muß mein Wort halten und werde alſo unbedingt 
nach Seng⸗ho reiſen, um zu verſuchen, etwas zu erfahren. 
Auch habe ich den Auftrag erhalten, das von ihrem Vater 
vergrabene Geld mitzunehmen.“ 

„Wiſſen Sie denn, wo es liegt?“ 

„Ja.“ 

„Das iſt gut! Aber wird es ſich auch noch dort be⸗ 
finden?“ 

„Ich hoffe es. Jetzt möchte ich noch nicht davon 
ſprechen; doch zur geeigneten Zeit werde ich Ihnen das 
Nötige mitteilen. Sind Sie bereit, Ihren Vater in 
Deutſchland aufzuſuchen?“ 

„Sofort! Das verſteht ſich ja ganz von ſelbſt, zumal 
ich ſo glücklich bin, ganz leidlich deutſch ſprechen zu 
können.“ | 

„Das haben Sie bei Herrn Stein gelernt?“ 

„Ja. Er wollte ſeine Mutterſprache hören. Er 
wollte einen Menſchen haben, mit dem er ſich in deut⸗ 
ſcher Sprache unterhalten könnte. Ich hatte mir ſeine 
Zufriedenheit erworben, und ſo wählte er unter allen 
ſeinen Leuten mich aus und gab mir Unterricht.“ 

„Iſt er wirklich reich?“ 

„Sehr reich. Er iſt der reichſte Mann in Ho⸗tſing⸗ 
ting.“ 
„Und er will dort bleiben?“ 

„Er muß, wenn er nicht ſeinen ganzen Beſitz ver⸗ 
lieren will. Zwar ſehnt er ſich nach der Heimat, aber 
er fand bisher niemand, der ihm die Quellen und alles, 
was dazu gehört, abkaufen würde. Fände er einen 
Käufer, ſo würde er ſofort nach Deutſchland gehen.“ 


— 202 — 


Gottfried von Bouillon hatte geſehen, daß die bei⸗ 
den ſo angelegentlich miteinander ſprachen. Die Neugier 
trieb ihn von ſeinem Poſten weg und zu ihnen herbei. 
„Wat gibt's denn da für eine Konferenz?“ fragte er. 
„Darf ich mich erlauben, mal herzuhorchen?“ 

„Ja, alter Gottfried,“ antwortete Degenfeld. „Auch 
du wirſt dich freuen. Denke dir, es hat ſich ſoeben her⸗ 
ausgeſtellt, daß dieſer junge Mann der älteſte Sohn 
unſres Freundes Ye⸗kin⸗li iſt.“ 

„Wat? Wie? Wo? Unſres alten Ye⸗kin⸗li mit dat 
Kong⸗Kheou, der mir als Nieou⸗chi⸗tchin⸗chi⸗nieou ge⸗ 
ſchumpfen hat? Liegt da nicht vielleicht ein Irrtum vor?“ 

„Nein, es ſtimmt.“ 

„Hat er ſeinen Impfſchein vorjezeigt?“ 

„Iſt nicht nötig. Er hat das Legitimationsexamen 
vollſtändig beſtanden.“ 

„Sollte man es denken! Sie Chineſige ſind der 
kleine He⸗kin⸗li! Wie iſt dat denn eijentlich entdeckt 
worden?“ 

Er ſprach vor Freude ſeine Frage ſo laut aus, daß 
der Dicke auch herbei kam und ſich erkundigte: „Wat 
krijſcht de Godfrijd want zoo — was kreiſcht der Gott⸗ 
fried denn ſo?“ 

„Wat ich kreiſche?“ meinte dieſer. „Dat fragen Sie 
noch, Dicker? Sehen Sie ſich mal dieſen Sohn der Mitte 
an! Er iſt janz derjenige, den wir hier ſuchen, nämlich 
der leibhaftige Iſaak von dem Abraham, den wir daheim 
De⸗kin⸗li genannt haben!“ 

„Deshalve zijn zoon?“ 

„Ja, mithin ſein Sohn! Wat ſagen Sie dazu?“ 

„Wat ik zeg? God zij geprezen! Goeden morgen, 
mijn vriend! Ik ben Mijnheer van Aardappelenboſch. 
Ik heb gewild ju ook met zoeken — ich wollte Sie auch 


— 203 — 


mit ſuchen.“ Er ſchüttelte ihm beide Hände und war ſo 
erfreut, als ob ihm perſönlich ein großes Glück wider⸗ 
fahren ſei. Er hatte, wie die meiſten dicken Leute, ein 
ſehr gutes Herz und ein weiches Gemüt. 

Auch Turnerſtick und Richard kamen, um zu er⸗ 
fahren, warum ſo große Freunde vorhanden ſei. Der 
Methuſalem aber trieb die unvorſichtige Geſellſchaft 
ſchnell wieder auseinander, um die Chineſen nicht aus 
den Augen zu laſſen. 

Schon brach der Morgen an; der Landwind holte 
nach und nach um und ſchlief für eine kurze Weile ein. 
Als er wieder lebendig wurde, hatte er die entgegen⸗ 
geſetzte Richtung eingeſchlagen. Er blies von der See 
nach dem Land, und nun war es für Turnerſtick Zeit, 
die Matroſen wieder an die Braſſen zu befehlen, um das 
Schiff mit dem Seewind nach dem Hafen zurückgehen zu 
laſſen. 

Man band die Gefangenen los, und ſie waren, wie 
ſchon in der Nacht, gezwungen, die Befehle des Kapitäns, 
die ihnen in derſelben Weiſe verdolmetſcht wurden, aus⸗ 
zuführen; dann wurden ſie wieder angebunden. Frei⸗ 
lich gehorchten ſie nur, weil ſie die Waffen auf ſich ge⸗ 
richtet ſahen. Malaiiſche Seeleute, die es ja in jenen 
Gegenden häufig gibt, hätten ſich ganz anders verhalten; 
dieſe hätten ſelbſt den Gewehren und Revolvern getrotzt. 
Der Chineſe aber iſt nur dann ein Held, wenn es keine 
Gefahr für ihn gibt, oder wenn er wenigſtens mit ziem⸗ 
licher Sicherheit auf das Gelingen rechnen kann. 

Es wurde bald ſo hell, daß man den ganzen Ge⸗ 
ſichtskreis überblicken konnte, und da ſahen die Männer 
denn, daß die Dſchunke nicht das einzige Schiff war, das 
ſich hier befand. Hinter ihnen ſtieß ein Dampfer ſeine 
Rauchwolken aus den mächtigen Schloten. Degenfeld 


— 204 — 


ſtieg zu dem Kapitän hinauf, der am Steuer ſtand und 
fragte: „Was für ein Schiff mag das wohl ſein, Maſter?“ 

„Das kann Ihnen jedes zweijährige Kind ſagen. 
Es iſt ein Kriegsſchiff.“ 

„Sehr ſcharf gebaut, wie es ſcheint.“ 

„Was heißt ſcharf bei dieſer neuen Sorte von See⸗ 
jungfern! Es iſt ein Kreuzer, aus Stahl gebaut. Möchte 
mit dem Kerl nicht in Konflikt geraten. Kommt uns 
aber eben recht. Wir brauchen noch Stunden, um in 
den Hafen zu kommen. Wer weiß, was indeſſen ge⸗ 
ſchehen könnte. Wollen uns doch lieber in ſeinen Schutz 
begeben.“ 

„Das meine ich auch; dann ſind wir aller Sorge 
los.“ 

„Wenn es hier einen Signalkaſten gäbe, würde ich 
den Kreuzer erſuchen, ſich mehr zu beeilen. Wie es 
ſcheint, ſchenkt er uns ohnedies ſeine Aufmerkſamkeit. Er 
hielt erſt nach Luv, iſt aber, als er uns erblickte, ſo weit 
nach Lee abgefallen, daß er uns, wenn es ihm beliebt, 
mit dem Ellbogen ſtreifen wird. Sehen Sie jetzt die 
Rauchwolken? Er gibt mehr Dampf. Das iſt ein 
ſicheres Zeichen, daß er uns nicht traut. Wir befinden 
uns jedenfalls nahe der Küſte, und er denkt, daß wir 
ihm zwiſchen den Untiefen entkommen wollen. Dazu 
will er uns nicht die Zeit laſſen. In zehn Minuten iſt 
er da.“ 

„Welche Flagge führt er?“ 

„Hat noch keine, wird ſie aber in dem Augenblick 
zeigen, wo er uns guten Morgen ſagt. Paſſen Sie auf!“ 

Das Panzerſchiff näherte ſich mit großer Schnellig⸗ 
keit. Noch waren nicht fünf Minuten vergangen, ſo 
kräuſelte von ſeinem Deck eine helle Wolke auf und 
dann ertönte der Schuß. 


— 205 — 


„Können leider nicht antworten,“ ſagte Turnerſtick. 
„Haben kein Geſchütz oben; ſtecken alle in den Kiſten. 
Will ihm aber doch zeigen, daß wir ſeine Sprache ver⸗ 
ſtehen. Nehmen Sie das Steuer und halten Sie es 
genau ſo wie ich bisher. Ah, ein Engländer!“ 

Er deutete nach dem Kriegsſchiff, auf deſſen 
Flaggenſtock jetzt die großbritanniſche blaue Diviſions⸗ 
flagge gehißt wurde; dann ſprang er die Treppe hinab 
zum Hintermaſt, ließ die chineſiſche rotgelbe Handels⸗ 
flagge, die darauf wehte, herab, band ſie der Länge nach 
zuſammen, und zog ſie wieder auf. Man nennt dies „die 
Flagge weht im Schau“, und es gilt das als inter⸗ 
nationales Notzeichen. 

Dann zog er ſein Meſſer und zerſchnitt die beiden 
Braſſen des Beſanſegels, das ſofort im Winde gierte. 
Dasſelbe tat er auch mit dem Groß⸗ und Fockſegel. Die 
ſchweren Matten ſchlugen an die Maſten, daß dieſe er⸗ 
klangen; aber das Schiff ſtoppte. Als er nun wieder 
zum Steuer kam, ſagte er: „Eine ſchwere und gewagte 
Sache! Aber bei dem jetzigen Wind geht es. Wollte die 
Matroſen nicht wieder losbinden. Sehen Sie ihre Ge⸗ 
ſichter an! Die helle Angſt ſchaut ihnen aus den Augen. 
Sie wiſſen, daß für ſie der jüngſte Tag gekommen iſt.“ 

Jetzt rauſchte der Dampfer heran, ging hart vorbei, 
gab dann Gegendampf und legte bei. 

Die ganze Deckwache befand ſich an Steuerbord und 
ſah herüber. Der Kommandierende ſtand auf der Brücke 
und muſterte mit ſcharfem Blick die Dſchunke. Der 
Deckoffizier aber rief chineſiſch herüber: „Dſchuen ahoi! 
Nan⸗tao Schui⸗heu?“ 

„Mein Himmel!“ ſagte Turnerſtick. „Soll das etwa 
chineſiſch ſein? Dann mag er ſich einpappen laſſen! Es 
iſt keine einzige Endung dabei!“ 


— 206 — 


„Natürlich iſt's chineſiſch,“ antwortete Degenfeld. 
„Er ruft: ‚Schiff ahoi! Iſt's wirklich die Königin des 
Waſſers? Er iſt erſt an uns vorüber gegangen, um den 
Namen der Dſchunke zu leſen.“ 

Und ſich nach dem Kreuzer wendend, rief er in 
engliſcher Sprache: „Piratendſchunke Schui⸗heu, auf⸗ 
gebracht von uns fünf Europäern. Stecken ſechzig Mann 
im Raum, haben die Luke vernagelt. Bitten um ſchnelle 
Hilfe!“ 

Der Decoffizier wendete ſich zu dem Kommandan⸗ 
ten auf der Brücke, wechſelte einige Worte mit ihm und 
fragte dann: „Wer ſind Sie?“ 

„Drei deutſche Studenten, ein holländiſcher Pflan⸗ 
zer und Frick Turnerſtick, amerikaniſcher Handelsſchiffs⸗ 
kapitän.“ 

„Turnerſtick, Turnerſtick! All devils! Wo iſt der alte 
Swalker?“ fragte der Kommandierende ſchnell. 

„Hier bin ich, hier!“ antwortete der Kapitän, mit 
einer Hand am Steuer und mit der andern ſeinen Rohr⸗ 
hut ſchwenkend. „Ah iſt's möglich! Jetzt ſehe ich erſt das 
Geſicht. Kapitän Beadle, iſt's möglich!” 

„Hallo! Turnerſtick, Ihr ſeid es wirklich! Aber 
welcher Teufel reitet Euch denn, daß Ihr auf den Ge⸗ 
danken kommt, Euch in dieſes heidniſche Gewand zu 
ſtecken?“ 

„Geſchieht meinem jetzigen Rang gemäß. Bin Tur⸗ 
ning ſti⸗king kuo⸗ngan ta-fustfiang.” 

„Der Kuckuck mag Euch verſtehen! Gewiß wieder 
mal ſo ein Steckenpferd von Euch! Habe auf die 
Dſchunke, gleich als ich ſie ſah, acht gehabt. Traute ihr 
nicht. Muß ſie ſchon kennen. Traute auch der Angabe 
Eures Nachbars nicht. Da ich aber Euch am Steuer 
ſehe, glaube ich alles. Müſſen einmal hinüber zu Euch!“ 


— 207 — 


„Ja, bitte! Schickt die Vormittagswache herüber!“ 

„Was? Die halbe Mannſchaft!“ 

„Iſt notwendig. Haben über ſechzig Piraten im 
Raum.“ 

„Gut! Bin begierig, zu hören, wie ſich das zuge⸗ 
tragen hat. Jedenfalls wieder mal ein Meiſterſtück von 
Turnerſtickl“ 

Der Deckoffizier rief das bekannte „Rise out, Quar⸗ 
tier in Gottes Namen!“ und bald ſtrömten die kräftigen 
Blaujacken aus den Luken. Das Boot und das Fallreep 
wurde herabgeſenkt, und auch Turnerſtick bat den Gott⸗ 
fried und Richard, die Treppe der Dſchunke niederzu⸗ 
laſſen. Kapitän Beadle übergab einem Offizier das 
Kommando des Schiffes, um ſich ſelbſt mit auf die 
„Königin des Waſſers“ zu begeben. 

Turnerſtick ſtand am Steuer und jauchzte ihm ent⸗ 
gegen. Sie kannten ſich von früher her; ſie hatten ſich 
ſchon oft getroffen und ſchüttelten einander erfreut die 
Hände. Der Kommandeur lachte trotz des Ernſtes der 
Situation laut auf, als er nun die Kleidung Turner⸗ 
ſticks genau betrachtete. Dieſer aber blieb ſehr ernſt und 
ſagte: „Was gibt's da zu lachen, Sir? Ich bin jetzt 
chineſiſcher Generalmajor, und daß ich mein Fach ver⸗ 
ſtehe, beweiſe ich Euch dadurch, daß ich Euch über ein 
halbes Hundert Piraten ſamt ihrer Dſchunke in die 
Hände liefere!“ 

„Weiß ſchon! Kenne Euch ja! Aber nur fünf Mann, 
wahrhaftig nur fünf Mann? Sagt, wie iſt das möglich?“ 

„Ein uns befreundeter Chineſe iſt auch dabei. Werde 
Euch alles erzählen. Eigentlich gehört der Ruhm nicht 
mir, ſondern unſerm blauroten Methuſalem da.“ 

„Blaurot? Methuſalem? Hm!“ ſagte Beadle, indem 
er Degenfeld muſterte. Es war ihm anzuſehen, daß ihm 


— 208 — 


nicht nur Turnerſtick drollig vorlam: er gab ſich aber 
Mühe, ernſt zu bleiben. 

Turnerſtick erzählte ihm in kurzen Worten das er⸗ 
lebte Abenteuer. Der Kommandant wurde jetzt tief⸗ 
ernſt. „Bei Gott,“ ſagte er, „das iſt wirklich eine Tat, 
der man alle Ehre geben muß! Im Studentenwichs nach 
China zu kommen, iſt — — hml Aber Sie haben ſich ſo 
verhalten, daß ich Ihnen allen die Hände drücken muß.“ 

Er tat es auch und fuhr dann fort, indem er einen 
prüfenden Blick über das Deck warf: „Ich ſagte bereits, 
daß ich denke, dieſe Dſchunke zu kennen. Darum ließ ich 
fragen, ob es wirklich die ‚Schui⸗heu“ iſt.“ 

„Natürlich iſt ſie es.“ 

„So? Hml Ich möchte wetten, daß ich da vielmehr 
einen alten Bekannten vor mir habe, der mir leider 
ſchon einige Male zwiſchen Untiefen, wo ich ihm nicht 
folgen konnte, entkommen iſt. Ein Seemann kennt ein 
Schiff wieder, mag man ihm zehn andre Namen geben. 
Ich bin überzeugt, daß dieſes Fahrzeug der berüchtigte 
„Hai⸗lung (Seedrache) iſt. Wollen doch einmal ſehen.“ 

Seine Leute ſtanden in Reihe und Glied bewaffnet 
aufgeſtellt. Er winkte Turnerſtick, ihm zu folgen, ſtieg 
auf das Vorderdeck und bog ſich über die Bugbrüſtung 
nach außen. 

„Dachte es mir! Falſches Bild! Man braucht es 
nur umzukehren, ſo ſieht man den gemalten Drachen 
und unter demſelben jedenfalls die beiden Schriftzeichen, 
welche Hai⸗lung, alſo Seedrache bedeuten. Das Bild iſt 
angeſchraubt. Hätten wir einen Schraubenſchlüſſel bei 
der Hand, fo...” 

„Unten an der Kajüte ſteht ein Kaſten, der allerlei 
Werkzeuge enthält,“ fiel der Methuſalem ein. „Auch die 


— 209 — 


beiden Bohrer, mit denen ſie die Löcher in unſre Tür 
gemacht haben.“ 

Richard ging, den Kaſten zu holen. Er enthielt 
einen Schraubenzieher. Der Kapitän befahl zwei ſeiner 
Leute herbei, die hinausſteigen und das Bild umdrehen 
und ſo wieder feſtſchrauben mußten. Da war wirklich 
ein häßlicher Drache, der den flammendroten Rachen 
weit aufſperrte, mit der Unterſchrift „Hai⸗ lung“, ab⸗ 
gebildet. 

„Das genügt,“ ſagte Beadle. Weitere Beweiſe brau⸗ 
chen wir eigentlich gar nicht. Der Hai⸗lung iſt in dieſen 
Gewäſſern ſo berüchtigt, daß man mit ſeiner Bemannung 
ſehr kurzen Prozeß machen wird. Aber wie uns nun 
dieſer Leute bemächtigen? Was meint Ihr, Kapitän?“ 

„Hm!“ brummte Turnerſtick. „Eine böſe Frage!“ 


„Allerdings. Ich möchte meine Jungens nicht 
geradezu in den Tod ſchicken. Die Kerls haben wahr⸗ 
ſcheinlich genug Waffen unten, um uns, wenn wir durch 
die Luke eindringen wollen, mit Salz und Pfeffer zu 
empfangen. Und die Pulverkammer iſt auch unten. 
Wenn ſie auf den Gedanken kämen, ſich und uns lieber 
in die Luft zu ſprengen, als ſich zu ergeben!“ 

„Dazu fehlt ihnen der Mut.“ 

„Denkt Ihr? Ich halte es doch für beſſer, Liſt anzu⸗ 
wenden. Aber wie? Mein Leutnant hat zwar bereits 
unſre Geſchütze herüber aufs Deck gerichtet. Er kann es 
mit einigen Salven leer fegen. Aber die Halunken ſind 
doch nicht oben, ſondern unten.“ 

„Ich wüßte ein Mittel, die Burſchen ohne jede Ge⸗ 
fahr feſtzunehmen,“ ſagte der Methuſalem; „wir ſchlagen 
ſie mit ihren eigenen Waffen. Ich meine die famoſen 
Hi⸗thu⸗iſchangs.“ 


May, Der blaurote Methuſalem. 14 


— 210 — 


„Was iſt das?“ 

„Die Stinktöpfe.“ 

„Das wäre freilich ein Prachtmittel. Aber wo be⸗ 
finden ſich dieſe?“ 

„Im Vorlukenraum,“ erwiderte Degenfeld, der ſich 
bei Liang⸗ſſi erkundigt hatte. 

„So können wir dazu. Führen Sie uns!“ 

Er winkte noch einige ſeiner Leute herbei und ſtieg 
mit ihnen hinab. Turnerſtick und der Methuſalem folg⸗ 
ten. Der Mijnheer wollte ſich ihnen anſchließen, aber es 
zeigte ſich leider, daß die Luke nicht für ſeinen Körper⸗ 
umfang berechnet war. Er mußte oben bleiben. 

Sie gelangten in einen nicht ſehr großen Raum, der 
vollſtändig leer war. Er hatte jedenfalls den Zweck, die 
geraubten Güter aufzunehmen. Eine noch ſchmalere 
Treppe führte weiter hinab in den Kiel⸗ oder Ballaſt⸗ 
raum. Dort war es vollſtändig dunkel. Beadle brannte 
ein Wachshölzchen an, und bei deſſen Schein ſah man 
mehrere Reihen verſchloſſener Töpfe im Sand ſtehen, 
der den Ballaſt bildete. 

„Da ſind ſie,“ ſagte Turnerſtick. „Schaffen wir eine 
Anzahl hinauf!” 

Das Hölzchen verlöſchte. Es war wieder dunkel. 
Aber man wußte nun, wo die Töpfe ſtanden und taſtete 
ſich nun im Sand zu ihnen hin. Während dieſer Pauſe, 
in der niemand ſprach, ertönte ein lauter ſtöhnender 
Seufzer. 

„Iſt jemand hier?“ fragte Beadle. 

„Ngai ya!“ erklang es von der Seite her. 

„Das war chineſiſch. Was bedeutet es?“ 

„Es bedeutet: O wehe!“ erklärte der Methuſalem. 
„Sollte ſich einer der Piraten hier befinden, vielleicht zur 
Strafe?“ 


— 211 — 


„Kieu ſchin!“ ertönte es abermals. 

„Was heißt das?“ 

„Zu Hilfe!“ antwortete der Blaurote. 

„Vielleicht iſt's doch ein ehrlicher Menſch, der in die 
Gewalt dieſer Piraten geraten iſt. Wollen es unter⸗ 
ſuchen.“ 

Er gebot ſeinen Leuten, inzwiſchen eine Anzahl von 
Töpfen hinauf zu ſchaffen, und brannte abermals ein 
Hölzchen an. Als er ſich mit Turnerſtick und Degenfeld 
nach der Seite wandte, woher die Seufzer hörbar ge⸗ 
weſen waren, gewahrten ſie einen niedrigen Bretter⸗ 
verſchlag. Beadle klopfte daran und rief: „Iſt jemand 
hier drin?“ 

„Hu⸗tſi — o wehe!“ antwortete es. 

„Schui⸗iſchung⸗kian — wer iſt da drinnen?“ fragte 
der Methuſalem. 

„Ngo⸗men⸗ri — wir zwei,“ hörte man es erklingen. 

„Schui ni⸗men — wer ſeid Ihr?“ 

„Ngo Tong⸗tſchi, t'a Ho⸗po⸗ſo — ich bin der Tong⸗ 
tſchi und der andre iſt der Ho⸗po⸗ſo.“ 

Degenfeld mußte dem Kapitän die Antworten über⸗ 
ſetzen. „Alle Wetter!“ meinte dieſer. „Sollte das mög⸗ 
lich ſein? Ho⸗po⸗ſo heißen die beiden Beamten, welche 
alle Schiffer im Hafen von Kanton zu beaufſichtigen 
haben. Sollte einer von ihnen in die Hände der Piraten 
geraten ſein? Was der zweite iſt, weiß ich nicht. Tong⸗ 
tſchi iſt mir unbekannt. Wiſſen Sie es vielleicht?“ 

„Ja. Tong⸗iſchi und Tong⸗pan find ſehr hohe 
Magiſtratsperſonen, mit deren Obliegenheiten ich mich 
oft beſchäftigt habe, da ſie ſehr viel zu tun haben müſſen. 
Das Geſetz trägt ihnen auf, die Abgaben an Geld oder 
Naturalien zu erheben, das Militär zu überwachen, die 
Polizei zu leiten, die Poſtſtationen zu revidieren, für die 


— 212 — 


Verbeſſerung der Pferderaſſen Sorge zu tragen, die 
Domänen des Staates zu beaufſichtigen, Dämme und 
Kanäle in ſtand zu halten, auf die noch nicht ganz unter⸗ 
worfenen Bergvölker acht zu geben und endlich vor allen 
Dingen auf die Fremden an den Grenzen und im 
Innern des Reiches zu achten und das Paßweſen in 
Ordnung zu halten!“ 

„O wehe! So ein armer Teufel möchte ſich doch in 
Stücke zerreißen!“ 

„Ja, das Amt eines Tong«⸗tſchi iſt ein ſchwieriges 
und bedeutungsvolles. Wo iſt der Verſchluß dieſes 
Kaſtens?“ 

Man konnte es nicht ſehen, da das Hölzchen wieder 
verlöſcht war. 

„Laſſen wir das einſtweilen!“ ſagte Beadle. „Wir 
haben Nötigeres zu tun. Die beiden Kerls können noch 
eine Viertelſtunde ſtecken, mögen ſie nun ſein, wer ſie 
wollen. Wir müſſen uns vor allen Dingen der Mann⸗ 
ſchaft verſichern.“ 

Es waren inzwiſchen wohl zehn bis zwölf Stink⸗ 
töpfe an Deck gebracht worden. Das genügte für den be⸗ 
abſichtigten Zweck. Die drei ſtiegen wieder nach oben, 
und nun wurden die ſchweren Körbe von der Luke weg⸗ 
genommen. Unter ihr regte ſich nichts. Man hätte ver⸗ 
ſucht ſein können, zu bezweifeln, daß ſo viele Menſchen 
ſich darunter befanden. Sie wurde aufgeſprengt. 

Wer gedacht hätte, daß die Piraten nun herauf⸗ 
ſpringen würden, der hätte ſich geirrt. Sie ließen von ſich 
weder etwas hören noch ſehen. Natürlich aber hütete 
man ſich, der offenen Lucke nahe zu kommen. Man 
hätte leicht eine Kugel bekommen können. 

Nun wurden die Stinktöpfe herbeigebracht. Sie 
ſchienen ſehr dünnwandig zu ſein und hatten faſt die 


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Geſtalt und auch die engen Oeffnungen unfrer tönernen 
Wärmflaſchen. Natürlich waren ſie luftdicht verſchloſſen. 

Einer der Matroſen warf, ſich aber von der Luke ſo 
fern haltend, daß er nicht von unten geſehen werden 
konnte, den erſten Topf hinab. Seine Kameraden hielten 
ihre Gewehre ſchußbereit. Man hörte, daß der Topf in 
Scherben ging. 

„Ngu⸗hu, hi⸗thu⸗iſchang — o wehe, Stinktöpfe!“ er⸗ 
tönte unten ein lauter Schrei. 

Ein zweiter und dritter flog hinab. Die Wirkung 
war eine ſolche, daß man ſie auch oben ſpürte. 

„Macht ſchnell,“ gebot Kapitän Beadle, „ſonſt 
müſſen wir ſelbſt ausreißen!“ 

Man gehorchte dieſem Befehl, und dann wurde die 
Luke wieder zugeklappt. 

Unten erhob ſich ein vielſtimmiges Geſchrei, ein 
wüſtes Lärmen und Klagen. Es wurde an die Luke ge⸗ 
ſtoßen, um ſie zu öffnen, aber man hatte die Körbe wie⸗ 
der darauf geſtellt. Dann hörte man, daß an den Schiffs⸗ 
ſeiten die Fenſter aufgeriſſen wurden. Die Piraten 
ſchnappten nach friſcher Luft. 

Das Mittel war außerordentlich draſtiſch. Es wirkte 
nicht nur auf die Patienten, ſondern auch auf die Aerzte. 
Der ſchreckliche Geſtank, der jeder Beſchreibung ſpottet, 
drang durch die Fenſter herauf auf das Deck. Kapitän 
Beadle zog ſich auf das Quarterdeck zurück, Turnerſtick 
mit ihm. Die Marineleute wären gern auch ausgeriſſen, 
mußten aber ſtehen bleiben. 

„Na, wer dieſe Erfindung jemacht und vorher 
jeprobt hat, der muß eine prächtige Naſe jehabt haben!“ 
rief Gottfried von Bouillon. „Wat ſagen Sie dazu, 
Mijnheer?“ 


— 214 — 


„Wat ik zeg? Foei! Donder em blikſem! Dat ruikt 
waarachtig na hondert duizend ongelukkigen nijlpaarden 
— was ich ſage? Pfui! Donner und Wetter! Das riecht 
wahrhaftig nach hunderttauſend unglücklichen Nil⸗ 
pferden!“ Er ergriff ſchleunigſt die Flucht und lief nach 
dem äußerſten Ende des Vorderſchiffs. 


Nur der Chineſe kann auf eine ſolche Erfindung 
verfallen. Der Räuber eines jeden andern Landes wagt 
ſein Leben; der chineſiſche Pirat beſiegt ſeine Gegner mit 
Geſtank! 

Es dauerte eine geraume Zeit, bevor dieſer Geruch 
ſich ſo verflüchtigt hatte, daß Kapitän Beadle wieder auf 
das Mittelſchiff herabkam. „Was nun?“ fragte er aber⸗ 
mals. „Ich möchte wiſſen, wie die Kerls ſich da unten 
befinden. Verſuchen wir, die Luke zu öffnen!“ 

Einige ſeiner Leute machten ſich daran, dieſen Be⸗ 
fehl auszuführen. Kaum war es geſchehen, ſo ergriff 
der Kapitän ſchleunigſt wieder die Flucht. Die Luke glich 
einer Eſſe, aus der die Dämpfe der Hölle entſtiegen. 
Man mußte wohl zehn Minuten vergehen laſſen, ehe 
man ihr wieder nahen konnte. 

Nun galt es, nachzuforſchen, welche Wirkung die 
Stinktöpfe gehabt hatten. Beadle wollte Freiwillige vor⸗ 
treten laſſen. Da aber meinte Gottfried von Bouillon: 
„Nein, Sir, dat iſt nicht nötig. Ich habe auch die 
meinige Ehre im Leibe und laſſe mir nicht lumpen. Ich 
binde mir an einen Strick und nehme meine Oboe mit. 
Sobald ich blaſe, ziehen Sie mir wieder ans joldene 
Tageslicht. Die Oboe ſoll das Zeichen jeben, dat da 
unten nicht alles in jutem Zuſtand iſt. Wer Opium 
jetrunken hat, der kann wohl auch Ammoniak vertragen. 
Mijnheer, halten Sie mir am Seil feft!“ 


— 215 — 


Er band ſich einen Strick um den Leib, hielt ſich das 
Taſchentuch an die Naſe und ſtieg mit der Oboe in die 
Tiefe. Was er unternahm, war eine Heldentat. Er hatte 
nicht nur die Gaſe zu fürchten, ſondern wohl auch noch 
die Piraten, die vielleicht nicht alle betäubt worden 
waren. 

Der Mijnheer hielt das andre Ende des Stricks und 
horchte. Da, wirklich, da hörte man unten einen ganz 
unbeſchreiblichen Triller auf der Oboe erſchallen. 

„Ziehen Sie, Mijnheer, ziehen Sie!“ rief Turner⸗ 
ſtick. „Er iſt umgefallen. Er iſt ohnmächtig!“ 

Der Dicke zog aus Leibeskräften. 

„Het is zoo zwaar — er iſt ſo ſchwer!“ keuchte er. 

„So helfe ich mit. Aber ziehen Sie nur, ſonſt er⸗ 
ſtickt er.“ 

Die beiden zogen fürchterlich. Ihre Geſichter wur⸗ 
den rot und immer röter, aber ſie brachten den Ver⸗ 
unglückten um keinen Zoll vorwärts. Da erſchien in der 
Lukenöffnung erſt die Oboe und dann der Gottfried 
ſelbſt. Er hatte den Strick nicht mehr um den Leib und 
fragte im Ton der größten Verwunderung: „Aber Mijn⸗ 
heer, wat ziehen Sie denn ſo entſetzlich? Wat erhitzen 
Sie Ihnen denn ſo außerordentlich?“ 

Der Dicke ſah ihn verwundert an, ließ den Strick 
fallen, nahm die ſchottiſche Mütze ab, wiſchte ſich den 
Schweiß von ſeinem Kahlkopf und antwortete: „Ik dacht, 
gij zijt daaraan!“ 

„Nein, ich hänge nicht mehr daran, ſondern ich habe 
das andre Ende unten an einen Balken gebunden.“ 

„Nijlpaard!“ Er warf ihm dieſes Wort mit einem 
ſtrafenden Blick in das Geſicht und ging davon. 

„Herr Ziegenkopf, ich habe auch mit gezogen!“ rief 
Turnerſtick. „Ich verbitte mir ſolche Jungenſtreiche!“ 


— 216 — 


„Jungenſtreiche? Wieſo?“ 

„Sie haben geſagt, daß wir ſofort ziehen ſollen, 
wenn Sie blaſen!“ 

„Ja, dat iſt meine Rede jeweſen. Aberſt habe ich 
denn jeblaſen?“ 

„Ja, und wie!“ 

„Nein, ſondern ich habe jetrillert. Dat iſt wat janz 
andres! Dat iſt wat für een jeübtes muſikaliſches Jemüt. 
Mit dieſes Trillern habe ich anjedeutet, daß meine Seele 
voller Jubel iſt über dat, wat ich da unten jeſehen habe. 
Jetrillert iſt niemals jeblaſen; merken Sie ſich dat. 
Blaſen kann mancher, auch den Kaffee; aberſt trillern 
Sie ihn mich einmal!” 

„Sie ſind ein unverbeſſerlicher Schlingel! Was 
haben Sie denn geſehen?“ 

„Die janze Janitſcharenmuſik. Sie liegen kreuz und 
quer über⸗ und durcheinander und wiſſen nicht, wohin 
ihre Jeiſtesjegenwart jeraten iſt. Sie ſind von die 
Stinktöpfe hypnotiſiert worden.“ 

„Wirklich?“ 

„Wenn Sie es nicht glauben wollen, ſo jehen Sie 
jefälligſt näher! Dann können Sie auch den Strick wieder 
vom Balken knüpfen, wofür er Ihnen ſehr dankbar ſein 
wird. Wegziehen haben Sie ihn doch nicht können.“ 

Das war eine Botſchaft, die man ſo gern hörte, daß 
man ihm den kleinen Streich verzieh. Kapitän Beadle 
kommandierte ſeine Leute hinab. Es war ſo, wie der 
Gottfried geſagt hatte. Die Chineſen lagen beſinnungs⸗ 
los und halb erſtickt im Raum, worin es noch jetzt eine 
Luft gab, die zum Huſten und Nieſen reizte. 

Zunächſt wurde der Raum genau unterſucht. Da 
ſtanden die Kiſten mit den Kanonen. Da hingen Waffen 
aller Art an den Wänden. Auf dem Boden lagen Stroh⸗ 


— 217 — 


matten, welche die Lagerſtellen gebildet hatten. Hinten 
gab es eine verſchloſſene Türe, von der Liang⸗hſſi ſagte, 
daß ſie zur Pulverkammer führe. 

Eine etwas engere Luke führte noch tiefer hinab, in 
die mittlere Abteilung des Ballaſtraums. Dorthin, ſo 
befahl Kapitän Beadle, ſollten die Gefangenen geſchafft 
werden, nachdem man ihnen alle Waffen und den Inhalt 
ihrer Taſchen abgenommen hatte. 

Das mußte aber ſchnell geſchehen, damit ſie nicht 
vorher wieder zum Bewußtſein kommen konnten. Es 
wurden Laternen angebrannt und dann ließ man die 
Piraten, einen nach dem andern, die untere Luken⸗ 
treppe hinabgleiten, wo ſie in Empfang genommen und 
in den feuchten Sand gelegt wurden. 

Als das geſchehen war, wurde die Luke verſchloſſen. 
Nur die im Boden angebrachten kleinen Luftlöcher blie⸗ 
ben offen. Die zehn Chineſen, die noch oben an Deck 
angebunden waren, blieben da. Sie ſollten auch weiter 
die Segel bedienen, bis die „Schui⸗heu“ oder vielmehr 
der „Hai⸗lung“ den Hafen erreichte. 

„Wollt Ihr uns nicht ins Schlepptau nehmen?“ 
fragte Turnerſtick den Kapitän des Kriegsſchiffes. 

„Wozu? Das Ueberholen des Taues macht Mühe 
und erfordert Zeit. Wenn Ihr das Kommando der 
Dſchunke übernehmt, ſo weiß ich ſie in den beſten Hän⸗ 
den. Leute zur Bedienung der Segel habt Ihr genug 
und außerdem laſſe ich Euch für unvorhergeſehene Fälle 
einige meiner Burſchen da. Ich dampfe Euch voran und 
werde Eure Ankunft melden.“ 

„Schön! Da gibt's wohl einen Empfang?“ 

„Gewiß! Der „‚Hai⸗lung“ muß mit der nötigen Feier⸗ 
lichkeit eingebracht werden. Alle ehrlichen Leute werden 
ſich darüber freuen, daß er endlich ausgeſegelt hat. Und 


— 218 — 


zumal wenn man erfährt, daß er von nur fünf Perſonen 
gewonnen wurde, ſo ſtehe ich nicht dafür, daß man Euch 
nicht eine Ehrenpforte baut.“ 

„Pah! Fünf Männer! Ihr ſeid doch noch dazu⸗ 
gekommen!“ 

„Habe aber nichts tun können als eine kleine Hand⸗ 
reichung, die Eure Verdienſte nicht im mindeſten zu 
ſchmälern vermag. Die Priſengelder fallen natürlich 
Euch zu.“ 

„Ich brauche ſie nicht.“ 

„So werden Eure Freunde klüger denken.“ 

„Auch ich verzichte,“ meinte der Methuſalem. 

„Ik book,“ ſtimmte der Dicke bei. 

„Ich ebenſo,“ lachte Richard. 

„Aberſt ich nicht!“ ſagte Gottfried von Bouillon. 
„Dem Verdienſte ſeine Kronen, und wenn es keine 
Kronen ſein können, ſo nehme ich es ebenſo jern in 
Silber und ſonſtige Scheidemünze. Wer hat dat Schiff 
jenommen? Ich, denn ich bin's jeweſen, der den Balken 
anjebunden hat. Darum will ich mein Teil vom 
Priſenjelde haben, zumal ich als Wichſier und Pfeifen⸗ 
räumer mit meine Oboe nicht auf Roſen jebettet bin. 
Ich will nun endlich auch mal für meine Zukunft Sorje 
tragen.“ 

„Sehr ſchön!“ lachte der Methuſalem. „Ich trete 
dir meinen Anteil ab.“ 

„Ik ook,“ erklärte der Dicke, der zu gutmütig war, 
als daß er an den Strick gedacht hätte, an welchem er 
ſich vorhin vergeblich abgemüht hatte. 

„So mag er alles nehmen!“ rief Turnerſtick. „Eine 
Landratte, ein Fagotttrillerer und Priſengelder! So 
etwas iſt noch nie dageweſen!“ 


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„Oho! Ich ſelbſt bin auch noch nicht dajeweſen, bin 
alſo ein Unikum! Sollte mich die olle Dſchunke jenug 
einbringen, ſo kaufe ich mich auch eine Waſſerpipe und 
ſuche mir einen Jottfried den Zweiten. Dann rauche 
ich mit dem Methuſalem voran, und hinter mich trägt 
Bouillon ſecond die Hukahs alle beide.“ 

„Wollen ſehen, was ſich tun läßt,“ nickte Kapitän 
Beadle. „Der Wind lebt auf, Turnerſtick. Ihr habt die 
Braſſen durchſchnitten. Das war ſehr gewagt. Splißt 
ſie baldigſt wieder zuſammen. Ihr dürft die ſchweren 
Segel nicht ſo hängen laſſen. Kommt eine Bö, ſo ſeid 
Ihr ſamt der Dſchunke verloren.“ 

„Keine Sorge, Sir! Turnerſtick weiß, was er zu 
tun hat.“ . 

„Das mag ſein. Alſo ich verlaſſe Euch nun. Sobald 
wir uns wiederſehen, werdet Ihr mir erzählen, auf 
welche Weiſe Ihr es ſo plötzlich zum Generalmajor ge⸗ 
bracht habt. Im übrigen gratuliere ich den Herren 
allen. Das war ein Stück, von welchem man ſich noch 
lange Zeit und nicht bloß hier erzählen wird. Seht auch 
nun bald nach den beiden Männern, die unten im Kiel⸗ 
raum in dem Kaſten ſtecken. Und nun, auf Wiederſehen!“ 

Er reichte allen die Hand und verließ das Schiff auf 
dem Weg, auf dem er gekommen war, nachdem er vorher 
einem Seekadetten befohlen hatte, mit zwanzig Mann 
zurückzubleiben und Turnerſticks Anweiſungen zu be⸗ 
folgen. Dann gab das Orlogſchiff wieder Dampf und 
ſetzte ſich in Bewegung. Mit lautem Hurra grüßte deſſen 
Mannſchaft herüber; dann warf der ſcharfe Kiel die 
Fluten vor ſich auf. 

Jetzt ließ Turnerſtick die zehn Chineſen wieder los⸗ 
binden, damit ſie die Braſſen durch Spliſſungen wieder⸗ 
herſtellen ſollten. Sie hatten geſehen, was vorgegangen 


— 20 — 


war, und wußten, daß ein Widerſtand jetzt Wahnſinn 
geweſen wäre; ſie gehorchten mit Zittern und Zagen. 

Die Segel wurden wieder voll gebraßt; der Kapitän 
beorderte den jungen Kadetten an das Steuer, dann 
ſetzte ſich auch die Dſchunke in Bewegung. 

Nun kam Turnerſtick auf das Mitteldeck herab, be⸗ 
fahl einige der Marineleute als Wachen in das Unter⸗ 
deck und forderte ſeine Gefährten auf, mit ihm nach den 
beiden Männern im Kaſten zu ſehen. Es wurden Later⸗ 
nen angebrannt, worauf er mit dem Methuſalem, Gott⸗ 
fried, Richard und Liang⸗ſſi hinabſtieg. Dabei wurde der 
letztere von Degenfeld gefragt, ob er nicht wiſſe, wer die 
Perſonen ſeien. 

„Nein,“ erwiderte er. „Ich habe nicht geahnt, daß 
ſich Leute da unten befinden, bin auch nie in den vor⸗ 
deren Kielraum gekommen, da das den Matroſen ver⸗ 
boten war.“ 

Als ſie unten anlangten, konnten ſie mit Hilfe der 
Laternen die Oertlichkeit deutlich erkennen. Der Raum 
war niedrig und nach dem Kiel zu ſehr ſchmal, erweiterte 
ſich aber nach der andern Seite hin. Er war ſo hoch mit 
feuchtem, dumpfig riechenden Sand angefüllt, daß man 
nicht aufrecht ſtehen konnte. Links von der Treppe 
ſtanden die Stinktöpfe, von denen wohl noch über ſechzig 
vorhanden waren. Man ſah, daß ſie erſt mit Sand 
überdeckt worden waren, jedenfalls um von dem das 
Schiff im Hafen beſichtigenden Beamten nicht bemerkt zu 
werden. Rechts war die Scheidewand, welche dieſen 
Ort von dem Mittelkielraum trennte. Dort ſtand der 
erwähnte Kaſten. Er war aus hartem Holz gefertigt, 
oben mit kleinen Luftlöchern verſehen, ungefähr andert⸗ 
halb Meter lang, ebenſo tief und nicht ganz ſo hoch. Die 
Decke bildete zugleich die Tür, die mit einem ſehr ſtarken 


— 21 — 


Querriegel verſchloſſen war. Wenn ſich zwei Perſonen 
in dieſem Behältnis befanden, ſo hatten ſie jedenfalls 
große Pein zu erleiden, da ſie zu einer gebückten, ſitzen⸗ 
den Stellung gezwungen waren und ſich kaum bewegen 
konnten. 

„Jetzt will ich ſelbſt mal mit ihnen reden,“ meinte 
Turnerſtick. „Wenn die Kerls vom Ho⸗tſchang zu dieſer 
Strafe verurteilt wurden, ſo ſind ſie zehnfach gefähr⸗ 
liche Subjekte, mit denen man nicht vorſichtig genug ſein 
kann. Da muß einer mit ihnen reden, der Haare auf 
den Zähnen hat und die Sprache ſehr genau verſteht.“ 

„Es ſind keine Piraten,“ entgegnete der Methuſa⸗ 
lem. „Sie haben uns ja vorhin geſagt, wer ſie ſind.“ 

„Ja, geſagt haben ſie es; aber ich bin nicht ſo 
dumm, es zu glauben. Alſo mal los mit unſrer Sprach⸗ 
wiſſenſchaft!“ Er klopfte an den Kaſten und fragte: 
„Hallo, halling, hallung! Wer iſt da dring im Kaſtong?“ 

Zwei Seufzer und ein kratzendes Geräuſch waren 
die Antwort. 

„Nun, könnt ihrung nicht antworting? Wer iſt da 
in dem Hühnerkäfing?“ 

„Ngot kieu ſchin tſa!“ lautete die flehende Antwort. 

„Was ſagen ſie? Wie heißt das?“ 

„Heda, helft uns! heißt es,“ erklärte der Methuſa⸗ 
lem. Er drängte Turnerſtick mit ſanfter Gewalt beiſeite, 
zog den Riegel fort und ſchlug den Deckel des Kaſtens 
zurück. Zunächſt wurden nur zwei raſierte Schädel ſicht⸗ 
bar. Die dunkeln Haarſtummeln auf deren Mitte be⸗ 
wieſen, daß ſich da Zöpfe befunden hatten, die aber ab⸗ 
geſchnitten worden waren, bei den Chineſen eine ebenſo 
große Schändung wie bei einem Indianer, dem man die 
Skalplocke raubt. 

Die beiden Männer blickten nach oben. Ihre Ge⸗ 


— 222 — 


ſichtszüge waren wegen des dick darauf haftenden 
Schmutzes nicht zu erkennen. Sie wollten ſich erheben, 
um aus dem Kaſten zu ſteigen, fielen aber zurück. Die 
Einſperrung in dieſem entſetzlichen Gewahrſam hatte ſie 
des Gebrauchs ihrer Glieder beraubt. Degenfeld griff 
in den Kaſten, hob ſie nacheinander heraus und ſetzte ſie 
in den Sand. Sie waren ganz der Kleider beraubt. Der 
eine von ihnen ſtarrte vor Schmutz, der andre ſah rein⸗ 
licher aus, doch verbreiteten beide einen Geruch, der 
kaum auszuhalten war. 

„Mok put, ni⸗men put kian — nicht wahr, ihr ſeid 
keine Piraten?“ fragte der Methuſalem mitleidig. 

„Mu, yu — nein, nein!“ antworteten fie ſofort im 
Ton des Abſcheus, und der eine fügte hinzu: „Tſa⸗men 
put tſche fam⸗fu⸗ſuk⸗tſi — wir gehören nicht zu dieſem 
Geſindel!“ 

„Ni⸗teng kuan⸗fu — ihr ſeid Mandarinen?“ 

„Tſche, tſche, ta kuan⸗fu — ja, ja, hohe Mandarinen. 
Ngo ho⸗po⸗ſo, tſche tong⸗tſchi tfai Kuang⸗tſcheu⸗fu — ich 
bin Ho⸗po⸗ſo und dieſer iſt Tong⸗tſchi in Kanton.“ 

Ngo ko ni⸗tſchaai yen — ich werde eure Ausſage 
prüfen!“ 

„Tſa⸗men ko tſän — wir werden die Prüfung be⸗ 
ſtehen.“ 

Degenfeld ſetzte ſeine Fragen fort und erfuhr fol⸗ 
gendes: Der Tong⸗tſchi hatte auf einer Kriegsdſchunke 
nach Kam⸗hia⸗tſchin gewollt, einer kleinen Stadt an der 
Hong⸗hai⸗Bai, und war da von der Piratendſchunke 
überfallen worden. Die Seeräuber hatten die Mann⸗ 
ſchaft des Kriegsſchiffes durch Stinktöpfe überwältigt. 
Auch der Tong⸗tſchi war betäubt worden. Als er er⸗ 
wachte, befand er ſich in dieſem Kaſten. Wie lange er 
da geſteckt habe, wußte er nicht genau. Es war hier dun⸗ 


— 223 — 


kel und er konnte die Zeit nur nach dem Knallen des 
Feuerwerks bemeſſen, das bei jedem Sonnenuntergang 
auf jedem Schiff abgebrannt zu werden pflegt. Nach 
dieſer Rechnung war er ſchon über eine Woche hier und 
infolgedeſſen furchtbar entkräftet. 

Da er nach europäiſchen Begriffen Inſpekteur der in 
der Provinz Kuang⸗tung ſtehenden Militärmacht war, 
wozu auch die Marine gehört, ſo waren ihm die Piraten 
ganz beſonders feindlich geſinnt. Er hatte ihnen ein be⸗ 
deutendes Löſegeld geboten; der Ho⸗tſchang aber hatte 
ihm geantwortet, daß er die Sonne niemals wiederſehen 
und hier in dieſem Kaſten langſam ſterben werde. Man 
hatte ihm täglich nur einen Schluck Waſſer und dazu 
nur wenige, halb faule Früchte gebracht. Als ganz be⸗ 
ſonderen Schimpf hatte man ihn ſeines Zopfes beraubt. 

Der Ho⸗po⸗ſo befand ſich erſt ſeit vorgeſtern in der 
Gewalt der Piraten. Er ſchien ein ſehr pflichttreuer 
Mann zu ſein, denn er erzählte, daß er ganz allein, und 
zwar am Abend, die „Königin des Waſſers“ beſtiegen 
habe, um nach deren Papieren und ſonſtigen Verhält⸗ 
niſſen zu fragen. Die Mandarinen pflegen ſonſt ihres 
Amtes nur mit dem gewohnten Gepränge zu walten. 
Niemand außer ihm wußte, daß er auf dieſe Dſchunke 
gegangen ſei. Ueber dieſen Umſtand hatte er eine unvor⸗ 
ſichtige Bemerkung gemacht und war dann ſofort feſtge⸗ 
nommen worden. 

Sein Amt brachte es mit ſich, jedes unredliche Trei⸗ 
ben zur See mit der Strenge des Geſetzes zu verfolgen. 
Da verſtand es ſich von ſelbſt, daß die Piraten ihn haß⸗ 
ten; ſie hatten kein Bedenken, ſich des Unvorſichtigen zu 
bemächtigen, ihn ſeines Zopfes und ſeiner Kleider zu 
berauben und zu dem Tong⸗tſchi in den Kaſten zu 
ſtecken. Er ſollte deſſen Schickſal teilen. 


Eine ſolche Behandlung zweier Menſchen darf nicht 
allzuſehr wundernehmen. Unter den ſchlechten Eigen⸗ 
ſchaften des ungebildeten Chineſen ſteht neben der Feig⸗ 
heit die Grauſamkeit obenan. Er iſt imſtande, ein Huhn 
lebendig zu rupfen und zu braten, und zwar die Beine 
zuerſt, damit dieſe ſtark anſchwellen und einen knu⸗ 
ſperigen Leckerbiſſen geben. Dieſelbe Gefühlloſigkeit hat 
er auch dem Menſchen gegenüber, ſobald es ſich um 
ſeinen Vorteil oder um eine Tat der Feindſchaft handelt. 
Gegen ſeine Angehörigen aber zeigt er eine deſto größere 
Milde. 

Der Ho⸗po⸗ſo vermochte ſeine Glieder noch leidlich 
zu bewegen. Er konnte, wenn auch mit Anſtrengung, 
an das Deck ſteigen, während ſein Leidensgefährte ge⸗ 
tragen werden mußte. Das geſchah ſelbſtverſtändlich erſt 
dann, als man die nötigen Kleidungsſtücke für ſie her⸗ 
beigeſchafft hatte. Ihre eigenen koſtbaren Anzüge waren 
vernichtet worden. Sie mußten ſich mit den gewöhn⸗ 
lichen Gewändern begnügen, die man in den Kajüten 
der Dſchunke fand. 


Nun ſaßen ſie oben auf dem Verdeck und ſogen die 
friſche Morgenluft mit wonnigen Zügen ein. Es wurde 
im Vorratsraum und der Küche nach Speiſen für ſie 
geſucht und der Mijnheer ſagte: „Ik il voor ze kochen en 
braden; een vuurhaard is daar, ook een ketel hout en de 
vuurſchop — ich will für ſie kochen und braten; ein 
Feuerherd iſt da, auch ein Keſſel, Holz und die Feuer⸗ 
ſchaufel.“ 


„Wat Sie denken!“ lachte Gottfried. „Sie und 
kochen! Ich möchte mal den Pudding ſehen, den Sie 
zuſammenwürgen würden! Nein, dat Kochen iſt die 
meinige Anjelegenheit. Sie würden zu viel Fett in dat 


— 225 — 


Kaſſerol ſchwitzen, wat janz ſo viel wie ein jelinder 
Selbſtmord wäre.“ 

Er ließ es ſich nicht nehmen, das Eſſen zu bereiten; 
der Mijnheer aber ſtand dabei und erging ſich in allerlei 
hilfreichen Bemerkungen, die jedoch zu ſeinem unend⸗ 
lichen Mißbehagen von Gottfried nicht beachtet wurden. 


Indeſſen beſchäftigten ſich der Methuſalem und 
Turnerſtick mit den beiden Mandarinen, die von Dank⸗ 
barkeit für ihre Rettung überfloſſen. Leider konnten ſie 
ihre Freude nicht ohne einen Wermutstropfen genießen: 
fie hatten keine ſtandesgemäßen Anzüge und — keine 
Zöpfe mehr. Wie durften ſie ſich in Hongkong ohne 
beides ſehen laſſen! Nach längerem Hin⸗ und Herreden 
kamen ſie mit Degenfeld dahin überein, daß er ihnen 
Kleider und falſche Zöpfe, aber recht lange und ſtarke, in 
Hongkong, wo das alles zu haben war, beſorgen ſolle. 
Das dafür ausgelegte Geld ſollte er in Kanton erhalten, 
woſelbſt er mit ſeinen Gefährten ihr Gaſt ſein würde. 

Er nahm dieſe für ſeine Ziele ſo vorteilhafte Ein⸗ 
ladung ſofort an. Er konnte ihnen den eigentlichen 
Zweck ſeiner Reiſe freilich nicht ſagen; von ihnen be⸗ 
fragt, erklärte er, daß er aus der fernen Heimat gekom⸗ 
men ſei, um in der Hauptſtadt von Hu⸗nan einen dort 
wohnenden weltberühmten Gelehrten zu beſuchen. Er ſei 
von dem Han⸗lin yhuen!) Deutſchlands eigens zu dem 
Zweck abgeſandt, dieſem großen Kenner der klaſſiſchen 
Bücher die Hochachtung der weſtlichen Länder zu er⸗ 
weiſen. 

Das ſchmeichelte ihrem nationalen Selbſtgefühl 
und der Ho⸗po⸗ſo erklärte: „Das freut mich ſehr. Ich 
erſehe daraus, daß die Tao⸗tſe⸗kue ein gebildetes Volk 


) Akademie der Wiſſenſchaften. 
May, Der blaurote Methuſalem. 15 


— 226 — 


ſind, würdig, von uns Unterricht zu empfangen. Ich 
werde, ſoviel ich kann, dieſer Reiſe allen Vorſchub leiſten.“ 

„Auch mir gefällt dieſer Auftrag, den Sie erhalten 
haben,“ ſtimmte der Tong⸗tſchi bei. „Ich erſehe daraus 
daß Ihre Landsleute vernünftige Menſchen ſind, welche 
die Ueberlegenheit unſrer Literatur anerkennen; ſolche 
Beſcheidenheit iſt der erſte und ſicherſte Schritt zur wiſ⸗ 
ſenſchaftlichen Größe. Die JFu⸗len !), Flan⸗ki:) und Yan- 
kui⸗tſe') find ſchon fo lange mit uns in Verbindung, 
ohne zuzugeben, daß wir ihnen überlegen ſind. Sie wer⸗ 
den alſo nichts lernen und zu Grunde gehen. Zwar iſt 
es meine Pflicht, darüber zu wachen, daß ſich nicht Aus⸗ 
länder unnötig in unſern Diſtrikten bewegen und gar 
durch fremdländiſche Kleidung und ungewöhnliche 
Manieren unſerm Volk ein ſchlechtes Beiſpiel geben; 
aber bei Ihnen will ich eine Ausnahme machen, weil 
ich aus Ihrer Beſcheidenheit erſehe, daß Sie nicht beab⸗ 
ſichtigen, die loyalen Untertanen zu andern Sitten und 
Gebräuchen zu bewegen. Auch gegen Ihre Kleidung will 
ich nichts einwenden, obgleich dieſelbe diejenige eines 
Landes iſt, das noch nicht durch die Kleiderordnung des 
Herrn des Reiches der Mitte beglückt worden iſt; ich 
werde Ihnen ſchriftlich geſtatten, in dieſer Kleidung bei 
uns einherzuwandeln. Auch werde ich Ihnen einen Ta⸗ 
kuan⸗kuan“ ausſtellen, den Sie nur vorzuzeigen brau⸗ 
chen, um überall als ein Mann behandelt zu werden, der 
die höchſten Ehren verdient. Sie brauchen in keinem 
Tien“) einzukehren, ſondern ſteigen, wohin Sie kommen, 
beim Kuang-fuan®) ab und zeigen dem höchſten Be⸗ 
amten, welcher da wohnt, meinen Paß vor. Sie werden 
dann ſeine Gäſte ſein, nichts zu bezahlen haben und bis 


) Holländer. — ) Franzoſen. — ) Engländer. — ) Paß der oberſten 
Behörde. — ) Herberge, Gaſthaus. — ) Gemeindepalaſt. 


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zum nächſten Reiſeziel Sänften oder Pferde bekommen, 
ganz wie es in Ihrem Belieben ſteht. Die Beamten 
ſind verpflichtet, allen Ihren Befehlen, welche nicht gegen 
die Geſetze und Vorſchriften dieſes Landes verſtoßen, 
Gehorſam zu leiſten, und müſſen für Ihre Sicherheit 
und für die Ihrer Begleiter haften.“ 

Das waren Worte und Anerbietungen, wie Degen⸗ 
feld ſie ſich nur wünſchen konnte; er hätte den Mandarin 
vor Freude umarmen mögen. 

Dieſer ſaß jetzt bleicher und matter als vorher da. 
Die lange Rede hatte ihn angegriffen. Dennoch fuhr er 
bereits nach kurzer Zeit fort: „Nun habe ich aber auch 
eine Bitte: verſchweigen Sie, daß Sie uns hier gefunden 
haben! Kein Menſch darf wiſſen, daß wir gefangen waren 
und ſo geſchändet worden ſind. Wenn das vor die ober⸗ 
ſte Behörde käme, würde man uns ſicher unſres Amtes 
entſetzen. Wollen Sie mir verſprechen, daß auch Ihre 
Gefährten ſchweigen werden?“ 

„Sehr gern! Hier iſt meine Hand.“ 

„Ich danke Ihnen! Alles übrige können wir ſpäter 
beſprechen. Jetzt bin ich zu ermüdet. Ich muß ruhen 
und ſchlafen, vorher aber eſſen. Ich werde, wenn wir 
nach Hongkong kommen, mich mit dem Ho⸗po⸗ſo in die 
Kajüte zurückziehen, damit wir nicht geſehen werden. 
Am Abend werden wir dann in den Anzügen, welche 
Sie uns beſorgen und die ich Ihnen ganz genau be⸗ 
ſchreiben werde, die Dſchunke verlaſſen. Vor allen Din⸗ 
gen dürfen Sie die Knöpfe auf unſern Hüten nicht ver⸗ 
wechſeln: ich habe die Würde eines Staatsrats und 
trage einen blauen Stein; der Ho⸗po⸗ſo hat den Rang 
eines Aſſeſſors der höchſten Kollegien und muß einen 
lichtblauen Stein haben.“ 

„Werden die in Hongkong zu kaufen ſein?“ 


— 228 — 


„Ja, wenn auch nicht echt; aber für die kurze Fahrt 
nach Kuang⸗tſchéu⸗fu werden wir uns ihrer bedienen 
können. Ferner verſteht es ſich ganz von ſelbſt, daß wir 
mit der engliſchen Behörde, der die Piraten ausgeliefert 
werden, nichts zu tun haben mögen. Dieſe Beamten 
dürfen ja nicht wiſſen, daß wir hier geweſen ſind. Da 
aber die Schuldigen chineſiſche Untertanen ſind, wird 
man ſie uns ausliefern, und dann werde ich dafür ſor⸗ 
gen, daß ſie die Strafe der Räuber, nämlich den Tod, er⸗ 
leiden.“ 

Jetzt brachte der Gottfried Reis und Fleiſch. Die 
beiden Mandarinen erhielten Eßſtäbchen und begannen 
ihre Mahlzeit. Darauf zogen ſie ſich in die Kajüte zurück, 
welche die fünf Reiſenden geſtern angewieſen erhalten 
hatten. 

Mittlerweile trat die Flut ein. Die See bewegte ſich 
nach dem Lande zu, gerade ſo wie der Wind, und die 
Dſchunke machte eine gute Fahrt. Backbordſeits wurden 
Felſen ſichtbar, in denen Turnerſtick das Kap Aquila er⸗ 
kannte. Die Dſchunke ſegelte an den davor liegenden 
kleinen Inſeln hin, gelangte noch am Vormittag durch 
die Bai von Si⸗wan auf die Reede von Hongkong und 
wendete nach dem Hafen von Viktoria. 

Man ſah den ganzen Landungsplatz von einer an⸗ 
ſcheinend nach Tauſenden zählenden Menſchenmenge 
beſetzt. Die Leute ſtanden Kopf an Kopf, auch auf den 
vor Anker liegenden Schiffen. 

Das Polizeiboot kam der Dſchunke entgegen. Es 
war mit bewaffneten Beamten gefüllt und Kapitän 
Beadle befand ſich bei ihnen. Sie legten, noch während 
die Dſchunke ſich in halber Fahrt befand, ſeitſchiffs an 
und ſtiegen an Bord. Der Marinekapitän eilte auf Tur⸗ 
nerſtick zu und rief: „Ich habe den Fall bereits gemeldet 


— 229 — 


und die ganze Bevölkerung iſt auf den Beinen. Man iſt 
ganz begeiſtert über eure Tat und freut ſich, daß dem 
Hai⸗lung endlich ſein verdienter Lohn wird. Der Platz, 
wo ihr anzulegen habt, iſt ſchon beſtimmt, da ſteuer⸗ 
bordſeits in der breiten Lücke. Paßt auf! Der Krawall 
geht bereits los. Ich will zur Flagge gehen.“ 

Von dem nächſtliegenden Schiff ertönte ein Kano⸗ 
nenſchuß, welchem Beiſpiel die Geſchütze der andern 
Schiffe folgten. So weit man ſehen konnte, wurden die 
Flaggen geſenkt und gehoben, um die Eroberer des Hai⸗ 
lung zu begrüßen und zu ehren. Tauſende von Hurras 
und andere Zurufe ertönten in allen möglichen Zungen. 
Das kreiſchende „Tſching tſching“ der Chineſen war am 
deutlichſten zu hören. Hundert Arten von Kappen, 
Mützen, Hüten und ſonſtigen Kopfbedeckungen wurden 
geſchwenkt. Dann raſſelte der Anker in den Grund und 
die Bugkette wurde an das Land geworfen. 

Da ſtanden engliſche Marineſoldaten, welche an 
Bord kamen; ſogar der Gouverneur ſelbſt ſtellte ſich ein, 
um die Vorunterſuchung in eigener Perſon zu führen. 
Die Ausſagen der fünf Helden wurden zu Protokoll ge⸗ 
nommen. Der Gouverneur bat ſie, einſtweilen noch nicht 
abzureiſen, und ſie entſchloſſen ſich, im Hongkong⸗Hotel 
zu wohnen. Die beiden Mandarinen wurden von ihnen 
als unſchuldige Reiſende bezeichnet, die auch ausgeraubt 
worden ſeien und erſt nach erfolgter Neubekleidung am 
Abend die Dſchunke verlaſſen könnten, wogegen die Be⸗ 
hörde keinen Einſpruch erhob. Von den Gefangenen im 
Ballaſtraum waren einige erſtickt; die andern lebten. 
Sie wurden an Deck geſchafft und paarweiſe zuſammen⸗ 
gebunden, um in ſicheren Gewahrſam gebracht zu werden. 

Darüber waren wohl zwei Stunden vergangen; 
aber die Menge ſtand noch dicht gedrängt am Ufer. Als 


— 230 — 


die Piraten unter bewaffneter Bedeckung über die Lande⸗ 
brücke marſchierten, wurden ſie mit Ausrufen des Zorns 
und Abſcheus empfangen. Die Polizei hatte vollauf zu 
tun, das Publikum von Tätlichkeiten abzuhalten. 

„Gottfried, meine Pfeife!“ befahl der Methuſalem. 

„Hat ihm ſchon!“ antwortete der Wichſier, indem er 
ihm das Mundſtück reichte. „Wir müſſen unſern Einzug 
mit die nötige Würde und in der jewohnten Ordnung 
halten, um die Chineſigen zu imponieren. Ich erhebe 
mir ſogar zu dem Vorſchlag, hier zu warten, bis man 
uns einige Triumphbögen oder wenigſtens ein Branden⸗ 
burjer Tor jebaut hat, denn wir haben uns herabjelaſſen, 
die Helden dieſes glorreichen Tages zu ſind. Nicht wahr, 
Mijnheer?“ 

„Ja, het is in waarheid zoo. Wij zijn tappere veld⸗ 
heeren en mannen geweeſt — ja, das iſt in Wahrheit ſo. 
Wir ſind tapfere Feldherren und Männer geweſen.“ 

Der Gouverneur und die Kriminalbeamten verab⸗ 
ſchiedeten ſich von den Reiſenden, um das Schiff zu 
verlaſſen. Dann ſetzten ſich die letztern in Bewegung, 
und zwar in der altbekannten Ordnung: voran der 
Hund, dann der rauchende Methuſalem, hinter ihm Gott⸗ 
fried mit der Pfeife und dem Fagott, gefolgt von 
Richard, der diesmal nicht allein, ſondern mit Liang⸗ſſi 
ging. Den Beſchluß machten Turnerſtick mit dem Mijn⸗ 
heer. Als ſie auf der Landebrücke erſchienen, wurden ſie 
mit jubelnden Zurufen empfangen. Die Menge bildete 
Spalier, das ſie gravitätiſch paſſierten, indem ſie, würde⸗ 
voll nickend, nach beiden Seiten dankten. 

Plötzlich blieb Turnerſtick ſtehen. „Alle Wetter!“ 
rief er laut. „Methuſalem, da ſtehen die beiden Schur⸗ 
ken mit ihrer Sänfte, in der ich vor kurzem gelaufen 
wurde! Wollen wir ſie arretieren laſſen?“ 


— 231 — 


Der Blaurote drehte ſich um. Er ſah die beiden 
Kulis ſtehen. Hinter ihnen ſtand die Sänfte am Boden. 
Sein Bart zuckte; ein Lächeln glitt über ſein Geſicht. 
„Nein, lieber Freund,“ antwortete er. „In den heutigen 
Jubel dürfen wir keinen Mißklang bringen. Aber ihren 
geſtrigen Fehler ſollen ſie dennoch gut machen.“ 

Er wendete ſich an die Kulis und die in ihrer Nähe 
ſtehenden Männer und rief gebieteriſch, indem er auf 
Turnerſtick und die Sänfte deutete: „Dieſer große Held, 
Tur⸗ning⸗ſti⸗king, der hohe Generalmajor, wünſcht auf 
der Sänfte getragen zu werden; macht ſchnell!“ 

Dieſe Aufforderung konnte den Leuten nicht ge⸗ 
legener kommen. Der „hohe Generalmajor“ wurde 
augenblicklich von zehn, zwölf Händen ergriffen und auf 
den Kaſten der Sänfte geſetzt. Ebenſo raſch hoben die 
Kulis die letztere empor und traten zwiſchen dem Gott⸗ 
fried und Richard mit Liang⸗ſſi ein. Der Zug ſetzte ſich 
wieder in Bewegung und wurde von einem nicht enden⸗ 
wollenden Jubel der Menge begleitet. 

Turnerſtick machte erſt eine Bewegung, um abzu⸗ 
ſpringen, fand ſich aber ſchnell in ſeine Lage; auf der 
Höhe der Sänfte war er ja der Gefeiertſte von allen. Er 
grüßte eifrig und huldvollſt mit den Händen, wobei er 
den Klemmer unaufhörlich verlor und wieder auf die 
Vorlukennaſe ſetzen mußte, und antwortete auf die vielen 
„Tſching tſchings“, die ihm zugerufen wurden, mit ſeinen 
beſten chineſiſchen Ausdrücken. 

Vor der Tür des Hotels wurde er abgeſetzt, ver⸗ 
beugte ſich vor der Menge und rief mit lauter Stimme: 
„Meine verehrteſteng Herreng und liebreicheng Dameng! 
Es iſt mir gelunging, die Piratung zu beſiegeng und 
ihnen ihre Dſchunking abzunehmang! Sie habeng mich 
dafür mit Huld empfanging und im Triumph hierher ge⸗ 


— 232 — 


tragong. Geſtatteng Sie mir, Ihneng meineng Dank 
zu erſtattung, und lebing Sie für einſtweilang wohl. 
Hoffentling werdeng Sie bald noch mehr vong uns 
hörang. Ich wünſche Ihneng allerſeits einang gutung 
Morging!“ 

Dann verbeugte er ſich abermals und verſchwand 
in der Tür. Während das Publikum, das kein Wort ver⸗ 
ſtanden hatte, in beifällige Rufe ausbrach, trat er in das 
Zimmer, in welchem ſich ſeine Gefährten bereits befan⸗ 
den. Er ſchlug dem Mijnheer auf die Achſel und ſagte: 
„Herrlich, herrlich! Nicht wahr?“ 

„Gewiſſelijk, op mijn woord!“ beteuerte der Dicke. 

„Ja, das war ein ganz andrer Empfang als geſtern. 
Heut find die Tſching tſchings nur fo um mich herum⸗ 
geflogen. Ich habe mich aber auch aufs herzlichſte be⸗ 
dankt. Hören Sie es? Die Leute jubeln noch immer. Ich 
muß mich ihnen wirklich noch einmal zeigen.“ 

Er machte das Fenſter auf, grüßte mit dem Fächer 
und ſchrie ein letztes, kräftiges „Tſching tſching tſching“ 
hinaus 


Zehntes Kapitel. 
Landeinwärts. 


China iſt ein wunderbares Land. Seine Kultur 
hat ſich in ganz andrer Richtung bewegt und ganz andre 
Formen angenommen als diejenige aller übrigen 
Nationen. Und dieſe Kultur iſt hochbetagt, greiſenhaft 
alt: die Adern ſind verhärtet und die Nerven abge⸗ 
ſtumpft; der Leib iſt verdorrt und die Seele vertrocknet. 

Schon Jahrtauſende vor unſrer Zeitrechnung hatte 
dieſe Kultur eine Stufe erreicht, die erſt in allerneueſter 
Zeit überſchritten zu werden ſcheint, und zu dieſem Fort⸗ 
ſchritt iſt China mit der Gewalt der Waffen gezwungen 
worden. Derjenige franzöſiſche Miſſionar, der das Reich 
der Mitte le pays de l’äge caduc, das Land des hohen 
Alters nannte, hat ſehr recht gehabt. Es iſt da eben alles 
greiſenhaft, ſogar die Jugend. 

Wer die Kinder beobachtet, lernt die Eltern genau 
kennen. So iſt es auch mit dem Volke. Eine Nation iſt 
unſchwer nach dem Tun und Treiben ihrer Kinderwelt 
zu beurteilen. Die Arbeit des Kindes iſt das Spiel. Wie 
aber ſpielt der Chineſe? 

Der Europäer ſieht im Spiel das Mittel zur kör⸗ 
perlichen und geiſtigen Kraftentwicklung. Er will die 


— 234 — 


Muskeln ſtärken, die Knochen feſtigen, die Bruſt er⸗ 
weitern, die Willenskraft erwecken, den Scharfblick üben 
und das Gemüt bereichern. Das Spiel ſoll im Knaben 
den ſpätern Mann, im Mädchen die einſtige ſorgliche, 
treue Hüterin des Hauſes erkennen laſſen. 

Anders bei den Chineſen. Wo ſieht man da die 
roten Wangen und blitzenden Augen, wo hört man das 
luſtige helle Jauchzen der Kinder? Faſt nirgends! Der 
chineſiſche Knabe tritt aus ſeiner Tür langſam und be⸗ 
dächtig, ſchaut um ſich wie ein Alter, ſchreitet ohne 
irgend eine lebhafte Bewegung nach dem Spielplatz hin 
und ſinnt nun nach, womit er ſich beſchäftigen werde. Da 
erblickt er beiſpielsweiſe ein Heimchen. Er fängt es, 
ſucht noch eins dazu und ſetzt ſich nieder, um die beiden 
Tiere gegeneinander kämpfen zu laſſen. Mit Behagen 
ſieht er, wie ſie ſich die Glieder abbeißen, ſich gräßlich 
verſtümmeln und ſelbſt dann noch kämpfen, wenn ſie 
nur noch aus dem gliederloſen Rumpf beſtehen. Iſt es 
da ein Wunder, daß die Grauſamkeit und Gefühlloſigkeit 
des Chineſen als eine ſeiner hervorragendſten Eigen⸗ 
ſchaften bezeichnet werden muß? 

Dort ſpielen zwei Knaben Ball. Sie ſchleudern ihn 
einander nicht zu; ſie fangen und ſchlagen ihn nicht; ſie 
werfen ihn nicht an eine Mauer, um ihn abprallen zu 
laſſen und wieder aufzufangen. Der eine ſchlägt den Ball 
mit der flachen Hand ſo oft in die Höhe, als es ihm mög⸗ 
lich iſt, ohne ihn zur Erde fallen zu laſſen. Iſt dieſes 
letztere geſchehen, ſo nimmt der andre ihn auf und ver⸗ 
ſucht dasſelbe Spiel. So ſtehen ſie ſtill und ſtumm 
nebeneinander, doch nein, nicht ſtumm, denn ſie zählen. 
Für jeden Schlag, der dem erſten mehr gelingt als dem 
zweiten, hat dieſer letztere einen Kern, eine Frucht oder 
ſonſt etwas zu bezahlen. Dabei ſuchen ſie einander nach 


— 235 — 


Kräften zu betrügen. Hier entſpringt der große Eigen⸗ 
nutz, die gewiſſenloſe Schlauheit, die den Thineſen aus⸗ 
zeichnet. 

Das Hauptſpiel der Knaben iſt das Drachenſteigen⸗ 
laſſen. Es iſt das ſogar ein Sport, den die erwachſenen 
Männer, reich und arm, vornehm und niedrig, treiben. 
Der Chineſe hat es darin zu einer Fertigkeit gebracht, die 
Bewunderung erregt und einer beſſern Sache wert 
wäre. Es gibt wohl kaum irgend ein Tier, deſſen Ge⸗ 
ſtalt der Sohn der Mitte nicht, in Papier nachgeahmt, in 
die Luft ſteigen ließe. Am prächtigſten bildet er den 
Tauſendfuß nach; die Geſtalt iſt oft an die zwanzig 
Meter lang und ahmt die Bewegung des Tieres mit 
merkwürdiger Naturtreue nach. Habichte ſteigen an einer 
und derſelben Schnur in die Höhe und umkreiſen ein⸗ 
ander genau ſo, wie wirkliche Habichte es an windigen 
Tagen tun. 

Während der deutſche Knabe ſeinen Drachen aus 
reiner, unſchuldiger Luſt an der Sache ſteigen läßt, ver⸗ 
bindet der Tſchin⸗tſe⸗tſi) mit dieſem Spiel eine heim⸗ 
tückiſche Abſicht. Er beſtreicht die Schnur mit einem 
Klebſtoff und ſtreut geſtoßenes Glas darauf. Mit dieſer 
Schnur ſucht er dann die Drachenſchnüre andrer Knaben 
zu durchſchneiden oder zu durchſägen, daß deren Drachen 
vom Wind mit fortgenommen werden. Sollte damit 
nicht die bekannte chineſiſche Hinterliſt und Schaden⸗ 
freude großgezogen werden? 

Turnanſtalten kennt man nicht; daher der Mangel 
an Mut und körperlicher Gewandtheit. 

Mädchen ſieht man niemals im Freien ſpielen. Sie 
ſind zu derſelben Abgeſchloſſenheit wie ihre Mütter ver⸗ 
urteilt. Es iſt ſehr ſchwer, bei einem Beſuch die Frau 


9 Chineſenknabe. 


— 236 — 


des Hauſes zu Geſicht zu bekommen. Und doch haben die 
Chineſen das nicht etwa den Hoel⸗hoei!) abgelauſcht, 
deren es Millionen bei ihnen gibt. 

So ſpielt die Jugend faſt nur, um die ſchlechten 
Eigenſchaften zu entwickeln, die ſich beim Erwachſenen 
ausgebildet haben. Spricht ein Fremder mit einem 
Knaben, ſo bekommt er keine lebhaften Antworten zu 
hören, kein freundlich lächelndes Geſicht zu ſehen. Es iſt 
ganz ſo, als ob er mit einem Alten ſpräche; alles 
greiſenhaft. 

Und wie der Greis, der ſich am Spätabend ſeines 
Lebens nicht erſt von ſeinen bisherigen Anſchauungen 
trennen will, ſo iſt auch der Chineſe nicht leicht bereit, 
die Anſichten andrer ſich anzueignen. Dies iſt beſonders 
in religiöſer Beziehung der Fall, weshalb die chriſtliche 
Miſſion in China noch gar keine nennenswerten Früchte 
getragen hat. 

Mag der Miſſionar die herrlichen Lehren des Chri⸗ 
ſtentums immerhin noch ſo eifrig und noch ſo begeiſtert 
entwickeln, der Chineſe hört ihm ruhig zu, ohne ihn zu 
unterbrechen, denn das gebietet die Höflichkeit; aber am 
Schluſſe wird er freundlich ſagen: „Du haſt ſehr recht 
und ich habe auch recht. Put tun kiao, tun li; ni⸗men 
tſchu hiung,“ zu deutſch: „Die Religionen ſind verſchie⸗ 
den, die Vernunft iſt nur eine; wir ſind alle Brüder.“ 

Die Neuerungen, welche die letzten Jahrzehnte dem 
Land gebracht haben, ſind ihm entweder aufgezwungen 
worden, oder der Chineſe hat ſich zu ihnen nur aus 
Eigennutz verſtanden. Sie ſind auch nur in Küſten⸗ 
gegenden zu ſpüren, während das Landesinnere nach 
wie vor wie ein Igel die Stacheln gegen jede fremde Be⸗ 
rührung ſträubt. 


) Mohammedaner. 


— 237 — 


Kanton iſt diejenige Stadt, wo der lebhafteſte Frem⸗ 
denverkehr herrſcht. Darum verhält man ſich dort gegen 
den Ausländer und ſeine Kultur nicht ſo ſehr abweiſend 
wie anderswo. Man ſieht ein, daß der Umgang mit ihm 
große Vorteile bringt; man möchte ſich dieſe Vorteile 
wohl gern aneignen, ſieht aber durch die Geſetze einen 
ſtarren Zaun um ſich gezogen, der nicht zu überſteigen iſt. 
Höchſtens darf man ſich erlauben, heimlich eine Lücke 
durch ihn zu brechen. 

Eine ſolche Lücke war es, die ſich dem Methuſalem 
öffnete, als der Tong⸗tſchi ihm und ſeinen Gefährten die 
Gaſtfreundſchaft anbot und einen Paß verſprach. Ueber 
eine Woche hatten ſie in Hongkong bleiben müſſen, 
bevor die Unterſuchung gegen die Piraten ſo weit ge⸗ 
diehen war, daß die Vernehmung der Zeugen nicht mehr 
vonnöten war. Der Tong⸗tſchi war mit dem Ho⸗po⸗ſo 
ſchon am erſten Abend abgereiſt, und beide hatten dem 
Studenten geſagt, wo und wie er ſie in Kanton finden 
könne. 

Dieſen Namen für die Stadt anzuwenden iſt falſch. 
Kanton oder vielmehr Kuang⸗tung heißt die Provinz. 
Der Name der Hauptſtadt aber iſt Kuang⸗tſchéu⸗fu. Sie 
liegt 150 Kilometer vom Meere entfernt am nördlichen 
Ufer des Perlſtroms und bildet ein unregelmäßiges 
Viereck, das von einer neun Kilometer langen Mauer 
umgeben wird. Dieſe iſt auf Sandſteinfundament aus 
Ziegeln gebaut, acht Meter hoch und ſechs Meter dick 
und wird von fünfzehn Toren durchbrochen. Eine Quer⸗ 
mauer, durch welche vier Tore gehen, ſcheidet die Alt⸗ 
oder Tatarenſtadt von der Neu⸗ oder Chineſenſtadt. An 
den Seiten ſchließen ſich ausgedehnte und volkreiche Vor⸗ 
ſtädte an, welche jedoch der zahlreichen Bevölkerung nicht 
Platz genug bieten, weshalb über dreihunderttauſend 


— 238 — 


Menſchen auf Flößen, Booten und ausgedienten Schiffen 
wohnen, die an die Flußufer befeſtigt ſind, aber ſo oft 
ihre Plätze wechſeln, daß für den eigentlichen Strom⸗ 
verkehr nur eine ſchmale Waſſerinne frei und offen 
bleibt. 

Man ſchätzt die Zahl dieſer Boote, welche Sam⸗pan 
genannt werden, auf über achtzigtauſend; ihre Bewohner 
werden mit dem Namen Tan⸗kia bezeichnet. Auf dieſen 
Sam⸗pan herrſcht ein ſo wechſelvolles Leben, daß der 
Fremde wochenlang zuſchauen könnte, ohne müde zu 
werden. Doch iſt es für ihn keineswegs geraten, mit all⸗ 
zu großem Vertrauen ein ſolches Boot, beſonders des 
Nachts, zu beſteigen, denn die Tan⸗kia ſind Menſchen, 
vor denen man ſich wohl in acht zu nehmen hat. Sie 
gehören der ärmſten Klaſſe, der Hefe des Volkes an, 
haben entſetzlich mit der Not des Lebens zu ringen und 
finden demnach alle Veranlaſſung, die Mandarinen als 
Blutegel zu betrachten, vor denen ſie die Taſſe magern 
Reis, die ihren Hunger ſtillen ſoll, verbergen müſſen. Da 
wird die Not dann ſtärker als die Ehrlichkeit, und ſo 
führen die meiſten Tan⸗kia ein Leben, das die Augen des 
Geſetzes mehr oder weniger zu ſcheuen hat. 

Man lockt die Fremden unter den verſchiedenartig⸗ 
ſten Vorſpiegelungen auf die Boote. Wohl dem, der 
dann nur als gerupftes Hühnchen davonſchwimmen darf! 
Tauſende ſind verſchwunden — vielleicht in die Magen 
der Fiſche, ohne daß eine Spur von ihnen aufzufinden 
war. 

Längs des Fluſſes ſtehen die fremden Faktoreien mit 
ihren großen, wohlgepflegten Gärten und rieſigen 
Warenhäuſern, welche Hong genannt werden. Scha⸗ 
mien, das Europäerviertel, hat eine ſehr maleriſche Lage. 
Es war urſprünglich eine in den Perlfluß vorſpringende 


— 239 — 


Landzunge und wurde durch einen hundert Fuß breiten 
Kanal vom Lande abgetrennt. Jetzt iſt es ein Gemein⸗ 
weſen für ſich. Drei Brücken, die durch Gittertore ver⸗ 
ſchloſſen werden können, führen nach Kanton hinüber, 
und die eleganten Steinhäuſer liegen zwiſchen grünen 
Grasplätzen, duftenden Gärten und ſchattigen Alleen ſo 
angenehm, wie hier nur möglich. 

Hier legte der Dampfer der „China Navigation 
Company“ an, den die ſechs Reiſenden doch noch benutzt 
hatten, um nicht möglicherweiſe abermals auf eine 
Piratendſchunke zu geraten. 

Obgleich der Dampfer den letzten Teil der Strecke 
nur mit halber Schnelligkeit fuhr, ſchien es doch unbe⸗ 
greiflich, daß er die umherjagenden Boote nicht dutzend⸗ 
weiſe unter ſich begrub. 

Und wie ging es erſt am Landeplatze zu! Da dräng⸗ 
ten ſich Hunderte und Aberhunderte auf die ausſteigen⸗ 
den Paſſagiere los, um einige Sapeken zu verdienen. 
Das ſchrie, brüllte, kreiſchte durcheinander, daß man die 
einzelnen Stimmen faſt gar nicht zu unterſcheiden ver⸗ 
mochte. Da boten ſich Sänftenträger, Wäſcher, Barbiere, 
Bootsleute, Führer, Händler, Dolmetſcher an, indem 
einer den andern zur Seite ſtieß, um ſich vorzudrängen. 
Der Methuſalem wartete, bis die Schreienden glaubten, 
daß das Schiff ſich geleert habe, und ſich einen andern 
Ort ſuchten, um dort denſelben Spektakel zu wiederholen. 

In Scha⸗mien gibt es nur einen einzigen Gaſthof, 
der einem portugieſiſchen Wirt gehört. Dorthin begaben 
ſich die ſechs zunächſt, und zwar in der bekannten Weiſe 
und Reihenfolge. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß ſich ſo⸗ 
gleich eine Menge Menſchen fanden, die von dem An⸗ 
blick der für ſie fremdartigen, ſonderbaren Geſtalten her⸗ 
beigelockt wurden. Der Ausruf „FJan⸗kwei“, fremde 


— 240 — 


Teufel, wurde vielfach hörbar, doch wagte niemand, die 
Reiſenden zu beläſtigen, wohl wegen deren würdevoller 
Haltung und weil man in Turnerſtick wirklich einen 
Man⸗darin vermutete. 

Der Gaſthof war keineswegs ein Hotel zu nennen. 
Die Europäer werden tagsüber von ihren Geſchäften 
vollſtändig in Beſchlag genommen und des Abends 
verſammeln ſie ſich in ihren verſchiedenen landsmän⸗ 
niſchen Klubs, ſo daß der Gaſtwirt alſo nur mit be⸗ 
ſcheidenem Zuſpruch rechnet. 

Er bot den Reiſenden ſogleich Zimmer an; Degen⸗ 
feld aber lehnte ab und fragte nur, ob Bier zu haben ſei. 
Er hatte keins, erbot ſich aber, welches aus dem nahen 
Klubhauſe holen zu laſſen, und bald bekamen ſie einen 
vortrefflichen Bergedorfer Gerſtenſaft vorgeſetzt, den ſie 
ſich aus dem Stammglas des Blauroten munden ließen. 

„Ich dachte, Sie wollten hier kein Bier mehr je⸗ 
nießen,“ meinte der Gottfried. „Wenigſtens ſagten Sie 
in Hongkong ſo, von wejen die teuren Preiſe.“ 

„Ja, dat heeft hij gezegd — ja, das hat er geſagt,“ 
ſtimmte der Dicke bei. 

„O, der Methuſalem und kein Bier! Dat paßt nie 
zuſammen.“ 

„Paßt ſchon!“ ſagte Degenfeld. „Heut aber darf ich 
es mir ſchon noch bieten. Wir haben für dieſe ganze 
Woche im Hotel nichts zu bezahlen gehabt, weil wir als 
Zeugen zum Bleiben gezwungen waren. Old England 
hat unſre Zeche übernommen. Darauf können wir uns 
nun einige Gläſer genehmigen. Aber unſer Freund 
Liang⸗ſſi wird nicht länger teilnehmen können.“ 

„Warum nicht?“ fragte der Genannte. 

„Weil Sie fort müſſen, nämlich zuerſt zu dem 
Agenten, der den Brief nach Deutſchland beſorgte, und 


— 241 — 


ſodann zum Tong⸗tſchi, um ihm zu melden, daß wir an⸗ 
gekommen ſind. Wir werden hier abwarten, ob der 
erſtere uns vielleicht hier aufſucht und ob der letztere 
ſein Wort hält und uns zu ſich kommen läßt.“ 

Der Chineſe entfernte ſich bereitwillig. 

Der Methuſalem fühlte ſich bald gelangweilt von 
den neugierig auf ihn gerichteten Blicken der übrigen im 
Wirtszimmer anweſenden Gäſte. Er ſah, daß hinter dem 
Hauſe ein Garten lag, und ging hinaus, um einmal 
einen chineſiſchen Garten in Augenſchein zu nehmen. 


Wenn er geglaubt hatte, hier echt chineſiſche Anlagen 
zu erblicken, ſo war er von einer großen Täuſchung befan⸗ 
gen geweſen. Der Garten war klein, auf drei Seiten von 
Mauern umgeben, ſtieß mit der vierten an das Haus 
und zeigte nicht einmal eine Blume, ſondern lauter 
Küchengewächſe. Nur an der dem Hauſe gegenüber 
liegenden Mauer ſtand ein ſchön blühender Strauch, 
den er noch nicht kannte. Er trat näher, um die Blüten 
genauer zu betrachten. Da hörte er einen Pfiff jenſeits 
der Mauer, an der Stelle, wo er diesſeits ſtand. Die 
Mauer reichte ihm bis an die Schulter. Ganz unwillkür⸗ 
lich bog er den Kopf vor, um zu ſehen, wer da gepfiffen 
habe. N 

Es ſtand ein Chineſe draußen, der ſehr gut gekleidet 
war, alſo der beſſern Klaſſe angehören mußte. Auch der⸗ 
jenige, dem der Pfiff gegolten hatte, war zu ſehen. Die⸗ 
ſer gehörte ganz gewiß dem niedrigſten Pöbel an. Er 
war barfuß; die Hoſe reichte ihm nur bis an die Knie; 
anſtatt eines Rocks oder einer Jacke trug er einen aus 
langen Grashalmen gefertigten Umhang in Form eines 
rundum vom Halſe bis auf den Unterleib niederhängen⸗ 
den Kragens. Der Kopf war unbedeckt und mit einem 

Bay, Der blaurote Methuſalem. 16 


— 242 — 


dünnen Zöpfchen verziert, das einem Rattenſchwanz ſehr 
ähnlich ſah. 

An der Mauer führte ein gerader, ſchmaler Weg 
vorüber, jenſeits deſſen hinter Mauern wieder Gärten 
lagen. Auf dieſem Weg, zwiſchen den Mauern, kam der 
Mann eiligſt herbeigelaufen. „Tſching, tſching, ta bang!“ 
grüßte er bereits von weitem. 

Ta bang heißt großer Kauf⸗ oder Handelsherr. 

„Schrei nicht ſo!“ warnte ihn der andre, natürlich 
in chineſiſcher Sprache. „Niemand braucht zu hören, daß 
ſich hier jemand befindet. Warum haſt du mich ſo lange 
warten laſſen?“ 

„Ich ſtand weiter oben und wartete auf den ſehr 
alten Herrn.“ Wenn der Chineſe ſehr höflich ſein will, 
ſo nennt er ſich ſehr jung und den, mit welchem er 
ſpricht, ſehr alt. Mit dem „ſehr alten Herrn“ war alſo 
der andre gemeint, obgleich er höchſtens halb ſo alt wie 
der Sprecher war. 

„Nun, haſt du es dir überlegt?“ fragte dieſer. — 
„Ja. Ich kann es nicht tun.“ — „Warum nicht?“ — 
„Es iſt zu gewagt und bringt nichts ein.“ — „Biſt du 
toll, oder haſt du vergeſſen, wieviel ich dir geboten 
habe?“ — „Ich habe es nicht vergeſſen, tauſend Li.“ — 
„Nun, iſt das nicht genug?“ — „Nein, es iſt zu wenig.“ 
— „Um einen Gott zu ſtehlen? Das iſt doch ſehr leicht.“ 
— „Ja, aber ich ſoll den Gott nicht nur ſtehlen, ſondern 
ihn auch bis in das Innere der Stadt bringen und ihn 
ſogar noch im Garten des Lin) vergraben. Das iſt eine 
dreifache Mühe.“ — „Nein, es iſt nur eine einzige Tat.“ 
— „Den Gott ſtehlen, den Gott bringen und den Gott 
vergraben, das ſind drei ganz verſchiedene Taten. Ich 
müßte alſo dreitauſend Li bekommen.“ — „Schurke! Ich 


Nachbar. 


— 243 — 


gebe tauſend, nicht mehr!“ — „Der ältere Herr mag be⸗ 
denken, daß die Sache nicht leicht iſt. Der Gott iſt aus 
Metall, halb ſo groß wie ich und ſehr ſchwer. Ich 
brauche noch einen zweiten Mann dazu.“ — „Du biſt 
kräftig genug; ich kenne dich und weiß, was du zu leiſten 
vermagſt.“ — „Tragen könnte ich ihn vielleicht allein, 
aber in die Stadt bringen nicht, weil ich ihn in eine 
Sänfte ſetzen muß. Und zu einer Sänfte gehören doch 
zwei Männer.“ — „Das iſt freilich wahr.“ — „Alſo 
müßte ich wenigſtens zweitauſend Li bekommen, ein⸗ 
tauſend für mich und eintauſend für den andern.“ — 
„Aber am Tage kannſt du den Gott nicht ſtehlen und des 
Nachts ſind die Straßen verſchloſſen; da kannſt du ihn 
nicht bringen!“ — „Ich ſtehle ihn in der Dämmerung. 
Jetzt werden die Straßen erſt eine Stunde nach Ein⸗ 
bruch des Abends geſchloſſen. Da habe ich vollſtändig 
Zeit, ihn zu bringen und auch einzugraben.“ 

Wenn dieſer Mann von einer Stunde ſprach, ſo 
find das nach unſrer Zeitrechnung zwei. Der Chineſe 
hat nämlich zwölf Doppelſtunden, „Schi“ genannt, deren 
erſte nachts elf bis ein Uhr währt. 

„Mute dir nicht zu viel zu!“ warnte der Vornehme. 
„Beſſer iſt's, du ſtiehlſt ihn heute und bringſt ihn mor⸗ 
gen zu meinem Nachbar.“ 

„Ich habe kein Verſteck, ihn bis morgen aufzube⸗ 
wahren. Mein Herr Wing⸗kan muß bedenken, daß ſich 
ein großer Lärm erheben wird, wenn man erfährt, daß 
ein Gott im Tempel fehlt. Die ganze Stadt wird in 
Aufruhr geraten, vielleicht heute abend ſchon. Er muß 
vergraben werden, gleich nachdem ich ihn geſtohlen habe. 
Ich bringe ihn im Siüt⸗ſchi und bin noch vor dem Hai⸗ 
ſchi fertig.” 

Die Doppelſtunden heißen, wie ſchon erwähnt, 


a: AR: ea 


„Schi“, welchem Worte die Zeichen des Zwölferzyklus 
vorgeſetzt werden. So entſtehen folgende Namen: 

tsi- schi 11 bis 1 Uhr 

tsch'eu-schi 1 „ 3 „ 


yin-schi 8. „ 5 „ 
maö-schi Dia 
schinschi 7 „ 9 „ 
ssi-schi u Var 
ngu-schi il: 5 5 
wei-schi I 3: 29. % 
schin-schi 3 „ 5 „ 
yeü-schi 5 „ 7, 
siüt-schi 8 Se 
h&i-schi „ L, y 


Wenn der Mann ſagte, daß er den „Gott“ im Siüt⸗ſchi 
bringen und noch vor dem Hai⸗ſchi fertig fein werde, jo 
meinte er, daß er nach ſieben Uhr zu kommen und vor 
elf Uhr mit dem Vergraben des geſtohlenen Gegenſtands 
fertig zu fein beabſichtige. Er fügte noch hinzu: „Mein: 
älterer Gebieter wird einſehen, daß ich es nicht für nur 
tauſend Li tun kann. Wenn man mich ergreift, ſo werde 
ich hingerichtet, vielleicht gar mit dem Pfahl, denn einen 
Gott zu ſtehlen, wird ſtrenger als alles andre beſtraft.“ 

„Das weiß ich allerdings. Darum will ich dir die 
zweitauſend Li bezahlen, vorausgeſetzt, daß du deine 
Sache brav machſt und kein Verdacht auf mich ſelbſt 
fällt.“ 

„Ich werde es ſo ſchön machen, daß alle Schuld auf 
den Nachbar fallen muß. Aber wann erhalte ich das 
Geld?“ 

i „Sofort, wenn du den Gott gebracht und begraben: 
haſt. Dies muß aber noch heute Abend geſchehen!“ 

„Noch heute? Das iſt recht. Je eher, deſto beſſer. 


— 245 — 


Damit dieſer Hu⸗tſin baldigſt für die Beleidigung be⸗ 
ſtraft wird, die ich freilich noch gar nicht kenne.“ 

„Es iſt eine doppelte. Er weiß die Käufer an ſich 
zu locken, ſo daß ich oft ganze Tage lang im Laden ſitze, 
ohne einen Li einzunehmen. Darüber ärgerte ich mich 
und ſagte ihm, daß er die Tochter eines T'eu') zum 
Weibe habe. Darauf beſchimpfte er mich dadurch, daß 
er öffentlich ſagte, einige meiner Ahnen ſeien durch den 
Henker geſtorben, und außerdem könne er nachweiſen, 
daß ich kein ehrlicher Goldſchmied ſei, da ich mit gerin⸗ 
gem Metall arbeite und mich einer falſchen Wage be⸗ 
diene. Nun ſind auch diejenigen Kunden, die ich hatte, 
vollends von mir weggeblieben.“ 

„Die erſtere dieſer Beleidigungen iſt allerdings 
todeswürdig. Kein Menſch würde ſie ungeahndet laſſen. 
Wer läßt ſeine Ahnen beſchimpfen!“ 

„Kein wirklicher Sohn ſeiner Eltern! Er behauptete, 
meine Vorfahren ſeien überhaupt nur Zjien?) geweſen.“ 

„So müßte er eigentlich vor den Richter kommen!“ 

„Das fällt mir nicht ein. Man würde ihn beſtrafen, 
aber ich hätte ebenſoviel zu bezahlen wie er. Dieſe Man⸗ 
darinen gleichen dem tiefen Sand, worin der Regen ſtets 
gleich verſchwindet; ſie ſind unerſättlich.“ 

„Aber wenn er nicht verklagt wird, ſo wird man 
ſagen, daß er doch recht gehabt haben müſſe!“ 

„Wenn er als der Dieb eines Gottes ertappt wird, 
iſt es nicht nur um ſein Leben, ſondern auch um ſeine 
Ehre geſchehen, und dann wird man mir gern glauben, 
wenn ich ſage, daß er gelogen habe. Dazu ſollſt du mir 
verhelfen und ich werde dich heute abend an meiner Gar⸗ 
tenmauer erwarten, ſobald der Siüt⸗ſchi angebrochen iſt. 
Für jetzt aber wollen wir uns trennen. Der Ort iſt zwar 


("Bettlertönig. — ) Unehrenwerte Leute. 


— 246 — 


ſehr einſam. Aus dieſem Grund und weil du hier im 
Sam⸗pan wohnſt und mich in dieſer Stadtgegend kein 
Menſch kennt, habe ich dieſe Stelle für unſre Zuſammen⸗ 
künfte gewählt. Aber es könnte doch jemand kommen. 
Alſo gehen wir! Tſing, tſing!“ 

„Tſing leao!“ 

Der Methuſalem hörte, daß einer von ihnen ſich ent⸗ 
fernte. Es mußte der Vornehme ſein, der von dem Dieb 
Wing⸗kan genannt worden war. Das laute Geräuſch der 
Schritte konnte nur von Schuhen herrühren und der 
gedungene Verbrecher war ja barfuß. 

Nach wenigen Minuten war ein andres Geräuſch zu 
hören. Es klang wie ein mit den Händen verurſachtes 
Kratzen oder ein Reiben des Körpers an der Mauer. 
Der Blaurote trat ſchnell hinter den erwähnten Strauch 
und bückte ſich nieder, ſo daß dieſer ihn vollſtändig ver⸗ 
barg. Gleich darauf erſchien das Geſicht des Diebes 
draußen über der Mauer. Er hatte emporklettern müſ⸗ 
ſen, weil der Weg tiefer als der Garten lag, und blickte 
jetzt herein, um zu ſehen, ob das Geſpräch vielleicht hier 
einen Zeugen gehabt habe. Als er niemand ſah, ſprang 
er wieder ab und entfernte ſich. 

Dem Methuſalem war das, was er gehört hatte, 
von großer Wichtigkeit. Ein Gott, alſo ein Götzenbild, 
ſollte aus einem Tempel geſtohlen werden. Das war, 
wie der Dieb ganz richtig geſagt hatte, ein Verbrechen, 
auf welches das Geſetz die härteſte, qualvollſte Todes⸗ 
ſtrafe legte. Und für welchen Preis wagte der Mann 
fein Leben? Tauſend Li ſollten fein Anteil fein, alſo un⸗ 
gefähr ſechs Mark nach deutſchem Geld! 

Ob ein Götze aus einem der vielen hieſigen Tempel 
entfernt würde oder nicht, das konnte Degenfeld ſehr 
gleichgültig ſein; aber es handelte ſich darum, daß ein 


Unſchuldiger verdächtigt und vernichtet werden ſollte. Es 
war Pflicht, dies zu verhüten. Aber wie? Nun, es lag 
ſehr nahe, daß der Student ſogleich an Tong⸗tſchi, den 
Mandarin, dachte. Ihm wollte er erzählen, was er hier 
erlauſcht hatte, und dieſer mochte dann das weitere ver⸗ 
fügen. 

Er ging in die Gaſtſtube zurück und berichtete ſeinen 
Gefährten flüſternd das Begebnis. Als er geendet hatte, 
ſagte der Gottfried, indem er eine Grimaſſe zog und den 
Kopf ſchüttelte: „Schönes Land, wo nicht mal die Jötter 
ſicher vor den Spitzbuben ſind! Wat ſagen Sie dazu, 
Mijnheer?“ 

„Wat ik zeg? Een god zal gemuiſt worden? Dat is 
voorbeeldelos; dat is nook niet daaffeweeſt — was ich 
ſage? Ein Gott ſoll gemauſt werden? Das iſt beiſpiel⸗ 
los (vorbildlos); das iſt noch nicht dageweſen.“ 

„Dat mögen auch ſchöne Jötter ſind, die ſich von ſo 
einem Spitzbuben ins Jemüſe ſchleppen laſſen! Aberſt 
intereſſant iſt es doch im höchſten Irade. Kommen wir 
da nur ſo herjeſchneit und werden augenblicklich ſchon 
Mitinhaber einer ſolchen Kriminalanjelegenheit! Wat 
jedenken Sie zu tun, oller Methuſalem?“ 

„Was meinſt du wohl?“ 

„Nun, ich würde mir eijentlich in dieſe jöttliche 
Sänften wanderung jar nicht miſchen und es dem Götzen 
überlaſſen, ſich ſelbſt ſeiner Haut zu wehren; aberſt da 
ein Unſchuldiger ins Verderben jeſtürzt werden ſoll, ſo 
möchte ich jeraten haben, die Sache beim hieſigen 
Staatsangwalting', wie unſer Turnerſtick ſagen würde, 
zur Anzeige zu bringen.“ 

„Nun,“ fiel der Kapitän ſchnell und eifrig ein, „iſt 
dieſes Wort etwa nicht richtig? Hat es etwa nicht ein 
ang und auch ein ing? Ich höre zu meiner Freude, daß 


— 248 — 


Sie ſich meine Lehren ſo nach und nach zu Herzen 
nehmen. Wenn Sie dabei beharren, werden Sie bald 
ein ebenſo gutes Chineſiſch reden wie ich ſelbſt. Uebrigens 
ſtimme ich bei: wir müſſen Anzeige machen. Dieſer Hu⸗ 
tſin ſcheint ein ehrlicher Mann zu ſein, während Wing⸗ 
kan jedenfalls ein Schurke iſt. Was aber hat es denn mit 
den Ahnen auf ſich? Iſt das wirklich eine ſo tödliche Be⸗ 
leidigung?“ 

„Hier in China, ja. Schon bei uns daheim würde 
kein Ehrenmann ſeine Ahnen beſchimpfen laſſen; hierzu⸗ 
lande aber wird das Andenken an die Vorfahren gerade⸗ 
zu als Kultus behandelt. Es iſt eine der lobenswerten 
Eigenſchaften des Chineſen, daß er ſeine Eltern in hohem 
Grad ehrt und den Verſtorbenen ein nie ermüdendes 
Andenken widmet. Tſ'in tſ'in, die Eltern als Eltern be⸗ 
handeln‘, oder anders ausgedrückt, lao ngu lao, ich be⸗ 
handle die Alten als Alte‘, gilt als unumſtößliche Regel. 
Den Geiſtern der Vorfahren iſt ein beſonderer Platz des 
Hauſes gewidmet und geweiht, wo man ihnen zu ge⸗ 
wiſſen Zeiten Opfer bringt. Alle Unehre und jede Ehre, 
welche dem Chineſen widerfährt, fällt auch auf ſeine 
Ahnen zurück, die dann mit ihm gelobt oder verachtet 
werden. Die Stätte, wo ſie begraben liegen, iſt eine 
heilige und wird mit Fleiß gepflegt, ſolange ein Nach⸗ 
komme vorhanden iſt.“ 

„Aber wenn das nicht der Fall wäre?“ 

„Nun, dann gehen die Ueberreſte freilich den Weg 
alles Fleiſches; das Grab wird nicht mehr beachtet, und 
bald liegen die Knochen zu Tage und werden mit Füßen 
getreten. Jeder denkt eben nur an ſeine Ahnen; die⸗ 
jenigen andrer Leute gehen ihn nichts an. Es gibt hier 
herrlich angelegte Gottesäcker, aber es iſt keineswegs 
religiöſer Zwang, in einem ſolchen begraben zu werden. 


— 249 — 


Der Chineſe trachtet vor allen Dingen danach, nach 
ſeinem Tod in heimatlicher Erde oder gar im Boden 
ſeiner Provinz, ſeines Diſtrikts zu ruhen. Ob aber ſeine 
Leiche da einem Begräbnisplatz oder der freien Erde 
übergeben wird, das iſt ihm gleich, wenn er ſich nur vor⸗ 
her überzeugt hat, daß ſeine abgeſchiedene Seele mit dem 
betreffenden Ort zufrieden iſt.“ 

„Zufrieden? Hm! Sie kann ja nichts dagegen haben. 
Was wollte ſie tun?“ 

„Sie ſendet Unglück über Unglück auf die Nach⸗ 
kommenſchaft und zwingt dieſe, ihr eine andre Stelle an⸗ 
zuweiſen, wo ſie ſich häuslicher fühlt. So wenigſtens iſt 
die Meinung der Chineſen. Jeder beſtimmt, wo er be⸗ 
graben ſein will. Hat er das aber verſäumt, ſo wenden 
ſich ſeine Anverwandten an gewiſſe Prieſter, die in dieſer 
wichtigen Angelegenheit bewandert ſind. Sie reiſen im 
Lande umher, natürlich auf Koſten der Anverwandten, 
beſichtigen die Stellen, die ihnen geeignet erſcheinen, 
und halten mit dem Geiſt Zwiegeſpräch. Hat er ihnen 
dann den Ort bezeichnet, ſo kehren ſie zurück, um die 
Hinterlaſſenen zu benachrichtigen und die Ueberreſte 
hinzuſchaffen. Es verſteht ſich ganz von ſelbſt, daß der 
Geiſt um ſo wähleriſcher iſt, je wohlhabender ſeine An⸗ 
verwandten ſind und je beſſer ſie die Prieſter bezahlen 
können.“ N 

„Alſo ein kleines Geſchäftchen dabei?“ 

„Ja. Sind die Verwandten ſehr zahlungsfähig, ſo 
kommt es vor, daß der Geiſt ſeiner Begräbnisſtelle über⸗ 
drüſſig wird, oder es ſtellt ſich an ihr irgend ein Mangel 
heraus, von dem er vorher nichts geahnt hat. Da iſt ihm 
vielleicht die Ausſicht nicht gut genug, oder die Stelle iſt 
zu rauh oder feucht, ſo daß er des Nachts frieren muß. 
Scharfen Zug kann er nicht vertragen. Vielleicht iſt in 


— 250 — 


der Nähe eine Mühle angelegt worden, deren Klappern 
ihn in ſeiner Ruhe ſtört. Dann erſcheint er dem Prieſter 
und ſendet ihn zu den Hinterlaſſenen, damit dieſe ihm 
einen trockeneren, wärmeren, zugfreien und ruhigeren 
Ort ſuchen und ſeine Gebeine dorthin ſchaffen laſſen. 
Ein Abgeſchiedener, der beſonders eigenſinnig und 
empfindlich iſt, muß wiederholt begraben werden, bis 
die Verwandten endlich doch die Geduld verlieren und 
ihm ſagen laſſen, ſie achteten und ehrten ihn außerordent⸗ 
lich, aber er möge nun auch ſie in Ruhe laſſen und von 
jetzt an verſtändig ſein; ſie ſeien entſchloſſen, für ihn nun 
keinen Li mehr auszugeben, da er ihnen ſchon mehr als 
genug gekoſtet habe.“ 

„Dat iſt drollig!“ lachte Gottfried von Bouillon. 
„Und dat jeſchieht wirklich in allem Ernſt?“ 

„Gewiß!“ 

„Und wat lag in dem Worte Tſien für eine Belei⸗ 
digung?“ 

„Auch eine große. Man unterſcheidet in China 
nämlich drei Klaſſen der Bevölkerung. Die erſte heißt 
Liang = die ehrenwerte; die zweite Tſien — die wert⸗ 
loſe, und die dritte Man S die heimatsloſe. Dieſe Unter⸗ 
ſcheidung wird ſtreng feſtgehalten. In die ehrenwerte 
Klaſſe gehören Tſu = der Adel, Nung = der Acker⸗ 
bauer, Tſang S der Kauf⸗ und Handelsſtand, und end⸗ 
lich Kung = der Handwerker. Zur wertloſen Klaſſe zäh⸗ 
len die Bedienten, Schauſpieler, Sänger, Tänzer, 
Muſikanten, Sträflinge, Leichenwäſcher und Henker. Die 
Klaſſe der Heimatsloſen umfaßt alle, die keinen feſten 
Wohnſitz haben, von einer Provinz zur andern ziehen 
und alſo meiſt in den öffentlichen Herbergen leben. 
Wing⸗kan gehört als Goldſchmied der ehrenwerten Klaſſe 
an. Sein Nachbar hat aber behauptet, daß deſſen Ahnen 


— 251 — 


zu den Wertloſen gehört hätten, daß ſogar einige von 
ihnen hingerichtet worden ſeien. Das iſt eine höchſt be⸗ 
leidigende Mißachtung, ja Beſchimpfung der Verſtor⸗ 
benen. Doch habe ich alle Luſt, zu glauben, daß der 
Beleidiger die Wahrheit geſagt hat.“ 

Jetzt kehrte Liang⸗ſſi zurück und meldete: „Den 
Agenten muß ich nochmals aufſuchen, denn er war ver⸗ 
reiſt und kommt erſt morgen wieder heim. Auch der 
Mandarin war ausgegangen, kehrt aber bald zurück. 
Der Hausmeiſter teilte mir mit, daß Zimmer für uns 
bereit gehalten ſeien, und iſt ſelbſt mit mir gekommen, 
um Sie in Sänften abzuholen. Er wird ſogleich er⸗ 
ſcheinen.“ 

Er hatte kaum ausgeſprochen, ſo trat der Genannte, 
ein behäbig ausſehender und feingekleideter Chineſe, ein, 
verbeugte ſich tief und lud die ſechs Perſonen im Namen 
ſeines Gebieters und in den höflichſten Ausdrücken ein, 
in den Palankins Platz zu nehmen, welche draußen für 
ſie bereit ſtänden. Degenfeld bezahlte das Bier, das noch 
teurer als in Hongkong war, und folgte dann mit den 
Gefährten dem Hausmeiſter. 

Draußen ſtanden ſieben mit prächtigen Vorhängen 
verſehene Sänften. Vier Läufer, welche, um den Weg 
durch das Volksgedränge bahnen zu können, mit Stöcken 
verſehen waren, ſtanden dabei. Der Hausmeiſter kom⸗ 
plimentierte die Gäſte in die Palankins und zog deren 
Vorhänge zu, damit die ſo fremd und auffällig gekleide⸗ 
ten Inſaſſen nicht durch die Zudringlichkeit des Publi⸗ 
kums beläſtigt werden könnten. Hinter der letzten 
Sänfte hielten auch zwei Diener, welche die Gewehre zu 
tragen hatten, weil dieſe ihrer Länge wegen nicht in die 
Tragſtühle gingen. 

Frick Turnerſtick bückte ſich, ehe er einſtieg, nieder, 


— 252 — 


um nachzuſehen, ob ſein Tragſeſſel etwa einen beweg⸗ 
lichen Boden habe; er war durch ſein Abenteuer miß⸗ 
trauiſch geworden. 

Als auch der Hausmeiſter eingeſtiegen war, ſetzten 
ſich die Träger in ſchnelle Bewegung. Der Methuſalem 
ſchob die Vorhänge ein klein wenig zurück, um hinaus⸗ 
blicken zu können, ohne ſelbſt geſehen zu werden. 

Ein ſolches Gedränge war ihm noch niemals vor⸗ 
gekommen. Die Gaſſen waren ſo ſchmal, daß die Sänfte 
die halbe Breite des Weges einnahm. Sie glichen den 
Schlupf⸗ und Seitengäßchen alter deutſcher Kleinſtädte. 
Die Häuſer hatten oft nur das Erdgeſchoß, nie aber 
mehr als einen Stock, und alle waren mit Läden ver⸗ 
ſehen, welche offen ſtanden, ſo daß man die Waren und 
den Verkäufer ſehen konnte. Die Dächer hatten die ſon⸗ 
derbarſten Formen und waren mit fremdartigen Schnör⸗ 
keleien verſehen. An jedem Hauſe hingen lange, ſchmale 
Firmenſchilder ſenkrecht hernieder; ſie trugen auf beiden 
Seiten in chineſiſcher Schrift ein Verzeichnis der hier 
ausgeſtellten Waren und den Namen des Ladenbeſitzers. 
Will man ſich ein Bild von dem Verkehr machen, der 
ſich in dieſen Gaſſen bewegte, ſo muß man ſich die 
Schlußzeit einer Theatervorſtellung denken, wo ſich das 
dicht zuſammengedrängte Publikum in geſchloſſener 
Maſſe durch die Ausgänge ſchiebt. Und doch iſt dieſer 
Vergleich unzureichend, da hier in den Gaſſen ſich ja 
nicht alle in einer und derſelben Richtung bewegten, 
ſondern zwei Strömungen gegeneinander ſtießen. 

Da kamen ernſte, berittene Mandarinen mit einem 
Gefolge von Dienern, Kulis mit ſchweren Laſten, die ein 
türkiſcher Hammal wohl kaum hätte überwältigen kön⸗ 
nen, beladene Eſel und Maultiere, Ausrufer, Hand⸗ 
werker, Geſchäftsleute, Straßenhändler, Bettler, Sol⸗ 


— 253 — 


daten und Knaben, die mit ihren ernſten Geſichtern und 
den auf dem nackten Schädel hin und her bammelnden 
Zöpfchen einen eigenartigen Anblick boten. Das gab ein 
Schieben, Stoßen und Drängen, ein wüſtes Durch⸗ 
einander, das ganz unentwirrbar zu ſein ſchien. Das 
ſchrie, plärrte, brüllte, heulte und lachte; dazu das Häm⸗ 
mern der Schmiede, das Klappern der Verkäufer, das 
Klingeln der Garköche, das Hacken und Klopfen der 
Fleiſcher und hundert andere Geräuſcharten, die zu⸗ 
ſammen ein dumpfes Brauſen ergaben. Alle Stände 
waren vertreten; auch Frauen erblickte man, wenn auch 
ganz ſelten. Dieſe gehörten den niedern Ständen an und 
hatten unverſtümmelte Füße. Erblickt man doch einmal 
ein weibliches Weſen, das mit verkrüppelten Klump⸗ 
füßchen, ſich auf einen feſten Stock ſtützend, mühſam 
durch das Gedränge humpelt, ſo iſt es gewiß eine ver⸗ 
armte und nun doppelt arme und elende Perſon, die 
nun durch die Not zum Gehen gezwungen wird. 

Zu beiden Seiten öffneten ſich die Läden und Buden 
der Seidenhändler, Schuhmacher, Stoffhändler, Mützen⸗ 
und Hutmacher, Lackwarenarbeiter, Porzellanhändler, 
Barbiere, Geldwechsler, Kuchenbäcker, Blechſchmiede, 
Fleiſcher, Obſthändler, Gemüſekrämer und vieler andrer. 
Meiſt waren, wie in den türkiſchen Bazars, die gleich⸗ 
artigen Geſchäfte in einer Straße zuſammengelegt. Die 
Gaſſen endeten in triumphbogenartig überwölbten Pfor⸗ 
ten, welche des Abends verſchloſſen werden, um die Auf⸗ 
ſicht zu erleichtern. Und dabei herrſchte überall ein Halb⸗ 
dunkel, weil die Gaſſen eng ſind und oft zum Schutz 
gegen Sonne oder Regen mit Strohmatten überdeckt 
werden. 

So ging es durch die Drachen⸗, Gold⸗, Schatz⸗, Sei⸗ 
den⸗, Apotheker⸗, Wechsler⸗, Tiger⸗ und Silbergaſſe an 


— 254 — 


der Blumen- und ſpäter an der Pagode der fünfhundert 
Geiſter vorüber. In Europa wäre es faſt ein Ding der 
Unmöglichkeit, ſich da durchzuarbeiten; der Chineſe 
bringt es fertig; er iſt es nicht anders gewöhnt. 

Einen ekelhaften Anblick boten die Bettler, deren es 
außerordentlich viele gab. Sie ſtanden, lehnten, hockten, 
wackelten, ſchlürften und taumelten allüberall herum. 
Ihr Ausſehen war erbärmlich. Sie waren mit allen 
möglichen und unmöglichen Schäden und Gebrechen be⸗ 
haftet, hatten ſich die Geſichter abſichtlich mit ſtinkendem 
Schmutz oder Blut beſchmiert und der Grauſamkeit der 
Natur ſo ſehr und auf alle Weiſe nachgeholfen, daß man 
ſich mit Abſcheu von ihnen wenden mußte. Und doch 
werden ſie von der Polizei geduldet. Das Bettlertum 
bildet in China eine ſoziale Macht, von deren Bedeutung 
und Einfluß der Europäer gar keine Ahnung hat. 

Endlich hielten die Träger auf einer etwas breiteren 
Straße vor einem großen, palaſtähnlichen Hauſe. Der 
gänzliche Mangel an Verkaufsläden und von Firmen⸗ 
ſchildern in ſeiner breiten Front ließ vermuten, daß es 

entweder behördlichen Zwecken diene oder einem reichen 
Privatmann gehöre. 

Die benachbarten Häuſer waren kleiner und ſchmäler. 
Die an ihnen niederhängenden, bunt bemalten und mit 
Gold» und Silbercharakteren beſchriebenen Tafeln be⸗ 
wieſen, daß ſie von Geſchäftsleuten bewohnt ſeien. 

Als der Methuſalem beim Ausſteigen einen Blick 
auf das zur Rechten liegende Nachbarhaus warf, glänz⸗ 
ten ihm auf breitem Brett zwei Schriftzeichen entgegen, 
die ſogleich ſeine Aufmerkſamkeit feſſelten. Es waren die 
Zeichen Hu⸗tſin, alſo der Name desjenigen, in deſſen 
Garten der geſtohlene Gott vergraben werden ſollte. Es 
konnte in der großen Stadt mehrere Perſonen des ſelben 


— 255 — 


Namens geben. Deshalb fragte der Student den Haus⸗ 
meiſter: „Wer wohnt hier nebenan?“ 

„Hu⸗tſin, der Juwelier,“ lautete die Antwort. 

„Und wer iſt deſſen Nachbar?“ 

„Wing⸗kan, auch ein Juwelier. Wir befinden uns 
hier auf der Edelſteinſtraße.“ 

Es konnte alſo keinen Zweifel geben: die beiden be⸗ 
treffenden Juweliere waren Nachbarn des Tong⸗tſchi, 
ein Zufall, der gar nicht vorteilhafter hätte ſein können. 

Aus dem breiten Tor des Hauſes traten mehrere 
Diener, welche die Gäſte nach einem großen Zimmer ge⸗ 
leiteten, über deſſen Türe das Wort „Verſammlungs⸗ 
ſaal“ geſchrieben ſtand. Es war chineſiſch ausgeſtattet, 
mit ſchönen Bambusmöbeln und einem großen Kerzen⸗ 
leuchter. Sogar ein langer Spiegel, der vom Boden bis 
hinauf zur Decke reichte, war vorhanden. 

Hier machte ihnen der Hausmeiſter nochmals ſeine 
tiefen Verneigungen, um ſie an Stelle des Hausherrn 
willkommen zu heißen, entſchuldigte dieſen letzteren 
wegen ſeiner Abweſenheit und gab dann den Befehl, 
ihnen den Tee zu reichen. Dieſer wurde auf goldenen 
Präſentiertellern gebracht und aus winzig kleinen Taſ⸗ 
fen getrunken. Die Zubereitung war genau diejenige des 
Kaffees bei den Orientalen: der Tee wird in die Taſſe 
getan und mit kochendem Waſſer übergoſſen. Nachdem er 
einige Augenblicke gezogen hat, iſt er von einem Dufte 
und Wohlgeſchmacke, den der Europäer an den expor⸗ 
tierten Sorten nicht kennt. 

Dann bat der Haushofmeiſter die Gäſte, ihm zu 
folgen. Er führte ſie durch mehrere Gemächer in ein 
großes Badezimmer, wo acht Wannen aus verſchiedenem 
Material ſtanden. Zwei davon waren aus Marmor und 
durch Scheidewände von den andern getrennt. Der 


— 256 — 


Hausmeiſter erklärte, daß dieſe beiden Becken nur für 
den Herrn und die Gebieterin des Hauſes beſtimmt ſeien, 
jetzt aber von den beiden vornehmſten der Gäſte benutzt 
werden könnten. 

„Die vornehmſten?“ meinte der Gottfried, als ihm 
dieſe Erklärung überſetzt worden war. „Dat iſt der 
Methuſalem, und dat bin nachher ich ſelberſt.“ 

„Sie?“ fragte Turnerſtick. „Ein Wichſier ſoll vor⸗ 
nehmer ſein als wir andern?“ 

„Ja, denn der Wichſier jibt von ſeinem Glanz ein 
bißchen an die Stibbeln ſeines Herrn. Nicht wahr, Mijn⸗ 
heer?“ 

„Neen. Wichſier blijft Wichſier!“ 

„Wat? Sie wollen mir aus dat Stipendium jagen? 
Dat habe ich Ihnen nicht zujetraut. Ich bin ſtets Ihr 
freundſchaftlich jeſinnter Jottfried jeweſen; jetzt kündige 
ich Ihnen hiermit meine bisherige Jewogenheit und 
frage nur, wer denn nun der zweite Vornehme unter 
uns ſein ſoll?“ 

„Darüber kann es gar keinen Zweifel geben,“ ſagte 
Methuſalem. „Turnerſtick iſt Generalmajor; er ſteht alſo 
dem Rang nach über uns allen und muß die feinſte 
Wanne haben.“ b 

„Richtig! Dat hatte ich verjeſſen. Ich trete alſo 
zurück. Hätte ich mir als Feldmarſchall verkleidet, ſo 
jehörte die Wanne mich! Alſo abjemacht; plätſchern wir 
ein bißchen!“ 

Der Chineſe iſt bekanntlich nicht wegen allzugroßer 
Reinlichkeit berühmt. Die höheren Stände aber ſtehen 
allerdings in einem beſſeren Ruf. Dennoch mußte der 
Beſitzer eines Hauſes, das einen ſolchen Baderaum auf⸗ 
wies, nicht nur ein reicher, ſondern ein Mann ſein, der 
es überhaupt mit den Annehmlichkeiten des Lebens hielt. 


— 257 — 


In dem Kaſten, aus dem er errettet worden war, hatte 
der Tong⸗itſchi freilich nicht danach ausgeſehen. 

Nach dem Bad wurden die Gäſte in das Speiſe⸗ 
zimmer geleitet, wo ihrer eine Mahlzeit harrte, welche 
aus Fiſch, Geflügel, Fleiſch, Gemüſe, dem allgegenwär⸗ 
tigen Reis und endlich einer Schüſſel beſtand, die ein 
dünnes Mus enthielt, das einen der Mandelmilch ähn⸗ 
lichen Wohlgeſchmack hatte. Auf ſeine Erkundigung er⸗ 
fuhr der Methuſalem, daß der Brei aus fein geſtoßenen 
Aprikoſenkernen bereitet worden ſei. Dieſe Speiſe ver⸗ 
dient es, auch in Deutſchland nachgeahmt zu werden. 

Dann erhielten die Reiſenden die für ſie beſtimmten 
Zimmer, jeder ein beſonderes, angewieſen. Es war aus 
allem zu erſehen, daß der Tong⸗tſchi ſeinem Hausmeiſter 
den Methuſalem als denjenigen bezeichnet hatte, dem die 
größte Aufmerkſamkeit zu erweiſen ſei. Er erhielt das 
am feinſten eingerichtete Gemach. 

Nun konnten ſie ſich ausruhen und nach Gutdünken 
tun, was ſie wollten. Nur falls ſie die Abſicht haben 
ſollten, ſich die Stadt zu beſehen, bat der Hausmeiſter, 
daß ſie die Palankins benutzen ſollten, da ſie ſonſt die 
Aufmerkſamkeit der Bevölkerung auf ſich ziehen würden 
und ſehr leicht beläſtigt, ja ſogar beleidigt werden 
könnten. 

„Aber zu einem Ausgang nur in die nächſte Nach⸗ 
barſchaft iſt die Sänfte doch nicht nötig?“ fragte Methu⸗ 
ſalem. 

„Darf der ganz Kleine fragen, wohin Sie wollen?“ 
Der „ganz Kleine“ iſt einer jener Ausdrücke, womit der 
Chineſe ſich ſelbſt bezeichnet, wenn er mit einem Höher⸗ 
ſtehenden ſpricht. 

„Zum Nachbar, deſſen Juwelenladen ich mir an⸗ 
ſehen will.“ — „Zu Hu⸗tſin?“ — „Ja.“ — „Der wohnt 

May, Der blaurote Methuſalem. 17 


— 258 — 


ſo nahe, daß Sie der Sänfte wohl nicht bedürfen. Er 
iſt ein berühmter Juwelier und ein ehrlicher Mann. 
Gehen Sie nur nicht zu ſeinem Nachbar Wing⸗kan!“ — 
„Warum zu dieſem nicht?“ — „Er iſt ein Betrüger, ob⸗ 
gleich das Gegenteil auf ſeinem Schild ſteht. Beide ſind 
einander ſehr feindlich geſinnt.“ — „So werde ich dem 
letzteren nichts abkaufen. Gottfried, brenn die Pfeife an!“ 

„Augenblicklich!“ antwortete der Genannte, der ſich 
im Zimmer des Blauroten befand. „Wir müſſen bei dem 
Mann mit die nötige Kultur und Schicklichkeit erſcheinen, 
wozu doch nichts ſo notwendig iſt, wie Ihre Hukah und 
meine Fagottoboe.“ 

Auch für Tabak hatte man geſorgt. Es ſtand eine 
ganze Vaſe voll auf dem Tiſche. Von ihrem Inhalt 
wurde die Waſſerpfeife geſtopft, und nachdem dieſe in 
Brand geſteckt worden war, brachen die beiden auf, von 
dem Hausmeiſter bis an das Tor begleitet. 

Sie legten die wenigen Schritte in der ſchon oft be⸗ 
ſchriebenen Weiſe und gravitätiſchen Haltung zurück. 
Trotz der Kürze des Weges ſahen ſie ein, daß der Haus⸗ 
meiſter ſehr recht gehabt hatte, als er ihnen für etwaige 
Ausflüge den Gebrauch der Sänften empfahl. Sie waren 
kaum aus dem Hauſe getreten, ſo blieben die Straßen⸗ 
paſſanten ſtehen, um die beiden ihnen ſo ſonderbar vor⸗ 
kommenden Menſchen in Augenſchein zu nehmen. 

Methuſalem ging nicht hart am Hauſe hin. Er hielt 
ſich auf der Mitte der Straße, um vielleicht einen Blick 
in den zweiten Laden werfen zu können. Das gelang ihm 
auch. 

An den beiden Häuſern hingen mehrere Firmen⸗ 
ſchilder herab, je eins mit den Namen der Beſitzer, alſo 
Hu⸗tſin und Wing⸗kan; auf den andern waren die Ar- 
tikel verzeichnet, die man bei ihnen kaufen konnte. Wing⸗ 


— 259 — 


kan hatte noch eigens auf ein Brett ſchreiben laſſen: 
„Hier wird man ehrlich bedient“, eine Aufſchrift, die 
gerade das Mißtrauen der Leſer erregen mußte. 

Er ſaß unweit ſeiner offenen Ladentüre. Methu⸗ 
ſalem ſah ihn und erkannte gleich den Mann, den er be⸗ 
lauſcht hatte. Nun betrat Degenfeld den Laden Hu⸗tſins, 
der ſich allein darin befand. Der Juwelier war ein 
Mann in den mittleren Jahren, wohlgeſtaltet und ſehr 
ſorgfältig gekleidet. Er trug einen langen, dünnen 
Schnurrbart, deſſen Spitzen ihm zu beiden Seiten faſt 
bis auf die Bruſt reichten. Als er die beiden Männer 
ſah, erhob er ſich. Indem er ſie anblickte, war er ein 
ſprechendes Bild unendlichen Erſtaunens. Zwei ſo fremd⸗ 
artige Geſtalten waren noch nie bei ihm geweſen. 

„Tſching!“ grüßte der Methuſalem kurz, indem er 
eine Rauchwolke von ſich blies. 

„Tſching!“ rief auch Gottfried und zwar in einem 
Ton, als ob er der Kaiſer von China in eigener Perſon ſei. 

„Schim Hu⸗tſin — Sie heißen Hu⸗tſin?“ fragte der 
Student. 

„Pi⸗tſeu — das iſt mein Name,“ antwortete der 
Juwelier, der ſich von ſeiner Betroffenheit erholte und 
unter tiefen Verneigungen und ehrerbietigen Hand⸗ 
bewegungen die beiden einlud, näher zu treten. 

„Ich komme nicht, um etwas zu kaufen,“ fuhr Me⸗ 
thuſalem halblaut fort. „Ich habe mit Ihnen zu ſpre⸗ 
chen.“ — „Sie — — mit mir?“ fragte der Mann, dem 
es ein Rätſel war, was ſo ein fremder Herr gerade mit 
ihm zu reden habe. „Iſt es etwas Wichtiges?“ — 
„Sehr, nicht für mich, aber für Sie. Es handelt ſich um 
Ihr Leben.“ — „Um — mein — Leben? T'ien⸗na, o 
mein Himmel! Iſt das möglich?“ — „Ja. Ich bin ge⸗ 
kommen, um Sie vom Tod zu erretten. Sie ſollen hin⸗ 


— 260 — 


gerichtet werden.“ — „Herr, ich bin kein Verbrecher!“ 
— „Das weiß ich; aber es kommt auch vor, daß Ange⸗ 
klagte unſchuldig verurteilt werden.“ — „Angeklagte? 
Weſſen will man mich anklagen? Was ſoll ich verbrochen 
haben?“ — „Sie ſollen ein Götterbild geraubt haben.“ 

Der Mann erbleichte und begann zu zittern. „Ein 
Götterbild!“ ſtieß er hervor. „Das iſt ein Verbrechen, 
das mit dem ſchrecklichſten Tod beſtraft wird!“ — „Aller⸗ 
dings. Und von dieſem Tod will ich Sie erretten.“ — 
„Herr, man kann mich nicht verurteilen, denn ich habe 
die Tat nicht begangen. Ich achte die Geſetze und bin 
mir niemals einer Schuld bewußt geweſen.“ — „Aber 
man wird die Figur bei Ihnen finden.” — „Bei — — 
mir? Wo?“ — „Im Garten.“ — „Da mag man ſuchen! 
Ich weiß gewiß, daß man nichts finden wird.“ — „Und 
ich weiß ebenſo gewiß, daß man ſie bei Ihnen ausgraben 
wird!“ — „Dann müßte ſie ein andrer eingegraben 
haben!“ — „Ein Feind von Ihnen will die Figur ſtehlen 
und bei Ihnen vergraben laſſen. Erſtattet er dann An⸗ 
zeige, ſo wird ſie bei Ihnen gefunden und Sie werden 
als Dieb und Tempelſchänder zum Tod verurteilt.“ 

Da ſchlug der Juwelier die Hände zuſammen und 
rief im Ton des Entſetzens: „Welch ein Unglück! Ich bin 
verloren; ich bin verloren!“ 

„Schreien Sie nicht jo! Sie ſehen, welch eine Menge 
von Menſchen vor Ihrem Laden ſteht, um mich zu be⸗ 
gaffen. Sie ſind nicht verloren, denn ich bin gekommen, 
Sie zu retten. Wir müſſen die Angelegenheit mit allem 
Bedacht beſprechen.“ 

„Ja — beſprechen — mit allem Bedacht! Ich werde 
jemand rufen, der einſtweilen im Laden bleibt. Sie aber 
werden die Güte haben, mich hinauf in mein Zimmer zu 
begleiten.“ 


— 261 — 


Er rief einen Namen durch eine Tür, die im Hinter» 
grund des Ladens angebracht war; ein junger Mann kam 
herein. Dann forderte Hu⸗tſin Methuſalem und Gott⸗ 
fried auf, ihm zu folgen. 

Es ging durch die erwähnte Tür nach einem Heinen 
Vorplatz, von wo aus eine Treppe zum Stock empor⸗ 
führte. Dort traten fie in eine Stube, die der Arbeits- 
raum des Juweliers zu ſein ſchien. In einer Ecke war 
ein Brettchen angebracht, auf welchem eine kleine, dicke 
Figur des Buddha ſaß; vor ihr brannte ein Licht. 

Der Juwelier bot zwei Stühle an. Er ſelbſt brauchte 
keinen. Die Unruhe, die ihn ergriffen hatte, erlaubte ihm 
nicht, ſich zu ſetzen. Gottfried zog ſeinen Stuhl hinter 
denjenigen des Studenten, der ſich würdevoll niederließ. 

„Schade, daß ich nicht jenug Chineſiſch verſtehe, um 
dem Jange dieſer Unterredung folgen zu können!“ ſagte 
der erſtere. „Ich möchte doch zu jern wiſſen, wat er 
ſagt.“ 

„Du wirſt es erfahren. Das verſteht ſich von ſelbſt.“ 

„Alſo ein Feind von mir will das tun, wovon Sie 
ſprachen!“ ſagte der Juwelier. „Wer mag das ſein?“ 

„Kennen Sie keinen Menſchen, welcher Sie ſo ſehr 
haßt, daß er eines ſo nichtswürdigen Anſchlages fähig 
iſt?ꝰ 

„Nur einen — — — Wing ⸗kan, meinen Nachbar.“ 

„Er iſt es. Ich habe ſeine Unterredung mit dem 
Menſchen, der den Diebſtahl ausführen ſoll, belauſcht.“ 

„Wer iſt dieſer Dieb?“ 

„Das weiß ich nicht. Ich kenne ihn nicht. Ich bin 
fremd, ein Tao⸗tſe⸗kue, erſt heut hier angekommen. Wing⸗ 
kan will ſich rächen, weil Sie ihn beleidigt haben.“ 

„Er hat mich vorher gekränkt!“ 


— 262 — 


„Ja. Er hat geſagt, daß Sie die Tochter eines 
Bettlerkönigs zum Weibe haben.“ 

„Das wiſſen Sie?“ 

„Ich hörte es aus ſeinem Munde.“ 

„Sie ſind fremd und werden alſo vielleicht nicht 
wiſſen, daß dies eine ſchwere Beleidigung iſt. Kein bra⸗ 
ver Mann ſpricht von dem Weib eines andern. Ich ſah 
das Mädchen und gewann ſie lieb, ohne zu wiſſen, wer 
ſie war. Ich hörte dann, daß ihr Vater ein T'eu ſei. Den⸗ 
noch nahm ich ſie zum Weib, weil ſie gut und brav war. 
Muß man mir das vorwerfen? Ich war arm; der T'eu 
hat mich zum wohlhabenden Mann gemacht, denn er iſt 
ſehr, ſehr reich. Muß ich ihm und meinem Weib nicht 
dankbar ſein? Darf ich ſie beſchimpfen laſſen?“ 

„Nein. In meinem Vaterland iſt es keine Schande, 
die Tochter eines Bettlers zu heiraten.“ 

„Und ich bin ſogar Schwiegerſohn eines T'eu!“ 

„Bettlerkönige gibt es bei uns nicht.“ 

„Nicht? Dann iſt Deutſchland ein ſehr unglückliches 
Land!“ 

„Inwiefern?“ 

„Weil die Menſchen dort kein Mittel beſitzen, ſich 
von der Zudringlichkeit der Bettler zu befreien.“ 

„O, wir haben ein ſehr gutes, das viel beſſer und 
heilſamer wirkt als das Ihrige: die Polizei.“ 

„Was kann da die Polizei tun? Doch nichts, gar 
nichts! Wenn ein Bettler von mir eine Gabe haben will 
und ich verweigere ſie ihm, ſo zwingt er ſie mir ab. Er 
beſtreicht ſich das Geſicht mit Kot. Er taucht ſein Ge⸗ 
wand in Jauche und ſetzt ſich vor meine Tür, daß ich den 
Geſtank nicht aushalten kann und kein Menſch zu mir 
hereintritt, um etwas zu kaufen. Oder er nimmt einen 
Gong in die Hand und ſchlägt ſo lange auf dieſen ein, bis 


— 263 — 


ich den entſetzlichen Lärm ſatt habe und ihm etwas gebe. 
Oder er holt eine ganze Schar andrer Bettler herbei, die 
ſich vor meiner Tür im Schmutz wälzen, ſich mit Meſſern 
ins Fleiſch ſtechen und ſo lange heulen und klagen, bis 
die Vorübergehenden mir wegen meiner Hartherzigkeit 
Vorwürfe machen und drohen, nichts mehr von mir zu 
kaufen. Ein Bettler kann einen Geſchäftsmann rui⸗ 
nieren.“ 

„Greift die Polizei nicht ein?“ 

„Nein. Kein Menſch und kein Poliziſt darf ſich an 
einem Bettler vergreifen. Man muß ſich an den Bettler⸗ 
könig, an den T'eu wenden. Kauft man ſich durch eine 
Summe los, ſo erhält man von ihm eine Beſcheinigung, 
einen Zettel, den man an die Tür klebt. Dann gehen die 
Bettler vorüber. Der T'eu hat eine große Macht über ſie. 
Er verteilt das Geld, das er für dieſe Zettel einnimmt, 
unter ſie. Iſt er mit einem Diſtrikt fertig, ſo zieht er 
mit ſeinen Scharen nach einem andern, um dort dasſelbe 
zu tun.“ 

Dieſe ſeltſame Schilderung entſprach der Wahrheit. 
Es kommt ſogar vor, daß die Regierung, die Behörde ge⸗ 
zwungen iſt, mit dem Bettlerkönig einen Vertrag abzu⸗ 
ſchließen. Tritt zum Beiſpiel einer der großen Flüſſe aus 
ſeinen Ufern, ſo werden weite Strecken Landes über⸗ 
ſchwemmt und Millionen von Menſchen verlieren 
ihren Erwerb. Da ſind Hunderttauſende brotlos und 
zu Bettlern geworden. Sie wählen ſich einen Bettler⸗ 
könig und ziehen fort, um ſich von ihm in den glück⸗ 
licheren Provinzen durch die Gaben, die er erzwingt, er⸗ 
nähren zu laſſen. Er regiert ſie; er hat Gewalt über ihr 
Leben. Sie müſſen ihm gehorchen. Hätten ſie ihn nicht, 
ſo würden ſie ſich zügellos über das ganze Reich ergießen 
und namenloſes Unheil ſtiften. Es würde gebrannt, ge⸗ 


— 264 — 


raubt und gemordet. Es würde eine Empörung der an⸗ 
dern folgen und kein friedlicher Menſch wäre ſeines 
Lebens und ſeines Eigentums ſicher. Darum werden 
die Bettlerkönige von der Regierung und allen Behörden 
gern und willig anerkannt. 

„So hat ein ſolcher Teu ja faſt eine größere Macht 
als ein Wang, ein Vizekönig und Regent einer ganzen, 
großen Provinz!“ erwiderte der Methuſalem. 

„Allerdings. Kein Beamter, und ſtehe er noch ſo 
hoch und ſei er noch ſo mächtig, wird es wagen, einen 
T'eu zu beleidigen, denn dieſer könnte ſich leicht an ihm 
rächen. Er würde ſämtliche Untertanen ſeines Bettler⸗ 
reichs, viele Tauſende, herbeirufen und mit ihnen die 
Provinz überſchwemmen. In Peking würde man er⸗ 
fahren, wer ſchuld daran iſt, und den Vizekönig ſofort ab⸗ 
ſetzen, weil er Unglück über ſeine Provinz gebracht und 
alſo bewieſen hat, daß er zum Regieren unfähig iſt. Ja, 
ein Bettlerkönig iſt ein außerordentlich mächtiger Mann. 
Iſt es alſo klug, mich zu beleidigen, weil ich der Schwie⸗ 
gerſohn eines ſolchen bin?“ 

„Das iſt ſehr unvorſichtig gehandelt.“ 

„Ja. Ich kann mich an Wing⸗kan rächen. Das weiß 
er ſehr genau, und daher will er mir zuvorkommen und 
mich und meine Familie verderben. Denn hier bei uns 
werden die Frauen und Kinder der Verbrecher auch mit⸗ 
beſtraft.“ 

„Das habe ich ſchon erfahren. Es war mir unbe⸗ 
greiflich, daß jemand wegen einer einfachen Beleidigung 
ein ſo ſchweres Verbrechen, wie der Diebſtahl eines Got⸗ 
tes iſt, nur um Rache zu üben, wagen kann. Jetzt ſehe 
ich klarer. Wing⸗kan fürchtet Ihre Rache und noch viel 
mehr diejenige Ihres Schwiegervaters, des T'eu. Darum 
will er Sie unſchädlich machen.“ 


— 265 — 


„Und den T'eu mit, den die Strafe für mein Ver⸗ 
brechen auch treffen würde, weil er der Vater meines 
Weibes iſt. Selbſt ein Bettlerkönig darf, ſo große Macht 
er auch beſitzt, kein Verbrechen begehen. Tut er das, ſo 
verfällt er dem Geſetz wie jeder andre und hat keine 
Gnade oder Hilfe zu erwarten, weil alle ſeine Unter⸗ 
tanen ſich von ihm losſagen. Das iſt die Berechnung 
meines Nachbars, wenn die Sache ſich wirklich ſo ver⸗ 
hält, wie Sie es ſagen.“ 

„Es iſt genau ſo. Um Ihnen das zu beweiſen, will 
ich Ihnen erzählen, wie ich den Anſchlag erfahren habe.“ 

Er berichtete ihm alles. Der Juwelier ſah ſich in 
einer außerordentlich gefährlichen Lage. Er lief in der 
Stube hin und her; er warf mit den Armen um ſich; er 
riß und zerrte an ſeinem Zopfe: „Was ſoll ich tun, was 
ſoll ich tun?“ fragte er. 

„Das müſſen Sie am beſten wiſſen!“ 

„Soll ich ſchnell zum Sing⸗kuan!) gehen und An⸗ 
zeige machen?“ 

„Nein. Die Tat iſt noch nicht geſchehen und Sie 
können Ihrem Nachbar alſo nichts beweiſen.“ 

„So meinen Sie, daß ich ruhig zuwarten ſoll, bis er 
den Gott in meinem Garten vergräbt?“ 

„Ja.“ 

„Das iſt gefährlich, außerordentlich gefährlich. Sie 
kennen die Geſetze unſres Landes nicht. Wehe dem, auf 
deſſen Grund und Boden oder auch nur in deſſen Nähe 
ein Verbrechen geſchieht! Er wird ganz unerbittlich mit⸗ 
beſtraft. Wenn jemand zum Beiſpiel ſich vor meiner 
Tür entleibt, ſo bin ich der Schuldige und werde beſtraft. 
Wenn mein Nachbar das Bild des Gottes bei mir ver⸗ 
gräbt, ſo mag ich tauſendmal beweiſen können, daß er 


5) Kriminalmandarin. 


— 266 — 


ſelbſt es geſtohlen und in meinen Garten verſenkt hat; 
es iſt bei mir gefunden worden und ich muß die Strafe 
erleiden.“ 

„Das iſt freilich ſchlimm. Die Sache ſteht alſo fol⸗ 
gendermaßen: verhüten Sie jetzt die Tat, mit der man 
Sie bedroht, ſo können Sie dem Nachbar nichts beweiſen, 
und er wird ſich eine andre Art der Rache ausſinnen, 
gegen welche Sie ſich dann nicht wehren können. Laſſen 
Sie die Tat aber geſchehen, ſo fallen Sie mit ins Ver⸗ 
derben.“ 

„Ja, ſo iſt es; und ich ſehe kein Mittel, den Schlag 
von mir und meiner Familie abzuwenden. Den Dieb, 
mit dem Wing⸗kan das Verbrechen beabſichtigt, können 
Sie nicht näher bezeichnen?“ 

„Nein.“ 

„Machte ich jetzt Anzeige, ſo würde man ihn zwar 
ſuchen, aber nicht finden. Der Raub würde alſo doch ge⸗ 
ſchehen.“ 

„Ja, aber es könnten Poliziſten in Ihrem Garten 
poſtiert werden, die den Kerl gleich in Empfang nehmen, 
wenn er kommt.“ 

„Nein, nein!“ wehrte der Juwelier ab. „Er würde 
ſagen, daß er in meinem Auftrag gehandelt habe, und 
dann wäre ich auch verloren.“ 

„So müßte man ſchleunigſt die Prieſter benachrich⸗ 
tigen, auf ihre Gottheiten achtzugeben. Wir kennen ja die 
Stunde, in der der Raub ausgeführt werden ſoll.“ 

„Wiſſen Sie, in welchem Tempel ſich der Gott be⸗ 
findet, auf den es abgeſehen iſt?“ 

„Nein.“ 

„O wehe! Und wiſſen Sie, wie viele Tempel wir 
hier in Kuang⸗tſchéu⸗fu beſitzen?“ 

„Ja, hundertzwanzig.“ 


— 267 — 


„Das ſind nur die großen, berühmten. Es gibt ihrer 
viel, viel mehr. Ehe die Benachrichtigung, von welcher 
Sie ſprechen, an alle dieſe Orte kommt, iſt der Raub ge⸗ 
ſchehen. Auch das gibt keine Hilfe.“ 

Er rannte wieder auf und ab und riß an ſeinem 
Zopfe. Der Methuſalem rückte auf ſeinem Sitz hin und 
her, rieb ſich die Stirn, tat ein paar tüchtige Züge aus 
der Pfeife und ſagte dann: „So verworren und verwickelt 
habe ich mir die Sache freilich nicht vorgeſtellt. Ich dachte 
nicht daran, daß derjenige, in deſſen Nähe oder auf deſſen 
Beſitzung ein Verbrechen geſchieht, in dieſer Weiſe mit⸗ 
verantwortlich gemacht wird. Wir dürfen die Tat nicht 
geſchehen laſſen, weil Sie ſonſt auf alle Fälle mitbeſtraft 
würden. Wir können fie aber auch nicht verhüten.“ 

„Das iſt wahr; das iſt wahr! Raten Sie, helfen Sie! 
Ich werde Ihnen ſehr, ſehr dankbar ſein!“ 

„Hm! Woher ſoll man einen Rat nehmen? Schließ⸗ 
lich komme ich ſelbſt mit in Gefahr, wenn man hört, daß 
ich dieſe Kerls belauſcht habe. Erlauben Sie mir einen 
Augenblick! Ich will da meinen Gefährten fragen.“ 

„Iſt er nicht Ihr Diener?“ 

„Diener und Freund.“ 

„Er hat doch alles mitangehört. Warum ſpricht er 
nicht?“ 

„Er verſteht die Sprache dieſes Landes nicht voll⸗ 
ſtändig. Er iſt ein kluger Kopf, ein Pfiffikus. Rechtlichkeit 
und Geſetz können hier nicht helfen. Nur allein der 
Pfiffigkeit könnte es vielleicht gelingen, Rettung zu brin⸗ 
gen.“ g 

„So fragen Sie ihn, ſchnell, ſchnell!“ 

Der Methuſalem erklärte ſeinem Gottfried, wie die 
Sache ſtand. Dieſer hörte aufmerkſam zu und ſagte dann: 
„Ja, wenn die ſojenannten Klugen nichts mehr wiſſen, 


— 268 — 


ſo wenden ſie ſich an die anjeblichen Dummen. Die 
Karre ſteckt drinnen, tief jenug im Schmutz. Kein Menſch 
und kein Methuſalem kann ihr herausbekommen. Und da 
ſoll ſich nun der olle Jottfried ins Jeſchirr lejen, um ſie 
aufs Trockene zu bringen! Bitte, jeben Sie mich mal dat 
Mundſtück her!“ 

Er langte nach der Pfeifenſpitze. 

„Wozu?“ 

„Um meine Jeiſtlichkeit anzurejen und aufzufriſchen. 
Ein juter Zug aus die Pfeife ſtärkt den Verſtand und 
den Mutterwitz. Es iſt dat zwar jejen die Subordination, 
aberſt in dieſem Falle werden Sie mich ſchon mal er⸗ 
lauben.“ 

Na da rauche!“ 

Gottfried tat einige derbe Züge, brummte nachdenk⸗ 
lich vor ſich hin, zog die Stirn in tiefe Falten, tat wieder 
einige Züge, räuſperte ſich, huſtete, tat abermals einen 
Zug, aber einen außerordentlich kräftigen, blies den 
Rauch in derben Schwaden von ſich, reichte dann dem 
Methuſalem das Mundſtück zurück und ſagte: „Jeſchmeckt 
hat's jut!“ 

„Nun, weiter!“ 

„Und jeholfen hat's auch!“ 

„Dir iſt alſo ein Gedanke gekommen?“ 

„Der allereinfachſte von die janze Welt.“ 

„Heraus damit!“ 

„Na, nur Jeduld! Ich ſtelle mich die Sache nämlich 
folgendermaßen vor: wie du mich, ſo ich dich!“ 

„Wieſo?“ 

„Er will ihm uns verjraben, nun verjraben wir ihm 
ihn.“ 

„Dummes Zeug! Wer ſoll das verſtehen! Rede doch 
nur deutſch, ordentlich nach der Grammatik!“ 


— 269 — 


„Wenn ich derjenige bin, der die Kaſtanien aus dem 
Feuer holen ſoll, fo hat die Irammatik ſich nach mich zu 
richten und nicht ich mir nach ſie. Ich meine: er will ihm 
in unſerm Jarten verjraben, jut, ſo verjraben wir ihm 
in den ſeinigen, nämlich den Jötzenonkel.“ 

Methuſalem machte ein froh erſtauntes Geſicht und 
rief: „Alle Wetter! Gottfried, du haſt's, du haſt's wirk⸗ 
lich!“ 

„Nicht wahr? Jottfried hat ihm allemal! Auf dieſe 
Weiſe kommt unſer Freund hier in keine Jefahr. Der 
jetreue Nachbar macht Anzeije, die Polizei kommt und 
jräbt hier nach, findet aber nichts. Während ſie mit die 
lange Naſe daſteht, machen nun wir Anzeije.“ 

„Großartig! Das iſt der einzig richtige, der einzig 
mögliche Ausweg!“ 

Er verdolmetſchte Gottfrieds Plan dem Chineſen. 
Dieſer faßte ſich wieder bedenklich am Zopf. „Das iſt 
ebenfalls ſehr gefährlich!“ ſagte er. — „Aber das einzige, 
was Sie tun können. Wing⸗kan hat doch wohl auch einen 
Garten?“ — „Ja. Er iſt genau ſo groß wie der meinige, 
nur durch eine Mauer von ihm getrennt.“ — „So iſt 
Ihnen geholfen. Sie warten, bis die Figur bei Ihnen 
eingegraben worden iſt und nehmen ſie dann ſchnell wie⸗ 
der heraus, um ſie beim Nachbar zu vergraben.“ — 
„Aber wenn man mich dabei erwiſcht!“ — „Das dürfen 
Sie eben nicht geſchehen laſſen. Sie müſſen vorſichtig ver⸗ 
fahren. Wing⸗kan hat keine Ahnung davon, daß Sie von 
der Sache wiſſen. Er wird alſo noch viel weniger ahnen, 
daß Sie ihm den Gott hinüberſchaffen.“ — „Aber dazu 
bin ich allein zu ſchwach.“ — „Natürlich helfen wir 
Ihnen, und zwar ſehr gern.“ — „Wie dankbar werde ich 
Ihnen dafür ſein! Aber da müſſen Sie gleich bei mir 
bleiben. Später können Sie nicht zu mir.“ — „O doch. 


— 270 — 


Man mag immerhin die Gaſſe verſchließen. Wir wohnen 
ja nebenan beim Tong«⸗tſchi.“ 

Jetzt machte der Juwelier ein ganz neues Geſicht. 
Aus lauter Ueberraſchung und Angſt hatte er ſie gar 
nicht mit der vorgeſchriebenen Höflichkeit empfangen. 
„Beim Tong⸗tſchi?“ fragte er. „Sind Sie etwa die 
Fremden, die ihn errettet haben?“ 

„Hm! Was willen Sie von dieſer Angelegenheit?“ 

„Er iſt ein ſehr hoher und reicher Mandarin und ich 
bin nur ein Kaufmann. Mein Weib iſt ſogar die Tochter 
eines Bettlerkönigs. Dennoch ſteigt die Frau des Tong⸗ 
tſchi zuweilen drüben in ihrem Garten auf die Stufen, 
um ſich mit der meinigen zu unterhalten. Da wiſſen wir, 
daß der Tong⸗tſchi kürzlich viel länger fortgeblieben iſt, 
als er geſagt hatte. Seine Frau war voller Sorge. Sie 
befürchtete, es ſei ihm ein Unglück geſchehen. In dieſen 
Tagen nun hat ſie meinem Weibe im Vertrauen erzählt, 
daß ihr Mann wieder zurück fei; er habe ſich in einer ent⸗ 
ſetzlichen Gefahr befunden, ſei aber von fünf oder ſechs 
fremden Männern, die nicht aus China ſind, errettet 
worden. Sie hat dabei geſagt, daß dieſe Fremden einge⸗ 
laden ſeien und als Gäſte zum Tong⸗tſchi kommen wür⸗ 
den.“ i 

„Weiter wiſſen Sie nichts?“ 

„Nein.“ 

„Auch nicht, welcher Art die Gefahr geweſen iſt, in 
der ſich der Mandarin befunden hat?“ 

„Nein.“ 

„So ſchweigen Sie darüber gegen jedermann, ſonſt 
könnten Sie den Tong«⸗tſchi ſich leicht zum Feind 
machen!“ 

„Ich werde ſchweigen. Aber darf ich wohl erfahren, 
ob Sie dieſe fremden Herren ſind?“ 


— 271 — 


„Ja, wir find es.“ 

Da verneigte er ſich bis zum Boden herab und ſagte: 
„Dann bin ich ganz unwürdig der hohen Ehre, die Sie 
mir erweiſen. Fremde Herren, welche dieſer Mandarin zu 
ſich ladet, müſſen in ihrem Lande die höchſten Stellen be⸗ 
kleiden. Ich bin viel zu gering, als daß ich Ihnen in das 
Angeſicht blicken darf. Und nun ſind Sie gekommen, mich 
von der mir drohenden Gefahr zu benachrichtigen! Neh⸗ 
men Sie mein Geld, mein Leben, alles, was mir gehört; 
es iſt Ihr Eigentum!“ 

„Es freut mich, daß Sie ein dankbares Herz beſitzen. 
Ich glaubte, daß Sie ein ehrlicher Mann ſeien, und 
darum bin ich gern gekommen, Sie zu retten. Wir wer⸗ 
den Ihnen helfen, den Gott in Wing⸗kans Garten zu 
vergraben. Haben Sie dazu die nötigen Werkzeuge?“ 

„Ja.“ 

„Sie ſagen, daß die beiden Frauen zuweilen mit⸗ 
einander ſprechen. Ich vermute alſo, daß Ihr Garten 
auch an denjenigen des Mandarins ſtößt?“ 

„Ja, nur iſt der letztere viel, viel größer und präch⸗ 
tiger als der meinige.“ 

„So iſt uns die Sache ja möglichſt leicht gemacht. 
Wollen Sie uns einmal Ihren Garten zeigen, aber ſo, 
daß niemand uns bemerkt!“ 

„Da brauchen wir nur nebenan zu gehen. Wir kön⸗ 
nen durch das Fenſter hinausblicken.“ 

Er führte ſie in eine Nebenſtube, welche zwei Fen⸗ 
ſter hatte. Anſtatt der Glastafel war eine ſehr feine Gaze 
eingezogen. Er öffnete eins derſelben und man ſah den 
Garten vor ſich. 

Er war klein, auf chineſiſche Weiſe angelegt: Zwerg⸗ 
bäume, blühende Sträucher, Taxus⸗ und Buchsbaum⸗ 
wände, über welche Kronen emporragten, die in Tier⸗ 


— 272 — 


formen gezogen waren. Rechter Hand lag der Garten 
ſeines Feindes, ganz in derſelben Weiſe angelegt und ge⸗ 
pflegt. Die Trennungsmauer war nicht ganz mannshoch. 

Zur linken Hand lag der Garten des Mandarinen, 
der allerdings auch nur ſo tief wie die beiden andern 
war, aber deſto breiter ſein mußte. Hinter dieſen Gär⸗ 
ten ſchien ein Pfad vorüber zu führen. Das war jeden⸗ 
falls der Weg, auf dem der Dieb die Figur bringen 
wollte. 

„Prächtig!“ ſagte der Methuſalem. „Die Gärten lie⸗ 
gen für unſre Abſicht außerordentlich bequem. Wir ſtei⸗ 
gen über die Mauer des Mandarinen und befinden uns 
dann in Ihrem Garten. Das übrige wird ſich dann 
finden.“ — „So darf ich alſo beſtimmt auf Ihre Mit⸗ 

hilfe rechnen? Wann werden Sie kommen?“ — „Mit 
Beginn des Stüt; ſobald es fo dunkel geworden tft, daß 
man es nicht ſehen kann, wenn wir über die Mauer 
ſteigen.“ — „Bringen Sie auch die andern hohen Herren 
mit?“ — „Nein, je weniger Perſonen eingeweiht ſind, 
deſto beſſer iſt es.“ — „Aber wenn wir ihrer bedürfen? 
Wenn wir drei nicht allein fertig werden können? Ich 
darf von meinen Leuten keinen ins Vertrauen ziehen.“ 
— „In dieſem Falle iſt es mir nicht ſchwer, noch einen 
meiner Gefährten zu holen. Dieſe werden mich jetzt ver⸗ 
miſſen. Wir wollen gehen.“ — „Sit der Tong⸗tſchi da⸗ 
heim?“ — „Nein, er iſt ausgegangen, wird aber noch 
vor Abend wiederkommen, da dann die Tore der Stra⸗ 
ßen geſchloſſen werden.“ — „Danach braucht er ſich nicht 
zu richten. Er kann auch des Nachts gehen und kommen, 
wie und wann es beliebt. Ihm werden alle Pei⸗lu ge⸗ 
öffnet.“ | 

Pei⸗lu heißen die triumphbogenartigen Bauwerke, 
welche die Straßen abſchließen und zu dieſem Zweck mit 


= 978 


Pforten verſehen find. Außer dieſem Zweck, haben ſie 
noch einen andern. Sie dienen nämlich als Denkmäler 
der Verdienſte derjenigen Perſonen, zu deren Andenken 
ſie errichtet worden ſind. 

Wenn ein Beamter oder ein Bürger viel für das 
Land, die Provinz oder die Stadt getan hat, ſo wird ihm 
ein ſolcher Pei⸗lu errichtet, der ſeinen Namen trägt und 
in weithin ſichtbaren Zeichen eine Aufzählung der 
Tugenden des Betreffenden enthält. Nicht nur Verſtor⸗ 
bene erhalten ſolche Denkmäler, ſondern zuweilen auch 
Lebende. Dieſe müſſen dann die Koſten bezahlen, wo⸗ 
durch aber die Ehre, die ihnen erwieſen wird, keinerlei 
Schmälerung erleidet. 

Die beiden Deutſchen verabſchiedeten ſich von dem 
Chineſen, der ſie unter unaufhörlichen Bücklingen bis vor 
ſeine Ladentür begleitete. Zu Hauſe angekommen, be⸗ 
gaben ſie ſich nach Methuſalems Zimmer. 

„Sollen die andern wirklich nichts davon erfahren?“ 
fragte Gottfried. — „Nein, jetzt noch nicht.“ — „Wollen 
wir nicht wenigſtens unſern Richard mitnehmen?“ — 
„Auch ihn nicht. Zu ihm habe ich noch eher Vertrauen 
als zu den andern; er iſt über ſeine Jahre hinaus vor⸗ 
ſichtig und beſonnen. Aber er iſt mir von ſeiner Mutter 
anvertraut worden und ich mag ihn nicht unnötigerweiſe 
an einer Gefahr teilnehmen laſſen.“ — „Halten Sie die 
Sache für gefährlich?“ — „Nein, aber unter Umſtänden 
kann ſie es doch werden. Gehe jetzt und ſuche die andern 
auf! Sie werden nach mir fragen. Dann ſage ihnen, 
daß ich ungeſtört ſein wolle, weil ich die Abſicht habe, 
meine Notizen einzuſchreiben. Später kommſt du zurück. 
In einer Viertelſtunde wird es dunkel.“ 

Der Gottfried ging. Bald nachher kam ein Diener, 
um die von der Decke herabhängende Laterne anzuzün⸗ 

May, Der blaurote Methuſalem. 18 


— 274 — 


den und ſich zu erkundigen, ob der „ganz Vornehme und 
ſehr Alte“ irgend einen Befehl auszusprechen habe. 

„Nein, ich danke!“ antwortete der Student. „Aber 
ſage mir, ob es erlaubt iſt, in den Garten zu gehen?“ — 
„Des Morgens nicht, weil zu dieſer Zeit die Blume des 
Hauſes' draußen luſtwandelt.“ — „Aber jetzt?“ — „Ja. 
Wünſcht mein Gebieter hinauszugehen?“ — „In kurzer 
Zeit. Ich bin ein Puet⸗tſer) und wünſche, ungeſtört nad» 
denken zu können.“ — „Ich werde den Schöpfer des 
Gedichts bis an die Pforte führen und dort auf feine 
Rückkehr warten. Vielleicht hat er mir während ſeines 
Spaziergangs einen Befehl zu erteilen.“ — „Nein, denn 
mein eigener Diener wird mich begleiten und dir meinen 
Wunſch mitteilen, wenn ich einen ſolchen haben ſollte. 
Ich wünſche, ganz ungeſtört zu ſein.“ 

Der Mann verbeugte ſich und ging. Kurze Zeit 
ſpäter kam Gottfried zurück. 

„Wo befinden ſich die andern?“ fragte Methuſalem. 

„In Turnerſticks Zimmer, wo ſie Tee trinken, 
Pfeife rauchen und Domino ſpielen. Habe nicht jewußt, 
daß dieſe Chineſigen auch dat Domino kennen.“ 

„Sie ſpielen es ſogar ſehr gern, doch ſind die Steine 
und Ziffern anders als bei uns. Horch!“ 

Von der Straße her ertönte der Schall der Gongs, 
die von den Wächtern geſchlagen wurden, und dazwiſchen 
hörte man den Ruf: „Siüt⸗ſchi, ſiüt⸗ſchi!“ Es war nach 
abendländiſcher Rechnung abends ſieben Uhr, nach chine⸗ 
ſiſcher aber begann die elfte Stunde. 

„Jetzt wird es Zeit,“ ſagte Degenfeld. „Haſt du 
dein Meſſer?“ 

„Ja. Wer ſoll meuchlings erſtochen werden?“ 


ij Dichter, wörtlich „Sohn des Mondes“. 


— 275 — 


„Niemand, doch ift es möglich, daß wir es brauchen. 
Auch die Revolver habe ich bei mir.“ 

„Bin ebenſo damit verſehen. Fühle mir überhaupt 
als Raubritter, der im Begriff ſteht, mit verhängten 
Zügeln zum Burgtor hinauszuſprengen. Bin wirklich 
neubegierig, wie dat Abenteuer enden wird.“ 

„Hoffentlich gut. Komm!“ 

Draußen ſtand ihrer wartend der Diener. Er führte 
ſie bis an die Gartenpforte und zog ſich dann zurück. Es 
war ſchnell dunkel geworden. Man hätte einen Menſchen 
auf acht Schritte nicht zu ſehen vermocht, und binnen 
wenigen Minuten mußte es noch dunkler werden. 

„Jetzt wird der Jott jeſtohlen,“ flüſterte Gottfried. 

„Ja, jetzt iſt die Zeit. Hoffentlich gelingt der Dieb⸗ 
ſtahl.“ 

„Schöner Wunſch!“ 

„Aber gerechtfertigt. Wenn der Raub nicht gelingt, 
ſind wir morgen wieder gezwungen, herauszuſchleichen, 
was aber ſchwieriger ſein dürfte, da dann der Tong⸗tſchi 
gewiß daheim ſein wird. Komm zur Mauer!“ | 

Sie huſchten geräuſchlos nach derſelben hin und 
blieben zunächſt lauſchend ſtehen. Es war jenſeits kein 
Geräuſch zu hören. 

„Jetzt hinüber, aber ja ganz leiſe!“ raunte Degen⸗ 
feld dem Wichſier zu. 

Sie ſchwangen ſich hinauf und ließen ſich drüben 
langſam wieder hinab. Kaum hatten ihre Füße den 
Boden berührt, jo tauchte eine dunkle Geſtalt neben 
ihnen auf. 

„Hu⸗tſin?“ fragte der Student flüfternd. — „Ich 
bin der ganz Armſelige!“ antwortete der Gefragte eben⸗ 
fo leiſe. — „Wie lange find Sie hier?“ — „Seit kurzem 
erſt.“ — „Sind Sie einmal rundum gegangen?“ — 


— 276 — 


„Nein. Ich dachte, Wing⸗kan könne drüben hinter der 
Mauer ſtehen und lauſchen. Er darf doch nicht wiſſen, 
daß ich da bin.“ — „Recht ſo! Und die Werkzeuge?“ — 
„Liegen hier neben mir. Was tun wir jetzt, hoher Ge⸗ 
bieter?“ — „Ihr beide ſteckt euch hinter dieſe Taxus⸗ 
hecke. Es iſt möglich, daß Wing⸗kan herüberkommt und 
ſich überzeugt, daß niemand hier im Garten iſt. Er wird 
das ſogar ſehr wahrſcheinlich tun. Ich will einmal aus⸗ 
ſpähen und kehre bald zurück.“ 

Er zog ſeine Stiefel aus und ſchlich ſich fort. Schritt 
für Schritt gehend, ſuchte er die Finſternis mit den 
Augen zu durchdringen. Zwei Seiten des Gartens ſchritt 
er ab, ohne etwas Auffälliges zu bemerken. Die dritte 
Seite bildete die Mauer, welche die Gärten der beiden 
Juweliere von einander trennte. Während er da lang⸗ 
ſam vorwärts ging, ſtreift ſein Fuß etwas Hartes, was 
da am Boden lag. Er bückte ſich nieder, um den Gegen⸗ 
ſtand zu befühlen. Es waren eine Hacke, ein Spaten und 
eine Schaufel, die da auf⸗ und nebeneinander lagen. 

Dieſe Werkzeuge waren jedenfalls von Wing⸗kan 
herübergeſchafft worden; es war gar nicht anders mög⸗ 
lich. Vielleicht war er noch in der Nähe. 

Degenfeld duckte ſich nieder und lauſchte. Er ſtreng⸗ 
te ſeine Augen möglichſt an, konnte aber weder etwas 
hören noch etwas ſehen. 

Er bewegte ſich, zur Erde niedergebückt, noch einige 
Schritte weiter, und da ſah er eine Geſtalt an einem 
Baum lehnen, kaum vier Schritte von ſich entfernt. Hätte 
er nicht dieſe gebückte Haltung eingenommen gehabt, ſo 
wäre er von dem Mann unbedingt bemerkt worden. 

Schnell bog er zur Seite und ſetzte ſich hinter einen 
Buchsbaumrand nieder, um zu erwarten, was da kom⸗ 
men werde. Die Hauptſache war jetzt, daß Gottfried und 


— 277 — 


Hu⸗tſin an ihrem Platz blieben und ja nicht auf den Ge⸗ 
danken kamen, ihr Verſteck zu verlaſſen. 

Glücklicherweiſe dauerte es nicht lange, ſo hörte 
man von draußen Schritte. Es kamen mehrere Män⸗ 
ner, ſchnell laufend. Sie hielten jenſeits der Mauer an. 
Man hörte an ihrem lauten Atem, daß ſie ihre Lungen 
ſehr angeſtrengt hatten. 

Die dunkle Geſtalt verließ den Baum und huſchte 
nach der Außenmauer hin. Degenfeld folgte, aber ſelbſt⸗ 
verſtändlich mit größter Vorſicht, um ja kein Geräuſch zu 
verurſachen. 

„Scht!“ ertönte es von draußen. 

„Scht!“ antwortete es von innen. 

„Iſt der hohe Herr da?“ — „Ja. Haſt du ihn?“ — 
„Sogar zwei!“ — „Zwei? Einer war genug.“ — „Es 
ging ſo leicht; da nahmen wir gleich zwei.“ — „Die 
beiden Götter waren nicht zu ſchwer?“ — „Nein. Sie 
ſind von Holz.“ — „Aus welchem Tempel?“ — „Aus 
dem Pek⸗thian⸗tſchu⸗fan!), das nicht fo entfernt iſt und 
auch weniger gut bewacht wird.“ — „So iſt's gelungen, 
ohne bemerkt zu werden?“ — „Ja, aber beim nächſten 
Umgang, wenn der Hai⸗ſchi:) geſchlagen wird, wird man 
es unbedingt ſehen. Bis dahin muß hier alles beendet 
ſein.“ — „Wie bringen wir die Götter herein?“ — 
„Wir heben ſie hinauf, und Sie nehmen ſie drüben 
hinab.“ — „Gut, dann ſchnell.“ 

Der Methuſalem hörte die Fragen und Antworten 
genau. Zwei große Gegenſtände wurden von draußen 
her über die Mauer gehoben. Der Juwelier hob ſie halb, 
und halb ließ er ſie herabfallen. Dann gebot er: „Nun 
kommt ſelbſt herein!“ 


1) Haus der hundert Himmelsherren. — N Letzte Stunde = 9 Uhr 
unſrer Zeit 


— 278 — 


„Noch nicht. Wir müſſen vorher die Sänfte zur 
Seite tragen, daß ſie nicht geſehen wird, falls jemand 
noch ſo ſpät vorüberkommen ſollte.“ 

Man hörte ihre Schritte. Bald kehrten ſie zurück 
und kamen über die Mauer geſprungen. Es waren zwei 
Perſonen. 

„Iſt hier alles in Ordnung?“ fragte der eine. — 
„Ja.“ — „Niemand im Garten?“ — „Nein.“ — „Wol⸗ 
len wir uns nicht vorher genau überzeugen?“ — „Das 
habe ich bereits getan. Ich bin zweimal um den ganzen 
Garten gegangen.“ — „So können wir beginnen. Aber 
wo?“ — „Nicht weit von hier. Die Werkzeuge liegen 
dort. Ich habe heut am Tage über die Mauer geſchaut 
und mir die Stelle ausgewählt, wo die Erde am locker⸗ 
ſten iſt. Kommt, und bringt die Götter!“ 

Er ging voran, und die beiden Männer folgten ihm 
mit den Figuren, die vielleicht zwei Ellen hoch und alſo 
doch ziemlich ſchwer waren. Dort, wo die Werkzeuge 
lagen, hielten ſie an. „Hier graben wir,“ ſagte der 
Juwelier. „Aber ja leiſe, damit man nichts hören kann! 
Eine Hacke iſt da; aber der Spaten macht viel weniger 
Geräuſch.“ 

Die beiden Böſewichter begannen zu arbeiten, und 
zwar ſehr haſtig, was Wing⸗kan zu der Bemerkung ver⸗ 
anlaßte: „Ihr macht zu ſchnell. Das hört man ja im 
Hauſe!“ 

„Nein,“ lautete die Antwort. „Wir müſſen uns ſehr 
beeilen, ſonſt werden die Tore verſchloſſen. Dann ſind 
wir gefangen.“ 

Sie gaben ſich alle Mühe, bald fertig zu werden. 
Es galt übrigens auch gar nicht, die Arbeit ſehr ſorgfäl⸗ 
tig zu verrichten. Sie wußten ja, daß die Figuren hier 
vergraben wurden, um bald gefunden zu werden. 


— 279 — 


Es war noch keine halbe Stunde vergangen, ſo hat⸗ 
ten ſie ihre Arbeit getan. „So!“ ſagte Wing⸗kan. „Das 
war die Hauptſache. Das übrige kommt von ſelbſt.“ 

„Wie will mein Gebieter es nun anfangen?“ fragte 
der eine der Männer, jedenfalls derjenige, mit dem der 
Juwelier hinter der Gartenmauer des portugieſiſchen 
Gaſthauſes geſprochen hatte. 

„Ich warte, bis der Raub ausgerufen wird.“ 

„Das wird ſehr bald geſchehen.“ 

„Dann laufe ich zum Tong⸗tſchi hier nebenan.“ 

„Der iſt kein Mandarin des Gerichts!“ 

„Nein, aber doch ein Mandarin. Die Gaſſe iſt ver⸗ 
ſchloſſen, und ein Sing⸗kuan! wohnt nicht hier. Alſo 
muß ich zu ihm. Ich ſage ihm, ich höre, daß zwei Götter 
geſtohlen ſeien. Ich glaube, daß mein Nachbar Hu⸗tſin 
der Räuber iſt.“ 

„Der Mandarin wird fragen, woher meinem vor⸗ 
nehmen Alten dieſer Verdacht komme.“ 

„Ich habe noch im Garten geluſtwandelt und da ge⸗ 
ſehen, daß der Nachbar zwei Figuren vergraben hat.“ 

„So iſt's recht! Das wird helfen! Nun ſind wir 
alſo fertig und bitten um das Geld.“ 

„Ich habe euch die Beutel ſchon bereit gelegt, hier 
neben der Mauer. Da ſind ſie. In jedem tauſend Li.“ 

„Iſt's richtig gezählt?“ 

„Ganz richtig.“ 

„Ich hoffe es. Als ich dem uralten Herrn den letzten 
Dienſt erwies, hat er ſich um volle fünfzig Li verzählt.“ 

„Ich verzähle mich nie. Du haſt ſchlecht nachgezählt.“ 

„Will der ſehr alte Beſchützer nicht lieber warten, 
bis wir nachgezählt haben?“ 

„Wo wollt ihr denn zählen?“ 

1) Gerichts beamter. 


— 280 — 


„Hier.“ 

„Im Dunkeln?“ 

„Ja. Wir brauchen nichts zu ſehen. Wir greifen 
das Geld.“ 

„So zählt, wenn ihr Luſt habt. Ich aber kann un⸗ 
möglich warten. Ich werde meinen andern Nachbar be⸗ 
ſuchen gehen, um einſtweilen dieſem zu erzählen, was ich 
hier geſehen habe. Wenn dann der Raub ausgerufen 
wird und wir hören, daß zwei Götter fehlen, ſo wird er 
mich auffordern, Anzeige zu machen. Er wird dann wie 
ein Zeuge für mich gelten. Die Werkzeuge hier werde 
ich ſofort verſchließen.“ 

Er warf Hacke, Schaufel und Spaten über die 
Mauer hinüber und ſtieg dann nach. Man hörte ſeine 
Schritte verklingen und darauf einen Riegel knirſchen. 

Die beiden Spitzbuben ſtanden ſtill da und horchten, 
bis nichts mehr von ihm zu hören war. Dann ſagte der 
eine: „Er hat uns wieder betrogen!“ 

„Ja, ich glaube nicht, daß jeder Beutel tauſend Li 
enthält. Aber es iſt dennoch viel Geld. Jetzt müſſen wir 
uns beeilen. Komm!“ 

Sie wollten fort; ſie mußten hart an Degenfeld vor⸗ 
über. Dieſem kam der Gedanke, ſie feſtzuhalten. Ob ihm 
das gelingen werde? Pah! Er war ein ſtarker Mann, 
und der Schreck tat gewiß auch das ſeinige. Er ließ ſie an 
ſich vorbei, ſchnellte dann empor — ein ſchneller Schritt 
hinter ihnen her, ein Doppelgriff — er hatte ſie beide 
bei den Hälſen und krallte ſeine Finger mit aller Gewalt 
um dieſe. 

Ein unterdrückter Schrei, ein vergebliches Sträu⸗ 
ben und Zappeln — ſie brachen zuſammen. Er hielt ſie 
dennoch feſt und preßte ſie kräftig nieder. Keiner gab 
nun einen Laut von ſich. Sie machten noch einige 


— 281 — 


krampfhafte Bewegungen, dann lagen ſie mit ausgeſtreckten 
Gliedern ſtill unter ſeinen Fäuſten; ſie waren bewußtlos. 

Jetzt zog er ſein Meſſer und ſchnitt ihnen Streifen 
von den ſchon an und für ſich nicht reichlichen Gewän⸗ 
dern. Dann band er ſie Rücken an Rücken aneinander, 
ſo daß ſie ſich nicht befreien konnten, und rollte ſie eine 
Strecke weit zur Seite. 

Nun kehrte er zu den beiden, die auf ihn warteten, 
zurück. Sie hatten das Ueberſteigen und auch das 
Hacken und Schaufeln gehört und waren um ihn beſorgt 
geweſen. Er erzählte ihnen, was er ganz allein fertig ge⸗ 
bracht hatte. Hu⸗tſin eilte ſogleich ins Haus, um Stricke 
zu holen, mit denen die Kerls feſter und ſicherer gebun⸗ 
den wurden; dann wurden ſie emporgehoben und über 
die Mauer in Wing⸗kans Garten befördert. Nun ſuch⸗ 
ten die drei diesſeits dieſer Mauer den Ort auf, wo die 
Figuren vergraben lagen und begannen das Ausgraben. 
Als man damit fertig war, wurde das Loch wieder zu⸗ 
gemacht. Dann ſtieg Degenfeld abermals hinüber in 
Wing⸗kans Garten und erhielt das Handwerkszeug und 
die Götter zugelangt; nachher folgten die beiden andern 
ihm nach. Nach einer Viertelſtunde geräuſchloſer Arbeit 
kamen ſie alle drei wieder über die Mauer zurück. 

„So, das iſt herrlich gelungen,“ ſagte der Methu⸗ 
ſalem. „Nun mag dieſer Wing⸗kan Anzeige machen. Er 
fällt in ſeine eigene Grube.“ — „In der ich umkom⸗ 
men ſollte,“ ergänzte der Chineſe. „Herr, Sie ſind mein 
Retter. Wie ſoll ich Ihnen danken!“ — „Dadurch, daß 
Sie ſich ganz genau ſo benehmen, wie ich es Ihnen jetzt 
da drüben geſagt habe. Jetzt müſſen wir uns raſch 
trennen. Der Mandarin darf ja nicht erfahren, daß wir 
hier geweſen ſind.“ — „So erweiſen Sie Ihrem arm⸗ 
ſeligſten Diener wenigſtens die Gnade, daß er morgen 


— 282 — 


Ihr Angeſicht ſchauen kann!“ — „Das können wir tun. 
Morgen werden wir kommen, um uns alles erzählen zu 
laſſen. Jetzt aber möchten wir uns reinigen. Gibt es 
bei Ihnen einen Ort, wo das geſchehen kann, ohne daß 
man uns ſieht?“ — „Ja, kommen Sie, kommen Sie!“ 
— „Nehmen Sie die Werkzeuge mit; ſie dürfen nicht im 
Garten bleiben.“ 

Hu⸗tſin führte ſie in einen Verſchlag und holte 
Laterne und Bürſte; ſie entfernten den Schmutz, der 
leicht zum Verräter werden konnte, von ihren Kleidern. 
Dann verabſchiedeten ſie ſich und ſtiegen in den Garten 
des Mandarinen zurück. 

Dort ſtellte ſich Gottfried wie ein Diener an die 
Pforte, und Degenfeld ſpazierte auf und ab. Aber das 
brauchte er nicht allzulange zu tun, denn er wurde bald 
geholt und zwar von dem Tongs⸗tſchi ſelbſt, welcher nach 
Hauſe gekommen war und, als er erfahren hatte, daß 
die erwarteten Gäſte angekommen ſeien, nun in den 
Garten geeilt kam, um Degenfeld zu begrüßen. 

„Und nun,“ ſagte er, als die erſten Begrüßungen 
gewechſelt waren, „muß ich Sie bitten, mir einen Wunſch 
zu erfüllen.“ 

„Welchen?“ 

„Niemand darf wiſſen, in welcher Lage ich mich be⸗ 
funden habe, und daß Sie meine Retter geweſen ſind. 
Meinem Weibe allein habe ich es erzählt. Sie wünſcht, 
Sie zu ſehen, um Ihnen danken zu können. Darf ich Sie 
zu ihr führen?“ 

Degenfeld wußte, was für eine Auszeichnung dies 
war. Darum antwortete er höflich: „Ich betrachte dieſen 
Wunſch als einen Befehl der Herrin und werde ihm Ge⸗ 
horſam leiſten.“ 

„So kommen Sie! Sie wartet ſchon längſt auf Sie.“ 


Elftes Kapitel. 


Der Götterraub. 


Der Chineſe führte die beiden Deutſchen in das 
Haus zurück und in eine Art Vorzimmer, wo der Mijn⸗ 
heer, Turnerſtick, Richard und Liang⸗ſſi ſchon harrten, 
und verſchwand in der nächſten Tür. Dieſe Gelegenheit 
benutzte der Methuſalem, ſeine Gefährten von ſeinen 
und Gottfrieds Erlebniſſen zu unterrichten und ſie zu 
bitten, ſich nicht durch eine Unbedachtſamkeit zu ver⸗ 
raten. 

Nach einigen Minuten holte er ſie ab, um ſie ein⸗ 
treten zu laſſen. Sie kamen in einen wirklich glänzend 
ausgeſtatteten Salon, der nicht groß war. Hier empfing 
die Frau des Mandarinen wohl ihre Freundinnen, da 
alles darauf hindeutete, daß Damen hier oft verkehrten. 
Stickereien und andere weibliche Luxusarbeiten lagen 
auf den Tiſchen; koſtbares Porzellan blickte von den 
prachtvollen Simſen, und muſikaliſche Inſtrumente hin⸗ 
gen an den Wänden. 

Die Gäſte hatten ſich kaum geſetzt, ſo erſchien die 
Dame am Arm einer Dienerin. Sie bedurfte einer ſol⸗ 
chen Stütze, da ſie allein nur ſchwer zu gehen vermochte, 
eine Folge der größten chineſiſchen Schönheit, die ſie be⸗ 
ſaß, nämlich ihrer Klumpfüßchen. 


— 284 — 


Den Töchtern vornehmer Eltern werden gleich nach 
der Geburt die acht kleinen Zehen der Füße nach der 
Sohle zu umgebogen und mittels Bandagen da feſtge⸗ 
bunden. Nur die große Zehe darf ihre Lage behalten, 
entwickelt ſich aber auch nicht naturgemäß, da der ganze 
Fuß und alſo auch ſie unter der grauſamen Behandlung 
ſehr zu leiden hat. Die Zehen, und vor allen Dingen 
deren Nägel, wachſen in das Fleiſch der Sohle hinein, 
was langwierige Schwärungen und natürlich große 
Schmerzen bereitet. 


So ein armes Kind lernt niemals gehen, ſondern 
nur humpeln, nimmt aber das alles gern in den Kauf, 
um ſo glücklich ſein zu können, einen — ſchönen Fuß zu 
haben. Dieſer Fuß beſteht nur aus der unter den Mit⸗ 
telfuß gewaltſam vorgedrückten Ferſe und der großen 
Zehe. Das Pantöffelchen, womit dieſe letztere bekleidet 
iſt, hat allerdings die Kleinheit eines Puppenpantoffels; 
deſto unförmlicher aber iſt der Teil des Fußes, den man 
nicht zu ſehen bekommt, da das lange Gewand ihn be⸗ 
deckt. 

Das beſchwerliche, ſchmerzhafte Gehen iſt nicht ohne 
Einfluß auf Körper und Geiſt. Es hängt beiden etwas 
Krüppelhaftes an. Ein Menſch, der nicht gehen, der ſich 
nicht anmutig, friſch, gewandt und kräftig bewegen kann, 
wird gewiß gedrückten Gemüts oder Geiſtes ſein. 

Als eine weitere große Schönheit gilt bei den Chine⸗ 
ſen die Wohlbeleibtheit: wer nicht fett iſt, kann ganz un⸗ 
möglich ſchön ſein. Eine hagere Perſon gilt als häßlich. 

Auch in dieſer Beziehung war die Dame des Hauſes 
ſehr ſchön. Sie war von kleiner Geſtalt, aber ungeheuer 
dick, daß es dem Mijnheer, als ſie eintrat, unbewacht ent⸗ 
fuhr: „Rechtvaardige hemel, is deze vrouw dick, zeer on⸗ 


— 285 — 


feilbaar dick — gerechter Himmel, iſt dieſe Frau dick, 
ganz unfehlbar dick!“ 

Wenn Mijnheer van Aardappelenboſch in ſolche Be⸗ 
wunderung geriet, ſo kann man ſich wohl denken, daß 
der Durchmeſſer dieſer Dame ſo ziemlich gleich ihrer 
Höhe war. Sie näherte ſich mit großem Erfolg der 
Kugelform. 

Ihr Haar war mit Hilfe vieler Nadeln, in denen 
Diamanten glänzten, in eine ſchmetterlingsähnliche 
Form geſteckt. Ihr Körper wurde bis zum Boden her⸗ 
ab von koſtbarer Seide umwallt. Ihre Hände waren tief 
in den weiten, bis über die Knie reichenden Aermeln 
verborgen, und um ihren Hals hing eine ſchwere goldene 
Kette, woran mehrere Amulette befeſtigt waren. 

Das kleine Geſichtchen war nach der Sitte vorneh⸗ 
mer Chineſinnen dick mit Bleiweiß und Zinnober be⸗ 
ſtrichen, was den Zügen eine maskenartige Unbeweglich⸗ 
keit und Starrheit erteilte, von der indes die kleinen, 
ſchief geſchlitzten Aeuglein eine ſehr bewegliche Aus⸗ 
nahme machten. 

„Tſching, tſching, tſching, tſching, kia tſchu!“ grüßte 
ſie mit ihrem dünnen, durchdringenden, aber ſehr freund⸗ 
lich klingenden Kinderſtimmchen. Kia tſchu heißt „meine 
Herren“. 

Den Kapitän überkam eine außerordentlich galante 
Regung. Er als derjenige, der von allen das feinſte 
Chineſiſch ſprach, mußte auf jeden Fall jetzt das Wort 
ergreifen und dem lieben Weſen etwas Zartes ſagen. 
Darum trat er zwei Schritte vor, verbeugte ſich außer⸗ 
ordentlich tief, huſtete einmal, zweimal und begann: 
„Gnädige Frau Chineſing! Mein Herz iſt wonnangvoll 
berührt von Ihrer holdong Liebangswürdigkeit. Zwar 
bing ich unverheirating, aber ich weiß das Glück zu 


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ſchätzung, eine Gatting dieſes Mandarengs ſo liebreich 
vor Augang zu habung. Ich muß Ihneng mein Kom⸗ 
plimangt machong und empfehle uns alle Ihreng Wohl⸗ 
wollung! Tſching, tſching und abermals tſching!“ 

Sie hatte kein Wort außer dem letzten dreimaligen 
Tſching verſtanden, aber ſie erriet, daß er ſie begrüßte 
und ihr irgend etwas Angenehmes geſagt hatte. Darum 
lächelte ſie ihn dankbar an und gab ihm durch ein freund⸗ 
liches Nicken zu erkennen, daß ſie mit ſeiner Aufführung 
nicht unzufrieden ſei. Er trat wieder zurück und flüſterte 
dem Dicken zu: „Eine feine Frau, bei meiner Seele! 
Spricht ein außerordentlich regelrechtes Chineſiſch! Hat 
jedes Wort verſtanden! Alle Achtung!“ 

Jetzt wendete ſie ſich an den Methuſalem. „Sie 
ſind der Retter meines Herrn,“ ſagte ſie zu ihm. „Ohne 
Sie lebte er nicht mehr und ich würde dann vor Leid ge⸗ 
ſtorben ſein. Ich danke Ihnen.“ 

Sie ſchob aus dem Aermel ein kleines, bleiches Kin⸗ 
derhändchen hervor, um es ihm zu geben, Degenfeld er⸗ 
griff erſt ihren ſeidenen Aermel und mit ihm ihre Hand, 
damit dieſe nicht ſelbſt von der ſeinigen berührt werde, 
zog dann das mit der Seide bedeckte Händchen an ſeine 
Lippen und antwortete: „Tſui⸗ſchin put tui!“ 

Dieſe vier Silben ſchließen alles ein, wodurch ein 
Chineſe feine Demut auszudrücken vermag. Wörtlich 
lauten ſie: „Ich Sünder darf nicht antworten.“ 

Daß er ihre Hand nicht berührte, war ein Beweis 
großer Hochachtung und Ehrerbietung, den ſie dadurch 
belohnte, daß ſie auch den andern das Händchen bot. Sie 
folgten dem Beiſpiel des Methuſalem und bemühten ſich, 
einen gleich eleganten Handkuß fertig zu bringen, was 
beſonders beim Mijnheer ſehr poſſierlich ausſah. 

Während der Mandarin ſeine Gemahlin dann höf⸗ 


— 287 — 


lich nach ihrem Zimmer begleitete, rief der Dicke: „Goede 
god, was dat eene vrouw! Moet die ontzettend veel ge⸗ 
geten hebben — guter Gott, war das eine Frau! Muß 
die entſetzlich viel gegeſſen haben!“ 

Der Gottfried wollte eine ulkige Bemerkung machen, 
wurde aber unterbrochen. Es war von draußen ein ganz 
eigenartiger, ſich nähernder Lärm zu vernehmen. Man 
hörte die ſchmetternden und doch dumpfen Töne mehrerer 
Gongs, die mißtönend ineinander hallten, und dazwi⸗ 
ſchen rufende oder ſchreiende Männerſtimmen. 

Der Mandarin kam zurück und ſagte: „Hören Sie 
es? Es muß ein großes Unglück oder ein großes Ver⸗ 
brechen geſchehen ſein. Die Wächter verkünden es.“ 

Er öffnete ein Fenſter. Der Lärm war jetzt vor dem 
Hauſe. Die Gongs ſchrillten in die Ohren, und eine 
heiſere Stimme machte etwas, was ſelbſt Methuſalem 
nicht verſtand, in halb ſingendem und halb heulendem 
Ton bekannt. 

„Welch ein Verbrechen!“ rief der Mandarin, der 
dieſe Art des Ausſchreiens gewohnt war und die Worte 
alſo verſtanden hatte. „So etwas iſt in Kuang⸗tſcheu⸗fu 
noch nie geſchehen!“ 

„Was iſt's?“ fragte Degenfeld. 

„Aus dem Pek⸗thian⸗tſchu⸗ſan find zwei Götter ge⸗ 
raubt worden.“ | 

„Heute?“ 

„Vor kurzer Zeit. Beim Beginn des Siü⸗tſchi find 
ſie noch dageweſen. Jetzt aber vermißt man ſie. Zwei 
Menſchen, die eine Sänfte vor dem Tempel ſtehen hat⸗ 
ten, ſind als Täter verdächtig. Der Ausrufer beſchreibt 
ſie.“ 

Die Gefährten brachten es meiſterhaft fertig, eine 
unverdächtige Ueberraſchung zu zeigen. Der Tong«⸗itſchi 


— 288 — 


fuhr fort: „Hoffentlich entdeckt man die Tempelſchänder, 
und dann wehe ihnen! Man wird alle Gaſſen, Straßen 
und Plätze mit Polizei und Militär beſetzen, ſo daß 
niemand hindurch kann. Wenn die Täter ſich nicht be⸗ 
reits aus der Stadt geflüchtet haben, ſo ſind ſie verloren.“ 
— „Aber zu welchem Zweck könnten Menſchen ſich an 
Göttern vergreifen?“ — „Das wiſſen Sie nicht? Das 
ahnen Sie auch nicht?“ — „Nein.“ — „Um Glück zu 
haben, um reich zu werden. Wer ſo einen Gott ins 
Haus zu bringen vermag, dem muß dieſer natürlich die⸗ 
nen. Aber ſie ſind nicht für einen, ſondern für alle da. 
Darum werden ſie in den Tempeln aufgeſtellt, damit ein 
jeder zu ihnen kann, um ihnen ſeine Bitten vorzutragen. 
Wer aber — — was gibt es?“ 


Dieſe letztere barſche Frage galt einem Diener, wel⸗ 
cher eingetreten war. „Hohe Exzellenz,“ antwortete dieſer, 
„der ganz unwürdige Juwelier Wing«⸗kan bittet in tief⸗ 
ſter Demut, eine Meldung machen zu dürfen?“ 

„Der? Er mag heimgehen; ich habe nichts mit ihm 
zu ſchaffen.“ 

„Er ſagte, daß es ſehr notwendig ſei, daß es unſrem 
hohen Herrn den größten Nutzen bringen werde.“ 

Man verſpreche einem Chineſen einen Vorteil, ſo 
wird er ſofort bereit ſein, die Hand darnach auszu⸗ 
ſtrecken! Der Tong⸗tſchi machte keine Ausnahme. „Laß 
ihn herein!“ befahl er. „Aber ſage ihm vorher, daß ich 
ihm die Finger und Zehen zuſammenpreſſen laſſe, wenn 
er mich ohne Grund beläſtigt!“ 

Wing⸗kan trat ein, ſenkte den Kopf faſt bis zum 
Boden herab und blieb in dieſer Stellung an der Türe 
ſtehen. 

„Was willſt du ſo ſpät?“ fuhr der Beamte ihn an. 


— 289 — 


„Allmächtiger Kuan⸗fu,“ antwortete der Gefragte 
im Ton knechtiſcher Furchtſamkeit, „ich muß in die 
Strahlen Ihrer Sonne eilen, weil kein Sing⸗kuan in 
unſrer Gaſſe wohnt.“ 

„Sing⸗kuan? So iſt es eine Kriminalangelegen⸗ 
heit?“ 

„Ja.“ 

„Was habe denn ich mit ſolchen Sachen zu tun! Ich 
ſehe, daß ich dich einſperren laſſen muß.“ 

„Ihre leuchtende Gnade wird mir die Freiheit laſ⸗ 
ſen, wenn ſie erfährt, daß es ſich um die geſtohlenen 
Götter handelt.“ 

Der Mandarin hatte ſich auf einen Stuhl geſetzt, 
da es mit ſeiner Würde nicht zu vereinen war, ſtehend 
mit dieſem Mann zu ſprechen. Jetzt aber ſprang er auf 
und rief: „Um dieſe Götter? Richte dich empor, und 
ſprich frei und ſchnell zu mir. Was weißt du über dieſe 
hochwichtige Angelegenheit?“ 

„Ich glaube den Mann zu kennen, bei dem die Ge⸗ 
raubten ſich befinden.“ 

„Du? Wer iſt es?“ 

„Hu⸗tſin, mein Nachbar.“ | 

Die Brauen des Tong⸗tſchi zogen ſich finſter und dro⸗ 
hend zuſammen. „Der? Dein Feind?“ fragte er. „Dieſer 
Mann iſt ehrlich und kein Dieb. Von ihm könnteſt du 
lernen, zu ſein, wie man ſein muß. Er ſtiehlt nicht; am 
allerwenigſten aber raubt er Götter! Weißt du, was du 
tuſt, wenn du ihn einer ſolchen Tat beſchuldigſt?“ 

„Ich weiß es; aber ich habe ihn noch nicht beſchul⸗ 
digt, ſondern nur eine Vermutung ausgeſprochen.“ 

„Nun, warum vermuteſt du, daß er der Täter iſt? 
Aber hüte dich. ein Wort mehr zu jagen, als du verant⸗ 

May, Der blaurote Methuſalem. 19 


— 290 — 


worten kannſt! Du biſt nicht der Mann, mit dem ich 
Nachſicht haben würde!“ 

Der Juwelier nahm dieſe harten Worte demütig 
hin und ſagte: „Ich will niemand anklagen und nie⸗ 
mand beſchuldigen; aber ich halte es für meine Pflicht, 
Ihrer Erleuchtung zu ſagen, was ich geſehen habe.“ 

„Nun, was?“ 

„Ich hatte heut am Tage viel gearbeitet, darum 
ging ich, als der Abend anbrach, in den Garten, um 
mich zu erholen und friſche Luft zu atmen. Ich ſtand an 
der Mauer. Es war ſchon dunkel; dennoch ſah ich zwei 
Männer kommen, die einen Palankin trugen und an 
dem Garten meines Nachbars hielten. Sie gaben ein 
Zeichen, und er antwortete ihnen, denn er hatte auf ſie 
gewartet. Ich ſah, daß ſie zwei ſchwere Gegenſtände aus 
der Sänfte nahmen und über die Mauer hoben. Dann ſtie⸗ 
gen fie nach und gruben mit Hu⸗tſin ein Loch im Garten. 
Ich ſchlich mich hin, denn das Treiben dieſer Leute kam 
mir verdächtig vor. Als ich über die Mauer blickte, er⸗ 
kannte ich, daß die beiden Gegenſtände Figuren waren. 
Sie legten dieſe in das Loch und ſchaufelten es wieder zu. 
Die beiden Männer ſprangen über den Zaun: Hu⸗tſin 
aber blieb noch in ſeinem Garten. Das iſt's, was ich 
geſehen habe.“ ö 

„Himmel? Iſt es möglich!“ rief der Mandarin. 
„Eine Sänfte mit zwei Männern, zwei Figuren, gerade 
um dieſe Zeit; das ſtimmt ja alles ſehr genau! Sollte 
Hu⸗tſin doch ein Verbrecher ſein?“ 

„Ich kann das nicht beantworten. Ich habe nur er⸗ 
zählt, was ich geſehen habe.“ 

„Was tateſt du dann?“ 

„Ich überlegte. Hu⸗tſin mußte etwas Verbotenes 
vorhaben, weil alles ſo heimlich geſchah. Sollte ich ihn 


— 291 — 


anzeigen, den ehrlichen Hu⸗tſin, und mich in Gefahr brin⸗ 
gen? Ich wußte keinen Rat und begab mich darum zu 
dem andren Nachbar, dem ich alles erzählte. Da hörten 
wir ausrufen, daß zwei Götter geſtohlen worden ſeien, 
und nun wußte ich auf einmal, wer die beiden Figuren 
geweſen waren. Ich ſah ein, daß ich reden müſſe. Auch 
der Nachbar riet mir, zu Ihrer Mächtigkeit zu eilen.“ 

Der Mandarin ſchritt erregt auf und ab und rief 
dabei: „Hu⸗tſin, Hu⸗tſin! Hätte ich mich in ihm ſo ſehr 
geirrt! Menſch, du haſt mir doch die Wahrheit geſagt?“ 

„Ihre Herrlichkeit mag mich zu Tod prügeln laſſen, 
wenn ein einziges Wort erfunden iſt.“ 

„Das würde ich auch tun; darauf kannſt du dich 
verlaſſen. Haſt du dir die Stelle gemerkt, wo das Loch 
gegraben worden iſt?“ 

„Ganz genau.“ 

„Du wirſt mich augenblicklich zu Hu⸗tſin begleiten. 
Aber wehe dir, wenn ich dich bei einer Lüge ertappe.“ 

Wing⸗kan verbeugte ſich und antwortete im zuver⸗ 
ſichtlichſten Ton: „Mein Gewiſſen iſt rein und mein Herz 
gerecht. Meine Seele ſträubt ſich dagegen, daß der Heuch⸗ 
ler gerade durch mich entlarvt werden ſoll, aber ich folge 
dem Gebot der hohen Religion.“ 

„So warte hier; ich komme gleich zurück!“ 

Er wollte fort, kehrte aber unter der Tür wieder 
um, kam auf den Methuſalem zu und fragte: „Sie ſind 
ein großer Gelehrter Ihres Landes. Haben Sie auch die 
Geſetze der Gerechtigkeit ſtudiert?“ 

„Ja.“ 

„So ſollen Sie erfahren, wie man es bei uns ver⸗ 
ſteht, den Verbrecher zu ergreifen und zu beſtrafen. Wol⸗ 
len Sie mich jetzt begleiten?“ 

Nichts konnte dem Methuſalem willkommener ſein 


— 292 — 


als dieſe Frage. Als er ſie bejahend beantwortete, be⸗ 
ſtimmte der Tong⸗tſchi: „Gut, Sie gehen alſo mit, und 
Ihre Gefährten ebenſo. Ich werde nach Poliziſten oder 
Soldaten ſenden.“ 

Er erteilte dem Diener einen Befehl und bald 
waren mehrere bewaffnete Schutzleute zur Stelle, die 
durch ihre kegelförmigen Mützen leicht erkennbar ſind. 
Ferner nahte ein Fähnlein Soldaten; dieſe ſind mit Lun⸗ 
tenflinten bewaffnet und tragen auf der Bruſt und dem 
Rücken je einen ſchildförmigen Einſatz, worauf das 
Wort „Ping“, d. i. „Soldat“, zu leſen iſt. 

Der Mandarin mußte auch die wenigen Schritte zu 
Hu⸗tſins Haus der Würde ſeines Standes angemeſſen 
zurücklegen. Voran ſchritten vier Läufer. Dann kam er 
in ſeiner Staatsſänfte, hinter ihm ſeine Gäſte auch in 
Sänften, dann der Ankläger, von den Poliziſten umgeben, 
und ſchließlich die Soldaten, bei denen aber von einem 
Gleichſchritt keine Rede war. Sie hielten ihre Gewehre 
ganz wie es ihnen paßte und liefen dabei nach Belieben 
durcheinander. 

Die Straße war nicht erleuchtet, und doch war es 
ziemlich hell, denn es hatten ſich viele Leute, welche La⸗ 
ternen trugen, angeſammelt. Zwar dürfen nur Bevor⸗ 
zugte aus einer Gaſſe in die andere; aber die Bewohner 
aus einer und derſelben Straße dürfen auch des Abends 
unter gewiſſen Umſtänden miteinander verkehren. Nur 
iſt jeder einzelne angewieſen, eine Papier⸗ oder ſonſtige 
Laterne bei ſich zu tragen. 

Ueberhaupt iſt die Beaufſichtigung der Bevölkerung 
in China eine ſehr weit durchgeführte. Es gibt Beamte, 
die für eine gewiſſe Anzahl von Straßen und für alles, 
was darin paſſiert, verantwortlich ſind. Unter ihnen 
ſtehen die „Straßenhäupter“, deren jedes eine einzelne 


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Straße beaufſichtigt, die wieder in verſchiedenen Abtei⸗ 
lungen von „Häuſerhäuptern“ bewacht wird. Unter die⸗ 
ſen ſtehen dann die Familienväter, die alles, was in 
ihrer Familie geſchieht, zu verantworten haben. 

Wird ein Verbrechen begangen, ſo wird die ganze 
Familie des Verbrechers, das betreffende „Häuſerhaupt“, 
das „Straßenhaupt“ und unter Umſtänden auch das 
Haupt des betreffenden Stadtteils mit in Strafe gezogen. 

Die Kunde, daß zwei Götter geraubt worden ſeien, 
hatte viele Leute auf die Straße gelockt, wo ſie in ſtillen 
Gruppen beiſammenſtanden, um die entſetzliche Neuig⸗ 
keit leiſe zu beſprechen. Die Häuſerhäupter ſtanden da⸗ 
bei, um ſorglich darüber zu wachen, daß ja weder Lärm 
noch Unordnung entſtehe. 

Hu⸗tſin hatte vom Methuſalem genaue Anweiſung 
erhalten, wie er ſich verhalten ſolle. Er wußte, daß der 
Tong⸗tſchi kommen werde, und hatte ihn hinter feiner 
verſchloſſenen Tür erwartet. Kaum war das Klopfen 
erſchallt, ſo öffnete er. 

Er tat in hohem Maße erſtaunt, verbeugte ſich vor 
dem Mandarin bis zum Boden und fragte in tiefſter 
Unterwürfigkeit nach der Veranlaſſung des hohen Be⸗ 
ſuchs. 

„Du wirſt es erfahren,“ antwortete der Beamte. 
„Jetzt mach vor allen Dingen Platz und hole deine un⸗ 
würdige, übel riechende Familie herbei!“ 

Zwei der Poliziſten ergriffen den Juwelier beim 
Zopf und zerrten ihn hinaus. Der Mandarin begab ſich 
beim Schein der mitgebrachten Papierlaternen nach dem 
Garten, wohin ihm die andern folgten. 

Bald brachten die Poliziſten den Mann wieder. Er 
hatte ſeine Frau, ſeine Kinder und Dienerſchaft bei ſich. 
Er ſelbſt blieb in tiefgebeugter Haltung ſtehen; ſeine An⸗ 


— 294 — 


gehörigen warfen ſich auf die Knie nieder und blieben in 
dieſer Stellung vor dem Beamten liegen. Dieſer wandte 
ſich im ſtrengſten Ton an den Hu⸗tſin: „Weißt du, wes⸗ 
halb wir kommen?“ 

„Meine große Niedrigkeit ahnt nicht, aus welchem 
Grund Ihr Glanz mein dunkles Haus erleuchtet,“ ant⸗ 
wortete der Gefragte. 

„Das lügſt du! Standeſt du nicht an deiner Tür, 
als wir kamen?“ 

„Ich hörte, daß viele Leute auf der Gaſſe ſeien, 
und wollte nachſehen, was ſie da treiben. Da aber kam 
Ihre hohe Gerechtigkeit, um bei mir abzuſteigen.“ 

„Ja, meine hohe Gerechtigkeit! Das haſt du ganz 
richtig geſagt. Dieſer Gerechtigkeit wirſt du verfallen. 
Weißt du denn, weshalb ſich ſo viele Menſchen auf der 
Straße befinden?“ 

„Wegen der beiden Götter, die geraubt worden 
ſind.“ 

„Woher weißt du, daß dieſe Tat geſchehen iſt?“ 

„Wir hörten den Ausrufer, welcher es bekannt 
machte.“ 

„Das iſt eine Lüge. Du haſt von dem Raub ge⸗ 
wußt, noch bevor überhaupt ein anderer etwas davon er⸗ 
fuhr, denn du ſelbſt biſt der Räuber!“ 

Ein gewiegter Unterſuchungsrichter hütet ſich be⸗ 
kanntlich, dem Angeklagten das Verbrechen in dieſer 
Weiſe auf den Kopf zu ſagen. Er ſucht ihn vielmehr mit 
einem Netz von ſcheinbar unweſentlichen Fragen zu um⸗ 
geben, aus denen er dann, wenn die letzte Maſche zuge⸗ 
zogen iſt, nicht zu entrinnen vermag. Eine ſolche ins Ge⸗ 
ſicht geſchleuderte Behauptung aber kann die Ueberfüh⸗ 
rung des Verbrechers leicht zur Unmöglichkeit machen. 
— Hus tſin ſtellte ſich erſchreckt und antwortete: „Was 


— 295 — 


waren das für Worte! Was ſagt Ihre Herrlichkeit! Ich 
ſoll es ſein, welcher die Götter geraubt hat, ich, der ich 
der gläubigſte und eifrigſte Anhänger des großen und 
heiligen Unterrichts bin? Welch eine Anſchuldigung! Ich 
kann beweiſen, daß ich von früh bis jetzt meinen Laden, 
meine Wohnung nicht verlaſſen habe!“ 

„Das kannſt du beweiſen, ja; aber du haſt zwei 
Männer mit der Tat beauftragt, welche dir die geraub⸗ 
ten Götter dann gebracht haben!“ 

„Ich? Ehrwürdigſter Herr, ich weiß nichts davon!“ 

„Lüge nicht! Du haſt die Götter in deinem Garten 
vergraben laſſen!“ 

„Wer hat das geſagt? Wer will das behaupten?“ 

„Wing⸗kan, dein Nachbar, der alles geſehen hat und 
nun als Ankläger hier vor dir ſteht.“ 

„Dieſer? Meine demütige Bewunderung Ihrer 
hohen Würde wagt es, Ihnen zu ſagen, daß dieſer Mann 
bekanntlich mein Feind iſt. Er hat dieſes Märchen er⸗ 
dacht, um mich in Schaden zu bringen.“ 

„Es iſt kein Märchen, ſondern die Wahrheit. Ich 
weiß genau, wo du die Götter verſteckt haſt, und werde 
jetzt nachgraben laſſen.“ 

„Ihre Erhabenheit mag dies tun; meine Unſchuld 
wird dann an den Tag kommen.“ 

Er ſagte dies im Ton der größten Ueberzeugung. 
Der Mandarin kannte ihn als einen ehrlichen Mann; 
er hatte nur ſchwer an ſeine Schuld glauben können. Er 
ſah ihm forſchend in das Geſicht und ſagte dann: „Dein 
Ruf iſt bisher gut und unbefleckt geweſen; darum möchte 
ich deinen Verſicherungen gern Glauben ſchenken. Doch 
wehe dir, wenn wir die Götter bei dir finden! Einige 
Soldaten mögen die zum Graben nötigen Werkzeug: 


— 296 — 


holen! Und nun vorwärts, Wing⸗kan, zeige uns den 
Ort!“ 

Der Genannte ſchritt eiligſt voran. Bei der be⸗ 
treffenden Stelle angekommen, blieb. er ſtehen, nahm 
einem der Poliziſten die Laterne aus der Hand, ließ das 
Licht zur Erde fallen und ſagte: „Hier iſt es! Ihre Er⸗ 
habenheit wird bemerken, daß hier vor ganz kurzer Zeit 
gegraben worden iſt. Man ſuche nach!“ 

„Ja, man ſuche nach!“ befahl der Mandarin. „Jetzt 
wird es ſich entſcheiden, welchen von euch beiden ich be⸗ 
ſtrafen laſſe, ihn als Götterdieb oder dich als Verleum⸗ 
der gegen ihn und Lügner gegen die Obrigkeit.“ 

Es wurde ein Halbkreis um die an der Mauer lie⸗ 
gende Stelle gebildet, und zwei Poliziſten griffen zu 
Spaten und Schaufel, um die Nachgrabung zu beginnen. 

Wing⸗kan war ſeiner Sache ganz gewiß, wie man 
Raus feiner zuverſichtlichen Miene erſehen konnte; aber 
ſehr bald war in ſeinem Geſicht eine Veränderung zu 
bemerken, die immer größer wurde, je tiefer die Poli⸗ 
ziſten in die Erde gruben. 

Die beiden Figuren waren nur oberflächlich einge⸗ 
ſcharrt worden. Jetzt beſaß das Loch bereits eine Tiefe 
von anderthalb Metern und noch war nichts von ihnen 
zu ſehen. Der Methuſalem trat herzu, blickte hinab und 
ſagte dann: „Hier können die Götter nicht vergraben 
worden ſein. An der Oberfläche war die Erde weich, wie 
bei jedem Beet; nun aber iſt ſie hart und feſt, was nicht 
der Fall wäre, wenn man vor kurzem hier gegraben 
hätte.“ 

„Das iſt richtig,“ ſtimmte der Mandarin bei. „Weißt 
du ganz gewiß, daß dieſe Stelle es geweſen iſt?“ 

Dieſe Frage war an Wing⸗kan gerichtet. Sein Ge⸗ 
ſicht hatte alle Farbe verloren, und er ſtierte mit dem 


— 297 — 


Ausdruck des Entſetzens in das leere Loch. „Ja, es war 
hier,“ ſtieß er hervor. 

„Aber du ſiehſt doch, daß die Götter nicht vorhan⸗ 
den ſind.“ 

„So ſind ſie indeſſen entfernt worden!“ 

„Das wird dir niemand glauben. Wer einen Raub 
in die Erde verſteckt, gräbt ihn nicht einige Minuten 
ſpäter ſchon wieder aus. Vielleicht haſt du dich geirrt, 
und die Stelle iſt anderswo.“ 

„Nein, ſie iſt hier; ich weiß es ganz gewiß!“ 

„Dann iſt es erwieſen, daß du gelogen haſt, um 
deinen ehrlichen Nachbar zu verderben!“ 

„Nein, nein! Ich habe die Wahrheit geſagt. Ich 
habe ganz genau geſehen, daß die Götter hier einge⸗ 
graben wurden.“ 

„Lüge nicht! Ich kenne dich! Du biſt ein Verleum⸗ 
der. Von Hustfin aber weiß jeder Menſch, daß er ein 
ehrlicher Mann iſt!“ 

„Ja, der bin ich,“ bemerkte der Genannte, indem er 
vortrat. „Ich habe bis jetzt geſchwiegen, weil ich es nicht 
für möglich hielt, daß jemand gar ſo ſchlecht ſein könne. 
Nun aber will ich ſprechen. Ihre Gnaden wird meine 
Worte anhören!“ 

„Sprich!“ befahl der Mandarin. „Was haſt du zu 
ſagen?“ 

„Ich hatte heute viel gearbeitet und wollte mich, als 
ich den Laden ſchloß und es dunkel geworden war, im 
Garten erholen. Während ich — — —“ 

„Du fängſt ja ganz genau ſo an wie er,“ unter⸗ 
brach ihn der Mandarin. „Das ſind faſt dieſelben Worte, 
die ich von ihm hörte. Sprich weiter!“ 

„Während ich ſtill an meiner Mauer ſtand und die 


— 298 — 


friſche, reine Luft genoß, ſah ich trotz der Dunkelheit zwei 
Männer kommen, die eine Sänfte trugen.“ 

„Genau ſo wie er, ganz genau! Weiter!“ 

„Sie hielten an der Mauer ſeines Gartens an,“ 
fuhr Hu⸗tſin fort, „nahmen zwei ſchwere Gegenſtände 
aus der Sänfte und warfen dieſe zu ihm herein.“ 

„Das iſt nicht wahr! Das iſt Lüge!“ rief Wing⸗kan 
aus. „Was er erzählt, das iſt an ſeiner eigenen Mauer 
und in ſeinem eigenen Garten geſchehen!“ 

„Schweig!“ donnerte der Mandarin ihn an. „Ich 
habe deine Lügen gehört und will nun auch hören, was 
Hu⸗tſin zu ſagen hat. Du antworteſt nur, wenn ich 
frage! Wir haben hier nichts gefunden, alſo iſt es er⸗ 
wieſen, daß du gelogen haſt. Fahre fort, Hu⸗tſin!“ 

Der Genannte erzählte weiter: „Die beiden Män⸗ 
ner, deren Geſichter ich nicht erkennen konnte, ſchafften 
die Sänfte zur Seite, wo ſie jetzt noch ſtehen wird. Dann 
kamen ſie zurück und ſtiegen in den Garten des Nachbars, 
der ſie wohl erwartet hatte, denn ich hörte ſeine Stimme; 
er ſprach mit ihnen. Dann vernahm ich das Geräuſch 
einer Hacke oder eines Spatens. Man machte ein Loch; 
man wollte alſo etwas vergraben. Ich lauſchte lange 
Zeit, bis das Geräuſch verſchollen war. Dann hörte ich 
einen Riegel und eine Türe gehen; Wing⸗kan kehrte in 
ſein Haus zurück. Ich war überzeugt, daß nun auch die 
zwei Männer ſich entfernen würden. Ich hörte auch, 
daß ſie zur Mauer kamen, um über dieſe hinauszuſprin⸗ 
gen. Da aber geſchah etwas, was ich noch nie gehört 
habe und was mich in größten Schreck verſetzte.“ 

„Was?“ fragte der Mandarin. | 

„Es ertönten zwei gewaltige Stimmen. Ich konnte 
nicht genau unterſcheiden, ob ſie aus der Luft oder aus 
der Erde kamen; aber ich hörte ganz deutlich die Worte: 


— 299 — 


Halt! Ihr habt uns entweiht. Wir halten euch feſt, bis 
der Rächer kommt, um euch an der Stätte eurer Tat zu 
ergreifen!! Darauf hörte ich ein Geräuſch, wie wenn 
jemand mit Gewalt fortgeſchleppt und auf der Erde hin⸗ 
geſchleift wird; ein kurzes ängſtliches Wimmern folgte, 
und dann war es ſtill.“ 

Der Mandarin ſah nachdenklich zur Erde. Er war 
jedenfalls überzeugt, daß Götzenbilder nicht ſprechen 
können, aber er durfte das nicht wiſſen laſſen; er mußte 
ſich den Anſchein geben, als ob er an ſolche Wunder 
glaube. Höchſtwahrſcheinlich ſtieg in ihm ein Verdacht 
gegen Hu⸗tſin auf, doch ſagte er ſalbungsvoll: „Die 
Ueberirdiſchen ſind voller Macht; was iſt die Schwäche 
der Menſchen gegen ſie! Was haſt du dann weiter noch 
geſehen oder gehört?“ | 

„Im Garten des Nachbars keinen Laut mehr. Ich 
ſtand ſtumm und entſetzt. Dann hörte ich den Schall des 
Gong auf der Gaſſe und die laute Stimme des Aus⸗ 
rufers. Ich konnte aber die Worte nicht verſtehen. Darum 
kehrte ich in das Haus zurück, um die Meinen zu fragen, 
was verkündigt worden ſei. Ich erfuhr, daß zwei Götter 
geraubt worden ſind und wurde vom Grauen gepackt.“ 

„Warum haſt du nicht ſofort Anzeige erſtattet?“ 
fragte der Mandarin. 

„Weil ich doch eigentlich nicht genau wußte, was im 
Garten des Nachbars geſchehen war. Ich hatte nicht 
ſehen können, welche Gegenſtände über die Mauer ge⸗ 
worfen worden waren. Jedermann weiß, daß Wing⸗ 
kan mir feindlich geſinnt iſt; meine Anzeige konnte alſo 
leicht als Racheakt erſcheinen. Ich beriet mich alſo mit 
meiner Familie und wollte dann auf die Gaſſe gehen, 
um Genaueres zu erfahren. Eben wollte ich öffnen, da 
wurde geklopft, und als ich die Tür aufmachte, trat Ihre 


— 300 — 


Hoheit herein und beſchuldigte mich, die Götter geraubt 
zu haben. Wing⸗kan hat mich dieſer Tat verdächtigt, und 
nun erſt iſt es mir gewiß, daß die beiden Gegenſtände, 
welche ihm in den Garten gebracht wurden, die geſtoh⸗ 
lenen Götter geweſen ſind.“ 

Als er geendet hatte, trat eine kurze Pauſe ein, die 
zuerſt von Wing⸗kan unterbrochen wurde. Dieſer rief, 
obgleich er von dem Mandarin zum Schweigen aufge⸗ 
fordert war, zitternd: „Welch eine Niederträchtigkeit! Er 
will die Schuld ſeiner Tat auf mich wälzen! Er wird die 
Götter ausgegraben und an einem andern Ort verſteckt 
haben. Ihre Hochwürdigkeit wird vielleicht den Befehl er⸗ 
teilen, ſorgfältig nachzuforſchen.“ 

„Ich werde tun, was mir beliebt, nicht aber das, 
was dir gefällt,“ entgegnete der Tong⸗tſchi. „Es wird 
ſich ſofort zeigen, wem ich glauben darf, dir oder ihm. 
Sagteſt du nicht, daß die beiden Sänftenträger ſich ent⸗ 
fernt hätten?“ 

„Ja.“ 

„Hu⸗tſin aber behauptet, daß fie noch hier find. 
Man ſehe nach, ob die Sänfte zu finden iſt!“ 

Einige Poliziſten ſtiegen über die Gartenmauer, 
um zu ſuchen. Nach wenigen Augenblicken hatten ſie 
den Palankin gefunden und brachten ihn bis an die 
Mauer. „Hu⸗tſin hat recht,“ erklärte der Mandarin. 
„Die Sänfte iſt noch da, alſo ſind auch die Träger noch 
nicht fort. Nehmt Wing⸗kan in eure Mitte und ſeht 
darauf, daß er nicht entkommt! Wir werden uns in 
ſeinen Garten verfügen, um dort nachzuſuchen.“ 

Die Poliziſten bemächtigten ſich des Anklägers, der 
ſich nicht dagegen ſträubte. Zwar konnte er ſich das Ver⸗ 
ſchwinden der beiden Statuen keineswegs erklären, aber 


— 301 — 


es fiel ihm gar nicht ein, anzunehmen, daß fie bei ihm 
ſelbſt zu finden ſeien. 

Abermals verſchmähte es der Tong⸗tſchi, von einem 
Hauſe nach dem andern zu gehen. Er beſtieg die Sänfte; 
Wing⸗kan wurde von den Poliziſten in die Mitte ge⸗ 
nommen. Drüben angelangt, begab man ſich ſofort in 
den Garten, der von den mitgebrachten Laternen voll⸗ 
ſtändig erleuchtet ward. 


Da bot ſich den Ankömmlingen ein unerwarteter 
Anblick: zwiſchen zwei Zwergbäumen war die Erde auf⸗ 
gegraben und wieder zugeworfen, ſo daß ſie nun eine 
kleine Erhöhung bildete. Auf dieſer letzteren ſaßen die 
zwei Sänftenträger, an den Händen und Füßen gefeſſelt 
und mit dem Rücken an zwei ſtarke Pfähle gebunden, 
welche da eingeſchlagen worden waren. Zwiſchen den 
Zähnen hatten ſie abgeriſſene Fetzen ihrer Kleidung 
ſtecken, ſo daß ſie nicht zu rufen vermochten. 

Wing⸗kan brach vor Schreck beinahe in die Knie, als 
er dieſe Gruppe erblickte. Der Mandarin aber rief, indem 
er die beiden Kerls genau in Augenſchein nahm: „Das 
ſind ja die Diebe, ganz genau ſo, wie man ſie beſchrie⸗ 
ben hat! Wing⸗kan, wie kommen ſie in deinen Garten?“ 

„Das — — weiß ich nicht,“ ſtammelte der Gefragte 
mit blutleeren Lippen. 

„Wie? Du weißt es nicht? So weiß ich es deſto 
beſſer. Du ſelbſt haſt die Tat begangen, deren Schuld du 
auf deinen ehrlichen Nachbar werfen wollteſt! Bindet die 
Kerle los, und grabt nach!“ 

Die Sänftenträger wurden von den Pfählen, nicht 
aber von ihren weiteren Feſſeln befreit und zur Seite 
geſchafft. Kaum hatte man dann die obere dünne Boden⸗ 
ſchicht entfernt, ſo kamen die beiden Götzenbilder zum 


— 302 — 


Vorſchein. Sie wurden aus der Grube genommen, ſorg⸗ 
fältig abgewiſcht und dann aufgeſtellt. 

Faſt hätten die Reiſenden laut aufgelacht, als ſie 
nun die Göttergeſtalten vor ſich ſahen. Es waren zwei 
ſitzende, ſehr wohlbeleibte hölzerne und mit Bronzefarbe 
angeſtrichene Puppen, welche ſich in der heiterſten Stim⸗ 
mung zu befinden ſchienen, denn ſie lachten im ganzen 
Geſicht ſo, daß die kleinen mongoliſchen Schlitzaugen faſt 
ganz verſchwanden. ö 

„Dat iſt drollig!“ meinte Gottfried von Bouillon. 
„Wenn alle Jötter von China ſo jemütliche olle Schwe⸗ 
dens ſind, ſo will ich es mich jern jefallen laſſen. Sie 
ſcheinen ihr jutes Auskommen zu haben und ſich ſogar 
jetzt in die allerbeſte Laune zu befinden. Wat meinen 
Sie dazu, Mijnheer?“ 

„Wat ik zeg? Zij zijn ontzettend veel dik. Zij moeten 
zeer goed gegeten hebben — was ich ſage? Sie ſind ent⸗ 
ſetzlich viel dick. Sie müſſen ſehr gut gegeſſen haben.“ 

„Was meinen dieſe beiden Herren?“ fragte der 
Mandarin, der dieſe Bemerkungen natürlich nicht ver⸗ 
ſtanden hatte. 

„Sie wundern ſich darüber, daß ein Menſch auf 
den ſchrecklichen Gedanken kommen kann, ſolche Götter 
aus ihrer Ruhe und Beſchaulichkeit zu reißen,“ ant⸗ 
wortete Methuſalem. 

„Es iſt dies das größte Verbrechen, das ein Menſch 
begehen kann. Bindet den Götterſchänder! Seine Strafe 
wird der Tat angemeſſen ſein!“ 

Da warf ſich Wing⸗kan vor ihm nieder und ſchrie 
voller Angſt: „Gnade, Gnade, allerhöchſter Herr! Ich 
bin unſchuldig! Ich weiß nicht, wie dieſe Männer und 
dieſe Götter in meinen Garten gekommen ſind!“ 

„Du wäreſt verloren, ſelbſt wenn du das wirklich 


— 303 — 


nicht wüßteſt, denn die Gottheiten ſind auf deinem 
Grund und Boden gefunden worden. Aber niemand 
wird dir glauben. Du haſt ſie ſtehlen laſſen!“ 

„Nein, nein, ſondern Hu⸗tſin hat es getan und ſie 
hier eingraben laſſen, um mich zu verderben.“ 

Jetzt hielt der Methuſalem es für angezeigt, nun 
auch ſeinerſeits eine Bemerkung zu machen, weil der un⸗ 
ſchuldige Hu⸗tſin ſonſt doch noch in die Unterſuchung ver⸗ 
wickelt werden konnte. Er fragte den Juwelier: „Du 
kennſt dieſe beiden gefeſſelten Männer nicht?“ — „Nein.“ 
— „Haſt nie mit ihnen geſprochen?“ — „Niemals!“ — 
„Haſt du heute dein Haus verlaſſen?“ — „Auch nicht.“ 
— „Das iſt eine Lüge! Du warſt drunten in Scha⸗mien 
und haſt hinter dem Gaſthauſe des Portugieſen geſtan⸗ 
den!“ — „Sie irren ſich, edler Urahne!“ — „Ich irre 
mich nicht, denn ich ſtand in der Nähe hinter der Mauer 
und habe gehört, was du mit dem älteren dieſer Männer 
ſprachſt. Sie haben die Götter in deinem Auftrag ge- 
ſtohlen, und das Geld, das du ihnen dafür bezahlt haſt, 
muß ſich noch in ihren Taſchen befinden. Der edle und 
mächtige Tong⸗tſchi mag fie ausſuchen laſſen und wird 
ſich überzeugen, daß ich die Wahrheit ſage!“ 

Da ergriff der Mandarin den Methuſalem beim 
Arm, zog ihn zur Seite und fragte ihn leiſe: „Herr, 
haben Sie wirklich eine ſolche Unterredung belauſcht?“ 

„Ja,“ flüſterte der Gefragte als Antwort. 

„Und Sie erkennen die beiden wieder?“ 

„Ganz genau.“ 

„So wiſſen Sie, weshalb Wing⸗kan die Götter ſteh⸗ 
len ließ? Um ſeinen Nachbar zu verderben?“ 

„Ja.“ 

„So hat er ſie drüben vergraben, und ſie ſind dann 
ohne ſein Wiſſen in ſeinen eigenen Garten verſenkt 


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worden. Das iſt gut, denn dadurch iſt ein Unſchuldiger 
gerettet worden; aber diejenigen, welche die Gottheiten 
herübergebracht haben, ſind verloren, wenn es ſo zur 
Sprache kommt. Ich bin ein freiſinniger Kuan⸗fu und 
weiß, was ich von dieſen Figuren zu halten habe; aber 
andre denken nicht ſo wie ich und die Geſetze ſind blutig 
ſtreng. Sie ſind mein Gaſt und ich ſelbſt würde dem 
Verderben nicht entgehen können, wenn die Unterſuchung 
alles genau an das Tageslicht brächte. Schweigen Sie 
alſo; ſchweigen Sie, ſonſt ſehen Sie Ihre Heimat nie⸗ 
mals wieder, obgleich Sie dort ein mächtiger Kuan⸗fu 
ſind! Sie würden hier auf eine Weiſe verſchwinden, daß 
niemand eine Verantwortung treffen könnte. Sie haben 
mir das Leben gerettet, und ich freue mich, Ihnen dank⸗ 
bar ſein zu können. Aber ſchweigen müſſen Sie, ſonſt 
ſind wir alle mit verloren!“ 

Der Mandarin wendete ſich nach dieſer Warnung 
mit ernſtem Geſicht an die Poliziſten und befahl ihnen, 
die Sänftenträger auszuſuchen. Das Geld wurde bei 
ihnen gefunden. Er ließ ihnen die Knebel abnehmen und 
fragte ſie in drohendem Ton: „Soll ich euch die Finger 
und Zehen zerquetſchen laſſen, oder wollt ihr mir meine 
Fragen freiwillig beantworten? Bedenkt, daß ihr auf der 
Tat betroffen ſeid und nicht leugnen könnt! Gebt ihr mir 
nicht die Auskunft, die ich haben will, ſo trifft euch die 
Strafe zehnfach hart!“ 

Die beiden Männer ſahen ein, daß es beſſer ſei, frei⸗ 
willig ein Geſtändnis abzulegen, als es ſich durch ſolche 
Qualen entreißen zu laſſen. Darum antwortete der 
eine demütig: „Der hohe Mächtige mag fragen und wir 
Unwürdigen werden antworten.“ — „Ihr habt die Göt⸗ 
ter aus dem Tempel geholt?“ — „Ja.“ — „Wing⸗kan 
hat euch dazu verführt und dafür bezahlt?“ — „So iſt es. 


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Hätte er uns nicht verführt, ſo hätten wir es nicht getan, 
denn wir ſind ſonſt ehrliche Leute und fürchten und 
ehren die Gottheiten.“ — „Hat er euch geſagt, wozu er 
ſie haben will? Bedenkt wohl, ihr ſtinkenden Ratten, daß 
eure Strafe eine doppelt harte ſein wird, wenn es ſich 
herausſtellt, daß ihr ihm helfen wolltet, andre zu ver⸗ 
derben!“ 

Die Diebe waren klug genug, einzuſehen, daß er 
recht hatte, und welche Ausſage er von ihnen hören woll⸗ 
te. Darum antwortete der ältere, der auch bisher ge⸗ 
ſprochen hatte: „Er verlangte ſie, um ſie in ſeinem 
Hauſe anzubeten. Wir haben ſie geholt; aber wir haben 
ſie unterwegs tauſendmal um Verzeihung gebeten und 
ihnen verſprochen, fie ſpäter ganz gewiß wieder zurück⸗ 
zubringen.“ — „Hättet ihr das getan?“ — „Ja. Wir 
wollten ſie ſchon morgen wieder holen.“ — „So iſt es 
euer Glück, daß ihr ſie mit Ehrfurcht behandelt habt, 
denn das wird eure Strafe mildern. Ihr ſeid alſo her⸗ 
eingeſtiegen, um ſie in ſeine Wohnung zu tragen?“ — 
„Genau ſo iſt es, Urahne der Ehrwürdigen.“ — „Wie 
aber iſt es gekommen, daß ſie nun vergraben waren und 
wir euch dabei in Feſſeln gefunden haben?“ — „Das 
wiſſen wir nicht, denn kaum waren wir über die Mauer, 
ſo faßten uns die Götter bei den Kehlen und raubten 
uns das Bewußtſein. Als wir dann erwachten, waren 
wir hier angebunden.“ — „So haben die beleidigten 
Gottheiten euch ſelbſt überwältigt, um euch der Strafe zu 
überliefern. Ihr mögt daraus erkennen, wie ſtark und 
mächtig ſie ſind. Da ihr aber ein ſo offenes Geſtändnis 
ablegt, werde ich dafür ſorgen, daß euch eine möglichſt 
milde Strafe treffe.“ 

Wing⸗kan hatte ſich bemüht, dieſes kurze Verhör zu 
unterbrechen, um der Ausſage ſeiner Mitſchuldigen zu 

Map, Der blaurote Methuſalem. 20 


— 3063 — 


widerſprechen. Er war aber von dem Mandarinen zum 
Schweigen verwieſen worden und ſah ſchließlich auch ein, 
daß es die ihn erwartende Strafe verſchärfen werde, 
wenn er ſage, daß er das Verbrechen begangen habe, um 
einen andern zu verderben. Der Tong⸗tſchi wendete ſich 
jetzt an ihn: „Auch du kannſt deine Lage nur durch ein 
offenes Geſtändnis verbeſſern. Gibſt du zu, daß du dieſe 
Leute veranlaßt haſt, die Götter zu ſtellen?“ 

„Ja, hoher Herr, ich geſtehe es ein!“ antwortete 
der Gefragte, indem er ſich vor dem Mandarin nieder⸗ 
warf. 

„So will ich vergeſſen, was du vorhin in meinem 
Hauſe zu mir geſagt haſt. Weshalb wollteſt du die 
Segenſpendenden bei dir haben?“ — „Sie ſollten mir 
Glück bringen, da jetzt niemand mehr bei mir kauft. 
Dann aber wollte ich ſie wieder in den Tempel tragen 
laſſen.“ — „Du haſt ſie hier in deinem Garten empfan⸗ 
gen?“ — „Ich nicht. Ich war nicht dabei. Ich glaubte 
nicht, daß ſie ſo früh kommen würden. Als ich dann aus⸗ 
rufen hörte, daß Götter geſtohlen worden ſeien, dachte 
ich nicht, daß es die von mir begehrten ſeien; ich glaubte 
vielmehr, ein andrer ſei auf denſelben Gedanken wie ich 
gekommen. Dann aber kam Ihre Herrlichkeit und führte 
mich hierher, wo ich zu meinem Schreck dieſe beiden 
Männer fand. Wie die Gottheiten in die Erde gekom⸗ 
men ſind, kann ich nicht ſagen.“ — „Die Prieſter wer⸗ 
den es zu erklären wiſſen. Bleibe bei deiner jetzigen Auf⸗ 
richtigkeit; dann wirſt du vielleicht dem ſchrecklichen Tod 
entgehen, der dich gewiß erwartet, wenn es dir einfallen 
ſollte, im Sing⸗pu eine andre Ausſage zu tun!“ — „Ich 
habe die Wahrheit geſagt und werde bei dieſen meinen 
Worten bleiben.“ — „Das iſt ſehr wohl gedacht. 
Uebrigens iſt es von der größten Bedeutung, zu welcher 


— 307 — 


Lehre ihr euch bekennt. Seid ihr vielleicht Anhänger des 
Lao⸗tſe?ꝰ 

„Ja, ja, ja!“ riefen alle drei faſt einſtimmig. Sie 
ſagten da die Unwahrheit, aber ſie begriffen ſofort, daß 
er ihnen mit dieſer Frage einen Rettungsanker hinwarf. 

„Alſo nicht Buddha verehrt ihr? So ſeid ihr ja gar 
nicht imſtande, zu begreifen, welch ein großes Verbrechen 
ihr begangen habt. Vielleicht wird euch mit Rückſicht 
hierauf nur die Strafe der Verbannung treffen. Weiter 
habe ich euch jetzt nichts zu ſagen. Ihr werdet mit ſamt 
den Göttern jetzt nach dem Sing⸗pu transportiert. Ver⸗ 
haltet euch hochachtungsvoll gegen die Obrigkeit und 
bleibt bei der bisherigen Ausſage! Da ihr mir ein ſo 
offenes Geſtändnis abgelegt habt, werde ich euch der 
Gnade des Richters, dem ich alles zu melden habe, 
empfehlen. Und damit auf unſrer Gaſſe kein Aufſehen 
erregt werde, ſollt ihr mit den Poliziſten hier über die 
Mauer ſteigen und euch mit ihnen hinter den Gärten 
entfernen.“ 


Die Götter und die Spitzbuben mußten über die 
Mauer hinüber. Die erſteren wurden in die Sänfte ge⸗ 
ſetzt, worin ſie gebracht worden waren, und die letzteren 
von den Soldaten und Poliziſten in die Mitte genom⸗ 
men. Dann verſchwanden ſie im Dunkel der Nacht. 


Als die Schritte verklungen waren, fragte der Tong⸗ 
tſchi den nun von der Schuld befreiten Juwelier: „Deine 
Ehrlichkeit iſt beſtätigt worden. Biſt du nun zufrieden?“ 
— „Ja, mächtiger Beſchützer. Aber ich verlange, daß 
Wing⸗kan auf das ſtrengſte beſtraft werde!“ — „Er wird 
ſeiner Strafe nicht entgehen.“ — „Aber Ihre gebietende 
Stimme hat nur von Verbannung geſprochen!“ — „Ja, 
dann biſt du den Feind los. Oder iſt dir das noch nicht 


— 38 — 


genug?“ — „Ich glaubte, der Tod ſei auf dieſes Ver⸗ 
brechen geſetzt! ...“ | 

Da trat der Mandarin näher zu ihm heran und 
ſagte mit gedämpfter Stimme: „Wünſcheſt du ſeine Hin⸗ 
richtung, gut! Aber dann wird der Richter auch erfahren, 
daß die Götter erſt in deinem Garten geweſen ſind, und 
er wird fragen, wer ſie von da herübergeſchafft hat. Wird 
dir das willkommen ſein?“ 

„Nein, nein!“ antwortete Hu⸗tſin ſchnell. 

„So ſchweige und gönne dem Feinde nicht mehr, 
als er bekommt! Du haſt dich in einer ſehr großen Ge⸗ 
fahr befunden. Ich will nicht wiſſen, wie alles geſchehen 
iſt; aber dieſer fremde Kuan⸗fu hat dir das Leben ge⸗ 
rettet, dir und allen den Deinen. Ein Bewohner dieſes 
Landes hätte nicht gewagt zu tun, was er getan hat. 
Beuge dich vor ſeiner Güte und denke an ihn mit der 
Dankbarkeit, die er von dir erwarten kann!“ 

Er drehte ſich um und ſchritt durch den Garten dem 
Hauſe zu. Die andern folgten ihm. Dabei ergriff Hu⸗ 
tſin die Hand des Methuſalem und fragte ihn: „Wird 
mein geehrter und bejahrter Freund Wort halten und 
mich morgen beſuchen, wie er es mir verſprochen hat?“ 
— „Ja, ich komme,“ antwortete der Blaurote. — 
„Wann?“ — „Am Vormittag, noch ehe ich mir die 
Stadt anſehe.“ — „Ich weiß nicht, weshalb Sie nach 
Kuang⸗tſchéu⸗fu gekommen find; aber vielleicht iſt es 
mir dennoch möglich, Ihnen nützlicher zu ſein, als Sie 
es jetzt für möglich halten. Der mächtige Tong⸗tſchi hat 
recht. Sie haben mich und meine Familie vom Ver⸗ 
derben errettet. Ich werde Ihnen ein Geſchenk geben, 
deſſen Wert Ihnen vielleicht von großem Nutzen ſein 
wird.“ 

Draußen ſtieg der Mandarin wieder in die Sänfte, 


— 309 — 


und ſeine Gäſte taten desgleichen. Auf der Straße ſtan⸗ 
den die Leute noch in einzelnen Gruppen beiſammen 
und blickten neugierig auf die Palankins. Sie ſagten ſich, 
daß etwas Ungewöhnliches geſchehen ſein müſſe, um den 
Tong⸗tſchi zu jo ſpäter Stunde zum Beſuch feiner beiden 
Nachbarn zu bewegen, doch ließen ſie kein lautes Wort 
vernehmen. 

Daheim angekommen, forderte der Mandarin den 
Methuſalem auf, ihn zu begleiten. Er führte ihn in 
eine Stube, welche ſein Studier⸗ und Arbeitszimmer zu 
ſein ſchien. Dort forderte er ihn auf, ſich ihm gegenüber 
zu ſetzen. Seine Miene war eine ernſte, ja ſogar feier⸗ 
liche. „Bevor Sie ſich zum Tſau⸗fan!) begeben,“ ſagte er, 
„muß ich Ihnen eine Mitteilung machen. Sie haben 
mich genötigt, Ihnen dankbar zu ſein, aber Sie haben 
mich beinahe um Amt, Eigentum und Leben gebracht. 
Seien Sie nie wieder ſo unvorſichtig wie heute!“ 

„Verzeihen Sie!“ bat der Student. „Ich glaubte 
gerade, ſehr vorſichtig gehandelt zu haben.“ 

„Im Gegenteil! Sie hätten mir alles aufrichtig er⸗ 
zählen ſollen.“ 

„Das wollte ich auch.“ 

„Haben es aber nicht getan!“ 

„Weil Sie nicht daheim waren und ich doch han⸗ 
deln mußte. Hätte ich auf Ihre Rückkehr gewartet, ſo 
wäre inzwiſchen der Anſchlag Wing⸗kans gelungen.“ 

„Ich hätte dennoch Mittel gefunden, ihn zu über⸗ 
führen und Hu⸗tſin zu retten. Doch, Geſchehenes kann 
man nicht ändern. Ich hoffe, daß die drei Verbrecher bei 
ihrer Ausſage bleiben. In dieſem Fall kann Ihnen und 


1) Abendeſſen, wörtlich: Abendreis. Tſche⸗fan Morgenretis, Frühſtück. 


— 310 — 


mir nichts geſchehen. Fällt es ihnen aber ein, die Wahr⸗ 
heit zu erzählen, ſo werden Sie mit in dieſe Angelegen⸗ 
heit verwickelt, und auch mir droht große Gefahr, da Sie 
mein Gaſt ſind und ich für Sie verantwortlich bin, ſo⸗ 
gar mit meinem Leben. Sollte das letztere geſchehen, ſo 
iſt Ihre ſchleunige Flucht notwendig, und für dieſen 
Fall will ich Ihnen einen Kuan“!) geben, der von der 
höchſten Behörde unterzeichnet iſt, nach dem Geſetz nur 
hohen Mandarinen und ſehr vornehmen Fremden aus⸗ 
geſtellt wird und hoffentlich die Wirkung beſitzt, Sie aus 
jeder Gefahr zu retten, ſo wie Sie mich gerettet haben.“ 

Er öffnete einen mit mehreren Schlöſſern verwahr⸗ 
ten Kaſten und nahm ein großes, mit chineſiſchen Schrift⸗ 
zeichen bedrucktes Papier hervor, das mit mehreren Sie⸗ 
geln verſehen war. Auf die unbeſchriebenen Zeilen trug 
er die Namen des Methuſalem und deſſen Gefährten ein, 
die dieſer ihm nennen mußte. Dann las er ihm das 
Dokument vor. Der Inhalt war in deutſcher Ueber⸗ 
ſetzung folgender: 

„Im Namen und Auftrage 
Kuang⸗ſu, 
des allmächtigen Herrſchers im Reiche der Mitte, des 
Lichtes der Weisheit, des Brunnens der Gerechtigkeit, 
des Quells der Gnade und Barmherzigkeit wird hiermit 
allen Unſern Ländern, Völkern und Beamten zu wiſſen 
getan, daß 
Me⸗thu⸗ſa⸗le⸗me De⸗ge⸗ne⸗fe⸗le⸗de 

der große, berühmte und machtvolle Abgeſandte aus dem 
Reich der Tao⸗tſe⸗kue die Erlaubnis beſitzt, in allen 
Unſern Provinzen zu reiſen, wie und ſo lange es ihm 
beliebt. Seine erlauchten Begleiter ſind 


) Paß. 


— 311 — 


Tu⸗lu⸗ne⸗re⸗ſi⸗ti⸗ki, 

Go⸗do⸗fo⸗ri⸗di, 

A⸗xra⸗da⸗pe⸗le⸗ne⸗bo⸗ſcho, 

Sei⸗tei⸗ nei und 

Liang-ffi, 
lauter Herren und Männer, welche die höchſten litera⸗ 
riſchen Grade beſitzen und alle Prüfungen mit Ehren be⸗ 
ſtanden haben. 

Es iſt Unſer Wille, daß ſie in ihrer Heimat mit 
Stolz und Genugtuung von der Bildung und den Vor⸗ 
zügen Unſrer Nationen berichten können, und darum er⸗ 
geht an alle Behörden und Beamten der ſtrenge Befehl, 
ſie Unſern außerordentlichen Geſandten gleich zu achten, 
ihren Befehlen ohne Widerrede zu gehorchen und ihnen 
in allen ihren Angelegenheiten förderlich zu ſein. 

Beſonders wird denjenigen, die dem 

Me⸗thu⸗ſa⸗le⸗me 
die ſchuldige Achtung verweigern, die ſchnellſte Strafe 
angedroht, und er wird, um ſofortige Anzeige erſtatten 
zu können, hiermit mit dem Rang eines Schun-tichi- 
ſchu⸗tſe bekleidet, ohne indeſſen gezwungen zu ſein, die 
Kleidung ſeines Landes abzulegen und die Abzeichen die⸗ 
ſes Ranges zu tragen.“ | 

Unterzeichnet war der Paß von dem Nei⸗ko, dem 
großen Sekretariat in Peking. Unter einem Schun⸗tſchi⸗ 
ſchu⸗tſe verſteht man einen allerhöchſten Beamten, der 
als Vertrauensmann des Kaiſers die Erlaſſe und Ent⸗ 
ſcheidungen des Monarchen anzufertigen hat. 

Eine beſſere Legitimation konnte der Methuſalem 
ſich gar nicht wünſchen. Er fragte: „Wird man dieſen 
Kuan auch wirklich ſo achten, als ob er von einem hohen 
Mandarin vorgezeigt wird?“ 

„Ganz gewiß. Ein Schun⸗tſchi⸗ſchu⸗tſe ſteht über 


— 312 — 


dem höchſten Mandarin. Daß Sie ein Fremder ſind, 
ändert nichts an der Achtung, die dieſem Kuan ent⸗ 
gegengebracht werden muß. Man wird alle Ihre Befehle 
ſofort ausführen.“ 

„Und wenn ich aber etwas verlange, was gegen die 
Geſetze dieſes Landes iſt?“ 

„Selbſt dann wird man Ihnen gehorchen. Wenn 
Sie einmal in Gefahr ſind, können Sie nicht durch, ſon⸗ 
dern gegen das Geſetz gerettet werden. Darum muß ich 
Sie mit einer Macht ausrüſten, welche über den Regeln 
unſres Landes ſteht.“ 

„Aber die Verantwortung wird und muß dann ſpä⸗ 
ter Sie treffen, der Sie mich mit dieſem Kuan aus⸗ 
gerüſtet haben!“ 

Der Chineſe zog ein unbeſchreiblich verſchmitztes 
Geſicht. Er blickte eine Weile ſtill vor ſich nieder und ant⸗ 
wortete dann: „Kommt es in Ihrem Land nicht auch 
vor, daß ein Beamter in die Gefahr gerät, alles, ſein 
ganzes Eigentum und auch das Leben zu verlieren?“ 

„Sein Eigentum, wenn er es unrechterweiſe erwor⸗ 
ben hat, ſein Leben, wenn er eines Mordes überführt 
wurde und infolgedeſſen zum Tode verurteilt wird.“ 


„Nur dann? Glückliches Land und glückliche Man⸗ 
darinen, die dort wohnen! Hier trachtet jeder nach Reich⸗ 
tum und nimmt ihn von ſeinem Untergebenen. Habe ich 
mir ein Vermögen erworben, ſo bin ich keinen Tag 
ſicher, daß mein nächſter Vorgeſetzter mich eines ſchweren 
Verbrechens, mag ich es nun begangen haben oder nicht, 
überführt, mich enthaupten läßt und mein Vermögen 
konfisziert. Für dieſen Fall iſt es gut, einen ſolchen Kuan 
zu beſitzen. Nur mit ſeiner Hilfe kann man Rettung 
durch die ſchleunigſte Flucht finden.“ 


— 313 — 


„Und ſolche Kuans bekommen Sie vom Nei-to in 
Peking?“ 

„Ja, aber nicht offiziell. Sie ſind klug genug, mich 
zu verſtehen!“ 

Der Methuſalem verſtand ihn wohl. Das Blankett 
war entwendet, war geſtohlen. Jedenfalls befand der 
Mandarin ſich im Beſitze noch mehrerer ſolcher Päſſe. 
Hätte er nur dieſen einen beſeſſen, ſo wäre es ihm wohl 
nicht eingefallen, einen Fremden damit zu unterſtützen. 

„Sie ſehen alſo,“ fuhr der Chineſe fort, „daß mich 
keine Verantwortung treffen kann. Sie werden nicht 
verraten, daß ich Ihnen dieſen Kuan ausgeſtellt habe. 
Nur das Nei-to hat das Recht, eine ſolche Legitimation 
zu verfaſſen. Man hat ihr auf alle Fälle zu gehorchen. 
Zweifelt eine Behörde an deren Echtheit, ſo fragt ſie in 
Peking an, und ehe von dort die Antwort kommt, ſind 
Sie längſt von dannen.“ 

„Aber in meinem Vaterland iſt es nicht erlaubt, 
ſich falſcher Päſſe zu bedienen!“ 

„Hier auch nicht. Aber dieſer Paß iſt nicht falſch. 
Es ſtehen Ihre Namen darin. Sie haben ihn von mir 
erhalten. Ob Sie ſich ſeiner bedienen wollen oder nicht, 
das iſt nun Ihre Sache. Ich wiederhole, daß er Ihnen 
alle möglichen Vorteile bringen wird. Er öffnet Ihnen 
ſelbſt des Nachts alle Türen und Straßenpforten, nur 
nicht diejenigen eines Gefängniſſes.“ 

„Dazu bedarf es andrer Legitimationen?“ 

„Ja, dieſer hier.“ 

Er deutete nach der Wand, wo mehrere große, gelbe 
Münzen hingen, auf denen der Methuſalem die erhabene 
Figur eines Drachen und darunter einige kleine Schrift⸗ 
zeichen bemerkte. 

„Wer das vorzeigt,“ fuhr er fort, „hat zu jeder 


— 314 — 


Tageszeit und beim ſchlimmſten Verbrecher Zutritt. Mit 
Hilfe einer ſolchen Münze werde ich unſern heutigen drei 
Gefangenen zur Verbannung verhelfen.“ 

Der Methuſalem verſtand: der Beamte wollte des 
Nachts in das Gefängnis gehen und die drei Perſonen 
entfliehen laſſen. 

„Darf ich mich bei dieſer Gelegenheit erkundigen, 
was mit den Piraten geſchehen wird?“ fragte Degen⸗ 
feld noch. 

„Sie werden an uns ausgeliefert und dann hin⸗ 
gerichtet.“ 

Jetzt erhob der Mandarin ſich von ſeinem Stuhl 
und verabſchiedete ſeinen Gaſt: „Sie haben nun den 
Paß. Mag kommen, was da will, ſo kann ich Ihret⸗ 
wegen unbeſorgt ſein. Jetzt gehen Sie! Man wird mit 
dem Eſſen auf Sie warten. Ich ſelbſt kann Sie nicht be⸗ 
gleiten, da ich noch zu arbeiten habe.“ 

Als Methuſalem ſein Zimmer erreichte, ſtand dort 
ein Diener ſeiner wartend, um ihn in das Speiſezimmer 
zu führen, wo ſeine Gefährten bereits verſammelt 
waren. 

Nach beendigter Tafel erhielten die Gäſte Tabaks⸗ 
pfeifen. Sie blieben noch ein Stündchen beiſammen, und 
da berichtete Liang⸗ſſi, der etwas zu ſpät zum Eſſen ge⸗ 
kommen war, daß er im Garten des Tong⸗tſchi etwas 
Intereſſantes beobachtet habe. 

„Was war es?“ erkundigte ſich Methuſalem. — 
„Man konnte da ſehen, auf welche Art und Weiſe die 
Mandarinen reich werden. Sie wiſſen vielleicht, daß das 
Vermögen jedes Verurteilten dem Staat verfällt?“ — 
„Ja.“ — „Nun, der Tong⸗tſchi ſcheint den Juwelier 
Wing⸗kan bereits als verurteilt zu betrachten. Er hat 
auch deſſen Gehilfen und Diener arretieren laſſen. Nun 


— 315 — 


befindet ſich kein Menſch mehr im Nachbarhaus, und er 
räumt den Laden aus.“ — „Selbſt?“ — „Nein. Das 
würde ſich nicht mit ſeiner hohen Stellung vertragen. 
Seine Diener ſteigen draußen im Garten herüber und 
hinüber und ſchleppen alles Wertvolle herbei. Wenn 
dann morgen früh der Kriminal⸗Kuan kommt, um die 
Beſchlagnahme vorzunehmen, iſt nur noch das Minder⸗ 
wertige vorhanden.“ — „Aber Wing⸗kan muß doch wiſ⸗ 
ſen, was er beſeſſen hat!“ — „O, Herr, den wird nie⸗ 
mand fragen. Und was er ſagt, das gilt als Lüge. Viel⸗ 
leicht lebt er morgen gar nicht mehr, damit durch ſeine 
Ausſage nicht verraten werden kann, daß unſer Man⸗ 
darin ſchon heute zugegriffen hat.“ — „Hm! Der will 
ihn entfliehen laſſen!“ — „Sagte er das? Ich glaube es. 
Der Gefangene kann nur entfliehen, indem er alle ſeine 
Habe im Stich läßt. Und wenn er fort iſt, ſo iſt es un⸗ 
möglich, dem Tong⸗tſchi zu beweiſen, daß er heut abend 
den Laden des Gefangenen halb ausgeräumt hat. O, 
dieſe Mandarinen ſtehlen alle!“ 

„Schöne Jeſchichte!“ lachte Gottfried von Bouillon. 
„Dat könnte in Deutſchland nicht die Möglichkeit ſind. 
Wie iſt es denn in Holland, Mijnheer?“ 


„Daar muiſen de Mandarins ook niet — da mauſen 
die Mandarinen auch nicht,“ antwortete der Dicke. 


„Und jedenfalls werden dort auch keine Jötter je⸗ 
ſtohlen. Uebrigens möchte ich mir doch jern mal in ſo 
einen Jötzentempel umſehen. Iſt dat möglich oder nicht?“ 

„Warum nicht?“ antwortete der Blaurote. „Die 
Chineſen ſind nicht wie die Muhammedaner, die ihre 
Moſcheen von keinem Andersgläubigen betreten laſſen. 
Es kommt ſogar ſehr häufig vor, daß hier die Tempel 
als Herbergen benutzt werden. Vielleicht haben auch wir 


— 316 — 


noch das Vergnügen, einmal in einem ſolchen zu über⸗ 
nachten.“ 

„Und jrad den möchte ich mich betrachten, aus dem 
die Jötzen jeſtohlen worden ſind. Welchen Namen hatte 
er?“ | 

‚Ppelsthian-tichusfan, das heißt Haus der hundert 
Himmelsherren.“ 

„So ſind wohl hundert Jötter drin?“ 

„Mit ſolchen Zahlen darf man es hier nicht genau 
nehmen. Doch gibt es Tempel, in denen ſich mehrere 
Hundert Bilder oder Figuren befinden.“ 

„Pek — pek — pek — — wie war der Name?“ 
fragte Turnerſtick. 

„Pek⸗thian⸗tſchu⸗fan.“ 

„Armſeliges Chineſiſch! Es iſt da nicht eine einzige 
Endung dabei. Habe mich vorhin ſchrecklich geärgert. 
Stand mit im Garten und habe das ganze Verhör mit 
angehört, aber kein einziges Wort verſtehen können. 
Finde überhaupt, daß man hier in der Stadt ungeheuer 
undeutlich ſpricht. Die Leute machen es ſich viel zu 
ſchwer. Sollten von mir Unterricht nehmen. Wollte 
ihnen ſchon die richtigen Endungen beibringen!“ 

„Ich möchte Sie als Lehrer ſehen,“ lachte der 
Student. 

„Meinen Sie etwa, daß ich nichts fertig brächte?“ 

„O doch! In Beziehung auf die Endungen würden 
Sie ſogar Großartiges leiſten.“ 

„Das wollte ich meinen!“ 

„Aber die Stammworte, die Stammworte! So ein 
Wort hat oft eine gar vielfältige Bedeutung. So heißt 
zum Beiſpiel das Wort Tſchu ſoviel wie Herr, Pfeiler, 
Stock, Küche, Stütze, Schwein, alte Frau, zubereiten, 
verrichten, brechen, ſpalten, ausbeſſern, freigebig, wenig, 


— 317 — 


geneigt, naß machen, Gefangener, Sklave uſw., je nach⸗ 
dem es weicher oder härter, gedehnter oder raſcher, leiſer 
oder ſchärfer ausgeſprochen wird. Und jede dieſer verſchie⸗ 
denen Bedeutungen hat dann wieder ihre figürliche An⸗ 
wendung, ſo daß es die allerfeinſte Betonung erfordert, 
um wiſſen zu können, was gemeint iſt. So hat das Gruß⸗ 
wort ſching noch weit über fünfzig andre Bedeutungen, 
unter denen Dinge, Eigenſchaften und Tätigkeiten vor⸗ 
kommen, die einander ganz und gar entgegengeſetzt ſind.“ 

„Und das ſoll man an der Ausſprache hören?“ 

„Eigentlich ſollte man es. Da aber ſelbſt die Sprech⸗ 
werkzeuge eines Chineſen oft nicht dazu ausreichen, ſo 
fügt man im Zweifel ein erklärendes Wort dazu. Fu 
heißt Vater, hat aber noch mehrere andre Bedeutungen. 
Soll es nun als Vater gebraucht werden, ſo fügt man 
das Wort Tſchin, Verwandtſchaft, hinzu; dann heißt es 
Fu⸗tſchin; Ju bedeutet alſo in dieſem Fall: der Vater.“ 

„Bleiben Sie mir mit allen Ihren Fu⸗tſchins vom 
Leibe! Ich lobe mir meine Endungen. Wenn ich ſage 
meining geliebtang Freundeng‘, jo weiß jedes Kind, 
was ich meine, ohne daß ich meine Zunge übermäßig an⸗ 
zugreifen brauche. Im übrigen ſtimme ich unſerm 
Gottfried bei, daß wir morgen den Tempel beſuchen wol⸗ 
len. Auch ich bin begierig, ein ſolches Haus zu ſehen.“ 

„Wir werden uns überhaupt die Stadt beſehen und 
da an manchem Tempel vorüberkommen. Es wird wohl 
ein bewegter Tag werden, und ſo ſchlage ich vor, uns 
jetzt zur Ruhe zu begeben.“ — — 

Das Bett, das für den Methuſalem bereitſtand, war 
niedrig, fein lackiert und mit Blumen ſehr kunſtvoll be⸗ 
malt. Die Matratze war mit einem ſeidenen Tuch über⸗ 
deckt; als Kopfkiſſen diente eine geſtickte, mit wohl⸗ 
riechenden Kräutern gefüllte Rolle, und die Decke be⸗ 


— 318 — 


ſtand aus geſteppter Seide mit weicher Ziegenhaarein⸗ 
lage; von Seide waren auch die Vorhänge, die das Bett 
auf den drei freien Seiten einfaßten. In einem koſt⸗ 
baren Bronzeleuchter brannte eine Nachtkerze, vor der 
ein durchſcheinender Schirm ſtand, deſſen Malerei eine 
Landſchaft vorſtellte, über welche der Mond ſein magi⸗ 
ſches Licht ergoß. Der Mond aber beſtand in der Kerzen⸗ 
flamme hinter dem Gemälde. 

Aehnlich waren auch die Lager der andern einge⸗ 
richtet und geſchmückt. Ueber Gottfrieds Lager hing eine 
Laterne herab, die ihn heimatlich anmutete, denn ſie 
beſaß faſt genau die Geſtalt jenes Drachen, der daheim 
in der Wohnung des Methuſalem hing und dem er vor 
der Abreiſe die bekannte Standrede gehalten hatte. 

Als er ſich jetzt lang auf das Lager ſtreckte und 
ſeinen Blick zu dieſer Laterne erhob, nickte er ihr zu und 
ſagte: „Juten Abend, oller Drache! Tſching, tſching, 
tſching! Da hängſt du jrad ſo über mich, wie jenſeits des 
Ozeans dein Freund, Ebenbild und Jevatter. Mach mich 
nur keine Dummheiten, wenn ich ſchlafe, denn ich bin 
dat nicht jewohnt! Komme mich ja nicht im Traume vor 
und glotze mir auch nich ſo an! Tſching, tſching! Gute 
Nacht!“ | 


Zwölftes Kapitel. 
Der Tempelbeſuch und ſeine Solgen. 


Die Gäſte ſchliefen gut und lange. Als ſie erwach⸗ 
ten, bekamen ſie den Tee im Garten ſerviert und er⸗ 
fuhren, daß der Mandarin bereits in Amtsgeſchäften 
fort ſei. Er hatte dem Hausmeiſter Auftrag gegeben, 
ſeine Stelle bei ihnen zu vertreten. Da ſie hörten, daß er 
am Vormittag nicht heimkehren werde, beſchloſſen ſie, ſich 
inzwiſchen die Stadt anzuſehen, und baten den Haus⸗ 
meiſter, die Sänften bereit zu halten. 

Bevor ſie aufbrachen, machte der Methuſalem dem 
Juwelier den verſprochenen Beſuch. Gottfried begleitete 
ihn, in der gewöhnlichen Weiſe hinter ihm herſchreitend, 
während der Hund voranging. 

Hustfin empfing fie mit großer Herzlichkeit und lud 
ſie ein, in ſein Familienzimmer zu treten. Es war dies 
ein großer Raum, der durch verſchiebbare Kuliſſen⸗ 
wände beliebig abgeteilt werden konnte. Hinter einer 
dieſer Wände trat die Frau hervor, welche ſie ſchon 
geſtern abend bei der Laternenbeleuchtung geſehen hat⸗ 
ten. Sie beſaß mongoliſche, aber ſehr ſanfte und an⸗ 
ſprechende Geſichtszüge. Sie reichte den beiden ihre 
Hände und bat ſie, eine Taſſe Tee mit ihnen zu trinken, 
was auch gern geſchah. 


— 320 — 


Der Tiſch, an dem man Platz nahm, war weit 
niedriger als bei uns, und die Stühle hatten dem ange⸗ 
meſſen auch eine geringere Höhe. Es gehörte Uebung 
und Gewohnheit dazu, ſich da bequem zu fühlen. 

Natürlich war das Ereignis des geſtrigen Abends 
der Hauptgegenſtand des Geſprächs. Degenfeld ſchärfte 
dem Chineſen ein, ja nicht verlauten zu laſſen, wie die 
Sache ſich in Wahrheit zugetragen habe. 

Während ſie ſich unterhielten, hörten ſie unter⸗ 
drückte Kinderſtimmen hinter einer der Wände. Auf 
das Befragen Degenfelds ſagte Hu⸗tſin, daß dort ſeine 
Kinder ſäßen und ſich mit Leſen beſchäftigten. 

Kinder und leſen, in China! Das war dem Methu⸗ 
ſalem höchſt ſehenswert. Er bat, die Kleinen ſehen zu 
dürfen, worauf der Juwelier die Wand zur Seite ſchob. 
Da ſaßen zwei Knaben und ein Mädchen, der älteſte 
wohl nicht über elf Jahre, an einem kleinen Tiſch und 
hatten eine Schrift vor ſich liegen. Sie ſtanden ſofort 
auf, kamen herbei und verbeugten ſich ſo tief, daß ihnen 
die kleinen dünnen Zöpfchen nach vorn fielen. Die 
ernſten, feierlichen Geſichter, die ſie dabei machten, gaben 
ihnen ein außerordentlich drolliges Ausſehen. f 

Methuſalem bat ſich das Buch aus und warf, als er 
es erhalten hatte, einen Blick auf den Titel und einen 
zweiten längeren auf den Inhalt. „Hältſt du das für 
möglich, Gottfried,“ rief er aus; „eine Jugendſchrift!“ 

„Wat? Eine Jugendſchrift? Iſt es wahr? In 
China eine Jugendſchrift?“ 

„Ja, mit Bildern und in Reimen geſchrieben.“ 

„Dat iſt mich neu! Dat habe ich dieſen Chineſigen 
nicht zujetraut!“ 

„O, da haſt du dich in einem großen Irrtum be⸗ 


— 321 — 


funden. In China kann ein größerer Prozentſatz der 
Bevölkerung leſen als zum Beiſpiel in Frankreich.“ 

„Aberſt unſre deutſchen Jungens find den hieſigen 
doch jewiß noch über?“ 

„Natürlich!“ 

„Schade, daß ich nichts leſen kann! Sprechen tue ich 
zwar manches Wort, verſtehen auch, aberſt mit das 
Leſen, da hapert es jewaltig. Wat ſteht denn eijentlich 
drin? Wat wird die Jugend hier jelehrt?“ 

„Nur Gutes. Hier ſteht zum Beiſpiel: 

Tsʒõ pu hio, 
Feĩ fo i; 
Deu pu hio 
Lao ho wei?“ 
„Und wat heißt dat?“ 
„Das heißt: 
Kind nicht lernen, 
Nichts wozu taugen; 
Knabe nichts lernen, 
Greis was tun? 
oder weniger wörtlich: Wer als Kind nicht lernt, der 
wird ein Taugenichts; wer als Knabe nicht lernt, was 
ſoll der im Alter treiben? Das Buch hat den Titel 
„Santszö⸗king', das Dreiwörterbuch, weil jede Zeile nur 
aus drei Wörtern beſteht.“ 
„Bitte, noch einen ſolchen Reim!“ 
„Gern; hier iſt einer: 
Phi pu pian, 
Sio tſchu kian 
Phi wu ſchu, 
Zie tſch mian. 
Das heißt: Der auf Binſenmatten ſchrieb, der Bambus⸗ 
rinde als Papier nahm, dieſe Leute waren ohne Bücher, 
May, Der blaurote Methuſalem. 21 


— 322 — 


und dennoch lernten ſie eifrig. Es werden hier den klei⸗ 
nen Leſern Beiſpiele aus der Geſchichte zur Nachahmung 
vorgeführt. Ganz denſelben Zweck hat auch der nachfol⸗ 
gende Reim: 

Ju nang ing, 

Ju ing fine, 

Kia ſui phin 
| Hio po tſchue. 
Das iſt zu deutſch: Der beim Schein der Leuchtfliegen 
und der bei der Helle des Schnees ſtudierte, obwohl ſie 
von Hauſe aus arm waren, verſäumten ſie das Lernen 
nicht. Die beigegebenen Bilder illuſtrieren die angeführ⸗ 
ten Beiſpiele. Ich ſelbſt habe nicht gewußt, daß es hier 
ſo vortreffliche Schriften für die Jugend gibt.“ 

Die Leute freuten ſich ſehr, daß die beiden ſo leb⸗ 
haftes Vergnügen über die Beſchäftigung der Kinder 
empfanden. Aus Dankbarkeit für den geſtern geleiſteten 
großen Dienſt holte jetzt der Mann aus dem Laden einen 
mit allerlei Koſtbarkeiten angefüllten Kaſten und bat ſie, 
ſich einige Gegenſtände als Andenken auszuwählen. Der 
Methuſalem wollte ſich weigern, kränkte aber damit die 
guten Leute ſo ſehr, daß er ſich endlich bereit erklärte, 
eine Kleinigkeit anzunehmen. 

Er erhielt eine jener Elfenbeinſchnitzereien, die nur 
von der unendlichen Geduld eines Chineſen hergeſtellt 
werden können. Es war ein winzig kleines Häuschen, 
nicht einen Zoll lang und hoch und kaum halb ſo breit, 
und doch ſtellte dieſe kleine Schnitzerei ein Haus dar, das 
aus dem Erdgeſchoß und einem vielgeſchnörkelten Stock⸗ 
werk beſtand. Im Erdgeſchoß gab es vier Fenſter, durch 
die man in der erſten Stube einen Chineſen eſſen, in 
der zweiten eine Frau leſen, in der dritten einen Man⸗ 
darin ſchreiben und in der vierten einen Bauer rauchen 


— 323 — 


ſah. Das Stockwerk beſtand aus zwei Zimmern; im 
erſten ſaßen Mann und Frau bei der Arbeit, und im 
zweiten ſchliefen ihre Kinder in vier Betten. Und alle 
dieſe Perſonen und Gegenſtände waren trotz ihrer faſt 
mikroſkopiſchen Kleinheit jo fein, deutlich und kunſtvoll 
gearbeitet, daß der Verfertiger gewiß ein Meiſter ſeines 
Faches geweſen war und jahrelang gebraucht hatte, um 
dieſes allerliebſte Kunſtwerk zu vollenden. 

Gottfried empfing eine fein durchlöcherte Pfeifen⸗ 
ſpitze, aus der man mittels des Rauches allerlei ſonder⸗ 
bare Figuren blaſen konnte, ein Geſchenk, das ihm, wie 
er verſicherte, als heimlichem Mitraucher der Hukah von 
großem Wert war. 

Aber noch ein Geſchenk gab es, viel, viel koſtbarer 
als die beiden andern, obwohl man es ihm nicht an⸗ 
ſehen konnte. Der Juwelier brachte nämlich ein kleines 
Büchelchen, nur drei Zoll lang und breit. Der Einband 
war von gepreßtem Leder, und der Inhalt beſtand aus 
einem einzigen Blatt, das auf beiden Seiten mit fremd⸗ 
artigen Zeichen beſchrieben war. Der Methuſalem konn⸗ 
te dieſe nicht enträtſeln und fragte, was das Miniatur⸗ 
buch zu bedeuten habe. 

„Es iſt ein ſehr wertvoller Beſitz, nämlich ein T'eu⸗ 
kuan,“ antwortete Hu⸗tſin. 

„Ein T'eu⸗kuan, alſo ein Paß des Bettlerkönigs?“ 

„Ja, ein Paß meines Schwiegervaters. Meinen 
Sie nicht, daß er Ihnen von Nutzen ſein könne?“ 

„Wie ſollte er mir von Vorteil ſein? Ich bin nicht 
Untertan des T'eu.“ 

„Dieſer Paß iſt auch nicht für ſeine Leute, ſondern 
für Fremde. Sie haben doch bereits Ausweiſe?“ 

„Ja, und der Tong⸗tſchi hat mir auch einen ganz 
vortrefflichen Paß gegeben.“ 


— 324 — 


„Des können Sie ſich freuen, denn dieſer Mann hat 
die Fremden zu beaufſichtigen, und wen er beſchützt, dem 
kann nicht leicht ein Unfall widerfahren. Aber dieſe 
Päſſe ſind doch nichts gegen den Kuan meines Schwieger⸗ 
vaters.“ 

„Wieſo?“ 

„Weil — — nun, ich habe Ihnen bereits geſtern 
erklärt, was ein Bettlerkönig iſt und was er zu bedeuten 
hat. Er beſitzt wirklich mehr Macht als der höchſte Man⸗ 
darin. Der Kuan des T'eu iſt von einer Gewalt ausge⸗ 
ſtellt, die einen jeden unſichtbar umgibt und einen jeden 
faſſen kann dann und da, wo er es am allerwenigſten 
denkt. Der Befehl eines Mandarinen flößt Achtung, der⸗ 
jenige des Bettlerkönigs aber Schrecken ein. Sie werden 
nicht hier bleiben, ſondern noch weiter in das Reich 
gehen?“ 

„Das iſt allerdings meine Abſicht.“ 

„Nun, da werden Sie Leute finden, die des Gebots 
der Behörde lachen, einen Befehl des T'eu aber ſo achten, 
als ob er ihnen von dem Sohn des Himmels ſelbſt er⸗ 
teilt worden ſei.“ 

„Iſt dieſer Kuan das Schriftſtück, von welchem Sie 
geſtern ſprachen, das man gegen Bezahlung von dem 
T'eu empfängt, um es als Abwehr gegen die Bettler an 
die Türe zu kleben?“ 

„O nein. Der Zettel, von dem Sie ſprechen, iſt nur 
eine Weiſung an die Bettler, an der betreffenden Türe 
vorüberzugehen. Dieſer Kuan aber iſt ein Schutz⸗ und 
Geleitbrief für ſeinen Beſitzer. Er wird höchſt ſelten aus⸗ 
geſtellt und zwar nur an Perſonen, denen der T'eu im 
höchſten Grad verpflichtet iſt. Derjenige, der dieſen Paß 
nicht achtet, ſetzt ſich der größten Gefahr aus. Zeigen Sie 
dem T'eu an, daß ein Vizekönig Sie nicht beſchützt hat, 


— 325 — 


nachdem Sie ihm den Kuan vorgezeigt haben, und mein 
Schwiegervater wird dieſem hohen Beamten eine Schar 
ſeiner zudringlichſten Untertanen auf den Hals ſenden, 
die ihn ſo lange peinigen, bis er Abbitte getan hat. Ich 
habe dieſen Paß von dem T’eu für mich ſelbſt erhalten, 
aber ich bitte Sie, ihn von mir anzunehmen, und es 
ſollte mich herzlich freuen, einmal erfahren zu können, 
daß er Ihnen Nutzen gebracht habe.“ 

„Dürfen Sie ihn denn verſchenken?“ 

„Nur an eine Perſon, die mir einen ſehr großen 
Dienſt geleiſtet hat. Auch habe ich es ſofort durch einen 
Boten dem Teu zu melden, da er genau wiſſen muß, in 
welchen Händen ſich dieſe wichtigen und ſeltenen Kuans 
befinden. Er wird mir dann einen andern für mich ſen⸗ 
den. Hoffentlich ſchlagen Sie mir meine Bitte nicht ab. 
Ich fühle mich dadurch doch wenigſtens um einen kleinen 
Teil der Schuld erleichtert, die ich an Sie abzutragen 
habe.“ 

Der Methuſalem nahm das ſeltſame Geſchenk mit 
verbindlichem Dank an und dann ſchieden die beiden 
Deutſchen von den liebenswürdigen Leuten, die ſich noch 
bis zum letzten Tſching tſching in Höflichkeiten ergingen. 
Als ſie aus dem Laden traten, ſahen ſie eine Anzahl 
Poliziſten vor dem Haufe Wing⸗kans ſtehen, aus wel⸗ 
chem hoch bepackte Kulis kamen. Die Behörde war dabei, 
ſich den Beſitz des Gefangenen anzueignen, deſſen wert⸗ 
vollſten Teil der Tong⸗tſchi freilich ſchon geſtern abend 
heimlich auf die Seite gebracht hatte. 

Und eben als ſie in das Haus des letzteren traten, 
ertönten am Eingang der Straße die durchdringenden 
Klänge des Gong. Der Wächter machte abermals die 
Runde, heut aber um zu verkündigen, daß die geſtoh⸗ 
lenen Götter ſich ſelbſt befreit hätten und noch im Laufe 


— 326 — 


des Tages in ihren Tempel zurückkehren würden. Er 
fügte hinzu, daß die Miſſetäter ergriffen worden ſeien 
und ihrer gerechten Beſtrafung entgegengingen. 

Inzwiſchen hatte der Hausmeiſter den wegen der 
Sänften an ihn gerichteten Wunſch erfüllt. Die Reiſen⸗ 
den ſtiegen ein und brachen auf, zwei Läufer an der 
Spitze und zwei Diener hinterher. Die Waſſerpfeife, 
welche unbequem war, und den Neufundländer, von dem 
man nicht wußte, ob er überall mit hingenommen wer⸗ 
den durfte, hatte der Methuſalem zurückgelaſſen. Auch 
die Oboe war zurückgeblieben, was dem Gottfried nicht 
wenig Ueberwindung koſtete. 

Der Wunſch, einen Tempel zu beſuchen, wurde bald 
erfüllt. Die Träger hielten vor einem Bauwerk, das ſie 
als das „Heiligtum der fünfhundert Geiſter“ bezeich⸗ 
neten. Die Reiſenden ſtiegen aus den Palankins, um es 
ſich zu beſehen. 

Sie traten in einen überdachten Torweg, an deſſen 
Seiten zwei ſteinerne Ungetüme ſtanden. Ein wohl⸗ 
genährter Bonze!) trat ihnen entgegen, um fie mit einem 
freundlichen Tſching tſching zu begrüßen, das ihm in 
herablaſſender Weiſe zurückgegeben wurde. Er bot ſich 
als Führer an und geleitete ſie in eine lange Doppel⸗ 
halle, an deren Wänden fünfhundert vergoldete Men⸗ 
ſchenbilder ſaßen, welche die berühmteſten Schüler und 
Jünger Buddhas vorſtellen ſollten. 

Für den erſten Augenblick machten dieſe vielen 
ſtarren Geſtalten einen faſt beklemmenden Eindruck. Bei 
näherer Betrachtung aber konnte man ſich mit dieſer 
ſtummen Geſellſchaft wohl befreunden, weil die Figuren 
keineswegs das Ausſehen grimmiger oder gar blut⸗ 
gieriger Götzen hatten. 


y Prieſter, Möng. 


— 327 — 


Da in China der Begriff der Schönheit mit dem⸗ 
jenigen der Wohlbeleibtheit unzertrennlich iſt und die 
„erhabenen Heiligen“ doch unbedingt ſchön ſein müſſen, 
ſo beſaßen alle dieſe Bilder einen Leibesumfang, welcher 
ſich mehr oder weniger dem des Mijnheer van Aardap⸗ 
pelenboſch näherte, ja denſelben zuweilen noch über⸗ 
traf. Die Geſichter hatten ohne alle Ausnahme höchſt 
gutmütige Züge; die meiſten lachten ſogar, viele davon 
in einer Weiſe, daß die dicken Mäuler weit aufgeriſſen 
und die ſchiefen Augen ganz verzerrt waren und man 
hätte erwarten können, die heitere Geſellſchaft im näch⸗ 
ſten Augenblick in einen allgemeinen Lachkrampf ver⸗ 
fallen zu ſehen. 

Nur eine einzige Figur machte ein Sehr ernſthaftes 
Geſicht; auch war ſie durch verſchiedene Tracht vor den 
andern ausgezeichnet. Auf die Frage des Methuſalem, 
wen dieſe Figur vorſtelle, erklärte der Bonze: „Das iſt 
der größte und berühmteſte, auch der mächtigſte und 
heiligſte Gott dieſes Tempels. Er wird Ma⸗ra⸗ca⸗pa⸗la 
genannt, aber außerdem noch unter vielen andern Ehren⸗ 
namen angebetet.“ 

Das war alſo das Bild des berühmten Venetiers 
und mittelalterlichen Reiſenden Marco Polo, durch den 
die übrige Welt ſo wichtige und ausführliche Kunde über 
China und Oſtaſien überhaupt bekam und deſſen Namen 
ſich, wenn auch in chineſiſcher Verzerrung, bis zum heu⸗ 
tigen Tag dort erhalten hat. Es iſt ihm die Ehre ge⸗ 
ſchehen, unter die Götter verſetzt zu werden und ſogar 
unter ihnen einen hohen Rang einzunehmen. 

Die kleine Geſellſchaft hatte ſich erſt ſehr ernſthaft 
in der Halle umgeſchaut. Bei näherer Betrachtung der 
lachenden Götter verloren die Geſichter mehr und mehr 
ihren Ernſt. Die Züge des Gottfried von Bouillon be⸗ 


— 328 — 


gannen ins Heitere hinüberzuſpielen; der Mijnheer biß 
ſich in die Lippen; Turnerſtick kratzte ſich bedenklich neben 
ſeinem falſchen Zopf; er vermochte es faſt nicht mehr, 
ſeine Heiterkeit zurückzuhalten, und wußte doch nicht, ob 
hier an dieſer heiligen Stätte das Lachen erlaubt ſei. Der 
Bonze ſah das und wurde angeſteckt. Er kniff die Aeug⸗ 
lein halb zu und zog den Mund breiter, indem er auf 
einen Gott deutete, welcher der luſtigſte von allen zu 
ſein ſchien, denn er lachte, wenn auch unhörbar, ſo, daß 
man glauben konnte, die Tränen aus ſeinen Augen rin⸗ 
nen zu ſehen. Das brachte die befürchtete Wirkung her⸗ 
vor: Gottfried platzte los und rief aus vollem Halſe 
lachend: „Nichts für unjut, meine Herren Jötter, aberſt 
ich fühle mir in Ihre jeehrte Jeſellſchaft ſo kannibaliſch 
wohl, daß ich unmöglich weinen kann. Sie ſind die präch⸗ 
tigſten Jeburtstagsonkels, die mich jemals vorjekommen 
find. Tſching, tſching, tſching!“ 

Der Mijnheer ſtimmte in das Gelächter ein; Tur⸗ 
nerſtick folgte nach; Methuſalem und Richard blieben 
nicht zurück; Liang⸗ſſi lachte herzlich, und als die heiteren 
Beſucher nach dem Bonzen blickten um zu ſehen, wie er 
ſich zu ihrer ſo wenig ehrerbietigen Luſtigkeit verhalte, 
ſahen und hörten ſie, daß er ſich aus vollem Herzen ganz 
derſelben Sünde befleißigte, — er lachte nicht weniger 
als ſie. | 

Rings um die Doppelhalle zogen ſich die Wohnun⸗ 
gen der Bonzen. Der Führer geleitete die Fremden in 
einige derſelben, um ihnen zu zeigen, wie die Hüter der 
fünfhundert Geiſter ſich eingerichtet hatten. Ueberall 
wurden ihnen Räucherſtäbchen und beſchriebene bunte 
Zettel, auf denen Gebete ſtanden, angeboten, denn die 
Bonzen handeln mit derlei Gegenſtänden. Der Methu⸗ 
ſalem verteilte eine Handvoll Li unter die Leutchen, gab 


— 329 — 


dem Führer ein Com⸗tſcha!) und wurde infolgedeſſen von 
der ganzen Schar unter einem vielſtimmigen „Tſching 
tſching tſching“ bis vor den Tempel geleitet, wo die noch 
immer ſehr heiteren Beſucher in ihre Sänften ſtiegen. 

Von da aus ging es durch mehrere Gaſſen, in einen 
finſtern, tunnelartigen Bau, dann eine Stufenreihe hin⸗ 
an, und nun befanden ſich die Reiſenden auf der Mauer, 
welche die Stadt umzieht. An alten, verroſteten Kanonen 
vorüber ging es nach der roten Pagode, einem wegen 
ſeiner Ausſicht vielbeſuchten Rieſenbau. Sie iſt vier⸗ 
ſeitig und hat fünf Stockwerke mit weit vorſpringenden, 
verſchnörkelten Simſen, aber keine ſchlanke, wohlgefäl⸗ 
lige, ſondern eine gedrungene, ſchwerfällige Geſtalt. Die 
Geſellſchaft ſtieg auf hölzernen Treppen zum obern 
Stockwerk empor und genoß dort einen Ausblick, der weit 
über das Weichbild der Stadt hinausreichte. 

Im Süden dehnte ſich das gewaltige Häuſermeer 
der Stadt aus. Auf den Dächern der Gebäude ſah man 
gefüllte Waſſerkrüge ſtehen, ein von der Behörde ge⸗ 
botenes Mittel gegen Feuersgefahr. Darüber ragten 
Pagoden und die Dächer zahlreicher Tempel, auch hohe 
Holzgerüſte, die als Warten und Ausluge dienen. Im 
Oſten ſtiegen die Berge des Tian⸗wang⸗ling empor und 
im Südweſten die Höhen des Sai⸗chiu. Im Norden lag 
eine weite, wohlbewäſſerte und dörferreiche Ebene, welche 
nahe der Stadt in jene Sandhügel überging, in denen 
Kanton ſchon ſeit Jahrtauſenden ſeine Toten begräbt. 

Von dieſer Pagode aus wurden die Reiſenden nach 
dem Sing⸗gu, dem Kriminalgebäude, getragen. Sie 
ſtiegen vor einer offenen Pforte aus, wo ſpießtragende 
Soldaten Wache hielten, ſchritten durch einen engen Hof 
und gelangten dann in eine weite Halle, deren Dach von 


Teegeld, Trinkgeld. 


— 330 — 


Säulen getragen wurde. Es waren viele Menſchen da, 
welche die fremden Ankömmlinge mit erſtaunten Blicken 
betrachteten. Dieſe aber kehrten ſich nicht an die Auf⸗ 
merkſamkeit, die ſie erregten, und drängten ſich ſo weit 
vor, als es möglich war. 

Da ſaß an einem Tiſch ein alter Mandarin, der 
eine rieſige Brille auf dem Näschen trug; ſein Zopf hing 
hinter dem Stuhl bis zur Erde herab. Von Akten und 
Schreibbedarf war nichts zu ſehen. Der Beamte ſchien 
von ſolchen Ueberflüſſigkeiten nicht viel zu halten, ſon⸗ 
dern die anhängigen Fälle gleich aus dem Stegreif zu 
behandeln. 

Sechs Perſonen ſtanden vor ſeinem Tiſch, zwei als 
Kläger und vier als Beklagte. Das außerordentlich kurze 
Verhör ergab, daß die erſteren Inhaber eines Schuh⸗ 
warengeſchäfts waren und die letzteren als ſäumige Kun⸗ 
den geladen hatten. Die Schuldner gaben zu, geborgt zu 
haben, behaupteten aber, arm zu ſein und nicht bezahlen 
zu können. Nach kurzem Nachdenken erklärte der Man⸗ 
darin alle für ſchuldig, ſogar die Kläger, da dieſe wegen 
leichtſinnigen Kreditgebens und zweckloſer Beläſtigung 
der hohen Behörde zu beſtrafen ſeien. Er warf einigen 
hinter ihm ſtehenden Gerichtsdienern, die mit Bambus⸗ 
ſtöcken verſehen waren, einen halblauten Befehl zu, 
worauf ſie ſich der ſechs Perſonen bemächtigten, um 
ihnen gleich am Platze die für ſie beſtimmte Züchtigung 
zu erteilen. 

Die Helden des Prozeſſes mußten fich nebeneinan⸗ 
der, mit dem Rücken nach oben, lang auf die Erde legen. 
Zur Verabreichung der Strafe waren drei Poliziſten 
nötig. Der erſte hielt den Kopf des Delinquenten nieder, 
der zweite kniete ihm auf die Beine, und der dritte führte 
mit dem Bambus jene gefühlvolle Handlung aus, die 


BE er 

auch manchem nichtchineſiſchen und ſonſt braven Mann 
aus ſeinen Jugendjahren her noch in gutem Gedächtnis 
ſteht. Jeder erhielt fünfzehn Hiebe und zwar aus voller 
Kraft. Keiner ſchrie; vielleicht waren dergleichen Vor⸗ 
kommniſſe bei ihnen zu herkömmlichen geworden. Dann 
ſtanden ſie auf, verbeugten ſich vor dem Mandarin und 
trollten von dannen. Als die beiden Kläger an den Deut⸗ 
ſchen vorüberkamen, ſagte eben der eine zum andern: 
„Put⸗ko tſchu⸗ſan tai, put yit⸗tſchi — nur die erſten drei 
tun wehe, die andern nicht.“ 

Jedenfalls beſaß der Mann in dieſem Fache eine Er⸗ 
fahrung, der mancher europäiſche Kenner desſelben Ge⸗ 
biets vielleicht widerſprechen würde. 

Sie waren noch nicht verſchwunden, ſo begann be⸗ 
reits die Verhandlung einer neuen Sache. Es traten 
zwei Männer auf, deren einer eine dunkel gefärbte Beule 
ſeines Geſichts unter der Behauptung vorzeigte, daß ſie 
ihm von dem andern geſchlagen worden ſei; der Ange⸗ 
klagte ſtellte das ganz entſchieden in Abrede. Es zeigte 
ſich ſofort, daß es für beide beſſer geweſen wäre, wenn 
ſie ſich den vorher verhandelten Fall zur Warnung hät⸗ 
ten dienen laſſen. Sie wurden von ganz demſelben 
Schickſal, natürlich in Geſtalt der Poliziſten, ergriffen und 
erhielten vierzig Hiebe zu ganz gleichen Hälften, worauf 
ſie ihre Verbeugungen machten und mit ſehr befriedigten 
Mienen, aber die Hände zärtlich auf die in Mitleiden⸗ 
ſchaft gezogene Gegend gelegt, hinter dem Kreis der Zu⸗ 
ſchauer verſchwanden. 

„Wollen jehen!“ meinte Gottfried. „Mich wird angſt 
und bange, denn dieſer Mandarin beſtreicht alles aus 
einem Topf. Dat is mich zu jefährlich. Ich will mir nicht 
der Jefahr ausſetzen, auch mir als Partei betrachten und 
behandeln zu laſſen. Tſching tſching!“ 


— 332 — 


Sie entfernten ſich, um ſich nach dem Hing⸗miao, 
dem Tempel des „Schreckens und der Beſtrafungen“, 
tragen zu laſſen. Dieſer iſt der beſuchteſte Tempel der 
Stadt und ſein Idol der Schutzgeiſt von Kanton. Man 
gelangt durch ein verſchnörkeltes Tor in einen Hof, wo 
Hunderte von Bettlern ſtehen, um die Beſucher mit wil⸗ 
dem Heulen anzufallen. Die ganze Schar ſtürzte ſich 
förmlich auf die Sänften, ſo daß die Inſaſſen kaum aus⸗ 
zuſteigen vermochten. 

Da kam dem Methuſalem der Gedanke, die Wir⸗ 
kung ſeines T'eu⸗kuan zu erproben. Er zog das winzige 
Büchelchen aus der Taſche, öffnete es und hielt es, ohne 
ein Wort zu ſagen, den ihm am nächſten ſtehenden zer⸗ 
lumpten Geſtalten vor die ſchmutzigen Geſichter. Der 
Erfolg war ein augenblicklicher. „T'eu⸗kuan⸗kiün — der 
Beſitzer eines T'eu⸗kuan!“ rief ein ſtarker Kerl, dem ein 
Arm fehlte. 

„T'eu⸗kuan⸗kiün!“ ſchrieen andre ihm nach. Der 
Ruf pflanzte ſich fort, und die Leute zogen ſich ehr⸗ 
erbietig bis an die Mauern zurück. Auf das wüſte Ge⸗ 
ſchrei vorher war eine tiefe Stille eingetreten. 

Degenfeld ſah, welche erſtaunliche Wirkung der Paß 
ausübte; aber er hatte nicht die Abſicht gehabt, die Bit⸗ 
tenden von ſich zu weiſen. Er winkte einen Mann her⸗ 
bei und fragte ihn, ob es ein „Haupt“ unter ihnen gebe, 
dem die andern zu gehorchen hätten. Die Frage wurde 
bejaht, und eben jener Einarmige herbeigerufen. Der 
Methuſalem gab dem einen Silberdollar, eine Münze, 
die in Kanton gerne gewechſelt wird, und bat ihn, dieſe 
Gabe unter die Leute zu verteilen. Der Mann bedankte 
ſich mit einer Ehrfurcht, als ob er einen König vor ſich 
habe, und entfernte ſich, indem er als Zeichen ſeiner 
Hochachtung rückwärts ging. 


— 333 — 


Außer dieſen Bettlern gab es noch andre Leute in 
dem Hofe, Quackſalber, Taſchenſpieler, Zahnkünſtler, 
Zauberer, bei denen man einen Blick in die Zukunft tun 
konnte, Kuchenbäcker, Garköche und andre Händler. Der 
Tempel iſt ſehr ſtark beſucht und alſo ein Ort, wo dieſe 
Leute auf guten Abſatz rechnen können. 

Seinen Namen hat das Heiligtum von den hier 
vorhandenen bildlichen Darſtellungen der Schrecken, die 
den Sünder nach dem Tod erwarten. Man ſah da alle 
Strafen, welche ſich die Phantaſie des Menſchen zu den⸗ 
ken vermag. 

Da wurde ein Sünder, der als Klöppel in einer 
Glocke hing, zu Tode geläutet; der Leib eines andern 
wurde wie ein Korkzieher aufgeſchraubt; ein dritter lag 
zwiſchen zwei Brettern, von denen er zu Teig gepreßt 
wurde. Man ſah Seelen, welche in Oel geſotten, durch 
Meſſer zerſtückelt, durch angeſpannte Ochſen zerriſſen, in 
Mörtel erſtickt, auf Pfählen geſpießt, auf Roſten ge⸗ 
braten, verkehrt aufgehängt und von Rädern zermalmt 
wurden. Der Anblick war ſo grauenhaft, daß der Methu⸗ 
ſalem dem begleitenden Prieſter ſehr bald das Com⸗tſcha 
reichte und die Gefährten aufforderte, mit ihm dieſen 
Ort des Schreckens zu verlaſſen. 

Begleitet von dem dankbaren Tſching tſching der 
Bettler durchſchritten ſie den Hof, um ſich nun nach dem 
Haus der hundert Himmelsherren', bringen zu laſſen, 
wo geſtern abend der Diebſtahl ausgeführt worden war. 

Es ſollte dies die letzte Beſichtigung ſein, da der 
Vormittag ſchon faſt vorüber war; man beabſichtigte, 
hierauf das Mittagsmahl in einem Speiſehaus einzu⸗ 
nehmen. | 

Der Vorhof, durch den fie mußten, war leer von 
Menſchen. Ein einziger Bonze ſtand da. Er begrüßte ſie 


— 334 — 


und fragte, ob ſie auch gekommen ſeien, die Stätte zu 
ſehen, wo geſtern eine ſo grauſige Tat begangen worden 
ſei. „Der Tempel iſt heut nicht leer geworden,“ fuhr er 
fort. „Nun aber ſind alle Menſchen gegangen, um die 
Götter zurück zu begleiten, welche unſre Prieſter feierlich 
einholen. Das wird ein großer Triumphzug werden. 
Nur der große Tong⸗iſchi ift da, dem wir das Ergreifen 
der Diebe verdanken. Er will ſehen, welche Vorbereitung 
wir zum Empfang des Zuges getroffen haben.“ 

Der Tempel beſteht aus zwei Teilen, der größere 
war nach rückwärts gelegen und enthielt die Mehrzahl 
der Götterbilder. Die Deutſchen traten in den kleineren, 
nach vorn gelegenen ein. Da ſtanden achtzehn Figuren; 
zwei Poſtamente, auf denen die Geraubten gethront hat⸗ 
ten, waren leer. In deren Nähe ſahen fie den Tong⸗iſchi 
ſtehen, der raſch und erfreut auf ſie zukam. „Sie ſind dal“ 
ſagte er, ſie begrüßend. „Haben Sie einen Gang durch 
die Stadt gemacht?“ 

„Durch einen Teil derſelben,“ antwortete der 
Methuſalem. „Dieſer Tempel ſoll vor Tiſch der letzte Ort 
fein, den wir beſuchen.“ 

„Das iſt recht. Aber leider kann ich Sie nicht be⸗ 
gleiten, da ich noch in der Götterangelegenheit beſchäftigt 
bin. Man wird ſie baldigſt bringen und Sie können 
Zeuge der Feier ſein. Kommen Sie weiter! Ich will 
Ihnen inzwiſchen noch den Haupttempel zeigen.“ 

Bei den beiden hatten nur der Wichſier, Richard 
und Liang⸗ſſi geſtanden. Sie folgten ihnen in den Haupt⸗ 
teil des Tempels, und der Bonze ging langſam nach. 

Turnerſtick und der Mijnheer waren gewöhnt, die 
letzten im Zug zu ſein. Sie hatten ſich, als ſie über den 
Hof ſchritten, nicht allzu ſehr beeilt. Sie ſchauten ſich da 
ſehr gemächlich um und traten infolgedeſſen in den vor⸗ 


— 335 — 


deren Tempel ein, als die andern ihn bereits verließen. 
Die Rede des Bonzen hatten ſie nicht verſtanden und 
wußten alſo nicht, daß der Zug der Prieſter mit den 
zurückkehrenden Göttern erwartet wurde. 

Nun blickten ſie ſich im Vortempel um. Als ſie die 
beiden leeren Plätze ſahen, ſagte Turnerſtick: „Mijnheer, 
da haben offenbar die beiden geſtohlenen Gottheiten ge⸗ 
ſeſſen. Was ſagen Sie dazu?“ 

„Wat ik zeg?“ antwortete der Dicke. „Ja, daar heb⸗ 
ben zij geſtann.“ 

Sie traten näher und betrachteten ſich die Plätze. 
Deren Fläche war ſo groß, daß ein Mann ganz behaglich 
da ſitzen konnte. Turnerſtick legte unternehmend den 
Kopf zur Seite und meinte: „Gar kein übler Sitz. Habe 
ſchon öfters ſchlechter geſeſſen. Bin aber auch kein Gott. 
Möchte wiſſen, wie es fo einem Götzenbild zu Mute iſt. 
Muß gar nicht ſo übel ſein, angebetet zu werden und 
Räucherſtäbchen unter die Naſe zu bekommen! Nicht?“ 

„Ja, het moet zeer heerlijk zijn — ja, es muß ſehr 
vortrefflich ſein.“ 

„Nun, man kann hier ja ſehen, wie es iſt. Die 
Gelegenheit iſt vortrefflich. Ich werde mich mal auf 
dieſem Poſtament niederlaſſen und mir einbilden, daß 
ich ein chineſiſcher Götze ſei. Bin neugierig, ob die andern 
Gottheiten etwas dazu ſagen.“ 

So ſchnell ihm dieſer Gedanke gekommen war, ſo 
ſchnell wurde er auch ausgeführt. Der Kapitän ſetzte ſich 
nieder, rückte ſich zurecht, nahm eine bequeme Haltung 
an, kreuzte die Beine übereinander, wie die andern Göt⸗ 
ter es taten, und fragte dann: „Nun, Mijnuheer, wie 
nehme ich mich aus?“ 

„Beer goed.“ 


— 336 — 


„Und nun den Fächer dazu! Jammerſchade, daß 
wir allein ſind! Ich wollte, es käme ein Chineſe. Möchte 
wiſſen, ob er mich für Buddha oder für Frick Turner⸗ 
ſtick hält. Und der Schreck, wenn ich ihn dann mit 
meinem prachtvollen Chineſiſch aureden würde! Dieſe 
Verbeugungen!“ 

„Ik word u eene maken — ich werde Ihnen eine 
machen!“ 

Turnerſtick hatte den Rieſenfächer ausgeſpannt und 
hielt ihn anmutig in der Rechten, während er durch die 
Linke ſeinen Zopf gleiten ließ. Auf ſeiner Vorlukennaſe 
ſaß der Klemmer. Der Dicke ſtellte ſich vor ihn hin, ver⸗ 
beugte ſich und ſagte: „Mijne komplimenten, Mijnheer 
Buddha! Hoe ſtaat het met uwe gezondheid?“ 

„Wie es mit meiner Geſundheit ſteht? Ganz vor⸗ 
trefflich, beſonders ſeitdem ich einer von den hundert 
Himmelsherren bin. Aber, Mijnheer, es ſitzt ſich hier 
als Gott wirklich ganz ausgezeichnet. Wollen Sie es 
nicht auch einmal verſuchen?“ 

Der Dicke ſtreichelte ſich bedenklich das Kinn und 
antwortete: „Wordt men want mogen — wird man denn 
dürfen?“ 

„Dürfen? Warum denn nicht? Was fragen Sie 
noch! Sie ſehen ja, daß ich darf, daß ich hier ſitze! Oder 
fürchten Sie ſich etwa?“ 

„Neen!“ 

„Nun, ſo folgen Sie meinem Beiſpiel! Ich möchte 
auch Sie einmal als Gott ſehen.“ 

„Als god? Mij? Goed, ik word het verzoeken — als 
Gott? Mich? Gut, ich werde es verſuchen.“ 

Die beiden hatten in ihrem Eifer gar nicht auf ein 
erſt ſehr entferntes Geräuſch geachtet, das aber ſchnell 
näher kam. Man konnte jetzt deutlich die Töne von 


— 337 — 


Gongs, Pfeifen, Klingeln, Glocken und andern chine⸗ 
ſiſchen Muſikinſtrumenten hören. 

Der Dicke ließ ſich ächzend auf das andre Poſtament 
nieder, ſchob ſich würdevoll in Stellung und fragte dann: 
„Ziet zij mij, Mijnheer Turnerſtick? Ben ik even zoo hoe 
een god — ſehen Sie mich, Herr Turnerſtick? Sehe ich 
eben aus wie ein Gott?“ 

„Ganz genau ſo. Nur würden Sie einen noch viel 
göttlicheren Eindruck machen, wenn Sie den Regen⸗ 
ſchirm aufſpannten.“ 

„Dat kan ik malen. Derhalve heb ik het regenſcherm 
en paraſol ja metgenommen.“ Er ſpannte das Familien⸗ 
dach auf und blickte ſtolz umher. Dabei gab er ſich die 
größte Mühe, die Stellung Turnerſticks nachzuahmen, 
brachte aber die kurzen, dicken Beinchen nur mit großer 
Auſtrengung übereinander. 

Nun war die Muſik und der Lärm ſo ſtark gewor⸗ 
den, daß die beiden darauf achten mußten. „Wat is dat 
vor een Fluitenſpel?“ fragte der Mijnheer. 

„Für ein Flötenſpiel? Hm! Es wird irgend ein 
Aufzug ſein, die Feuerwehr vielleicht oder die Bürger⸗ 
ſchützen, welche Vogelſchießen haben,“ antwortete Tur⸗ 
nerſtick ſehr unbeſorgt. 

„Vogelſchießen? In China?“ 

„Ja? Warum denn nicht? Sie ſcheinen vorüber zu 
ziehen. Schade darum! Wie hübſch wäre es, wenn einer 
hereinkäme und wir könnten ſehen, ob er uns für Götter 
hält! Sie bringen einen Tuſch. Jedenfalls müſſen ſie das 
vor jedem Tempel tun. Wir wollen annehmen, daß es 
uns zur Ehre geſchieht. Nicht?“ 

„Ja, wij willen ſo denken.“ 

„Horchen Sie! Jetzt ziehen ſie weiter.“ 

Draußen vor dem Tore war der erwartete Zug an⸗ 

May, Der blaurote Methuſalem 22 


— 338 — 


gelangt. Er beſtand aus Bonzen mit ihren Oberprieſtern, 
zahlreichen behördlichen Perſonen und einem nach Hun⸗ 
derten zählenden Gefolge von Neugierigen. Die mit 
Blumen geſchmückten Götter wurden auf mit Teppichen 
behangenen Bahren von Oberprieſtern getragen. Die 
Muſiker, die an der Spitze gingen, blieben draußen ſtehen, 
ſchmetterten eine tuſchartige Fanfare und begannen dann 
eine Art Marſch, um den Zug an ſich vorüber und in den 
Tempel gehen zu laſſen. 

Da ſich die Muſik alſo nicht näherte, ſo hatte der un⸗ 
glückſelige Kapitän geglaubt, daß die „Kommunalgarde“ 
weiter ziehe. 

Einer chineſiſchen Muſikantentruppe darf man keine 
europäiſche Kammermuſik zumuten. Da gibt es Gongs, 
Schellen, Glocken und Klingeln, auch Triangeln, Metall⸗ 
platten, Muſikurnen, Faßtrommeln, hölzerne Totenköpfe 
zur Tempelmuſik, Flöten, Daumenklappern, zweiſaitige 
Geigen, drei⸗ und vierſaitige Guitarren, kreiſchende 
Trompeten und ſonderbar geformte, mit kleinen Schel- 
len behangene Bambusgeſtelle, deren einheimiſcher Name 
in das Deutſche mit „Muſikgeklimper“ zu übertragen iſt. 
Jeder bearbeitet ſein Inſtrument aus Leibeskräften, ohne 
Noten und ohne Takt. Von einer Harmonie iſt keine 
Rede, und wer das größte Getöſe hervorbringt, gilt als 
der beſte Muſikant. 

Darum war es kein Wunder, daß bei dem Heiden⸗ 
ſpektakel, den die Muſiker verübten, die Schritte des 
nahenden Zuges nicht zu hören waren, und daß deſſen 
Spitze am Eingang des Tempels erſchien, während die 
beiden falſchen Götzen ſich noch vollſtändig ſicher fühlten 
und der Kapitän ſogar immer noch den Wunſch hegte, es 
möge jemand kommen, mit dem er ſich einen Spaß 
machen könne. 


— 339 — 


Indeſſen hatte der Tong⸗tſchi den andern die größere 
Abteilung des Tempels gezeigt und war dann mit ihnen 
durch ein Hintertor nach einem Hof gegangen, um wel⸗ 
chen die Wohnungen der Bonzen ſtanden. Unterwegs er⸗ 
kundigte ſich der Methuſalem flüſternd: „Man wird alſo 
jetzt die Götter bringen. Wie aber ſteht es mit den drei 
Miſſetätern?“ 

„Die ſollten eigentlich mitgenommen werden, um 
den Triumphzug zu verherrlichen. In dieſem Fall wären 
ſie wahrſcheinlich vom Publikum zerriſſen worden.“ 

„So haben Sie es verhütet?“ 

„Nein, denn ich hätte nicht die Macht dazu gehabt. 
Die Prieſter verlangten es, und der Sing⸗kuan hätte es 
ihnen nicht verweigern können. Aber die drei Diebe 
waren nicht mehr da.“ 

„Nicht mehr da? Alſo fort?“ 

„Fort!“ nickte der Mandarin, indem er ein ſehr 
pfiffiges Geſicht machte. | 

„Ich verſtehe,“ lächelte der Methuſalem. „Sie find 
in die Verbannung, die Sie ihnen geſtern verſprochen 
haben?“ 

„So iſt es; ſie ſind während der Nacht entflohen.“ 

„Jedenfalls mit fremder Hilfe?“ 

„Sehr wahrſcheinlich, da ſie feſt eingeſperrt waren. 
Dafür wird nun freilich das ‚Haupt‘ des Gefängniſſes 
beſtraft werden, aber an das Leben wird es ihm nicht 
gehen.“ | 

„Hm. Ich habe geſtern gewiſſe Münzen geſehen, 
denen ſich die Gefängniſſe öffnen. Aber kennt man denn 
da den Befreier nicht?“ 

„Nein, denn eine ſolche Münze öffnet einem jeden 
die Tür, auch einem Unbekannten. Nun iſt die Sache vor⸗ 
über, und wir wollen nicht mehr von ihr ſprechen; aber 


— 340 — 


ich bitte Sie, ſolange Sie noch mein Gaſt ſind, nichts 
mehr ohne mich zu tun, damit ich nicht wieder in eine 
ſolche Verlegenheit komme! Morgen wird der Ho⸗po⸗ſo 
Sie beſuchen, den Sie mit mir errettet haben. Er wußte 
noch nicht, daß Sie ſich hier befinden. Er hat heute den 
Fluß bis hinauf zur Inſel Lu⸗tſin zu inſpizieren. Wird 
er eher fertig, als er glaubt, ſo wird er ſeinen Beſuch noch 
heute machen. Wenn Sie Kuang⸗tſchéu⸗fu auf dem Waſ⸗ 
ſerweg verlaſſen wollen, ſo kann er Ihnen jedenfalls von 
Nutzen ſein. Doch, hören Sie die Muſik? Der Zug 
kommt!“ 

Sie winkten die andern herbei und kehrten in den 
Tempel zurück. Die Hauptabteilung war noch leer; aber 
aus dem kleinen Vortempel tönte ihnen ein vielſtim⸗ 
miges, verworrenes Geſchrei entgegen. „Mein Himmel!“ 
ſagte der Student. „Der Zug iſt da, und Turnerſtick und 
der Mijnheer ſind noch nicht bei uns. Sie ſind zurück⸗ 
geblieben. Wer weiß, was die für Dummheiten begangen 
haben!“ 

Er wollte vorwärts eilen, aber der Mandarin hielt 
ihn am Arm zurück und warnte: „Halt! Wenn ſie einen 
Fehler begangen haben, ſo iſt es beſſer, man erfährt 
nicht, daß wir zu ihnen gehören. Nicht durch die Tür! 
Sehen wir an der Seite hinein!“ 

Degenfeld begriff, daß der Chineſe recht hatte, und 
ließ ſich von ihm ſeitwärts führen. Rechts und links der 
Türe waren enge Bambusgitter angebracht, durch die 
man, ohne ſelbſt leicht bemerkt zu werden, aus der einen 
Abteilung in die andre blicken konnte. Dorthin gingen 
ſie und ſahen hinaus. Was ſie da bemerkten, war keines⸗ 
wegs geeignet, ſie zu beruhigen. Dem Methuſalem wollte 
ſich vielmehr das Haar auf dem Kopf jträuben.... 

Als die beiden falſchen Götzen den Zug der Prieſter 


— 341 — 


erblickten, war Turnerſtick in die haſtigen, aber leiſen 
Worte ausgebrochen: „Hallo! Da kommen welche!“ 

„Ja, zij komen,“ nickte der Dicke. 

„Still! Kein Wort! Halten Sie ſich ganz ſteif und 
ruhig wie eine Bildſäule! Wollen ſehen, ob ſie ſo geſcheit 
ſind, zu entdecken, daß wir keine Buddhas ſind.“ 

Er ſaß bewegungslos, hielt den Rieſenfächer vor ſich 
hin und blickte ſtarr in eine Richtung. Der Dicke tat 
ganz dasſelbe. Keiner von ihnen hatte einen richtigen 
Begriff von der Gefahr, in die ſie ſich begeben hatten. 

Voran kamen acht Poliziſten, hinter ihnen der 
Oberprieſter mit den beiden Tragbahren. Jetzt begriff 
Turnerſtick, daß er ſich hinſichtlich des „Jeuerwehrauf⸗ 
zugs“ oder „Vogelſchießens“ gewaltig geirrt habe. Er 
erriet, was hier vorgehen ſolle, und es wurde ihm außer⸗ 
ordentlich ſchwül unter der Mandarinenmütze. 

„Alle Teufel!“ flüſterte er ſeinem Mitgott zu. „Sie 
bringen die Götzen zurück und wollen ſie auf die Dinger 
ſtellen, auf denen wir ſitzen! Was iſt da zu tun?“ 

Man konnte die Bewegung ſeiner Lippen nicht 
ſehen, da er den Fächer vorhielt. 

Auch dem Dicken wurde himmelangſt. Er begriff, 
daß die Götter auch Augenblicke haben können, in denen 
ſie lieber gewöhnliche Menſchen und weit fort vom Tem⸗ 
pel ſein möchten. „Ja,“ piepſte er. „Wat zullen wij 
maken?“ 

„Es gibt nur eine einzige Rettung. Bleiben wir 
ſitzen, ohne uns zu rühren! Vielleicht ſind unſre Plätze 
doch nicht diejenigen, auf welche die beiden Götzenbilder 
gehören.“ 

Starr vor ſich hinblickend, ſteif wie von Holz, aber 
innerlich bebend, warteten ſie auf das, was nun geſchehen 
werde. 


— 342 — 


Die Poliziſten waren vorgeſchritten, ohne zu be⸗ 
merken, daß zwei Götter zu viel vorhanden ſeien. Sie 
wußten nicht, wohin die beiden Geraubten gehörten. Die 
Oberprieſter aber hatten ihre Blicke unwillkürlich dorthin 
gerichtet, wo die Feierlichkeit vor ſich gehen ſollte. Sie 
ſahen die Plätze beſetzt und blieben vor Erſtaunen halten. 
Und als ſie von den nachfolgenden Bonzen weiter vor⸗ 
gedrängt wurden, ſetzten ſie die Bahren nieder und deu⸗ 
teten auf die inzwiſchen angekommenen Götter. 

War das möglich! Hatten ſich Himmliſche herbeige⸗ 
laſſen, herniederzuſteigen, um das Kloſter für den Raub 
dadurch zu entſchädigen, daß ſie nun ſich an die ver⸗ 
waiſten Plätze ſetzten? Es überlief die frommen Buddhi⸗ 
ſten ein kalter Schauder. Sie getrauten ſich nicht vor⸗ 
wärts und wurden doch von den Nachdrängenden immer 
weiter vorgeſchoben, ſo daß ſie in die nächſte Nähe der 
beiden Wundergeſtalten kamen. 

Die im Innern des Vortempels Stehenden flüſter⸗ 
ten den draußen Befindlichen die Kunde des Wunders 
zu. Jeder wollte dieſes ſehen, und ſo begann ein Schie⸗ 
ben und Stoßen, dem die Bonzen dadurch ein Ende mach⸗ 
ten, daß ſie die Tür verſchloſſen, was allerdings nur 
unter Anwendung von Gewalt geſchehen konnte. 

Nun befanden ſich nur die Poliziſten, die Ober⸗ 
prieſter, die Bonzen und mehrere Mandarinen, die ſich 
unmittelbar hinter den Tragbahren im Zug befunden 
hatten, im Tempel. Draußen ſchwieg die Muſik; unter⸗ 
drücktes Gemurmel drang wie ein leiſes Brauſen herein; 
im Innern aber herrſchte noch feierliche Stille. 

Dann flüſterten die Prieſter einander leiſe Bemer⸗ 
kungen zu. Sie hielten Rat, was zu tun ſei. Dann trat 
der Ta⸗ſſer) des Tempels vor die beiden Götter, verbeugte 


1) Vorſteher. 


— 343 — 


fi tief vor ihnen und fragte: „Schui ni⸗ men, thian⸗tſe 
— wer ſeid ihr, Himmelsſöhne?“ 

Es erfolgte keine Antwort. 

„Hi⸗wel iü⸗tſi — warum ſeid ihr hier?“ fuhr er fort. 

Die Göttlichen geruhten nicht, zu antworten. Keine 
Bewegung von ihnen zeigte an, daß ſie ſich eines ſehr 
irdiſchen Daſeins erfreuten. Nur von der Schläfe des 
Dicken rollte ein ſchwerer Angſtſchweißtropfen, der aber 
von niemand bemerkt wurde. | 

Da wendete ſich der Ta⸗ſſe zu den Prieſtern zurück 
und ſagte: „Schu⸗tſchi⸗ho, ſchok⸗tſchi⸗ ho — was ſoll man 
davon denken, wie ſoll man ſich dazu verhalten?“ 

Turnerſtick brachte es fertig, ganz ruhig zu bleiben. 
Der Mijnheer aber hatte keine ſolche Gewalt über ſich. 
Es war ihm glühend heiß im ganzen Körper. Auf ſeinem 
kahlen Kopf, den die ſchottiſche Mütze nicht ganz bedeckte, 
ſammelte ſich der Schweiß und begann in großen Tropfen 
herabzuperlen. Seine Hand zitterte, ſo daß der Schirm 
wankte; nicht allzuſehr zwar, aber einer hatte es doch be⸗ 
merkt. Dieſer eine war ein junger Mann von vielleicht 
einundzwanzig Jahren, der jüngſte unter den Anweſen⸗ 
den. Er hatte unter den Mandarinen geſtanden. Jetzt 
trat er vor, ſchob den Ta⸗ſſe beiſeite und ſagte zu ihm: 
„Ngo yen huo t'a⸗men — ich werde mit ihnen ſprechen.“ 

Er ſchritt zu den beiden heran und betrachtete ſie. 
Dann ging er nach der Ecke, wo auf einer Art Altar 
Näucherſtäbchen glimmten, ergriff eins davon, kehrte zu⸗ 
rück und hielt es dem Dicken unter die Naſe. 

Der Mijnheer gab ſich alle Mühe, dem ſcharfen, 
wenn auch angenehmen Geruch zu widerſtehen, doch ver⸗ 
geblich. Der Rauch drang ihm in die Naſe, und — — — 
„Ha — ha — ha — zieeh!“ drang es aus ſeiner Bruſt, 
wie aus einem Vulkan. 


— 344 — 


„Thian⸗na, nguot⸗tik — o Himmel, o Wunder!“ er⸗ 
klang es rundum. 

Der junge Mandarin verſuchte ſein Experiment nun 
auch an Turnerſtick. Dieſer biß die Zähne zuſammen und 
nahm ſich vor, auf keinen Fall zu nieſen. Aber auch er 
konnte nicht widerſtehen. Es erfolgte bei ihm eine ebenſo 
gewaltige Exploſion wie bei dem Dicken. 

„Thian⸗na! Nguot⸗tik!“ riefen die Umſtehenden 
wieder. 

Da Turnerſtick chineſiſche Kleidung trug, hielt man 
ihn für einen heimiſchen Gott, den Mijnheer aber für 
einen Gott aus einem fremden, bisher noch unbekann⸗ 
ten Himmel. Daß beide genieſt hatten, war ein ebenſo 
großes Wunder wie auch ein ſicheres Zeichen, daß ihnen 
das Räucheropfer wohlgefallen habe. Schon dachte der 
Ta⸗ſſe an die Berühmtheit, die ſein Tempel durch dieſe 
beiden unbegreiflichen Weſen erlangen werde, und an die 
Einnahmen, welche eine natürliche Folge davon ſein 
mußten. Da aber riß ihn der Mandarin durch die Worte 
aus ſeiner Täuſchung: „T'a⸗men put tſchian⸗tſe, t'a⸗men 
tisfin — es find nicht Himmelsſöhne, ſondern irdiſche 
Menſchen!“ 

Bei dieſen Worten nahm er dem Dicken den Schirm 
aus der Hand und ſtieß ihm deſſen Spitze an den Leib. 

„Oei, ſeldrement — o weh, potztauſend!“ rief der 
Mijnheer, indem er mit beiden Händen nach der getrof⸗ 
fenen Stelle griff. 

Auch der Kapitän erhielt einen kräftigen Stoß, ſo 
daß er zornig ausrief: „Alle Wetter! Nimm dich doch in 
acht, Kerl!“ | 

Nun erhob fich in dem Tempel ein ganz unbeſchreib⸗ 
licher Lärm. Man erkannte, daß man natürliche Men⸗ 


— 345 — 


ſchen vor ſich habe und daß das Heiligtum geſchändet 
worden ſei. Man drang auf die beiden ein. 

„Rechtvaardige Hemel! Dat God verhoede — ge⸗ 
rechter Himmel! Gott mag's verhüten!“ ſchrie der Mijn⸗ 
heer, indem er ſich von dem Poſtament herabwälzte, um 
hinter dem Kapitän Schutz zu ſuchen. Dieſer aber ließ, 
als er nun die wirkliche Gefahr vor ſich ſah, alle Angſt 
ſchwinden. Er ſprang auf, ſtreckte den Andrängern die 
geballten Fäuſte entgegen und ſchrie: „Zurück, ihr Chine⸗ 
ſeng! Ich werde mich nicht anrühreng laſſing! Könnt ihr 
boxeng? Wollt ihr meine Fäuſtung fühlaug?“ 

Sie prallten wirklich zurück, und das war der Augen⸗ 
blick, wo der Methuſalem jenſeits an das Gitter ge⸗ 
treten war, um herüberzulugen. Er ſah den Kapitän, 
dem der Klemmer von der Naſe gerutſcht war, in dro⸗ 
hender Stellung vor ſeinen vielen Angreifern auf dem 
Poſtament ſtehen. Er erriet, was geſchehen war, und er⸗ 
kannte die Gefahr, in der die beiden ſchwebten. 

Turnerſtick benutzte das Zurückweichen ſeiner Geg⸗ 
ner zu einer donnernden Rede, worin er ihnen die Gefahr 
auseinanderſetzte, die ihnen drohte, wenn ſie ſich ſeiner 
friedlichen Entfernung widerſetzen ſollten. 

„Welche Unvorſichtigkeit!“ ſagte der Methuſalem. 
„Sie werden kaum zu retten ſein. Ich muß hinein!“ 

„Nein, nein!“ entgegnete der Tong⸗tſchi. „Die 
Leichtſinnigen haben die Stelle der Götter eingenommen 
gehabt und ſind dabei überraſcht worden. Wenn Sie 
ihnen zu Hilfe eilen, ſind auch Sie verloren, wir alle! 
Wir können ſie nur aus der Ferne retten.“ 

„Ich rette ſie! ſagte Liang⸗ſſi. „Ich bringe es 
wenigſtens ſo weit, daß ihnen jetzt kein Leid geſchieht. 
Man wird ſie in das Gefängnis ſtecken, aber ich hoffe, 
daß wir fie daraus befreien können.“ 


— 346 — 


Er wollte fort. Der Methuſalem hielt ihn zurück 
und fragte: „Was wollen Sie tun?“ 

„Laſſen Sie mich! Sie ſind Lamas aus Lhaſſa.“ 

„Das glaubt niemand!“ 

„Mag man es bezweifeln! Man muß ſie doch einſt⸗ 
weilen als ſolche behandeln.“ Er riß ſich los und trat in 
die vordere Halle, nicht eilig, ſondern ganz ſo, als ob er 
ſich in der hinteren Abteilung befunden habe und von 
dem Lärm herbeigelockt worden ſei. 

Noch ſtand Turnerſtick da und ſprach. Er wollte die 
Anweſenden durch die Gewalt ſeiner Rede niederſchmet⸗ 
tern, natürlich aber wurde kein Wort verſtanden. 

Der junge Mandarin erblickte den Eintretenden; er 
trat auf ihn zu, ergriff ihn am Gewand und fragte: 
„Was willſt du hier?“ 

„Den Tempel beſuchen.“ 

„Das iſt jetzt nicht erlaubt! Kein Fremder darf 
herein!“ 

„Dieſe beiden ſind ja auch fremd!“ 

„So kennſt du ſie alſo?“ 

„Nein. Ich verſtehe aber ihre Sprache und hörte 
dieſen Lama ſprechen.“ 

„Welche Sprache iſt es?“ 

„Tibetaniſch.“ 

„Das verſtehſt du?“ 

„Ja. Ich war zweimal in Tibet.“ 

„So bleib! Du wirſt den Dolmetſcher machen.“ 

Jetzt hatte Turnerſtick ſeine Rede beendet, ohne 
Liang⸗ſſi bemerkt zu haben. Dieſer letztere rief ihm in 
deutſcher Sprache zu: „Wenn Sie gerettet ſein wollen, ſo 
tun Sie ſo, als ob Sie mich nicht kennen, ſonſt ſind Sie 
verloren.“ 

Der Kapitän drehte ſich nach ihm um und antwor⸗ 


u BAT 


tete: „Ich fürchte mich nicht vor dieſen Kerls. Ich habe 
meine Piſtolen mit, vor denen ſie alle ausreißen.“ 

„Dieſe Berechnung iſt falſch. Sie haben ein großes 
Verbrechen begangen, und wenn Sie auch hier ent⸗ 
kämen, würde man Sie doch verfolgen und wir alle müß⸗ 
ten die Folgen Ihres Fehlers miterleiden.“ 

„Alle Wetter, das iſt dumm!“ 

„Ich will verſuchen, Sie herauszureißen. Ich gebe 
Sie für einen heiligen Lama aus Lhaſſa aus. Setzen Sie 
ſich getroſt nieder, als ob Sie ein Recht hätten, auf dieſem 
Poſtament zu ſitzen, und auch der Mijnheer muß das 
gleiche tun.“ 

„Gut! Aber wenn ſo ein Schlingel mir abermals 
unter die Naſe räuchert, ſo gebe ich ihm eine Ohrfeige, 
an die er längere Zeit denken ſoll. Steigen Sie wieder 
auf Ihren Thron, Mijnheer!“ 

„Weder opſtijgen?“ fragte der Dicke kleinlaut. 

„Ja. Sie hören doch, daß es uns ſonſt ſchlimm er⸗ 
gehen kann.“ 

Er ſetzte ſich wieder nieder und ſpannte ſeinen 
Fächer auf. Auch der Dicke kletterte auf ſein Poſtament 
und nahm die frühere Stellung ein. Liang⸗ſſi zog ganz 
unbefangen dem Mandarin den Schirm aus der Hand 
und gab ihn an den Holländer zurück, wobei er ſagte: 
„Nun bewegen Sie ſich nicht, und ſtarren Sie immer vor 
ſich hin, gerade wie lebloſe Geſtalten.“ 

Die Anweſenden hatten dem Gebaren Liang⸗hſſis zu⸗ 
geſehen, ohne ihn zu hindern; aber auf ihren Geſichtern 
war das größte Erſtaunen zu leſen. Es befanden ſich 
Mandarinen da, die bedeutend älter waren und auch im 
Range höher ſtanden als der junge Beamte, der das 
Wort geführt hatte; aber ſie ſchienen ihn zu kennen und 
zu wiſſen, daß die Angelegenheit bei ihm in guten Hän⸗ 


— 348 — 


den ſei. Er ſeinerſeits tat, als ob es ganz ſelbſtverſtänd⸗ 
lich ſei, daß er die Sache weiterführe. Er ſagte zornig zu 
Liang⸗ſſi: „Wie kannſt du es wagen, mir den Schirm zu 
nehmen?“ 

„Weil er dir nicht gehört.“ 

„Und,“ fuhr der Mandarin in noch ſchärferem Ton 
fort, „wie darfſt du dich unterſtehen, mich ‚du‘ zu nen⸗ 
nen?“ 

„Weil du mich ebenſo nennſt.“ 

„Ich bin Kuan⸗fu und Moa⸗ſſen)!“ 

„Kannſt du behaupten, daß ich nicht dasſelbe bin?“ 

„Wie willſt du ein Kuan⸗fu ſein, obgleich du nicht 
die Kleidung eines ſolchen trägſt?“ 

„Wer ein Gelübde getan hat, ſoll alle Zeichen ſeiner 
Würde ablegen, bis es von ihm erfüllt worden iſt.“ 

Liang⸗ſſi ſpielte ein gewagtes Spiel; aber er hatte 
es einmal begonnen und mußte es nun zu Ende führen. 
Der Mandarin muſterte ihn mit mißtrauiſchem Blick 
und ſagte dann in milderem Ton: „Ein Gelübde? Wel⸗ 
ches denn?“ 

„Biſt du ein Prieſter, dem ich es anvertrauen kann?“ 

„Nein. Behalte es für dich! Wo kommſt du her?“ 

„Aus Tſching⸗tu in der Provinz Sze⸗tſchuen.“ 

„Das iſt weit von hier!“ 

„Mein Gelübde gebietet mir, nach Kuang⸗tchéu⸗fu 
zu gehen und da täglich dreimal dieſes Haus der hundert 
Himmelsherren zu beſuchen. Meine Heimat liegt hoch 
oben an der Grenze der Wüſte, und ſo bin ich nach Tibet 
gekommen und habe die Sprache dieſes Landes gelernt. 
Als ich mich jetzt hier im Tempel befand, hörte ich viele 
Leute ſprechen und ſodann eine Stimme, welche tibe⸗ 
taniſch redete. Ich kam herbei, um zu ſehen, wer das ſei. 
Y Doktor der Feder. 


— 349 — 


Ich habe nichts Unrechtes getan, und du redeſt zu mir, 
als ob ich ein Verbrecher wäre.“ ö 

„Weißt du, was geſtern abend hier geſchehen ift?“ 

„Ich erfuhr es auf der Straße.“ 

„Man hat die Götter geſtohlen. Und nun wir ſie 
zurückbringen, wird das Heiligtum zum zweitenmal ent⸗ 
weih „u 

„Entweiht?“ fragte Liang⸗ſſi im Ton des größten 
Erſtaunens. „Wer hat das getan?“ 

„Dieſe beiden fremden Männer.“ 

„Dieſe? Ich muß dich fragen, ob du weißt, was ein 
Lama iſt?“ ö 

„Ja, ich weiß es. Ein Lama iſt ein Mönch, der in 
einem Kloſter lebt.“ 

„Das ſagſt du und willſt ein Doktor der Feder ſein? 
Haſt du noch nichts vom Dalai Lama, vom Tſong Kaba, 
vom Hobilgan, vom Pantſcham Ramputſchi gehört? Sind 
das nicht Götter, deren Seelen auf die Auserwählten 
übergehen? Heißt nicht Lhaſſa die Stadt der hundert⸗ 
tauſend Heiligen? Sind nicht im großen Ku⸗ren dreimal⸗ 
hunderttauſend Lamas verſammelt, welche niemals fter- 
ben können, weil ihre Seelen von einem Leib in den 
andern übergehen?“ 

Er hatte das in einem ſehr überlegenen und zu⸗ 
gleich vorwurfsvollen Ton geſagt. Der Methuſalem ſtand 
hinter dem Gitter und bewunderte ihn. Er hatte dem jun⸗ 
gen chineſiſchen Kaufmann dieſe Kenntniſſe und dieſen 
Mut nicht zugetraut. Liang⸗ſſi ſchien plötzlich ein ganz 
anderer geworden zu ſein. 

Freilich kam ihm zu ſtatten, daß die Chineſen ſehr 
ſchlechte Geographen ſind; ihr Nationalſtolz verbietet 
ihnen, ſich allzuſehr mit anderen Ländern und Völkern 
zu beſchäftigen. 


— 350 — 


Der junge Mandarin ſchien verlegen zu werden. Er 
antwortete in hörbar höflicherem Ton: „Ich habe dieſe 
Namen alle längſt gehört.“ 


„Die Namen, ja, aber die Verhältniſſe ſcheinen dir 
unbekannt zu fein. Der Dalai Lama iſt nicht der Unter⸗ 
tan des chineſiſchen Himmelsherrn, denn letzterer ſendet 
ihm jährlich koſtbare Geſchenke, um ihm ſeine Ehrfurcht 
zu erweiſen. Jeder Lama iſt ein Gott und hat alle Rechte 
eines ſolchen. Ein Lama kann einen Tempel errichten, 
um ſich verehren zu laſſen, und es gibt jenſeits der gro⸗ 
ßen Mauer berühmte Lamas, welche ſo heilig ſind, daß 
Hunderttauſende zu ihnen wandern, um ſich ihre Sün⸗ 
den vergeben zu laſſen und von ihnen die Unſterblichkeit 
zu erlangen. Zu dieſen berühmten Weſen gehören die 
beiden, die ihr da vor euch erblickt. Der eine iſt ſogar ein 
Lama des Krieges und hat die Feinde der Chineſen, die 
Oros!), in vielen Schlachten beſiegt. Sie find nach 
Kuang⸗tſchéu⸗fu gekommen, warum, das weiß ich nicht, 
denn ich konnte ſie noch nicht fragen, aber ſie werden hier 
nicht verweilen, weil ſie die Ehrerbietung nicht gefunden 
haben, die man ihnen widmen muß.“ 

„Sie haben ſich auf den Thron unſerer Götter ge⸗ 
ſetzt!“ 

„Wer will ihnen das verbieten, da ſie ja ſelbſt Göt⸗ 
ter ſind? Erkundige dich, ſo wirſt du erfahren, daß ich 
die Wahrheit ſage! Ein Lama darf mit keinem Menſchen 
ſpeiſen; kein anderer darf es ſehen, wenn er ſich wäſcht. 
Wen er mit ſeiner Hand berührt, der iſt geheiligt für die 
ganze Lebenszeit. Selbſt ein Vizekönig muß, wenn ein 
Lama bei ihm eintritt, ſeinen Sitz verlaſſen, um ihm 
dieſen anzubieten.“ 


5) Nurſſen. 


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„Davon ſteht nichts im Buche der Zeremonien zu 
leſen.“ 

„Weil ſich hier im Lande keine Lamas befinden. 
Aber ſchlage nur nach im Buch der Gebräuche der Völker 
jenſeits der großen Mauer! Da wirft du es ſogleich 
finden.“ 

„Ich werde nachſchlagen. Aber wie kommt es, daß 
dieſe Lamas fo verſchieden gekleidet find?” 

„Weil es verſchiedene Tempel gibt, deren Bewohner 
ſich durch die Kleidung unterſcheiden. Und zweifelſt du 
daran, daß dieſe Heiligen den Göttern gleich zu achten 
ſind, ſo blicke ſie an! Sind ſie nicht ganz in das All ver⸗ 
ſunken? Schau dieſen Lama des Krieges an! Iſt ihm 
nicht die Unſterblichkeit auf die Stirne geſchrieben?“ 

Turnerſtick ſaß allerdings da, als ob ihm dieſe 
Erde ganz und gar gleichgültig ſei. 

„Ja,“ gab der Mandarin zu. „Seine Seele ſcheint 
nicht in ihm zu ſein.“ 

„Sie iſt tief im Weltall verſunken. Und ſieh dir den 
andern an! Iſt er nicht ein Gott der Schönheit und des 
Glücks zu nennen?“ 

Dem Mijnheer war es gar nicht göttlich zu Mute, 
und übermäßig glücklich fühlte er ſich auch nicht: aber er 
machte ein möglichſt ſorgloſes Geſicht, und da er wohl⸗ 
beleibt war, ſo befriedigte er ganz wohl die Anſprüche, die 
der Chineſe an das Bild eines Gottes macht. 

„Ja, er iſt ſchön,“ antwortete der Mandarin. „Aber 
frage ſie doch einmal, ob wir erfahren dürfen, weshalb 
fie nach Kuang⸗iſchéu⸗fn gekommen find!” 

„Du ſtellſt mir da eine Aufgabe, die mich zwingt, 
unhöflich gegen die Götter zu ſein. Wenn ſie in die Tiefe 
der Weisheit verſunken ſind, iſt es eine Sünde, ſie zu 


— 352 — 


ſtören. Ich begebe mich in die Gefahr, ihren Zorn auf 
mich zu laden, ſo wie ihr ihn euch vorhin zugezogen habt.“ 

„Der Kriegslama war zornig, ja, aber der andere 
nicht. Er ſprang vom Sitz herab, um ſich zu verſtecken.“ 

„Das geſchah nicht aus Furcht, denn es kommt nur 
auf ſeinen Willen an, ſo kann er euch alle verderben. Aber 
es verſteht ſich ganz von ſelbſt, daß ein Lama des Frie⸗ 
dens, wenn er zornig iſt, ſich an den Lama des Krieges 
wendet.“ 

„So willſt du ſie alſo nicht fragen? Dann müſſen 
wir es tun!“ 

„Nein, nein! Ihr würdet es nicht mit der gebühren⸗ 
den Ehrfurcht tun. Alſo will ich es wagen. Vielleicht ge⸗ 
fällt es ihnen doch, uns Auskunft zu erteilen.“ 

Er näherte ſich den beiden Götzen, verbeugte ſich tief 
vor ihnen und ſagte in deutſcher Sprache: „Antworten 
Sie mir nicht ſogleich, ſondern ſtarren Sie immerfort in 
die Ecke. Erſt ſpäter tun Sie dann, als ob Sie langſam 
aus tiefen Nachdenken erwachen. Dann müſſen Sie zu⸗ 
nächſt in zornigem Ton zu mir reden.“ 

Die beiden bewegten ſich nicht. Liang⸗ſſi wendete 
ſich zu dem Mandarin: „Du ſiehſt, wie weit ſie von hier 
abweſend ſind. Sie hören meine Stimme nicht. Ich muß 
weiter zu ihnen ſprechen.“ 

Nun erzählte er den beiden, was er mit dem Man⸗ 
darin geſprochen habe, und daß er hoffe, man werde ſie 
unbehelligt fortgehen laſſen. Dann holte er ein Räucher⸗ 
ſtäbchen und erklärte den Chineſen: „Ich bin noch immer 
nicht gehört worden. Vielleicht gelingt es mir, ſie durch 
Wohlgerüche zurückzurufen.“ 

Er ſchwang das Stäbchen vor den Göttern hin und 
her. Turnerſtick holte tief Atem, klappte ſeinen Fächer 
zu, ſah im Kreiſe umher und fragte zornig: „Iſt die 


— 353 — 


Komödie nicht bald zu Ende? Es fällt mir gar nicht ein, 
länger hier ſitzen zu bleiben. Ich hab einen gewaltigen 
Hunger! Sie nicht auch, Mijnheer?“ 

Der Dicke tat, als ob er zu ſich komme, verdrehte 
die Augen und antwortete: „Ja, het is tijd dat wij an 
tafel gaan — ja, es iſt Zeit, daß wir zu Tiſche gehen.“ 

„Hören Sie es? Nun machen Sie alſo, daß wir 
fortkommen! Wo iſt unſer Methuſalem?“ 

„Er ſteht am Gitter hinter Ihnen; er darf es nicht 
wagen, ſich jetzt ſehen zu laſſen, wird aber ſpäter alles zu 
Ihrer Rettung tun.“ 

„Rettung? Steht es ſo ſchlimm?“ 

„Hoffentlich nicht. Doch weiß man nicht, was die 
Prieſter und Mandarinen beſchließen werden.“ 

„Was haben Sie denn jetzt wieder mit ihnen ver⸗ 
handelt?“ 

„Ich ſoll Sie fragen, warum Sie als Lama hierher⸗ 
gekommen ſind.“ 

„Weiß ich es? Das müſſen Sie doch wiſſen, der Sie 
uns zu Lamas gemacht haben.“ 

„Ich weiß wirklich nicht, was ich antworten ſoll.“ 

„So ſagen Sie Ihnen meinetwegen, daß wir hier 
Nilpferde ſuchen, die wir Seiltanzen lehren wollen. 
Nicht wahr, Mijnheer?“ 

„Ja, ongelukkige nijlpaarden.“ 

„Oder ſagen Sie, daß wir ungeheuer reich ſind und 
mit unſerem Geld ſo wenig wiſſen, wohin, daß wir auf 
den Gedanken geraten ſind, ihnen eine Pagode zu bauen, 
woran wir ſie alle aufhängen laſſen werden.“ 

„Das Aufhängen werde ich verſchweigen: aber eine 
Pagode? Der Gedanke iſt ſehr gut. Warten Sie!“ 

Sich an den Mandarin wendend, berichtete er dem⸗ 
ſelben: „Die heiligen Lamas waren zornig, daß ſie aber⸗ 

May, Der blaurote Methuſalem. 23 


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mals geſtört worden ſind; aber ſie haben ſich dennoch her⸗ 
beigelaſſen, mir Auskunft zu erteilen. Sie ſind gekom⸗ 
men, um hier einen großen Tempel der Wohltaten zu er⸗ 
bauen, worin tauſend Arme aufgenommen werden kön⸗ 
nen.“ 

„Thian! So müſſen ſie ſehr reich ſein. Aber können 
Sie auch beweiſen, daß ſie das wirklich wollen?“ 

„Wodurch kann man den Willen beweiſen, als durch 
die Tat? Sie werden, da ſie abermals geſtört worden ſind, 
jetzt von hier aufbrechen, um ſich einen andern Ort zu 
ſuchen, wo niemand ſie aus ihrer ſeligen Verſunkenheit 
erwecken kann.“ 

„Gehen wollen ſie?“ fragte der Mandarin, indem 
ein eigentümliches Lächeln um ſeine Lippen zuckte. „Wenn 
ſie wirklich ſo berühmte und heilige Lamas ſind, wie du 
uns geſagt haſt, ſo tut es uns ſehr leid, ſie von uns 
laſſen zu müſſen. Willſt du ſie nicht fragen, ob und wann 
und wo wir ſie wiederſehen können?“ 

Dieſe Worte waren ſehr freundlich ausgeſprochen 
worden. Liang⸗ſſi glaubte, gewonnenes Spiel zu haben. 
Aber es gab einen, dem ſie nicht gefielen, und dieſer eine 
war der Methuſalem. 

Er hatte jedes Wort der Verhandlung vernommen, 
und, da er alles ſehr gut überblicken konnte, die Geſichter 
genau beobachtet. Da war ihm zunächſt aufgefallen, daß 
die Züge des jungen Mandarins mit denen Liang⸗hſſis 
eine ſtarke Aehnlichkeit beſaßen; ſeltſamer Zufall! Wich⸗ 
tiger aber war das Benehmen dieſes jugendlichen Be⸗ 
amten, der bereits den viel begehrten Titel eines Moa⸗ 
ſſe führte, obgleich er nur wenig über zwanzig Jahre 
zählen konnte. 

Er ſah nicht aus wie einer, der ſich ſo leicht einer 
groben Täuſchung unterwerfen läßt. Es war trotz ſeiner 


— 355 — 


nunmehrigen Freundlichkeit etwas Ueberlegenes, Zu⸗ 
wartendes an ihm zu bemerken, was er nicht ganz zu ver⸗ 
bergen vermochte. Degenfeld hatte das Gefühl, daß dieſer 
Mann eine unſichtbare Schlinge in der Hand habe, die er 
plötzlich zuziehen werde, um Liang⸗ſſi zu fangen. Und 
welcher Art dieſe Schlinge ſei, das ahnte der Student. 

So geſchickt Liang⸗ſſi ſich verhalten hatte, war doch 
eine große Unvorſichtigkeit von ihm begangen worden. Er 
hatte den Dicken mehreremal Mijnheer genannt, und 
auch Turnerſtick hatte ſich dieſes Wortes bedient. Es gab 
in Macao, Hongkong und Kanton Holländer genug, mit 
denen die Chineſen in Berührung kamen, und da gibt es 
ſtets gewiſſe Worte, die im Gedächtnis hängen bleiben 
und ſich weiter ſprechen. Hört der Deutſche das Wort 
Monſieur, ſo wird er den Betreffenden gewiß für einen 
Franzoſen halten. Wird eine Dame Lady oder Miß ge⸗ 
nannt, ſo iſt ſie ſehr wahrſcheinlich eine Engländerin 
oder Amerikanerin. Es ſtand zu erwarten, daß das Wort 
Mijnheer ein in Kanton nicht unbekanntes ſei; auch war 
anzunehmen, daß ein Mann von den Eigenſchaften des 
Mandarins einige holländiſche Worte kenne. War dies 
der Fall, ſo mußte er wiſſen, daß ein Fremder, welcher 
Mijnheer genannt wurde, unmöglich ein Lama aus 
Lhaſſa ſein könne. 

Liang⸗ſſi gehorchte der Aufforderung des Beamten. 
Er wendete ſich an Turnerſtick und ſagte: „Ich habe ge⸗ 
ſagt, daß Sie zum Beſten der hieſigen Armen von Ihrem 
eigenen Geld einen Tempel bauen wollen, und das hat 
Ihnen Achtung verſchafft.“ 

„Na, allzugroß wird er nicht werden!“ meinte der 
Kapitän. „Es ſind mir keine Kapitalien zur Feuereſſe 
hereingefallen, ſo daß ich ſie hier zum Nutzen dieſer Leute 
verpulvern könnte; Ihnen doch auch nicht, Mijnheer?“ 


— 356 — 


„Neen, mij book niet, voornaamelijk daarton niet — 
nein, mir auch nicht, zumal dazu nicht.“ 

„Man glaubt es aber,“ fuhr Liang⸗ſſi fort, „und 
wird Sie jetzt ungehindert gehen laſſen. Vorher aber will 
man wiſſen, wann und wo man Sie ſehen und treffen 
kann.“ 

„Im Mond, ſagen Sie ihnen das,“ antwortete Tur⸗ 
nerſtick. „Nicht wahr, Mijnheer?“ 

„Ja, in den maan, en indien wij buiten zijn, in der 
maansverduiſtering — ja, im Mond, und wenn wir 
draußen find, in der Mondfinſternis,“ beſtätigte der 
Dicke, indem er den Mund breit zog und vergnügt über 
ſeinen Witz lachte. 

„Da haben Sie recht, Mijnheer,“ ſagte Liang-ffi. 
„Es iſt für uns alle am beſten, uns ſchnell zu verdüſtern, 
ſobald wir hier fortgekommen ſind. Wenn ich Ihnen 
ſage, daß Sie gehen können, ſo ſteigen Sie möglichſt gra⸗ 
vitätiſch herab und gehen hinaus, ohne die Anweſenden 
eines Blickes zu würdigen.“ 

„Und draußen ſetzen wir uns in die Sänften?“ 
fragte Turnerſtick. 

„Nein, das ja nicht! Man würde dadurch erfahren, 
daß wir zuſammengehören, denn es verſteht ſich ganz von 
ſelbſt, daß man Sie beobachten wird. Sie gehen vom 
Tempel aus rechts ab, dann links in die erſte Gaſſe hin⸗ 
ein, biegen abermals rechts ab, ſo daß man Sie von 
hier aus unmöglich ſehen kann, und warten dort auf 
uns. Wir werden Ihnen zwei Sänften nachſenden, in 
die Sie raſch ſteigen, um heimgebracht zu werden.“ 

Der Mao⸗ſſe war dieſer Unterredung mit geſpannter 
Aufmerkſamkeit gefolgt. Es ſpielte ein leiſes Lächeln um 
ſeine Lippen, als er ſich jetzt an Liang⸗ſſi wandte: „Nun, 
haben die Lamas meine Frage beantwortet?“ 


— 357 — 


„Ja. Sie wiſſen augenblicklich nicht, wohin ſie ſich 
von hier aus wenden werden. Aber ſie werden täglich 
hierher kommen.“ 

Der Mandarin nickte ihm freundlich⸗liſtig zu und 
ſagte: „Vielleicht werden die heiligen Lamas mir er⸗ 
lauben, ihnen eine Wohnung anzuweiſen, die ihrer 
hohen Stellung würdig iſt?“ 

„Sie werden dir nicht beſchwerlich fallen wollen.“ 

„Davon kann keine Rede ſein. Mein Haus iſt ein 
ſehr gaſtliches und hat Platz für viele Leute. Es wohnen 
darin oft über hundert Gäſte verſchiedenen Ranges. Und 
ſollten die Lamas denken, daß mein Rang zu niedrig ſei, 
als daß ſie bei mir einkehren könnten, ſo will ich dir 
ſagen, wie ich heiße und was ich bin. Mein Dienſtname 
iſt Ling); mein Haus wird Huok⸗tſchu⸗fang') genannt, 
und ich bin darin als Pang⸗tſchok⸗kuan) angeſtellt.“ 

Liang⸗ſſi trat einen Schritt zurück und betrachtete 
den Sprechenden mit unſicherem Blick. Da deſſen Geſicht 
aber ebenſo freundlich wie vorher war, beruhigte er ſich 
wieder und antwortete: „Da bekleideſt du ein ſehr wich⸗ 
tiges Amt, das deine Zeit ſo ſehr in Anſpruch nimmt, 
daß Privatgäſte dich nicht behelligen dürfen.“ 

„O, mein Haus ſteht einem jeden offen, dem es 
anderswo nicht gefallen will; aber wenn die Lamas mich 
wirklich nicht begleiten wollen, ſo laſſe ich ſie bitten, ſich 
in die Gebräuche dieſes Landes zu fügen. Wenn jemand, 
jo weit her, aus Tibet nach Kuang⸗tſchéu⸗fu kommt, 
muß er einen Paß haben, der von dem chineſiſchen Wang 
in Lhaſſa ausgeſtellt und unterzeichnet iſt. Ich möchte 
dieſe Päſſe gern ſehen.“ 

„Wo denkſt du hin! Ich Toll zwei heilige Lamas, die 


) Der Befehlende. — ) Gefängnis. — 9) Gefängnisgouverneur. 


— 358 — 


den Göttern gleichgeachtet werden, nach ihren Päſſen 
fragen? Das iſt unmöglich!“ 

„Nun, du biſt in Lhaſſa geweſen und mußt das 
beſſer verſtehen als ich. Ich will es alſo dahingeſtellt ſein 
laſſen, ob ſie Päſſe haben oder nicht, denn ich werde mich 
hüten, die heiligen Lamas zu beleidigen. Aber du ſelbſt 
biſt doch nicht etwa auch ein Lama?“ 

„Nein.“ 

„Du ſagteſt, daß Sze⸗tſchuen deine Heimat ſei. 
Kommſt du direkt von dort?“ 

„Ja.“ 

„Dieſe Provinz liegt ſehr weit von hier entfernt, 
und wenn man eine ſolche Reiſe unternimmt, ſo verſieht 
man ſich mit allem, was dazu erforderlich iſt. Das haſt 
du doch getan?“ 

„Ja.“ 

„Das allernötigſte iſt da ein Paß. Es iſt vorge⸗ 
ſchrieben, daß jeder, der aus einer Provinz in die andere 
geht, einen Paß haben muß, damit er zeigen und beweiſen 
kann, wer er iſt. Du wirſt dieſes Geſetz kennen, da du ja 
auch ein Mandarin biſt und dich im Beſitz eines literari⸗ 
ſchen Titels befindeſt. Ich denke alſo, daß du entweder 
bei dem Zjung-tut) oder beim Fu⸗juen:) von Sze⸗tſchuen 
geweſen biſt, um dir eine ſolche Legitimation ausſtellen 
zu laſſen. Haſt du das getan?“ 

„Nein. Mein Gelübde hinderte mich daran.“ 

„Ein ſehr gefährliches Gelübde! Und da tut es mir 
leid um dich, denn ich will dir wohl. Ich erkenne deinen 
Rang an, ohne daß du mir beweiſen kannſt, daß du ihn 
beſitzeſt. Ich bin dir auch dankbar für die Gefälligkeit, 
unſer Dolmetſcher geweſen zu ſein, und werde dich nicht 
weiter beläſtigen. Jetzt kannſt du gehen; ſage aber vor⸗ 


N) Generalgouverneur. — ?) Untergouverneur. 


— 359 — 


her dieſen Heiligen aus Lhaſſa, daß ich auch ihnen die 
Erlaubnis erteile, dieſen Tempel zu verlaſſen!“ ö 

Als er das geſagt hatte, erhob ſich hinter ihm unter 
den Prieſtern, Bonzen und anderen Mandarinen ein 
unwilliges Gemurmel. Dieſe Leute waren mit der Ent⸗ 
fernung der Lamas nicht einverſtanden. Der Ta⸗hſſe trat 
herbei und ſagte: „Ihre junge Würde vergißt, daß ich als 
Oberer dieſes Tempels auch ein Wort mit den Fremden 
zu ſprechen habe. Ich muß mich genau überzeugen, daß 
ſie wirklich heilig ſind. Wäre dies nicht der Fall, ſo hät⸗ 
ten ſie die Sitze der Götter entweiht, ſo daß dieſe nicht 
wieder darauf Platz nehmen könnten. Ich verlange alſo, 
daß die Lamas hier bleiben.“ 

Der Mandarin gab ihm mit den Augen einen heim⸗ 
lichen Wink, der ihn beruhigen ſollte, und antwortete: 
„Ich bitte Ihre fromme Würde, ihnen doch das Tor 
öffnen zu laſſen! Wir können ihnen nicht beweiſen, daß 
ſie keine Lamas ſind, und dürfen ſie alſo nicht beläſtigen. 
Uebrigens werden ſie täglich nach hier zurückkehren, wo⸗ 
bei vollauf Gelegenheit vorhanden iſt, mit ihnen zu 
ſprechen.“ 

Liang⸗ſſi hatte mit Schrecken den Einwand des 
Ta⸗ſſe gehört, war aber durch die Antwort des Mandarins 
beruhigt worden. Nun wendete er ſich an Turnerſtick: 
„Sie können gehen. Man wird Ihnen ſogleich das Tor 
öffnen. Aber entfernen Sie ſich ja ſo würdevoll wie 
möglich!“ 

„Soll nicht an Würde fehlen! Ich werde dieſen Leu⸗ 
ten mein ſtolzeſtes Geſicht ſchneiden. Kommen Sie, Mijn⸗ 
heer; ſtehen Sie auf! Ich habe die Komödie ſatt!“ 

„Ik ook. Ik wil ook met opftaan en voortgaan; ik 
heb Honger!“ Er arbeitete ſich aus ſeiner ſitzenden Stel⸗ 


— 360 — 


lung empor und rutſchte vom Poſtament, um hinter 
Turnerſtick nach der Tür zu ſchreiten. 

Langſam und gemeſſenen Schritts, die Häupter hoch 
erhoben und weder nach rechts noch nach links blickend, 
bewegten ſich die beiden nach der Tür. Der junge Man⸗ 
darin ließ Turnerſtick an ſich vorüber, dann aber legte er 
ſeine Hand ſchnell auf den Arm des Dicken und fragte: 
„Mijnheer, gij zijt en Nederlander, niet?“ 

Der Dicke ließ ſich übertölpeln. Er blieb ſtehen und 
antwortete, freundlich nickend: „Gewiſſeglijk, ik ben een 
Hollander.“ 

Da ſtieß der Mandarin ihn zurück, ergriff den 
Kapitän ſchnell beim Zopf, um ihn feſtzuhalten, und rief 
den Poliziſten zu: „Laßt niemand fort; ſie ſind Betrüger! 
Sie find Fu⸗len!) und haben dieſe heilige Stätte entweiht. 
Ich verhafte ſie!“ 

Turnerſtick hatte zwar die chineſiſchen Worte nicht 
verſtanden, aber doch begriffen, was gemeint war. Er 
wollte nach der Tür ſpringen; dabei wurde ihm ſelbſt⸗ 
verſtändlich die Mandarinenmütze vom Kopf geriſſen, 
weil ſein Zopf in der Hand des Gefängnisbeamten hän⸗ 
gen blieb. Die Bonzen warfen ſich ihm ſchreiend ent⸗ 
gegen; er wehrte ſie mit wütenden Fauſtſchlägen von ſich 
ab, warf ihrer mehrere nach rechts und links, kam aber 
nicht hindurch, da ihrer zu viele waren. Er wurde über⸗ 
wältigt und von zehn, zwölf, ſechzehn Händen feſtgehal⸗ 
ten. 

Was den Mijnheer betrifft, fo war er keineswegs ein 
Feigling. Er hatte ſich vorhin nicht aus wirklicher Mut⸗ 
loſigkeit hinter Turnerſtick verſteckt, ſondern dieſer ſchnelle 
Rückzug war aus reiner Ueberraſchung geſchehen und in⸗ 
folge der außerordentlichen Seltſamkeit der Lage, in der 


) Holländer. 


— 361 — 


er ſich befand. Aber jetzt, als er von dem Mandarin zu⸗ 
rückgeſchleudert wurde und zugleich ſah, daß die Bonzen 
ſich feindlich auf Turnerſtick warfen, wehrte er ſich tapfer. 
Er warf den Regenſchirm weg und ſtieß die beiden geball⸗ 
ten Fäuſte dem Oberprieſter, der ihm am nächſten ſtand, 
mit ſolcher Gewalt an die Magengegend, daß der Ge⸗ 
troffene an eine der Bahren flog und, den darauf be⸗ 
findlichen Gott herunterreißend, darüber hinwegſtürzte. 
Dann fuhr er mitten unter die Mandarinen und Prieſter 
hinein und ſchlug in ſolcher Weiſe um ſich, daß ſie nach 
allen Seiten auseinander ſtürzten. 

„Tapper, maar gedurig tapper, Mijnheer Turner⸗ 
ſtick!“ rief er dabei dem Kapitän zu. „Wij willen dezen 
Heidenhoofden onze vuiſten an de neuſen wrijven — 
tapfer, nur immer fort tapfer, Herr Turnerſtick! Wir 
wollen dieſen Heidenköpfen unſre Fäuſte unter die Naſe 
reiben!“ 

Liang⸗ſſi war aufs heftigſte erſchrocken, als er die 
holländiſche Frage des Mandarin und darauf die unvor⸗ 
ſichtige Antwort des Mijnheer hörte. Er mußte nun das 
gefährliche Spiel verloren geben und vor allen Dingen 
für ſeine eigene Sicherheit ſorgen. Dies erkennend, eilte 
er dem Eingang der großen Halle zu, um ſich hinaus nach 
dem Hof und von da aus weiter zu retten. 

Aber mit derſelben Schnelligkeit hatte der junge 
Mandarin ſeinen Befehl, niemand fortzulaſſen, ausge⸗ 
rufen. Drei Poliziſten ſprangen Liang⸗ſſi entgegen, um 
ihn feſtzuhalten. Die andern fünf eilten zum Mijnheer, 
der noch immer mit einer wahren Berſerkerwut um ſich 
ſchlug und ſtampfte; ſie überfielen ihn von hinten und 
riſſen ihn nieder. 

„Brand, brand!“ ſchrie er auf. „Zij hebben mij! 


— 362 — 


Help, help, Mijnheer Turnerſtick — Feuer, Feuer! Sie 
haben mich! Zu Hilfe! zu Hilfe, Herr Turnerſtick!“ 

„Unmöglich, denn ſie haben mich auch,“ antwortete 
der Kapitän, vor Anſtrengung noch atemlos. „Das hat 
man davon, wenn man Götze spielt!“ 

Der Regenſchirm und die ſchottiſche Mütze des 
Dicken, der Fächer, die Schuhe, die Perücke mit dem Zopf 
und die Kopfbedeckung Turnerſticks lagen auf dem Boden. 
Ein Glück war es, daß dem Kapitän nicht der Gedanke 
gekommen war, ſich ſeiner Waffen zu bedienen! 

Der Methuſalem hatte Zeuge dieſer aufregenden 
Szene ſein müſſen, ohne den Bedrängten zu Hilfe eilen 
zu können. Als ſie jetzt überwältigt waren, ergriff der 
Tong⸗tſchi ihn bei der Hand und raunte ihm haſtig zu: 
„Jetzt fort, ſchnell fort, denn nun werden ſie auch hier 
herein kommen!“ 

Sie eilten hinaus, gefolgt von Gottfried und 
Richard. Im Hof war niemand zu ſehen, auch der Bonze 
nicht, der ſie vorhin begleitet hatte. Zwiſchen den Woh⸗ 
nungszellen, die ihnen vorhin gezeigt worden waren, 
führte ein Gang in einen kleinen Gemüſegarten, welcher 
an denjenigen eines Häuschens ſtieß, worin ein Ver⸗ 
treter des Tempels Räucherſtäbchen verkaufte. Die beiden 
kleinen Gärten waren durch eine Pforte verbunden, und 
das Häuschen gehörte zu einer engen Hintergaſſe, die 
mit derjenigen Straße, wo der Tempel lag, parallel 
führte. In dieſe Gaſſe gelangten die Vier, indem ſie durch 
die Pforte und den Laden gingen. 

Eine unmittelbare Gefahr drohte ihnen nun nicht 
mehr. Aber nun galt es, ohne Aufſehen zu erregen, zu 
den Sänften zu gelangen. Der Tong«⸗tſchi führte feine 
Begleiter durch eine Quergaſſe, durch welche ſie auf die 
Tempelſtraße gelangten. Von der Ecke aus ſahen ſie die 


— 363 — 


Muſikanten am Eingang des Pek⸗thian⸗tſchu⸗fan ſtehen. 
Die Sänftenträger hatten dem Zug Platz gemacht und 
ſtanden auf der andern Seite der Straße. Einer von 
ihnen blickte zufällig her und ſah den Mandarin ſtehen, 
der ihm ſofort einen Wink gab. Er teilte das ſeinen 
Genoſſen mit, die infolgedeſſen mit ihren Sänften herbei⸗ 
getrabt kamen. 

„Gehen wir nach Hauſe?“ fragte der Methuſalem. 

„Sie, ja, aber ich nicht,“ antwortete der Mandarin. 
„Ich werde einſteigen, aber mich nur eine kurze Strecke 
forttragen laſſen und dann halten, um den Poliziſten 
nachzufolgen, die Ihre Gefährten nach dem Gefängnis 
bringen. Ich will wiſſen, was man mit ihnen tut, und 
werde Ihnen dann Nachricht bringen. Ich habe Sie 
wiederholt gebeten, nichts zu unternehmen, was Sie und 
alſo mich mit in Schaden bringen kann. Was jetzt ge⸗ 
ſchehen iſt, das iſt noch viel ſchlimmer und gefährlicher 
als das geſtrige. Ihre Genoſſen haben nicht nur die welt⸗ 
lichen, ſondern auch die kirchlichen Geſetze übertreten, und 
die Vorſicht würde mir gebieten, Ihnen von jetzt an mein 
Haus zu verſchließen. Ich achte aber die Gaſtfreundſchaft 
und bin meinen Lebensrettern zu ſehr zu Dank verpflich⸗ 
tet, als daß ich Sie jetzt in der Gefahr verlaſſen möchte.“ 

„Iſt die Gefahr wirklich ſo groß?“ 

„Sehr groß, denn Ihre Gefährten haben nicht nur 
das Geſetz, ſondern auch die Aufregung der Prieſter und 
des Volkes gegen ſich. Ein Glück wird es noch ſein, wenn 
man ſie in den Gewahrſam bringt, ohne daß ſich das 
Publikum an ihnen vergreift.“ 

„Dann erſcheint es mir als Feigheit, ſie jetzt zu ver⸗ 
laſſen. Ich muß ſofort zu ihnen, um teil an ihrem 
Schickſal zu nehmen.“ 

„Nein, denn Sie würden dadurch ſich ſelbſt und auch 


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mich mit verderben. Wir können ſie nur dadurch retten, 
daß wir nicht merken laſſen, daß ſie zu uns gehören. Ich 
will Ihnen zu Gefallen es wagen, in den Tempel zurück⸗ 
zukehren. Das wird nicht auffallen, denn ich habe ein 
Recht, bei der Rückkehr der Götter zugegen zu ſein, da ich 
die Diebe ergriffen habe. Ich hoffe aber, Ihre Gefährten 
werden ſo klug ſein, nicht zu verraten, daß ſie mich 
kennen.“ N 

„Ich denke, daß fie vorſichtig ſein werden. Liang⸗hſſi 
hat es doch den beiden andern geſagt, daß das unbekannt 
bleiben muß.“ 

„So laſſen Sie ſich alſo ruhig nach Hauſe tragen! 
Ich werde zunächſt verſuchen, ſie vor Gewalttätigkeiten 
zu bewahren. Gewinnen wir Zeit, ſo iſt es wahrſcheinlich, 
daß wir ſie retten werden.“ 

Der Student ſah ein, daß er ſich fügen mußte. Er 
ſtieg mit Gottfried und Richard in die Sänften, worauf 
deren Träger heimwärts rannten. Der Tong⸗tſchi aber 
ließ ſich nach dem Tempel tragen. Die vor dem Tor 
ſtehenden Muſikanten und das Publikum wichen aus 
Ehrfurcht vor ſeinem Range zurück und machten ihm den 
Weg frei. | 

Er bemerkte zu ſeiner Beruhigung, daß die Tür des 
Tempels noch von innen verſchloſſen war. Das war ein 
gutes Zeichen, da ſich daraus vermuten ließ, daß die 
Menge noch nicht wiſſe, was im Heiligtum geſchehen ſei. 
Um ganz ſicher zu gehen, fragte er die vorderſten: 
„Warum iſt der Eingang nicht offen? Warum dürft ihr 
nicht hinein?“ 

Sie verneigten ſich tief vor ihm und einer antwor⸗ 
tete: „Ihre Großmut möge erfahren, daß fremde, hohe 
Götter angekommen ſind.“ 

„Woher?“ 


— 365 — 


„Wir wiſſen es nicht. Wahrſcheinlich wollen ſie die 
bisherigen Götter nicht auf ihre Sitze laſſen, denn wir 
hörten großes Geräuſch und laute Stimmen, die nicht 
freundlich klangen.“ 

Der Mandarin horchte und vernahm die laute 
Stimme des jungen Beamten. Er klopfte laut an und 
mußte das wiederholen, bevor drin jemand fragte: „Schui 
kin — wer iſt da?“ 

„Kuan⸗fu Tong⸗iſchi — der Mandarin Tong⸗tſchi,“ 
erwiderte er. 

Die Tür wurde augenblicklich geöffnet, hinter ihm 
aber ſofort wieder verſchloſſen, damit kein andrer herein⸗ 
treten könne. Mit einem ſchnellen Blick überſchaute er 
die Lage. Die Gefangenen ſtanden, von den Poliziſten 
feſtgehalten, nebeneinander, vor ihnen der Gefängnis⸗ 
beamte, der ſie, wie zu erraten war, ſoeben einem ſchar⸗ 
fen Verhör unterworfen hatte. Man hatte ihnen die im 
Kampf verlorenen Gegenſtände wiedergegeben. 

Da der Tong⸗tſchi ein höheres Amt bekleidete als die 
anweſenden Mandarinen, ſo verbeugten ſie ſich alle vor 
ihm, und der junge Beamte trat zurück, um ihm be⸗ 
ſcheiden ſeinen Platz zu überlaſſen. 

Als Turnerſtick den Gaſtfreund erblickte, raunte er 
ſeinen Gefährten zu: „Gott ſei Dank, da iſt der Tong⸗ 
tſchi! Nun wollen wir aber ſchlau fein und nicht ver⸗ 
raten, daß wir ihn kennen!“ 

Der Tong⸗tſchi muſterte die Gruppe mit einem 
Blick des Erſtaunens, ganz wie einer, der keine Ahnung 
hat von dem, was da geſchehen iſt. Dann fragte er: 
„Warum iſt der Tempel verſchloſſen? Was iſt geſchehen? 
Ich hörte draußen, daß fremde Götter angekommen 
ſeien.“ 

„Sie gaben ſich dafür aus,“ antwortete der junge 


— 366 — 


Mandarin, „und wir glaubten ihnen anfänglich. Aber 
Ihre hohe Würde wird bald erkennen, daß ſie Betrüger 
ſind.“ 

Er gab ihm einen eingehenden Bericht. Der Tong⸗ 
tſchi hörte ihm ſehr aufmerkſam zu, muſterte dann die 
Gefangenen mit ſtrengem Blick und ſagte: „Alſo dieſe 
Männer geben ſich für heilige Lamas aus und ſprechen 
doch die Sprache der Fu⸗len? Hat ſich da mein Kollege 
nicht geirrt?“ 

„Nein. Ich hatte amtlich ſehr oft mit ſolchen Fu⸗len 
zu tun und habe mir viele ihrer barbariſchen Redens⸗ 
arten gemerkt. Dieſer eine Fremde iſt doppelt ſtrafbar, 
da er ſich ohne alles Recht die Kleidung der Mandarinen 
angeeignet hat.“ 

„So iſt er keiner?“ 

„Nein.“ Der Gefängnisbeamte zog dem Kapitän die 
Mütze mitſamt dem Zopf herab, ſchwenkte dieſe „falſche 
Behauptung“ hin und her und ſagte: „Iſt dieſes Haar 
ſein Eigentum? Hat er ſich den Kopf ſcheren laſſen, wie 
es einem Chineſen und ganz beſonders einem Mandarin 
geziemt? Nein, er trägt die Schande eines vollen Haares, 
ganz wie ein Barbar, und darüber einen Zopf, der nicht 
auf ſeinem Kopf gewachſen iſt. Er iſt alſo kein Chineſe 
und noch viel weniger ein Gott, der das Recht hat, ſich 
hier zwiſchen den Anbetungswürdigen niederzulaſſen!“ 

„Aber,“ meinte der Tong⸗tſchi diplomatiſch, „ich 
habe oft gehört, daß die Lamas falſche Zöpfe tragen. Viel⸗ 
leicht iſt er dennoch einer!“ 

Turnerſtick ärgerte ſich darüber, daß der junge 
Mann ſo unehrerbietig mit dem Zopf umging. Er fragte 
Liang⸗ſſi leiſe: „Was will er? Was hat er mit meiner 
Perücke? Was ſagt er?“ 

Liang⸗ſſi erklärte es ihm ebenſo leiſe wie ſchnell. 


— 367 — 


„Alle Wetter! Ich werde ihm ſagen, daß mein Kopf 
mir gehört und ich damit tun und laſſen kann, was mir 
beliebt. Dieſer Zopf koſtet zwei Dollar; ich habe ſie be⸗ 
zahlt und laſſe ihn nun nicht wie einen Eſelsſchwanz be⸗ 
handeln!“ 

Er trat zwei Schritte vor und fuhr den jungen Man⸗ 
darin erboſt an: „Her mit der Perücking! Her!“ Dabei 
riß er ſie ihm aus der Hand. „Sie iſt mein Eigentum 
und du kannſt die Hand davong laſſeng! Ich kann tra⸗ 
gung, was ich will, falſche Perückong und ſogar falſche 
Augeng, ganz nach meinem Beliebang. Da, ſchau her, 
junger Froſch! Was wirſt du dazu ſaging? Willſt du 
mir auch das verbieteng?“ 

Er hatte bekanntlich ein falſches Auge. Indem er 
den Daumen an den Augenwinkel ſetzte, bohrte er es 
aus der Höhle, nahm es zwiſchen zwei Finger und zeigte 
es vor, indem er ſein Geſicht in höhniſch grinſende Fal⸗ 
ten legte. 

Die Leute fuhren zurück. Die beiden Poliziſten, die 
ihn gepackt hielten, ließen ihn los und traten erſchrocken 
von ihm weg. „Nun?“ fragte er lachend, „wer kann 
mir das nachmacheng? Wer vong euch kann ſo wie ich 
ſeine Auging herausnehmung?“ 

Keiner von ihnen hatte jemals ſo etwas geſehen. 
Sie alle ſtanden ſtarr und wortlos da. Der Oberprieſter 
bekam zuerſt die Sprache wieder; er ſchrie: „T' ien⸗ti⸗j in 
— o Himmel, Erde und Menſchen. Miao⸗ya, miao⸗ va 
— Wunder über Wunder! Er kann feine Augen heraus⸗ 
nehmen!“ 

„Miao⸗ya mu, miao⸗ ya mu — wunderbare Augen, 
wunderbare Augen!“ fielen die Erſchrockenen ringsum 
ein. 

„Jip⸗mo t'a yuet, jip⸗mo t'a yuet — was hat er 


— 368 — 


geſagt, was hat er geſagt?“ fragte der junge Mandarin, 
der ebenſo wie die andern erſchrocken war, Liang⸗hſſi. 

Dieſer letztere war vier Jahre lang bei Onkel 
Daniel geweſen und hatte von ihm viel gelernt. Er 
wußte auch, daß in Europa die Kunſt ſoweit vorgeſchrit⸗ 
ten iſt, falſche Augen, die den echten zum Verwechſeln 
ähnlich ſind, hervorzubringen. Um den allgemeinen 
Schreck zu benutzen, antwortete er: „Er will beweiſen, 
daß er wirklich ein heiliger und wundertätiger Lama iſt. 
So wie er ſich ſein eigenes Auge aus dem Geſicht genom⸗ 
men hat, will er auch den andern Anweſenden die Augen 
und Naſen entfernen. Er iſt ſogar erbötig, ihnen die 
Arme und Beine aus dem Leibe zu ziehen. Wer will es 
verſuchen, ſich von ſeiner wunderbaren Macht zu über⸗ 
zeugen?“ 

„Ngo put, ngo put — ich nicht, ich nicht,“ rief es 
rundum, indem die Bonzen und Mandarinen ſich noch 
weiter von Turnerſtick zurückzogen. 

„Niemand? Es braucht ſich aber keiner zu fürchten, 
denn er ſetzt jedes Glied, das er ausreißt, wieder an ſeine 
Stelle.“ Und deutſch fügte er hinzu: „Stecken Sie das 
Auge wieder hinein und tun Sie dann ſo, als ob Sie dort 
dem Oberprieſter das Bein herausreißen wollten.“ 

Turnerſtick brachte das Glasauge wieder in die 
Augenhöhle. Als er ſich aber dem Oberprieſter näherte, 
vor ihm niederbeugte und nach ſeinem Fuß griff, fuhr 
dieſer erſchrocken zurück und fragte: „Was will er? Was 
hat er vor?“ 

„Er will Ihrer Heiligkeit beweiſen, daß er alles kann, 
was ich ſagte. Er will Ihnen die beiden Beine heraus⸗ 
ziehen.“ 

Da drängte der Bedrohte ſich in die fernſte Ecke hin⸗ 
ter die Götterbilder und jammerte: „Vu, vu! Ngo put 


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huk ngo; put kam; ngo kiao — nein, nein! Ich will das 
nicht; ich mag das nicht; ich ſchrei'!“ 

Selbſt der Tong⸗tſchi wußte nicht, was er zu dem 
Wunder ſagen ſolle. Er wußte es ſich nicht zu erklären. 
war aber überzeugt, daß die Sache ganz natürlich zugehe. 
Der Schreck, welcher alle ergriffen hatte, war ihm ſehr 
willkommen. Er bat Liang⸗ſſi: „Sage ihm, daß wir ſein 
Wunder nicht verſuchen wollen. Wir glauben es, denn 
wir haben es ja bei ihm geſehen.“ 

Liang⸗ſſi winkte den Kapitän wieder zu ſich und er⸗ 
klärte dem Mandarin: „Ein Glück für den Ta, daß er 
geflohen iſt! Der Lama iſt von dieſen Herren unehr⸗ 
erbietig behandelt worden. Zur Strafe dafür hätte er 
dem Ta die Beine falſch und verkehrt wieder eingeſetzt, 
das rechte links, das linke rechts und beide mit den Zehen 
nach hinten. 

„Vu, vu!“ ſchrie der Ta aus dem Hintergrund. „Ngo 
put Huf, ngo put yuk — nein, nein! Ich will nicht, ich 
mag nicht!“ 

Der Tong ⸗tſchi wendete ſich mit ſehr ernſter Miene 
an den Gefängnisbeamten: „Mein kleiner Verwandter 
hat da jedenfalls zu ſchnell gehandelt. Sind Sie ſchon ein⸗ 
mal in Tibet geweſen?“ 

„Nein,“ antwortete der Gefragte ein wenig kleinlaut. 

„Oder haben Sie ſchon einmal einen Lama ge⸗ 
ſehen?“ 

„Nein.“ 

„Oder kennen Sie die Geſetze, nach denen die Lamas 
leben, und die Lehren, nach denen ſie handeln?“ 

„Ich habe die betreffenden Bücher noch nicht geleſen. 
Aber Ihre berühmte und erleuchtete Weisheit mag gnä⸗ 
digſt bedenken, daß ich dieſe fremden Weſen für Fu⸗len 

May, Der blaurote Methuſalem. 24 


— 370 — 


halten mußte, da der eine von ihnen die Sprache der Fu⸗ 
len redete!“ 

„Das ließe ſich ſehr leicht erklären. Während er vertieft 
auf ſeinem Platz ſaß und ſich in das All verſenkte, iſt ſein 
Geiſt durch fremde Länder geeilt und hat da die Sprache 
der Fu⸗len gehört. In dieſem Augenblick haben Sie ſeine 
Seele gezwungen, zurückzukehren und ſie hat dieſe Sprache 
noch in den Ohren und im Mund gehabt. Aber auch an⸗ 
genommen, daß dieſe verehrungswürdigen Herren Fu⸗len 
ſeien, ſo will ich meinen jungen Bruder fragen, ob Sie 
das Recht beſitzen, ſie ins Verhör zu nehmen?“ 

Der Gefragte blickte verlegen vor ſich nieder und 
antwortete nicht. 

„Sie find zwar noch jung, aber als Kian⸗fu und 
Moa⸗ſſe müſſen Sie die Grenzen der verſchiedenen Amts⸗ 
gewalten genau kennen. Jeder Fu⸗len iſt für uns ein 
Y-jin, ein fremder Mann. Hoffentlich wiſſen Sie, in 
weſſen Amtsbereich die Fremden gehören?“ 

„In denjenigen Ihrer Hoheit, des Tong«⸗tſchi.“ 

„Warum haben Sie da nicht ſofort nach mir ge⸗ 
ſandt, obwohl es ſich um einen ſo außerordentlichen Fall 
handelte?“ | 

Sein Ton war ſehr jtreng geworden. Es berrfchte 
die Stille größter Verlegenheit in dem Raume. Der 
Pang⸗tſchok⸗kuan ſtand da wie niedergeſchmettert, und 
auch die andern Mandarinen wagten kaum, ihre Augen 
zu erheben. Der junge Beamte verſuchte ſich einiger⸗ 
maßen herauszubeißen. Er antwortete: „Eben als Ihre 
Hoheit kam, war ich entſchloſſen, einen Boten zu ſenden, 
um Ihre große Erfahrenheit zu bitten, ſich hierher zu 
bemühen. Vorher aber wollte ich die Fremden verhören, 
um die erleuchteten Fragen Ihrer Ueberlegenheit beant⸗ 
worten zu können.“ 


— 371 — 


„Aber Sie haben ſich an ihnen vergriffen; das durfte 
nicht geſchehen. Sie wiſſen doch, daß wir keinen Fremden 
beſtrafen dürfen. Wenn ein Ausländer gegen unſre Ge⸗ 
ſetze handelt, ſo haben wir ihn ſeinem Geſandten zur 
Beſtrafung auszuliefern. Selbſt wenn dieſe Leute nur 
Fu⸗len ſind, ſo werden ſie ſich bei dem Vertreter ihres 
Herrſchers über Sie beſchweren, und dann können Sie 
nicht nur Ihren Rang als Beamter, ſondern ſogar die 
Würde Ihres literariſchen Grades verlieren! Aber ich 
will aus beſonderer Rückſicht gegen Ihre Jugend dieſe 
Herren bitten, von einer ſolchen Beſchwerde abzuſehen, 
und hoffe, daß Sie ihnen von jetzt an höflich und rück⸗ 
ſichtsvoll entgegenkommen, da ſie einſtweilen unter Ihrer 
Obhut bleiben müſſen.“ 

Und als der andre ihn fragend anblickte, fuhr er in 
belehrendem Ton fort: „Mein junger Kollege hat die 
Schuld dieſer Herren für größer gehalten, als ſie iſt. 
Sind ſie Lamas, ſo trifft ſie überhaupt keine Schuld, da 
ihre Heiligkeit ſie berechtigt, ſich in jedem Tempel nieder⸗ 
zulaſſen. Und ſind ſie Fu⸗len, ſo iſt ihre Schuld nur 
gering, da ſie nicht wiſſen konnten, daß das, was ſie 
taten, bei uns verboten iſt und ſehr ſtreng beſtraft wird. 
Ich werde dieſen Fall ſelbſt und ſehr genau unterſuchen 
und vertraue Ihnen bis dahin dieſe Leute an. Geben 
Sie ihnen eine gute Wohnung im Gefängnis, und ſor⸗ 
gen Sie für alle ihre Bedürfniſſe! Wir müſſen uns aller⸗ 
dings, bis wir ein gerechtes Urteil fällen können, ihrer 
Perſon verſichern, aber wir müſſen uns hüten, ſie jetzt 
ſchon als Schuldige und Sünder zu behandeln. Laſſen 
Sie Sänften für ſie kommen, auch für dieſen jungen 
Mann, der ihren Dolmetſcher macht und den wir nötig 
haben, weil wir ihre Sprache nicht verſtehen. Aber das 
muß heimlich geſchehen, damit ſie nicht von der draußen 


— 372 — 


ſtehenden Menge beläſtigt werden. Ich ſelbſt werde vor⸗ 
aneilen, um fie im Huok⸗tſchu⸗fang!) zu erwarten und 
mich zu überzeugen, daß ſie uns ſicher ſind, ohne ſich 
über uns beklagen zu müſſen.“ 

Er entfernte ſich, wobei ſich alle tief vor ihm ver⸗ 
neigten. Die Tür wurde hinter ihm ſchnell wieder ver⸗ 
ſchloſſen. 

Turnerſtick ſtand noch frei da. Keiner der Poliziſten 
war ſo kühn geweſen, die Hand wieder an ihn zu legen. 
Der Oberprieſter hielt noch immer vorſichtig in ſeiner 
Ecke und ſagte jetzt, den Blick ängſtlich auf den Kapitän 
gerichtet: „Haben Sie es gehört, was geſchehen ſoll? Fort 
follen fie. Führt fie in den Hof und ſchickt nach Palankins! 
Sie können durch die Hintergaſſe fort, wo niemand ihnen 
Beachtung ſchenkt. Ich aber werde den Tempel ver⸗ 
ſchloſſen halten müſſen, um abzuwarten, was dieſe Leute 
ſind. Sind ſie Fu⸗len, ſo dürfen unſre Götter erſt dann 
auf ihre Sitze zurück, wenn dieſe gereinigt und wieder ge⸗ 
weiht worden ſind. Führt ſie hinaus! Fort mit ihnen!“ 

Es war ihm nur darum zu tun, Turnerſtick nicht 
mehr zu ſehen. Die beiden Beine ausgeriſſen und ver⸗ 
kehrt wieder eingeſetzt zu bekommen, das ſchien ihm das 

denkbar größte Unglück zu ſein. 
ö Jetzt trat der junge Mandarin zu den Gefangenen, 
machte ihnen eine Verbeugung und ſagte: „Die hohen 
Herren haben gehört, was der mächtige Tong⸗tſchi be⸗ 
fohlen hat. Wollen Sie die Güte haben, mir zu folgen?“ 

„Was meint er?“ fragte der Kapitän. 

„Er will uns fortführen,“ erklärte Liang-ffi. 

„Wohin?“ 

„In das Gefängnis.“ 


) Gefängnis. 


— 373 — 


„Fällt mir nicht ein! Wenn er ſich ſelbſt einſchließen 
will, ſo habe ich nichts dagegen, mich aber laſſe ich nicht 
hinter Schloß und Riegel ſperren. Nicht wahr, Mijn⸗ 
heer?“ 

„Neen, ik ook niet. Ik heb Honger; ik wil eten!“ 

„Das ſollen Sie ja,“ drängte Liang⸗ſſi. „Sie wer⸗ 
den es im Gefängnis nicht ſchlecht haben. Wir bekom⸗ 
men gute Zimmer und auch Eſſen.“ 

„Aber was für welches!“ 

„Gutes! Der Tong⸗tſchi hat befohlen, daß man gut 
für uns ſorgen ſoll. Widerſtand würde ganz vergebens 
ſein. Nur wenn wir uns fügen, können wir gerettet wer⸗ 
den. Sie können ſich darauf verlaſſen, daß Herr Degen⸗ 
feld uns nicht ſtecken laſſen wird.“ 

„Ja, das iſt freilich ſicher. Wollen wir mitgehen, 
Mijnheer?“ 

„Ja,“ antwortete der Dicke, der überhaupt nur ſtets 
das wollte, was ſeine Freunde wollten. „Wij willen met 
gaan.“ 

„Nun gut! Aber vorher will ich dieſem Oberprieſter 
noch eine Angſt einjagen. Er ſieht mich an wie das Kar⸗ 
nickel den Eisbär. Der Mann muß großartige Bange 
vor mir haben. Was heißt in dieſem unverſtändlichen 
Dialekt: Ich verlange Ihre Augen?“ 

„Ngo Hao ling⸗ yen,“ antwortete Liang⸗ſſi leiſe. 

„Ngo vao ling⸗ yen. Das kann ich mir für dieſen 
Augenblick merken.“ 

Er ſchritt langſam auf den Oberbonzen zu, nahm 
ſein Auge heraus, brachte es wieder in die Höhle zurück 
und ſagte dann, die beiden Hände nach dem Geſichte des 
Angſterfüllten ausſtreckend: „Ngo vao ling⸗yen!“ 

„Pen ven! T'ien⸗na, Tieu ſchin — meine Augen! 


— 374 — 


O Himmel, zu Hilfe!“ ſchrie der Bedrängte auf, indem er 
abermals flüchtete. 

So verließ der Kapitän das Schlachtfeld als Sieger 
und folgte ſeinen Gefährten hinaus zu den mittlerweile 
geholten Sänften, worin man ſie nach dem Gefängnis 
brachte. 


Dreizehntes Kapftel. 
Dinter Schloß und Riegel. 


Der Tong⸗tſchi ſorgte dafür, daß unſre Helden gute 
Wohnung erhielten, die eigentlich für höhere Staats⸗ 
gefangene beſtimmt war, und wies dann den Pang⸗ 
tſchok⸗kuan an, ihnen eine feine Mahlzeit und alles Er⸗ 
laubte, was ſie verlangen würden, zu verabreichen. 
Daran fügte er die Bemerkung, daß er zwar heute ver⸗ 
hindert ſei, morgen aber mit hohen Mandarinen kommen 
werde, um den Stand und das Herkommen der Gefan⸗ 
genen feſtzuſtellen. Bis dahin ſollten dieſe gut bewacht 
werden. 

„Ich werde ſie nicht aus den Augen laſſen,“ ver⸗ 
ſicherte der Beamte. „Es ſoll mir nicht ſo gehen, wie 
meinem Stellvertreter, der nun heute ſelbſt Gefangener 
iſt, weil er geſtern die drei Götterdiebe entwiſchen ließ.“ 

„Er hat ſeine Strafe verdient,“ ſprach der Tong⸗iſchi 
ſtreng. „Er iſt nicht aufmerkſam genug geweſen.“ 

„Aber zu mir ſagte er, daß ihn keine Schuld treffe. 
Er weiß nicht, wie es möglich geweſen iſt, daß ſie ent⸗ 
kommen konnten. Ich habe mich heute erkundigt und 
weiß nun, auf welche Weiſe ſie ihre Freiheit erlangt 
haben.“ 

„Nun, wie?“ 

„Geſtern ſpät am Abend iſt einer hier geweſen, der 


— 376 — 


von den Wachen eingelaſſen wurde, weil er das hohe 
Zeichen beſaß —“ 

„Der muß alſo ein vornehmer Kuan⸗fu geweſen 
fein,” fiel der Tong⸗tſchi ein. 

„Nein, ein Betrüger iſt er geweſen, denn er hat die 
Gefangenen befreit, was ein Kuan⸗fu nicht tun würde.“ 

„Dieſer Mann? Unmöglich! Wer das hohe Zeichen 
beſitzt, der iſt ein hoher Mandarin.“ 

„Eigentlich, ja. Aber es iſt auch möglich, daß das 
Zeichen ein falſches, ein nachgemachtes war. Man kann 
das des Abends wohl nicht genau erkennen. Der Beamte 
hat dieſen Mann nicht zu beaufſichtigen gewagt, da er 
ihn für einen hohen Mandarin hielt. Heute nun erfuhr 
ich von den Wachen, daß derſelbe mit den drei Gefan⸗ 
genen durch zwei Mauerpforten hinaus iſt.“ 

„So trifft den Wächter doch immer die Schuld. Wenn 

er auch den Kuang⸗fu nicht beaufſichtigen durfte, ſo 
mußte er aber doch die Gefangenen bewachen!“ 
w ir würde das nicht geſchehen können. Nun ich 
ſelbſt die Aufſicht über dieſes Gefängnis führe, würde ich 
mir, wenn en ſolcher Fall eintreten ſollte, das Zeichen 
genau betrachten. Man muß ſehr vorſichtig ſein, zumal 
wenn man ſolche Gefangene hat wie diejenigen, die ich 
jetzt herbegleitet habe.“ 

Der Tong⸗tſchi gab ihm ſehr ernſthaft den Rat, 
dieſen Vorſatz ja auszuführen, und entfernte ſich dann, 
um nach Hauſe zu gehen, wo er von dem Methuſalem mit 
Ungeduld erwartet wurde. 

Dieſer hatte indeſſen mit Gottfried und Richard ſehr 
gut zu Mittag geſpeiſt, aber mit wenig Appetit, da er 
ſich in großer Sorge um die Freunde befand. Der Tong⸗ 
tſchi gab ſich Mühe, ihn zu beruhigen, doch vergebens. 

„Morgen werden ſie verhört,“ ſagte der Mandarin. 


— 377 — 


„Bis dahin iſt eine lange Zeit, und es wird uns wohl 
ein guter Gedanke kommen.“ — „Wenn wir auf die 
Gedanken warten wollen, ſo ſind meine Gefährten ver⸗ 
loren. Wir müſſen zwar denken, vor allen Dingen aber 
auch handeln. Wer wird das Verhör führen?“ — „Ich 
und der Fu⸗yuen.“ — „Der höchſte Beamte der Stadt, 
der zugleich der Stellvertreter des Generalgouverneurs 
der ganzen Provinz iſt? Da ſind meine Freunde ver⸗ 
loren. Wird er es glauben, daß ſie Lamas ſind?“ — 
„Nein; er iſt in Lhaſſa und auch im Land der Mongolen 
geweſen. Auch hat er ſoviel mit Ausländern verkehrt, 
daß er ſofort erkennen wird, wen er vor ſich hat.“ — „So 
dürfen wir es unmöglich bis zu dieſem Verhör kommen 
laſſen. Meine Gefährten müſſen ſchon morgen früh frei 
ſein. Ich muß ſie ſchon heut nacht aus dem Gefängnis 
holen!“ 

Der Mandarin ſah nachdenklich vor ſich nieder, dann 
ſagte er: „Das beſte, was ich Ihnen raten kann, iſt, daß 
Sie die Sache ruhig abwarten. Man darf ihnen ja nichts 
tun. Man muß ſie dem Vertreter ihres Landes aus⸗ 
liefern.“ — „Aber wie man ſie dabei behandeln wird! 
Und ohne Strafe kommen ſie nicht davon.“ — „Die 
Strafe wird keine ſchwere ſein; aber mit Ihrer Reiſe iſt 
es dann aus. Und wer ſagt mir, daß ich trotz aller Vor⸗ 
ſicht nicht doch auch ſelbſt in die Angelegenheit verwickelt 
werde!“ — „Das haben Sie freilich zu befürchten, denn 
ich muß leider offen geſtehen, daß dieſe Leute nicht allzu 
vorſichtig ſind.“ — „Nicht nur unvorſichtig ſind ſie, ſon⸗ 
dern auch übermütig trotz aller Gefahr. Sie hätten dieſen 
Tu⸗lu⸗ne⸗re⸗ſi⸗ti⸗ ki ſehen ſollen, als er die Augen her⸗ 
ausnahm.“ — „Doch nur das eine!“ — „Ja. Dann ver⸗ 
langte er das Bein des Oberprieſters. Welcher andre 
wagt das, wenn er ſich in einer ſolchen Gefahr befindet! 


— 378 — 


Ich habe noch nie einen Menſchen geſehen, welcher ſeine 
Augen entfernen und ſie wieder hineintun kann, ohne 
das Geſicht zu verlieren.“ 

Der Student erklärte ihm die Sache und fuhr dann 
fort: „Sie müſſen frei werden, ſchon um Ihretwillen! 
Darf ich auf Ihre Hilfe rechnen?“ — „Hm! Ich bin 
Beamter.“ — „Sie find Kuan⸗fu, ſogar Tong⸗tſchi, aber 
Sie haben trotzdem in der letzten Nacht drei Gefangenen 
die Freiheit gegeben.“ — „Eben deshalb kann ich nun 
heut nichts tun. Dieſer junge Pang⸗tſchok⸗kuan iſt trotz 
ſeiner Jugend ein tüchtiger Mann. Er wird ſich nicht 
übertölpeln laſſen.“ — „Und es muß doch verſucht wer⸗ 
den!“ — „Wollen Sie es wagen, ſo begeben Sie ſich in 
eine große Gefahr. Ich werde Sie nicht hindern, denn 
Sie ſind verſchwiegen und werden mich nicht verraten. 
Aber verlangen Sie nicht, daß ich mich perſönlich be⸗ 
teilige, und führen Sie die Sache ſo aus, daß ich dabei 
gar nicht in Betracht komme! Ich werde jetzt in mein 
Zimmer gehen, um zu überlegen. Denken auch Sie nach! 
Selbſt wenn Sie etwas wagen wollen, iſt vor der Nacht 
nichts zu tun. Bis dahin wird wohl ein Entſchluß kom⸗ 
men.“ 

Auch der Methuſalem ſuchte ſeine Stube auf und 
ging darin ruhelos hin und her. Sie wurde ihm zu eng, 
und er begab ſich in den Garten, wo er den Wichſier und 
Richard fand, die ſich ſehr angelegentlich mit demſelben 
Thema beſchäftigten. Sie ſetzten ſich nieder und ſchmie⸗ 
deten Pläne. 

„Es handelt ſich nicht nur um Turnerſtick und den 
Mijnheer,“ ſagte Degenfeld. „Dieſen beiden könnte ein 
kleiner Denkzettel gar nichts ſchaden; ſie haben ihn reich⸗ 
lich verdient; aber daß Liang⸗ſſi nun mit in dieſe Tinte 
geraten ſoll!“ 


— 379 — 


„Es weiß doch niemand, daß er zu ihnen gehört,“ 
meinte Richard.“ 

„Jetzt noch nicht, aber ſie werden es erfahren. Wenn 
fie morgen vor den Fu⸗yuen kommen, jo werden alle 
Ausreden hinfällig; das ſehe ich voraus. Dieſem Be⸗ 
amten machen ſie nichts weis!“ 

„Dat glaube auch ich,“ ſtimmte Gottfried bei. „Am 
allerbeſten wäre es, man ſchickte mir hin, ſie zu ver⸗ 
hören. Mein Urteil würde lauten: Jebt jedem einen 
jehörigen Naſenſtüber und laßt ſie dann laufen, ſoweit 
ſie wollen! Hier in China Jötters zu ſpielen! So etwas 
iſt noch aus keine Dachtraufe jefallen! Wie ſie nur auf 
dieſen Jedanken jekommen ſind?“ 

„Jedenfalls hat Turnerſtick ihn gehabt, und der gute 
Dicke iſt mit in die Patſche getrollt. Ich wette, daß beide 
noch gar nicht glauben, daß es ihnen unter Umſtänden 
recht ſchlimm ergehen kann. Hätte ſich Liang⸗hſſi nicht ſo 
mutig ihrer angenommen, und wäre der Mandarin nicht 
noch einmal zu ihnen zurückgekehrt, ſo hätten ſie in der 
Gefahr geſchwebt, vom Pöbel gelyncht zu werden. Kommt 
es nun morgen heraus, daß Liang⸗ſſi zu ihnen gehört, ſo 
iſt es um ihn geſchehen. Er iſt ein Chineſe; ihn kann 
kein Konſul und ſein Geſandter retten. Ueber ihm und 
auf ihn wird ſich das ganze Gewitter entladen. Liang⸗ſſi 
muß unbedingt befreit werden!“ 

„Ja, und ſollte er mit Ketten an dat Firmament 
jebunden ſein, wie Wallenſtein jeſchworen hat. Sollte 
uns denn keine jute Idee beikommen! Mein Kopf iſt doch 
ſonſt kein Kohlenkaſten!“ 

„Aber ich wüßte wohl etwas; aber es geht nicht.“ 

„Er weiß etwas, doch jeht es nicht! Nun, da wiſſen 
Sie eben nichts, mein oller nn Wat iſt es 
denn, wat Sie wiſſen?“ 


— 380 — 


„Wenn der Tong«⸗tſchi wollte, jo wäre uns geholfen.“ 

„Ja, dat weiß ich auch. Er hat doch die Ausweis⸗ 
marken, die ihm dat Tor und alle Türen öffnen, wie Sie 
erzählen.“ 

„Ja, aber ich kann es ihm nicht verdenken, wenn er 
ſich nicht perſönlich in Gefahr begeben will. Bei ihm ſteht 
eben mehr auf dem Spiel als bei jedem andern, und wir 
können von ihm nicht verlangen, daß er für uns alles, 
geradezu alles wagt, während es eigentlich ſeine Pflicht 
wäre, das gerade Gegenteil zu tun.“ 

„Richtig! Aberſt wat er nicht kann oder nicht will, 
dat können doch wir!“ 

„Was?“ 

„Als Mandarinen ins Jefängnis jehen und dann 
mit die Jefangenen wieder herausſpazieren.“ 

„Daran habe auch ich ſchon gedacht. Aber das iſt 
leichter gedacht als getan!“ 

„Dat weiß ich ſehr wohl. Es läßt ſich ja überhaupt 
alles leichter denken als tun. Denke ich mich zum Beiſpiel, 
daß ich Ihre Hukah rauche, da haben Sie dat Mundſtück 
zwiſchen die Zähne, und ich kann mich den Rauch in⸗ 
ſchnuppern. Ich weiß auch ebenſo jenau, daß die Sache 
mit eine jewiſſe Jefahr verbunden iſt, aber ich kann den 
Jedanken nicht los werden, daß wir unfern Jeldbrief⸗ 
träger von Ninive nochmal wiederſehen. Wollen Sie 
hinein in dat Huok⸗tſchu⸗fang, ſo bin ich augenblicklich 
mit dabei.“ N 

„Ich auch,“ ſagte Richard. 

„Das glaube ich,“ antwortete Degenfeld dem letz⸗ 
teren. „Dich aber könnte ich nicht gebrauchen. Du treibſt 
Chineſiſch erſt ſeit unſrer Reiſe; Gottfried aber hat ſich 
ſchon vorher ſo oft und eingehend mit ſeinem guten 
Freunde Ye⸗kin⸗li herumgeärgert, daß, um mit Turner⸗ 


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ſtick zu ſprechen, genug Endungen an ihm hängen ge⸗ 
blieben ſind. Er kann auch ſeiner Geſtalt wegen leichter 
als du für einen Chineſen gehalten werden, ganz abge⸗ 
ſehen davon, daß du zu jung biſt.“ 

„Schön!“ meinte Gottfried. „Alſo mein Jedanke 
jefällt Ihnen?“ 

„Ich ſagte ja bereits, daß ich ihn ſelbſt auch ſchon ge⸗ 
habt habe. Wenn ich mir die Sache recht überlege, ſo wird 
uns wohl nichts andres übrig bleiben.“ 

„Jut. Ich jehe alſo mit?“ 

„Ja. Allein möchte ich es nicht wagen. Vier Fäuſte 
ſind mehr wert als zwei.“ 

„Sehr richtig! Wollen dieſe Anjelegenheit alſo wei⸗ 
ter betrachten! Wenn wir den Plan ausführen wollen, 
brauchen wir vor allem den Hauptſchlüſſel in Jeſtalt von 
eine Einlaßmarke.“ 

„Den hat der Tong⸗tſchi.“ 

„Und jiebt ihn nicht her?“ 

„Ich zweifle.“ 

„Und dann brauchen wir chineſiſche Kleider.“ 

„Mandarinenanzüge ſogar!“ 

„Hm. Und endlich müſſen wir Sänften haben, 
nicht?“ 

„Ja. Gehen können die drei nicht, wenn es uns 
gelingen ſollte, ſie bis vor das Tor des Gefängniſſes zu 
bringen. Die Kleidung des Mijnheer würde auffallen 
und alles verraten.“ 

„So müſſen wir Sänftenträger beſtechen, und dat 
koſtet Jeld.“ 

„Das Geld würde ich nicht ſparen; aber welcher 
Fremde findet gleich Kulis, denen man trauen darf. Wir 
wären gezwungen, dieſen Leuten unſern Plan mitzu⸗ 


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teilen, und müßten gewärtig ſein, daß die Kerls zum 
Pang⸗tſchok⸗kuan liefen, um ihm alles zu ſagen.“ 

„Wie viele brauchen wir ihrer denn?“ 

„Zwölf.“ 

„Zwölf? Warum ſo viele?“ 

„Weil wir ſechs Perſonen ſind. Es verſteht ſich ja 
ganz von ſelbſt, daß wir nicht nach hier zurückkehren 
könnten. Wir müßten ſofort die Stadt verlaſſen.“ 

„O wehl Und die Straßen und Jaſſen ſind alle ver⸗ 
ſchloſſen!“ 

„Das würde uns wenig hindern, da ich den Paß 
habe, der alle Tore öffnet, leider aber nicht Gefängnis⸗ 
türen.“ 

„Hm! Je länger ich mich die Sache betrachte, deſto 
freundlicher lächelt ſie mir an. Ich werde mal einige 
Augenblicke auf und nieder ſteigen!“ 

Er ſtand von ſeinem Sitz auf und ging einigemal 
im Garten hin und her. Dabei warf er die langen 
Arme um ſich und zog allerlei wunderliche Geſichter, 
lachte dabei laut auf, brummte wieder ſehr ernſt vor ſich 
hin und kehrte endlich mit einem höchſt pfiffigen Geſicht 
wieder zurück. 

„Ich habe es!“ ſagte er. „Die janze Jeſchichte liegt 
hell und klar vor meine jeiſtige Fähigkeiten; nur mit die 
Sänftenträger weiß ich noch nicht, woher ſie nehmen.“ 

„Nun, ſchieß los!“ 

„Soll jeſchehen. Sie wiſſen wohl, daß ich länger bin 
als Sie?“ 

„Natürlich! Was ſoll dieſe Frage?“ 

„Noli turbare eirculos meos! — ſtören Sie mir 
nicht in meinem Zirkel! Auch werden Sie bemerkt haben, 
daß Sie dicker ſind als ich?“ 

„Zu meiner Kenntnis iſt auch das gekommen, ja.“ 


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„Und wat ſagen Sie nun von die Jeſtalt unſres 
heutigen Wirts in Beziehung auf die unſrige Figur?“ 
„Nun, er iſt nicht ganz ſo beleibt wie ich und auch 
nicht ganz ſo lang wie du.“ N 

„Janz recht! Er ſteht ſo mitten inne. Darum jebe 
ich mir der Ueberzeugung hin, daß ſeine Anzüge uns 
beiden ſo leidlich paſſen würden, wenigſtens für des 
Nachts.“ 

„Möglich, ſogar wahrſcheinlich. Aber denkſt du 
etwa, daß er ſie uns leihen würde?“ 

„Warum nicht? Und ſollte er ſie nicht herjeben 
wollen, nun, ſo ſchafft unſer Jottfried Rat.“ 

„Wieſo?“ 

„Ich mauſe fie, oder ek muife zij, wie der Mijnheer 
ſagen würde.“ 

„Gottfried, wie lautet das ſiebente Gebot?“ 

„Weiß ſchon: Du ſollſt nicht ſtehlen! Doch will ich 
dat auch jar nicht. Er ſoll ſeine Habituſſens zurück er⸗ 
halten. Und dieſe Medailljens, die wir brauchen, wer⸗ 
den ook gemuiſt, wenn wir fie nicht anders bekommen 
können.“ | 

„Gottfried, Gottfried!“ 

„Methuſalem, Methuſalem! Wenn Sie wat Beſſeres 
wiſſen, ſo ſagen Sie es! Sie können nur als Mandarin 
und mit einem Zeichen verſehen ſich Eingang verſchaffen.“ 

Degenfeld warf ein, daß er vor allen Dingen hören 
müſſe, welchen Vorſchlag ihm der Tong⸗tſchi machen 
werde. Denn es war klar, daß der durch die Angelegen⸗ 
heit immerhin ebenfalls gefährdete Beamte auch auf einen 
Ausweg ſinnen würde. 

Aber der Reſt des Nachmittags verging, ohne daß 
der Mandarin ſich ſehen ließ. Es wurde Abend und man 
rief die drei zum Mahl in das Haus. Es war für ſie 


— 384 — 


allein gedeckt. Degenfeld fragte den auftragenden Diener 
nach ſeinem Herrn und hörte, daß derſelbe Beſuch 
empfangen habe. „Es iſt der Ho⸗po⸗ſo, der mit ihm in 
ſeinem Zimmer ſpeiſt,“ fügte der redſelige Mann hinzu. 

„Der Ho⸗po⸗ſo? Wann iſt er gekommen?“ 

„Vor einer halben Zeit.“ 

Eine halbe Zeit iſt gerade eine Stunde. Alſo ſchon 
fo lange war er da! Er aß mit dem Tong⸗tſchi, ohne ſich 
vor den Gäſten ſehen zu laſſen! Das war ſonderbar. 

Später hörte Degenfeld die Schritte mehrerer Leute, 
welche draußen am Speiſezimmer vorübergingen. Dann 
erfuhr er, daß der Ho⸗po⸗ſo ſich entfernt habe. 

„Das iſt beleidigend,“ ſagte er zu Gottfried. „Wir 
haben ihn von der Piratendſchunke geholt; er verdankt 
uns das Leben; er hat auch dem Tong⸗tſchi geſagt, daß er 
morgen oder ſogar ſchon heut kommen wolle, um uns zu 
ſehen, und nun er da iſt, ſucht er uns nicht auf und ent⸗ 
fernt ſich wieder, ohne uns ſein mongoliſches Angeſicht 
gezeigt zu haben. Was ſoll man davon denken?“ 

„Wat ich denken ſoll, dat weiß ich.“ 

„Nun, was?“ 

„Der Tong⸗tſchi wird erzählt haben, wat jeſchehen 
iſt, und nun mag dieſer liebe Hafen⸗ und Flußmeiſter 
nichts von uns wiſſen. Als er ſich in Jefahr befand, 
waren wir ihm willkommen; nun aber wir uns in 
Jefahr befinden, beeilt er ſich, heiler Haut nach Hauſe zu 
gehen. Dat iſt ſo der Lauf der Welt und die Jepflogen⸗ 
heit des Menſchenjeſchlechts.“ ö 

„Aber feig und undankbar!“ 

„Wat mir betrifft, ſo bin ich nicht zu den Chine⸗ 
ſigen jekommen, um Mut und Dankbarkeit bei ſie zu 
ſuchen. Meinetwegen mag dieſer Ho⸗po⸗ſo ſich —— —7 

Er hielt inne, denn der Tong⸗tſchi trat ein, grüßte 


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ſehr freundlich und erkundigte ſich, wie ſie bedient wor⸗ 
den ſeien. Der Methuſalem antwortete anerkennend und 
war dann ziemlich erſtaunt, als der Wirt ihm ſagte, daß 
der Ho⸗po⸗ſo dageweſen und ſoeben fortgegangen ſei. Er 
hatte erwartet, daß er dieſen Beſuch verheimlichen werde, 
um ſeine Gäſte nicht zu kränken. 

„War er nicht gekommen, uns zu begrüßen?“ konnte 
der Student ſich doch nicht enthalten zu fragen. 

„Ja,“ antwortete der Mandarin ganz unbefangen. 
„Er hatte ſich ſehr darauf gefreut, Sie zu ſehen.“ 

„So kommt er wieder?“ 

„Nein.“ 

„Dann iſt es mir unbegreiflich, daß er gegangen iſt, 
ohne ſich ſehen zu laſſen!“ 

„Es fiel ihm plötzlich ein, daß er etwas ſehr Wich⸗ 
tiges vergeſſen hatte; darum mußte er ſich beeilen und 
hat mich gebeten, ihn zu entſchuldigen.“ 

„Deſſen bedarf es nicht. Wir dürfen ja nicht ſo unbe⸗ 
ſcheiden ſein, ihn von wichtigen Dingen abzuhalten.“ 

Ueber das Geſicht des Tong⸗tſchi glitt ein feines 
Lächeln. Er wußte gar wohl, wie Degenfeld ſeine Worte 
meinte, tat aber gar nicht ſo, als ob er ihn verſtehe. Er 
ſetzte ſich zu den dreien an den Tiſch, verlangte Pfeifen 
und gab, als dieſe brannten, dem Diener den Befehl, ſich 
zurückzuziehen und jede Störung fern zu halten. 

Nach dieſer Einleitung wollte der Methuſalem ver⸗ 
muten, daß der Mandarin nun von den Gefangenen 
ſprechen und vielleicht einen guten Rat zum Vorſchein 
bringen werde. Dem war aber nicht ſo, denn der Chineſe 
begann wieder von dem Ho⸗po⸗ſo zu ſprechen. Er ſagte: 
„Dieſer Mandarin hat über den Hafen von Kuang⸗tſéu⸗ 
fu und alle Flüſſe des Landes zu gebieten. Es darf ohne 
ſeine Erlaubnis kein Schiff kommen oder gehen. Vorhin 

May, Der blaurote Methuſalem. 25 


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nun beſann er ſich darauf, daß der Kapitän eines Tſ'ien⸗ 
kiok um die Genehmigung nachgeſucht habe, abzuſegeln. 
Der Ho⸗po⸗ſo hatte das vergeſſen, und da das Schiff 
morgen ſchon weit von hier ſein muß, ſo eilte er fort, um 
das Verſäumte nachzuholen.“ 

Tſ'ien⸗kiok heißt wörtlich: Tauſendfuß. So werden 
die leicht gebauten Kriegsdſchunken genannt, welche be⸗ 
ſonders die Flüſſe des Binnenlandes und Kanäle be⸗ 
fahren. Sie werden außer von den Segeln auch durch 
eine Menge von langen Rudern fortgetrieben, die zu bei⸗ 
den Seiten des Fahrzeugs in das Waſſer greifen. Die 
ſchnelle Bewegung und große Anzahl dieſer Ruder iſt der 
Grund, daß man dieſe Fahrzeuge oft Tauſendfüße nen⸗ 
nen hört. 

Was aber hatte ſo ein Schiff heute abend für eine 
Wichtigkeit? Warum ſprach der Tong⸗tſchi von demſelben, 
wo man von ihm ganz andres erwartet hatte? 

„Haben Sie ſchon einmal fo einen Tſ'ien⸗kiok rudern 
ſehen?“ fragte er in einem Ton, als ob dieſer Geſprächs⸗ 
gegenſtand der vorzüglichſte ſei, den es nur geben könne. 

„Nein,“ antwortete der Methuſalem kurz. 

„Sie werden es noch ſehen und ſich über die Schnel⸗ 
ligkeit wundern, mit welcher es in kurzer Zeit große 
Strecken zurücklegt.“ 

„Später! Heut aber habe ich an ganz andres zu 
denken!“ 

„O, warum wollen Sie nicht auch einmal von 
einem Tauſendfuß ſprechen oder hören? Er wird zwei 
Stunden nach Mitternacht abgehen, kann aber auch vor⸗ 
her bereit dazu ſein.“ 

„So!“ dehnte Degenfeld. 

„Er muß nämlich noch in dieſer Nacht fort, um 


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einen Hao⸗tſchang⸗tii) nach Schü⸗juan zu bringen. Wiſ⸗ 
ſen Sie, wo Schü⸗juan liegt?“ 

„Nein.“ 

„Es liegt jenſeits hoch oben am Pe⸗kiang, wenn 
man nach Schao⸗tſchéu fährt.“ 

Jetzt wurde der Methuſalem aufmerkſam, denn die 
letztgenannte Stadt lag auf dem Weg, den er einſchlagen 
wollte. Warum erwähnte der Mandarin ſie? Hatte er 
doch einen Grund, von dem Tauſendfuß zu ſprechen? 

„Dieſes Schiff,“ fuhr er fort, indem er mit den 
kleinen Augen blinzelte, „iſt das ſchnellſte, das ich kenne. 
Wenn es heute zwei Stunden nach Mitternacht fortfährt, 
wird es übermorgen noch vor Mittag den Pe⸗kiang er⸗ 
reichen, wozu ein andres Schiff zwei volle Tage braucht.“ 

Es war klar, er ſagte das nicht ohne eine gewiſſe Ab⸗ 
ſicht Sollte das etwa der Rat ſein, den er hatte geben 
wollen? Wollte er als Beamter ihn nicht direkt erteilen, 
ſondern ihn erraten laſſen? Dies war immerhin anzu⸗ 
nehmen, und darum fragte der Methuſalem: „Nimmt 
denn ein Kriegsſchiff auch Fahrgäſte mit?“ 

„Ja, wenn ſie dem Kapitän empfohlen ſind.“ 

„Auch Fremde?“ 

„Jeden, der eine Empfehlung beſitzt.“ 

„Und muß dieſelbe eine ſchriftliche ſein?“ 

„Ja. Noch beſſer aber iſt es, wenn ihr eine münd⸗ 
liche vorangegangen iſt. Aber wer einen Paß beſitzt, wie 
zum Beiſpiel ich Ihnen ausgeſtellt habe, bedarf deſſen 
gar nicht. Beſitzt er aber daneben auch noch eine ſchrift⸗ 
liche und mündliche Empfehlung, ſo kann er auf dem 
Tauſendfuß ſchalten und walten, als ob dieſer ſein Eigen⸗ 
tum ſei.“ 

„Das würde der Kapitän ſich nicht gefallen laſſen!“ 
ee 


— 388 — 


„O, was iſt der Kapitän einer Flußdſchunke! Nichts, 
gar nichts! Sie wiſſen ja, daß China gar keine See⸗ 
offiziere beſitzt. Sie exiſtieren nur dem Namen nach. Ein 
Soldat wird zu Lande oder zu Waſſer verwendet, ganz 
wie es ſeinem Vorgeſetzten beliebt. Landoffiziere komman⸗ 
dieren auf Dſchunken, und Seeoffiziere befehligen Land⸗ 
abteilungen, und dabei verſtehen ſie keins von beiden. Ich 
bin Chineſe, aber ich kenne unſre Mängel und weiß recht 
gut, weshalb wir in jedem Krieg, den wir mit den Frem⸗ 
den führen, geſchlagen werden und geſchlagen werden 
müſſen. Der Kapitän dieſes Tauſendfußes iſt ein ge⸗ 
wöhnlicher Scheu⸗yü⸗tſiang⸗ſſund, auch Scheu=pi!) ge⸗ 
nannt, dem kaum ſeine Soldaten gehorchen. Die eigent⸗ 
liche Führung des Schiffes fällt, wie auch bei den 
Handelsdſchunken, dem Ho⸗tſchang zu.“ 

„Und hat der Yao⸗tſchang⸗ti etwas zu befehlen?“ 

„Der Steuereintreiber? Dieſe Leute treten überall 
befehlend auf und gebärden ſich, als ob ſie hohe Man⸗ 
darinen ſeien; aber ſie haben nur Macht über die ſäu⸗ 
migen Steuerzahler, ſonſt über keinen Menſchen. Sie 
brüllen einen jeden an, kriechen aber in dem Staube, 
wenn er ſie noch lauter anſchreit.“ 

„Dann muß eine Segel⸗ und Ruderfahrt mit ſolchen 
Leuten ſehr intereſſant ſein.“ 

„Das iſt ſie gewiß. Vielleicht haben Sie bald 
Gelegenheit, eine ſolche Fahrt zu unternehmen, da Sie 
ja, wie ſie mir ſagten, auch den Pe⸗kiang hinauf wollen.“ 

„Iſt Ihnen der Kapitän des Tauſendfußes be⸗ 
kannt?“ 

„Ja. Der Ho⸗po⸗ſo hat mir ſeinen Namen genannt.“ 

„Und wohl auch der Steuereintreiber?“ 

„Auch dieſer. Ich kenne ihn perſönlich. Er iſt ein 
I neben Heike Hauptmann, 


— 389 — 


kleiner, dürrer Mann, dünkt ſich aber ein Rieſe von 
Verſtand und Würde zu ſein. Er wird von allen ausge⸗ 
lacht, die keine Steuern ſchuldig ſind. Es befinden ſich 
auf dieſem Tauſendfuß einige Waren, die ich holen 
lafien will.“ 

„Wann?“ 

„Nach Mitternacht.“ 

„Warum ſo ſpät und wenn alle Tore der Gaſſen 
verſchloſſen ſind?“ 

Er blinzelte wieder ſehr liſtig mit Di Augen und 
antwortete: „Weil — — nun, Ihnen kann ich es an⸗ 
vertrauen, weil es Waren ſind, von denen niemand 
etwas wiſſen darf.“ 

„Dürfen die Träger denn durch die Gaſſen? Wird 
man ihnen die Tore öffnen?“ 

„Ganz gewiß, denn ich denke, es wird einer dabei 
ſein, der einen guten Paß beſitzt.“ 

„Und dieſer Mann muß mit ihnen gehen?“ 

„Gehen? O nein! Ein Mann, der einen ſolchen 
Paß beſitzt, darf nicht gehen. Er iſt zu vornehm dazu. 
Auch muß ich die Waren in Sänften holen laſſen, damit 
ſie nicht von den Wächtern geſehen werden.“ 

Der Methuſalem begann zu begreifen. Um ſich 
völlig zu überzeugen, ob er recht vermute, erkundigte er 
ſich noch weiter: „Wie viele Sänften werden Sie ſen⸗ 
den?“ 

„Eigentlich nur ſechs. Aber es kommt noch eine 
Doppelſänfte dazu, um die Gewehre und Kleider auf⸗ 
zunehmen.“ | 

„Welche Gewehre?“ 

„Diejenigen, die ich von hier nach dem Tauſendfuß 
ſende. Für ſie wäre eine einfache Sänfte nicht räumlich 
genug. Und dann bekomme ich von dem Schiff aus 


— 390 — 


Kleider zugeſchickt. Es iſt ein kleines, heimliches Ge⸗ 
ſchäft, von dem ich ſehr wünſche, daß es gelingen möge.“ 

Jetzt wußte Degenfeld ganz genau, woran er war. 
Der Mandarin wollte ihm Kleider leihen, damit er 
ſich unkenntlich machen könne. In dieſen Kleidern 
ſollte er die Gefangenen befreien. Dann ſollte er ſich mit 
ſeinen Genoſſen nach dem Schiff tragen laſſen und die 
Kleider zurückſenden. 

„Aber wird man nicht die Sänften und ihre Träger 
erkennen?“ fragte der Student, um ſich genau zu unter⸗ 
richten. 

„Nein, denn die Leute ſind wie ganz gewöhnliche 
Kulis gekleidet, und ich habe auch dafür geſorgt, daß 
ganz einfache Palankins vorhanden ſind.“ 

„Das iſt ja ganz ausgezeichnet. Aber werden die 
Träger auch ſo klug ſein, ohne anzuhalten nach dem 
Schiff zu laufen?“ 

„Sie brauchen nur ein einziges Mal auszuruhen. 
Wo das geſchehen ſoll, das hat der Mann mit dem Paß 
zu beſtimmen. Auch habe ich es ihnen ſchon geſagt. Es 
iſt nicht allzuweit von hier.“ 

„Sind es viele Kleider?“ 

„Nur zwei Mandarinenanzüge. Wollen Sie dieſe 
ſehen?“ 

„Ich bitte darum.“ 

„So kommen Sie!“ 

Der Tong⸗tſchi führte Degenfeld in eine Stube, die 
für den letzteren nicht bequemer liegen konnte, denn ſie 
ſtieß an die ſeinige. Da hingen zwei vollſtändige An⸗ 
züge nebſt Mützen mit Knöpfen und Pfauenfedern, 
welche letztere ein Zeichen großer kaiſerlicher Gewogen⸗ 
heit und Anerkennung ſind. Nicht das Geringſte fehlte. 
Der Mandarin griff in die Aermel, welche in China be⸗ 


— 391 — 


kanntlich als Taſchen benutzt werden, und zog zwei 
Münzen hervor, die er dem Methuſalem zeigte, um ſie 
dann wieder zurückzuſtecken. Dabei ſagte er lächelnd: 
„Dieſe Kleider und Münzen ſind nämlich für zwei 
gute Freunde beſtimmt, welche einmal verſuchen wollen, 
wie man ſich als Mandarin fühlt. Es iſt nur ein Scherz, 
und ſie werden mir dieſe Gegenſtände alle ſofort zurück⸗ 
ſenden, damit mir ſpäter nichts davon fehle, denn über 
dieſe Münzen habe ich Rechenſchaft abzulegen.“ 

„Wann werden ſich dieſe Freunde ankleiden?“ 

„Kurz bevor ſie gehen. Sie nehmen ihre eigenen 
Anzüge in der Doppelſänfte mit, um ſie dann, bevor ſie 
das Schiff erreichen, wieder zu vertauſchen.“ 

Das war alles genau ſo vorbereitet, als ob der 
Gottfried dem Mandarin ſeine Gedanken und Pläne 
mitgeteilt hätte. Nur handelte es ſich darum, die Ge⸗ 
fährten glücklich aus dem Gefängnis und in die Sänf⸗ 
ten zu bringen. Das war freilich die Hauptſache, zu 
deren Gelingen aber der Tong⸗tſchi nur wenig beitragen 
konnte. 

Immerhin tat er ſein möglichſtes. Denn als er 
nun mit Degenfeld in das Speiſezimmer zurückgekehrt 
war, brachte er das Geſpräch auf die Gefangenen und 
beſchrieb bei dieſer Gelegenheit das Gefängnis ſo genau 
und eingehend, daß der Methuſalem ſchließlich auf das 
allerbeſte unterrichtet war. 

Ungefähr eine Stunde vor Mitternacht brach er 
auf. Er ſagte, daß er heute noch einige Stunden zu 
arbeiten habe und auch auf die Rückſendung der Kleider 
und Münzen warten müſſe. Er ſchüttelte den dreien die 
Hände auf das herzlichſte, tat ganz ſo, als ob er nur für 
dieſe Nacht Abſchied von ihnen nehme, drehte ſich aber 
unter der Tür noch einmal um und ſagte in gerührtem 


— 392 — 


Ton: „J lu fu fing! Möge euch das Glück auf eurer 
Reiſe begleiten!“ 

Als er dann fort war, ſchüttelte Gottfried den 
Kopf und ſagte: „Jetzt weiß ich nicht, ob ich ihn recht 
verſtanden habe. Es iſt mich janz ſo, als ob er jelauſcht 
hätte, als wir unten im Garten miteinander ſprachen.“ 

„Mir ſchien es faſt auch ſo.“ 

„Wir ſollen doch auf das Schiff. Oder nicht?“ 

„Ja.“ 

„Und wat war's mit die Kleider?“ 

„Kommt! Ich will es euch zeigen.“ 

Er führte die beiden in die erwähnte Stube. Als 
Gottfried die Anzüge erblickte, ſagte er: „Da iſt ja jeder 
Wunſch erfüllt. Dieſer Tong⸗tſchi muß allwiſſend ſein. 
Ich könnte ihn küſſen oder ihm ein Morjenſtändchen off 
meine Oboe bringen. Nur die Zöpfe fehlen.“ 

„Brauchen wir nicht, denn wir haben da nicht ge⸗ 
wöhnliche Mützen, ſondern Regenhüte mit Kapuzen. Er 
hat eben alles überlegt.“ 

„Wie ſoll denn dat allens werden?“ 

„Das wirſt du nachher erfahren. Jetzt will ich ein⸗ 
mal ſehen, wie es im Hauſe ſteht, wer noch wach und 
munter iſt und wo ſich die Sänften befinden.“ 

Im Stockwerk brannte nur eine einzige einſame 
Lampe. Unten hing zwiſchen Vorder⸗ und Hintertür 
auch eine ſolche. Die erſtere Tür war verſchloſſen; die 
zweite ſtand offen. Als Degenfeld hinaustrat, ſah er 
die Sänften ſtehen. Ein Mann erhob ſich vom Boden, 
trat nahe zu ihm heran, verbeugte ſich und fragte: 
„Wann befiehlt Ihre hohe Würde, daß wir aufbrechen?“ 

Der Sprecher war ganz einfach, wie ein Kuli ge⸗ 
kleidet. 

„Weißt du, wen ihr zu tragen habt?“ fragte der 


— 393 — 


Methuſalem. — „Ja.“ — „Auch wohin?“ — „Auch 
das.“ — „Nun, wohin?“ — „Nach dem Schiff.“ — 
„Direkt?“ — „Nein. Wir halten einmal. Zwei hohe 
Herren ſteigen aus; der jüngere Gebieter bleibt in 
ſeinem Palankin. Dann kommen die beiden Urahnen 
mit drei andern Ehrwürdigen zurück; ſie ſteigen ein, und 
werden zu dem Schiff getragen.“ — „Du haſt ſehr 
genaue Befehle erhalten. Aber wo iſt die Stelle, an der 
ihr zu halten habt?“ — „In der Nähe des Gefängniſſes 
ſteht die Tür eines Hauſes offen, in deſſen Hof wir war⸗ 
ten werden.“ — „Wem gehört dieſes Haus?“ — „Einem 
ſehr ergebenen Diener unſres mächtigen Tong⸗tſchi.“ — 
„Gut! In kurzer Zeit werden wir aufbrechen. Haltet 
euch bereit!” 

Degenfeld ging in ſeine Stube zurück, wo er dem 
Gottfried die nötigen Unterweiſungen gab. Als er mit 
ſeiner Weiſung zu Ende war, kratzte ſich der Wichſier 
hinter den Ohren und ſchmunzelte: „Allens iſt jut, 
allens, aberſt ob es jelingen wird, dat müſſen wir ab⸗ 
warten. Wenn es auch nicht den Kopf koſtet, ſo kann 
doch der Kragen verloren jehen. Doch, friſch jewagt iſt 
halb ertrunken! Machen wir uns alſo in die Jewänder 
und dann auf die Beine!“ 

Sie vertauſchten ihre Kleider mit den beiden An⸗ 
zügen, wobei Richard ihnen behilflich war. Auch mußte 
der letztere die Habſeligkeiten der gefangenen Gefährten 
aus deren Stuben holen. Der Hund bekam ſeinen Tor⸗ 
niſter aufgeſchnallt, und dann begaben ſie ſich hinab zu 
den Sänften. 

Dort ſtanden jetzt vierzehn Kulis, die ihrer war⸗ 
teten. Der Hund mußte in die Doppelſänfte, in die auch 
die Gewehre und die abgelegten Anzüge kamen. Als dies 
geſchehen war, ſtiegen die drei ein. 


— 394 — 


Im ganzen Haus ſchien kein Menſch wach zu ſein; 
eine tiefe Stille herrſchte überall. Der Zug ſetzte ſich in 
Bewegung. Die Tür wurde leiſe geöffnet und wieder 
verſchloſſen; dann ging es im Trab die Gaſſe hinab. 

Die Straße war dunkel. Nur ganz vorn, wo ſie 
durch einen Gitterbogen von der nächſten Gaſſe getrennt 
war, gab es eine Papierlaterne, bei welcher ein Wächter 
ſtand. „Schui⸗ni⸗meo — wer ſeid ihr?“ fragte er, als 
die Träger Degenfelds, der in der vorderſten Sänfte 
ſaß, bei der Pforte anhielten. 

Der Student hatte ſeinen Paß bereit gehalten und 
zeigte ihn vor. Der Wächter leuchtete mit der Laterne 
auf die Schrift; als er die erſten Charaktere und dann 
das Siegel erblickte, riß er die Pforte auf und warf 
ſich, ohne ein weiteres Wort zu ſagen oder zu fragen, 
platt auf den Boden nieder. Sie konnten paſſieren. 

Ebenſo ging es am Ende von noch vier andern 
Straßen. Ueberall ertönte das Schui⸗ni⸗men, und ſo⸗ 
bald die Wächter den Paß erblickten, öffneten ſie ſchleu⸗ 
nigſt und warfen ſich dann auf die Erde. 

Dann bogen die Träger in ein Haus ein, deſſen 
Tür offen ſtand, und ſetzten die Sänften draußen im Hof 
ab. Degenfeld, Gottfried und Richard ſtiegen aus. Alles 
war finſter und ſtill. 

„Ich wollte, ich könnte mit euch gehen,“ ſagte 
Richard. „Mir iſt ſo bange um euch, Onkel Methu⸗ 
ſalem.“ 

„Pah, bange!“ antwortete der Blaurote. „Wer wird 
da ängſtlich ſein.“ 

„Aber es iſt ſo gefährlich. Was tue ich, wenn man 
euch feſthält?“ 

„Da läßt du dich zurück zum Tong«⸗tſchi tragen. 
Aber das kann gar nicht geſchehen. Wir haben das Recht, 


— 395 — 


das Gefängnis zu jeder Stunde, auch des Nachts zu be⸗ 
ſuchen. Da kann uns niemand etwas tun. Und ſind wir 
drin, ſo werden wir ja ſehen, ob die Sache leicht oder 
ſchwer iſt. Iſt ſie unmöglich, ſo gehen wir unverrich⸗ 
teter Dinge wieder fort. Alſo den Kopf in die Höhe, 
Junge! In einer Viertelſtunde ſehen wir uns wieder.“ 

Richard ſchlang den Arm um ihn, drückte ihn an 
ſich und trat dann ſtill zurück. Degenfeld ging mit dem 
Gottlieb durch das Haus zurück auf die Straße. Dieſe 
war vollſtändig dunkel. Nur gerade ihnen gegenüber 
ſchimmerten einige geölte Papierfenſter. 

„Dort muß das Gefängnis ſein,“ ſagte Degenfeld. 

„Ja, nach der Beſchreibung des Tong⸗tſchi liegt es 
dort. Doch ſagen Sie mich erſt mal, welches Jefühl Sie 
in der Magenjegend empfinden?“ 

„Ungefähr jo, als ob ich einen Nachtwächter“) ge⸗ 
trunken hätte.“ 

„Mich iſt es ebenſo. Und oben im Hals habe ich 
die Empfindung, als ob ich zur Hälfte einen Schang⸗ 
darm verſchlungen hätte. Iſt es dat Jewiſſen, näm⸗ 
lich dat böſe, oder die Angſt?“ 

„Wohl beides. Einen Schritt, wie wir ihn vor⸗ 
haben, kann man unmöglich ohne Sorge und Beklem⸗ 
mung tun. Wer das leugnet, der lügt einfach. Und nun 
komm, alter Gottfried!“ 

„Jottfried? Dat muß ich mich verbitten. Ich bin 
jetzt der Kuan⸗fu Ziegenkopf. Ich werde verſuchen, 
mein Chineſiſch an den Mann zu bringen.“ 

„Ja nicht! Sprich ſo wenig wie möglich; am beſten 
iſt's, du ſchweigſt ganz.“ 


1) Studentenausdruck für Bier, das ſchon ſeit dem vorigen Abend an⸗ 
gezapft iR. 


— 396 — 


„Jut, ſo ſchweige ich chineſiſch. Auch dat habe ich 
jelernt.“ N 

Sie ſchritten über die Straße hinüber und ſtanden 
vor einem Tor, das durch eine hohe dicke Mauer führte. 
Ueber dem Tor hing ein Gong, an das der Methuſalem 
ſchlug. 

„Schui⸗tſi — wer da?“ fragte es von innen. 

„Ri kuan fu — zwei Mandarinen,“ antwortete 
Degenfeld. 

Ein Riegel wurde zurückgeſchoben und das Tor ein 
wenig geöffnet. In der Lücke erſchien zuerſt ein Spieß 
und dann die Geſtalt eines Soldaten, der ein kleines 
Laternchen in der Hand hielt. „Lao⸗ye put tek lai — die 
alten Herren dürfen nicht herein,“ ſagte er. 

Da zogen die beiden ihre Münzen vor und zeigten 
ſie ihm. Sofort trat er zur Seite, um ſie eintreten zu 
laſſen, und verbeugte ſich faſt bis zur Erde herab. 

Aus der Beſchreibung, die der Tong⸗tſchi gegeben 
hatte, kannte Degenfeld die Oertlichkeiten des Gefäng⸗ 
niſſes. Sie ſchritten über einen ſchmalen Hof und ſtan⸗ 
den nun vor der Tür des eigentlichen Gebäudes, das ſich 
lang und nur ein Stockwerk hoch in der Dunkelheit verlor. 

Auch hier mußte an ein Gong geſchlagen werden, 
worauf hinter der Tür dasſelbe Schui-tfi ertönte. Der 
Poſten öffnete, als er die ſchon erwähnte Antwort be⸗ 
kam, und ließ ſie nach Vorzeigen der Münze eintreten. 
Jetzt befanden ſie ſich in einem ſchmalen Gang, der von 
zwei Laternen erleuchtet wurde. 

„Dummes Zeug!“ brummte Gottfried. 

„Was? Die Angſt?“ 

„Nein, der Anzug. Dat hängt bis über die Füße, 
gerade wie bei ſonne Promenadendame mit die Schleppe. 
Ich bringe die Beine nicht vorwärts.“ 


— 397 — 


In der Mitte des Ganges gab es rechts und links 
eine Tür. Degenfeld wußte vom Tong⸗tſchi, wo die Ge⸗ 
fangenen ſich befanden. Er klopfte links. „Schui⸗tſi?“ 
rief es dahinter, und die beſchriebene Szene wiederholte 
ſich abermals. 

Als der Poſten die Tür hinter ihnen wieder ver⸗ 
riegelt hatte, befanden ſie ſich in einem breiteren Gang, 
worin zu beiden Seiten niedrige Türen mündeten. Da 
lagen die beſſeren Gefängniſſe. 

Hinten am Ende des Ganges wurde jetzt eine Tür 
geöffnet. Der Schein eines hellen Lichts fiel heraus und 
beleuchtete die heraustretende Perſon; es war der junge 
Mandarin. Das Bewußtſein ſeiner Verantwortlichkeit 
hatte ihm den Schlaf verboten. Er wartete, bis die bei⸗ 
den in den Kreis ſeines Lichts traten, betrachtete ſie mit 
mißtrauiſchen Blicken, verbeugte ſich nur wenig und 
fragte: „Suit⸗tſün, wer ſind Sie?“ 

Die beiden zeigten, ohne mit einem Wort zu ant⸗ 
worten, ihre Münzen vor. 

„Kommen Sie herein!“ Er führte ſie in eine kleine 
Stube, wo ſich ein Tiſch, ein Stuhl und eine niedrige 
Lagerſtätte befand. Auf dem Tiſch brannten zwei Talg⸗ 
kerzen, bei denen ein aufgeſchlagenes Buch lag. Der 
Mandarin betrachtete die Münzen längere Zeit und ſehr 
genau; dann verbeugte er ſich tiefer, alſo höflicher, und 
fragte: „Welcher Veranlaſſung habe ich es zu verdanken, 
daß meine höheren Brüder mich beſuchen?“ 

Das war noch immer nicht diejenige Höflichkeit, die 
der Methuſalem erwartet hatte. Darum antwortete er 
ziemlich barſch: „Sind Sie der Pang⸗tſchok⸗kuan dieſes 
Hauſes?“ 

„Ja.“ 


— 398 — 


„Sind in dieſer Stunde noch andre Oberbeamten 
hier anweſend?“ 

„Nein.“ 

„Es ſind heut zwei Lamas mit einem Dolmetſcher 
eingeliefert worden?“ 

„Nein. Dieſe Leute ſind nicht das, wofür ſie ſich 
ausgeben. Der eine iſt ein Holländer und der andre ein 
Deutſcher, der dritte iſt allerdings ein Chineſe.“ 

„Wie können Sie das wiſſen?“ 

„Ich habe mich überzeugt. Ich habe von Scha⸗mien 
einen Dolmetſcher kommen laſſen, der mir genaue Aus⸗ 
kunft gab.“ 

„Hat er mit ihnen geſprochen?“ 

„Nein, denn in dieſem Fall hätten ſie ſich wohl 
nicht verraten. Er hat an ihrer Tür gehorcht, und da ſie 
laut ſprachen, verſtand er alle ihre Worte.“ 

„Die drei Männer wohnen hier?“ Er zeigte auf 
eine verſchloſſene Tür, die nach der Seite hin aus dem 
Zimmer führte. 

„Ja,“ beſtätigte der Mandarin. 

„Oeffnen Sie! Ich wünſche mit ihnen zu ſprechen.“ 

Anſtatt zu gehorchen, muſterte ihn der Pang«⸗tſchok⸗ 
kuan abermals genau und antwortete: „Dieſem Wunſch 
kann ich nicht Folge leiſten.“ 

„Wunſch? Von einem Wunſch iſt keine Rede; es 
handelt ſich vielmehr um einen Befehl, den ich Ihnen 
erteile.“ 

„Dem muß ich widerſprechen. Ich kann eine 
Willensäußerung von Ihnen beiden nicht als Befehl 
gelten laſſen, ich kenne Sie nicht.“ 

„Sie ſehen es unſrer Kleidung an, daß wir Ihnen 
vorgeſetzt ſind. Ihr geblümter goldener Mützenknopf 
und unſre blauen Kugeln müſſen Ihnen ſagen, daß wir 


— 399 — 


in die dritte, Sie aber in die ſiebente Rangklaſſe ge⸗ 
hören. Wir fordern alſo von Ihnen denjenigen Gehor⸗ 
ſam, den Sie uns ſchuldig ſind!“ 

Der junge Mann ließ kein Zeichen von Furcht 
blicken. Er ſah dem Methuſalem feſt in die Augen und 
antwortete in ebenſo feſtem Ton: „Dieſer Gehorſam ſoll 
Ihnen werden, ſobald Sie mir beweiſen, daß Sie be⸗ 
rechtigt ſind, dieſen blauen Knopf zu tragen.“ 

„Was! Zweifeln Sie etwa daran?“ 


„Ich zweifle weder, noch glaube ich daran; aber ich 
verlange Beweiſe. Geſtern um dieſelbe Zeit iſt auch ein 
Mandarin desſelben Knopfes hier geweſen und hat drei 
Gefangene entführt. Mir ſoll das nicht paſſieren.“ 

Der Methuſalem hätte dem braven und furchtloſen 
Mann am liebſten die Hand drücken mögen, obgleich ihm 
dieſe Feſtigkeit ſehr ungelegen kam. Er zog ſeinen Paß 
heraus und zeigte ihn dem Mandarin, doch ſo, daß die⸗ 
ſer ihn nicht leſen konnte, da er ſonſt aus dem Inhalt 
erſehen hätte, daß der Inhaber ein Fremder ſei. „Ken⸗ 
nen Sie dieſes Siegel?“ 

„Ja; es iſt dasjenige des Himmelsſohnes,“ ant⸗ 
wortete der junge Mann, indem er zwar ſich nicht auf 
die Erde warf, aber doch niederkniete. „Sie ſind alſo 
ein Schün⸗tſchi⸗ſchu⸗tſe, ein Vertrauter der höchſten 
Majeſtät; ich beuge mich vor Ihnen.“ 

„Stehen Sie auf, und öffnen Sie die Gefängnis⸗ 
tür!“ 

Jetzt gehorchte der Mandarin. Die Stube, in die 
der Methuſalem jetzt blicken konnte, war allerdings 
keines der gewöhnlichen chineſiſchen Gefängnislöcher. 
Sie bot für drei Perſonen Raum genug und hatte einen 
Tiſch, drei Stühle und ebenſo viele Lagerſtätten. Eine 


— 400 — 


Laterne beleuchtete die Reſte eines wohl nicht gefängnis⸗ 
mäßigen Abendeſſens. 


Die Gefangenen ſtanden erwartungsvoll inmitten 
des Raumes; ſie hatten die Sprechenden durch die Tür 
gehört und den Blauroten an der Stimme erkannt. Als 
ſie ihn nun ſahen, ſtutzten ſie. Er bot in ſeiner chine⸗ 
ſiſchen Tracht einen ſeltſamen Anblick. Zwar kleidete 
dieſe ſein Bierbäuchlein gar nicht ſo übel, aber ſein dich⸗ 
ter, dunkler Vollbart paßte nicht zu ihr, und eine ſolche 
Naſe hatte man wohl auch niemals bei einem Man⸗ 
darin geſehen. 

Noch anders, faſt komiſch, wirkte das Ausſehen 
Gottfrieds. Die weite Tracht hing an ſeinem langen, 
hageren Körper wie ein Reiſemantel um einen Garten⸗ 
pfahl, und ſein bartloſes, vielfaltiges Geſicht nahm ſich 
unter der Mandarinenmütze höchſt ſonderbar aus. 

Die Gefangenen hatten ſich zwar jedenfalls vorge⸗ 
nommen, ſich nicht zu verraten: aber ſchon begann der 
Mijnheer zu ſchmunzeln und auch das Geſicht des Kapi⸗ 
täns legte ſich in verdächtig zuckende Falten. 

„Still!“ fuhr ihn der Blaurote an. „Ich glaube 
gar, Sie wollen lachen! Damit würden Sie alles ver⸗ 
derben. Dieſer junge Mann darf nicht ahnen, daß wir 
uns kennen. Kommen Sie heraus in ſeine Stube! Läßt 
er Sie nicht fort, ſo müſſen wir ihn überwältigen.“ 


Indem er das ſagte, trat er ſchnell an die vordere 
Tür, die nach dem Gefängnisgang führte, um dem 
Mandarin dieſe Richtung abzuſchneiden. Ebenſo raſch 
traten die Gefangenen in das Zimmer. Das ging ſo 
plötzlich vor ſich, daß der Pang⸗tſchok⸗kuan keine Zeit 
fand, es zu verhindern. Er ſtand neben Gottfried, hinter 
ſich die drei Gefangenen und vor ſich den Methuſalem. 


— 401 — 


Die Lage überſchauend, fragte er betroffen: „Was 
ſoll das? Warum dürfen dieſe Leute herein?“ 

„Weil ſie mit mir gehen werden,“ antwortete 
Degenfeld. „Ich bin gekommen, ſie abzuholen.“ 

„Das gebe ich nicht zu!“ 

„Wollen Sie mir, dem Schün⸗tſchi⸗ſchu⸗tſe, unge⸗ 
horſam ſein?“ 

„Ihnen und jedem andern, und wenn ſein Rang 
noch jo hoch wäre! Dieſe Leute find mir vom Tong⸗tſchi 
anvertraut worden, und nur ihm allein werde ich ſie 
übergeben. Ich rufe ſofort die Wache!“ 

Er trat an das neben der Tür hängende Gong, um 
ein Lärmzeichen zu geben, doch der Methuſalem ſchleu⸗ 
derte ihn zurück. Da richtete ſich der furchtloſe junge 
Mann ſtolz auf und rief: „Jetzt weiß ich, woran ich bin. 
Sie ſind kein Mandarin. Sie reden die Sprache dieſer 
Gefangenen. Sie ſind ein Bekannter von ihnen und 
wollen ſie befreien. Geſtehen Sie das?“ 

Dieſem achtunggebietenden Auftreten gegenüber 
konnte der Methuſalem ſich nicht zu einer Lüge ent⸗ 
ſchließen; darum entgegnete er: „Sie haben es erraten, 
können aber die Ausführung unſrer Abſicht nicht ver⸗ 
hindern. Sie ſind einer gegen fünf.“ 

„Sie irren. Ich brauche nur um Hilfe zu rufen, ſo 
kommt die Wache!“ 

„Ja, der eine Mann, der draußen im Gang ſteht; 
von andern können Sie nicht gehört werden. Und ob 
wir den mürben Spieß dieſes Mannes fürchten, mögen 
Sie hiernach beurteilen!“ 

Er zog ſeine zwei Revolver aus der Taſche und 
ſpannte ſie; Gottfried tat desgleichen. Der Mandarin 
erbleichte. Ja, ſelbſt wenn alle wachehaltenden Sol⸗ 
daten hätten herbeikommen können, wären ſie dieſen 

May, Der blaurote Methuſalem. 26 


— 402 — 


vier Drehpiſtolen gegenüber ohnmächtig geweſen. Sie 
wären wohl ſchon vor der ſelbſtbewußten, drohenden 
Erſcheinung des Methuſalem in alle Winkel gekrochen. 
Die Hauptſache aber war, daß dieſer letztere ſich in dem 
Beſitz eines Paſſes befand, vor dem ſich jeder Soldat, 
bis hinauf zum General, zu beugen hatte. Er brauchte 
ihn nur vorzuzeigen, ſo gehorchte man ſeinen Befehlen, 
nicht aber denjenigen eines Gefängnisbeamten. Es konnte 
gar kein Zweifel beſtehen, daß die Gefangenen aus dem 
Huok⸗tſchu⸗fang entkommen würden. 

Wenn jedoch der Student der Anſicht geweſen war, 
daß der junge Mandarin ſich fügen werde, ſo hatte er 
ſich dennoch geirrt. Der Beamte zeigte eine ſehr ernſte, 
ja entſchloſſene Miene und ſagte: „Herr, Sie ſind ſehr 
gut vorbereitet. Ich ſehe ein, daß ich zu ſchwach bin, die 
Ausführung Ihres Vorhabens zu verhindern. Aber 
haben Sie auch das Schickſal bedacht, dem ich erliegen 
werde, wenn Sie Ihren Vorſatz wirklich ausführen?“ 

Das klang ſo eindringlich und ſo ernſt und traurig, 
daß der Methuſalem ſich gerührt fühlte. Er erwiderte: 
„Ich denke nicht, daß Sie ganz ohne Strafe bleiben wer⸗ 
den; aber die Ahndung wird wohl nicht allzu hart ſein. 
Man wird Ihnen einen Verweis erteilen.“ 

„Sie irren. Es ſind geſtern zwei Verbrecher ent⸗ 
kommen; an ihrer Stelle ſitzt nun der betreffende Be⸗ 
amte im Gefängnis. Ganz ebenſo wird es auch mir er⸗ 
gehen, und ich ſage Ihnen, daß mir mein Ehrgefühl 
verbietet, das geſchehen zu laſſen. Sobald Sie ſich ent⸗ 
fernt haben, werde ich mich töten, und ich halte Sie nicht 
für ſo gewiſſenlos, daß Ihnen der Gedanke, der Mör⸗ 
der eines pflichtgetreuen Beamten zu ſein, gleichgültig 
iſt.“ 

Man ſah ihm an, daß es ihm mit dieſen Worten 


— 403 — 


vollſtändig ernſt ſei. Degenfeld verſuchte, ihn durch 
freundliche und eindringliche Vorſtellungen von ſeinem 
Vorhaben abzubringen, doch vergebens. Der Mandarin 
hörte ihn ruhig an und antwortete dann, indem er lang⸗ 
ſam den Kopf ſchüttelte: „Ihre Bemühung iſt vollſtän⸗ 
dig überflüſſig. Das Amt, das ich bekleide, ſteht ſo hoch 
über meinem Alter, daß tauſend Mandarinen mich be⸗ 
neiden. Ich habe es durch ernſte Anſtrengung und treue 
Pflichterfüllung errungen und weiß, daß mir die höch⸗ 
ſten Würden offen ſtehen. Aber keine einzige dieſer 
Hoffnungen wird ſich erfüllen, wenn ich morgen melden 
muß, daß meine Gefangenen entkommen ſeien. Man 
wird mich ſelbſt in den Kerker ſtecken; dann gehöre ich 
zu der unterſten Klaſſe des Volkes, zu den Unehrlichen, 
und kann niemals wieder eine Anſtellung finden. Lieber 
will ich ſterben. Sie beſitzen einen Paß, den ſelbſt die 
höchſten Mandarinen achten müſſen; aber keiner von 
ihnen darf ſich dadurch zu einer Pflichtwidrigkeit ver⸗ 
leiten laſſen; bringen Sie mir einen Befehl, dem ich un⸗ 
bedingt zu gehorchen habe, ſo will ich dieſe Männer gern 
frei geben und den Folgen ruhig entgegenſehen.“ 

„Das kann ich nicht, denn ich bin nicht im Beſitz 
eines ſolchen ſchriftlichen Befehls.“ 

„So tun Sie, was Sie vor Ihrem Gewiſſen verant⸗ 
worten können. Ich weiche der Gewalt, wiederhole aber, 
daß das Tor, durch das Sie Ihre Freunde aus dem Ge⸗ 
fängnis führen, ſich morgen auch meiner Leiche öffnen 
wird.“ 

„Entſagen Sie dieſem Gedanken, und denken Sie an 
Ihre Verwandten, denen Sie damit den größten Schmerz 
bereiten würden,“ bat der Student. 

„Ehrloſigkeit iſt ſchlimmer als der Tod. Uebrigens 
habe ich keine Verwandten. Ich weiß nicht, wo meine 


— 404 — 


Eltern und Geſchwiſter fich befinden, ob fie überhaupt 
noch leben. Kein Auge wird weinen, wenn das meinige 
ſich geſchloſſen hat.“ 

Der Chineſe hält die Familienbande außerordentlich 
heilig. Die Verehrung der Ahnen iſt bei ihm ein Gegen⸗ 
ſtand des Kultus, und er hält es für ein großes Unglück, 
über ſeine Vorfahren nicht Rechenſchaft geben zu können. 
Die letzten Worte des Mandarinen enthielten alſo nicht 
nur ein außerordentlich aufrichtiges Geſtändnis, ſon⸗ 
dern ſie waren auch ganz geeignet, das Mitgefühl des 
Methuſalem noch zu erhöhen. 

Gottfried von Bouillon verſtand Chineſiſch genug, 
um das erraten zu können, was er nicht gerade wörtlich 
verſtand. Er ſagte zu dem Blauroten: „Dieſer jute 
Menſch kann mich leid tun. Er macht mit ſeine Drohung 
janz jewißlich Ernſt. Haben wir keinen Befehl für ihn, 
ſo wollen wir es doch wenigſtens einmal mit dem Paß 
des Bettlerkönigs verſuchen, den Sie von Hu⸗tſin empfan⸗ 
gen haben. Denken Sie nicht?“ 

„Nein. Dieſer T'eu⸗kuan iſt kein amtliches Schrift⸗ 
find.” 

„Aber der Juwelier hat jeſagt, dat ein jeder ihm 
jehorchen werde.“ 

„Ja, aber ohne dann den Gehorſam eigentlich ver⸗ 
antworten zu können.“ 

„Dennoch rate ich, es zu probieren. Tun Sie wenig⸗ 
ſtens mich den Jefallen!“ 

„Meinetwegen! Wenn es nichts nützt, ſo wird es 
jedenfalls auch nichts ſchaden.“ 

Er zog die erwähnte Urkunde hervor, reichte ſie dem 
Mandarin hin und ſagte: „Sehen Sie einmal dieſes 
Schriftſtück an! Vielleicht hat es die Wirkung, Sie von 
Ihrem grauſigen Entſchluß abzubringen.“ 


— 405 — 


Der Beamte griff nach dem Kuan. Als fein Auge 
auf die Zeichen fiel, nahm ſein Geſicht einen ganz andern 
Ausdruck an. „Ein T'eu⸗kuan! rief er aus. „Und zwar 
ein derartiger, wie ihn nur ganz bevorzugte Perſonen 
bekommen! Herr, Sie ſind ein vornehmer Schützling des 
Ten. Ich darf mich nicht weigern; ich muß tun, was Sie 
wollen.“ 

„Das wußten Sie ſchon vorher, da wir die Macht 
hatten, Sie zu zwingen. Es handelt ſich darum, ob Sie 
auch jetzt noch entſchloſſen ſind, ſich das Leben zu 
nehmen?“ 

„Jetzt nicht mehr, da die Befürchtungen, die ich 
hegte, nicht mehr zutreffen. Welch ein Glück, daß Sie 
einen ſolchen T'eu⸗kuan beſitzen! Er entbindet mich ja 
jeder Verantwortung.“ 

„Wirklich?“ 

„Ja, Herr. Wehe dem, der mich wegen einer Tat 
beſtrafen wollte, die ich auf Vorzeigen dieſes Kuan vor⸗ 
genommen habe!“ 

„Aber Sie müſſen Ihren Vorgeſetzten beweiſen kön⸗ 
nen, daß Ihnen derſelbe gezeigt worden iſt?“ 

„Allerdings. Können Sie mir den Kuan nicht 
zurücklaſſen?“ 

„Nein. Sie werden begreifen, daß ich mich von ſo 
einem wichtigen Schriftſtück unmöglich trennen kann.“ 

„Aber Sie wiſſen, wo der T’eu ſich jetzt befindet?“ 

„Nein. Der T'eu hat ja keinen feſten, bleibenden 
Aufenthaltsort.“ 

„Das iſt wahr. Aber es iſt zu erfahren, wo man ihn 
treffen kann. Wer einen ſolchen Kuan beſitzt, dem muß 
jeder Untertan des T'en genaue Auskunft erteilen. Wo⸗ 
hin wollen Sie die Gefangenen bringen?“ 


— 406 — 


„Sie ſehen ein, daß Sie der allerletzte ſind, dem ich 
das verraten darf. 

„O nein. Ich bin der allererſte, dem Sie es ſagen 
können, denn ich werde mit Ihnen gehen. Ich ſelbſt 
werde dieſe Herren aus dem Gefängnis führen.“ 

„Darf ich dieſen Worten Glauben ſchenken?“ 

„Gewiß! Ich muß dem T'eu gehorchen. Aber um 
meine Ehre zu retten, muß ich nachweiſen können, daß 
er es iſt, dem ich zu Willen geweſen bin. Infolgedeſſen 
muß ich ihn unverzüglich aufſuchen, ihn oder einen ſeiner 
Offiziere, um mir das Zeugnis zu holen, deſſen ich be⸗ 
darf, wenn ich nicht allen meinen Hoffnungen auf die 
Zukunft entſagen will.“ 

„Können Sie es denn verantworten, das Gefängnis 
ohne Aufſicht zu laſſen?“ 

„Das beabſichtige ich ja gar nicht. Ich werde, bevor 
ich gehe, die Aufſicht einem Unterbeamten übergeben und 
ihm zugleich ſagen, daß ich auf höhern Befehl die Ge⸗ 
fangenen entlaſſen und perſönlich begleiten muß.“ 

Der Mandarin ſprach mit dem Ausdruck der Wahr⸗ 
heit und zeigte dabei ſo aufrichtige Augen, daß es dem 
Methuſalem ſchwer wurde, an ihm zu zweifeln. Aber es 
galt, vorſichtig zu ſein. Darum erkundigte ſich der 
Student: „Wenn Sie mit uns gehen wollen, ſo müſſen 
Sie ſich vorher auf eine längere Abweſenheit vorbe⸗ 
reiten?“ 

„Ja.“ 

„Wir ſollen Ihnen alſo erlauben, dieſes Zimmer 
zu verlaſſen?“ 

„Ich muß Sie freilich darum bitten.“ 

„Und da haben Sie Gelegenheit, alle Ihre Leute 
gegen uns zuſammen zu rufen! Nein, das kann ich nicht 
genehmigen.“ 


— 407 — 


Der Mandarin antwortete in beſcheidenem Ton: 
„Ich kann es Ihnen nicht verdenken, daß Sie Miß⸗ 
trauen hegen, weshalb ich Sie bitte, mich nach meiner 
Wohnung zu begleiten. Sie liegt hier in dieſem Gang. 
Ich werde zwiſchen Ihnen gehen, und Sie können mich 
ſofort töten, wenn ich das Geringſte tue, was Ihren 
Verdacht rechtfertigt.“ 

„Damit bin ich einverſtanden, vorausgeſetzt, daß Sie 
mir erlauben, die bisherigen Gefangenen vorher aus 
dieſem Haus zu bringen,” 

„Wohin?“ 

„Ganz in die Nähe, wo unſre Tragſeſſel halten.“ 

„Wollen Sie mich zurücklaſſen?“ 

„Nein. Ich meine es ehrlich mit Ihnen. Hier dieſer 
Mann wird bei Ihnen bleiben, teils um Sie bis zu 
meiner Rückkehr hier zu beaufſichtigen, teils aber auch, 
um Ihnen die Sicherheit zu geben, daß ich wiederkehre, 
um Sie abzuholen.“ 

„Gut ich werde Ihnen mehr Vertrauen ſchenken als 
Sie mir. Ich bleibe in dieſem Zimmer, bis Sie wieder⸗ 
kommen.“ d 

Gottfried wurde mit der Bewachung des Manda⸗ 
rinen betraut und ſetzte ſich ſo nieder, daß er ſich zwiſchen 
dem Beamten und der Tür befand. Die andern entfern⸗ 
ten ſich. Der Methuſalem führte ſie auf demſelben Weg 
hinaus, auf dem er in das Gefängnis gekommen war. 
Keiner der Wächter wagte es, Widerſpruch zu erheben. 
Als ſie das Tor erreicht hatten, führte der Student die 
Befreiten nach dem Hauſe, in deſſen Hof die Sänften⸗ 
träger warteten, und kehrte dann zu dem Mandarin zu⸗ 
rück, indem er die Türen hinter ſich wieder verſchließen 
ließ. 

Der Beamte ſtand gerade noch ſo wie vorhin mitten 


— 408 — 


in dem Zimmer, und der Gottfried ſaß mit einer wahren 
Zerberusmiene auf ſeinem Stuhl. 

„Dat iſt ſchnell jegangen,“ ſagte der letztere. „Es 
war mich nicht ſehr wohl zu Mute, mir ſo allein in dieſes 
Jewahrſam zu wiſſen. Nun Sie aber wieder da ſind, be⸗ 
finde ich mir von neuem bei die jewönhliche Jeiſtesjegen⸗ 
wart und Todesverachtung.“ 

Die beiden folgten jetzt dem Mandarin in ſeine 
Wohnung, die ſich an der anderen Seite des Ganges 
befand und aus drei kleinen Stuben beſtand. 

Er ſuchte Kleider, Geld und andere Gegenſtände, die 
er zur Reiſe gebrauchte, zuſammen und ſchrieb dann 
einen Zettel, der auf dem Tiſch liegen bleiben ſollte. Die⸗ 
ſer enthielt die nötigen Befehle für den erwähnten Unter⸗ 
beamten. Dann war er zum Aufbruch bereit. 

„Wir haben eine Doppelſänfte,“ ſagte der Methu⸗ 
ſalem, „worin ſich unſere Gewehre befinden. Da iſt wohl 
noch Platz für Sie. Auf welche Weiſe aber können Sie 
mich ſicher ſtellen, daß Sie, während wir durch die Stadt 
kommen, nicht Lärm ſchlagen und uns feſthalten laſſen?“ 

„Herr, ich bin kein Lügner. Ich verſprach, mit 
Ihnen zu gehen, und ich werde mein Wort halten. Doch 
habe ich Räucherſtäbchen hier und kann Ihnen mein 
Kong⸗kheou geben, wenn Sie nicht damit zufrieden ſind, 
daß ich Ihnen meinen Namen verpfände.“ 

„Wie heißen Sie?“ 

„Mein Schulname lautet Jin⸗tſian.“ 

„Und Ihr Geſchlechtsname?“ 

„Pang.“ 

„Pang?“ wiederholte der Methuſalem überraſcht. 
„Iſt das möglich!“ 

„Warum ſollte es nicht möglich ſein?“ 

„Weil ich einen kenne, der den gleichen Namen hat.“ 


— 409 — 


„Herr, das iſt ja gar kein Wunder, da es nur vier⸗ 
hundertachtunddreißig Geſchlechts⸗ oder Familiennamen 
gibt. Es ſind alſo viele Tauſende, deren Namen ganz 
derſelbe iſt.“ 

„Aber Sie ſehen dem Betreffenden ſehr ähnlich. 
Darf ich Sie nach Ihrem Stamm fragen?“ 

„Er heißt Seng⸗ho.“ 

„Wirklich? Seng⸗ho?? Sie ſagten, daß Sie nicht 
wiſſen, wo Ihre Eltern ſich befinden: vielleicht kann ich 
Ihnen Aufſchluß geben. Stammen Sie aus der Provinz 
Kwei⸗tſchou?“ 

„Ja, dieſe Provinz iſt meine Heimat,“ antwortete 
der Chineſe ſchnell. „Herr, warum dieſe Frage? Sie 
ſprechen von einem Aufſchluß. Kennen Sie meinen 
Stamm, meine Familie, meine Eltern?“ 

„Sagen Sie mir erſt, ob Ihr Vater vielleicht Ye⸗ 
kin⸗li geheißen hat!“ 

„Ja, ja, Herr! Ye⸗kin⸗li war ſein Titelname. Sie 
kennen ihn! O Himmel, o Geiſt der Welten! Sie ſind 
als Feind zu mir gekommen; Sie haben mich gezwungen, 
gegen meine Pflicht zu handeln, und nun ſprechen Sie 
von meinem Vater. Vielleicht hat gerade das Glück Sie 
zu mir geführt. Vielleicht war es der Wille der Allweis⸗ 
heit, daß ich mein Amt verlaſſen und mit Ihnen gehen 
soll!?“ 

Er hatte die beiden Hände des Methuſalem ergriffen 
und ſeine Fragen mit großer Haſt ausgeſprochen. Degen⸗ 
feld antwortete, indem ſeine Stimme vor Rührung zit⸗ 
terte: „Ihr Vater lebt noch, fern von ſeinem Vaterland, 
in das er nicht zurückkehren darf, weil man ihn da für 
einen Empörer hält. Mich aber hat er ausgeſandt, um 
nach ſeinem Weib und ſeinen Kindern zu forſchen.“ 

„Und wo, wo lebt er? O ſagen Sie es mir!“ 


— 410 — 


„In Deutſchland, das meine Heimat iſt.“ 

„Herr, dieſe Mitteilung iſt wie ein Stern, der mir 
in dunkler Nacht erſcheint. Sie geben mir meine Ehre 
zurück. Ich darf ſagen, daß ich einen Vater habe. Ich bin 
nicht mehr ein Menſch, der ſich ſchämen muß, wenn man 
nach ſeinen Ahnen fragt. Mein Vater lebt. Er kann 
nicht kommen; aber ich werde zu ihm gehen. Ich werde 
China verlaſſen und allen Ehren, die mich erwarten, ent⸗ 
ſagen, um bei dem zu ſein, dem ich mein Leben, mein 
Daſein verdanke.“ 

Er hatte die Hände des Methuſalem losgelaſſen 
und war langſam in die Knie geſunken. Er legte ſein 
Geſicht in ſeine Hände und ſchluchzte laut vor Freude und 
Seligkeit. 

Dem Studenten ſtanden Tränen der Rührung im 
Auge. Der Gottfried ſtand da, zog allerlei Geſichter, um 
ſeiner Bewegung Herr zu werden, und platzte, da ihm 
das nicht gelingen wollte, zornig los: „Und dieſer juten 
Seele habe ich beinahe eine Kugel in den Leib ſchießen 
wollen! O Jottfried, Jottfried, wat für dumme Augen 
haſt du jehabt! Wie konnteſt du dir in dieſe Weiſe an 
dem Sohn deines Ye⸗kin⸗li verjehen!“ 

Degenfeld legte dem Chineſen die Hand auf die 
Schulter und ſagte: „Faſſen Sie ſich jetzt, mein Lieber! 
Die Zeit iſt uns kurz zugemeſſen. Warten Sie noch eine 
Stunde; dann ſollen Sie alles erfahren.“ 

„Sie haben recht,“ antwortete der Mandarin, in⸗ 
dem er ſich erhob. „Wir müſſen fort. Erſt wollte ich ge⸗ 
zwungen mit Ihnen gehen; nun aber bitte ich Sie, mich 
zu führen, wohin es Ihnen gefällt. Aber ſagen Sie mir 
vorher nur noch, ob Sie etwas von meinen Geſchwiſtern 
wiſſen?“ 

„Ich kenne ihre Namen,“ antwortete Degenfeld. 


— 411 — 


„Ihr Bruder führt den Namen Liang⸗ſſi; Ihre Mutter 
wurde Hao⸗keu genannt, und Ihre beiden Schweſtern 
heißen Mei-pao und Sim⸗ming. ft das richtig?“ 

„Ja, ja, es iſt richtig. So heißen ſie. Vielleicht wiſ⸗ 
ſen Sie auch, ob ſie noch leben und wo ſie ſich befinden?“ 

„Von dem Bruder weiß ich es, von den andern noch 
nicht.“ 

„Dann ſagen Sie ſchnell, ſchnell, wo ich den Bruder 
zu ſuchen habe!“ 

„Sie werden ihn noch heute begrüßen können. Man 
hat mir geſagt, daß Sie ſich nach der Flucht Ihres 
Vaters in Gefangenſchaft befunden haben. Darf ich er⸗ 
fahren, wie Sie entkommen ſind?“ 

„Mit Hilfe eines Freundes meines Vaters, der ein 
hoher Beamter war. Leider waren wir im Gefängnis 
getrennt worden, ſo daß es ihm unmöglich war, uns zu 
gleicher Zeit zu befreien. Als er mir das Tor öffnete, 
verſprach er mir, die Mutter mit den Geſchwiſtern nach⸗ 
zuſenden. Den Bruder hatte er bereits gerettet; er gab 
mir den Ort an, wo ich dieſen treffen würde; aber als ich 
hinkam, fand ich ihn nicht mehr. Ich wartete auf ſeine 
Rückkehr ebenſo vergeblich wie auf die Ankunft der Mut⸗ 
ter und der Geſchwiſter. Da ich nicht in Kwéi⸗tſchou 
bleiben durfte, weil man dort nach mir forſchte, ging ich 
nach der Provinz Kuangtung, wo ich ſicherer war. Ich 
zählte damals vierzehn Jahre; glücklicherweiſe fand ich 
immer mitleidige Menſchen und dann einen Beſchützer, 
der mich lieb gewann und, da er keine Kinder hatte, mich 
als Sohn bei ſich aufnahm. Ihm habe ich alles zu ver⸗ 
danken. Lebte er noch, ſo würde es mir ſchwer werden, 
das Vaterland zu verlaſſen, um mit Ihnen nach Deutſch⸗ 
land zu gehen. Aber nun wollen wir eilen, denn ich kann 
es kaum erwarten, meinen Bruder zu ſehen!“ 


— 412 — 


Seine Habe war nicht groß, und da er nur das Not⸗ 
wendigſte mit ſich nehmen konnte, ſo hatte er nur ein 
kleines Packet zu tragen. Die drei Männer gelangten 
glücklich aus dem Gefängnis und hinüber in den Hof, wo 
die Gefährten ihrer warteten. 

Dort fiel es keinem ein, viele Worte zu machen; es 
handelte ſich darum, nun ſchnell die Stadt zu verlaſſen. 
Man brach ſofort auf, nachdem ein jeder ſeine Sänfte 
beſtiegen und der junge Mandarin in derjenigen Platz 
gefunden hatte, worin ſich die Gewehre befanden; der 
Hund durfte jetzt nebenherlaufen. 


So oft der Zug an ein verſchloſſenes Straßentor 
kam, wurde er von dem dortigen Wächter angehalten; 
dann zeigte der Methuſalem ſeinen Paß vor, und die 
Pforte wurde geöffnet. So wurden alle Hinderniſſe glück⸗ 
eich paſſiert, und man gelangte in die Nähe des Fluſſes. 


Da hielten die Sänftenträger an und baten, auszu⸗ 
ſteigen. Das geſchah, nachdem der Methuſalem und Gott⸗ 
fried noch raſch die Mandarinenanzüge mit ihren eigenen 
Kleidern vertauſcht hatten. Der Führer der Sänftenträ- 
ger deutete nach dem in der Dunkelheit verborgenen Ufer 
und ſagte: „Die würdigen Herren mögen nun noch zwei⸗ 
hundert Schritte geradeaus gehen. Da gelangen ſie zu 
dem Tſ'ien⸗kiok, den fie daran erkennen werden, daß auf 
der Mitte ſeines Verdecks drei blaue Papierlaternen dicht 
nebeneinander brennen. Der Ho⸗tſchang wartet bereits, 
da er von ihrer Ankunft unterrichtet iſt.“ 


Degenfeld gab ihm eine gute Belohnung und ſchritt 
dann mit ſeinen Gefährten in der angegebenen Richtung 
vorwärts. Als ſie das Ufer erreichten, ſahen ſie eine 
Menge von Dſchunken liegen; auf jeder brannte eine 
Laterne. Auf derjenigen aber, die gerade vor ihnen lag, 


— 43 — 


brannten deren drei von blauer Farbe. Das mußte alfo 
die richtige ſein. 

Im Lichtkreis dieſer Laternen ſaßen zwei Männer. 
Ein dritter lehnte an der Bordbrüſtung. Als er die An⸗ 
kömmlinge bemerkte, bog er ſich vor und rief ihnen zu: 
„Ho⸗ja, ho⸗ja! Hing ni⸗men lai?“ 

Ho⸗ja iſt der chineſiſche Schifferruf, etwa wie bei 
uns das bekannte Ahoi der Seeleute. Die dem Anruf 
folgende Frage heißt zu deutſch: „Wollt ihr zu uns?“ 

„Tſche — ja,“ antwortete der Methuſalem. 

„Lai ſchang — kommt herauf!“ 

Er ließ eine Bambusleiter herab, woran die ſieben 
Perſonen an Deck ſtiegen. Degenfeld begrüßte den Ho⸗ 
tſchang höflich und fragte: „Ich ſehe, daß Sie uns er⸗ 
wartet haben. Wir find von dem erlauchten Ho⸗po⸗ſo 
geſandt. Hoffentlich befinden wir uns an dem richtigen 
Ort?“ | 

„Die hohen Gönner find von dieſem Augenblick an 
die Herren und Gebieter meines Tauſendfußes und aller, 
die ſich darauf befinden,“ antwortete der Gefragte. „Es 
wurde mir der Befehl, Ihnen mitzuteilen, daß ich 
Ihnen das Schiff für die ganze Länge des Fluſſes zur 
Verfügung zu ſtellen habe. Ich ſoll mich allein nur nach 
Ihren Wünſchen richten.“ 

Das war weit mehr, als der Methuſalem erwartet 
hatte. Einer der beiden Männer, die auf einem Teppich 
am Boden ſaßen, ſtand auf, kam herbei und ſagte, indem 
er ſich tief verbeugte: „Ich bin der Scheu⸗pi dieſes Schif⸗ 
fes und bitte, mir Ihren Namen zu ſagen, damit ich Sie 
dem hochmächtigen Dao⸗tſchang⸗ti vorſtellen kann!“ 

Er war alſo der Hauptmann oder Kapitän, der von 
der Schiffahrt nichts verſtand, und der andre, welcher 
ſtolz ſitzen blieb, war der Steuereintreiber, von dem der 


— 414 — 


Tong⸗tſchi geſagt hatte, daß auf feine Großmäuligkeit 
nichts zu geben ſei. 

Der Methuſalem hielt es für geraten, dieſen beiden 
Männern gleich jetzt zu zeigen, daß er nicht die Abſicht 
hege, ſich von ihnen abhängig zu machen. Darum ant⸗ 
wortete er: „Wie meinen Sie? Wir ſollen ihm vorge⸗ 
ſtellt werden? Wer iſt der Höhere, er oder ich?“ 

„Ich natürlich, ich!“ rief der Steuerbeamte, der 
alles gehört hatte, indem er aufſprang: „Ich bin der 
hochgeehrte Yao⸗tſchang⸗ti des Lichtes aller Könige. Wer 
kann behaupten, mehr zu ſein als ich?“ 

Er kam ſäbelraſſelnd herbei und richtete ſeine kleine, 
dürre Geſtalt möglichſt hoch vor dem Methuſalem auf. 
Seine Kleidung war diejenige eines chineſiſchen Be⸗ 
amten, doch trug er auf ſeiner Mütze eine einfache ver⸗ 
goldete Kugel, das Zeichen des niedrigſten Mandarinen⸗ 
rangs. Dafür aber hatte er, um Ehrfurcht zu erwecken, 
zwei lange Säbel umgeſchnallt; der eine hing ihm an 
der rechten und der andere an der linken Seite. Ein 
Bart war ihm nicht gewachſen, um ſo länger aber war 
ſein Zopf, der ihm faſt bis zu den Füßen reichte und 
jedenfalls eine tüchtige Portion falſchen Haares gekoſtet 
hatte. Während er ſprach, ergriff er die Säbel und 
ſtampfte mit dieſen den Boden, daß es klirrte. 

Da trat Jin⸗tſian zu ihm heran und fuhr ihn an: 
„Schweig! Was biſt du gegen uns? Eine Mücke, welche 
ich mit dem Finger zerdrücken kann! Siehſt du nicht, daß 
ich die blaue Kugel trage? Und dieſer hochgeborene Herr, 
an welchen du deine albernen Worte gerichtet haſt, zeigt 
nur aus Gnade nicht den koſtbaren roten Stein, den zu 
tragen er berechtigt iſt. Laß dir zeigen, daß er den Kuan 
des Himmelsſohnes beſitzt, und ſinke auf die Knie vor 
ihm!“ 


— 415 — 


Der Steuereintreiber knickte zuſammen, als ob er 
von jemand niedergedrückt würde. Er kniete wirklich 
vor Degenfeld hin, ſenkte das Geſicht faſt auf den Boden 
nieder und bat: „Verzeihen Sie, erlauchter Gebieter, daß 
ich nicht wußte, welch eines Ranges Zeichen Ihre mir 
unbekannte ehrwürdige Kleidung iſt. Ich bin der gering⸗ 
ſte Ihrer Sklaven und halte mich bereit, alle Ihre Be⸗ 
fehle augenblicklich zu erfüllen!“ 

Degenfeld ließ ihn knien, ohne ihn weiter zu be⸗ 
achten, und wendete ſich an den Ho⸗tſchang, um dieſem die 
Weiſung zu geben, die Fahrt ſo bald wie möglich zu be⸗ 
ginnen. Man hatte alles ſchon dazu vorbereitet; der 
Anker war bereits aufgezogen, und die Dſchunke hing 
nur noch mit einem Tau am Ufer. Dieſes wurde einge⸗ 
nommen, und ſofort ſtrebte das Fahrzeug unter dem 
Geräuſch der Ruderſchläge der Mitte des Stromes zu. 
Dort wurden die Segel gehißt, und der günſtige Wind 
richtete den Schnabel des Schiffes gegen den Fluß. 

Die dazu nötigen Befehle hatte der Ho⸗tſchang er⸗ 
teilt. Von dem Scheu⸗pi war nichts mehr zu ſehen, und 
auch der mächtige Steuereintreiber ſchien verſchwunden 
zu ſein. 

Nun wies der Ho⸗tſchang ſeinen Fahrgäſten die für 
ſie beſtimmten Räume an. Dieſe waren prächtig einge⸗ 
richtet und nur für diejenigen Kriegsmandarinen be⸗ 
ſtimmt, die den Tauſendfuß gelegentlich zu ihren Dienſt⸗ 
reiſen benutzten. 


Dierzehntes Kapitel. 
Su Waſſer und zu Lande nach Bu⸗nan. 


Unter dem Verdeck lag der Raum für die Ruderer, 
von denen je vierzig an einer Seite ſaßen. Je zwei Per⸗ 
ſonen gehörten zu einem Ruder, die eine ſehr bedeutende 
Länge hatten und das Schiff ziemlich ſchnell gegen den 
Strom bewegten, wobei ſie von dem Wind, wenn dieſer 
günſtig war, unterſtützt wurden. 

Nun wurde der Methuſalem gefragt, ob er das 
Feſtmahl in ſeiner Kajüte oder auf dem Deck aufgetragen 
wünſche. Er zog das letztere vor, da die Nacht ſehr mild 
war. Als er den andern mitteilte, daß man im Begriff 
ſtehe, ſie durch ein Nachteſſen zu ehren, rief der Dicke: 
„Dat is goed; dat is hemelſch! Ik heb honger; ik moet 
eten. Gij ook, Mijnheer Turnerſtick — das iſt gut; das 
iſt himmliſch! Ich habe Hunger; ich muß eſſen. Sie auch, 
Herr Turnerſtick?“ 

„Ja,“ antwortete der Gefragte. „Eſſen muß der 
Menſch zu jeder Zeit können, und nach den Strapazen, 
die wir hinter uns haben, iſt eine Stärkung ganz beſon⸗ 
ders notwendig.“ 

„Na, wenn Sie es eine Strapaze nennen, ſich im 
Gefängnis auszuruhen, ſo nehmen Sie, obgleich Sie es 
nicht verdienen, mein Beileid entgegen,“ ſagte Gottfried. 


— 47 — 


„Was, nicht verdienen?“ rief der Kapitän. 

„Natürlich! Wer iſt denn Schuld an die janze Welt⸗ 
jeſchichte? Doch nur Sie ſelbſt! Wat hat Ihnen denn 
eijentlich unter die Haut jekrabbelt, dat Sie auf den Je⸗ 
danken kamen, Ihnen als Jötzen in den Tempel zu poſta⸗ 
mentieren?“ 

„Nichts hat uns gekrabbelt. Verſtanden!“ rief der 
Kapitän zornig. „Mich krabbelt überhaupt niemals 
etwas; das mögen Sie ſich merken, Sie Gottfried von der 
traurigen Geſtalt! Frick Turnerſtick und krabbeln! Das 
iſt geradezu eine Majeſtätsbeleidigung!“ 

„Ja. Wenigſtens war dat Ihrige Ausſehen ein 
höchſt majeſtätiſches, als Sie ſich mit die Chineſen her⸗ 
umbalgten. Kommen Ihnen noch mehr ſolch bunte 
Raupen in dat Jehirn, ſo können wir nur gleich um⸗ 
kehren und nach Hauſe pilgern.“ 

Turnerſtick wollte, wie ihm anzuſehen war, eine 
nicht allzu höfliche Antwort geben, doch der Methuſalem 
kam ihm in ſehr ernſtem Ton zuvor: „Unſer Gottfried 
hat ganz recht! Sie haben ſich und uns in die größte Ver⸗ 
legenheit gebracht, und wir können Gott danken, daß die 
Sache ein ſo gutes Ende genommen hat. Ich muß Sie 
wirklich erſuchen, ſich nicht wieder ſolch gefährlichen Ein⸗ 
fällen hinzugeben. Ich hatte mir vorgenommen, Ihnen 
eine tüchtige Strafrede zu halten; da ich aber damit das 
Geſchehene nicht ungeſchehen machen kann und Ihr 
Abenteuer uns ein ſehr frohes Ereignis gebracht hat, ſo 
will ich ſchweigen.“ 

„Ein frohes Ereignis? Welches?“ fragte der Kapitän, 
bemüht, ſchnell auf einen anderen Geſprächsſtoff zu 
kommen. | 

„Wir haben die Bekanntſchaft eines Mannes ge⸗ 
macht, der mit unſerm guten Liang⸗ſſi verwandt iſt.“ 

May, Der blaurote Methuſalem. 27 


> 


— 418 — 


„Mit mir?“ fiel ſchnell der Chineſe ein. „Wer iſt 
das?“ 

„Hier unſer wackerer Mandarin, der nicht nur in 
Ihre Befreiung gewilligt, ſondern ſich auch el 
hat, uns bis nach Deutſchland zu begleiten.” 

„Nach — Deutſch — land?“ fragte Liang⸗ſſi er- 
ſtaunt und gedehnt. „Wa — rum?“ Sein Blick ging 
forſchend zwiſchen dem Methuſalem und dem Manda⸗ 
rin hin und her. 

„Fragen Sie ihn ſelbſt,“ antwortete der erſtere. 
„Fragen Sie ihn vor allen Dingen nach ſeinem Namen!“ 

Der Mandarin hatte die deutſchen Worte nicht ver⸗ 
ſtanden, doch ahnte er, da aller Augen auf ihn gerichtet 
waren, daß die Rede von ihm ſei. Er nannte, als er von 
Liang⸗ſſi gefragt wurde, ſeinen Namen. Als der Fra⸗ 
gende denſelben hörte, fuhr er einen, zwei, drei Schritte 
zurück und rief: „Jin⸗tſian! Und ich heiße Liang⸗hſſi.“ 

„Liang⸗ſſi!“ ſtieß der Mandarin hervor. „So hieß 
mein Bruder, den ich verloren habe.“ 

Einige Sekunden lang waren ihre forſchenden Blicke 
gegenſeitig aufeinander gerichtet; dann eilten ſie auf⸗ 
einander zu und lagen ſich in den Armen. 

„Was iſt das?“ fragte Turnerſtick. „Warum um⸗ 
armen ſie ſich?“ 

„Sie ſind Brüder,“ antwortete Degenfeld. „Ich habe 
entdeckt, daß der Mandarin der zweite Sohn unſeres Ye⸗ 
kin⸗li iſt.“ 

Dieſe Worte riefen die freudigſte Ueberraſchung her⸗ 
vor. Alle drängten ſich an die Brüder und es tönten 
ihnen in deutſcher, niederländiſcher und chineſiſcher 
Sprache die herzlichſten Glückwünſche entgegen. Gottfried 
ſchlang ſeine langen Arme um beide, zog ſie kräftig an 
ſich und rief: „Kommt an meine jefühlsreiche Bruſt, ihr 


— 419 — 


Söhne der jeliebten Mitte. Mijnheer, nehmen Sie die 
Jungens von die andere Seite! Wat glücklich ſich jefun⸗ 
den hat, dat muß umärmelt werden.“ 

„Ja,“ antwortete der Dicke, indem er jenſeits ſeine 
Arme um die Brüder ſchlang, was ihm aber wegen 
ſeiner Wohlbeleibtheit nicht recht gelingen wollte, „ook ik 
ben gelukkig; ook mij zwellt de borſt; ook ik moet mijne 
armen om zij wringen. Ik moet mij nagenoeg jnuiten, 
zoo oneindelijk ben ik gevoelig — auch ich bin glücklich; 
auch mir ſchwillt die Bruſt; auch ich muß meine Arme 
um ſie ſchlingen. Ich muß mich beinahe ſchneuzen, ſo 
unendlich bin ich gerührt!“ 

Da liefen ihm die Tränen des freudigſten Mitge⸗ 
fühls in hellen Tropfen über die dicken Backen herab. 
Selbſt die kleine Naſe wurde in Mitleidenſchaft gezogen, 
ſo daß endlich das geſchah, was er ſo außerordentlich zart 
angedeutet hatte: er ſank auf einen Stuhl, zog ſein 
„Zakdoek“) hervor und „ſnuizte“ ſich jo anhaltend und 
kräftig, daß die lieblichen Töne, die er dabei hervor⸗ 
brachte, alle anderen Laute verſchlangen. 

Der Methuſalem als der eigentliche Schöpfer dieſes 
Glücks ſtand mit Richard von ferne und ſchaute ſtill der 
Szene zu, bis die Brüder zu ihm traten, um ihm Dank 
zu ſagen. Beide waren begierig, ihre gegenſeitigen Er⸗ 
lebniſſe von einander zu erfahren, doch gab es zu einer 
ſolchen Unterhaltung keine Zeit, da der Ho⸗tſchang eben 
jetzt melden ließ, daß das Mahl aufgetragen ſei. Es 
wurde als Feier des Wiederſehens ein wahres Freuden⸗ 
mahl. 

Das Verdeck wurde von zahlreichen Laternen ge⸗ 
radezu feſtlich erleuchtet. Der Ho⸗tſchang bat um die Er⸗ 
laubnis, mit Platz an der Tafel nehmen zu dürfen, um 


1) „Sacktuch“, Taſchentuch. 


— 420 — 


die Bedienung ſeiner hohen Gäſte beſſer leiten zu können. 
Der Kommandant des Schiffes und der Steuereintreiber 
ließen ſich beide nicht ſehen; es war ihnen unheimlich 
geworden. 

Am Himmel glänzten tauſend Sterne, und der 
Mond ſtieg ſoeben über dem Horizont empor. Die Nacht 
war lau und würzig, und ihre Stille wurde nur durch 
den taktmäßigen Schlag der Ruder und das rauſchende 
Sog!) unterbrochen. Das Eſſen beſtand aus lauter 
„Meeresfrüchten“, wie der Italiener ſagen würde, alle 
nach chineſiſcher Art in verſchiedener Weiſe zubereitet. Es 
war ein Mahl, eines hohen Mandarinen würdig. Keiner 
aber ließ es ſich ſo ſchmecken wie der Dicke. Er hatte 
ſeine Rührung vergeſſen und ſeine Tränen geſtillt und 
aus ſeinem angeſtrengt arbeitenden Mund kam nichts 
als höchſtens hie und da einmal ein kurzer Ausruf des 
Behagens und der höchſten Befriedigung. Als das Mahl 
beendet war, ſchnalzte er mit der Zunge und ſagte: „Dat 
was goed; dat was buitengewoon goed! Worden wij hier 
op den ſcheepe altijd zoo eten, ook morgen ochtend? — 
das war gut; das war außerordentlich gut! Werden wir 
auf dem Schiff ſtets ſo eſſen, auch morgen früh?“ 

Der Tauſendfuß war indeſſen ſchnell vorwärts ge⸗ 
kommen. Er fuhr jetzt an der Inſel vorüber, die von 
den Chineſen Lu⸗tſin und von den in Kanton wohnen⸗ 
den Europäern „das Paradies“ genannt wird und in 
Landesſagen eine bedeutende Rolle ſpielt. 

Während des Eſſens waren die Kckjüten zum Schla⸗ 
fen eingerichtet worden. Die Gäſte bedurften der Ruhe. 
Bald drang das Schnarchen des Mijnheer wie das Aech⸗ 
zen und Stöhnen einer ganzen Schar Sterbender auf 
das Deck. Nur zwei blieben munter, die beiden Brüder, 


1) Ceräuſch des Waſſers am Bug eines Schiffes. 


— 421 — 


die in einer kleinen Kammer ſaßen und eiitandey ihre 
Erlebniſſe erzählten. 


Am Morgen waren der Methufalem und Richard 
Stein zuerſt munter. Als fie auf das Deck traten, wur⸗ 
den ſie von dem Ho⸗tſchang mit großer Ehrfurcht begrüßt. 
Er führte ſie zu einem Tiſch, wo ihnen der Tee bereitet 
wurde. 

Der Tauſendfuß hatte während der Nacht den 
Hauptfluß verlaſſen und war in den Pe«⸗kiang einge⸗ 
bogen, zu deutſch Nordfluß, weil ſein Lauf im allge⸗ 
meinen faſt ſchnurgerade von Norden nach Süden ge⸗ 
richtet iſt. 

Noch während des Frühſtücks erſchien der Steuer⸗ 
einnehmer. Er hatte urſprünglich nach Ing⸗te und wei⸗ 
ter gewollt, erklärte aber, hier ausſteigen zu müſſen, um 
nach Se⸗hoei zu gehen. Der eigentliche Grund aber war 
jedenfalls der, daß er ſich nicht mehr wohl auf dem 
Schiffe fühlte und nun lieber trachtete, eine andre Reiſe⸗ 
gelegenheit zu finden. Das Schiff legte ſeinetwegen an 
einem kleinen Ort an, wo er ſich unter tiefen Verbeu⸗ 
gungen empfahl. 

Was den Scheu⸗pi betrifft, welcher der eigentliche 
Kommandant des Tauſendfußes hätte ſein ſollen, ſo ließ 
er ſich während der ganzen Fahrt faft niemals auf dem 
Verdeck ſehen. Der Methuſalem erfuhr von dem Ho⸗ 
tſchang, daß der Offizier ein Opiumraucher ſei und dem 
zehrenden Gift ſeine Geſundheit und alle ſeine geiſtige 
Spannkraft geopfert habe. 

Die Reiſenden befanden ſich am Tag meiſt auf dem 
Verdeck, um die Szenerie des Fluſſes zu betrachten, 
welche anfangs allerdings keine Vielfältigkeit bot. Das 
Land war eben und der Pe⸗kiang ſtoß zwiſchen ausge⸗ 


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dehnten Reis⸗ und andern Feldern dahin, die durch zahl⸗ 
reiche Kanäle bewäſſert wurden. Hie und da ſah man die 
Hütten eines Dorfes am Ufer liegen, oder man erblickte 
die Pagode einer fernen Ortſchaft. Das war die einzige 
Abwechslung. 

Erſt ſpäter, als der Fluß die Sohle eines Tales 
füllte, an deſſen Seiten ſich Berge erhoben, bot die 
Gegend mehr Reiz. Man ſah ganze Orte und einzelne 
Häuschen an den Berglehnen liegen, die ſehr gut ange⸗ 
baut waren, da der Chineſe es verſteht, jedes Stück frucht⸗ 
baren Landes möglichſt auszunutzen. Man hätte ſich an 
die Elbe oder an den Rhein verſetzt denken können. Nur 
die Schlöſſer und Burgruinen, auch die Weinpflanzungen 
fehlten. 

Die Paſſagiere vermochten nicht zu begreifen, wie 
die Ruderer bei ihrer ſchweren Arbeit auszuhalten ver⸗ 
mochten. Dieſe Leute waren bei ihrer ſchmalen Reiskoſt 
faſt ohne Unterbrechung Tag und Nacht tätig. Nur in 
Ing⸗te gab es einen halbtägigen Aufenthalt, den die 
Reiſenden dazu benützten, ſich in der Stadt umzuſehen. 
Sie kehrten aber ſehr bald wieder nach dem Schiff zurück, 
da die Beläſtigung durch die Bewohner eine ganz unge⸗ 
wöhnliche war. Man hatte hier noch niemals fremd ge⸗ 
kleidete Leute geſehen und kaum waren die Paſſagiere an 
das Land geſtiegen, ſo ſahen ſie ſich von einer Menſchen⸗ 
menge umgeben, die ſich von Minute zu Minute in der 
Weiſe vergrößerte, daß ſchließlich anzunehmen war, es ſei 
im ganzen Ort kein Menſch daheim geblieben. Dieſe 
Leute verhielten ſich nicht etwa feindſelig, o nein; die 
Fremden wurden von ihnen mit außerordentlicher Hoch⸗ 
achtung behandelt. Alle Köpfe und Rücken beugten ſich 
vor ihnen; aber das Gedränge wurde ſchließlich ſo arg, 
daß an ein Vorwärtskommen gar nicht zu denken war; 


— 423 — 


man blieb geradezu ſtecken, und die Rückkehr konnte nur 
Schritt um Schritt in höchſter Langſamkeit bewerkſtelligt 
werden. 

Am fünften Tage gegen Abend wurde Schao⸗tſcheu, 
eine Stadt zweiten Ranges, erreicht, die am Südfuß des 
Nanling⸗Gebirges liegt, da, wo dieſes in den Ta⸗yü⸗ling 
übergeht. Von da aus war der Fluß für den Tauſend⸗ 
fuß nicht mehr ſchiffbar, und die Reiſenden mußten der 
Dſchunke Lebewohl ſagen. 

Die Behandlung war eine ſehr ehrfurchtsvolle und 
die Beköſtigung eine ausgezeichnete geweſen. Die Reiſen⸗ 
den wollten darum dankbar ſein und boten dem Ho⸗ 
tſchang ein entſprechendes Geldgeſchenk an. Er wies es 
aber zurück, indem er ſich auf den ſtrengen Befehl des 
Ho⸗po⸗ſo, kein Geſchenk anzunehmen, berief. Er ver⸗ 
ſicherte, daß dieſer ihn bereits im voraus reichlich belohnt 
habe, und ſo verteilte der Methuſalem die Summe unter 
die Matroſen, Soldaten und Ruderer. Obgleich jeder 
nach unſern Begriffen nur eine Kleinigkeit erhielt, 
waren dieſe anſpruchsloſen Leute über dieſes unerwartete 
Kom⸗itſcha fo erfreut, daß fie ſich an den Spender dräng⸗ 
ten, um ihm den Saum ſeines Studentenrocks zu küſſen. 

Der Methuſalem erkundigte ſich nach dem höchſten 
Beamten der Stadt. Dieſer war ein Mandarin der fünf⸗ 
ten Klaſſe, zu der unter anderen die Bürgermeiſter der 
Städte zweiten Rangs, die kaiſerlichen Leibärzte, kaiſer⸗ 
lichen Aſtronomen gehören, und die eine kriſtallne 
Kugel auf der Mütze tragen. Degenfeld wollte ſich direkt 
zu dieſem führen laſſen und mietete zu dieſem Zweck die 
nötige Anzahl von Sänften. 

Die Stadt war ein kleines Abbild von Kanton, nur 
daß der Fluß hier kleiner und die Umgegend eine bergige 
war. Es gab da ganz dieſelbe Straßeneinrichtung, die⸗ 


— 424 — 


ſelben Häuſer und Läden und — dieſelbe neugierige Bes 
völkerung. 

Die Träger hielten vor einem palaſtähnlichen Ge⸗ 
bäude, doch ſtiegen die Reiſenden nicht aus. Da der 
Methuſalem ſich im Beſitz eines beſondern kaiſerlichen 
Kuan befand, ſo wäre es gegen ſeine Würde geweſen, den 
Mandarin aufzuſuchen. Liang⸗ſſi wurde beordert, ſich zu 
dieſem zu begeben und ihm die Ankunft ſo hoher Gäſte zu 
melden. Er nahm den Kuan mit, um ihn dem Beamten 
vorzuzeigen. 

Der Bürgermeiſter befand ſich zuhauſe und kam her⸗ 
beigeeilt, um die Angemeldeten mit unterwürfiger Höf⸗ 
lichkeit zu begrüßen und ihnen ſich und ſeine Wohnung 
zur Verfügung zu ſtellen. 

Wie aber erſtaunte er, als fie aus den Palankins 
ſtiegen! Ein ſo wie der Methuſalem gekleideter Menſch 
ſchien ihm ein wahres Weltwunder zu ſein. Er zog die 
Brauen ſo hoch, daß ſie unter dem Rand ſeiner Mütze 
völlig verſchwanden, und ſeine Züge kamen in eine 
geradezu unbeſchreibliche Bewegung. Man ſah es ihm an, 
daß er vor Erſtaunen laut aufgeſchrien hätte, wenn dies 
mit der gebotenen Hochachtung vereinbar geweſen wäre. 
Ebenſo erging es den zahlreichen Bedienſteten, die 

hinter ihm ſtanden und, die Köpfe tief zur Erde geneigt, 
ſich leiſe Bemerkungen zuflüſterten. 

„Na,“ meinte der Gottfried in deutſcher Sprache, 
„die ſind mal janz paff über uns. Soll ich vielleicht die 
Pipe anbrennen, jeehrteſter Methuſalem? Jeſtopft iſt ſie 
ſchon.“ 

„Ja, brenne ſie an,“ antwortete der Gefragte. „Es 
iſt zwar gegen die hieſige Sitte, aber gerade das dürfte 
die Hochachtung vergrößern, die wir uns wünſchen 
müſſen.“ 


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Der Gottfried machte Feuer und der Methuſalem 
nahm die Schlauchſpitze in den Mund und ſog aus Lei⸗ 
beskräften. Dann erſt, als die Pfeife ſich „in Schuß“ be⸗ 
fand, antwortete er in würdevoller Weiſe auf die Bewill⸗ 
kommungsrede des Mandarinen. 

Dieſer verbeugte ſich noch tiefer und lud die er⸗ 
lauchten Herrſchaften ein, ſich in das Haus zu bemühen. 

Der Neufundländer verſtand die Armbewegung des 
Beamten ſofort und wendete ſich dem Tor zu, um lang⸗ 
ſamen Schrittes und in ſelbſtbewußter Haltung voran 
zu ſchreiten. Hinter ihm kam der Methuſalem, gefolgt 
von ſeinem Gottfried, der wie gewöhnlich die Pfeife und 
die Oboe trug. Beide verſchmähten es, einen Blick auf 
die Bedienſteten zu werfen, unter denen ſich mehrere 
Mandarinen niederen Grades befanden. Turnerſtick ent⸗ 
faltete ſeinen Fächer und der Mijnheer ſeinen Regen⸗ 
ſchirm; dann reichten ſie ſich die Hände und ſchritten, ge⸗ 
folgt von den beiden Brüdern, hinter Richard Stein her, 
der ſich auch ein Anſehen gab, als ob er direkt aus der 
kaiſerlichen Reſidenz Pe⸗king komme. 

Der Mandarin wußte gar nicht, wie er ſich ver⸗ 
halten ſollte. Hinter den Gäſten herzuſchreiten, das ver⸗ 
bot ihm ſeine Würde. Vor ihnen, alſo vor dem Hund 
berzugehen und deſſen Führer zu ſein, das vertrug ſich 
ebenſowenig mit ſeiner hohen Stellung. Daher ver⸗ 
ſuchte er, hinter dem Tier und vor dem Methuſalem 
Platz zu finden. Da aber hielt der Neufundländer an, 
richtete ſich auf und fletſchte knurrend die Zähne. Der 
Mandarin erſchrak und wich zurück, um nun doch hinter 
ſeinen Gäſten herzugehen. Er ſchüttelte den Kopf und 
ſuchte voller Angſt in ſeinem Gedächtnis nach, ob in der 
chineſiſchen Literatur der Sitten und Gebräuche ein 
Paragraph zu finden ſei, der davon handle, wie man ſich 


— 426 — 


gegen eine Dſchi⸗ngan, zu deutſch Hunde⸗Exzellenz zu 
verhalten habe. 

Es ging durch einen breiten Flur und dann eine 
ebenſo breite Treppe hinan. Da der Hund nicht wußte, 
ob er ſich nach rechts oder nach links zu wenden habe, 
ſo blieb er ſtehen, und die Herren mit ihm. So erhielt 
der Mandarin Raum, vorzutreten und nach links zu 
zeigen, wo ein Diener ſoeben eine Tür öffnete und ſich 
dann hinter dieſer zur Erde warf. 


Der Neufundländer verſtand den Mandarinen aber⸗ 
mals. Er wandte ſich nach der angegebenen Richtung, 
ſchritt durch die Tür in das große Zimmer, das als 
Empfangsſaal zu dienen ſchien, ſah ſich dort kurz um 
und legte ſich dann lang auf ein ſofaähnliches Polſter⸗ 
möbel, das mit gelber Seide überzogen war. Wäre das 
daheim geſchehen, ſo würde er jedenfalls mit einigen 
Hieben bedacht worden ſein. Hier aber tat Degenfeld gar 
nicht, als ob er es bemerke. Er ſchritt vielmehr auf ein 
ähnliches Polſter zu, deren mehrere rundum ſtanden, 
und ließ ſich gravitätiſch darauf nieder, während der 
Gottfried ſich als getreuer Schildknappe und Pfeifen⸗ 
träger hinter ihm aufſtellte. 

Die andern ſuchten ſich ähnliche Plätze, ſo daß der 
Mandarin der einzige war, welcher ſtehen blieb. Er 
machte ein ſo verblüfftes Geſicht, daß ſeine Gäſte Mühe 
hatten, ernſt zu bleiben. Doch überwand er ſeine Ver⸗ 
legenheit leidlich gut und fragte dann, was zu den Be⸗ 
fehlen der erleuchteten Herrſchaften ſtehe. 


Degenfeld tat einen tüchtigen Zug aus der Pfeife 
und antwortete dann: „Wir wollen über die Grenze nach 
der Provinz Hu⸗nan gehen und werden, bis wir die dazu 
nötigen Vorbereitungen getroffen haben, hier bei Ihnen 


— 427 — 


wohnen. Hoffentlich kann ich dann ſpäter melden, daß 
wir Ihnen willkommen geweſen ſind!“ 

Höchſtwahrſcheinlich war das Gegenteil der Fall, 
doch antwortete der Beamte in verbindlichſtem Ton und 
unter einer tiefen Verbeugung: „Meine Unwürdigkeit 
hat bereits geſagt, daß ich den gebietenden Herren mich 
und mein ganzes Haus zur Verfügung ſtelle. Jeder ihrer 
Befehle wird ſo ſchnell ausgeführt werden, als ob er über 
meine eigenen Lippen gegangen ſei.“ 

„Das erwarte ich allerdings. Sie werden aus 
meinem Kuan erſehen haben, daß ich hier fremd bin, und 
mir nur die beſte Auskunft erteilen. Auf welche Weiſe 
können Männer unſres Ranges nach Hu⸗nan reiſen?“ 

„So hohe Herren haben die Wahl zwiſchen Pferden 
oder Palankins. Ich werde alles Nötige zur Verfügung 
ſtellen, gute Führer mitgeben und auch einem tapfern 
Tſing⸗ weir) gebieten, die ehrwürdigen Gönner zu be⸗ 
gleiten und zu beſchützen, bis ſie ſich jenſeits der Grenze 
befinden und dort eine andre Bedeckung erhalten.“ 

„Eine ſolche militäriſche Begleitung entſpricht aller⸗ 
dings unſerm Rang, doch möchte ich wiſſen, ob ſie auch 
nötig iſt.“ 

„Ich habe geſtern die Meldung erhalten, daß von 
Kwei⸗tſchou die Kuei⸗tſe:) nach Hu⸗nan gekommen find. 
Obgleich ich nicht glaube, daß ſie ſich bis an die Grenze 
unſrer Provinz wagen, halte ich es doch, wenn Sie nach 
Hu⸗nan gehen wollen, für beſſer, ſich mit Waffenbeglei⸗ 
tung zu verſehen.“ 

„Ich fürchte dieſe Kuei⸗tſe nicht, doch mögen Ihre 
Soldaten uns begleiten. Welche Zeit brauchen Sie, uns 
gute Pferde zur Verfügung zu ſtellen?“ 

„Das kann ſofort geſchehen, wenn die ahnenreichen 


Oberleutnant. — ) „Teufelsſöhne“, aufrühreriſche Mohammedaner. 


Herren heute noch aufbrechen wollen. Auch für Mund» 
vorrat und alles andre werde ich augenblicklich ſorgen.“ 

Er ſagte das mit einer Haſt, aus der zu erſehen 
war, wie außerordentlich lieb ihm der baldige Abzug der 
Gäſte geweſen wäre. Doch Degenfeld meinte: „Solche 
Eile iſt nicht nötig. Heute reiſen wir nicht ab; morgen 
aber würde ich gern aufbrechen, wenn bis dahin alles be⸗ 
ſchafft werden kann.“ 

„Das ſoll es ſein, hoher Herr. Ich werde den edlen 
Gebietern ſchon früh die nötigen Reit- und auch Laſt⸗ 
pferde vorführen laſſen. Wünſchen die Inhaber der lan⸗ 
gen Stammbäume zuſammen zu ſpeiſen, oder ſoll das 
Eſſen jedem einzelnen Abkömmling vorgelegt werden?“ 

„Wir bleiben in unſrer Geſellſchaft, bis wir uns 
zur Ruhe legen.“ 

„So werde ich den Wohlwollenden jetzt ihre Zim⸗ 
mer anweiſen laſſen. Dann können ſie ſich im Speiſe⸗ 
ſaal verſammeln. Nur muß ich fragen, welche Gerichte 
ich bereiten laſſen ſoll.“ 

„Das ſtelle ich ganz in Ihr Belieben. Doch bitte ich, 
ein Verzeichnis der Speiſen, die wir erhalten, anfertigen 
zu laſſen, auf daß ich es ſpäter vorlegen und damit be⸗ 
weiſen kann, daß der Kuan des Himmelsſohnes hier in 
Schao⸗tſcheu geachtet wurde.“ 

Dies war ein diplomatiſcher Kniff des Studenten. 
Er erreichte damit jedenfalls ein ſehr gutes Abendeſſen. 
Der Mandarin verbeugte ſich zuſtimmend, wendete ſich 
dann gegen das Sofa, auf dem der Hund lag, verneigte 
ſich auch in dieſer Richtung und fragte: „Soll ich der 
zwei Paar Füße habenden Exzellenz auch ein beſonderes 
Zimmer anweiſen laſſen?“ 

„Nein,“ antwortete der Methuſalem ernſt, obgleich 


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er lieber laut aufgelacht hätte. „Dieſe Exzellenz iſt mein 
Freund und wird bei mir wohnen und ſchlafen.“ 

„Aber welche Gerichte wird ſie zu ſpeiſen belieben?“ 

„Sie wird mit an unſerm Tiſch eſſen.“ 

„Vielleicht iſt die Seele eines berühmten Ahnen in 
ſie gefahren, denn ſie hat eine Größe, wie ich ihresgleichen 
noch nie geſehen habe. Wahrſcheinlich muß man der 
Exzellenz ungewöhnliche Achtung erweiſen?“ 

„Sie iſt allerdings an ganz beſondere Aufmerkſam⸗ 
keit gewöhnt und vermerkt es ſehr übel, wenn man es 
daran mangeln läßt.“ 

„Sie ſoll mit mir zufrieden fein, denn ich werde für 
ihre Bequemlichkeit die größte Sorge tragen.“ 

Er entfernte ſich rückwärts gehend bis zur Tür und 
verſchwand dann durch dieſe, nachdem er ſich vor jedem 
einzelnen und auch vor dem Hund verneigt hatte. Nach 
einigen Augenblicken traten ſo viele Diener ein, als Per⸗ 
ſonen vorhanden waren; jeder hatte den Auftrag, einem 
der Gäſte ſein Zimmer anzuweiſen. 

Der Methuſalem wurde in eine wirklich prächtig 
eingerichtete Stube geführt; es befand ſich nur ein Bett 
darin, aber bald brachten zwei dienſtbare Geiſter noch ein 
zweites hereingetragen. Auf Befragen, für wen es be⸗ 
ſtimmt ſei, erklärte der eine: „Der mit dem Schweif 
wedelnde Urahne ſoll darin ſchlafen, damit er ſich nicht 
über den Herrn des Hauſes zu beklagen hat.“ 

Die guten Leute waren außerordentlich bemüht, die 
beleidigenden Worte Dſchi und Kiuen, welche Hund be⸗ 
deuten, zu umſchreiben, um dem Beſitzer der zwei Paar 
Beine und des Schweifes ihre Achtung zu erweiſen. 
Degenfeld nahm dies als ganz ſelbſtverſtändlich hin. Ihm 
machte es ja keinen Schaden, wenn ſein Liebling einmal 


— 430 — 


Gelegenheit fand, in einem guten chineſiſchen Bett zu 
ſchlafen. 

Er hatte bemerkt, daß man ihm und ſeinen Gefähr⸗ 
ten eine Reihe nebeneinander liegender Zimmer ange⸗ 
wieſen habe. Er ging, um ſie aufzuſuchen, und fand ſie 
bei dem Kapitän verſammelt. Sie hatten es vorgezogen, 
beiſammen zu ſein. Jeder von ihnen hatte eine bren⸗ 
nende Pfeife im Mund, und auf dem Tiſch ſtand eine 
große Porzellanſchale, welche Tabak enthielt. Auf die 
Frage Methuſalems erklärte Turnerſtick: „Meinen Sie 
etwa, daß Sie hier allein rauchen können? Leider wurde 
ich nicht verſtanden, als ich von der dienenden Kreatur 
Tabak verlangte. Man ſcheint hier ein ſchauderhaftes 
Chineſiſch zu ſprechen; aber Liang⸗ſſi hat ihr endlich doch 
zum Verſtändnis gebracht, was wir wollen. Wie gefällt 
es Ihnen in dieſem Hauſe?“ 

„Ganz gut, obgleich wir nicht ſehr willkommen ſind, 
was ich dem Mandarin allerdings nicht verdenken kann.“ 

„Pah! Wir zehren hier auf des Kaiſers Unkoſten, 
was mir freilich noch nicht paſſiert iſt. Am meiſten freue 
ich mich auf morgen. Ich kann Ihnen ſagen, daß ich ein 
leidenſchaftlicher Reiter bin. Darum war ich ganz ent⸗ 
zückt, als Sie Pferde beſtellten. Auch die andern können 
reiten; nur unſer Mijnheer ſcheint nicht damit einver⸗ 
ſtanden zu fein.” | 

„Warum nicht, Mijnheer van Aardappelenboſch?“ 


Der Dicke faltete die Hände über dem Bauch, warf 
einen um Erbarmung flehenden Blick gen Himmel und 
antwortete: „In gevalle dat ik ruiten moet, zoo ſterf ik 
op het oogenblik — wenn ich reiten muß, fo ſterbe ich 
augenblicklich.“ 

„Warum denn?“ 


— 431 — 


„Omdqat ik niet ruiten kann — weil ich nicht reiten 
kann.“ 

„Pah! Sie lernen es!“ 

„Ik? Mijn God een Heer! Ik ben een bongelukkige 
nijlpaard!“ 

„Unſinn! Man ſetzt ſich in den Sattel, ſteckt die 
Füße in den Bügel und läßt das Pferd laufen.“ 

„O wee! Indien ik het paard loopen laat, zoo leg ik 
ſtraks onden op der moeder aarde — o weh! Wenn ich 
das Pferd laufen laſſe, ſo liege ich ſofort unten auf der 
Mutter Erde!“ 

„Sie müſſen es wenigſten verſuchen.“ 

„Neen! Ik dank zeer! Ik wil niet onden zitten — 
Nein! Ich danke ſehr! Ich will nicht unten ſitzen!“ 

Dabei blieb er. Als auch die andern in ihn drangen, 
wenigſtens einen Verſuch zu machen, rief er ganz erboſt 
aus: „Houdt den mond! Geen menſch brengt mij op een 
paard! Ik wil niet mijne armen, mijne beenen en mijn 
nek breken. Ik ben Mijnheer Willem von Aardappelen⸗ 
boſch en ruit van ambtswege op geenen paard, op geenen 
olifant en ook op geenen ooievaar; ik ruit op geenen dier, 
uitgenomen op mijne muilen of op mijne laarzen — 
haltet den Mund! Kein Menſch bringt mich auf ein 
Pferd! Ich will nicht meine Arme, meine Beine und 
mein Genick brechen. Ich bin Mijnheer Willem van 
Aardeppelenboſch und reite von Amts wegen auf keinem 
Pferde, auf keinem Affen, auf keinem Elefanten und 
auch auf keinem Storch; ich reite auf keinem Tiere, aus⸗ 
genommen auf meinen Pantoffeln und auf meinen 
Stiefeln!“ 

Er warf bei dieſer Verſicherung die Arme ſo ener⸗ 
giſch um ſich herum, daß man erkennen mußte, es ſei 
ihm heiliger Ernſt mit ſeinen Worten. Dabei ſtanden 


— 432 — 


dicke Schweißtropfen auf ſeiner Stirn, hervorgebracht 
von dem bloßen Gedanken, daß er reiten ſolle. 

„Nun gut, ſo müſſen Sie ſich tragen laſſen,“ ſagte 
Degenfeld. 

„Ja,“ nickte der Dicke befriedigt. „Ik neem twee 
Kulis, welke mij dragen moeten — ja, ich nehme zwei 
Kulis, welche mich tragen müſſen.“ 

„Davon werden Sie abſehen, da dieſe Träger auf 
die Dauer mit den Pferden nicht gleichen Schritt halten 
könnten. Wir müſſen zu Ihrem Tragſeſſel zwei Pferde 
nehmen.“ ö 

„Hoe zal dat gemakt worden — wie ſoll das gemacht 
werden?“ 

„Ein Pferd geht hinten und das andre vorn, und 
die Tragſtangen der Sänfte werden hüben und drüben 
an den Sätteln feſtgeſchnallt“ 

„Zoo kom ik betwixt de twee paarden? — ſo komme 
ich zwiſchen die zwei Pferde?“ 

„Ja.“ 

„Ik dank zeer! Dat vooran flat achten, en dat achten 
bijt voorn. Ik laat mij noch ſlaan noch bijten — ich 
danke ſehr! Das voran ſchlägt nach hinten aus, und das 
hinten beißt vorn. Ich laſſe mich weder ſchlagen noch 
beißen!“ 

„Aber Sie ſitzen doch im Tragſeſſel, und kein Pferd 
kann Ihnen etwas tun!“ 

„Zoo! Ik zit in den Dragſtoel? Dat is goed; da 
maak ik met — ſo? Ich ſitze in dem Tragſtuhl? Das iſt 
gut; da mache ich mit!“ 

Da er nun überzeugt war, daß weder das eine 
Pferd ihn ſchlagen, noch das andre ihn beißen konnte, ſo 
war er zufriedengeſtellt. Er war eben allezeit auf das 
Heil ſeines umfangreichen Körpers bedacht. 


— 433 — 


Noch waren alle beiſammen, als ein Diener herein⸗ 
trat und jedem einen Zettel überreichte, der eine halbe 
Elle breit und zwei Ellen lang war und eine Einladung 
zum Abendeſſen enthielt. Dieſe Zettel waren dann bei 
Tiſch als Mundtücher zu benutzen. 

Als ſie den Speiſeſaal betraten, wurden ſie von dem 
Mandarin empfangen, der ſich in großer Gala befand. 
Er wies einem jeden ſeinen Platz an. Für die ſieben 
Gäſte waren acht Stühle vorhanden. Auf dem achten 
nahm nicht etwa der Hausherr Platz, ſondern dieſer 
letztere poſtierte ſich an die eine Wand des Saales, um 
die Diener zu überwachen, von denen jeder Gaſt ſeinen 
beſonderen bekam. 

Als ſich alle geſetzt hatten, deutete der Mandarin 
auf den Hund und ſagte: „Soll der Urahne ſich nicht 
auch ſetzen. Es iſt ja ein Stuhl für ihn vorhanden.“ 

Degenfeld bemühte ſich, ernſt zu bleiben. Er gab 
dem Neufundländer einen Wink und dieſer ſprang ſofort 
auf den leeren Stuhl und beſchaute die ſchriftliche Ein⸗ 
ladung, die ſein Diener vor ihn hinlegte. Das ſah ſo 
drollig aus, daß Turnerſtick lachen wollte, was ihm aber 
von dem Methuſalem mit einigen Worten verwieſen 
wurde. 

Nun wurde der erfte Gang aufgetragen, der aus 
einer vorzüglichen Fiſchſuppe beſtand. Der Hund beroch 
ſeinen Teller. Die beigefügten Gewürze waren ihm zu⸗ 
wider; darum wendete er ſich ab; aber auf einen Wink 
und ein beigefügtes Wort ſeines Herrn überwand er ſich 
und leckte gehorſam den Teller leer. 

Ganz dasſelbe geſchah bei den übrigen Gängen. Der 
Neufundländer war wohlgezogen und hatte früher ſchon 
manches genießen müſſen, was andre Hunde verſagt hät⸗ 
ten. Wenn ihm eine Speiſe nicht behagte, ſo ſah er 

May, Der blaurete Methuſalem. 28 


— 434 — 


ſeinen Herrn an, und ſobald dieſer den Finger hob, fraß 
er ſie auf. 

In dieſer Weiſe machte das Tier das ganze Nacht⸗ 
mahl mit durch und wurde dabei mit einem Eifer und 
einer Ehrerbietung bedient, als ob es den Rang eines 
hohen Mandarinen bekleide. Ob der Hausherr dieſe Be⸗ 
ſtimmung aus Ironie getroffen hatte, das war dem 
Methuſalem ſehr gleichgültig. Es wurde alles in ernſter 
Würde verzehrt, und der Hund zeigte dieſe Würde in 
nicht geringerem Grade als ſeine menſchlichen Mitgäſte. 

Am Schluß des Mahles überreichte der Mandarin 
dem Methuſalem das gewünſchte Verzeichnis der Speiſen 
und fragte dabei, ob er ſich der Zufriedenheit ſeiner hohen 
Gäſte erfreuen dürfe. Er erhielt eine bejahende Antwort, 
und das mit vollem Recht. Dann bat er um die Er⸗ 
laubnis, ſich zurückziehen zu dürfen, da er zu gering ſei, 
mit ſeiner Anweſenheit die Erleuchteten beläſtigen zu 
dürfen. Es wurde ihm in gnädigen Worten erlaubt und 
er ging ſchleunigſt. 

Nun gab es noch eine Art Wein, aus gegorenem 
Reis bereitet, welcher heiß aufgetragen wurde. Es war 
kein wohlſchmeckendes, ſondern ein ſehr fades Getränk, 
dem die Gäſte dadurch zu entgehen ſuchten, daß ſie bal⸗ 
digſt aufbrachen, um ſich zur Ruhe zu begeben. 

Der Neufundländer hatte noch nie ein ſolches Lager 
gehabt wie heute. Er blickte ſeinen Herrn ganz verwun⸗ 
dert an, als dieſer ihn in das Bett verwies, ſäumte aber 
gar nicht, dieſem Befehl Gehorſam zu leiſten. 

„Ja,“ ſagte der Gottfried, welcher dabeiſtand, „heut 
jeht's hoch her bei dich, denn du biſt ein urahniger Je⸗ 
bieter mit vier Füße und einem Schweif. Aberſt komm 
nur wieder nach Hauſe! Da ſchläfſt du wie vorher bei 
mich auf dem Strohdeckel, und wenn du etwa von China 


— 435 — 


träumſt, ſo jibt es Hetzpeitſche ohne Schmorkartoffel. 
Jehab dir wohl, und verſchlafe dir nicht, denn morjen 
fliegen wir zeitig aus dem Neſt! Jute Nacht auch Sie, 
oller Methuſalem! Ich habe noch die Pipe zu reinigen, 
damit wir morjen hier in Schao⸗tſcheu keinen ſtänkerigen 
Eindruck machen.“ 


Er löſchte die an der Decke hängende Laterne aus 
und ging. Noch war es zeitig am Morgen, als er wieder 
kam, um ſeinen Herrn zu wecken. Er meldete, daß ſich 
unten im Hofe wohl ein Dutzend Pferde befänden, die 
der Mandarin für ſeine Gäſte geſtellt habe, um dieſe ſo⸗ 
bald als möglich abreiſen zu ſehen. 

Im Speiſeſaal wurde der Tee getrunken, und dann 
erſchien der Hausherr, um die „Herren mit den langen 
Stammbäumen“ zu erſuchen, ſich in den Hof zu be⸗ 
mühen. Degenfeld zählte dort fünfzehn Pferde. Sechs 
waren zum Reiten und zwei zum Tragen der Sänfte für 
den Mijnheer beſtimmt. Den übrigen waren Packſättel 
aufgeſchnallt. 


Degenfeld unterſuchte die Reitpferde. Es waren 
kleine, häßliche Tiere, die ſich aber ſpäter als ſehr munter 
und ausdauernd bewieſen. Das Zaumzeug war letdlich, 
doch zeigten die Sättel eine unbequeme Geſtalt, und die 
Bügel waren ſchwer und unbeholfen. Dem konnte aber 
nicht abgeholfen werden. 


Der Methuſalem beſtieg eins der Tiere, um es zu 
probieren. Von einem Durchreiten der Schule konnte 
keine Rede ſein, weil es eben keine Schule beſaß, doch ge⸗ 
uns es ziemlich willig dem Zügel und dem Schenkel⸗ 
ruck. | 

„Nun, wollen Sie nicht auch einmal verſuchen?“ 
fragte Turnerſtick den Dicken. 


— 436 — 


„Ik?“ antwortete dieſer, indem er alle zehn Finger 
abwehrend ausſpreizte. „Ik niet, waarachtig niet — ich 
nicht, wahrhaftig nicht!“ 

Alles, was mitgenommen werden ſollte, war ſchon 
verpackt. Das waren Speiſen, einige Flaſchen Raki und 
ſodann vor allem eine bedeutende Anzahl von Decken aus 
den verſchiedenſten Stoffen, mit deren Hilfe die Reiſen⸗ 
den es ſich in den Einkehrhäuſern möglichſt bequem 
machen ſollten. 

Dann führte der Mandarin ſeine Gäſte vor das 
Haus, wo der Oberleutnant mit zwanzig berittenen 
Soldaten hielt. Er trug auf der Bruſt einen Tuchfleck, 
der die Geſtalt des Kriegstigers zeigte, hatte aber gar 
nicht etwa ein tigerartiges Ausſehen. Von kleiner, dürf⸗ 
tiger Geſtalt, ſaß er auf einem ebenſo dürftigen Rößlein, 
welches Lockenhaare wie ein Pudel hatte. Deſto gewal⸗ 
tiger war der Sarras, der ihm von der Seite hing. Rechts 
und links blickten ihm zwei rieſige Piſtolen aus den 
Taſchen, von denen aber zu vermuten war, daß ſie die 
löbliche Eigenſchaft beſaßen, gerade dann nicht loszu⸗ 
gehen, wenn geſchoſſen werden ſollte. 

Ein ebenſo unritterliches Ausſehen hatten ſeine 
Mannſchaften. Sie waren verſchieden gekleidet und ver⸗ 
ſchieden bewaffnet. Der eine hielt einen langen Spieß 
und der andre ein Gewehr in der Hand, deſſen Lauf wie 
ein Korkzieher gewunden war. Der dritte hatte eine 
Mordwaffe, von der man nicht wußte, ob ſie eine Arm⸗ 
bruſt oder eine Mauſefalle ſein ſolle. Der vierte trug 
eine Keule, aus der verroſtete Nagelſpitzen naiv ſchauten. 
Der fünfte hatte einen Bogen ohne Pfeile und der ſechſte 
einen Köcher, zu dem aber der Bogen fehlte. In ähn⸗ 
kicher Weiſe waren auch die andern ausgerüſtet. Das 
Kriegeriſcheſte an ihnen waren die martialiſchen Geſich⸗ 


— 437 — 


ter, welche ſie ſchnitten, und die Schrift, die ſie alle auf 
dem Rücken trugen. Dort ſtand nämlich geſchrieben 
„Ping“, das iſt „Soldat“. 

„Alle Ober⸗ und Unterjötter! Wat ſind das für 
Leute?“ fragte der Gottfried. — „Soldaten,“ erklärte 
der Methuſalem. — „Und die ſollen mit uns?“ — „Ja⸗ 
wohl.“ — „Weshalb denn?“ — „Um uns zu beſchützen.“ 
— „Dat glaube ich nicht.“ — „Weshalb denn ſonſt?“ — 
„Wenn ich ſie mich ſo betrachte, ſo ſcheint es mich, dat ſie 
mit uns wollen, damit nicht ſie uns, ſondern wir ihnen 
beſchützen ſollen. Wat bedeutet die baumwollene Schrift 
auf ihren Hinterfronten?“ — „Soldat.“ — „Ah, ſiehſt 
du, wie du biſt! Wat die Chineſigen doch für pfiffige 
Jungens ſind!“ — „Inwiefern?“ — „Nun, dat iſt doch 
leicht zu erkennen. Dieſe Soldaten brauchen nicht zu 
fechten und zu kämpfen; es iſt jar nicht nötig, dat ſie ihr 
edles Leben wagen. Sie brauchen nur auszureißen und 
dem Feind den Rücken zuzukehren. Dann lieſt er dat 
ſchreckliche Wort ‚Soldat‘ und wendet vor Angſt auch um 
und jeht von dannen. So wird durch eine alljemeine 
Flucht der glänzendſte Sieg jewonnen. Ich werde dieſe 
Erfindung mit nach Hauſe nehmen und ſie in einem 
einjeſchriebenen Brief an Moltke ſenden. Vielleicht blüht 
mich dafür der ſchwarze Adler erſter Jüte mit Brillan⸗ 
ten.“ — „Ja, dieſe Leute werden uns mehr ſchaden als 
nützen; aber wir müſſen ſie mitnehmen. Unſer Rang er⸗ 
fordert es.“ — „Na, wat würde man in Berlin oder fo 
da in Deutſchland herum von unſerm Rang denken, 
wenn wir in ſolcher Jeſellſchaft anjelangt kämen! O 
China, wie habe ich mich in dich jetäuſcht! Deine Köche 
will ich loben, aber deine Soldaten kannſt du nur jetroſt 
wieder in die Schachtel tun!“ 

Ganz entgegen dieſem Urteil fragte der Mandarin 


— 438 — 


in ſelbſtbewußtem Ton Degenfeld: „Hat der erleuchtete 
Gebieter in ſeinem Lande auch ſo tapfere Krieger?“ 

„Sind dieſe Leute denn tapfer?“ fragte der Student. 

„Ueber alle Maßen. Sie fürchten ſelbſt den Tiger, 
das einhörnige Rhinozeros und den wildgewordenen 
Elefanten nicht.“ 

„Hoffentlich bekomme ich während meiner Reiſe Ge⸗ 
legenheit, ihren Mut zu erproben.“ 

„Das würde vielen Gegnern das Leben koſten. 
Wann wünſchen die ehrwürdigen Herren dieſe Stadt zu 
verlaſſen?“ 

„Sobald die Vorbereitungen getroffen ſind.“ 

„Das iſt bereits geſchehen, und es iſt alles zum Auf⸗ 
bruch bereit; doch vorher mögen die Vielgeprieſenen den 
Morgenreis bei mir verzehren.“ 

Unter Morgenreis iſt Frühſtück zu verſtehen. Die⸗ 
ſes beſtand nicht aus ſo vielen Gängen, wie das geſtrige 
Abendeſſen. Der Mandarin wünſchte nicht, die Anweſen⸗ 
heit ſeiner Gäſte zu verlängern. Als er ſah, daß ſie von 
den Speiſen nur nippten, machte er ein ſehr zufriedenes 
Geſicht. Dasſelbe nahm nur dann einen finſtern Aus⸗ 
druck an, wenn ſein Blick auf den Mijnheer fiel. Dieſer 
hatte ſich feſtgeſetzt, als ob er gar nicht wieder aufſtehen 
wolle und langte in einer Weiſe zu, als ob er befürchte, 
von heut an bis nach Ablauf der Woche nichts Eßbares 
mehr vor die Augen zu bekommen. 

Endlich klappte er ſein Meſſer zu, ſchob es in die 
Taſche und ſagte: „Zoo! Heden ochtend word ik niet meer 
eten; maar vervolgens muet ik een middageten hebben — 
ſo! Heut früh werde ich nicht mehr eſſen; aber nachher 
muß ich ein Mittagsmahl haben.“ 

Nun begab man ſich in den Hof hinab, um aufzu⸗ 
brechen. Eine Rechnung war nicht zu begleichen. Auch 


8 


die Trinkgelder kamen in Wegfall, da es einem hochge⸗ 
ſtellten Chineſen niemals beikommen kann, Dienſte zu 
belohnen, die er ſeinem Rang nach zu beanſpruchen hat. 
Der Kuan hatte ja ſogar die angenehme Wirkung, daß 
weder für die Pferde noch für die Begleitung oder den 
mitgenommenen Mundvorrat etwas zu entrichten war. 

Der Methuſalem ſuchte den Abſchied ſo viel wie 
möglich abzukürzen, und der Mandarin unterſtützte die⸗ 
ſes Beſtreben ſehr gern. Der erſtere ſagte Dank für die 
genoſſene Gaſtfreundlichkeit und verſprach, an geeigneter 
Stelle derſelben rühmend zu gedenken, und der letztere 
beklagte, die hochwürdigen Gönner nicht noch länger bei 
ſich zu ſehen und bewirten zu können. Dann ſtieg man 
zu Pferd. 

Außer dem Dicken hatten alle ſchon früher im Sattel 
geſeſſen. Selbſt Richard hatte den Onkel Methuſalem oft 
in den Reitſtall begleitet und da einen kleinen Ritt ge⸗ 
macht. So war alſo nicht zu befürchten, daß einer ſich 
vor den Bewohnern von Schao⸗tſcheu blamieren werde. 

Die Sänfte war in der von Degenfeld angegebenen 
Weiſe an zwei Pferden befeſtigt worden. Der Dicke ſtieg 
ein, und der Gottfried machte Feuer, damit die Waſſer⸗ 
pfeife in Brand geſteckt werden könne. Dann ſetzte ſich 
der Trupp in Bewegung, von dem Mandarin und ſeinen 
Untergebenen unter tiefen Bücklingen bis vor das Tor 
begleitet. 

Draußen ſtand eine ungeheure Menſchenmenge. Die 
Ankunft der Fremdlinge hatte nicht ſo viel Aufſehen er⸗ 
regt, weil man davon nichts gewußt hatte. Mittlerweile 
aber war es ruchbar geworden, daß vornehme Manda⸗ 
rinen aus einem fernen Erdteil bei dem Vorſteher der 
Stadt eingekehrt ſeien und am Vormittag wieder ab⸗ 
reiſen würden. Dieſe Kunde hatte die Einwohner aus 


— 440 — 


ihren Häuſern gelockt, und nun ſtanden ſie Kopf an Kopf, 
um ihre Neugier zu befriedigen. 

Dies hatte der Mandarin geahnt und danach ſeine 
Vorkehrungen getroffen. Um ein Fortkommen durch die 
dicht gedrängte Menge zu ermöglichen, ſchritt eine An⸗ 
zahl Poliziſten voran, die mit ihren Stäben Platz mach⸗ 
ten, indem ſie die nötigen Hiebe und Püffe austeilten. 
Damit die ſo geſchaffene Lücke ſich nicht wieder ſchließe, 
ging rechts und links je eine Reihe weiterer Sicherheits⸗ 
beamten, welche die Köpfe der Zudringlichen ebenſo be⸗ 
arbeiteten. Zwiſchen ihnen bewegte ſich der eigentliche 
Zug. 

Voran ritt der Oberleutnant, gefolgt von zehn ſeiner 
Helden, welche grimmig um ſich blickten. Dann folgte der 
Neufundländer, der ſo ſtolz und ſicher ſchritt, als ob 
dergleichen Triumphzüge bei ihm zu den Alltäglichkeiten 
gehörten. Nun kam der Methuſalem zu Pferd, das Ge⸗ 
wehr auf dem Rücken und die Pfeifenſpitze im Mund, aus 
welchem er dichte Rauchwolken ſtieß, hinter ihm natürlich 
Gottfried mit der Pfeife und der Oboe. Dieſem folgte 
Turnerſtick mit weit geöffnetem Fächer, neben ihm 
Richard Stein, der hell und luſtig über die gaffende 
Menge hinblickte. Hierauf war die Sänfte zu ſehen. Die 
beiden Pferde, welche dieſe trugen, wurden von zwei 
Poliziſten geführt. Rechter Hand des Palankins ging 
ein dritter Poliziſt, der den aufgeſpannten Schirm des 
Dicken als Zeichen der hohen Würde des Beſitzers trug, 
denn je größer in China der Fächer und der Schirm, 
deſto vornehmer iſt deren Beſitzer. Zur linken Hand ſah 
das fette Geſicht des Mijnheer mit der ſchottiſchen Mütze 
aus der Sänfte. Da er auf den Sattel verzichtet hatte, 
wollte er wenigſtens in dieſer Weiſe die Menge von 
ſeinem Daſein überzeugen und die Huldigungen ent⸗ 


— 441 — 


gegennehmen. Seine feiſten Wangen und der Umſtand, 
daß er getragen wurde, brachten auch wirklich die Ueber⸗ 
zeugung hervor, daß er der vornehmſte der fremden 
Mandarinen ſei. Darum verbeugte man ſich oft vor dem 
Kopf, dem einzigen ſichtbaren Teil des „Herrn mit dem 
langen Stammbaum“, was von dem Mijnheer ſtets 
voller Huld mit einem freundlichen Grinſen erwidert 
wurde. Hinter der Sänfte ritten die beiden Brüder 
Liang⸗ſſi und Jin⸗tſian und den Schluß des Zuges bil⸗ 
deten die andern zehn Kavalleriſten, hinter denen ſich 
die Menge wieder ſchloß, um den Fremden nachzudrängen. 


So ging es langſam durch die Straßen und Gaſſen 
der Stadt und endlich, endlich, nach faſt einer Stunde, 
zum öſtlichen Tor derſelben hinaus, wo die Straße im⸗ 

mer am Waſſer hin nach Schin⸗hoa, dem Ziele des 
heutigen Ritts, führte. 


Dort vor dem Tor kehrten die Poliziſten um, und 
der Mijnheer erhielt ſeinen Schirm wieder zugeſtellt. 
Viele Bewohner der Stadt aber folgten noch eine weite 
Strecke, um erſt allmählich zurückzubleiben und umzu⸗ 
kehren. 


Von jetzt an gebärdete ſich der Oberleutnant ganz 
als Führer und Beſchützer der ihm anvertrauten hohen 
Herrſchaften. Er gab eine Menge ganz unnötige Befehle, 
welche häufig den geradeſten Widerſpruch enthielten, be⸗ 
fahl ſeine Untergebenen bald vor, bald hinter, bald neben 
die Reiſenden, ſprengte weit voran, um auszuſchauen, ob 
die Straße ſicher ſei, und blieb ebenſo häufig zurück, um 
ſich zu überzeugen, daß dort keine hinterliſtige Gefahr 
drohe. Er hielt ſeine Leute und Pferde fortwährend in 
Atem, und das alles nur, um den „Erleuchteten“ zu 
zeigen, welch einen wichtigen Poſten man ihm anver⸗ 


— 442 — 


traut habe, und daß er ganz der Mann ſei, dieſen aus⸗ 
zufüllen. 

Die Straße ſtieg bald am ſteilen Ufer empor, bald 
ſenkte ſie ſich wieder gegen den Fluß herab. Sie war gut 
angelegt und leidlich unterhalten. Die chineſiſche Regie⸗ 
rung ſchenkt zwar dem Syſtem der Kanäle mehr Auf⸗ 
merkſamkeit als demjenigen der feſten Wege, aber das 
Land iſt trotzdem keineswegs arm an guten Straßen. Oft 
ſind dieſe ſogar mit großer Kühnheit angelegt, und die 
Hinderniſſe, welche Flüſſe, Täler und Schluchten bieten, 
werden von Brücken und Ueberführungen überſchritten, 
die Jahrhunderte überdauert haben und ſelbſt die Be⸗ 
wunderung berühmter europäiſcher Architekten erregen 
können, zumal dieſe Bauten zu einer Zeit ausgeführt 
wurden, wo bei uns niemand gewagt hätte, ſo kühne 
Wege anzulegen. 

Die Reiſenden erblickten an der Straße, der ſie folg⸗ 
ten, von zehn zu zehn Li, alſo nach unſrem Längenmaß 
ungefähr alle fünf Kilometer, Soldatenhäuſer, welche 
mit einem Wachtturm verſehen waren. Man hat ſie an 
ſolchen Stellen errichtet, daß es möglich iſt, von einem 
Turm die beiden nächſten zu erblicken und mit Hilfe 
von Flaggen, die an hohen Stangen aufgezogen werden, 
Meldungen zu empfangen und weiterzugeben. Dieſe 
Wachttürme haben ganz beſonders den Zweck, die Nach⸗ 
richt von Empörungen, die in China ſehr häufig ſind, 
ſchnell zu verbreiten. 5 

In ebenſo regelmäßigen Abſtänden find Ruhe⸗ 
häuſer angelegt, die auf Staatskoſten unterhalten wer⸗ 
den, jedermann zur Aufnahme dienen, beſonders aber 
von den reiſenden Beamten benutzt werden. 

In der Nähe jedes dieſer Gebäude ſtehen an einer 
in die Augen fallenden Stelle drei weiße, ſteinerne 


— 443 — 


Säulen, die unſern Meilenzeigern gleichen und den Rei⸗ 
ſenden ſchon von weitem auf das Vorhandenſein des 
Ruhehauſes aufmerkſam machen. 

Der Oberleutnant war am erſten Ruhehaus vorbei⸗ 
galoppiert, ohne es zu beachten; beim zweiten aber hielt 
er an, verbeugte ſich vor dem Methuſalem und ſagte: 
„Hier iſt ein ſehr ſchönes Sié⸗kia (Ruhehaus) und ich er⸗ 
ſuche die mächtigen Gebieter, abzuſteigen.“ Während er 
das ſagte, ſchwang er ſich auch ſchon aus dem Sattel, und 
ſeine Leute folgten dieſem Beiſpiel. 

„Wer hat geſagt, daß hier geruht werden ſoll?“ 
fragte der Student. — „Ich,“ antwortete der Offizier 
dumm⸗erſtaunt. — „Sind Sie ſo ermüdet?“ — „Ja.“ 
— „So reiten Sie vernünftiger, und ſtrengen Sie Ihre 
Leute und Pferde nicht ſo an! Ich habe keine Veran⸗ 
laſſung, abzuſteigen.“ — „Aber, erleuchteter Herr, es iſt 
hier Sitte, zwanzig Li zu reiten und dann auszuruhen!“ 
— „dieſe Sitte gefällt mir nicht.“ — „Wir haben ja 
Speiſe und Trank bei uns und können eſſen und trinken. 
Auch ſind Decken genug vorhanden, um uns in aller Be⸗ 
quemlichkeit niederlaſſen zu können!“ — „Wenn wir das 
tun und Ihrem Brauch folgen, ſo ſind wir in zehn 
Tagen noch nicht am Ziel.“ — „Iſt es denn nötig, es ſo 
bald zu erreichen? Wir haben ja Zeit!“ — „Ihr, aber 
wir nicht. Wie weit iſt es von Schao⸗tſcheu bis Schin⸗ 
hoa?“ — „Hundert Li.“ — „So müßten wir viermal 
einkehren und würden den letzteren Ort wohl erſt über⸗ 
morgen erreichen. Ich aber will heut noch hin.“ — „Das 
iſt unmöglich, hoher Vorfahre.“ — „Ich werde Ihnen 
beweiſen, daß es ſehr wohl möglich iſt. Wir kehren nur 
einmal ein, nämlich wenn wir die Hälfte des Wegs, alſo 
fünfzig Li, zurückgelegt haben.“ — „So müſſen wir ver⸗ 
ſchmachten, und die Pferde werden vor Müdigkeit ſtür⸗ 


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zen; ſie wanken doch ſchon!“ — „Das ſcheint Ihnen nur 
ſo, weil Sie ſelbſt das Gleichgewicht verloren haben. 
Kehren Sie hier ein, wenn es Ihnen beliebt, wir aber 
reiten weiter!“ 

Er trieb ſein Pferd an, daß es in Galopp fiel: die 
andern folgten, und ſelbſt die Packtiere, welche keine be⸗ 
ſonderen Führer hatten, rannten hinterdrein. 


Der Oberleutnant machte ein Geſicht, wie er es 
wohl noch nie gezogen hatte. So etwas war ihm noch 
nie paſſiert. Er hatte große Luſt, ſeinem Kopf zu folgen, 
beſann ſich aber eines Beſſeren, ſtieg wieder auf und ritt, 
gefolgt von ſeinen Leuten, den Vorausgeeilten nach. 
Von jetzt an ließ er ſein Tier ruhig gehen und hielt ſich 
ſchmollend eine kleine Strecke weit zurück. 

Am Mittag wurde die Stelle erreicht, wo der eine 
Arm des Fluſſes rechts ab nach Schi⸗hing und der andre 
links nach Schin⸗hoa führt; dieſem letzteren folgten die 
Reiſenden. Nun wurde die Gegend immer gebirgiger. 
Bisher waren die Berge bis zu ihrer Höhe mit Feldern 
bebaut geweſen; jetzt zeigten ſich auch bewaldete Gipfel, 
ein Zeichen, daß man ſich der eigentlichen Maſſe des Nan⸗ 
ling⸗Gebirges nähere. 

Als man die ungefähre Hälfte des Weges zurück⸗ 
gelegt hatte, hielt der Methuſalem beim nächſten Ein⸗ 
kehrhaus an. Der Wirt, ein dicker, ſchmutzig ausſehender 
Chineſe, kam heraus, um die Ankömmlinge zu begrüßen. 
Sein Geſicht war nicht eben ein freundliches. Jedenfalls 
hatte er die Erfahrung gemacht, daß chineſiſche Soldaten 
nicht ſolche Gäſte ſind, an denen viel zu verdienen iſt. 
Als er aber die fremd gekleideten Herren ſah, erhielten 
ſeine Züge einen noch ganz andern Ausdruck. Er riß 
den Mund und die kleinen Schlitzaugen auf, ſo weit er 


= HAB 


konnte, und jtarrte die Männer an, als ob ihm der Ver⸗ 
ſtand abhanden gekommen ſei. 

Der Gottfried ſprang vom Pferd, hielt dem Mann 
die Oboe ans Ohr und verzapfte einen ſo ſchauderhaften 
Triller, daß der Wirt von Entſetzen einen lauten Schrei 
ausſtieß und zu gleichen Beinen davonlief, um hinter der 
Ecke des Hauſes zu verſchwinden. „Erledigt!“ lachte der 
Wichſier. „Jehen wir nun rin in dat Vergnüjen!“ 

Das Gebäude enthielt zwei Abteilungen von ſehr 
verſchiedener Größe. Die kleinere war jedenfalls für den 
Wirt, die größere für die Gäſte beſtimmt. Als der Gott⸗ 
fried einen neugierigen Blick in die erſtere warf, fuhr er 
zurück und rief: „Pfui Spinne! Von dieſer Madame 
möchte ich nicht eſſen!“ 

„Wieſo?“ fragte Turnerſtick. 

„Die Familienmutter hat ſich neben dem rauchen⸗ 
den Schmertopf niederjelaſſen und hält eine junge Lady 
in ihrem Schoß, mit deren Kopf ſie janz datſelbige macht, 
wat die Affen ſo häufig einander zuliebe tun. Wenden 
wir uns jrauenhaft auf die andre Seite!“ 

Dort ſah man einen großen, kahlen Raum, worin 
nur ein Tiſch und zwei Bänke ſtanden. In kurzer Zeit 
aber ſah es wohnlicher aus. Da es eine Ruhepauſe galt, 
waren die Soldaten nicht zurückgeblieben. Sie brachten 
die Decken und Tücher herein, um ſie über den Tiſch und 
die Bänke zu breiten. Einige Matten wurden auf den 
Boden gelegt, und dann holten die reitunluſtigen Kaval⸗ 
leriſten die Mundvorräte herein, die von dem Methuſa⸗ 
lem verteilt wurden. 

Die Herrſchaften aßen am Tiſch und die Soldaten 
am Boden auf den Matten. Da ein hochgeſtellter Chinese 
ſich nicht gern von einem tiefer ſtehenden beim Eſſen be⸗ 
obachten läßt, jo hatten ſich die Krieger ſo geſetzt, Daß fie 


— BAG; ce 


den Reiſenden den Rücken zukehrten, was alſo nicht das 
Zeichen eines Mangels an Achtung, ſondern gerade das 
Gegenteil war. 

Nach einer halben Stunde hatte man das Mahl be⸗ 
endet, und der Methuſalem mahnte zum Aufbruch, wel⸗ 
chem Befehl die Soldaten nur ſehr langſam Folge 
leiſteten. Degenfeld wollte, obgleich man von dem Wirt 
nichts verlangt hatte, dieſem doch eine Münze geben. 
Liang⸗ſſi ging, ihn zu ſuchen, kehrte aber zurück, ohne 
ihn gefunden zu haben. Der Mann ließ ſich aus Angſt 
vor der Oboe zu den Verſchollenen zählen, und das Geld 
mußte ſeiner Frau ausgehändigt werden. 

Nun ging es wieder vorwärts, immer tiefer in die 
Berge hinein. Bald führte die Straße durch tiefe, enge, 
finſtere Klüfte, bald ſtieg ſie in ſteilen Windungen wie⸗ 
der zur hellen Höhe empor, um eine Ausſicht auf neue 
Tiefen zu eröffnen. 

Die Reiſenden ſtrengten jetzt die Pferde möglichſt 
an, um noch vor Nacht das Ziel zu erreichen. Die Sol⸗ 
daten waren gezwungen, ihnen ebenſo ſchnell zu folgen. 
Der Weg war menſchenleer. Kein Wanderer begegnete 
ihnen. Hier und da gab es einmal ein Haus oder eine 
einſame Siedelung, deren Bewohner neugierig vor die 
Türen gerannt kamen und halb erſtaunt, halb erſchrocken 
zurückführen, wenn ſie die fremdartigen Reiter erblickten. 

Der Methuſalem ritt voran; er hatte während des 
ganzen Tages keine Luſt gezeigt, ſich zu unterhalten. 
Seine Gefährten hielten zuſammen, um ſich den Weg 
durch Geſpräch zu verkürzen. Sie bemerkten, daß er der 
Gegend eine ungewöhnliche Aufmerkſamkeit ſchenkte und 
bald rechts, bald links blickte, als ob er etwas ſuche. 

So verging der Nachmittag, und der Abend wollte 
hereiabrechen, als man auf der letzten Höhe anlangte, 


— 447 — 


von wo aus man die Stadt Schin⸗hoa am Ufer des hier 
ſchmalen Fluſſes liegen ſah. Degenfeld befahl dem 
Offizier, voran zu reiten, um dem Ortsvorſteher die An⸗ 
kunft des Inhabers eines kaiſerlichen Kuan zu melden, 
welchem Befehl ſchleunigſt Folge geleiſtet wurde. 

Nun ging es langſam bergab. Die Sonne war ſchon 
hinter den Bergwänden verſchwunden, und die Höhen 
warfen ihre immer tiefer werdenden Schatten in das 
Tal. Als die Reiter deſſen Sohle erreichten, ſahen ſie die 
Wirkung der Botſchaft, welche Degenfeld dem Oberleut⸗ 
nant aufgetragen hatte. Dieſer hatte die Neuigkeit wohl 
laut auf der Straße verkündet, denn es kam ihnen eine 
dichte Menſchenmenge entgegen, die ſich zu beiden Seiten 
des Weges aufſtellte. Die Pferde wurden angeſpornt und 
im Galopp ging es dem Tor der Stadt entgegen. Dort 
wartete ihrer der Offizier, um ſie nach der Wohnung des 
Mandarin zu bringen, bis wohin die Einwohner förmlich 
Spalier bildeten. Und doch war es bereits ſo dunkel, daß 
man kaum einige Schritte weit zu ſehen vermochte. 
Laternen aber durften noch nicht gebrannt werden, da 
das Zeichen dazu noch nicht gegeben war. 

Die Gäſte wurden wie geſtern von dem Mandarin 
an der Tür empfangen und dann in das Innere des 
Hauſes geleitet. Der lange Ritt hatte die Reiſenden, die 
nicht gewohnt waren, einen ganzen Tag im Sattel zu 
ſitzen, ungemein angeſtrengt. Richard vor allen konnte 
kaum die Beine biegen und hatte einen ungemein ſteifen 
Schritt, gab ſich aber mannhaft Mühe, es nicht merken 
zu laſſen. 

Noch ſchlimmer ſchien der Mijnheer daran zu ſein. 
Er hatte ſchon während des Nachmittags geklagt, ohne 
aber ſehr beachtet zu werden. Dann waren ſeine Seufzer 
tiefer und ſeine Ausrufungen lauter geworden, und auf 


en GAR: 


Befragen hatte er erklärt, daß er feine Glieder nicht mehr 
fühle. Es war allerdings nichts Kleines für einen ſo 
ſtarkbeleibten Mann, einen Tag lang in der engen 
Sänfte bewegungslos ſitzen zu müſſen und, da dieſe von 
zwei Pferden getragen wurde, alle Unebenheiten des 
Weges zwiefach empfinden zu müſſen. Als er jetzt aus 
dem Palankin ſteigen wollte, war ihm das unmöglich. 
Zwei Diener des Mandarins zogen und ein dritter auf 
der andern Seite ſchob ihn heraus. Als er die Erde 
unter ſich hatte, wankte er, ſo daß er gehalten werden 
mußte. Glücklicherweiſe lag das Empfangszimmer zur 
ebenen Erde, ſo daß es keine unüberwindlichen Schwie⸗ 
rigkeiten bot, ihn dorthin zu bringen. Da aber ſank er 
ſofort in einen Stuhl, faltete die Hände über den Leib, 
ſtieß einen langen, ſtöhnenden Seufzer aus und ſchloß 
die Augen, indem er langſam flüſterte: „Ik ben dood; ik 
ben geſtorven. Mijne ziel is ginds, en maar mijn lig⸗ 
cham is hier gebleven. Goede nacht, o booſe wereld — 
ich bin tot; ich bin geſtorben. Meine Seele iſt jenſeits, 
und nur mein Leichnam iſt hier geblieben. Gute Nacht, 
o böſe Welt!“ 

Ganz ſo wie geſtern wurden den Reiſenden Zimmer 
angewieſen. Der Dicke mußte in das ſeinige getragen 
werden, wo man ihn in das Bett legte. Er ließ das mit 
ſich geſchehen, ohne auch nur die Augen zu öffnen. 

In Rückſicht auf die allgemeine Ermüdung hatte 
Degenfeld das Abendeſſen ſpäter als geſtern beſtellt. 
Jeder wollte vorher ein wenig ausruhen, und ſo kam es, 
daß keiner ſich um den Mijnheer kümmerte. Als dann 
an alle die Aufforderung zum Nachtmahl erging, fanden 
ſie ſich im Speiſeſaal zuſammen. Nur Aardappelenboſch 
fehlte, und ſo ging der Gottfried ihn zu holen. Er lag 
noch wie vorher mit geſchloſſenen Augen auf dem Bett. 


— 449 — 


„Mijnheer, ſchlafen Sie?“ fragte der Wichſier. 

Keine Antwort. 

„Mijnheer, wachen Sie auf!“ bat Gottfried, indem 
er ihn rüttelte. 

„Ik ben geſtorven,“ antwortete der Holländer in 
klagendem Ton. 

„Sind Sie wirklich tot?“ 

„Ja, op mijn woord!“ 

„So müſſen wir Sie alſo begraben?“ 

„Ja, ik moet in de aard geleid worden — ja, ich 
muß in die Erde gelegt werden.“ 

„Schade, jammerſchade! Gerade jetzt, wo es Leber⸗ 
paſtete mit Reispudding gibt!“ 

„Leverpaſtet met rijſtepudding?“ ſchrie der Dicke, 
indem er in demſelben Augenblick kerzengerade auf den 
Beinen und in der Stube ſtand. „Ik ga met; ik ga ſoedig 
met — ich gehe mit; ich gehe ſchnell mit!“ 

Er faßte den Gottfried beim Arm und zog ihn eilig 
zur Tür hinaus, obgleich ſeine noch ungelenken Beine 
ſich gegen dieſe Eile ſträubten. So kam es, daß die 
Seele des Dicken wieder aus dem „Jenſeits“ zurück⸗ 
kehrte, und dieſes Wunder, dieſe Auferſtehung eines 
Toten war durch zwei ſehr einfache, aber vielſagende 
Worte vollbracht worden — Leverpaſtet und Rijſtepud⸗ 
ding. 

Wie Schin⸗hoa kleiner iſt als Schao⸗tſcheu, fo hatte 
alles hier einen beſcheideneren Anſtrich. Der Gemeinde⸗ 
palaſt war ein gewöhnliches, wenn auch geräumiges 
Haus. Der Bürgermeiſter trug die einfache Goldkugel 
auf der Mütze und floß weniger über von unterwürfigen 
Redensarten. Das Eſſen beſtand aus nicht ſo vielen und 
nicht ſo koſtbaren Gängen, und es gab nur zwei Per⸗ 

May, Der blaurote Methuſalem. 29 


— 450 — 


ſonen, um die Gäſte zu bedienen. Der Mandarin ge⸗ 
traute ſich gar nicht, bei dem Eſſen gegenwärtig zu ſein. 

Dies alles war den Reiſenden nur lieb. Sie ſahen 
ſich nicht unter dem Zwang des Feierlichen und konnten 
ſich nach Herzensluſt unterhalten, obgleich ſie dies der 
beiden Diener wegen mit dem gebotenen Ernſt taten. 
Als dieſe aber am Schluß den Raki brachten und ſich 
dann entfernten, konnte der Gottfried es nicht länger 
zurückhalten, auf welche Weiſe er den Mijnheer vom 
ſichern Tod errettet hatte. Sein Bericht erregte natürlich 
die allgemeinſte Heiterkeit, in die der Dicke endlich ſelbſt 
mit einſtimmte. „Sie ſind alſo unſterblich, Mijnheer!“ 
bewunderte ihn Gottfried. 

„Ik? Werkelijk?“ 

„Ja, denn wenn Sie der Tod beim Schopf nimmt, 
ſo bedarf es nur eines Puterbratens oder einer Sardel⸗ 
lenſemmel, um Sie ihm zu entreißen. Sie werden der 
zweite ewige Jude ſein und können ſich alſo jetroſt mor⸗ 
jen wieder in Ihrer Sänfte zuſammenrütteln laſſen.“ 

„Ik dank zeer! Ik will niet gedragen zijn. Ik word 
ruiten — ich danke ſehr! Ich will nicht getragen ſein. Ich 
werde reiten.“ 

„Sie? Reiten? Und geſtern verſicherten Sie aus 
Leibeskräften, daß Sie ſterben würden, falls Sie reiten 
müßten?“ 

„Dat is book zoo; maar ruit ik, zo moet ik ſterven, 
en word ik gedragen, zo moet ik ook ſterven; alzoo wil ik 
liever op mijnen paard ſterven als in dezen ongelukkigen 
Dragſtoel — das iſt auch ſo; aber reite ich, ſo muß ich 
ſterben, und werde ich getragen, ſo muß ich auch ſterben; 
alſo will ich lieber auf einem Pferd ſterben als in dieſem 
unglücklichen Tragſtuhl.“ 

„Da haben Sie recht,“ ſtimmte der Methuſalem bei. 


— 451 — 


„Denn dann ſterben Sie wenigſtens in freier Luft und 
hauchen Ihre Seele nicht in dem elenden Kaſten aus. 
Wir bekommen hier neue Pferde. Ich werde Ihnen 
eines auswählen.“ 

„Ik pflieg maar op de aard, zoo dra ik opgeſtegen 
ben — ich fliege aber auf die Erde, ſobald ich aufge⸗ 
ſtiegen bin!“ 

„Ich ſuche Ihnen ein ſehr geduldiges aus.“ 

„Ik geloov an geen paard — ich glaube an kein 
Pferd!“ 

„So binden wir Sie feſt. Dann kann Ihnen nichts 
geſchehen.“ 

„Dat is goed. Ik word op dat paard gebonden. Da 
mak ik met; da mak ik zeer geerne met — das iſt gut. Ich 
werde auf das Pferd gebunden. Da mache ich mit; da 
mache ich ſehr gerne mit!“ 

So war es alſo beſchloſſene Sache, daß der Dicke 
morgen ſich als Reiter ſehen laſſen werde. Man war 
jetzt luſtig geworden und hätte ſich gerne noch unter⸗ 
halten; aber in Anbetracht der heutigen und der morgen 
wieder zu erwartenden Anſtrengungen hielt man es doch 
für geraten, zur Ruhe zu gehen. Der Methuſalem ließ 
dem Mandarin, der ſich nicht wieder ſehen laſſen wollte, 
eine gute Nacht von allen wünſchen, und dann begab ſich 
jeder in ſein Zimmer. 

Am andern Morgen weckte Gottfried wieder. Der 
Oberleutnant hatte bereits für den Umtauſch der 
geſtrigen mit friſchen Pferden geſorgt, und Degenfeld 
ſuchte für den Mijnheer einen ſtarken Gaul aus, deſſen 
Alter vermuten ließ, daß er keine Jugendſtreiche mehr 
begehen werde. Aardappelenboſch wurde in den Sattel 
geſetzt, und dann führte man das Pferd einige Mal im 
Hofe herum. Er ſaß aber ſo ſchauderhaft da oben, daß er 


— 452 — 


ſich unmöglich vor den Leuten ſehen laſſen konnte; darum 
wurde beſchloſſen, ihn in einer Sänfte voranzuſchicken. 

Nachdem dies geſchehen war, brach die Geſellſchaft 
auf, begleitet von den Wünſchen des Mandarins, welcher 
froh war, von ſo vornehmen Gäſten befreit und wieder 
Herr ſeines Hauſes zu ſein. Der Auszug aus der Stadt 
glich, wenn auch in kleinerem Maßſtab, dem geſtrigen. 
Die Menge begleitete die Reiſenden bis vor das Tor und 
kehrte dann zurück, ganz glücklich darüber, einmal ſo 
ſonderbare Fremdlinge geſehen zu haben. 

Der Weg ſtieg kurz hinter der Stadt gleich ſteil an, 
und kaum hatte man einige hundert Schritte zurück⸗ 
gelegt, ſo begegnete man den zurückkehrenden Sänften⸗ 
trägern, die wenig weiter oben den Mijnheer nach dem 
ihnen gewordenen Befehl mitten auf die Straße abgeſetzt 
hatten. Er hatte den Regenſchirm aufgeſpannt und trug 
kreuzweiſe über dem Rücken die Gewehre, an denen die 
von ihm ſtets ſorglich behandelte Taſche mit den vielen 
Teeſorten hing. „Ik heb alreeds langs geroepen en ge⸗ 
pepen,“ ſchrie er ihnen von weitem zu. „Maakt ſnelſt! Ik 
will ruiten — ich habe ſchon längſt gerufen und gepfiffen. 
Macht ſchnellſtens! Ich will reiten.“ 

„Schon jut, und nur Jeduld!“ antwortete Gottfried. 
„Sie kommen zeitig jenug in den Sattel und vielleicht 
noch ſchneller wieder herunter.“ 

Man hielt bei dem Dicken an und gab ſich Mühe, 
ihn auf das Pferd zu bringen, was bei ſeinem Gewicht 
und bei ſeiner Unbeholfenheit keine leichte Aufgabe war. 

Endlich ſaß er oben, aber wie! Der Methuſalem riet 
ihm, den Regenſchirm zu ſchließen, worauf er aber nicht 
einging, weil dann, wie er behauptete, die ihm etwa Be⸗ 
gegnenden ſeinen Rang nicht erkennen würden. Den 
Schirm in der Linken und die Zügel in der Rechten, be⸗ 


— 453 — 


gann er den Ritt, und zwar ſehr langſamen Schritts. 
Dennoch rutſchte er, da er nicht feſt in den Bügeln ſtand 
und die Schenkel nicht anlegte, bald herüber und bald 
hinüber, ſo daß er die Zügel an den Sattelknopf band 
und ſich mit der rechten Hand daran anhielt. Hätte man 
einen Pavian auf das Pferd geſetzt, ſo wäre deſſen Hal⸗ 
tung wohl kaum lächerlicher geweſen. Dennoch meinte er 
ſehr befriedigt: „Zoo is het goed. Ik ben een bijzonder 
ruiter — ſo iſt es gut. Ich bin ein vorzüglicher Reiter!“ 

In der Freude über die Gewandtheit, die er ſeiner 
Anſicht nach entwickelte, machte er eine lebhafte Be⸗ 
wegung und verlor die Bügel. Das Pferd beſchwerte ſich 
gegen dieſe Unruhe, indem es vorn in die Höhe ſtieg, 
und infolgedeſſen rutſchte der Mijnheer hinten herab. 
Es gab einen dumpfen Ton, wie wenn ein Wollſack auf 
die Erde geworfen wird, und der Dicke kam, alle vier 
Gliedmaßen ſamt dem Regenſchirm in die Höhe ſtreckend, 
auf die Straße zu liegen. Zum Glück beſaß der Gaul kein 
überflüſſiges Feuer. Er drehte ſich um, den Reiter anzu⸗ 
ſehen und blieb ſtehen, ohne ſich weiter zu bewegen. Die 
andern ſtanden erſchrocken um Roß und Reiſigen und 
Degenfeld fragte: „Um Gottes willen, Mijnheer, haben 
Sie ſich etwa Schaden getan?“ 

„Ik? Zeer grooten!“ antwortete er ſtöhnend, indem 
er Arme und Beine noch immer in die Luft ſtreckte. „Het 
dome Nijlpaard heeft mij van akteren verloren. Ik ben 
dood; ik ben buiten tegenſpraak geſtorven — ich? Sehr 
großen! Das dumme Nilpferd hat mich von hinten her⸗ 
unter verloren. Ich bin tot; ich bin ohne Widerrede ge⸗ 
ſtorben!“ 

„So legen Sie doch wenigſtens die Arme und Beine 
nieder!“ 

„Dat kann ik niet. Ik ben dood!“ 


— 454 — 


„So müſſen wir verſuchen, Ihre Lebensgeiſter aus 
dem Grabe zu erwecken. Es befindet ſich eine Flaſche 
Raki unter unſern neuen Vorräten. Wir werden Ihren 
Leichnam damit einreiben.“ 

Da ſprang der Dicke flink auf, machte eine Be⸗ 
wegung der Abwehr und rief: „Raki? Brandewijn? Met 
den brandewijn zal niet gereven worden. Ik wil hem 
drinken. Gedronken is hij beter dan gereven. Waar is 
de fleſch? — Raki? Branntwein? Mit dem Branntwein 
ſoll nicht gerieben werden. Ich will ihn trinken. Ge⸗ 
trunken iſt er beſſer als gerieben. Wo iſt die Flaſche?“ 

Er erhielt ſie und tat einen ſolchen Zug, daß den 
andern angſt und bange wurde. Der Methuſalem nahm 
ſie ihm aus der Hand und ſagte: „Das genügt. Ich ſehe, 
daß Ihre Lebensgeiſter ſich wieder eingefunden haben. 
Wie aber wird es nun mit dem Reiten ſtehen?“ 

„Indien ik mag de fleſch dragen, zoo rijd ik ſtraks 
beter dann een offizier van het paardevolk — wenn ich 
die Flaſche tragen darf, ſo reite ich ſtraks beſſer als ein 
Kavallerieoffizier.“ 

„Gut, wollen es verſuchen! Aber ich mache die Be⸗ 
dingung, daß Sie die Buttel nicht in der Hand, ſondern 
in der Taſche tragen. Und um ganz ſicher zu gehen, wer⸗ 
den wir Sie, wie ſchon geſtern abend beſchloſſen, auf das 
Pferd binden.“ 

„Ja, ik wil op het paard gebonden zijn, diensvol⸗ 
gens kann ik niet van den diere vallen — ja, ich will auf 
das Pferd gebunden ſein, dann kann ich nicht von dem 
Tier fallen.“ 

Er bekam die Flaſche, die er in die Taſche fchob; 
dann wurde ihm wieder in den Sattel geholfen. Er er⸗ 
hielt an die beiden Füße eine Leine, die unter dem 
Bauch des Pferdes ſtraff angezogen wurde. Dadurch be⸗ 


— 455 — 


kam er feſten Schluß. Er fühlte das mit großer Be⸗ 
friedigung und ſagte vergnügt: „Zoo, nu is het goed. 
Wij worden rijden als de ſtormwinden — ſo, nun iſt es 
gut. Wir werden wie die Sturmwinde reiten.“ 

So ſchlimm war es nun freilich nicht; aber es ging 
doch weit beſſer als vorher, zumal er jetzt auf das Auf⸗ 
ſpannen des Schirms verzichtet hatte. Freilich, hätte er 
die Geſichter geſehen, mit denen die chineſiſchen Reiter 
den Vorgang beobachtet hatten, ſo wäre es vielleicht um 
ſeine gute Laune geſchehen geweſen. Dieſe letztere verließ 
ihn auch dann nicht, als er bald mittraben mußte und 
tüchtig zuſammengerüttelt wurde. Er lachte vielmehr im 
ganzen Geſicht und behauptete, der beſte Reiter der Welt 
zu ſein. Von dieſer Meinung wurde er ſelbſt dadurch 
nicht abgebracht, daß Turnerſtick und der Gottfried ſich 
ſtets zu ſeinen beiden Seiten hielten, um ihn zuweilen 
zu unterſtützen. 

Die Sonne ſchien nicht heiß; vielmehr war es hier 
oben im Gebirge ziemlich kühl und dennoch liefen dem 
Mijnheer die dicken Schweißtropfen von der Stirn. Er 
puſtete wie ein Narwal, blieb aber doch bei guter Laune. 
„Das wird Ihrer Geſundheit ſehr zuträglich ſein,“ 
meinte der Methuſalem. „Durch das Schwitzen wird 
das ſchlechte, dicke Blut ausgeſchieden.“ 

„Het bloed? Wordt mij dat niet zwak maken? Word 
niet de miltzucht, de tering en de beroerte in mij binnen 
kruipen — das Blut? Wird mich das nicht ſchwach 
machen? Wird nicht die Milzſucht, die Verzehrung und 
der Schlagfluß in mich hineinkriechen?“ 

„Im Gegenteil! Sie werden ein helles und geſun⸗ 
des Blut bekommen und ſich dann viel wohler fühlen.“ 

„Zal ik ook dikker worden — werde ich auch dicker 
werden?“ 


— 456 — 


„Hoffentlich, da gutes Blut gutes Fleiſch anſetzt.“ 

„Goed vleeſch! Heiza, voorwarts! Ik rijd al het 
heelal neder — gutes Fleiſch? Juchhe, vorwärts! Ich 
reite das ganze Weltall nieder!“ 

Er ſchlug mit ſeinem Schirm vergnügt auf das 
Pferd ein, ſo daß es einen weiten Satz machte und dann 
im Galopp davonflog. Das hatte er nicht gewollt. Einen 
ſchrillen Angſtruf ausſtoßend, klammerte er ſich an der 
Mähne feſt, während er Mütze, Schirm und den Tee⸗ 
ranzen verlor. Man hörte ihn ſchreien: „Help, help! 
Voorgezien! voorgezien! Vaarwel, mijn Holland een 
Nederland! O wee, ik oongelukkige Nijlpaard, ik vlieg in 
de lucht; ik vlieg in de radijsjes een in de peterſelie — 
Hilfe, Hilfe! Vorgeſehen, vorgeſehen! Lebe wohl mein 
Holland und Niederland! O weh, ich unglückliches Nil⸗ 
pferd, ich flieg in die Luft; ich flieg in die Radieschen 
und in die Peterſilie!“ 

Die andern ſprengten hinter ihm her, um die ver⸗ 
lorenen Sachen aufzuleſen und ſein Pferd zum Stehen 
zu bringen. Als das geglückt war, richtete er ſich wieder 
auf, trocknete ſich den Angſtſchweiß aus dem hochroten 
Geſicht, ſetzte die Mütze wieder auf, nahm den Schirm an 
ſich, ließ ſich den Ranzen wieder auf die Gewehre hän⸗ 
gen und fragte dann: „Holla, mijne heeren, was dat niet 
nederlandſche dapperheid en heldenmoed? Ben ik niet 
een doemrijken ruiter — holla, meine Herren, war das 
nicht niederländiſche Tapferkeit und Heldenmut? Bin ich 
nicht ein ruhmreicher Reiter?“ 

„Ja,“ antwortete Gottfried lachend. „Ein Glück, 
dat Sie anjebunden waren, und die Mähne erwiſchten, 
ſonſt wären Sie wirklich in die Peterſilie jeflogen. Ik 
rate Sie, den Heldenmut nicht gleich wieder anzuwenden. 
Galoppieren können Sie noch nicht.“ 


— 457 — 


„O, ik moet zoo rijden; ik wil dik worden — o, ich 
muß ſo reiten; ich will dick werden.“ 

„Da ſind Sie auf dem Holzweg. Vom Schnellreiten 
wird man dürr. Nur das langſame Reiten ſetzt Fleiſch 
an.“ 

„Zoo? Werkelijk? Dan zal ik niet meer zoo gaauw 
rijden — ſo? Wirklich? Dann werde ich nicht mehr ſo 
ſchnell reiten.“ 

Von jetzt an hütete er ſich, nochmals das „ganze 
Weltall niederzureiten.“ Er trieb ſein Pferd nur ſo an, 
als nötig war, mit den Gefährten gleichen Schritt zu 
halten. Und da zeigte es ſich, daß er das Reiten viel 
beſſer vertrug als das Sitzen in dem engen Palankin. 
Nach einer Stunde hatte er es zu einer ganz leidlichen 
Haltung gebracht, wohl meiſt infolgedeſſen, daß ſein 
Gaul einen ſehr glatten, ruhigen Gang hatte. 

Ueberhaupt zeigte der Methuſalem bei weitem nicht 
die Eile, die er geſtern gehabt hatte. Er ritt immer nur 
im Schritt voran, ſchenkte der Gegend aber noch weit 
größere Aufmerkſamkeit als geſtern. 

Die Landſchaft war jetzt geradezu hochgebirgig ge⸗ 
worden. Man ritt durch düſtere Täler, welche alter 
Nadelwald füllte; rechts und links folgten dann Gras⸗ 
flächen, über denen die Felſen nackt zum Himmel ragten. 
War eine ſolche Schlucht paſſiert, ſo ſtieg die Straße wie⸗ 
der bergan, um ſich aus ſchwindelnder Höhe abermals 
ſteil abwärts zu ſenken. 

Auch hier gab es Einkehrhäuſer in den bereits an⸗ 
gegebenen Abſtänden voneinander, doch hatte ſich der 
chineſiſche Offizier die geſtern erhaltene Lehre ſo zu 
Herzen genommen, daß er nicht wieder zum baldigen 
Raſten trieb. Erſt gegen Mittag hielt der Methuſalem 
vor einem dieſer Sie-fia an, um den Pferden und Men⸗ 


— 458 — 


ſchen eine Stunde Ruhe zu gönnen. Es wurde von den 
mitgenommenen Vorräten ebenſo wie geſtern ein Mahl 
genoſſen. Der Wirt war nicht ſo menſchenſcheu wie der 
geſtrige. Er bediente ſeine Gäſte, und Degenfeld erkun⸗ 
digte ſich ſehr angelegentlich nach dem Weg. Er erfuhr, 
daß man nach vier Stunden die Grenze der benachbarten 
Provinz erreichen werde, nachdem man über eine uralte 
und weltberühmte Kettenbrücke geritten ſei. 


Es war ſo viel Vorrat an Speiſe mitgenommen 
worden, daß nicht einmal die Hälfte davon verzehrt 
wurde. Weshalb der Blaurote dies beim letzten Gaſt⸗ 
geber ſo angeordnet hatte, das wußte keiner der Gefähr⸗ 
ten. Doch als die Geſellſchaft wieder aufgebrochen war 
und ſich unterwegs befand, fragte Gottfried: „Hören Sie 
mal, alter Methuſalem, Sie machen ein Jeſicht wie ein 
mexikaniſcher Joldſucher. Schon jeſtern hatten Sie die 
Augen überall am Wege. Darf ich Ihnen meine Oboe 
als Wünſchelrute anbieten?“ 

„Du ſcherzeſt und ſtreifſt dabei an die Wahrheit. 
Hier oben liegt das Vermögen unſres Ye⸗kin⸗li ver⸗ 
graben.“ 

„Hurrjerum! Und dat ſagen Sie erſt jetzt?“ 

„Aus welchem Grunde ſollte ich es auspoſaunen? 
Man muß vorſichtig ſein. Richard habe ich geſtern 
abend eingeweiht, dagegen wünſche ich nicht, daß auch 
die andern jetzt ſchon etwas davon erfahren, hörſt du? 
Auch Ye⸗kin⸗lis Söhne nicht! Wir werden die Stelle noch 
vor Abend erreichen und im nächſten Ruhehauſe die 
Nacht zubringen.“ 

„Ah, alſo darum haben Sie für doppelten Mund⸗ 
vorrat jeſorgt!“ 

„Ja, darum. Da Ye⸗kin⸗li mir einen ſehr genauen 


— 459 — 


Plan mitgegeben hat, ſo werden wir die Stelle wohl 
finden, und ich hoffe, daß das Gold noch vorhanden iſt.“ 

„Alſo iſt es wirklich Jold?“ 

„Gold⸗ und Silberbarren, wie ſie heute noch in 
China kurſieren.“ 

„Wieviel?“ 

„Eine ganze Menge. Nach deutſchem Geld wohl für 
über neunzigtauſend Mark.“ 

„Alle juten Jeiſter! Iſt dieſer Ye⸗kin⸗li fo reich je⸗ 
weſen?“ 

„Ja. Freilich hat er dieſen Reichtum geheim ge⸗ 
halten, wie es hier gewöhnlich zu geſchehen pflegt, da 
reiche Privat- oder Geſchäftsleute von den Mandarinen 
ſo lange angezapft werden, bis ſie nichts mehr haben. Es 
wird wohl eine volle Ladung für ein Packpferd ſein.“ 

„So wollte ich, es jinge unterwegs daran zu Irunde 
und ſetzte mir als Erben ein!“ — 

Die Straße bewegte ſich jetzt nur noch an der Seite 
ſchroffer, unbewachſener Höhen hin und führte dann 
durch einen engen, felſigen Paß, der die Länge von bei⸗ 
nahe einer Stunde hatte. Daran ſchloß ſich eine kahle 
Hochebene, auf der hie und da ein armer Grashalm zu 
ſehen war, und die ſich lang und ſchmal über einen zwei⸗ 
ten Paß niederſenkte. Als dieſer durchritten war, hielten 
ſie vor einer Querſchlucht von ſolcher Tiefe, daß man den 
Grund nicht zu erblicken vermochte. Die Wände fielen 
faſt ſenkrecht in den dunklen Schlund. Es gab weder 
rechts noch links einen Ausweg. Nur geradeaus führte 
die Straße, quer über den rieſigen Spalt hinüber, und 
zwar auf der Brücke, von welcher der Wirt des Sis⸗kia 
geſprochen hatte. 

Es war wirklich eine Kettenbrücke im eigentlichſten 
Sinn des Wortes. Sechs ſtarke, parallel laufende Eiſen⸗ 


— 460 — 


ketten waren hüben und drüben feſt in dem Geſtein ver⸗ 
ankert. Sie trugen querliegende, hölzerne Bohlen, welche 
die gefährliche Bahn bildeten. Die Ketten hatten ihrer 
Schwere wegen nicht ſtraff angezogen werden können. 
Sie hingen über der Mitte der Schlucht tief hernieder. 
Die Bohlen waren alt und ausgetreten. Infolge der 
Fäulnis waren Löcher und ſonſtige Zwiſchenräume ent⸗ 
ſtanden, durch welche derjenige, der ſich auf dieſe Brücke 
wagte, unter Grauen zu ſeinen Füßen in die Schwindel 
erregende Tiefe blicken konnte. Und was die Gefahr ver⸗ 
doppelte, das war der Umſtand, daß die kühnen Erbauer 
dieſer Brücke es nicht für nötig gehalten hatten, ein Ge⸗ 
länder anzubringen. 

Als der Methuſalem ſein Pferd anhielt und dieſe 
wagehalſige Ueberbrückung mit beſorgtem Blick betrach⸗ 
tete, ſagte Gottfried, indem er die Mütze auf dem Kopfe 
hin und her ſchob: „Alſo da ſollen wir hinüber? Ich 
wollte, der Kerl ſtände da, der dieſe famoſe Jaſſe erfun⸗ 
den hat!“ 

„Warum?“ fragte Richard. 

„Ich würde ihn auf ſaure Sahne mit Jurkenſalat 
fordern. Da dies aberſt leider nicht ſtattfinden kann, ſo 
will ich ihm nur jerne wünſchen, dat ſeine ruchloſe Seele 
hier mitternächtig ſpuken und von Zwölf bis Eins in die 
Jeiſterſtunde immer über die Brücke hinüber⸗ und her⸗ 
überlaufen muß. Hat dieſer Kerl etwa jedacht, dat wir 
Seiltänzer oder Gleichgewichtskünſtler ſind!“ 

Turnerſtick ſchob ſeinen Klemmer auf der Naſe hin 
und her und brummte: „Ich bin auf manchen Maſt ge⸗ 
klettert, aber über eine ſolche Brücke noch nicht. Kommt 
ein halber Wind, ſo kentert man unbedingt zur Tiefe 
nieder. Was ſagen Sie, Mijnheer?“ 

Anſtatt mit in die Klage einzuſtimmen, meinte der 


— 461 — 


Gefragte: „Ik bid, mij aftebinden — ich bitte, mich ab⸗ 
zubinden.“ 

„Weshalb?“ forſchte der Kapitän, indem er ihm die 
Leine von den Füßen löſte. 

„Ik bin Mijnheer van Aardappelenboſch, een dap⸗ 
per Nederländer. Ik kan niet goed rijden, maar ik kan 
goed loopen. Ik word vooraan gaan — ich bin Mijnheer 
von Aardappelenboſch, ein tapferer Niederländer. Ich 
kann nicht gut reiten, aber ich kann gut laufen. Ich 
werde vorangehen.“ 

Er nahm, was keiner ihm zugetraut hätte, ſein 
Pferd beim Zügel und führte es auf die Brücke. Die 
anderen wollten folgen, aber der Methuſalem verwehrte 
es ihnen: „Halt, nicht zu viele! Es ſteht zu vermuten, 
daß ſich die Brücke wie eine Schaukel bewegen wird. Ich 
gehe mit dem wackern Mijnheer. Zwei andre mögen 
uns erſt dann folgen, wenn wir uns drüben befinden.“ 
Er nahm nicht nur ſein Pferd, ſondern auch dasjenige 
Richards mit, um dieſem den ſchweren Uebergang mög⸗ 
lichſt zu erleichtern. 

Die Brücke war ungefähr vier Meter breit; aber bei 
einer Höhe, aus der das Auge nicht den Grund der 
Schlucht zu erreichen vermochte, bei einer Länge von 
vielleicht fünfundzwanzig Metern und bei dem ſchlechten 
Zuſtand der Bohlen war dieſe Breite unbedeutend, zu⸗ 
mal die Geländer fehlten. 

Dennoch ſchritt der Mijnheer wacker voran. Sein 
Pferd folgte mit langſamen, vorſichtigen Schritten. Es 
ſchien dieſe Art von Pfaden gewohnt zu ſein, denn es 
trat äußerſt vorſichtig und — ſo zu ſagen — probierend 
auf, um ja nicht mit einem Hufe durchzubrechen. Degen⸗ 
feld ging mit feinen beiden Pferden eng hinterdrein. 

So ruhig die Schritte der beiden Männer und der 


— 462 — 


drei Tiere waren, die Brücke geriet doch in eine ſchau⸗ 
kelnde Bewegung, die am ſtärkſten wurde, als ſie ſich ge⸗ 
rade auf der Mitte befanden. „Werden Sie nicht ſchwin⸗ 
delig, Mijnheer?“ fragte der Methuſalem den Dicken be⸗ 
ſorgt. 

„Neen,“ antwortete dieſer. „Ik weet, hoe men het 
maken moet — nein. Ich weiß, wie man es machen 
muß.“ 

„Nun, wie denn?“ 

„Ik fluit het eene oog en werp het tweede recht toe 
voor mij neder. Makt gij het ook zoo — ich mache das 
eine Auge zu und werfe das zweite gerade vor mich nie⸗ 
der. Machen Sie es auch ſo!“ 

Auf dieſe Weiſe konnte ſein Blick nicht von der 
Brücke in die Tiefe fallen. Er hatte recht, und der 
Methuſalem folgte ſeinem Beiſpiel. Sie kamen trotz des 
Wankens des ſchwindelnden Stegs glücklich drüben an. 

Als die nächſten beiden folgten Gottfried und 
Richard und dann Turnerſtick und Jin⸗tſian. Liang⸗hſſi 
ſchien ſich mit dem Offizier im Streit zu befinden. Er 
berichtete dann, als er jenſeits anlangte, daß die Reiter 
eine Belohnung verlangt hätten, ohne die ſie ſich nicht 
auf die Brücke hatten wagen wollen. Er war der ſehr 
begründeten Anſicht geweſen, daß dieſer für Fremde 
heikle Steg ihnen gar nichts Ungewöhnliches ſei; darum 
hatte er ihr Verlangen abgewieſen. 

Die Soldaten hielten eine ziemlich lange Beratung 
und kamen dann mit den Packtieren, welche frei folgten, 
im ſcharfen Trab über die Brücke geritten, ſo daß dieſe 
in einer Weiſe ſchaukelte, daß man meinen mußte, die 
Reiter würden in die Tiefe geſchleudert werden. Sie 
hatten dieſen Weg gewiß ſchon viele Male gemacht. Drü⸗ 
ben angekommen, bat der Offizier abermals um eine 


— 463 — 


Belohnung, wurde aber von dem Methuſalem abge⸗ 
wieſen, welcher ihm antwortete: „Sobald wir am Ziel 
angelangt ſind, werden Sie ein Kom⸗tſcha erhalten, eher 
nicht, und auch dann nur, wenn wir mit Ihnen zufrieden 
ſind. Vergeſſen Sie ja nicht, in welchem Rang wir 
ſtehen, und daß Sie uns unbedingt zu gehorchen haben.“ 

Am Ende der Brücke öffnete ſich abermals eine 
Schlucht, welche aber nur ſehr kurz war; dann führte die 
Straße abwärts nach dem Wald, an deſſen Eingang ein 
Ruhehaus ſtand; dort hielt Degenfeld an. „Unſer Tage⸗ 
marſch iſt beendet,“ ſagte er. „Wir werden hier über⸗ 
nachten.“ 

Sofort ſprangen die Chineſen ab, trieben die Pferde 
nach dem hinter dem Haus liegenden Grasplatz und 
eilten in das Innere des Gebäudes. 

Eine kleine Strecke jenſeits des letzteren führte die 
Straße über eine kurze Steinbrücke, die nur einen Bogen 
hatte, und ein ſchmales aber tiefes Tälchen überſpannte. 
Dorthin deutend, ſagte Degenfeld leiſe zu Gottfried: 
„Nicht weit von jener Brücke, an der Seite der Boden⸗ 
ſenkung und nicht ganz auf deren Sohle, wo ein kleines 
Waſſer fließt, muß ſich die Stelle befinden, die wir zu 
ſuchen haben. Es iſt jetzt wenig über vier Uhr, und erſt 
nach acht Uhr wird es dunkel. Wir haben alſo noch vor 
Abend Zeit, nachzuforſchen. Sobald ich mich entferne, 
kommt ihr beide einzeln nach; du kannſt das Richard 
ſagen. Ihr werdet mich unter dem großen Nadelbaum 
treffen, deſſen Spitze du dort über die andern Wipfel 
emporragen ſiehſt. Den andern ſage ich, daß ich nach 
Pflanzen ſuchen will.“ 

Laute, zornige Rufe und der Klang einer bittenden 
Stimme veranlaßten ihn, ſich in die Stube zu begeben. 
Dort bildeten die Soldaten einen Kreis, worin drei von 


1 


ihnen einen Mann, den ſie niedergeriſſen hatten, am 
Boden feſthielten. Der Offizier hatte ſeinen Sarras ge⸗ 
zogen und ſchlug mit der flachen Klinge auf den um 
Gnade Bittenden ein. „Was geht hier vor?“ fragte 
Degenfeld, indem er ſich in den Kreis drängte. „Was 
hat euch dieſer Mann getan?“ 

ö „Sehen Sie nicht, hoher Herr, wer und was er iſt?“ 
antwortete der Leutnant. „Hat er nicht einen halben 
Mond auf ſeiner Jacke?“ 

Der Mißhandelte war nicht mehr jung, faſt ein 
Greis. Seine Züge hatten das chineſiſche Gepräge, und 
ſein Anzug war der gewöhnliche des Landes. Auf dem 
jackenähnlichen Stück, das er über dem langen, einer 
Toga gleichenden Unterkleid trug, war ein gelbes Stück 
Tuch, welches die Geſtalt eines Halbmonds hatte, auf⸗ 
genäht. Von Waffen ſah man nichts an ihm. Zwei der 
Soldaten knieten noch immer auf ſeinen Armen und 
Beinen, während der Dritte ihn am Zopf niederhielt. 

„Ich ſehe dieſes Zeichen,“ antwortete der Methu⸗ 
ſame. „Was hat es zu bedeuten?“ — „Daß er ein Kuei⸗ 
tfet) ift, den wir tot ſchlagen müſſen.“ — „Was hat er 
euch getan?“ — „Uns? Nichts. Aber alle Kuei⸗tſe müſ⸗ 
ſen erſchlagen werden.“ — „Wer hat das befohlen?“ — 
„Der Kaiſer, der ein Sohn des Himmels und das Licht 
der Vernunft iſt.“ — „Nun gut! Hat der Sohn des 
Himmels die Macht, ſeinen Befehl zurückzunehmen?“ — 
„Ja; wer ſoll ihn daran hindern? Er hat alle Macht.“ 
— „Und wo er nicht perſönlich fein kann, da erteilt er 
dieſe Macht ſeinen Geſandten. Mein Kuan iſt der Be⸗ 
weis, daß ich ein ſolcher Beauftragter bin. Ich befehle 
euch, von dieſem Mann abzulaſſen!“ 

Um dieſe Szene zu begreifen, muß man wiſſen, daß 
= Zeufesfonn 


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die Hoei⸗hoei) der Provinz Pun⸗nan gelegentlich des 
Aufſtands der Thai⸗ping den Verſuch gemacht hatten, 
ſich das Recht der freien Religionsübung zu erwerben. 
Sie wurden aber überfallen, wobei man über tauſend 
von ihnen tötete. Infolgedeſſen traten ſie einmütiglich 
zuſammen, eroberten die Hauptſtadt Jun⸗nan⸗fu und 
bildeten ein ſelbſtändiges Staatsweſen, deſſen die Regie⸗ 
rung ſelbſt heute noch nicht ganz wieder mächtig gewor⸗ 
den iſt. Sie nennen ſich ſelbſt Pan⸗tſe, werden aber von 
den Gegnern Kuei⸗tſe, Teufelsſöhne, genannt. 

Von allen Seiten bedrängt und bedrückt, unter⸗ 
nehmen ſie unter kühnen Anführern zuweilen in grö⸗ 
ßerer oder kleinerer Anzahl Züge in die benachbarten 
Provinzen, um ſich für das Erlittene ſchadlos zu halten. 
Es war die Rede davon geweſen, daß man dieſe Leute 
jetzt in der Nachbarprovinz geſehen habe. Ob der hier 
am Boden liegende Mann zu ihnen gehörte, das war dem 
Studenten gleich; er fühlte ſich berufen, den Mißhandel⸗ 
ten zu ſchützen. 

Das ſchien dem Offizier nicht zu paſſen. Er ſchüt⸗ 
telte vielmehr den Kopf und ſagte: „Sie ſind ein hoher 
Herr, aber doch ein Fremder. Wenn es ſich um einen 
Kuei⸗tſe handelt, dürfen wir Ihnen nicht gehorchen.“ 

„Ah! Wirklich nicht?“ fragte der Blaurote, indem 
ſeine Augen aufleuchteten. 

„Nein. Dieſer Sohn des Teufels iſt in unſre 
Hände gefallen, und wir werden ihn — — —“ 

Er verſtummte, als ihm der Methuſalem plötzlich 
gegenübertrat und ihm furchtbar drohend in die Augen 
blickte; feig beiſeite ſchielend, ſchlich er zur Tür hinaus; 
ſeine Soldaten folgten ihm wie geprügelte Hunde. Der 
Mohammedaner hatte ſich erhoben. Er näherte ſich dem 


) Mohammedaner. 
May, Der blaurote Methuſalem 80 


— 466 — 


Methuſalem, verneigte ſich und ſagte: „Allah ſegne die 
Taten Ihrer Hände und die Tapfen Ihrer Füße, hoher 
Gebieter. Sie haben mich gerettet. Machen Sie das 
Maß Ihrer Gnade voll, indem Sie mir erlauben, mich 
zu entfernen!“ — „Sind Sie denn ſicher, daß Ihnen 
nicht unterwegs Aehnliches begegnet?“ — „Ja. Ich 
kehrte in dieſem Hauſe ein, um auszuruhen. Anſtatt der 
Erquickung hätte ich faſt den Tod gefunden. Sobald ich 
es verlaſſen habe, bin ich vor ferneren Nachſtellungen 
ſicher.“ — „So gehen Sie und hüten Sie ſich vor ähn⸗ 
lichen Begegnungen!“ 

Der Mann entfernte ſich unter tiefen Verbeugun⸗ 
gen. Die Soldaten ſahen ihn nicht gehen, da ſie ſich 
hinter das Haus geflüchtet hatten, von wo ſie erſt dann 
zurückkehrten, nachdem Degenfeld ihnen durch Liang-ffi 
verſichert hatte, daß ihnen nichts geſchehen ſolle. Der 
Offizier ſah ein, daß er ſich eines großen Verbrechens 
gegen den Kuan des Kaiſers ſchuldig gemacht habe. Er 
kam förmlich herbeigekrochen, um ſich Gnade zu erbitten, 
die ihm nach einer ſtrengen Mahnung auch gewährt 
wurde. 

Der Methuſalem bat die Gefährten, für die Zu⸗ 
bereitung des Mahls zu ſorgen, er ſelbſt wolle ſich in⸗ 
zwiſchen die Pflanzenwelt der Landſchaft etwas betrachten. 
Kurze Zeit, nachdem er ſich entfernt hatte, ſchlich ſich 
Gottfried davon; dann folgte Richard. Sie fanden den 
Studenten unter dem bezeichneten Baum. Er hielt ein 
Papier in den Händen, den Plan des Händlers Ye⸗kin⸗li, 
mit dem er die Gegend aufmerkſam verglich. 


Sünfzehntes Kapitel. 
Die Schatzgräber und die Boei-boei. 


„Gut, daß ihr kommt, und ich alſo keine Zeit zu 
verlieren brauche,“ ſagte er. „Hier habe ich die Zeich⸗ 
nung unſres chineſiſchen Freundes, die, wie ich ſehe, ſehr 
genau angefertigt worden iſt. Als Hauptmarke iſt ein 
großer, über tauſend Jahre alter Ging⸗kobaum!) ange⸗ 
geben, bei dem fünf Keime zu einem einzigen Stamm 
verwachſen ſind. Das iſt hier dieſer rieſige Nadelbaum, 
deſſen Stamm einen Umfang von mehr als neun Metern 
hat und ſichtlich aus fünf einzelnen Stämmen zuſam⸗ 
mengeſetzt iſt. Daneben ſind, genau im Weſten von ihm 
ſtehend, zwei andre Bäume verzeichnet, nämlich ein Ti⸗ 
mu?), um den ſich die Pflanze Lo) windet, und ein wil⸗ 
der Sang“); das alles iſt, wie ihr ſehen könnt, vorhanden, 
der Eiſenbaum mit dem Epheu und auch der Maulbeer⸗ 
baum. In der Richtung, wo dieſe Bäume ſtehen, alſo 
nach Weſten, hat man vierzig Schritte zu gehen, um an 
die ſogenannte Hoei⸗hoei⸗keub) zu kommen, wo eine Ku⸗ 
tjiang®) ſtehen ſoll, die wir jetzt zu ſuchen haben; von ihr 
aus müſſen wir gerade abwärts in das Tal ſteigen, um 
den ſogenannten Lao-hoei-hoeismiao”) zu finden, um 
den es ſich handelt.“ 


) Die Salisburya andiantifolia unſerer Gärtner. — ) Eiſenholzbaum. — 
) Een. — )) Maulbeerbaum. — ) Mohammedanerſchlucht. — ) Mauerreſte. — 
N Rohammedaniſcher Tempel. 


— 468 — 


Sie ſchritten die angegebene Entfernung in der be⸗ 
treffenden Richtung ab und gelangten an den Rand des 
Tals, über das in der Entfernung von vierhundert 
Schritten rechter Hand von ihnen die bereits erwähnte 
ſteinerne Bogenbrücke führte. An deſſen Kante ſahen ſie 
mehrere halbverwitterte Mauerſteine aus dem weichen 
Humusboden blicken; das war der Mauerreſt, von wo 
aus ſie abwärts ſtiegen. 

Noch hatten ſie die Sohle der Schlucht und den dort 
fließenden Bach nicht erreicht, ſo trafen ſie auf ein altes, 
eigentümliches Gemäuer, das ſo von Büſchen und hohen 
Farnen umgeben war, daß man es von weitem gar nicht 
bemerken konnte. Die Mauer bildete einen Kreis, deſſen 
Durchmeſſer nicht ganz zwei Meter betrug. Das Dach, 
das man mit der Hand erreichen konnte, war, entgegen 
der chineſiſchen Bauart, von Steinen rund gewölbt, und 
der Eingang ſo niedrig, daß man ihn nur in ſehr gebück⸗ 
ter Haltung paſſieren konnte. Das Gebäude hatte die 
halbkugelige Form einer Kaffern⸗ oder Hottentotten⸗ 
hütte und konnte unmöglich ein mohammedaniſcher Tem⸗ 
pel, d. h. eine Li⸗pai⸗ſſe, wie die Moſcheen in China ge⸗ 
nannt werden, geweſen ſein. 

„Wir ſind an Ort und Stelle,“ ſagte der Methu⸗ 
ſalem, „und wollen zunächſt nach dem Tſcha⸗dſe ſuchen, 
das Ye⸗kin⸗li hier vergraben hat. Ein Tſcha⸗dſe ift ein 
langes, ſtarkes Meſſer, womit man Häckſel ſchneidet. Mit 
ſeiner Hilfe konnte er die Grube machen, worin er ſeine 
Barren verſteckte, und um dieſes Werkzeug ſpäter gleich 
wieder zur Hand zu haben, verſcharrte er es an einer 
Stelle, die genau zehn Schritte von dieſer Tür aus ab⸗ 
wärts liegt, und wo die Wurzel einer Lieu!) zu Tage 
tritt.“ 

H Chimeſiſche Weide. 


— 469 — 


Er ſchritt die Strecke ab und traf auf den Baum 
und die Wurzel, unter der er mit ſeinem Meſſer grub. 
Schon nach kurzer Zeit brachte er das Tſcha⸗dſe hervor, 
das zwar ſtark angeroſtet, aber noch feſt war. 

Die beiden andern hatten bisher ſtill, aber erwar⸗ 
tungsvoll zugehört und zugeſehen. Jetzt fragte Richard: 
„Und wo ſoll denn der Schatz vergraben ſein?“ 

„Dort im Gebäude. Ich vermute, daß dieſes die 
Begräbnisſtelle eines frommen Mohammedaners ge⸗ 
weſen iſt, alſo ein ſogenannter Marabu, denn Ye⸗kin⸗li 
hat, um Platz für ſeine Barren zu finden, menſchliche 
Gebeine, die faſt ganz verweſt waren, ausgegraben und 
da unten in das Waſſer geworfen. In dieſer Gegend 
gibt es viele Bekenner des Islam und es hat früher deren 
noch mehr gegeben. Kommt mit in das Mauſoleum!“ 

Sie krochen hinein. Der Raum war gerade ſo hoch, 
daß ſie darin aufrecht ſtehen konnten, und der Boden mit 
dicht ſchließenden, behauenen Steinen belegt. Der 
Methuſalem ſah auf ſeinem Plan nach und ſagte dann: 
„Wir müſſen die ſechs Steine, die zuſammen ein Recht⸗ 
eck bilden, entfernen. Dann wird es ſich zeigen, ob das 
Gold und Silber noch vorhanden iſt, woran ich übrigens 
jetzt nicht mehr zweifle.“ 

Die Steine waren ſo genau gefügt, daß es ziemliche 
Anſtrengung koſtete, den erſten herauszunehmen; als 
das dann geſchehen war, konnte man die andern fünf 
ohne Mühe entfernen. Die Unterlage beſtand aus feſter 
Erde, die der Methuſalem aufgrub. 

Es war den dreien dabei wirklich wie Schatzgräbern 
zu Mute. Sie fühlten eine Art fieberhafter Aufregung, 
welche deſto mehr wuchs, je tiefer das Häckſelmeſſer in 
den Boden drang. Endlich, endlich zeigten ſich zwei 
Gegenſtände, die nicht in die Erde gehörten, nämlich zwei 


— 470 — 


lederne Säcke, welche lackiert waren. Nur dieſem letz⸗ 
teren Umſtand war es zu danken, daß ſie ſich noch in 
gutem Zuſtand befanden. 

Der Methuſalem hob den einen heraus, was einiger 
Kraftanſtrengung bedurfte, und öffnete ihn. Da glänz⸗ 
ten ihnen die kleinen, länglichen Barren goldig entgegen. 
Sie waren alle mit dem obrigkeitlichen Stempel ver⸗ 
ſehen, als Beweis, daß die Legierung die geſetzlich vor⸗ 
geſchriebene ſei. 

„Gott ſei Dank!“ ſagte Degenfeld, indem er tief auf⸗ 
atmete. „Dieſer Teil unſrer Aufgabe wäre alſo glücklich 
gelöſt.“ 

„Das freut mich außerordentlich!“ fügte Richard 
hinzu. „Ye⸗kin li hat nur ein ſehr geringes Anlage⸗ 
kapital gehabt; nun werden ihm die Barren ſehr zu gute 
kommen.“ 

„Dat glaube ich, dat ſie zu jute kommen!“ meinte 
Gottfried. „Mich, wenn ich ſie hätte, kämen ſie auch zu 
ſtatten. Ich würde ſchleunigſt meine Oboe und mir 
ſelbſt verjolden laſſen und den Reſt ſodann in Gerſten⸗ 
ſaft und ſauren Heringen anlegen. So aber muß ich mir 
ohne Verjoldung weiter durch mein ſchlichtes Daſein 
ſchleichen. Wat ſoll nun jeſchehen? Hucken wir die Säcke 
auf, um ſie nach dat Ruhehaus zu bringen?“ 

„Nein,“ antwortete der Methuſalem. „Wir laſſen 
ſie hier liegen.“ 

„Liegen laſſen? Sind Sie bei Troſte? Dat würde 
nicht mal ein Spitzbube tun, ich noch viel weniger!“ 

„Und doch können wir nicht anders. Wir haben uns 
überzeugt, daß die Barren da ſind. Das genügt. Mit⸗ 
ſchleppen aber können wir ſie nicht, da wir nicht wiſſen, 
welchen Wechſelfällen wir noch unterworfen werden. Wir 
verbergen ſie hier wieder und richten es ſpäter ſo ein, daß 


— 471 — 


uns der Rückweg hier vorüberführt. Dann nehmen wir 
die beiden Säcke mit.“ 

Die beiden andern mußten zu ihrem Bedauern die 
Triftigkeit ſeiner Gründe anerkennen. Der Sack wurde 
wieder in die Grube gelegt und mit der ausgeworfenen 
Erde bedeckt, die man mit den Füßen feſtſtampfte, um 
dann die Steine wieder einzufügen. Das geſchah ſo 
genau, und der kleine Reſt übrig gebliebener Erde wurde 
ſo ſorgfältig entfernt und verwiſcht, daß kein andrer das 
Vorhandenſein des Verſtecks ahnen konnte. 

Nun verließen ſie das Gebäude, um auch das Häck⸗ 
ſelmeſſer wieder zu vergraben. Noch war der Methu⸗ 
ſalem damit beſchäftigt, da ertönte hart bei ihnen eine 
befehlende Stimme aus dem Gebüſch: „Ta kik hia — 
ſchlagt ſie nieder!“ 

Und zu gleicher Zeit drangen wohl gegen zehn be⸗ 
waffnete Männer auf die drei ein. Ihre Bewaffnung 
war keine ſehr furchterweckende: alte Säbel, einige noch 
ältere Flinten und Piken; einer ſchwang eine Keule. 

Der Methuſalem hatte ſich, als der Ruf erſcholl, 
blitzſchnell aufgerichtet. Er faßte die Gefährten bei den 
Armen und riß ſie, um Raum zu gewinnen und den 
dicken Stamm der Weide zwiſchen ſich und die Angreifer 
zu bringen, mehrere Schritte zurück. Ebenſo ſchnell zog 
er ſeine beiden Revolver hervor und richtete ſie auf die 
Feinde, welchem Beiſpiel Gottfried und Richard augen⸗ 
blicklich folgten. Die Chineſen ſtutzten und blieben ſtehen. 
Einem von ihnen, der ſein Gewehr zum Schuß anlegte, 
rief Degenfeld drohend zu: „Weg mit der Flinte, ſonſt 
trifft meine Kugel dich eher, als mich die deine! Was 
haben wir euch getan, daß ihr uns in dieſer Weiſe über⸗ 
fallt?“ 

Der Angeredete, welcher der Anführer zu ſein ſchien, 


— 472 — 


mochte ſeinem Schießholz kein großes Vertrauen ſchen⸗ 
ken; er ſenkte den Lauf und antwortete mit finſterer 
Miene: „Ihr entheiligt unſer Ma⸗la⸗bu! Was habt ihr 
hier zu graben?“ 

Das Gebäude war alſo wirklich ein Marabu, das 
Grab eines durch ſeine Frömmigkeit ausgezeichneten 
Mohammedaners. Da dem Chineſen das r nicht geläufig 
war, verwandelte es der Sprecher in das leichtere I, alſo 
Ma-la-bu. 

„Seid ihr Hoei⸗hoei?“ erkundigte ſich der Student. 
— „Ja.“ — „So habt ihr keine Veranlaſſung, uns 
feindſelig zu behandeln. Wir achten euren Glauben und 
wollen ihn nicht verletzen.“ — „Und doch grabt ihr dieſe 
heilige Erde auf!“ — „Nicht um ſie zu entweihen. Wir 
gingen in den Wald, um nach den Vorſchriften der 
Hithung!) Pflanzen zu ſuchen. Da ſahen wir hier den 
Griff dieſes Meſſers aus dem Boden ragen. Wir zogen 
es heraus, um es zu betrachten, und eben ſtand ich im 
Begriff, es wieder an ſeine Stelle zu legen, als ihr er⸗ 
ſchient. Nun ſagt, ob wir eine Sünde begangen haben!“ 
— „Zeige das Meſſer!“ 

Er nahm es in Empfang, betrachtete es prüfend, 
unterſuchte dann die aufgegrabene Stelle und ſagte, als 
er nichts fand: „Das iſt ein Tſcha⸗dſe, welches jedenfalls 
ein Arbeiter hier verſteckt hat, um es ſpäter, wenn er es 
braucht, zu finden. Ich dachte, ihr wolltet nach einem 
Pao-ngan?) ſuchen, der bei einem armen Ma⸗la⸗bu un⸗ 
möglich vorhanden fein kann. Die Buddha⸗ mind) find 
alberne Menſchen, welche unſre Gebräuche und heiligen 
Orte nicht achten.“ — „Wir gehören nicht zu ihnen.“ — 
„Nicht? Was ſeid ihr denn?“ — „Wir ſind Tien⸗ſchu⸗ 


Y) Heilkunde. — ) Verborgener Schatz. — 9 Buddbiſten. 


— 473 — 


kiao⸗min!).“ — „Wenn das wahr ift, fo find wir 
Freunde, denn wir und die Chriſten verehren einen wirk⸗ 
lichen Gott, deſſen Propheten Mohammed und J⸗ſus 
(Jeſus) waren. Aus eurem Glauben und an eurer Klei⸗ 
dung erkenne ich, daß ihr aus einem fernen Lande 
kommt. Habt ihr denn einen Paß bei euch?“ — „Ja, 
ich habe einen großen, beſondern Kuan des erhabenen 
Herrſchers.“ 

Wie unvorſichtig dieſe Mitteilung war, ſollte 
Degenfeld ſofort erkennen, denn der Chineſe ſagte: „So 
haſt du mich betrogen, denn einen ſolchen Kuan bekommt 
nur ein Chineſe. Ich werde das ſtreng unterſuchen und 
ihr habt uns jetzt zu folgen.“ 

„Als Gefangene etwa?“ 

„Ja. Eine Gegenwehr würde nur zu eurem Scha⸗ 
den ſein; ſchaut hinauf nach der Brücke!“ 

Erſt jetzt bemerkten die drei Gefährten, daß oben 
eine Schar von wohl fünfzig Reitern hielt, welche die 
Pferde der anderen am Zügel führten, und kampfbereit 
herab in die Schlucht blickten. Dennoch antwortete der 
Student: „Wir fürchten uns gar nicht vor euch, denn wir 
haben in dieſen kleinen Waffen ſo viele Kugeln, daß wir 
euch töten können. Aber da wir euch die Wahrheit geſagt 
haben, ſo iſt für uns nichts zu beſorgen. Wir gehen alſo 
mit.“ 

„So kommt mit und verſucht ja nicht, uns zu ent⸗ 
fliehen; es würde euch nicht gelingen.“ 

Er wendete ſich nach der Brücke und gab mit dem 
erhobenen Arm ein Zeichen, worauf ſeine Reiter ſich 
nach dem Hauſe hin in Bewegung ſetzten. Die drei wur⸗ 
den von den übrigen in die Mitte genommen. Bald hatte 
man die Höhe erreicht und konnte nun zwiſchen den 


) Anhänger der Religion des Himmelsherrn = Chriſten. 


— 474 — 


Bäumen hindurch das Einkehrhaus an der Straße liegen 
ſehen. Einige Soldaten ſtanden davor; ſie ſahen die 
Reiter kommen und eilten augenblicklich hinter das 
Haus, indem fie riefen: „Kuei⸗tſe lai, kuei⸗tſe lai. Sul 
tſch⸗kiü ni⸗men — Kuei⸗tſe kommen, kuei⸗tſe kommen. 
Reißt ſchnell aus!“ 

Die andern kamen herausgerannt und liefen auch 
in höchſter Eile hinter das Haus nach ihren Pferden. 
Im nächſten Augenblick ſah man ſie im Galopp fliehen, 
und zwar in der Richtung, aus der ſie, die tapferen Be⸗ 
ſchützer, mit ihren Schützlingen vorher gekommen waren. 

„Da jeben unſre Helden Ferſenjeld,“ ſagte der 
Gottfried. „Wer weiß, ob wir ihnen jemals wieder⸗ 
ſehen!“ 

„Wohl ſchwerlich,“ meinte Degenfeld. „Ein Glück, 
daß ſie unſre Pferde und die Packtiere nicht mitgenom⸗ 
men haben!“ 

„Dazu haben ſie ſich nicht die Zeit jegönnt. Ich 
wünſche ihnen Jeſundheit und ein langes Leben, uns 
aberſt einen Ausweg aus der Tinte, in die wir jeraten 
ſind.“ 

Die Mehrzahl der mohammedaniſchen Reiter war 
den Soldaten nachgeſprengt. Die übrigen hielten auf der 
Straße, um den Anführer zu erwarten. Unter ihnen be⸗ 
fand ſich der ältere Mann, den Degenfeld in Schutz ge⸗ 
nommen hatte. Als er den letzteren erkannte, drängte er 
ſein Pferd herbei und ſagte: „Sind dieſe drei Herren 
gefangen? Sie ſind meine Wohltäter, denn ſie haben 
mich vom Tode errettet.“ 

„Dieſe waren es?“ ſagte der Anführer. „Das wird 
ihnen das Leben retten. Es gilt nun noch, zu unter⸗ 
ſuchen, ob ſie wirklich Chriſten ſind, was ich nicht glaube, 
da ſie einen beſondern Kuan des Kaiſers beſitzen.“ 


— 475 — 


Turnerſtick, der Mijnheer und die beiden Brüder 
waren aus dem Hauſe getreten. „Was ſoll das heißen?“ 
rief der erſtere dem Studenten entgegen. „Das ſieht ja 
ganz ſo aus, als ob Sie gefangen ſeien!“ — „Es iſt auch 
ſo,“ antwortete der Genannte. — „So hauen wir Sie 
heraus!“ — „Nein. Die Sache wird ſich friedlich löſen. 
Kommen Sie nur mit herein!“ 

Man band die Pferde vor dem Hauſe an und begab 
ſich in die Stube, deren Beſitzer ſich aus Angſt vor den 
„Teufelsſöhnen“ nicht ſehen ließ. Dort mußte der von 
Methuſalem in Schutz Genommene erzählen, wie er von 
den Soldaten überfallen worden und durch die Fremd⸗ 
linge gerettet worden war. Das Geſicht des Führers 
wurde dabei immer freundlicher. Er muſterte die Frem⸗ 
den mit prüfendem Blick und fragte dann: „Aus welchem 
Land ſeid ihr denn nach der Mitte der Erde gekommen?“ 
— „Aus dem Land der Tao⸗tſe⸗kue,“ antwortete Degen⸗ 
feld. — „Iſt das wahr? Ich kenne einen Tao⸗tſe⸗kue, der 
ſehr reich und uns freundlich geſinnt iſt. Er hat die 
Unſrigen, welche vertrieben wurden und ſich in Not und 
Gefahr befanden, oft unterſtützt.“ — „Wie heißt dieſer 
Mann?“ — „Er nennt ſich hierzulande Schi"), hat aber 
in feiner Heimat Sei⸗tei⸗nei geheißen.“ — „Ah! Er iſt 
der Beſitzer eines Ho⸗tſing?)?“ — „O, mehrerer Ho⸗ 
tſing. Es gehört ihm auch eine Gegend, wo eine Flüſſig⸗ 
keit aus der Erde dringt, welche Schi⸗yeu') genannt wird 
und in Lampen gebrannt werden kann. Kennſt du ihn?“ 
— „Jawohl. Dieſer mein Gefährte, welcher Liang⸗hſſi 
heißt, iſt bei ihm angeſtellt und der Jüngling hier iſt der 
Brudersſohn von Sei⸗tei⸗nei, der ihn beſuchen will.“ — 
„Das ſtimmt, denn ich weiß, daß er keinen Sohn hat und 


) Stein. — ) Feuerbrunnen (bezeichnet Kohlengruben, aber auch Delquellen 
u. dgl.) — 9) Wörtlich „Steindl*. 


— 476 — 


in ſein Land nach einem Sohn des Bruders geſchrieben 
hat. So reiſt ihr alſo nach Ho⸗tſiang⸗ting?“ — „Ja.“ — 
„Dann möchten wir euch gern als gute Freunde betrach⸗ 
ten, wenn nur der Kuan nicht wäre, von dem du ge⸗ 
ſprochen haſt. Der Kaiſer von Tſchin iſt unſer Unter⸗ 
drücker, und wen er liebt, den müſſen wir haſſen.“ 

Degenfeld beeilte ſich, den begangenen Fehler wie⸗ 
der gut zu machen, indem er erklärte: „Ich habe mich 
vielleicht nicht richtig ausgedrückt, da ich der hieſigen 
Sprache nicht vollſtändig mächtig bin. Ich wollte nicht 
Kaiſer, ſondern König ſagen. Hier iſt der Kuan.“ 

Er zog anſtatt des kaiſerlichen Paſſes den Kuan des 
Bettlerkönigs hervor. Als der Mohammedaner einen 
Blick darauf geworfen hatte, rief er überraſcht aus: „Ein 
T'eu⸗kuan! Der T'eu iſt unſer beſter Freund und Be⸗ 
ſchützer, und ſein Paß wird bei uns heilig gehalten. 
Aber, da du“ — — — er ſtockte verlegen und fuhr dann, 
ſich tief verneigend, fort: „Da Sie dieſen ſo ſeltſamen 
Kuan von ihm beſitzen, ſo müſſen Sie ein ſehr hervor⸗ 
ragender und hoher Gebieter ſein und ihm große Dienſte 
geleiſtet haben. Betrachten Sie uns als Ihre Sklaven 
und befehlen Sie, was wir für Sie tun ſollen. Sollen 
wir Ihnen den Weg von hier nach Ho⸗tſing⸗ting zeigen?“ 

„Ich danke Ihnen ſehr für Ihr gütiges Angebot, 
aber es iſt nicht nötig: Liang⸗ſſi kennt die Gegend.“ 

„So geſtatten Sie uns, unſern Ritt fortzuſetzen, 
deſſen Ziel ich freilich nicht gern ſagen würde.“ 

„Ich habe kein Recht, danach zu fragen. Reiten Sie 
in Allahs Namen!“ 

„So werden wir ſofort aufbrechen. Ich hatte den 
Mann, welchen Sie erretteten, vorausgeſandt, um zu er⸗ 
fahren, ob der Weg für uns und unſre Zwecke frei ſei. Da⸗ 
bei wollte ich dem Ma⸗la⸗bu einen ehrfurchtsvollen Beſuch 


— 477 — 


abſtatten und war ſo verblendet, Sie dort für Feinde 
und Schänder des Heiligtums zu halten. Ihre beglücken⸗ 
de Gnade wird mir das verzeihen. Die Soldaten, welche 
Ihre Reiſe verunzierten, ſind entflohen und werden 
nicht wiederkehren. An ihrer Stelle mag Ihr Schützling 
bei Ihnen bleiben und Sie bis an das Ziel begleiten. 
Seine Anweſenheit wird Ihnen, falls Ihnen ſtreitfertige 
Genoſſen von uns begegnen, mehr nützen als ein ganzes 
Heer von feigen Soldaten.“ 


Degenfeld nahm dieſes Anerbieten natürlich dank⸗ 
bar an, dann entfernten ſich die zu Freunden gewor⸗ 
denen Feinde unter wiederholten Verbeugungen; nun 
ließ der Wirt ſich ſehen, um demütig nach den Befehlen 
der Herren zu fragen. Es gab für ihn nicht viel zu tun, 
da die Reiſenden alles Nötige mitgebracht hatten. Nur 
um kochendes Teewaſſer baten ſie. 


Während des Eſſens fragte der Student den neuen 
Begleiter nach den Verhältniſſen der Kuei⸗tſe und ſeinen 
eigenen aus. Er erfuhr, daß der Mann vorher ein Be⸗ 
kenner der Lehre des Kung⸗fu⸗tſe geweſen und ſpäter aus 
Zorn über Bedrückung feiner Familie zu den Hoei⸗hoei 
übergetreten ſei. Er ſtammte aus der Provinz Kwéi⸗ 
tſchou, war dann nach Hu⸗nam gezogen, hatte von dort 
flüchten müſſen und war vor einigen Monaten unter 
dem Schutz ſeiner Glaubensgefährten und der gegenwär⸗ 
tigen Verhältniſſe wieder zurückgekehrt; er wohnte in 
einem Dorf zwiſchen Kun⸗jang und Kue⸗tong. 

„Das iſt ja ganz in der ner unſres Reiſeziels,“ 
ſagte Liang-ffi. 

„Allerdings. Sie werden durch mein Dorf reiten 
müſſen und dann nach rechts in ein Seitental des Lai⸗ 
kiang biegen, wo die Kohlengruben liegen und Sei⸗tei⸗nei 


— 478 — 


wohnt. Ich war vor kurzer Zeit bei ihm. Steht nicht 
auch ein Tao⸗tſe⸗kue in feinem Dienſte?“ 

„Nein. Der, den Sie meinen, ſtammt aus einem 
Land, welches Belgien heißt.“ 

Der Mijnheer verſtand nicht chineſiſch; das Wort 
Belgien aber hörte er ſofort heraus. Er fragte gleich, 
wovon die Rede ſei, und erfuhr, daß der Onkel Daniel 
einen Ingenieur, der ein geborener Belgier ſei, aus den 
Vereinigten Staaten habe kommen laſſen, um ihm die 
techniſche Leitung ſeines Betriebs anzuvertrauen; da rief 
er aus: „Dat is goed! Dat verheugd mi bij uitnemend⸗ 
heid! Ik bid, ſpreekt hij ook nederlandſch — das iſt gut! 
Das freut mich ausnehmend! Ich bitte, ſpricht er auch 
niederländiſch?“ 

„Ja, er ſpricht franzöſiſch, deutſch, engliſch und auch 
niederländiſch.“ 

„Heiza, zoo moeten wij maken, dat wij henkomen 
en dat ik met hem ſpreken kan — juchhe, ſo müſſen wir 
machen, daß wir hinkommen, und daß ich mit ihm reden 
kann!“ 

Nach dem Eſſen rauchte man noch ein Viertelſtünd⸗ 
chen, und dann wurde aus den vorhandenen Decken, 
Tüchern und dem Heu, das der Wirt lieferte, das Lager 
bereitet. Als die Pferde verſorgt und angebunden waren, 
legte man ſich zur Ruhe. Liang⸗ſſi meinte, daß es hier in 
den Bergen wilde Hunde gebe, gegen welche man die 
Pferde ſchützen müſſe, doch der Methuſalem beruhigte 
ihn durch die Verſicherung: „Machen Sie ſich keine 
Sorge! Hören Sie, welchen Lärm der Mijnheer macht? 
Da wagt ſich bis auf tauſend Schritte im Umkreis ſicher⸗ 
lich kein wildes Tier heran.“ 

Und er hatte nicht unrecht. Der Dicke ſchnarchte be⸗ 


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reits, daß man meinte, das Dach wackeln zu hören. Was 
der gute Mann einmal tat, das tat er ordentlich. 


Am andern Morgen wurde zeitig aufgebrochen, nach⸗ 
dem der Wirt eine ſo reichliche Bezahlung erhalten hatte, 
daß ſein Geſicht vor Entzücken glänzte. Der Mijnheer 
wurde wieder auf das Roß gebunden, und der Hoei⸗hoei 
nahm ſich der Packpferde an. 

Es ging jenſeits des Gebirges hinab, was viel leich⸗ 
ter war als der Aufſtieg während der beiden letzten Tage. 
Die Szenerie war, doch nun in umgekehrter Reihenfolge, 
ganz dieſelbe. 

Der Methuſalem hielt ſich vorzugsweiſe zu dem 
Mohammedaner. Bei Gelegenheit fragte er ihn, ob er 
Kinder habe, und erhielt die Antwort: „Nein, denn ich 
habe mir kein Weib genommen. Dennoch beſitze ich 
Familie, denn es wohnt eine Verwandte mit ihren bei⸗ 
den Töchtern bei mir, die mich vergeſſen laſſen, daß ich 
kinderlos bin. Der Mann dieſer Frau mußte fliehen, 
weil er ganz unſchuldigerweiſe der Teilnahme am Auf⸗ 
ruhr angeklagt war.“ 

„Solche Fälle ſcheinen in China ſehr häufig vor⸗ 
zukommen.“ 

„Leider, Herr. Wer bei einer ſolchen Gelegenheit 
auf der Straße betroffen wird, den ergreift und ver⸗ 
urteilt man, ohne die wirkliche Schuld oder Unſchuld zu 
unterſuchen. Und die Verwandten nächſten Grades müſ⸗ 
ſen dieſelbe Strafe erleiden.“ 

„Das iſt grauſam und ungerecht.“ 

„Ja. Der Mann war gewiß unſchuldig; aber nicht 
nur er, ſondern auch ſein Weib und ſeine Söhne und 
Töchter wurden gefangen genommen.“ 

Dieſe letzte Bemerkung erregte die Aufmerkſamkeit 


— 480 — 


des Methuſalem. Er erkundigte ſich: „Hat eine dieſer 
Perſonen die Todesſtrafe erlitten?“ 

„Nein. Der Mann hat einen Freund, einen Man⸗ 
darin, der ſich der Armen heimlich annahm. Diefer lie} 
erſt den Vater entkommen und ſpäter im Zwiſchenraum 
von einigen Tagen, da es nicht anders möglich war, auch 
die beiden Söhne. Dieſe letzteren ſollten an einem be⸗ 
ſtimmten Ort dann auf ihre Mutter und ihre Schweſtern 
warten.“ 

„Vereinigten ſie ſich glücklich mit ihnen?“ 

„Leider nicht. Der Mandarin ſtieß auf Hinderniſſe, 
und die Knaben konnten unmöglich länger warten. Sie 
ſind alſo fort und ſpurlos verſchollen. Als ſpäter die 
Mutter mit ihren Töchtern befreit wurde, kam ſie zu 
ſpät. Die Söhne waren fort, und ſie hat nie wieder 
etwas von ihnen vernommen.“ 

„Was hat ſie dann begonnen?“ 

„Sie mußte natürlich die Provinz verlaſſen, da ſie 
dort gewiß ergriffen worden wäre, und zog als Bittende 
in der Fremde von Ort zu Ort. So kam ſie mit den bei⸗ 
den Mädchen auch zu mir. Ich fragte nach ihrem Namen 
und Herkommen. Ihr Stamm⸗ und ihr Geſchlechts⸗ 
name ſtimmte mit denen meiner Familie; ich erkundigte 
mich weiter und erfuhr, daß ihr Vater ein Vetter des 
meinigen geweſen ſei. Ich hatte weder Weib noch Kind 
und nahm alle drei bei mir auf. Kurz nach dieſer Zeit 
mußte ich Hu⸗nan verlaſſen und zog in die Provinz Yu⸗ 
nan, von wo ich erſt ſeit kurzem zurückgekehrt bin.“ 

„Und die drei Perſonen ſind mit zurückgekehrt und 
wohnen bei Ihnen?“ 

„Ja.“ 


Die Spannung des Methuſalem war immer höher 


2.481 = 


und höher geſtiegen. Jetzt wußte er fich feiner Sache fo 
gewiß, daß er fragte: „Ihr Stammname iſt Seng⸗ho?“ 

„Ja.“ 

„Und Ihr Geſchlechtsname Pang?“ 

Der Chineſe ſah erſtaunt zu ihm auf und antwor⸗ 
tete: „Ja, Herr. Wie kommt es, daß Sie als Fremder 
dieſen Namen wiſſen?“ 

„Ich glaube, von dieſem Fall vernommen zu haben. 
War der Mann nicht ein Kaufmann anne BE 

„So iſt es.“ 

„Seine Frau hieß Hao⸗keu, die Söhne Liang⸗ſſi und 
Jin⸗tſian, und die Töchter Mei-pao und Simmig?“ 

Das Geſicht des Mannes war immer erſtaunter ge⸗ 
worden. „Hoher Gebieter,“ ſagte er, „ich weiß wirklich 
nicht, wie ich es mir erklären ſoll, daß Sie als Fremd⸗ 
ling alle dieſe Namen ſo genau kennen!“ 

„Ich werde es Ihnen ſpäter mitteilen. Indem ich 
Sie nach dieſen Verhältniſſen und Namen fragte, hatte 
ich eine gewiſſe Abſicht, von welcher jetzt noch nichts ver⸗ 
lauten ſoll. Ich erſuche Sie, gegen keinen meiner Ge⸗ 
fährten etwas von dem, was wir geſprochen haben, zu 
erwähnen.“ 

Dies ſchien den Chineſen, welcher wohl eine Er⸗ 
klärung erwartet hatte, nicht zu befriedigen; er wagte 
aber nicht, dem Geſpräch eine Fortſetzung zu geben. 
Welche Freude aber empfand der brave Methuſalem, die 
Geſuchten nun endlich, und zwar ſo ganz unerwartet ge⸗ 
funden zu haben! Noch mehr aber freute er ſich auf die 
bevorſtehende Erkennungsſzene der ſo lange Getrennten 
und er nahm ſich vor, nach Möglichkeit zu verhindern, 
daß die beiden Brüder vorher von dem Mohammedaner 
erkannt wurden. 

May, Der blaurote Methuſalem. 31 


— 482 — 


Kurz nach Mittag wurde die Stadt Kue⸗jang er⸗ 
reicht, durch welche man ritt, ohne ſich aufzuhalten. 
Zwei Stunden ſpäter gelangten die Reiſenden an den 
Fluß Lai⸗kiang, deſſen Lauf ſie aufwärts folgten, um 
dann die Nacht in einem an der Straße liegenden Ein⸗ 
kehrhaus zu verbringen. Am andern Morgen wurde die 
angegebene Richtung weiter verfolgt. 

Dieſer Fluß kommt von einem ſchmalen, langge⸗ 
ſtreckten Höhenzug, der vom Nan⸗ling⸗Gebirge ausläuft 
und ſich bis nach der Stadt Kin⸗gan erſtreckt. An ſeinem 
rechten Ufer ſteigt das Land als ſchiefe Ebene nach dem 
Höhenzug empor, während das linke durch eine Berg⸗ 
kette von einem öſtlich liegenden weiten und fruchtbaren 
Becken getrennt wird, wo europäiſche Kenner unbedingt 
nach Kohle graben würden. Dieſes Becken iſt mit dem 
Fluß durch Quertäler verbunden, welche die erwähnte 
Bergkette durchbrechen. Es wird von dem Flüßchen 
Dſchang durchſtrömt, an welchem der Wohnort des 
Onkels Daniel liegen ſollte. 

Daß in einem kohlenreichen Becken Petroleum ge⸗ 
funden wurde, war leicht erklärlich. Uebrigens iſt die 
Meinung, daß man in China dieſes Brennmittel gar 
nicht kenne, eine irrige, denn ſchon in einem Jahrhun⸗ 
derte alten chineſiſchen geographiſchen Werk, dem 
unſren Gelehrten noch wenig bekannten Schen⸗ſi⸗king, 
lautet eine Stelle: „In dieſer Provinz liegt die Stadt 
Den-gan-fu, wo ein dunkles, übelriechendes Oel aus der 
Erde fließt, das man in Lampen und Laternen brennt, 
da es ein beſſeres und billigeres Licht als dasjenige der 
Talgkerzen und gewöhnlichen Oellampen gibt.“ 

Kurz nach dem Mittag dieſes zweiten Tages ſah 
man ein kleines Dörfchen am Ufer des Fluſſes liegen, 
und der Hoei⸗hoei erklärte, daß dieſes ſein gegenwärtiger 


— 483 — 


Wohnſitz ſei, wo ſich mit ihm noch mehrere Mohamme⸗ 
daner niedergelaſſen hätten. 

Daß hier der Islam eine Stätte gefunden habe, 
wenn auch nur eine kleine, konnte man aus dem ſchlan⸗ 
ken, hölzernen Türmchen erſehen, das die Baumwipfel 
der Gärten überragte. Es war das Minareh der Li⸗pai⸗ 
fie), welche die Bekenner der Lehren Mohammeds ſich 
hier errichtet hatten. 

Der Methuſalem hatte ſich ſeit geſtern früh alle 
Mühe gegeben, ein längeres Geſpräch des Hoei⸗hoei mit 
den Brüdern zu verhindern. Dieſe letzteren hatten alſo 
nicht die Spur einer Ahnung, daß ſie hier ihre Mutter 
und Geſchwiſter finden würden. 

Links von der Straße lag der Fluß, der ſich hier 
ſeeartig erweiterte. Auf dem Waſſer hielten Kähne mit 
Fiſchern. 

Rechts zogen ſich die kleinen Häuſer und hinter die⸗ 
ſen die Gärten längs der Straße hin. Die Fenſterhöhlen 
waren entweder ganz leer, oder ſie hatten an Stelle der 
Glasſcheiben jenes ſtarke, ſehr durchſcheinende Papier, 
das in beſter Qualität aus Korea bezogen wird. Den⸗ 
noch machte das Dorf den Anſchein ungewöhnlicher 
Wohlhabenheit und Sauberkeit. 

Damit ſtimmte freilich der an Kienöl erinnernde 
Geruch nicht überein, der ſich bemerkbar machte. Er kam 
von mehreren dunklen, fettigen Kähnen, die am Ufer 
lagen und mit ebenſo dunklen Fäſſern beladen waren. 
Das waren Petroleumfäſſer, die von hier aus in kleinen 
Booten nach Kin⸗gan oder Tſchang⸗ſcha gingen, um von 
dort aus auf größeren Flußdſchunken den Jang⸗tſe⸗kiang 
hinabbefördert zu werden. Dieſer Petroleumgeruch war 


) Roſchee. 


— 181 


das erſte Anzeichen, daß man ſich dem Ziel der Reiſe, der 
Niederlaſſung des Onkels Daniel, genähert habe. 

Der Hoei⸗hoei entſchuldigte ſich, daß er die Herr⸗ 
ſchaften nicht einladen könne, die Nacht bei ihm zu ver⸗ 
bringen. Sein Häuschen war für ſo viele Gäſte zu klein. 
Doch verſicherte er ihnen, daß ſie in dem hieſigen Einkehr⸗ 
haus ſehr gut wohnen würden, da es genug Raum beſitze 
und die Familie des Wirtes aufmerkſam und reinlich fei. 
Dagegen bat er ſie dringend, das Mahl bei ihm einzu⸗ 
nehmen; man möge ihm nur ein kleines Stündchen Zeit 
gewähren, das dazu Nötige vorzubereiten. Er brachte die 
Reiſenden nach dem Sis⸗kia, worauf er ſich nach feiner 
Wohnung begab. 

Selbſtverſtändlich waren auch hier die Bewohner zu⸗ 
ſammengelaufen, um die Fremden anzuſtaunen. Selbſt 
die Fiſcher kamen an das Ufer gerudert, um ſich vor dem 
Ruhehaus aufzuſtellen. 

Dieſes letztere war wirklich weit ſauberer gehalten 
als diejenigen, in die man bisher eingekehrt war. Der 
Wirt kam aus der Tür und hieß die Gäſte unter fort⸗ 
geſetzten tiefen Verbeugungen willkommen. Er rief 
einige Schi-tfe!) herbei, welche die Pferde verſorgen ſoll⸗ 
ten, und eilte dann davon, um ſofort den Tſcha?) des 
Willkommens zu beſorgen. 

Der Mijnheer ging trotz des anſtrengenden Rittes 
vergnügt und aufgeräumt in der Stube auf und ab, reckte 
und ſtreckte ſich und fragte: „Hoe is het, Mijnheer Methu⸗ 
ſalem? Kann ik niet goed rijden — wie iſt es, Herr 
Methuſalem? Kann ich nicht gut reiten?“ 

„Allerdings,“ nickte der Gefragte. „Sie haben ſich 
ſchneller eingerichtet als ich dachte.“ 

„Ja, het rijden is zeer goed voor den lichaam. Ben 


1) Dienende Knaben = Knechte. — )) Tee. 


— 485 — 


ik niet dick worden — ja das Reiten iſt ſehr gut für den 
Körper. Bin ich nicht dick geworden?“ 

„Es ſcheint ganz ſo, als ob Ihr Umfang auf dem 
Pferde zugenommen habe.“ 

„Zeer?“ 

„Ganz beträchtlich!“ 

Da glänzte das Geſicht des Dicken vor Freunde, und 
er meinte: „Ben ik niet ook gewaſſen — bin ich nicht auch 
gewachſen?“ 

„Um einige Zentimeter, wie es ſcheint. Die hieſige 
Luft ſcheint Ihnen außerordentlich zu bekommen.“ 

„Ja, de lucht is goed, is zeer weldadig. Ik ben 
oneindig gezond; ik word gaarne hier blijven — ja, die 
Luft iſt gut, iſt ſehr wohltätig. Ich bin unendlich ge⸗ 
ſund; ich möchte gern hier bleiben.“ 

„Das können Sie. Sie wollen ſich ja hier in China 
ankaufen.“ 

„Aanhijeu? Ja, maar wat en waar — ankaufen? 
Ja, aber was und wo?“ 

„Kaufen Sie dem Onkel Daniel ſein Geſchäft ab! 
Sie können da ſich um China verdient machen und ein 
Millionär, ein Oelfürſt werden.“ 

Der Dicke blieb ſtehen, öffnete vor Staunen den 
Mund und antwortete erſt nach einer Weile: „Een oli⸗ 
vorſt, een olieprins! Seldrement! De Mijnheer van 
Aardappelenboſch een olieprins! Dat iſt goed; dat is 
zekerlijk goed — ein Oelfürſt, ein Oelprinz! Potztauſend! 
Der Mijnheer van Aardappelenboſch ein Oelprinz! Das 
iſt gut; das iſt gewißlich gut!“ 

Er ſetzte ſtürmiſch ſeinen Spaziergang fort und 
brummte zuweilen ein Wort wie „olieprins“ oder „zeer 
goed“ vor ſich hin. Der Gedanke des Methuſalem ſchien 


— 1486 — 


auf einen ſehr empfänglichen Boden gefallen zu ſein, ob⸗ 
gleich er nur im Scherz ausgeſprochen worden war. 


Nun brachte der Wirt den duftenden Tſcha in klei⸗ 
nen, zierlichen Taſſen, von denen jeder nur eine leeren 
durfte, da es der Willkommenstrunk war. Und bald dar⸗ 
auf erſchien auch ſchon der Hoei⸗hoei, um feine Gäſte 
zum Mittagsmahl abzuholen. Gottfried beeilte ſich, die 
Waſſerpfeife anzuzünden und der kleine Zug ſetzte ſich 
vor dem Hauſe in der ſchon oft erwähnten Weiſe und 
Reihenfolge in Bewegung, was den Gaſtgeber mit un⸗ 
beſchreiblichem Stolz erfüllte und auf die draußen Ver⸗ 
ſammelten einen außerordentlichen Eindruck machte. 
Sie hatten die Mäuler ebenſoweit offen wie die Schlitz⸗ 
augen und wagten kein lautes Wort zu ſprechen. 
Schweigend und ehrfurchtsvoll folgten ſie den Fremden, 
um, als dieſe in das Häuschen des Mohammedaners ge⸗ 
treten waren, ſich vor dieſem aufzuſtellen. 


Das kleine Gebäude enthielt ein ebenſo ſchlicht wie 
ſauber eingerichtetes Vordergemach und einen kleineren 
Hinterraum, welcher zugleich Frauenſtube und Küche zu 
ſein ſchien. Von den weiblichen Bewohnern zeigte ſich 
niemand. Dies iſt überhaupt chineſiſche Sitte, an wel⸗ 
cher hier um ſo mehr feſtgehalten wurde, als der Be⸗ 
ſitzer des Hauſes zum Islam übergetreten war. Im 
übrigen aber zeigte der Hoei⸗hoei von den Gebräuchen, 
die den Mohammedanern für die Mahlzeiten vorge⸗ 
ſchrieben ſind, nicht die geringſte Spur. Es geſchah alles 
in chineſiſcher Weiſe. Er nahm nicht mit an dem Tiſch 
Platz, ſondern blieb ſtehen, um ſeine Gäſte zu bedienen. 

Es gab das Mahl eines armen Mannes, welcher 


einmal, wenn er einen Reichen bei ſich bewirtet, einen 
tieferen Griff in ſeinen Beutel machen muß. Eine große 


— 487 — 


Auswahl hatte das kleine Dorf ohnehin nicht bieten 
können. 

Eine lebhafte Unterhaltung würzte das einfache 
Mahl. Der Wirt ſah, daß ſeine Gäſte mit ihm zufrieden 
ſeien, und war darüber entzückt. Da wendete ſich plötzlich 
der Methuſalem zu ihm: „Wir ſehen, daß wir Ihnen 
wirklich willkommen ſind, und ſagen Ihnen herzlichen 
Dank dafür. Bei ſolchen Gelegenheiten ſchreibt uns die 
Sitte unſres Landes eine Höflichkeit vor, die wir auch 
hier befolgen möchten, wenn Sie uns das erlauben.“ 

„Erlauben? O Herr, Sie haben doch nur zu be⸗ 
fehlen, und ich werde gehorchen.“ 

„Wirklich? Das wird uns freuen. Es iſt in unſerer 
Heimat Vorſchrift, ſich nach dem Mahl bei den Frauen 
und Töchtern des Hauſes perſönlich zu bedanken. Wol⸗ 
len Sie darum die drei Blumen Ihrer Familie er⸗ 
ſuchen, uns durch ihr Erſcheinen zu erfreuen, damit wir 
ihnen ſagen können, welche Dankbarkeit und Ehrerbie⸗ 
tung wir ihnen widmen!“ 

Der Schreck zuckte über das Geſicht des Wirtes. 
„Herr, das nicht, nur das nicht!“ bat er. — „Warum 
nicht?“ — „Es iſt gegen die hieſige Sitte.“ — „Doch 
nicht, denn der mächtige Tang⸗tſchi von Kuang⸗tſchẽu⸗fu 
hat uns auch ſeine Gemahlin zugeführt.“ — „So iſt es 
gegen die Satzung meines Glaubens.“ — „Sind Ihre 
Damen auch mit zum Islam übergetreten?“ — „Nein.“ 
— „Nun, ſo iſt auch dieſer Grund nicht ſtichhaltig. Sie 
haben ſich bis jetzt als wirklich gaſtfreundlich erwieſen. 
Wollen Sie dieſen Ruhm vernichten und uns damit be⸗ 
leidigen, daß Sie uns dieſe Bitte abſchlagen?“ 

Der Mann antwortete nicht ſogleich. Er kämpfte 
mit ſich ſelbſt. Dann ſagte er unter einem tiefen Atem⸗ 
zug: „Nein, mein Gebieter, beleidigen will ich Sie nicht. 


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Lieber entſchließe ich mich, gegen die Vorſchriften unſres 
Landes zu handeln. Ich werde alſo die Frauen herbei⸗ 
bringen.“ 

Er entfernte ſich in das hintere Gemach. 

„Das hätten Sie nicht von ihm verlangen ſollen,“ 
ſagte Liang⸗ſſi im Tone ſanften, beſcheidenen Vorwurfs. 
„Es iſt ganz und gar gegen die hieſigen Gewohnheiten.“ 

„Das weiß ich wohl,“ lächelte der Methuſalem. „Ich 
habe jedoch triftige Gründe, denen Sie ſpäter ganz ſicher 
Ihre Zuſtimmung erteilen werden.“ 

Dieſe kurze Wechſelrede war in deutſcher Sprache 
geführt und alſo von den andern verſtanden worden. 

„Was ſoll denn geſchehen?“ fragte Turnerſtick. 
„Was hätten Sie nicht tun ſollen?“ — „Ich habe ver⸗ 
langt, die weiblichen Bewohner dieſes Hauſes zu ſehen, 
damit wir uns bei ihnen bedanken können.“ — „Und iſt 
das hier eine Sünde? Will er ſie bringen?“ — „Ja.“ — 
„Dat is ſehr hübſch,“ meinte der Gottfried. „Wir wer⸗ 
den uns gegen ſie natürlich als jewandte Weltmenſchen 
benehmen. Nicht wahr, Mijnheer?“ — „Ja. Ook ik 
word haar mijne komplimenten maken. Ik kan dat zeer 
fraai en bij uitſtek maken — ja. Auch ich werde Be⸗ 
grüßungen machen. Ich kann das ſehr ſchön und aus⸗ 
gezeichnet machen.“ 

Es dauerte längere Zeit, bevor der Chineſe wieder⸗ 
kehrte. Die Damen mußten ja ihre beſten Gewänder an⸗ 
legen. Endlich trat er mit ihnen ein und ſtellte ſich an 
die Seite der Tür, um ihnen Platz zu geben. 

Ihre Geſichter zeigten den chineſiſchen Schnitt und 
waren nach der Sitte der beſſeren Stände weiß und rot 
geſchminkt. Die Augenbrauen hatten ſie mit Hilfe des 
Pinſels und ſchwarzer Farbe ſo verlängert, daß ſie über 
der Naſenwurzel zuſammenliefen. Das Haar war durch 


g N — 489 — 


Kämme und viele Nadeln hoch und faſt in Form eines 
Schmetterlings geſteckt. Das Obergewand ſchloß eng am 
Halſe an und fiel in weiten Falten bis auf den Boden 
herab. Die Hände waren tief in den Aermeln verbor⸗ 
gen. Die Füße konnte man nicht ſehen, aber verkrüppelt 
waren ſie nicht, wie man aus dem Gang der Damen und 
ihrer Haltung erſehen konnte, obgleich ſie nur wenige 
Schritte gemacht hatten. 

Sie verneigten ſich tief vor den Gäſten, ohne aber 
ein Wort dazu zu ſagen. Trotz der Schminke erkannte 
man die jugendlichen Züge der Töchter. Das Geſicht der 
Mutter zeigte deutliche Spuren des Grams und der 
Sorgen. 

Die Anweſenden waren alle aufgeſtanden. Noch 
bevor Degenfeld zu Worte kam, trat Turnerſtick vor, ver⸗ 
beugte ſich mit Würde und ſagte: „Myladies und Made⸗ 
moiſelles, wir fühleng uns außerordanglich beglückt über 
Ihre Erſcheinung. Wir habeng gegeſſing und getrunkeng 
und ſagung hiermit — —“ 

„Ik ook, ik ook,“ unterbrach ihn der Mijnheer eifrig, 
indem auch er ſich verneigte, ſoweit ſeine Körperform dies 
zuließ. „Ook ik heb gegeten en gedronken.“ 

„Schweigen Sie und ſtören Sie mich nicht in 
meinem beſten Chineſiſch!“ fuhr der Kapitän ihn miß⸗ 
mutig an. 

Er wollte fortfahren, doch diesmal war der Methu⸗ 
ſalem ſchneller als er, indem er raſch das Wort ergriff, 
natürlich in chineſiſcher Sprache: „Ich weiß, daß ich 
außerordentlich gegen die Sitte Ihrer Heimat verſtoßen 
habe, als ich Sie zu ſehen verlangte. Aber ich wollte 
Ihnen unſern Dank bringen und unſre Entſchuldigung 
für die Sorgen, die wir Ihnen bereitet haben. Außerdem 
aber gibt es noch einen zweiten Grund, der mich veran⸗ 


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laßt, perſönlich mit Ihnen zu ſprechen. Ich habe näm⸗ 
lich einen Brief an Sie abzugeben.“ 

Dieſe letzten Worte richtete er direkt an die Mutter, 
welche verwundert zu ihm aufſchaute. „Einen Brief? 
Von wem?“ fragte ſie faſt unhörbar. 

„Von demjenigen, den Sie wohl ſchon längſt ver⸗ 
loren glaubten.“ 

Ihre Augen waren einige Zeitlang ſtarr auf ihn 
gerichtet, dann ſtützte ſie ſich mit beiden Händen auf ihre 
Töchter und hauchte, die Wahrheit ahnend: „Von meinem 
— meinem Gemahl und Herrn!“ 

„Ja,“ antwortete der Methuſalem. „Sind Sie ſtark 
genug, den Inhalt dieſes Briefes zu hören? Bitte, ſetzen 
Sie ſich!“ 

Er ſtellte ihr ſeinen Stuhl hin, auf dem ſie Platz 
nahm. Dieſe Höflichkeit fand ſchnell zwei Nachahmer, 
welche zeigen wollten, daß auch ſie gelernt hätten, zuvor⸗ 
kommend gegen Damen zu ſein. Turnerſtick ſchob ſeinen 
Stuhl der einen Tochter hin und ſagte: „Bitte, Fräu⸗ 
leining, ſich auch zu ſetzing! Laſſong Sie ſich angenehme 
Ruhe wünſcheng!“ 

Und der Mijnheer trug den ſeinigen der andern 
Tochter hin, indem er mit ſeinem ſüßeſten Lächeln bat: 
„Mejuffroumw, ik bid, dat ook gij op eenen ſtoel zitten, op 
mijnen ſtoel. Ik geef u dezen ſtoel zeer gaerne — Fräu⸗ 
lein, ich bitte, daß auch Sie auf einem Stuhl ſitzen, auf 
meinem Stuhl. Ich gebe Ihnen dieſen Stuhl ſehr gern.“ 

Die beiden Mädchen verſtanden kein Wort von dem 
Geſagten, wußten aber natürlich, wie es gemeint war. 
Sie ſetzten ſich zu beiden Seiten ihrer Mutter nieder, 
und die beiden galanten Salonherren traten höchſt be⸗ 
friedigt zurück, wobei Turnerſtick dem Dicken zuraunte: 
„Prächtiges Mädchen, wirklich! Hat mich Wort für Wort 


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verſtanden. Es ſcheint, daß man in dieſem Haus ein 
ausgezeichnetes Chineſiſch ſpricht.“ 

Degenfeld hatte ſeine Brieftaſche hervorgezogen und 
aus ihr eine Briefhülle genommen, die das erwähnte 
Schreiben Ye⸗kin⸗lis enthielt. Da in China ſelbſt die 
Frauen höherer Stände nicht ſchreiben und leſen können, 
weil ſie keinen Unterricht erhalten, reichte er dem Haus⸗ 
herrn den Brief und ſagte: „Bitte, leſen Sie ihn vor!“ 

Der Mann nahm das Schreiben und hatte kaum 
einen Blick auf die erſten Zeilen geworfen, als er mit 
lauter Stimme rief: „O Allmacht der Vorſehung! O 
Güte des Himmels! Es iſt wirklich ſo; dieſer hohe Herr 
hat die Wahrheit geſagt. Soll ich leſen?“ 

Er hatte dieſe Frage an die Frau gerichtet, die ſich 
in größter Aufregung befand. Sie zitterte am ganzen 
Körper; ſie konnte kein lautes Ja hervorbringen; darum 
gab ſie ihm nur durch ein Kopfnicken ihre Zuſtimmung 
zu erkennen. Er las: „An Hoa⸗keu, vom Geſchlechte der 
Pang, aus dem Stamme Seng⸗ho, das verſchwundene 
Weib meiner Seele und die Mutter meiner verlorenen 
Söhne und Töchter — — — von Ye-kin-li, dem aus 
Tſchin Entflohenen.“ 

Das war die Ueberſchrift des Briefes. Der Vor⸗ 
leſer kam nicht weiter; vier Schreie erſchallten — — von 
den beiden Söhnen und den zwei Töchtern. Die Mutter 
aber war vor Freude ohnmächtig geworden. 

Der wackere Methuſalem hatte nicht daran gedacht, 
daß man zarten Frauen ſolche Nachrichten nicht ſo un⸗ 
vorbereitet geben darf. Die beiden Töchter ſchlangen ihre 
Arme um die Mutter und weinten. „Es kam zu raſch; 
es iſt zu viel für ſie. Kommt heraus mit ihr in euer 
Gemach,“ ſagte der Hoei⸗hoei. 

Er hob die Ohnmächtige in ſeinen Armen auf und 


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trug ſie hinaus. Die Mädchen folgten ihm. Die Söhne 
aber ſtürzten auf den Methuſalem zu, und Jin⸗tſian 
fragte ihn in ſtürmiſcher Weiſe: „Herr, der Brief iſt von 
unſerm Vater?“ — „Ja,“ antwortete der Gefragte. — 
„Und dieſe Frau iſt unſre Mutter?“ — „Sie iſt es. Und 
ihre Töchter find Méipao und Simming, Ihre Schwe⸗ 
ſtern.“ — „O Himmel, o Wunder! Unſre Mutter und 
unſre Schweſtern! Komm, Bruder, komm hinaus zu 
ihnen!“ 

Sie eilten ihren Anverwandten nach. Die andern wuß⸗ 
ten nicht, was geſchehen war. Degenfeld erklärte es ihnen 
mit kurzen Worten. Sein Bericht erfüllte ſie mit großer 
Freude und tiefer Rührung, der ſie in fröhlichen Worten 
Ausdruck gaben. Turnerſtick meinte, indem er den Klem⸗ 
mer abnahm und ſich die Augen wiſchte: „Welch ein Wie⸗ 
derfinden! Welch eine Szene! Aber von Ihnen, Methus 
ſalem, war es ſehr unrecht und hinterliſtig, uns zu ver⸗ 
ſchweigen, was Sie wußten. Auch wir waren ganz un⸗ 
vorbereitet; wie leicht konnten wir da auch in Ohnmacht 
fallen!“ 

„Wenn auch dat nicht,“ ſagte der Gottfried, „denn 
ich bin kein Freund von Ohnmacht; aberſt dennoch bin 
ich ebenſo unzufrieden mit Ihnen, oller Methuſalem. 
Wenn Sie mir bei die Joldjeſchichte zu Ihren Vertrau- 
ten machten, ſo konnten Sie mich auch in dieſe weitere 
Anjelegenheit einen jeheimnisvollen, vielſagenden Wink 
jeben. Es iſt janz unverantwortlich, einen erwachſenen 
Menſchen ſo mich nichts, dich nichts aus die eine Empfin⸗ 
dung in die andre zu ſtürzen! Wie leicht kann da ein 
weiches Jemüt zu Schaden kommen. Man hat doch auch 
ein Herz! Nicht wahr, Mijnheer?“ 

„Ja,“ antwortete der Dicke, der feine ſchottiſche 
Mütze in der Hand hielt und ſich damit die Zähren der 


— 493 — 


Teilnahme aus den kleinen Aeuglein wiſchte. „Ik heb 
ook een hart, een mijn hart is goed, zeer goed. Ik moet 
ſnuiven en ſnuiten, dat deze menſchen zich gekregen heb⸗ 
ben. Ik ben daardoor zoo zwak geworden, dat ik zitten 
moet — ja, ich habe auch ein Herz, und mein Herz iſt gut, 
ſehr gut. Ich muß ſchnauben und ſchneuzen, daß dieſe 
Menſchen ſich bekommen haben. Ich bin dadurch ſo 
ſchwach geworden, daß ich ſitzen muß.“ 

Er wollte ſich niederlaſſen, aber der Methuſalem 
ſagte: „Nicht wieder niederſetzen, Mijnheer! Unſre 
Gegenwart würde jetzt hier nur beläſtigen. Ueberlaſſen 
wir dieſe guten Leute vielmehr ſich ſelbſt, indem wir uns 
geräuſchlos entfernen.“ 

Sie verließen das Zimmer leiſe. Draußen im 
Freien ſtanden noch immer viele Leute, die ihnen ehr⸗ 
erbietig Platz machten und ſie ſo lange begleiteten, bis 
ſie am Einkehrhaus angelangt waren. 


Sechzehntes Kapitel. 
Unter dem Schutz des Bettlerkönigs. 


Den Mijnheer hatte die Rührung ſo angegriffen, 
daß er den Methuſalem bat, nur ja für ein gutes und 
reichliches Abendeſſen zu ſorgen. Der Blaurote ließ 
alſo den Wirt kommen, um ihm die nötigen Weiſungen 
zu geben. Eben als ſie beiſammen ſtanden und ſich be⸗ 
rieten, erſchallten draußen laute Rufe, und die Menſchen, 
welche vor dem Hauſe geſtanden hatten, eilten davon, die 
Straße entlang. „Was iſt das? Was ruft man?“ fragte 
Degenfeld den Wirt. 

„Ich kann die Worte nicht genau verſtehen. Ich 
werde nachſchauen, was vorgefallen iſt,“ lautete die Ant⸗ 
wort. 

Er ging hinaus vor die Tür, kehrte aber ſofort zu⸗ 
rück und rief freudig: „Wiſſen Sie, wer da kommt, hoher 
Herr?“ 

„Natürlich nicht. Wer iſt es?“ 

„Der T'eu, der T'eu, kein andrer als der T'eu!“ 

„Ah! Der Bettlerkönig?“ 

„Ja, der Bettlerkönig. Da es ſchon ſpät am Tag 
iſt, ſo wird er nicht weiter ziehen, ſondern hier bei mir 


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bleiben wollen. Ich muß hinaus, um ihn zu bewill⸗ 
kommnen!“ 

Er eilte fort. 

Der Methuſalem ſagte ſeinen Gefährten, wen man 
da draußen erwarte, und ſie traten mit ihm an das ge⸗ 
öffnete Fenſter, um dieſen ebenſo berühmten, wie ein⸗ 
flußreichen Mann kommen zu ſehen. 

Die Stimmen der Nahenden wurden lauter und 
lauter. Man hörte Pferdegetrappel, und dann erſchienen, 
vom Volk umringt, zehn ſehr gut bewaffnete Reiter, die 
nichts weniger als den Eindruck von Bettlern machten. 
Ihre Pferde waren edles Blut und ihrer Kleidung nach 
mußte man ſie für ſehr wohlhabende Leute halten. 

Das Gewand des Vornehmſten unter ihnen war 
ausſchließlich aus Seide gefertigt. Er trug einen koſt⸗ 
baren Degen, und das Zaumzeug ſeines Roſſes war mit 
ſtarkem Silber beſchlagen. Er zählte vielleicht ſechzig 
Jahre und hatte ein ſehr würdevolles Ausſehen, wozu 
der lange Schnurrbart, der ihm rechts und links in ſtar⸗ 
ken Flechten bis über die Bruſt herabreichte, viel beitrug. 
Er hatte keinen Knopf auf der Mütze, ein ſicheres Zei⸗ 
chen, daß er kein Mandarin ſei; doch war ſeine Erſchei⸗ 
nung gewiß ebenſo ehrfurchtgebietend wie diejenige eines 
hohen Beamten des Reichs. 

Er ſchwang ſich mit jugendlicher Leichtigkeit aus 
dem Sattel und ſchritt der Tür des Hauſes zu, an der 
ihn der Wirt mit tiefen Verbeugungen empfing. Der 
T'eu behandelte ihn nicht wie einen tieferſtehenden 
Mann, ſondern in ſehr leutſeliger Weiſe, indem er, wie 
es zwiſchen Gleichberechtigten geſchieht, feine Hände in⸗ 
einander und dann, nachdem er ſich verbeugt hatte, auf 
die beiden Achſeln des Wirtes legte. 

Der Student trat vom Fenſter zurück und nahm 


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mit ſeinen Gefährten auf einer der für die Gäſte be⸗ 
ſtimmten Bänke Platz. Bald darauf trat der Bettler⸗ 
könig mit ſeinen Begleitern ein. Er ſchien überraſcht, 
ſolch vornehme und ausländiſche Gäſte hier zu finden und 
begrüßte die Anweſenden mit einer tiefen Verneigung. 
Sie erhoben ſich und verneigten ſich ebenſo. 

„Ich komme, um dieſe Nacht bei Ihnen zu bleiben,“ 
ſagte der Tieu zum Wirt. „Sind die Schlafſtuben frei?“ 

„Leider nicht,“ antwortete der Gefragte verlegen. 
„Ich habe ſie dieſen huldvollen Herren gegeben, da mir 
Ihre Ankunft nicht bekannt war, hoher Beſchützer.“ 

„So werden wir hier im Gaſtraum ſchlafen.“ 

Da bemerkte der Methuſalem in zuvorkommender 
Weiſe: „Der mächtige König der Armen und Notleiden⸗ 
den ſoll nicht unſertwegen auf Bequemlichkeit verzich⸗ 
ten. Wir treten ihm gern ein Zimmer ab.“ 

„Wiſſen Sie denn, wer ich bin?“ fragte der König. 
— „Ich vernahm es ſoeben und habe auch ſchon längſt 
gehört, welche Ehrerbietung man Ihnen zu zollen hat.“ 
— „Nun, dann werden Sie wohl auch gehört haben, daß 
der T'eu niemals die Geſetze der Höflichkeit verletzt. Es 
wäre ein Vergehen gegen die gute Sitte, wenn ich Ihr 
großmütiges Anerbieten mißbrauchte.“ — „Aber gebietet 
nicht eben dieſe gute Sitte, daß jeder Jüngere vor dem 
Aelteren zurücktritt?“ — „Ja, aber auch der Tiefere vor 
dem Höheren. Und der letztere ſind doch Sie von uns 
beiden.“ — „O nein, Sie ſind König.“ — „Nur ein 
König der Armen und Elenden! Darf ich vielleicht Ihren 
glanzvollen Namen erfahren?“ — „Unſere Namen ſind 
auf dieſem Kuan des Kaiſers verzeichnet.“ 

Er gab ihm den Paß, den er von dem Tong tſchi 
erhalten hatte. Der T'eu entfaltete ihn und verbeugte 
ſich, als er das Siegel und die Unterſchrift geſehen hatte, 


— 497 — 


dreimal bis faſt zum Boden herab. Dann las er die 
Namen. Als er damit zu Ende war, verbeugte er ſich 
abermals, legte den Paß zuſammen und gab ihn zurück 
mit den Worten: „Das iſt die höchſte Empfehlung, die 
einem Menſchen bei uns werden kann. Dennoch wage 
ich es, Ihnen auch meine geringen Dienſte anzubieten.“ 
— „Dieſe Huld iſt mir hochwillkommen, da ich weiß, daß 
die Freundlichkeit des mächtigen T'eu oft mehr vermag 
als ſo ein Kuan.“ — „Es iſt wahr; es iſt mir zuweilen 
möglich, jemand nützlich zu ſein. Ihre glanzvollen 
Namen haben einen fremden Klang, doch iſt mir einer 
davon bekannt. Wer von Ihnen iſt Herr Seiteinei?“ 
— „Hier dieſer junge Mann, den wir Richard nennen, 
was hier in China Li⸗cha⸗le⸗de ausgeſprochen würde. Er 
iſt der Neffe des Herrn Sei⸗tei⸗nei in Ho⸗tſing⸗ting, den 
Sie vielleicht kennen.“ — „Ich kenne und achte ihn. Sie 
wollen ihn wohl beſuchen?“ — „Ja, morgen früh wollen 
wir weiterreiſen, um ihm den Sohn ſeines Bruders zu⸗ 
zuführen, den er eingeladen hat.“ 

Der T'eu nickte dem Gymnaſiaſten freundlich zu 
und verſicherte die Reiſenden nochmals ſeines Schutzes, 
der ihnen vielleicht von Vorteil ſein könne. 

„Daß dieſer Schutz ein ſtarker iſt, haben wir bereits 
an uns erfahren,“ ſagte Degenfeld. „Wir befanden uns 
in großer Gefahr; unſere Feinde verwandelten ſich aber 
ſofort in Freunde, als wir ihnen bewieſen, daß Sie Ihre 
mächtigen Hände über uns halten.“ 

Der T'eu machte eine Bewegung des Erſtaunens 
und fragte: „Wer waren dieſe Leute?“ 

„Die Kuei⸗tſe. Sie begegneten uns unterwegs.“ 

„Die Kuei⸗tſe ſind mir und meinen Anhängern 
allerdings freundlich geſinnt. Aber wie konnten Sie ſich 
auf mich berufen? Wie konnten Sie ihnen beweiſen, 

Day, Der blaurote Methuſalem. 32 


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daß ich Ihr Beſchützer bin? Mir ſelbſt iſt das ja unbe⸗ 
kannt?“ 

„Ich zeigte ihnen dieſen zweiten Kuan, den ich be⸗ 
ſitze.“ 

Er gab ihm den Schutzbrief in die Hand, und es 
war ſpaßhaft, das Geſicht des T'eu zu beobachten. 

„Wie? Mein eigener Kuan!“ rief er aus. „Und 
zwar ein Kuan erſter Klaſſe, von denen ich nur ſehr 
wenige ausgegeben habe! Ich erſehe aus einem beſtimm⸗ 
ten Zeichen, daß es der Kuan meines Schwiegerſohns 
in Kuang-tihe-fu iſt!“ 

„Sie meinen Hu⸗tſin, den Juwelier. Es gelang 
uns, ihm einen kleinen Dienſt zu erweiſen, und da er 
hörte, daß wir in das Innere des Landes gehen wollten, 
wo Beſchwerden oder gar Gefahren unſer warten konn⸗ 
ten, ſo rüſtete er uns mit dieſem Kuan aus.“ 

„Sie haben meinem Hu⸗tſin einen Dienſt geleiſtet? 
Das kann kein gewöhnlicher geweſen ſein, denn einer 
alltäglichen Gefälligkeit wegen würde er ſich nicht von 
dieſem Paß getrennt haben. Darf ich erfahren, was ge⸗ 
ſchehen iſt, und wie Sie mit ihm bekannt geworden ſind? 
Soeben bringt man den Tee. Ich lade Sie demütig ein, 
ihn mit uns zu trinken. Dabei können wir von meinem 
Schwiegerſohn ſprechen.“ 

„Ich werde Ihnen gern von ihm erzählen, doch 
handelt es ſich um ein Ereignis, das man nur vertrau⸗ 
lich beſprechen kann.“ 

„Dieſe Männer ſind meine Offiziere, meine 
Freunde, vor denen ich kein Geheimnis habe; ſie können 
alles hören, was Sie zu ſagen haben.“ 

Der Wirt hatte den ſchnell bereiteten Tee gebracht. 
Er hatte auch für jeden der fremden Gäſte eine Taſſe. 


— 499 — 


Das entſprach der chineſiſchen Sitte. Es wurden noch 
Pfeifen bei ihm beſtellt; Tabak hatten die Begleiter des 
T'eu bei ſich. Als die kleinen Täßchen geleert, und die 
Pfeifen in Brand geſteckt worden waren, begann der 
Methuſalem zu erzählen. 

Er begann mit dem Auftrag, den er von Ye⸗kin⸗li 
erhalten hatte, und gab einen kurzen Bericht alles deſſen, 
was ſie bis hierher erlebt hatten. Die Chineſen war ſehr 
aufmerkſame Zuhörer. Als er geendet hatte, erhob ſich 
der T'eu, machte den Reiſenden eine tiefe, ehrfurchtsvolle 
Verbeugung, welchem Beiſpiel ſeine „Offiziere“ ſogleich 
folgten, und ſagte im Ton der größten Hochachtung: 
„Was wir jetzt vernommen haben, iſt ein ſicheres Zeug⸗ 
nis, daß in dem Vaterland der aufrichtig bewunderten 
Herren Leute wohnen, welche außerordentlich kenntnis⸗ 
reich, kühn und umſichtig ſind. Der Scharfſinn und der 
Mut, womit Sie meinen Schwiegerſohn gerettet haben, 
verpflichtet uns zur größten Dankbarkeit. Wir werden 
uns alle Mühe geben, unſre Erkenntlichkeit zu beweiſen, 
und bitten um die huldreiche Genehmigung, den mor⸗ 
genden Ritt nach Ho⸗tſching⸗ting in Ihrer erlauchten 
Geſellſchaft machen zu dürfen. Und ferner erſuche ich 
Sie alle, beim heutigen Abendbrot meine Gäſte zu ſein. 
Ich werde ſogleich die nötigen Vorbereitungen treffen.“ 

Der Methuſalem erhob Einſpruch dagegen, doch ver⸗ 
gebens. Der Bettlerkönig begab ſich ſelbſt nach der Küche, 
um dort ſeine Befehle zu erteilen. 

Während dieſer Pauſe teilte Degenfeld ſeinen Ge⸗ 
fährten den Inhalt des Geſprächs mit. Sie waren natür⸗ 
lich ſehr erfreut darüber, ſich die Freundſchaft dieſes 
Mannes erworben zu haben, und der Dicke ſprach die 
ganz unerwartete Frage aus: „Mijnheer Methuſalem, 
zal deeze guede koning ook mij in zijne armen nemen — 


— 50 — 


Herr Methuſalem, wird dieſer gute König auch mich in 
ſeine Arme nehmen?“ 

„Sie meinen, ob er auch Sie beſchützen werde? 
Natürlich!“ 

„Dat is zeer goed, want hij zal mij helpen in gevalle 
dat ik het ſteenolie koop — das iſt ſehr gut, denn er ſoll 
mir helfen, falls ich das Steinöl kaufe.“ 

„Sind Sie denn das gewillt?“ fragte der Methu⸗ 
ſalem überraſcht. 

„Ik zal al Ho⸗tſing⸗ting koopen. De lucht is hier 
zonder voorbeeld goed. De lucht makt mij dick — ich werde 
ganz Ho⸗tſing⸗ting kaufen. Die Luft iſt hier unvergleich⸗ 
lich gut. Die Luft macht mich dick.“ 

„Aber der Preis würde, wenn Onkel Daniel über⸗ 
haupt verkaufen ſollte, ſehr hoch ſein!“ 

„Dat zeg ik mij ook, maar ik heb Geld — das ſage 
ich mir auch, aber ich habe Geld!“ Und er zwinkerte 
unternehmungsluſtig mit den Augen. 

Jetzt trat der T'eu wieder herein und der Methu⸗ 
ſalem ſandte einen Boten fort, um die beiden Brüder 
mit dem Hoei⸗hoei im Namen des Bettlerkönigs zum 
Nachtmahl zu bitten. Nach einiger Zeit kamen ſie, noch 
voller Entzücken über das Erlebte, und überfließend vor 
Dank für den Methuſalem. 

Es war noch nicht Abend, und der Wirt bedurfte 
einer längeren Friſt, das Eſſen zuzubereiten. Dieſe Zeit 
konnte recht wohl durch Unterhaltung ausgefüllt werden. 
Es gab ja ſo viel zu fragen, zu erzählen und zu erklären. 
Das war aber langweilig für diejenigen, die nicht chine⸗ 
ſiſch verſtanden. Darum ſuchten ſie ſich in anderer Weiſe 
zu beſchäftigen. 

Der Dicke war an das Fenſter getreten, von wo aus 
man eine Ausſicht auf die ſeeartige Erweiterung des 


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Fluſſes hatte. Er beobachtete das Treiben auf dem Waſ⸗ 
ſer. Die Eigenartigkeit des Fiſchfangs erregte ſeine be⸗ 
ſondere Aufmerkſamkeit. Die Fiſcher bedienten ſich näm⸗ 
lich nicht etwa einer Angel oder eines Netzes, ſondern 
vielmehr eines gelehrigen, abgerichteten Vogels, der 
ihnen die Fiſche geſchickt fing und zutrug. Eben als wie⸗ 
der einmal einer dieſer ſogenannten Waſſerraben unter⸗ 
getaucht war und ein Beuteſtück im Schnabel empor⸗ 
brachte, rief er aus, indem er in die fetten Hände 
klatſchte: „Heiza! Daar heeft weder zoo eene gans eenen 
haring gevangen — juchhe, da hat wieder ſolch eine Gans 
einen Hering gefangen!“ 

„Einen Hering?“ lachte der Gottfried. „Woher ſehen 
Sie denn, dat es ein Hering iſt?“ 

„De haring is doch een viſch!“ 

„Ja, ein Fiſch iſt er freilich; aber nicht alle Fiſche 
ſind auch Heringe. Ich habe bisher jeglaubt, dat man 
Heringe nur im Meer fängt. Hier jiebt es andre Fiſche, 
Karpfen und Forellen.“ 

„Wat? Karpen en forelen?“ rief der Dicke. „Daar⸗ 
van moet ik eten! Ik ga buiten aan t' water en koop mij 
viſchen — was? Karpfen und Forellen? Davon muß ich 
eſſen. Ich gehe hinaus an das Waſſer und kaufe mir 
Fiſche.“ 

„Dann würde ich ſie mir doch lieber ſelbſt fangen!“ 

„Vangen? Ik mij zelf? Kan ik dat — fangen? Ich 
mir ſelbſt? Kann ich das?“ 

„Warum nicht? Haben Sie denn noch nie gefiſcht?“ 

„Neen.“ f | 

„Na, dann kommen Sie mal mit! Wir jehen hin⸗ 
aus und mieten uns einen Kahn und die dazu jehörigen 
Vögel für eine Stunde.“ 

„Ja, wij zullen gaa — ja, wir wollen gehen.“ Er 


— 502 — 


griff nach ſeinem Schirm, ſeinen Gewehren und ſogar 
nach dem Ranzen. Der Gottfried bemerkte ihm, daß 
dieſe Dinge nicht notwendig und im Gegenteil nur hin⸗ 
derlich ſeien, doch wurden ſeine Worte nicht beachtet. Der 
Dicke war von ſeinen Sachen eben nicht zu trennen. 

Auch Turnerſtick und Richard ſchloſſen ſich den bei⸗ 
den an. Die Menſchenmenge hatte ſich ziemlich ver⸗ 
laufen, ſo daß ſie unbeläſtigt das Ufer erreichten. Dort 
winkten ſie einen der Kähne herbei. Unter Aufgebot all 
ſeiner chineſiſchen Kenntniſſe gelang es Gottfried, ſich 
verſtändlich zu machen und als er dem Mann ſo viel 
Geld, als er für erforderlich hielt, in die Hand drückte, 
lachte dieſer am ganzen Geſicht und lud die glänzenden 
Herren durch tiefe Verneigungen ein, in das Fahrzeug 
zu ſteigen. 

Der Kahn hatte für wenigſtens acht Perſonen Platz. 
Ueber ſeine Borde waren Stangen gelegt, auf denen die 
Waſſerraben ſaßen, die vor den Fremden nicht im min⸗ 
deſten ſcheuten. Der Chineſe ruderte ſeine Gäſte ziemlich 
weit hinaus und hielt dann an, um das Fiſchen zu be⸗ 
ginnen. Auf dem Boden des Kahns ſtanden einige Ge⸗ 
fäße, welche die gefangenen Fiſche enthielten. Ein leeres 
wurde mit Waſſer gefüllt, um die nunmehrige Beute 
aufzunehmen, da dieſe den Fremden gehörte. Auf einen 
Zuruf ihres Herrn erhoben ſich die Raben in die Luft 
und ſchoſſen dann in und unter das Waſſer. 

Das Wort Rabe iſt eigentlich ein falſcher Ausdruck 
für dieſe zum Fiſchen gleich vom Ei aus abgerichteten 
Tſchu⸗tſches. Der richtige Name iſt Cormoran oder 
Scharbe (Phalacrocorax sinensis). Sie tauchen aus- 
gezeichnet und ſchießen ſogar große Strecken unter dem 
Waſſer fort, um ihre Beute zu ergreifen. 

Sie werden nicht nur zum Einzelfiſchen, ſondern 


— 508 — 


auch zur gemeinſchaftlichen Jagd abgerichtet. Bei dieſer 
letzteren fliegen ſie in der Luft auseinander, bis ſie einen 
Kreis bilden; dann ſtürzt ſich jeder Vogel ſenkrecht in 
das Waſſer und treibt die Beute nach der Mitte des 
Kreiſes hin, wo ſie mit dem Schnabel ergriffen und in 
das Boot gebracht wird. 

So ein Tſchu⸗tſche kann einen ziemlich großen Fiſch 
feſthalten. Iſt er ihm jedoch zu ſchwer, ſo ſtößt er ein 
kurzes Krächzen aus, auf das ein zweiter, ja ein dritter 
Vogel herbei eilt, um ihm Hilfe zu leiſten. 

Damit ſie die Beute nicht ſelbſt verzehren, wird 
ihnen ein eiſerner Ring oder ein enger Lederkragen um 
den Hals gelegt. Iſt dann der Fang zu Ende, ſo nimmt 
ihnen der Fiſcher dieſe Ringe ab und erteilt ihnen da⸗ 
durch die Erlaubnis, nun für ſich ſelbſt zu ſorgen. 
Es währte kaum eine Viertelſtunde, jo war das 
Gefäß ſo gefüllt, daß kein Fiſch mehr in dasſelbe ging. 
Es waren einige Aale dabei; die anderen Fiſche gehör⸗ 
ten zu den Karpfenarten; ſie hatten eine bedeutende 
Größe. 

„Dat iſt ein hübſcher Fang,“ meinte der Gottfried. 
„Wir werden ihn dem Wirt bringen, der dieſe Fiſche mit 
für dat Abendeſſen verwenden kann.“ 

„Ja, deze viſchvang is zeer goed,“ ſtimmte der 
Mijnheer bei. „Varen wij aan het land. Ik zelf zal geze 
viſche braden. De viſchen moeten in boeter en uijen ge⸗ 
braten worden. Ik zelf moet dat maken — ja, dieſer 
Fiſchfang iſt ſehr gut. Fahren wir an das Land. Ich 
ſelbſt werde dieſe Fiſche braten. Die Fiſche müſſen in 
Butter und Zwiebeln gebraten werden. Ich ſelbſt muß 
das machen.“ 

Der Gottfried bedeutete dem Fiſcher, an das Ufer 
zu rudern. Noch hatten ſie dieſes nicht erreicht, ſo ſtand 


der Kapitän von feinem Sitz auf. Für ihn als See 
mann war das nichts Beſonderes, vielmehr etwas 
Selbſtverſtändliches. Der Mijnheer folgte ſorglos ſeinem 
Beiſpiel. Die Augen ſehnſüchtig auf das Gefäß gerich⸗ 
tet, das die Fiſche enthielt, achtete er nicht darauf, daß 
das Boot im nächſten Augenblick an das Land ſtoßen 
mußte. Er ſtand vorn am Bug, wo das Fahrzeug am 
ſchmalſten war. Jetzt erreichte das Boot das Ufer. Ein 
Stoß, ein Ruck — der Dicke verlor das Gleichgewicht. 
Die Arme weit ausſtreckend und einen lauten Schrei 
ausſtoßend, flog er über Bord und in das hier mehr als 
mannstiefe Waſſer. 

Der Schiffer warf dem Gottfried ſofort den Strick 
zu, womit der Kahn zu befeſtigen war, und ſprang dem 
Mijnheer nach. Dieſer war für wenige Augenblicke ver⸗ 
ſchwunden; dann aber tauchte der Chineſe mit ihm auf 
und ruderte an das Land, wo er ihn in das Gras legte. 
Die auf dem Waſſer ſchwimmende ſchottiſche Mütze hatte 
Turnerſtick aufgefiſcht, während Gottfried den Kahn feſt⸗ 
band. 

Der Dicke hatte weder ſeinen Schirm, ſeine Flinten, 
noch den daran hängenden Torniſter verloren. Jetzt lag 
er lang ausgeſtreckt da, mit geſchloſſenen Augen und trie⸗ 
fend vor Waſſer. Er hatte keineswegs die Beſinnung 
verloren, denn er huſtete und puſtete in einem fort. 

Die in der Nähe weilenden Dorfbewohner waren 
herbeigeeilt, und aller Hände ſtreckten ſich aus, um den 
Verunglückten nach dem Einkehrhaus zu bringen. Als 
man ihn dort in die Stube getragen brachte, erſchrak der 
Methuſalem nicht wenig und die andern ebenſo. Der 
Mijnheer wurde auf eine Bank gelegt, und Turnerſtick 
erzählte, was und wie es geſchehen war. 

Das anhaltende kräftige Nieſen des Verunglückten 


— 505 — 


ließen keinen Zweifel darüber übrig, daß das ganze 
Unglück nur in einem kalten Bad beſtehe. Das be⸗ 
ruhigte den Methuſalem und er bat den Mijnheer, ſich 
von der Bank zu erheben. 

„Ik kan niet; ik ben erdronken!“ antwortete dieſer 
und blieb liegen. 

Da trat der Beſitzer des Kahns herein, um die 
Fiſche zu bringen. Seiner Kleidung hatte das Waſſer 
nichts geſchadet, da dieſe nur in einem aus Gras ge⸗ 
flochtenen Lendenſchurz beſtand. 

„Da kommen die Fiſche!“ ſagte der Gottfried. „Wir 
können den Tod unſres juten Freundes doch unmöglich 
durch ein Feſteſſen feiern. Alſo brauchen wir die Karpfen 
und Aale nicht. Der Mann mag ſie wieder in den Fluß 
werfen und ihnen die Freiheit jeben!“ 

Im Nu ſprang der Dicke auf und ſchrie: „De viſchen 
wider in het water werpen? Deze viſche moeten in de 
keuken en in de vleeſchſchotel, gij ungelukkige Nijlpaard 
— die Fiſche wieder in das Waſſer werfen? Dieſe Fiſche 
müſſen in die Küche und in die Bratenſchüſſel, Sie un⸗ 
glückliches Nilpferd!“ 

„Ich denke, Sie ſind tot!“ lachte der alſo Angedon⸗ 
nerte. 

„Dood? Ik ben niet dood. Ik moet mijne viſchen 
braden, in boter en in uijen — tot? Ich bin nicht tot. 
Ich muß meine Fiſche braten, in Butter und in Zwie⸗ 
beln!“ 

„So hängen Sie ſich bei dieſe Jelejenheit gleich mit 
über dem Feuer auf, dat Sie trocken werden! Sie ſind ja 
zur reinen Dachtraufe jeworden!“ ſagte der Wichſier. 

Erſt jetzt blickte der Dicke an ſich herab und auf die 
Pfütze, die ſich unter ſeinen Füßen gebildet hatte. 
„Rechtwaardige hemel, wat is dat!“ rief er aus. „Ik 


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ben een ongelukkige Nijlpaard. O, mijne leeren een 
mijn linnen goed! Mijn rok en mijn broek, mijn veſt 
en mijne fraaie das — gerechter Himmel, was iſt das! 
Ich bin ein unglückliches Nilpferd. O, meine Kleider 
und meine Wäſche! Mein Rock und meine Hoſen, meine 
Weſte und meine ſchöne Halsbinde!“ 

„Ja, Sie ſehen ſchön aus! Dat klebt alles nur ſo an 

Ihrem dürren Jeknöchel herum. Der leibhaftige Tod 
kann nicht ſo zuſammjefallen ſein!“ 
Zoo dun en dor ben ik?“ ſchrie der Geängſtigte 
auf. „O mijne ledematen, mijn ruggegraat en mijne 
ribben! Mijnheer Methuſalem, wat zegt het woorden⸗ 
boek van het erdrinken en erſoppen — fo dünn und dürr 
bin ich? O meine Gliedmaßen, mein Rückgrat und meine 
Rippen! Herr Methufalem, was ſagt das Wörterbuch 
vom Ertrinken und Erſaufen?“ 

„Daß man ſofort die Kleider wechſeln und einige 
Taſſen heißen Tees trinken ſoll, wenn man nicht eine 
Entzündung der Eingeweide davontragen oder gar ſter⸗ 
ben will,“ antwortete der Gefragte lächelnd. 

„Ik will niet ſterven, en ik will ook geene ontſteking 
van mijn ingewand. Geeft mij tee en kleeren! Ik hoop, 
dat ik niet ſterven zal, omdat de lucht hier zoo goed en 
gezond is — ich will nicht ſterben, und ich will auch keine 
Entzündung meiner Eingeweide. Gebt mir Tee und 
Kleidungsſtücke! Ich hoffe, daß ich nicht ſterben werde. 
weil die Luft ſo gut und geſund iſt!“ 

Dieſem angſtvollen und dringenden Wunſch wurde 
Folge geleiſtet. Degenfeld brachte den Verunglückten 
zum Wirte, der ſich feiner annahm. Dann erhielt der 
Fiſcher ein Geſchenk für ſeine rettende Tat. Es war nach 
deutſchem Geld faſt nur eine Kleinigkeit, und doch hatte 


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er eine ſolche Summe noch nie in der Hand gehabt. 
Seine Dankbarkeit war außerordentlich. 

Als dann der Mijnheer wieder in der Stube er⸗ 
ſchien, bot er einen höchſt poſſierlichen Anblick. Eine 
Hoſe für ihn zu finden, war ein Ding der Unmöglichkeit 
geweſen. In China wird zwar die Wohlbeleibtheit für 
Schönheit gehalten; aber es gab leider im ganzen Dorf 
und deſſen Umgegend keinen Mann, der ſich in Bezie⸗ 
hung auf dieſe Schönheit mit dem Mijnheer hätte meſſen 
können. Darum war kein einziges paſſendes Kleidungs⸗ 
ſtück aufzutreiben geweſen. Ein Anzug aber hatte doch 
beſchafft werden müſſen, und zwar einer, welcher der 
Würde des „fremden Urahnen“ angemeſſen war. Darum 
hatte der Wirt zu dem Bonzen geſchickt, welcher über den 
einzigen gewebten Gegenſtand, der hier in Betracht kom⸗ 
men konnte, zu verfügen hatte; das war nämlich der 
Vorhang im Götzentempelchen des Dorfes. Glücklicher⸗ 
weiſe pflegen ſolche Dorfſeelſorger nicht allzu ſtreng zu 
ſein, und ſo hatte der Mann ſich bereit finden laſſen, die 
heilige Gardine zu dem erwähnten unheiligen Zweck zur 
Verfügung zu ſtellen, aber freilich nur, weil der Fremd⸗ 
ling ein Freund des Bettlerkönigs war. 

Dieſer Vorhang hatte einen ſchmutzigen Lackfarben⸗ 
grund, auf dem allerlei phantaſtiſches Getier, Götter⸗ 
köpfe und ähnliches aufgetragen war, aber ſo dick, daß 
das faſt brettſteife Gemälde nur ſehr ſchwer in Falten zu 
bringen war. Es ſah vielmehr aus, als ob der Dicke ſich 
mit einer höchſt unregelmäßig gefalzten chineſiſchen 
Wand umgeben habe, woraus nur vorn die Hände und 
oben der Kopf ſich an das Licht des Tages wagen 
durfte. 

Und auf dieſem Kopf ſaß eine hohe, ſpitzige, zucker⸗ 
hutförmige Soldatenmütze, an deren Vorderſeite das 


— 508 — 


Zerrbild eines Drachen befeſtigt war. Zu beiden Seiten 
hingen Schutzklappen hernieder, die der Mijnheer unter 
ſeinem Kinn zuſammengebunden hatte. 

So kam er, um die ſteife Malerleinwand nicht zu 
zerbrechen, langſam herein⸗ und vorſichtig näher geſchrit⸗ 
ten. Seine Freunde mußten ſich die größte Mühe geben, 
nicht in ein lautes Lachen zu fallen, denn durch dieſe 
ſchauderhafte Umhüllung war der ſonſt ſchon außerge⸗ 
wöhnliche Umfang des Dicken faſt verdoppelt worden. 

„Hier ben ik weder, Mijnheeren,“ ſagte er würde⸗ 
voll. „Mijne gezondheid is weder zeer goed, en ik heb 
eenen honger, dat mijn mag bot beneden toe de voeten 
gat. Waarneer eten wij — hier bin ich wieder, meine 
Herren. Meine Geſundheit iſt wieder ſehr gut, und ich 
habe einen Hunger, daß mein Magen bis herab zu den 
Füßen reicht. Wann eſſen wir?“ 

„Bald, mein Allerwerteſter,“ ſagte der Gottfried. 
„Aber wollen Sie ſich nicht ſetzen?“ 

„Neen, dat kan ik niet.“ 

„Warum nicht?“ 

„Omdat mijn keizermantel breekt — weil mein 
Kaiſermantel zerbricht.“ 

„So müſſen Sie freilich ſtehen, bis Ihre Kleidung 
trocken geworden iſt. Ihre Gewehre haben wir ſchon ge⸗ 
reinigt. Und Ihren Ranzen mußten wir geradezu aus⸗ 
gießen.“ 

„Wat?“ fragte er ſchnell und ängſtlich. „Was zoo 
vel water daarin — was? War ſo viel Waſſer drin?“ 

„Ja.“ 

„O mijn ongelukk! Wat zal ik maken?“ 

Er rief das in einem ſo jämmerlichen Ton, als ob 
es ſich wirklich um das größte Unheil handle. Der Ran⸗ 
zen lag auf der Bank, von der er ihn wegnehmen wollte; 


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aber es ging nicht, da er ſich wegen ſeines ſteifen „Kai⸗ 
ſermantels“ nicht bücken konnte. „Was iſt's“ fragte der 
Methuſalem. „Warum erſchrecken Sie ſo?“ 

„Wat het geeft? Lieve hemel, ik heb mijne bankwiſ⸗ 
ſels daarin!“ 

„Ihre Bankwechſel? Wohl eingenäht?“ 

„Ja; ik heb zij daarin geſchoben. O, wat ben ik ge⸗ 
ſchrokken — ja, ich habe ſie darin verſteckt. O, was bin 
ich erſchrocken!“ 

„Dann nur ſchnell heraus mit ihnen, ſonſt werden 
fie zu ſchanden!“ 

„Dat Got verhoede! Maakt op, maakt op — das 
wolle Gott verhüten! Macht auf, macht auf!“ 

Der Pfiffikus trug alſo ſein Geld in Geſtalt von 
Wertpapieren mit ſich herum, die er in der unſcheinbaren 
Handtaſche verſteckt hatte. Und dies war der Grund, 
weshalb er den Ranzen nie aus dem Auge ließ. 

Degenfeld trennte eilig das Futter los, das glück⸗ 
licherweiſe aus Wachsleinwand beſtand und die Feuchtig⸗ 
keit leidlich abgehalten hatte. „Steekt zij de wiſſels voor 
korte tijd in uwen zak! In mijnem keizermantel is geen 
zak — ſtecken Sie die Wechſel für kurze Zeit in Ihre 
Taſche! In meinem Kaiſermantel iſt kein Sack.“ 

So war denn auch in dieſer Hinſicht der Unglücks⸗ 
fall gut abgelaufen. Selbſt der Mütze hatte das Waſſer 
nichts zuleide getan; Turnerſtick hatte ſie ausgedrückt 
und dem dicken Hausgötzen, der in einer Ecke des Zim⸗ 
mers thronte, auf das kugelrunde Haupt geſetzt, damit 
ſie auf dieſem ehrwürdigen Platz trocknen ſolle. 

Mittlerweile wurde es draußen dunkel und der 
Wirt brachte einige Lampen herein — wirkliche Petro⸗ 
leumlampen mit Breitbrenner und Zylinder, ein zwei⸗ 
tes ſicheres Zeichen, daß man ſich in der Nähe des 


— 510 — 


Onkels Daniel befand. Dann wurden die Tiſche zum 
Mahl gerüſtet und der erſte Gang aufgetragen, eine 
dünne Suppe, worin geröſtete Fiſchfloſſen lagen. 

Die ferneren Gerichte beſtanden aus verſchieden zu⸗ 
bereiteten Fiſchen und dem ebenſo vielfältig gekochten, 
gebackenen und gebratenen Fleiſch jenes Tieres, das der 
Mohammedaner ebenſo wie der Jude verachtet, während 
der Chineſe es in großen Mengen züchtet; ein öſter⸗ 
reichiſcher Dichter hat ihm ſogar eine Stotter⸗Ode ge⸗ 
widmet, deren erſte Strophe folgendermaßen lautet: 


„Ich kenne ein lie⸗lie⸗lie⸗liebliches Tier; 
Dem ſchenk' ich a⸗lle A⸗achtung. 
Es lebt auf je⸗jedem Ba⸗ bauernhof hier 
Und auch auf je⸗jeder Pa⸗pachtung, 
Es ſtammt aus dem Bako⸗ko⸗konyer Wald 
Und lebt von dem, wa⸗was es frißt. 
Es ſchmeckt wa⸗wa⸗ warm, und es ſchmeckt ka⸗ka⸗lalt, 
Wenn's ſaftig gebraten i⸗iſt.“ 

Daß der Mijnheer es nicht mit den Mohammeda⸗ 
nern hielt, ſondern mit denjenigen verſtändigen Völkern, 
welche dieſem edlen Rüſſeltier die gebührende Ehre gern 
und voll angedeihen laſſen, das bewies er mit Be⸗ 
geiſterung. Er langte zu und ließ ſich zulangen, ſo lange 
es etwas gab. Die andern waren ſatt, da aß er noch 
immer. Und als da noch auf einem großen Teller die 
Krone des Speiſezettels hereingetragen wurde, wobei 
der Wirt mit lauter, triumphierender Stimme rief: 
„Siao⸗t'ün!“ fo verſtand der Dicke zwar die chineſiſche 
Bezeichnung nicht, aber er erkannte das jugendliche Ge⸗ 
ſchöpf in der knuſperig gebratenen Haut und rief entzückt: 
„Een klein, gebraden varken! Dat is goed! Dat eet ik 
op — ein kleines Bratfertel! Das iſt gut! Das eſſe ich 
auf!” 


— 511 — 


Er machte ſich mit einem Eifer darüber her, als ob 
er noch gar nichts gegeſſen habe. Und das tat er ſtehend, 
da er nicht ſitzen konnte. Um ihm nicht alle Arbeit allein 
aufzubürden, ließen ſich auch die anderen noch kleine 
Stücke vorlegen; das übrige aber wurde von dem tapfern 
Dicken wirklich „opgegeten“. 


Zuletzt gab es Raki und Reiswein; die Geſellſchaft 
unterhielt ſich noch ein Weilchen beim Pfeifenrauchen, 
während Liang⸗ſſi und Jin⸗tſian nochmals Mutter und 
Schweſtern aufſuchten. 

Nun war es Zeit geworden, zur Ruhe zu gehen. 
Der T'eu hielt Wort; er ließ ſich ſelbſt durch die drin⸗ 
gendſten Bitten der Fremden nicht beſtimmen, ihnen ein 
Schlafzimmer abzunehmen. Er ſchlief mit ſeinen Be⸗ 
gleitern in der Gaſtſtube, wo gegeſſen worden war. 


Die Schlafzimmer beſtanden übrigens aus den 
leeren vier Wänden, in welchen niedrige Rohrgeſtelle 
ſtanden, die mit Hilfe der mitgebrachten Decken in Bet⸗ 
ten verwandelt werden mußten. Sie waren je für meh⸗ 
rere Perſonen eingerichtet. Der Methuſalem war mit 
Richard und der Gottfried mit dem Mijnheer beiſam⸗ 
men. Letzterer fand ſeine getrockneten Kleider vor und 
entledigte ſich ſchleunigſt des heidniſchen Mantels, indem 
er brummte: „Deze gordijne hat mij al mijnen lichaam 
opgewreven. Ik dank daarvoor en word nimmer weder 
in 't water vallen! Geſteld dat de lucht niet zoo goed ware 
geweeſt, zoo ware ik nook voor de middernacht dood; ik 
ware geſtorven aan de anſteking van mijne long en lever 
— dieſe Gardine hat meinen ganzen Leichnam aufge⸗ 
rieben. Ich danke dafür und werde niemals wieder in 
das Waſſer fallen! Angenommen, daß die Luft nicht ſo 
gut geweſen wäre, ſo wäre ich noch vor Mitternacht tot; 


— 512 — 


ich wäre geſtorben an der Entzündung meiner Lunge und 
Leber!“ 

„Ja, dat iſt wahr,“ ſtimmte der Gottfried heimlich 
lachend bei. „Die hieſige Luft iſt ausjezeichnet; fie ſcheint 
in hohem Irad heilſam zu fein.“ 

„Dat is zij, en daarom zal ik hier blijven — das iſt 
ſie, und darum werde ich hier bleiben.“ 
| „Iſt's Ihr Ernſt? Wollen Sie wirklich dat Jeſchäft 

des Onkels Daniel kaufen?“ 

„Ja, ik koop al de fabriek; doch voor hedendaags 
wil ik ſlapen — ja, ich kaufe die ganze Fabrik; doch jetzt 
will ich ſchlafen!“ 

„Ja, aber nicht ſchnarchen!“ 

„Ik? Dat mak ik niets. Ik ſlaap zeer ſtil en mooi; 
dat kunnt gij geloven — ich? Das tue ich nie. Ich 
ſchlafe ſehr ſtill und artig; das können Sie glauben!“ 

Aber bereits nach zehn Minuten ſchnarchte er in, 
der Weiſe, daß der Gottfried während der ganzen Nacht 
von Erdbeben und Kanonendonner träumte. 

Als die Reiſenden am andern Morgen in das Gaſt⸗ 
zimmer traten, fanden fie den T'eu ſchon in voller Ge⸗ 
ſchäftstätigkeit. Er hatte geſtern bereits Boten nach den 
umliegenden Orten geſandt, und deren Sian⸗vos“) 
waren am frühen Tag gekommen, ihm ihre Abgaben zu 
bringen, durch welche ſie ſich von dem Beſuch ſeiner 
Untergebenen, der Bettler, loskauften. 

Das war ein ſehr lebhaftes Feilſchen und Handeln, 
wobei ſich aber nur derjenige ſeiner Offiziere beteiligte, 
zu deſſen Bezirk dieſe Ortſchaften gehörten. Der T'eu 
ſprach ſtets nur das letzte, entſcheidende Wort dazu, und 
der Methuſalem fand, daß die Beträge, die bezahlt wur⸗ 
den, äußerſt gering waren. Es wurde für die Familie 
— 9 echte 


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nach unſrem Geld kaum ein Groſchen berechnet. Ledige, 
ſelbſtändige Perſonen hatten nur die Hälfte zu geben, 
und dafür waren dieſe Orte ein ganzes Vierteljahr frei 
von allen Bettelbeſuchen. Ein chineſiſcher T'eu duldet in 
ſeinem Bereich keinen Armen, der auf eigene Rechnung 
betteln geht. 

Hierauf wurde gefrühſtückt, wobei der Mijnheer 
ſchon wieder wacker in das Gefecht ging, und dann brach 
man auf. 

Liang⸗ſſi und Jin⸗tſian ritten natürlich auch mit. 
Der Dicke bat, ihn heute nicht anzubinden, und hielt ſich 
während des ganzen Rittes auch recht leidlich im Sattel. 

Was von der Bevölkerung laufen konnte, begleitete 
den Trupp bis hinaus vor das Dorf, wo ein Nebenflüß⸗ 
chen ein ſchmales Seitental durch die Bergkette geriſſen 
hatte. Dieſem Tal mußte man folgen, um in die er⸗ 
wähnte kohlenreiche Ebene zu gelangen. Der T'eu ver⸗ 
ſicherte, daß man ſchon am zweiten Nachmittag in Ho⸗ 
tſing⸗ting ſein werde. 

Der Methuſalem hielt ſich vorzugsweiſe zu dieſem 
Mann, der ſelbſtverſtändlich ein ausgezeichneter Kenner 
chineſiſcher Zuſtände war. Von ihm konnte und wollte 
er lernen und erhielt über alles, was er fragte, die aus⸗ 
führlichſte Auskunft und Belehrung. Zuweilen geſellte 
er ſich aber auch zu den Gefährten, welche ſich aneinander 
halten mußten, weil ſie ſich mit den Begleitern des Bett⸗ 
lerkönigs nicht genügend zu verſtändigen vermochten. 

Richard Stein und Gottfried hatten einige Worte 
und Redensarten mit ihnen gewechſelt. Der Dicke ver⸗ 
ſuchte es gar nicht, die drei oder vier chineſiſchen Worte, 
die er ſich gemerkt hatte, an den Mann zu bringen; er 
unterhielt ſich aber trotzdem ganz gut mit ihnen, indem 


er ihnen zuweilen freundlich zunickte oder ihnen ein ſehr 
May, Der blaurote Methuſalem. 33 


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wohlwollendes Lächeln von feinem fetten Geſicht ent- 
gegenglänzen ließ. Turnerſtick allerdings hatte es nicht 
laſſen können, mit ſeinen berühmten Sprachkenntniſſen 
zu glänzen, war aber natürlich nicht verſtanden worden 
und trabte entrüſtet und brummend hinter der kleinen 
Schar her. 

Der Methuſalem hatte ſoeben wieder ſein Pferd zu 
ſeinen Landsleuten gelenkt, wo Richard gerade zu Gott⸗ 
fried ſagte: „Was für Augen der Onkel machen wird, 
wenn er plötzlich Deutſche kommen ſieht! Er wird es ſo⸗ 
fort aus unſeren Studentenanzügen erraten.“ 

„Dergleichen wird auch an den Univerſitäten andrer 
Länder getragen,“ fiel Degenfeld ein. „Uebrigens möchte 
ich ihm nicht gleich ſagen, was wir wollen und wer wir 
ſind.“ 

„Warum?“ 

„Um ihn dann deſto mehr zu überraſchen. Er wird 
allerdings ſehen, daß wir des Studiums Befliſſene ſind, 
aber —“ 

„Ik ook?“ unterbrach ihn der Dicke. 

„Nein, denn Sie ſind nur ein der lieben Ernäh⸗ 
rung Befliſſener. Aber wir können uns als engliſche 
Burſchen ausgeben, die ſich auf einer Studentenfahrt 
rund um die Erde befinden. Engländern iſt ſo etwas 
wohl zuzutrauen.“ 

„En ik? Wat ben ik?“ fragte der Mijnheer. 

„Wat Sie ſind?“ ſchmunzelte der Gottfried. „Sie 
ſind natürlich kein andrer als der dicke Kaffernhäuptling 
Zetewayo, den wir mit nach London nehmen wollen, um 
ihm zu lehren, wie ein juter Plumpudding jemacht 
wird!“ 

„Zoo! En gij, wat zijt gij? Gij zijt dat ongelukkige 
Nijlpaard, dat ik in London zien laten wil, namelijk 


— 515 — 


voor geld, een Schilling van ieden Mijnheer van goeden 
huize en een halfen Schilling van ieden baardſcheerder, 
penſeelmaker en hoogeſchoolfagotblazer — ſo! Und Sie, 
was ſind Sie? Sie ſind das unglückliche Nilpferd, das ich 
in London ſehen laſſen will, nämlich für Geld, einen 
Schilling von jedem Herrn aus gutem Haus und einen 
halben Schilling von jedem Bartſcherer, Pinſelmacher 
und Univerſitätsfagottbläſer!“ 

„Sehr gut!“ lachte Gottfried. „Da haben Sie mir 
jewaltig ablaufen laſſen, und ik jeſtehe, dat ik es wohl 
verdient habe. Wir können uns alſo beide janz jut von⸗ 
und miteinander fürs Jeld ſehen laſſen. Nicht?“ 

„Neen! Ik wil weten, wat ik in Ho⸗tſing⸗ting zijn 
zal — nein! Ich will wiſſen, was ich in Ho⸗tſing⸗ting 
ſein ſoll.“ 

„Wat Sie für eine Rolle ſpielen ſollen? Eſſen Sie 
und trinken Sie! Dat wird wohl das beſte ſein.“ 

„Ja, dat is goed; dat laat ik geern gelden. Gij zijt 
mijn vriend, en ik heb zij zeer liev — ja, das iſt gut; das 
laſſe ich gern gelten. Sie ſind mein Freund, und ich habe 
Sie ſehr lieb.“ 

Bei dieſen Worten, die der gute Kerl nicht etwa 
tronifch, ſondern in vollem Ernſt ausſprach, reichte er 
dem Gottfried ſeine Hand hinüber, welche dieſer herzhaft 
drückte. 

„So iſt's recht,“ ſagte der Methuſalem. „Freunde 
dürfen ſcherzhafte Worte nicht auf die Goldwage legen. 
Aber, Gottfried, hüte deine Zunge beſſer! Du wirſt mir 
zuweilen zu üppig.“ f 

„Davon iſt mich nichts bewußt, und wat ich dem 
Mijnheer ſagte, dat war nur eine kleine und ſehr jerechte 
Rache.“ 

„Wofür?“ 


— 516 — 


„Für feine Dampfſäge.“ 

„Ah! Hat er heute nacht geſchnarcht?“ 

„Jeſchnarcht! Wat dat für ein jelinder und nach⸗ 
ſichtiger Ausdruck iſt! Jeſägt hat er! Baumſtämme hat 
er auseinandergeriſſen und zu Brettern verſchnitten, 
Baumſtämme ſo ſtark und ſo lang wie ein Leuchtturm, 
dat die Latten und Schalen nur ſo abjeflogen ſind!“ 

„Neen,“ proteſtierte der Dicke. „Dat kan ik niet. 
Daarvan wet ik niets — nein. Das kann ich nicht. Da⸗ 
von weiß ich nichts.“ 

„Ja, weil Sie ſchlafen wie ein Faß, das ſich auch 
dann noch nicht regt, wenn es jeſchüttelt wird. Ik habe 
alles verſucht, Ihnen ſojar die Naſe zujehalten; aberſt 
auch dat half nichts, denn da ſchnarchten Sie dann mit 
dem Mund. Wie Sie dat fertig bringen, dat erklärt mich 
kein Strumpfwirker und kein Schloſſer, wat doch ſehr 
jeräuſchvolle Handwerke ſind. Mir bekommen Sie nie 
wieder als ſanften Ruhejenoſſen! Ich war voller Jiſt 
und Jalle, und da iſt mich, ohne dat er erſt viel um Er⸗ 
laubnis jefragt hat, der dicke Kaffer entfahren. Er muß 
ſelbſt im allerſchlimmſten Fall, fo wie die Anjelejen- 
heiten ſtehen, bei jedem denkenden Richter Milderungs⸗ 
jründe finden. Jehen wir alſo darüber ſchleunigſt zur 
Tagesordnung über! Wir hatten von Onkel Daniel je⸗ 
ſprochen und von dem Plan, ihm uns als engliſche Stu⸗ 
denten anzubieten. Bei welche Jelejenheit aber ſoll er 
dann die Wahrheit erfahren?“ 

„Bei der erſten paſſenden. Vorher läßt ſich das nicht 
ſagen,“ meinte Degenfeld. 

„O doch! Ich ſetze den Fall, er ſei zur Ruhe jegan⸗ 
gen und ſchläft, ohne dat ihm die Sägemühle des Mijn⸗ 
heer um ſeinen jerechten Schlummer übervorteilt. Er 
wird träumen, und von wat? Als juter Deutſcher natür⸗ 


— 517 — 


lich von feine herrliche Heimat. Und während da Preu⸗ 
ßen und Sachſen, Bayern, Württemberg, Baden, und 
Lippe⸗Detmold ſamt den Hanſeſtädten an ſeinem Jeiſt 
vorüberziehen, ſtimmen wir unter dem Fenſter ſeines 
trauten Kämmerleins ein deutſches Ständchen an, ein 
Terzett, wie wir es ja oft daheim jeſungen haben, wenn 
wir zufälligerweiſe einmal nicht alle drei zugleich an 
Heiſerkeit litten. Wat ſagen Sie zu dieſe ſchneidige 
Idee?“ 

„Sie iſt nicht ſchlecht.“ 

„Nicht wahr?“ 

„Nein, ſie iſt vielmehr ſehr gut,“ ſtimmte Richard 
bei. „Wir wählen eins von unſren prächtigen Liedern 
aus, welche Mutter ſtets ſo gern hörte. Aber welches 
ſollen wir wählen?“ 

„Natürlich ein ſanftes,“ antwortete der Gottfried, 
„da die muſikaliſche Widmung an eine nachtſchlafende 
Perſon jerichtet iſt; vielleicht dat Liedchen: 


Ein Schäfermadchen weidete 
Zwei Lämmer an der Hand, 

Auf einer Flur, wo fetter Klee 
Und Jänſeblümchen ſtand.“ 

„Schweig!“ lachte der Methuſalem. „Es muß etwas 
Kräftiges ſein, denn zu etwas anderm paßt meine Kehle 
nicht. Ein kerniges, echt deutſches Lied, ſo wie Arndt ſie 
gedichtet hat.“ 

„Da gibt's ja gleich eins, welches paßt,“ meinte 
Richard. „Es iſt von Arndt und muß jeden Deutſchen, 
der es in der Fremde hört, beglücken: Was iſt des Deut⸗ 
ſchen Vaterland?“ 

„Ja, das iſt's, das wird geſungen. Das iſt etwas 
für meinen Baß. ‚Was iſt des Deutſchen Vaterland?“ 


— 518 — 


Dieſe letzten Worte ſprach er nicht, ſondern er fang 
ſie nach der allbekannten Melodie, und zwar mit ſo dröh⸗ 
nender Stimme, daß die Pferde ſtutzten und die Reiter 
ſich erſchrocken nach ihm umwandten. Er lachte erfreut 
über dieſe Wirkung ſeines Stimmorgans und fuhr fort: 
„Wir können alle Verſe auswendig, und umwerfen wer⸗ 
den wir auch nicht, da wir drei das Lied unzähligemal 
dreiſtimmig geſungen haben, du die Melodie, Richard, 
der Gottfried das Zwiſchengeſäuſel und ich die Grund⸗ 
und Orgeltöne.“ 

„En ik?“ fragte der Mijnheer. „Ik wil ook met 
zingen!“ 

„Sie?“ fragte der Gottfried. „Können Sie denn 
ſingen?“ 

„O, zeer goed, zeer fraai. Ik kan zingen en flueten 
als eene meerle of nachtegal — o, ſehr gut, ſehr ſchön. 
Ich kann ſingen und pfeifen wie eine Amſel oder Nach⸗ 
tigall.“ 

„Aber nicht deutſch!“ 

„Ook duitſch.“ 

„Wo haben Sie das jelernt?“ 

„In Keulen. Ik was daar metlid van de Lyra — 
in Köln. Ich war da Mitglied der Lyra.“ 

„Alſo eines Geſangvereins?“ 

„Ja. Wij hebben daar ſaturtag 's avonds gezongen 
— ja. Wir haben da Samstag abends geſungen.“ 

„So! Aberſt dat Lied, welches wir meinen, dat ken⸗ 
nen Sie wohl nicht?“ 

„Wat is des duitſchers vaderland? O, dat kan ik 
ongemeen fraai zingen — o, das kann ich ungemein ſchön 
fingen.” 

„Und wat Haben Sie für eine Stimme?” 


— 519 — 


„Eene zeer gunſtige een bijzondere — eine ſehr gün⸗ 
ſtige und vorzügliche.“ 

„Ich meine, ob Sie Baß, Tenor oder Bariton ſin⸗ 
gen?“ 

„Ik zing zeer hoog; ik heb ten minſte diskant en ook 
nook hooger — ich ſinge ſehr hoch; ich habe mindeſtens 
Sopran und auch noch höher.“ 

„Wat! Sopran und noch höher? Dann ſingen Sie 
wohl Pikkoloflöte?“ 

„Ja wel; ik zing ook de fluite; ik zing veel beter als 
de leeuwerik en de kwaktel — ja wohl; ich ſinge auch die 
Flöte; ich ſinge viel beſſer als die Lerche und die Wachtel.“ 

„So ſind Sie ein wahres Unikum, und ich bin neu⸗ 
gierig, Sie zu hören.“ 

„Zal ik ſtraks thans eenmal zingen? Ik ontgin zoo⸗ 
foort — ſoll ich gleich jetzt ſingen? Ich fange ſofort an!“ 

„Ja, ſingen Sie etwas Schönes!“ 

„Zoo word ik zingen eene deutſche zangwijze, name⸗ 
lijk: morgenrood, morgenrood. Niet? — fo werde ich 
fingen eine deutſche Melodie, nämlich: Morgenrot, Mor- 
genrot. Nicht?“ 

Der Dicke huſtete einige Male ſehr nachdrücklich, um 
ſeine Kehle zu reinigen; dann fuhr er ſich mit dem Fin⸗ 
ger hinter die Halsbinde, um ſich zu überzeugen, daß dort 
nichts vorhanden ſei, woran die Töne hängen bleiben 
könnten. Nun machte er die Augen zu und rief: „Voor⸗ 
gezien, voorgezien — vorgeſehen, vorgeſehen!“ als ob für 
die Zuhörer eine Gefahr nahe ſei, und öffnete den Mund, 
um ſeinen Geſang loszulaſſen. Da aber bat ihn der 
Methuſalem: „Jetzt nicht, jetzt nicht, Mijnheer! Wir 
wollen lieber warten bis zum Abend.“ 

Er befürchtete, daß der Dicke ſich lächerlich machen 
werde. Dieſer machte den Mund wieder zu und die 


— 520 — 


Augen auf und meinte gleichmütig: „Ik heb niets daar⸗ 
tegen. Ik kan ook 's avonds zingen. Het klinkt insgelijks 
goed — ich habe nichts dagegen. Ich kann auch des 
Abends ſingen. Es klingt ebenfalls gut.“ 

Von dieſem Erfolg befriedigt, lenkte der Methuſa⸗ 
lem ſein Pferd wieder an die Seite des Bettlerkönigs, 
wo es zwar weniger zu lachen, aber mehr zu lernen gab. 


Siebzehntes Kapitel. 
„was iſt des Deutſchen Vaterland!“ 


Der Trupp hatte die Bergkette längſt hinter ſich 
und befand ſich auf einem weiten, unabſehbaren Gefilde, 
aus deſſen Grün die Häuſer zahlreicher Dörfer hervor⸗ 
blickten. Wald gab es gar nicht, aber in der Nähe der 
Ortſchaften Fruchtbäume genug. Die Felder wurden 
durch nutzbare Bambushecken voneinander getrennt. Die 
gut gepflegte Straße führte an der Seite des erwähnten 
Nebenflüßchens hin, bis ſie dieſes in öſtlicher Richtung 
verließ, um ſich nach dem Gebiet des Dſchangfluſſes zu 
wenden, an deſſen nördlichem Quellarm Ho⸗tſing⸗ting lag. 

Kurz vor Mittag wurde Raſt gemacht, doch nur um 
die Pferde zu tränken. Dann ging es wieder weiter. 
Man merkte mehr und mehr, welchem Ort man ſich 
näherte. Karren mit Kohlen oder Petroleumgefäßen be⸗ 
gegneten den Reiſenden. Einzelne Arbeiter mit ge⸗ 
ſchwärzten Geſichtern kamen vorüber, und in der Luft 
machte ſich jener nicht ſehr angenehme Duft bemerkbar, 
der in der Nähe von Petroleumwerken unausbleiblich iſt. 

„Dat riekt goed,“ ſagte der Mijnheer; „dat heb ik 
gaarn; dat is zeer gezond voor de borſt en de long — das 
riecht gut; das habe ich gern; das iſt ſehr geſund für die 


— 522 — 


Bruſt und die Lunge.“ Er hatte ſich einmal in dieſe 
Gegend verliebt, und nun gefiel ihm alles, was ſich 
hier bot. 

„Ja,“ nickte der Gottfried zuſtimmend. „Der Petro⸗ 
leumgeruch ſoll ein ausgezeichnetes Mittel gegen die Ab⸗ 
zehrung ſein. Wäre ich kränklich und von ſchwacher Lei⸗ 
besgeſtalt, ſo würde ich hier in China bleiben.“ 

„Ja, gewiſſelijk! Ik ben zwek, en ik blijf daarom 
hier.“ 

„Daran tun Sie ſehr recht, denn bei dieſer geſunden 
Luft braucht man weder Tee noch Wörterbuch. Sie wer⸗ 
den ſich hier ſehr ſchnell erholen.“ 

Man ritt jetzt durch ein Dorf, den letzten Ort vor 
Ho-tfingsting. Am Einkehrhaus ſtieg ſoeben ein Reiter 
auf ſein Pferd, ein Mann von vielleicht dreißig Jahren, 
er war chineſiſch gekleidet, doch trug er keinen Zopf. 

„Holla, Herr van Berken, treffen wir Sie hier? 
Reiten Sie heim?“ rief ihm Liang⸗ſſi in deutſcher 
Sprache zu. ü 

Der Mann hatte die Reiter nicht bemerkt. Jetzt 
wendete er ihnen das Geſicht zu. Als ſein Auge auf 
Liang⸗ſſi und den Bettlerkönig fiel, leuchteten ſeine Züge 
freudig auf; er lenkte ſein Pferd zu ihnen hin, reichte 
dem erſteren die Hand, verbeugte ſich vor dem letzteren 
und ſagte in chineſiſcher Sprache: „Das iſt eine Ueber⸗ 
raſchung! Endlich, endlich kehren Sie zurück, lieber 
Liang⸗ſſi! Wir glaubten, es ſei Ihnen ein Unglück be⸗ 
gegnet, da Sie ſo viel länger fortblieben, als vereinbart 
war.“ 

„Da haben Sie ſich auch nicht getäuſcht. Ich war 
unter die Piraten geraten.“ 

„Alle Wetter! Das müſſen Sie erzählen. Wie 
haben Sie ſich wieder losgemacht?“ 


— 523 — 


„Mir wäre das unmöglich geweſen. Ich habe meine 
Befreiung dieſen fremden Herren zu verdanken, welche 
Herrn Stein kennen lernen wollen, vier Engländer und 
ein Holländer, Mijnheer van Aardappelenboſch, welcher 
außerordentlich erfreut war, als er von mir erfuhr, daß 
er in Ihnen hier einen Herrn aus Belgien ſehen werde.“ 

„Wie? Sie ſind ein Niederländer, Mijnheer?“ 
fragte der Ingenieur erſtaunt, indem er ſich der deut⸗ 
ſchen Sprache bediente, da er wußte, daß Liang i der⸗ 
ſelben mächtig war. 

„Ja, ik ben een Nederlander,“ antwortete der Dicke. 
„En gij, wat zijt gij?“ 
| „Ein Belgier, aus Mecheln gebürtig. Ich bin der 
Ingenieur des Herrn Stein.“ 

„Dat is goed! Dat is zeer fraai! Spreekt gij ook 
hollandſch — das iſt gut! Das iſt ſehr ſchön! Sprechen 
Sie auch holländiſch?“ 

„Ja.“ 8 

„Zo moeten wij hollandſch ſpreeken!“ 

„Sehr gern! Ich freue mich ſehr, mich wieder ein⸗ 
mal dieſer Sprache bedienen zu können.“ 

F Ik ook. Wij zullen zeer goed ſpreeken. Hoe is dat 
eten in Ho⸗tſing⸗ting — ich auch. Wir werden ſehr gut 
ſprechen. Wie iſt das Eſſen in Ho⸗tſing⸗ting?“ 

„Das Eſſen?“ antwortete der Belgier, einigermaßen 
erſtaunt über die ſo unvermittelte Erkundigung. „Ich 
kann es nur loben. Wir ſpeiſen nach chineſiſcher und auch 
nach unſrer heimatlichen Küche.“ 

„Dat is zeer goed van dezen oom Daniel — das iſt 
ſehr gut von dieſem Onkel Daniel!“ 

„Sie nennen ihn Ohm, alſo Onkel? Sie wiſſen auch 
ſeinen Vornamen? Wie kommen Sie dazu, ihn Onkel 
zu heißen?“ 


— 524 — 


„Dewijl — aangezien — — naardien — — — 
weil — in Hinſicht, daß — — indem — — —7 ſtotterte 
der Dicke verlegen, da er im Begriff geſtanden hatte, das 
zu verraten, was einſtweilen noch Geheimnis bleiben 
ſollte. 

„Ich will es Ihnen ſagen,“ kam ihm der Methuſa⸗ 
lem in deutſcher Sprache zu Hilfe. „Wir wollten eigent⸗ 
lich noch nicht darüber ſprechen; aber Sie werden uns 
nicht verraten, und vielleicht bedürfen wir auch Ihrer 
Hilfe. Wir ſind nämlich keine Engländer, ſondern 
Deutſche.“ 

„Deutſche, ah! Doch nicht etwa gar — — —2“ 
Er muſterte die ſtudentiſch Angezogenen mit unſicherem 
Blick. 

„Nun, was meinen Sie? Doch nicht etwa gar —?“ 

„Aus der Heimat meines Herrn?“ 

„Ja, daher kommen wir.“ 

„Und iſt dieſer junge Herr vielleicht ein Neffe mei⸗ 
nes Herrn?“ Er deutete auf Richard. 

„Ja, das iſt er. Er heißt Richard Stein.“ 

„Welch eine Ueberraſchung! Meine Herren, ich be⸗ 
grüße Sie auf das Herzlichſte. Sie können ſich denken, 
daß Sie hoch willkommen ſein werden!“ Er ſchüttelte 
ihnen die Hände und fuhr dann fort: „Aber wie iſt es 
Ihnen möglich geweſen, in dieſer Kleidung bis hierher 
zu kommen?“ 

„Warum ſollte das nicht möglich ſein?“ 

„Sie müſſen ungeheures Aufſehen erregt haben. 
Ihre Mützen fallen ja ſchon in der Heimat auf, um wie⸗ 
viel mehr alſo hier!“ 

„Nun, man hat uns allerdings mit großer Auf⸗ 
merkſamkeit betrachtet. Es iſt uns das zuweilen läſtig 


— 525 — 


geworden, aber wirkliche Unannehmlichkeiten oder gar 
Schaden haben wir davon nicht gehabt.“ 

„Das wundert mich! Dieſer Herr hat ja ſogar ein 
Fagott mit!“ 

„Ja, dat habe ich mit!“ nickte der Gottfried. „Und 
warum ſollte ich es nicht mitnehmen? Es iſt mich ans 
Herz jewachſen, denn es ſtammt von einem Jevatter 
meines Urjroßvaters her und hat ſich ſo nach und nach 
von Kind auf Kindeskind jeerbt. Es iſt ein Univerſal⸗ 
ſtück. Wenn ich den Knauf oben abſchraube und die 
Löcher zuhalte, wozu jrad zwölf Fingerſpitzen jehören, ſo 
kann ich es als Blasrohr benutzen; ich kann mir ſeiner 
alſo auch als Schußwaffe bedienen.“ 

„Es ſcheint, daß Sie eine luſtige Geſellſchaft ſind?“ 
lachte van Berken. 

„Ja, dat ſind wir! Und warum ſollten wir es nicht 
ſein? Wir haben ein jutes Jewiſſen, und wir haben 
Jeld, heidenmäßig viel Jeld, dat heißt, nicht ich, ſondern 
unſer Methuſalem. Und ſodann —“ 

„Methuſalem?“ unterbrach ihn der Belgier er⸗ 
ſtaunt. 

„Ja. Wir haben uns Ihnen noch jar nicht vor⸗ 
jeſtellt. Ich bin nämlich der Jottfried von Bouillon, 
welcher damals den Ungläubigen ſo viel zu ſchaffen je⸗ 
macht hat.“ | 

„Zur Zeit der Kreuzzüge?“ 

„Ja. Wann denn ſonſt! Und dieſer Herr iſt der⸗ 
jenige Methuſalem, der ſchon im Alten Teſtament ſich 
eine ehrenvolle Erwähnung zujezogen hat. Zwar iſt er 
ſeitdem noch älter jeworden, aber ſeine Jeiſteskräfte 
ſcheinen nicht darunter jelitten zu haben. Er iſt ein juter, 
lieber — — —“ 

„Schweig!“ fiel Degenfeld ihm in die Rede. „Ich 


— 526 — 


werde mich ſelbſt vorſtellen, denn aus deinem Gefaſel 
wird niemand klug. Uebrigens ſind die Chineſen uns 
vorangeritten, und wir müſſen ſie einholen. Sie wollten 
doch von hier auch nach Ho⸗tſing⸗ting, Herr van Berken?“ 

„Das war meine Abſicht,“ antwortete der Gefragte. 

„So kommen Sie! Ich werde Sie e von 
allem Nötigen unterrichten.“ 

Der T'eu war mit ſeinen Leuten langſam weiter⸗ 
geritten, wohl um bei der Begrüßung nicht zu ſtören. 
Die andern hatten bisher beim Einkehrhaus gehalten; 
jetzt ritten ſie ſchnell weiter. Dabei erklärte der Methu⸗ 
ſalem dem Ingenieur die Gründe und den Verlauf der 
Reiſe bis zur gegenwärtigen Stunde. Als er geendet 
hatte, rief der letztere aus: „Das iſt ja ein wahrer 
Roman, über den man ein Buch ſchreiben könnte! Und, 
nehmen Sie es mir nicht übel, Sie alle ſind ganz ſon⸗ 
derbare Menſchen!“ 

„Pit! Das Wort „ſonderbar' iſt bei uns verboten. 
Es enthält eine große Beleidigung. Sie haben es aber 
gut gemeint, und ſo will ich Sie nicht auf Schläger an⸗ 
rennen. Ja, ein wenig ſonderbar mögen wir ſein, aber 
doch ſehr gute Kerls, denen Sie wohl den Gefallen tun 
werden, einſtweilen zu verſchweigen, wer ſie ſind und 
was ſie hier wollen?“ 

„Natürlich! Ich werde nichts verraten. Aber neh⸗ 
men Sie ſich in acht, daß der Onkel nichts errät! Er iſt 
ein halber Yankee geworden, ein Pfiffikus, der den Men⸗ 
ſchen ſchnell durchſchaut.“ 

„Wir werden vorſichtig ſein. Aber, ſagen Sie, be⸗ 
reitet es ihm denn keine Schwierigkeiten, hier mit den 
Chineſen zu verkehren?“ 

„Früher hat es ganz bedeutende gegeben; jetzt ſind 
ſie überwunden, und zwar teilweiſe mit Hilfe des Bett⸗ 


— 527 — 


lerkönigs, der einen Einfluß beſitzt, von dem Sie keine 
Ahnung haben, obgleich Sie an ſich ſelbſt einen Beweis 
davon erlebten. Herr Stein iſt jetzt einer der angeſehenſten 
Männer der Provinz und darf ſich der Freundſchaft und 
des Schutzes der höchſten Mandarinen rühmen. Sein 
Betrieb hat eine ſolche Ausdehnung erreicht, daß meine 
Kräfte nicht mehr zureichend ſind. Nächſtens wird mein 
Bruder kommen, der ebenfalls Ingenieur iſt und als 
zweiter techniſcher Leiter angeſtellt werden ſoll. Die Koh⸗ 
lenlager, noch mehr aber die Oelquellen ſind eine Wohltat 
für die weite Umgegend geworden. Wir beſchäftigen nur 
arme Leute, die uns der T'eu empfiehlt. Dieſe Chineſen 
hängen mit großer Liebe und Dankbarkeit an uns. Wir 
haben ihnen hübſche Arbeiterwohnungen erbaut und ſind 
eifrig beſorgt, daß alle ihre berechtigten Bedürfniſſe be⸗ 
friedigt werden. Früher mag es ſogar ein wenig gefähr⸗ 
lich geweſen ſein, unter dieſen Leuten zu wohnen; aber 
Herr Stein hat ſich ihrer Weiſe und ihren Anſchauungen 
anbequemt und es nur im Notfall merken laſſen, daß er 
anders denkt und fühlt als ſie. Später gelang es ihm, 
die Freundſchaft des T'eu zu erlangen, und jetzt ſteht er 
ſogar unter dem Schutze der Mohammedaner, die ſich 
empört haben und das Land unſicher machen. Er iſt ein 
geſchickter Diplomat, der ſich ſelbſt die widrigſten Ver⸗ 
hältniſſe nutzbar zu machen verſteht.“ 

„Aber er iſt krank?“ 

„Ja, aber mehr im Gemüt als körperlich. Obgleich 
er es nicht zugeſtehen will, ſo möchte ich doch behaupten, 
daß es die Sehnſucht nach der Heimat iſt, welche heimlich 
an ihn zehrt. Er würde vielleicht nach Deutſchland zu⸗ 
rückkehren, aber ſein Unternehmen hält ihn hier feſt. Er 
betrachtet es als eine heilige Pflicht, ſeinen Arbeitern 
das zu bleiben, was er ihnen jetzt iſt. Wollte er ver⸗ 


— 528 — 


kaufen, ſo würde er keinen Käufer finden. Ein Chineſe 
würde weder das nötige Kapital noch die Erfahrung be⸗ 
ſitzen, die der Beſitzer ſo großartiger Anlagen haben 
muß.“ 

„O, ik heb geld!“ rief da der Mijnheer 

„Sie? fragte der Belgier. 

„Ja, ik heb geld, ten eerſte geld, ten tweede geld en 
ten derde ook weder geld — ja, ich habe Geld, erſtens 
Geld, zweitens Geld und drittens wieder Geld!“ 

„Das klingt ja ganz ſo, als ob Sie als Käufer auf⸗ 
treten wollten!“ 

„Dat wil ik ook! Ik heb veel geld! En ik heb oof 
opvoeding en onderwijs gehad; ik ben niet dom; ik ben 
een wijſe menſch, een zeer wijſe menſch — das will ich 
auch! Ich habe viel Geld! Und ich habe auch Erziehung 
und Unterricht gehabt; ich bin nicht dumm; ich bin ein 
weiſer Menſch, ein ſehr weiſer Menſch!“ 

„Das glaube ich Ihnen ganz gern; aber iſt das der 
Grund, Ho⸗tſing⸗ting zu kaufen?“ 

„Neen. Ik wil Ho⸗tſing⸗ting koopen, dewijl hier de 
lucht zoo goed en gezond is. Ik ben ziek en zwak; ik wil 
hier weder gezond werden, gezond en dik — nein, ich will 
Ho-tfing-ting kaufen, weil hier die Luft fo gut und ge⸗ 
ſund iſt. Ich bin krank und ſchwach; ich will hier wieder 
geſund werden, geſund und dick!“ 

Van Berken ließ ſein Auge mit verwundertem Blick 
über die Geſtalt des angeblich Kranken ſchweifen und 
meinte lächelnd: „Nun, ich denke, daß Sie ſich hier wie⸗ 
der aneſſen können.“ 

„Dat denk ik ook. Ik wil eten en drinken, dat ik zoo 
dik hoe een nijlpaard worde — das denke ich auch. Ich 
will eſſen und trinken, daß ich ſo dick wie ein Nilpferd 
werde!“ 


— 529 — 


Der Belgier ſchien zu merken, wes Geiſtes Kind er 
vor ſich habe. Er warf dem Methuſalem einen mun⸗ 
teren Blick zu und hätte das Geſpräch wohl gern fort⸗ 
geſetzt, wenn ſie nicht eben jetzt den T'eu eingeholt hät⸗ 
ten, mit dem er ja auch zu ſprechen hatte. 

Von dem Dorf aus, durch das man ſoeben geritten 
war, hatte man nur noch eine Viertelſtunde bis zur 
Grenze von Ho⸗tſing⸗ting. Die Felder hörten auf. Man 
ſah nackte Schutthalden liegen, auf denen hölzerne 
Zechenhäuschen ſtanden — die Kohlengruben. Weiter⸗ 
hin erhoben ſich hohe, eigentümliche Gerüſte, meiſt mit 
einem Schutzdach verſehen. Das waren alte Bohrwerke, 
welche nun in Ruhe ſtanden. 

Auf einer Anhöhe ſtand ein ſtattliches Haus. Es 
war im chineſiſchen Stil erbaut, mutete aber doch die 
Deutſchen heimlich an. 

„Das iſt das Wohngebäude des Herrn,“ erklärte der 
Ingenieur. „Und da rechts und links ſehen Sie die Ar⸗ 
beiterniederlaſſungen in der Ebene liegen. Sie zeichnen 
ſich, wie Sie bemerken werden, durch große Sauberkeit 
aus. Sie ſind ſo geſund und bequem, daß ein deutſcher 
Arbeiter froh ſein würde, da wohnen zu können.“ 

„Und wat iſt dat für eine Menſchenmenge da oben 
vor dem Wohnhaus?“ fragte der Gottfried.⸗„Dat müſ⸗ 
ſen ja mehrere Hundert Perſonen ſein!“ 

„Ueber fünfhundert. Es ſind die Arbeiter, die ihren 
Lohn erhalten. Heut iſt zeitig Schicht, da morgen ge⸗ 
feiert wird.“ 

„Jibt's einen jötzendienſtlichen Feiertag?“ 

„Nein, ſondern einen privaten. Es iſt der Geburts⸗ 
tag des Herrn Stein, an dem er nie arbeiten läßt.“ 

„Sein Jeburtstag! Haſt du es jehört, Richard! 

May, Der blaurote Methuſalem. 34 


— 530 — 


Weißt du, wat wir ihm da beſcheren? Dat allerbeſte, wat 
er bekommen kann, nämlich dich.“ 

Richard war ſtill. Er pflegte ſich überhaupt am lieb⸗ 
ſten ſchweigend zu verhalten. Jetzt nahte der Augenblick, 
an welchem er den Oheim ſehen ſollte. Das ergriff ihn 
auf das tiefſte. Seine Augen waren feucht, und es tat 
ihm herzlich leid, daß er ſich nicht in die Arme des Ver⸗ 
wandten werfen konnte. Man hatte die Nahenden ge⸗ 
ſehen. Die Arbeiter oben vor dem Hauſe riefen laut und 
jubelnd, daß der T'eu komme. Viele kamen ihm ent⸗ 
gegen, um die erſten zu ſein, die ihn begrüßten. Die 
andern bildeten eine Gaſſe, durch welche die Ankömm⸗ 
linge zu dem Mann ritten, der an einem mit Münzen 
bedeckten Tiſch geſtanden hatte. Er kam ihnen entgegen 
und begrüßte den T'eu auf chineſiſche Weiſe, jo wie es 
unter Gleichſtehenden geſchieht. 

Stein war lang und hager, über ſechzig Jahre alt. 
Zwar trug er keinen Zopf, aber ſein langes Haar hing 
unter dem Hut hervor. Es war ſilberweiß. Sein ſcharf 
geſchnittenes Geſicht zeigte tiefe Falten, die Spuren lan⸗ 
ger körperlicher und auch geiſtiger Anſtrengung. Man 
ſah es dieſem Geſicht an, daß der Mann einen feſten, 
ſelbſtändigen Charakter habe, und doch lag eine freund⸗ 
liche Milde darüber ausgebreitet. 

Der Teu und deſſen Leute waren für ihn gewöhn⸗ 
liche Erſcheinungen. Als ſein Auge aber auf die andern 
fiel, zog er erſtaunt die Braunen empor und rief: 
„Nguot! Y-jin — was ſehe ich? Das find ja Fremde!“ 

„Ja, Europäer!“ antwortete van Berken. 

„Ihre Kleidung läßt das vermuten.“ 

„Und ich halte es für meine Pflicht, ſie Ihnen vor⸗ 
zuſtellen, denn ich bin derjenige, der die Herren zuerſt 
kennen lernte und ihnen fein Leben zu verdanken hat,“ 


— 531 — 


fiel Liang⸗ſſi ein. Sie werden das nachher ausführlich 
erfahren. Jetzt vor allen Dingen ihre Namen. Dieſer 
Herr, dem es beliebt hat, die Kleidung eines chineſiſchen 
Mandarinen anzulegen, iſt der Seekapitän Frick Turner⸗ 
ſtick aus London, auf deſſen Schiff die andern Herren 
eine Reiſe um die Welt machen. Sie ſind Studenten der 
Univerſität zu — zu — zu — — —“ 

Seine geographiſchen Kenntniſſe ließen ihn hier im 
Stich. 

„Zu Oxford,“ kam ihm der Methuſalem zu Hilfe. 

„Ja, zu Oxfort; ich hatte das ſchwere Wort ſchon 
wieder vergeſſen. Es find die Herren — — —“ 

Und nun nannte er Namen, wie ſie ihm gerade ein⸗ 
fielen und von denen er wußte, daß das engliſche ſeien; 
nur der Mijnheer wurde als waſchechter Holländer vor⸗ 
geſtellt. 

Dieſe Vorſtellung war natürlich in chinefifcher 
Sprache erfolgt. Der T'eu erklärte, daß dieſe Fremdlinge 
ihm große Dienſte erwieſen hätten, weshalb er ihnen 
ſeine ganz beſondere Freundſchaft ſchenke. Stein erfuhr 
von ihm, daß die Engländer gekommen ſeien, ſeine be⸗ 
rühmten Werke in Augenſchein zu nehmen. 

Er bewillkommnete ſie auf das herzlichſte, und zwar 
in engliſcher Sprache, und lud ſie ein, ſeine Gäſte zu 
ſein und bei ihm zu verweilen, ſo lange es ihnen gefalle. 

Als ſie nun abſtiegen, bemächtigten ſich die Arbeiter 
ſchnell der Pferde, um dieſe nach den Stallungen zu füh⸗ 
ren; die Gäſte wurden von dem Wirt ſelbſt nach dem 
Empfangsſaal geleitet. Dieſer, das größte im Erdgeſchoß 
gelegene Zimmer, war ganz in chineſiſcher Weiſe einge⸗ 
richtet und enthielt ſo viele Tiſche und Stühle, daß zu 
vermuten war, der Onkel Daniel ſehe oft zahlreiche Gäſte 


bei ſich. 


— 532 — 


Er bat ſie, ſich einſtweilen niederzulaſſen, bis er 
ſeine Befehle erteilt habe, und entfernte ſich dann. Der 
T'eu und Liang⸗ſſi gingen mit ihm, ohne daß er ſie dazu 
aufgefordert hatte. Es war jedenfalls ihre Abſicht, ihm 
zu erklären, daß ſeine jetzigen Gäſte alle Rückſicht und 
Aufmerkſamkeit verdienten. 

„Dat alſo iſt der Onkel Daniel,“ ſagte der Gottfried. 
„Wie jefällt er dich?“ 

Richard, an den dieſe Frage gerichtet war, antwor⸗ 
tete nicht. Er wäre nicht imſtande geweſen, ein Wort zu 
ſagen, ſo groß war ſeine innere Bewegung. 

„Dumme Frage!“ zürnte der Methuſalem. 

„Ja, ich bin jetzt Herr Jones aus Oxford. Wo ſoll 
da die Jeſcheitheit herkommen! Einen jeiſtreicheren 
Namen konnte Liang⸗ſſi nicht für mir finden. Uebrijens 
jefällt es mich hier ausnehmend jut. Nur ſcheint der 
Onkel ein ſehr unvorſichtiger Mann zu ſein. Er hat dat 
viele Jeld draußen liejen laſſen, und die Chineſigen 
ſtehen dabei um den Tiſch herum!“ 

„Es wird keiner das Geringſte davon nehmen,“ ant⸗ 
wortete van Berken, der bei ihnen geblieben war. „Sie 
haben den Herrn ſo lieb, daß ſie einen, der ihn nur um 
einen Li beſtehlen wollte, ſofort ausſtoßen würden. Es 
iſt eben jeder Menſch gut, wenn er richtig behandelt 
wird.“ 

In kurzem kehrte der Oheim mit dem T’eu und 
Liang⸗ſſi zurück. Er ſagte den Deutſchen in doppelt höf⸗ 
lichem Ton, daß er erfahren habe, was Liang⸗ſſi ihnen 
verdanke und wiederholte ſeine Bitte, möglichſt lange bei 
ihm zu bleiben und ſich ganz als zu ſeiner Familie ge⸗ 
hörig zu denken. 

„Eigentliche Familie habe ich nicht,“ fügte er hinzu. 
„Meine Arbeiter bilden meine Familie, und willkom⸗ 


— 553 — 


mene Gäſte, wie Sie ſind, betrachte ich, ſo lange ſie ſich 
bei mir befinden, als Anverwandte von mir. Fühlen 
Sie ſich alſo als Mitherren meines Hauſes und ver⸗ 
ſchweigen Sie keinen Wunſch, welchen ich Ihnen er⸗ 
füllen kann! Jetzt werde ich Ihnen die Zimmer anwei⸗ 
ſen, die Sie bewohnen ſollen.“ 

Er führte ſie eine Treppe höher. Dort brachte er ſie 
zunächſt in ſeine eigene Wohnung, die ganz auf euro⸗ 
päiſche Weiſe eingerichtet war. Sie beſtand aus Wohn⸗, 
Schlaf⸗ und Arbeitsſtube, und es gewährte ihm augen⸗ 
ſcheinlich großes Vergnügen, als der Methuſalem er⸗ 
klärte, daß man ſich hier wie daheim im Vaterland füh⸗ 
len könne. 

„Ich habe noch ein ſolches Zimmer,“ ſagte er, „für 
Europäer beſtimmt. Es kommt zuzeiten vor, daß ich aus 
Kanton oder Honkong den Beſuch eines ſolchen erhalte, 
oder daß ein Mandarin, der ſich vorübergehend bei mir 
befindet, das Verlangen hegt, einmal auf europäiſche 
Weiſe zu wohnen. Solche Herren erhalten die betreffen⸗ 
de Stube, welche Sie bewohnen werden, Herr Williams.“ 

So war nämlich der Student von Liang⸗ſſi genannt 
worden. Er erhielt ein allerliebſtes Gaſtſtübchen, worin 
ſich allerdings auch ein Mandarin wohlfühlen konnte. 
Neben ihm kam Richard mit dem Gottfried und neben 
dieſen Turnerſtick mit dem Mijnheer zu wohnen. Der 
Methuſalem ſprach nicht übel engliſch und auch Richard 
hatte dieſe Sprache im Nebenfach gelernt. Beide konn⸗ 
ten als Engländer gelten; ebenſo Turnerſtick. Anders 
war es mit dem Gottfried, der zwar ein Hundert Worte 
leidlich radebrechte, aber doch keins hören laſſen durfte, 
weil der Onkel es ſonſt ſofort bemerkt hätte, daß er un⸗ 
möglich ein Herr Jones aus Oxford ſein könne. 

Nun entſchuldigte ſich der Hausherr, daß er ſich für 


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einige Zeit entfernen müſſe, da er ſich mit den Arbeitern 
zu beſchäftigen habe. Er werde ihnen aber Herrn van 
Berken ſenden, der ihnen Geſellſchaft leiſten möge. 

Kurze Zeit ſpäter wurde ihnen Erfriſchung gebracht, 
und dann kam der Belgier, um ihnen zu melden, daß er 
ihnen als Führer dienen werde, falls ſie Luſt hätten, den 
Betrieb in Augenſchein zu nehmen. 

„Ja, ik wil het olie zien; ik ga met — ja, ich will 
das Oel ſehen, ich gehe mit,“ ſagte der Dicke. 

Die andern ſtimmten bei. Nach dem langen Sitzen 
im Sattel war ein Spaziergang ganz angenehm, und ſo 
begannen ſie denn ihren Rundgang durch die weit aus⸗ 
gedehnten Einrichtungen des Geſchäfts. 

Keiner von ihnen hatte bisher geſehen, in welcher 
Weiſe das Petroleum gewonnen und zubereitet wird. 
Van Berken führte ſie überall hin und erklärte ihnen 
alles. Es war genau, als ob ſie ſich an einem großen 
Petroleumort Amerikas befänden, und ſie vermochten 
ſehr bald, ſich ein Bild von der Bedeutung zu machen, 
welche Onkel Daniel für dieſe Gegend und auch die 
ganze Provinz hatte. 

Der Mijnheer war ganz entzückt über das groß⸗ 
artige Werk. Er lauſchte mit größter Aufmerkſamkeit, 
als van Berken herrechnete, was dieſes dem Beſitzer ein⸗ 
bringe. Er betrachtete alles mit doppelter Aufmerkſam⸗ 
keit, ſprach mit ſich allein, ſcheinbar das kunterbunteſte 
Zeug, war von manchen Stellen gar nicht wegzubringen 
und erklärte endlich in entſchloſſenem Ton: „Zegt gij 
eenmal, um broeder ſpreekt ook nederlandſch?“ 

„Ja.“ 

„En hij komt in waarheid naar Ho⸗tſing⸗ting?“ 

„Gewiß. Er wird ſchon in nächſter Woche in Kan⸗ 
ton eintreffen, wo ich ihn abholen werde.“ 


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„Zoo blijf ik hier en koop al het olie. Ik heb ver⸗ 
volgens twee menſchen hier, met welken ik nederlandſch 
ſpreken kann — ſo bleibe ich hier und kaufe das ganze 
Oel. Ich habe nachher zwei Menſchen hier, mit denen ich 
niederländiſch reden kann.“ 

„So würden Sie uns als Ingenieure behalten?“ 

„Ja, ob mijne eer, derwijl ik niets weet van den 
olie — ja, auf meine Ehre, weil ich von dem Oel nichts 
verſtehe.“ 

„Nun, Sie könnten ſich auch ganz Auf uns verlaſſen. 
Es ſollte mich freuen, wenn der Kauf zuſtande käme.“ 

Dann führte er ſie in ſeine Privatwohnung, die aus 
dem Erdgeſchoß eines netten Häuschens beſtand, deſſen 
hübſches Obergeſchoß auch ſchon für ſeinen Bruder ein⸗ 
gerichtet war. 

Es waren einige Stunden vergangen, ehe ſie wieder 
nach dem Hauptgebäude zurückkehrten. Der Abend däm⸗ 
merte bereits ſtark, und durch die Fenſter, die hier aus 
Glas beſtanden, ſtrahlte das Licht der Lampen. Vor dem 
Haus war es ſtill und ruhig, aber unten in den Arbeiter⸗ 
wohnungen und vor denſelben ſchien ein reges Leben zu 
herrſchen. Das hatte ſeinen guten Grund und auch einen 
ebenſo guten Zweck. 

Liang⸗ſſi hatte einigen der Werkmeiſter erzählt, daß 
er den fremden Mandarinen ſein Leben zu verdanken 
habe. Er war eine ſehr beliebte Perſönlichkeit. Darum 
hatten dieſe Werkmeiſter die Kunde ſchnell weiter ver⸗ 
breitet, und nun war die ganze, große Arbeiterkolonie 
mit gewiſſen Vorbereitungen beſchäftigt, die darauf hin⸗ 
zielten, den Fremdlingen zu zeigen, daß man ſie ehre. 

So etwas kann in China unmöglich ohne Feuer⸗ 
werk geſchehen. Der Chineſe iſt ein geborener Pyrotech⸗ 
niker. Alles, alles muß er befeuerwerken, und die Regie⸗ 


rung legt ihm dabei nicht das geringſte Hindernis in den 
Weg. Während es in den andern Staaten aus wohlbe⸗ 
gründeter Urſache der obrigkeitlichen Genehmigung be 
darf, ein Feuerwerk abzubrennen, ſieht man in China 
täglich alt und jung ſich damit beluſtigen, ohne daß 
jemand etwas dagegen hat. Man tritt aus ſeiner Haus⸗ 
tür und wird von brennenden Fröſchen umhüpft. Man 
biegt um eine Ecke, und eine funkenſprühende Schlange 
züngelt einem entgegen. Man erblickt zur Zeit des Neu⸗ 
monds ganz erſtaunt den Vollmond am Himmel und 
bemerkt erſt nach einigen Minuten, daß es ein künſt⸗ 
licher, täuſchend nachgemachter iſt. Bevor die Straßen⸗ 
tore zugeſperrt werden, ſieht man überall Feuerwerks⸗ 
körper hüpfen, ſpringen, ſchießen, fliegen und ſchwirren, 
und das in ganz engen Gaſſen, deren Häuſer aus dem 
ausgedorrteſten Holzwerk beſtehen. 

Es verſtand ſich ganz von ſelbſt, daß auch die Ar⸗ 
beiter von Ho⸗tſing⸗ting ſolche Feuerwerker waren. Sie 
rüſteten ſich, nach eingebrochener Dunkelheit zu Ehren 
der fremden Gäſte ihre Künſte ſehen zu laſſen. 

Der Methuſalem hatte ſich noch nicht lange in 
ſeinem Zimmer befunden, ſo erſchien der Onkel in 
eigener Perſon, um ihn zur Tafel zu holen. Seine 
Kameraden wurden ebenſo benachrichtigt und folgten 
nach dem großen, auch im Erdgeſchoß liegenden Speiſe⸗ 
ſaal. Die Wände desſelben waren ganz chineſiſch; aber 
die beiden langen Tafeln, die in der Mitte ſtan⸗ 
den, hatten die doppelte Höhe chineſiſcher Tiſche und 
waren ganz auf europäiſche Art und Weiſe gedeckt. 
Es gab Meſſer, Gabeln und Löffel, aber keine Speiſe⸗ 
ſtäbchen. Zwiſchen dem feinen chineſiſchen Porzellan⸗ 
geſchirr ſtanden gold⸗ und ſilberhalſige Weinflaſchen, bei 
deren Anblick der Dicke den Gottfried am Arm zupfte, 


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indem er ihm zuraunte: „Ziet gij deze fleſchen? Dat is 
wijn — ſehen Sie dieſe Flaſchen? Das iſt Wein!“ 

„Und ob! Ich glaube, dat es ſojar Schamplanſcher 
it. Na, ich werde mir da nicht werfen laſſen!“ 

„Ik ook niet, waarachtig niet — ich auch nicht, wahr⸗ 
haftig nicht!“ 

An der einen Seite ſtand ein Pianino. Van Ber⸗ 
ken erklärte dem Methuſalem, daß er es von Onkel 
Daniel als Weihnachtsgeſchenk erhalten habe, doch unter 
der Bedingung, daß es hier ſtehen müſſe. Der Onkel war 
großer Muſikfreund, konnte aber nicht ſpielen. Es be⸗ 
reitete ihm die größte Freude, wenn der Ingenieur die 
Saiten erklingen ließ. 

Der T'eu war mit feinen Leuten ſchon da. Sie 
ſaßen bereits an der Tafel, an welcher der Methuſalem 
den Ehrenplatz bekam. 

Die Gerichte waren meiſt auf europäiſche Weiſe zu⸗ 
bereitet, da der Onkel einen franzöſiſchen Koch aus Hong⸗ 
kong angeſtellt hatte. 

Die Erzeugniſſe dieſes Künſtlers erhielten von kei⸗ 
nem ſo feurigen Beifall wie von dem Mijnheer. Bei 
jedem neuen Gang wurde ſein rotes Geſicht um einen 
Ton dunkler. Er fand nicht Worte genug, die Gerichte 
nach Gebühr zu loben, und als gar der erſte Champag⸗ 
nerpfropfen gegen die Decke flog, da hätte er am liebſten 
alle Welt vor Seligkeit umarmen mögen. Da er nicht 
als Engländer, ſondern als Holländer vorgeſtellt wor⸗ 
den war, ſo konnte er ſich getroſt ſeiner Mutterſprache 
bedienen, was zur Folge hatte, daß der Onkel ihm zu⸗ 
weilen einige Worte in deutſcher Sprache zuwarf. 

Letzterer ſtand, als man ſich endlich beim Nachtiſch 
befand, auf, trat an das Inſtrument, öffnete es und bat 


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ſeinen Ingenieur, ein Stück vorzutragen. Dieſer kam 
der Aufforderung gern nach. Er ſpielte einen leichten 
Tanz, das beſte, was er konnte, und doch erregte er das 
Staunen aller anweſenden Chineſen. 

Draußen vor den Fenſtern, die wegen der im Zim⸗ 
mer herrſchenden Hitze geöffnet worden waren, verſam⸗ 
melten ſich die Arbeiter. Sie wagten kaum zu atmen. 
Als aber dann der Methuſalem ſich unaufgefordert an 
das Inſtrument ſetzte und die Finger kühn über die 
Taſten fliegen ließ, da war die Bewunderung doppelt 
groß. Er war ein ſehr guter Pianiſt und ließ hier hören, 
daß er etwas gelernt hatte. Als ſein letzter Ton ver⸗ 
klungen war, erbrauſten draußen die Zurufe der Hörer, 
dann aber begann ein Krachen und Ziſchen, ein Schwir⸗ 
ren und Schmettern, daß man ſich die Ohren hätte zu⸗ 
halten mögen. Das Feuerwerk begann. 

Die Gäſte traten vor das Haus. Was ſie ſahen, 
übertraf ihre kühnſten Erwartungen. Die Chineſen be⸗ 
gannen mit ganz gewöhnlichen Dingen, mit Fröſchen, 
Kanonenſchlägen, Feuerrädern und Leuchtkugeln. Dann 
gingen ſie zu ſchwierigeren Sachen über. Die Kugeln 
bildeten Worte und Bilder. Eine große Leuchtkugel ſtieg 
empor, ihr nach eine zweite. Beide zerkrachten. Aus der 
erſten ſchoß eine lange, feurige Schlange, aus der andern 
ein glühender Drache, der ihr in immer engeren Kreiſen 
folgte, bis beider Köpfe abermals platzten, um hundert 
und aber hundert kleine Schlangen und Drachen er⸗ 
ſcheinen zu laſſen. Eine kugelrunde Papierlaterne, in 
der ein Lichtchen zu brennen ſchien, ſtieg langſam empor. 
Hoch oben ſtand ſie ſtill, aus ihr ſtiegen ein Mond, der 
ſie langſam umkreiſte, dann Sterne, die ſich in weiteren 
Kreiſen um ſie bewegten. Sie bekam Zacken und Strah⸗ 
len und entwickelte ſich zur helleuchtenden Sonne, bei 


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deren Glanz man die feinſte Druckſchrift hätte leſen 
können. 

So wie die Arbeiter vorher das Klavierſpiel des 
Methuſalem bewundert hatte, ſo ſtaunte er jetzt ihre 
Phyrotechniſchen Leiſtungen an, welche erſt nach Verlauf 
einer vollen Stunde endeten. 

Die Zuſchauer kehrten in das Zimmer zurück, wo 
der Onkel abermals die Pfropfen ſpringen ließ. Degen⸗ 
feld wurde erſucht, nochmal zu ſpielen. Er gab Richard 
einen Wink, und dieſer ſetzte ſich an das Inſtrument; 
auch er konnte ſich hören laſſen und hatte eine gute 
Schulung. Während er ſpielte, raunte der Gottfried 
Turnerſtick zu: „Wo alle lieben, ſoll da Jottfried janz 
alleine haſſen? Ich werde auch wat zum beſten jeben.“ 

„Sie?“ lächelte der Kapitän. „Doch nicht etwa auf 
Ihrer Oboe? Na, das würde eine ſchöne Geſchichte 
werden.“ 

„So! Sie trauen mich nichts zu? Haben Sie mir 
ſchon mal jehört?“ 

„Leider ja!“ 

„Ja, wenn ich nur fo zum Spaß hineinjeſiebt habe. 
Aberſt heut ſollen Sie mir zum erſtenmal richtig hören 
und dann werde ich Ihnen den Mund zuſchieben, denn 
Sie werden ihn vor Erſtaunen ohne dieſe Hilfe nicht 
wieder zubringen. Paſſen Sie auf!“ 

Er ging heimlich fort, um ſein Fagott zu holen und 
kehrte gerade zurück, als Richard geendet hatte. Er trat 
zu ihm und fragte leiſe: „Wollen wir mal, Junge?“ 

„Ja,“ nickte der Gefragte. „Aber ja nichts Dum⸗ 
mes!“ 

„Nein, ſondern Wenn die Schwalben heimwärts 
ziehn“, weißt's ſchon! Fang mal an!“ 

Der Methuſalem erhob ſich, als er ſah, was vor⸗ 


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gehen ſollte, mißtrauiſch von feinem Platz. Gottfried ſeh 
es und gab ihm einen beruhigenden Wink. Da ſetzte der 
Student ſich wieder nieder, denn nun wußte er, daß der 
Wichſier keine Dummheit machen werde. 

Gottfried ließ ſich nur ganz ſelten mit einem em 
ſten Stück hören, wenn er es aber tat, ſo mußte man ihn 
bewundern. Er war in ſeiner Art ein Künſtler auf dem 
Inſtrumente, dem ſcheinbar kein richtiger Ton zu ent⸗ 
locken war; er kannte alle guten und ſchlechten Eigen⸗ 
ſchaften ſeiner Oboe. Er hatte ſie ſtudiert wie ein Reiter 
ſein häßliches Pferd, das keinem gehorcht, aber zum treff⸗ 
lichſten Roß wird, ſobald ſein Herr ſich in den Sattel ge⸗ 
ſchwungen hat. 

Richard hatte oft mit ihm geſpielt. Er kannte alle 
ſeine Lieblingsſtücke, zu deren beſten das genannte ge⸗ 
hörte. Er begann die Einleitung; dann fiel Gottfried 
ein. Er blies die Melodie des bekannten, anſpruchsloſen, 
aber innigen Liedes in einfacher Weiſe bis zu Ende. 
Dann ließ er eine leichte Begleitung folgen; es kam eine 
ſchwierigere, und dann perlten die Töne in Sechzehntel⸗ 
und Zweiunddreißigſtelnoten ſo zart und lieblich, ſo rein 
und eigenartig voll hervor, daß ſelbſt der anſpruchsvollſte 
Kenner hätte zugeben müſſen, daß er weder dieſem Gott⸗ 
fried noch feiner alten Fagottoboe jo etwas zugetraut 
habe. Es war wirklich eine außerordentliche Leiſtung, 
und zwar auf einem Inſtrument, dem man die Bedeu⸗ 
tung für Soliſten ſonſt abzuſprechen pflegt. 

Die Zuhörer ſaßen lautlos da. Der Onkel Daniel 
fühlte ſich tief ergriffen. Eine echt deutſche Melodie, in 
dieſer Weiſe vorgetragen, mußte auf ihn, der ſich ſo nach 
ſeiner Heimat ſehnte, einen mächtigen Eindruck machen. 
Er mußte ſich Mühe geben, nicht zu weinen, und rief, als 
der Gottfried geendet hatte und ſein Fagott neben das 


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Pianino lehnte: „Herrlich, herrlich! Ich danke Ihnen 
außerordentlich, Herr Jones! Das iſt eine deutſche Melo⸗ 
die. Sie können auch ſolche ſpielen?“ 

Er hatte engliſch geſprochen. „Ves,“ antwortete der 
Gottfried. 

„Und die haben Sie in England gelernt?“ 

„Yes.“ 

„Spielt und ſingt man denn dort auch deutſche Lie⸗ 
der?“ 

„Ves.“ 

„Bitte, würden Sie noch eins blaſen?“ 

„Ves.“ 

Dieſes „Yes“ war das einzige engliſche Wort, von 
dem er genau wußte, daß er es richtig ausſpreche. Der 
Methuſalem befreite ihn aus ſeiner Verlegenheit, indem 
er Richard bat, einige deutſche Lieder zu ſpielen. 

Der Gymnaſiaſt folgte dieſer Aufforderung, hütete 
ſich aber ſehr, dieſe Lieder zu ſingen. Der Onkel durfte 
ja noch nicht wiſſen, daß ſeine Gäſte des Deutſchen mäch⸗ 
tig ſeien. 

Dennoch machten die Melodien auf den Hauswirt 
den Eindruck, daß er ganz ſchwermütig wurde. Er be⸗ 
merkte, daß er dadurch die vorherige heitere Stimmung 
ſeiner Gäſte ſchädige und entſchuldigte ſich: „Ich bitte 
um Verzeihung! Der Deutſche bleibt eben ein Melan⸗ 
cholikus, wohin er nur kommen mag. Ich liebe mein 
Vaterland und bin doch durch die Verhältniſſe abgehal⸗ 
ten, es jemals wiederzuſehen. Das ſtimmt mich, fo oft ich 
daran denke, trübe. Laſſen Sie alſo lieber nun etwas 
recht Munteres, Luſtiges hören.“ | 

„Ja,“ ſtimmte der Methuſalem bei, „Miſter Jones, 
blaſen Sie doch einmal das famoſe Dings, welches, 
glaube ich, Auf dem Bauernhof überſchrieben iſt!“ 


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Gottfried verſtand das Engliſche weit beſſer, als er 
es ſprach. Er wußte, was der Blaurote meinte. „Ves, 
ſagte er, indem er wieder zu ſeinem Inſtrument griff. 

Und leiſe flüſterte er Richard zu: „Mach deine Sache 
jut und falle mich nicht ſo oft aus die Taktmäßigkeit wie 
jewöhnlich! Wenn dat Ding jut jeſpielt wird, ſollſt du 
ſehen, wie ſich dieſe Chineſigen vor Lachen die Bäuche 
halten. Alſo los!“ 

Richard ſpielte die ſehr ernſte, ja würdig gehaltene 
Einleitung. Dann ſetzte der Gottfried fein Fagott an, 
im nächſten Augenblicke wieder ab — ein Hahn hatte 
gekräht. Das hatte jo täuſchend geklungen, daß die Chine- 
ſen in alle Ecken ſchauten, um den Hahn zu ſehen, und 
auch der Dicke ſagte: „Een haan! Ik zie hem niet — ein 
Hahn! Ich ſehe ihn nicht!“ 

Gottfried hatte das Mundſtück wieder zwiſchen den 
Lippen — eine ganze Schar von Gänſen ſchnatterte; 
Enten quakten und Tauben girrten. Nun erſt ſahen und 
hörten die mit der Kunſt des Wichſiers Unbekannten, daß 
dieſe Stimmen aus ſeinem Inſtrument kamen. Ein 
Ochſe brummte, ein Pferd wieherte; dann meckerten 
einige Ziegen. Eine Katze pfauchte, und ein Hund 
knurrte darauf. Die Katze miaute laut, und der Hund 
kläffte hinterdrein. Die Katze ſchrie förmlich auf, und 
der Hund bellte und heulte aus Leibeskräften. Das gab 
einen ganz entſetzlichen Lärm, der aber ſo genau nach 
dem Takte ging, daß jeder Ton mit der Begleitung har⸗ 
monierte. Dieſe Stimmen und andre wiederholten ſich 
in der verſchiedenſten Weiſe und Reihenfolge, bis ſie end⸗ 
lich ſo raſch hintereinander und ſcheinbar durcheinander 
erſchallten, daß die Zuhörer ſich wirklich die Ohren zu⸗ 
hielten und aus Leibeskräften lachten. 

„So,“ flüſterte Gottfried, indem er ſein Inſtrument 


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hinlehnte, „dat haſt du jut jemacht, Richard. Nun komm! 
Wir ſind keine Freunde von diejenigte Arbeitsteilung, 
dat wir nur blaſen, wenn die übrigen trinken.“ 


Durch dieſes letzte Muſikſtück war die muntere 
Laune neu angeregt worden und ſie hielt vor, bis nie⸗ 
mand, ſelbſt der Dicke nicht, mehr trinken wollte. Der 
T'eu wünſchte, ſchlafen zu gehen, und ſo wurde die Tafel 
aufgehoben. 

„Ik eet und drink ook niets meer,“ ſagte der Dicke; 
„maar flapen kan ik ook nook niet. Ik moet met gij ſpre⸗ 
ken, Mijnheer Stein — ich eſſe und trinke auch nichts 
mehr; aber ſchlafen kann ich auch noch nicht. Ich muß 
mit Ihnen ſprechen, Herr Stein.“ 

„Worüber?“ fragte der Onkel. 


„Dat word ik gij zeggen. Gaan wij in uw vertrek 
— das werde ich Ihnen ſagen. Gehen wir in Ihr Zim⸗ 
mer!“ 

„Gern, wenn Sie es wünſchen. Doch bitte, hier zu 
warten, bis ich die andern Herren begleitet habe!“ 

Da fiel dem Dicken ein, daß ja geſungen werden 
ſolle. Er hatte verſprochen, mitzuſingen. Darum meinte 
er jetzt: „Ik kan het ook morgen zeggen. Ik wil met 
ſlapen gaan — ich kann es auch morgen ſagen. Ich will 
mit ſchlafen gehen.“ 

So ſchloß er ſich alſo den andern an, die der Onkel 
in ihre Zimmer brachte. Mit dem Methuſalem in der 
Stube desſelben angekommen, bemerkte der Wirt: „Das 
war ein höchſt genußreicher Abend, für den ich Ihnen 
nicht genug Dank ſagen kann. Solche Stunden habe ich 
hier noch nicht erlebt.“ — „Haben Sie wirklich ganz 
darauf verzichtet, die Heimat wieder zu ſehen?“ — „Ja. 
Einen Käufer finde ich nicht. Und ſoll ich meine 


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Schöpfung und meine Arbeiter verlaſſen?“ — „Beſitzen 
Sie nicht Verwandte, die Sie zu ſich rufen können? 
Deren Anweſenheit würde Ihnen doch wenigſtens 
einigermaßen die Heimat erſetzen.“ — „Gewiß. Ich habe 
Verwandte und hegte auch ſchon denſelben Gedanken wie 
Sie. Ich habe geſchrieben.“ — „Und werden ſie kom⸗ 
men?“ — „Das weiß ich nicht, da ich keine Antwort er⸗ 
halten habe. Vielleicht ſind ſie verſchollen.“ — „Nun, in 
Deutſchland iſt das doch nicht ſo leicht.“ — „Warum 
nicht? Ich hatte einen Bruder, welcher Lehrer war. Er 
iſt wohl tot. Seine Witwe hat mit den Kindern nicht von 
der armen Penſion zu leben vermocht. Nun ſind ſie aus⸗ 
einander gegangen, eins dahin und das andre dorthin, 
und keins iſt mehr aufzufinden. Ich werde dafür beſtraft, 
daß ich ihnen ſo lange Jahre keine Nachricht von mir zu⸗ 
gehen ließ.“ — „Nun, man darf die Hoffnung nie ganz 
aufgeben.“ — „Das wohl; aber ich werde morgen, oder 
vielmehr heut, denn es iſt ſchon nach Mitternacht, und 
um ein Uhr bin ich geboren, ſechsundſechzig Jahre. Da 
hat man nicht mehr viel Zeit zum Hoffen und Warten 
übrig. Ihre Gegenwart macht mir den Geburtstag dies⸗ 
mal zum wirklichen Freudentag. Wir werden ihn feiern, 
denn ich habe Zeit dazu. Meine Leute arbeiten nicht, 
und ich werde Eſſen und Trinken unter ſie verteilen laſ⸗ 
ſen. Schlafen Sie jetzt wohl und ein frohes Wiederſehen 
nach dem Erwachen!“ 

Er ging. 

„Noch vor dem Erwachen, ja, noch vor dem Ein⸗ 
ſchlafen,“ lachte der Methuſalem leiſe hinter ihm her. 

Er wartete noch eine Viertelſtunde, bis im Haus 
alles ruhig war; dann wollte er zu Richard und Gott⸗ 
fried gehen. Aber da wurde ſeine Tür leiſe geöffnet; der 
letztere ſteckte den Kopf herein und fragte: „Sie warten 


Er 


auf uns? Dürfen wir eintreten, jeehrter Freund und 
Ständchenjenoſſe?“ 

„Ja, komm herein! Wo ſind denn die andern?“ 

„Sie folgen mich hinterdrein. Da ſehen Sie dat 
janze Korps der Rache.“ 

Er ſchob Richard, Turnerſtick und den Dicken herein. 
Draußen aber ſtanden noch Liang⸗ſſi, deſſen Bruder, van 
Berken und der Bettlerkönig. 

„Gut!“ meinte Degenfeld. „So ſind wir nun alle 
beiſammen. Iſt der Herr in ſeiner Schlafſtube?“ 

„Ja. Liang⸗ſſi hat eine Leiter an dat Fenſter jelegt 
und den Spion jemacht. Soeben hat ſich der Onkel zur 
Ruhe jelegt, die wir ihm aber nicht laſſen werden.“ 

„So kommt! Aber leiſe!“ 

„Ik ook?“ fragte der Mijnheer. 

„Ja. Wir müſſen alle beiſammen ſein.“ 

„Und ik zal ook met zingen?“ 

„Nein. Schweigen Sie lieber, mein Guter!“ 

„O, ik kan zingen, ik kan zeer goed zingen!“ 

„Das iſt möglich. Aber den Beweis haben Sie noch 
nicht erbracht, und da iſt es beſſer, wenn Sie zuhören.“ 

Die vorher auf dem Hausflur brennende Lampe 
war ausgelöſcht worden. Die Herren hatten aber ihre 
Lichter milgebracht; alſo gab es Beleuchtung genug. Sie 
ſchlichen ſich bis zur Tür, hinter der das Wohnzimmer 
des Onkels lag. Degenfeld klinkte leiſe; ſie ging auf. Die 
drei, der Methuſalem, Gottfried und Richard, traten ein. 
Links von ihnen führte die Tür in das Schlafkabinett des 
Onkels. Sie war nur angelehnt; der Schein der Lichter 
fiel durch die Spalte hinaus. Er ſah es und fragte auf 
Chineſiſch: „Wer iſt da draußen?“ 

Anſtatt der Antwort erklang der Bierbaß des 
Methuſalem: „Was iſt des Deutſchen Vaterland?“ Gott⸗ 

Na y, Der blaurote Nethuſalem. 85 


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fried und Richard fielen kräftig ein. Aber ſchon nach der 
erſten zehn oder zwölf Takten lauſchten fie ſelbſt erſtaum 
auf. Sie ſangen nicht allein. Zu ihren drei Stimmen 
hatte ſich ein wundervoller Tenor geſellt, ein Tenor, ſo 
glockenhell, ſo rund und trotz aller Zartheit ſo mächtig, 
daß ſie ſich umdrehten. 
Da ſtand hinter ihnen der Dicke und ſang mit 

ihnen: 

„Iſt's wo am Rhein die Rebe blüht? 

Iſt's wo am Belt die Möwe zieht?“ 


Ja, er konnte ſingen, der Mijnheer, und wie! Er 
hatte eine Stimme, und was für eine! Der Methuſalem 
nickte ihm aufmunternd zu, und ſo ließ er dieſe Stimme 
nun nicht mehr ſchüchtern, ſondern in ihrer vollen Stärke 
erſchallen. Das gab einen prachtvollen Zuſammenklang. 

Als das Lied zu Euͤde war, ſtand der Onkel unter 
der Tür. Sein Geſicht war ein einziges großes Frage⸗ 
zeichen. Seine faltigen Wangen hatten ſich gerötet, und 
ſeine Augen leuchteten vor Erregung. Mit faſt zittern⸗ 
der Stimme rief er: „Sie fingen dieſes prächtige Lied! 
Sie ſingen deutſch! Sie verſtehen alſo auch deutſch! 
Warum haben Sie mir das nicht früher geſagt?“ 

„Um Ihnen zu überraſchen,“ antwortete der Gott⸗ 
fried voreilig. „Wir bringen Ihnen dieſes Ständchen 
zum Jeburtstag und dazu die Erfüllung Ihres Lieb⸗ 
lingswunſches. Sehen Sie ſich dieſen wohljeratenen 
Jüngling an, dieſen — — — o wehl Hat ihm ſchon! Da 
iſt es mit meine ſchöne Rede aus!“ 

Richard hatte ſich nicht länger halten können. Noch 
während der Gottfried ſprach, war er mit den Worten: 
„Onkel, lieber Onkel, ich bin dein Neffe!“ auf Stein zu⸗ 
geeilt und hatte ſeine Arme um ihn geſchlungen. Der 


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Onkel ſtand ſtarr vor freudigem Schreck. Die Arme hin⸗ 
gen ihm ſchlaff herab. 

„Mein Neffe — — du — du biſt mein Neffe?“ 
ſtammelte er. 

„Hinaus!“ flüſterte Degenfeld den andern zu, in⸗ 
dem er ſie zurückdrängte. „Hier ſind wir von jetzt an 
überflüſſig.“ 

Er ſchob die Tür hinter ſich zu. Drin erklangen 
die Stimmen des Oheims und des Neffen, ſchluchzend 
und jubelnd zugleich. Auf dem Hausflur ſagte der Gott⸗ 
fried: „Wohin jehen wir einſtweilen?“ 

„Einſtweilen?“ antwortete der Blaurote. „Von 
einem Einſtweilen iſt natürlich keine Rede. Wir gehen 
ſchlafen.“ 

„Dat wäre höchſt unrecht, da der Onkel uns bald 
ſuchen wird, um uns zu danken.“ 

„Du willſt einen Dank haben für deinen zweiten 
Bänkelſängertenor? Schäme dich!“ 

„Na, ſo war's nicht jemeint. Aberſt er wird noch 
mit uns reden wollen. Wir werden ihm erzählen ſollen!“ 

„Dazu iſt morgen beſſer Zeit als jetzt. Uebrigens 
kann und wird Richard ihm alles en. Laſſen wir 
die beiden allein!“ 

Er ging nach ſeiner Schlafſtube und legte ſich nic⸗ 
der. Die andern mußten wohl oder übel ſeinem Beiſpiel 
folgen. Noch war er nicht eingeſchlafen, ſo klopfte man 
an ſeine Tür. Auf ſeine Frage antwortete Richards 
Stimme: „Onkel Methuſalem, du ſollſt zu Onkel Daniel 
kommen.“ 

„Wozu?“ 

„Wir wollen hinunter in den Speiſeſaal, du ſollſt er⸗ 
zählen.“ 

„Wo ſind die andern?“ 


— 548 — 


„Die fol ich auch mitbringen, bin aber erſt zu dir 
gegangen.“ 

„So laß ſie liegen, und entſchuldige auch mich! Ihr 
habt ein Recht, ungeſtört zu ſein, und du kannſt ja auch 
erzählen. Morgen iſt ein langer Tag, ein Geburtstag, 
den wir feiern ſollen. Da muß Ei ausgeſchlafen haben. 
Gute Nacht!“ 

Mit dieſem Beſcheid mußte Richard ſich entfernen. 
Der wackere Methuſalem aber ſchlief mit dem Bewußt⸗ 
ſein ein, ſeine Aufgabe mit der jetzigen Stunde ganz und 
voll gelöſt zu haben. 

Am Morgen wurde er durch ein abermaliges 
Klopfen geweckt. Er ſah an die Uhr. Die Sonne ſchien 
ſchon hell, aber es war erſt Sieben. „Wer klopft denn?“ 
fragte er ärgerlich. 

„Ich,“ antwortete der Gottfried. „Ich wollte mel⸗ 
den, daß der dicke Mijnheer —“ 

„Was iſt's mit ihm?“ 

„Dat iſt's eben, wat wir nicht wiſſen. Er iſt ſpur⸗ 
los verſchwunden.“ 

„Unſinn!“ 

„Möglich, dat es nur ein Unſinn iſt! Aberſt er iſt 
wirklich fort.“ 

„Wann denn?“ 

„Dat weiß nicht mal Buddha.“ 3 

„Warte, ich komme!“ Er kleidete ſich ſchnell an und 
trat hinaus. Da ſtand der Gottfried mit Richard und 
Turnerſtick. 

„Endlich!“ meinte der erſtere. „Sollte man es den⸗ 
ken, dat ſo ein Dicker ſolche dumme Streiche machen 
könnte!“ 

„Er hat doch mit dem Kapitän in einem Zimmer 


geſchlafen, denke ich. Dem muß er doch etwas gejagt 
haben!“ 

„Iſt ihm nicht eingefallen,“ antwortete Turnerſtick. 
„Er ſchnarchte wie ein Walroß, ſo daß ich ſtundenlang 
nicht einſchlafen konnte. Endlich fand ich ein wenig 
Ruhe. Als ich dann erwachte, war er fort.“ 

„Er wird ſpazieren gegangen ſein.“ 

„Der? So ein Langſchläfer? Das iſt ihm nicht ein⸗ 
gefallen!“ 

„Wo ſind denn ſeine Sachen?“ 

„Die hat er mit, die Gewehre, den Ranzen, den 
Schirm, kurz, alles! Und das iſt es eben, was mich ſo 
beſorgt macht.“ 

„Pah! Wie können Sie denken, daß der Mijnheer 
uns durchgeht. Von ſeinen Sachen trennt er ſich über⸗ 
haupt nie. Daß er ſie mitgenommen hat, iſt kein Be⸗ 
weis dafür, daß er hat verſchwinden wollen.“ 

„Aber daß er vor uns aufgeſtanden iſt!“ 

„Das iſt freilich höchſt ungewöhnlich von ihm. Iſt 
Onkel Daniel ſchon auf?“ 

„Jedenfalls,“ antwortete Richard. „Wir haben bis 
Tagesanbruch in ſeiner Stube geſeſſen. Dann ſchickte er 
mich ſchlafen. Er ſelbſt, ſagte er, werde aber wohl nicht 
ſchlafen können.“ 

„Wollen fragen und ſuchen.“ 

Sie erkundigten ſich bei der Dienerſchaft nach dem 
Dicken. Niemand hatte ihn geſehen. Nun verließen ſie 
das Haus, um nach ihm zu ſuchen. Das war aber ſehr 
überflüſſig, denn kaum hatten ſie die Tür hinter ſich, ſo 
ſahen ſie ihn kommen, den Schirm geöffnet, die beiden 
Flinten und den über dieſelben gehängten Torniſter auf 
dem Rücken. Neben ihm ſchritt Onkel Daniel, mit dem 
er ſich in einem ſehr eifrigen Geſpräch zu befinden ſchien. 


— 350 — 


Als beide die Wartenden erblickten, kamen ſie ſchnelleren 
Schrittes herbei. Onkel Daniel rief ſchon von weitem: 
„Guten Morgen, Herr Degenfeld! Guten Morgen, meine 
Herren! Schon munter? Das freut mich, denn um jo 
eher kann ich Ihnen herzlich danken! Wer hätte das 
denken und ahnen können! Wer — —“ 

„Bitte!“ unterbrach ihn der Methuſalem. „Es gibt 
wirklich keinen Grund zu ſo beſonderer Dankbarkeit. 
Wir haben Ihnen den Neffen gebracht und genießen da⸗ 
für Ihre Gaſtfreundſchaft. Wir ſind wett!“ 

„Das iſt nicht wahr. Das kann ich nicht zugeben. 
Ihre Anweſenheit hat meinem Leben eine ganz neue, 
glückliche Richtung gegeben, beſonders ſeit ich jetzt mit 
dieſem Herrn geſprochen habe.“ 

„Mit Herrn van Aardappelenboſch? Ja, den ſuchen 
wir eben. Sagen Sie uns doch einmal, was Sie heute 
gemacht haben, Mijnheer!“ — 

„Heden — heut?“ fragte der Dicke. 

„Ja, heute früh.“ 

„Daar ben ik opgeſtaan — da bin ich aufgeſtanden.“ 

„Schön! Und dann?“ 

„Daar ben ik voortgegaan — da bin ich fortge⸗ 
gangen.“ f 

„So! Warum?“ 

„Waarom? Dewijl ik al het olie koopen wil — 
warum? Weil ich das ganze Oel kaufen will.“ 

„Ja,“ beſtätigte der Onkel Daniel. „Mijnheer van 
Aardappelenboſch hat vielleicht ſonſt die Eigenſchaft, gut 
und lange zu ſchlafen, heute aber hat ihm ein ſehr leb⸗ 
hafter Wunſch, den er hegt, keine Ruhe gelaſſen. Ich 
konnte vor Freude nicht ſchlafen. Als es hell war, wollte 
ich einen Spaziergang unternehmen und traf auf der 
Treppe den Mijnheer, dem ich ſehr willkommen war, 


— 551 — 


denn nun fand er Gelegenheit, mir das zu ſagen, was er 
mir geſtern nicht ſagen konnte, weil er gern mitſingen 
wollte.“ 

„Und Sie ſind ſchon einig geworden?“ 

„So ziemlich. Ich habe ihm den Preis genannt. Er 
will Rückſprache mit dem Ingenieur nehmen und ſich in 
den Büchern unterrichten.“ 

„Das nenne ich Entſchloſſenheit! Sie ſind ein küh⸗ 
ner Mann, Mijnheer!“ 

„Ja, ik ben tapper. Ik ben zwak en ziek, en ik wil 
dik en gezond worden. De lucht is hier zeer goed — ja, 
ich bin tapfer. Ich bin ſchwach und ſiech, und ich will 
dick und geſund werden. Die Luft iſt hier ſehr gut.“ 

„Nun, mir kann das ſehr recht ſein,“ meinte Stein. 
„Ich habe es für unmöglich gehalten, einen Käufer zu 
finden. Jetzt, da ſich Mijnheer van Aardappelenboſch be⸗ 
reit erklärt, das Werk käuflich zu übernehmen, wird mir 
das Herz leicht. Meine Arbeiter bekommen einen guten 
Herrn, und ich kann in die Heimat zurückkehren. Ich 
werde ihn dem Schutz des T'eu empfehlen, und von den 
Hoei⸗hoei bin ich überzeugt, daß ſie meinem Nachfolger 
dasſelbe Wohlwollen ſchenken wie mir. Wegen der 
Sprache braucht es ihm nicht bange zu ſein, da der In⸗ 
genieur ja die ſeinige ſpricht, und ſo viel Chineſiſch, wie 
man braucht, um ſich den Arbeitern verſtändlich zu 
machen, iſt bald gelernt. Doch, ſolche Anordnungen laſ⸗ 
ſen ſich nicht an einem Tag und auch nicht in einer 
Woche treffen. Wir haben ja Zeit und je länger Sie bei 
mir bleiben, deſto lieber iſt es mir. Jetzt wollen wir 
zum Frühſtück, und dann ſollen Sie mir von Ihrer 
Heimat und Ihrer Reiſe erzählen!“ 

Sie kehrten in das Haus zurück. Der Dicke ging 
langſam hinterdrein und ſagte für ſich: „En ik maak het 


— 552 — 


doof. Ik koop al het olie en al het Ho⸗tſing⸗ king — und 
ich mache es doch. Ich kaufe das ganze Oel und das 
ganze Ho⸗tſing⸗ting!“ 

Dabei blieb er, heute und auch die kommenden Tage. 
Er beſichtigte und prüfte jeden Gegenſtand und ent⸗ 
wickelte dabei eine Beweglichkeit und Ausdauer, die zu 
bewundern war. Infolge ſeiner Gutmütigkeit und Leut⸗ 
ſeligkeit erfreute er ſich bald einer großen Beliebtheit bei 
den Arbeitern. Er konnte zwar nicht mit ihnen ſprechen, 
aber er kannte den chineſiſchen Gruß, und ſein Tſching⸗ 
tſching klang einem jeden, der ihm begegnete, ſchon von 
weitem entgegen. Dabei nickte er ſo freundlich mit dem 
Kopf und lächelte jeden ſo herzlich an, daß ſie geradezu 
gezwungen waren, ihn lieb zu gewinnen. 

Als drei Wochen vergangen waren, wurde der Kauf 
abgeſchloſſen. Das gab wieder einen feſtlichen Tag für 
die bisherigen Gäſte, für die Mandarinen, die den Kauf⸗ 
vertrag abzufaſſen und zu unterzeichnen hatten, und für 
die Arbeiter. Der Mijnheer hatte alles gekauft, wie es 
ſtand und lag, ſo daß dem Onkel das Fortziehen leicht 
gemacht wurde. 

Es verſteht ſich ganz von ſelbſt, daß Richard in⸗ 
deſſen an ſeine Mutter geſchrieben hatte. Auch der 
Methuſalem hatte an Pe⸗kin⸗li geſchrieben und ihm ge⸗ 
meldet, daß es ihm gelungen ſei, ſein Kong⸗kheou ein⸗ 
zulöſen. Ebenſo hatte Liang⸗ſſi und Jin⸗tſian an ihn 
geſchrieben. Onkel Daniel ſandte dieſe Briefe durch einen 
ſicheren Eilboten nach Kanton zu ſeinem Geſchäfts⸗ 
freund, der ſie mit nächſtem Schiff abgehen laſſen ſollte. 

Es läßt ſich denken, daß ein Mann wie Stein nur 
mit Wehmut von ſeiner Schöpfung Abſchied nimmt, doch 
wurde ihm dieſer durch den Gedanken erleichtert, daß er 
der geliebten Heimat entgegen ging. Auch die Deutſchen 


ſchieden nur ſchwer von Hostfing-ting. Der Dicke war 
ihnen ſehr lieb geworden, und als ſie von ihm gingen, 
war es in der wehmütigen Ueberzeugung, daß ſie den 
lieben Kerl im Leben niemals wiederſehen würden. 

Sie hatten zunächſt die Sorge gehegt, daß er nicht 
der Mann ſei, ein ſolches Geſchäft mitten in China ohne 
Schaden weiter zu leiten. Aber bald überzeugten ſie ſich, 
daß er bei all ſeiner Güte und ſcheinbaren Unbeholfen⸗ 
heit ein ſehr tüchtiger und eifriger Geſchäftsmann ſei. 
Seine Unbeholfenheit erſtreckte ſich nur auf private Ver⸗ 
hältniſſe. Als Kaufmann ſuchte er ſeinen Meiſter. Das 
beruhigte ſie in Beziehung auf ſeine Zukunft. 

Er weinte helle Zähren, als ſie nun auf den Pfer⸗ 
den vor ſeinem Hauſe hielten und Abſchied von ihm 
nahmen. „Ik kaan niet met rijden; ik moet hier blijven,“ 
ſagte er. „Ik kaan mij niet helpen, ik moet ſnuiven en 
ſnuiten. Reizt met God, mijne lieven, goeden vrienden, 
en denkt ſomtijds aan uwen zwaken Aardappelenboſch — 
ich kann nicht mitreiten; ich muß hier bleiben. Ich kann 
mir nicht helfen, ich muß ſchnauben und ſchneuzen. Reiſt 
mit Gott, meine lieben, guten Freunde, und denkt manch⸗ 
mal an euren ſchwachen Aardappelenboſch!“ 

In dem Dorf, wo die Frau und die Töchter Ye⸗ 
kin⸗lis wohnten, gab es abermals Abſchied zu nehmen. 
Der Hoei⸗hoei, dem dieſe ſo viel zu verdanken gehabt hat⸗ 
ten, war von ihnen aufgefordert worden, mit nach 
Deutſchland zu gehen, hatte ſich aber nicht dazu ent⸗ 
ſchließen können. Nun mußten ſie von ihm ſcheiden. 

„Wäre ich reich oder wenigſtens wohlhabend, ſo 
würde ich ihn belohnen,“ ſagte Liang⸗ſſi zum Blauroten. 
— „Womit?“ — „Mit einer Summe, die es ihm er- 
möglicht, ohne jede Sorge zu leben.“ — „Wie hoch würde 


— 554 — 


dieſe Summe ſein?“ — „O, hätte ich das Geld, ſo würde 
ich ihm hunderttauſend Li geben!“ 


Dieſe Summe klingt ungeheuer, beträgt aber nach 
deutſchem Geld nur 641 Mark. Der Methuſalem griff 
in eine geheime Taſche ſeines Rocks, zog einen Beutel 
hervor und entnahm ihm eine Anzahl engliſcher Gold⸗ 
ſtücke. Dieſe gab er dem Chineſen, indem er ſagte: „Das 
iſt etwas mehr als hunderttauſend Li. Geben Sie es 
ihm! Ich leihe es Ihnen.“ 

Liang⸗ſſi machte ein Geſicht, als ob er eine Unmög⸗ 
lichkeit habe möglich werden ſehen. „Herr,“ rief er aus, 
„das iſt ja eine ganz entſetzliche Summe! Wie wollen 
Sie denn wiſſen, ob ich ſie Ihnen jemals wiedergeben 
kann?“ — „Ich weiß es.“ — „Wohl weil mein Vater 
ein gutes Geſchäft in Deutſchland beſitzt, meinen Sie?“ 
— „Nicht allein deshalb. Hunderttauſend Li ſind in 
Deutſchland nicht viel. Dort ſchlachtet zum Beiſpiel 
mancher Fleiſcher einen Ochſen, der ebenſoviel koſtet, und 
es gibt Pferde, welche mehr als eine Million Li wert 
ſind. Ihr Vater würde mir das Geld alſo zurückerſtat⸗ 
ten können. Aber Sie haben doch auch hier in China 
Geld.“ — „Wir? Hier? — „Ja. Sie wiſſen es nicht, 
und ich habe bisher nicht davon geſprochen. Ihr Vater 
iſt hier ſehr reich geweſen.“ — „Das war er. Aber man 
hat ihm bei der Verhaftung alles abgenommen.“ — 
„Nein. Er hatte ſein Geld ſehr klug beiſeite gebracht, 
und als er entflohen war, vergrub er es.“ — „Iſt das 
wahr? Hat er es Ihnen geſagt? Wiſſen Sie, wo es 
liegt?“ — „Ja.“ 


Die Brüder, denn Jin⸗tſian ſtand auch dabei, 
waren Feuer und Flamme geworden. Bei dem Chineſen 
hat kein Wort ſo guten Klang wie die eine Silbe „Geld“. 


— 555 — 


„Aber ob es nicht indeſſen ein andrer, ein Fremder 
gefunden hat!“ rief Liang⸗ſſi. — „Es liegt noch da; ich 
weiß es beſtimmt.“ — „O Himmel, o Welt, o Erde! 
Und das ſagen Sie ſo ruhig! Müſſen Sie da nicht vor 
Freude ſpringen?“ — „Nein. Es iſt recht gut, wenn 
man Geld beſitzt; aber es gibt noch höhere Güter. Man 
kann reich ſein an Ehre und Ruhm, an Zufriedenheit, 
an Glück, an Geſundheit, ja an noch viel höherem. Ich 
habe den Ort aufgeſucht und mich überzeugt, daß das 
Geld ſich noch da befindet.“ — „Wo?“ — „Oben in den 
Bergen, als wir in dem Sis⸗kia einkehrten und ich von 
den Hoei⸗hoei überfallen wurde.“ — „Und davon haben 
Sie uns nichts geſagt!“ — „Ich hatte meinen guten 
Grund: die Kunde, daß Sie einen Schatz da liegen haben, 
hätte Ihnen die Ruhe geraubt. Aber Sie ſehen, daß ich 
Ihnen ohne Gefahr die hunderttauſend Li leihen kann.“ 
— „Wenn es ſo iſt, dann nehme ich ſie an, um ſie dem 
Hoei⸗hoei zu geben. Er wird dadurch fein Glück machen!“ 

Die Freude des Mannes, als er die Goldſtücke 
empfing, war allerdings geradezu unbeſchreiblich. Er 
tanzte in der Stube hin und her, machte die tollſten Luft⸗ 
ſprünge und küßte allen, die er erreichen konnte, die 
Hände und die Kleiderſäume. Dieſe Gabe milderte in 
hohem Grad die Wehmut, mit welcher er die Frauen 
ſcheiden ſah, die er einſt als flüchtende Bettlerinnen bei 
ſich aufgenommen hatte. 

Man hatte die Nacht wieder im hieſigen Einkehr⸗ 
haus zugebracht, denn der T'eu hatte gebeten, ihn hier 
zu erwarten, da er die Reiſenden begleiten und ſicher 
nach Kanton bringen wollte. Er kam des Nachts mit 
mehreren Berittenen, und am Morgen brach man auf, 
die Männer zu Pferd, während ſich die Damen dreier 
Sänften bedienten. Ihr Gepäck war ſchon mit dem⸗ 


jenigen des Onkel Daniel vorher nach Kanton geſchickt 
worden. 

Ganz ſelbſtverſtändlich erregten die Fremden auch 
jetzt überall dasſelbe Aufſehen, deſſen Urſache ſie her⸗ 
wärts geweſen waren. Sie zogen es vor, nicht in Ort⸗ 
ſchaften, ſondern in alleinſtehenden Ruhehäuſern einzu⸗ 
kehren. 

Als ſie dasjenige erreichten, von wo aus der Methu⸗ 
ſalem mit Gottfried und Richard das alte Marabu 
unterſucht hatte, war der Abend nahe, ſo daß ſie hier 
bleiben mußten. Degenfeld unterrichtete die Gefährten 
alle, daß jetzt der Augenblick, wo der Schatz gehoben wer⸗ 
den ſolle, nahe ſei. Er führte ſie in die Schlucht und an 
das Häuschen. Jeder kroch einzeln hinein, um zu er⸗ 
raten, wo man ſuchen müſſe. Sie klopften auf den Boden 
und an die Wände, um eine hohle Stelle zu finden — 
vergebens. Dann hob der Methuſalem die Steine aus 
und zog die beiden Säcke hervor. Die Brüder ſtürzten 
ſich auf dieſe, um ſie zu öffnen. Degenfeld ließ es ge⸗ 
ſchehen, bemerkte ihnen aber: „Dieſe Barren gehören 
Ihrem Vater. Sie ſollen ſie ſehen und zählen, um mir 
ſpäter zu bezeugen, daß kein Stück abhanden gekommen 
ſei. Dann aber nehme ich ſie ausſchließlich in meine Ver⸗ 
wahrung. Ich habe zu dieſem Zweck ein Packpferd mit 
Sattel und Decken mitgenommen.“ 

Die Barren wurden gleich an Ort und Stelle ge⸗ 
zählt; darauf band Degenfeld die Säcke zu und ließ ſie 
in das Einkehrhaus tragen. Von dieſem Augenblick an 
war es mit der Nachtruhe der Brüder aus. Sie hatten 
Angſt vor Räubern, die es gar nicht gab, und hüteten 
mit Argusaugen die Stelle, wo der Methuſalem neben 
den Säcken ſchlief. 

Die Reiſe wurde ganz auf derſelben Straße, auf 


— 557 — 


der man hergekommen war, fortgeſetzt. Man gelangte 
am Morgen über die gefährliche Brücke und am Abend 
nach Schin⸗hoa, doch ritt man dieſes Mal durch die 
Stadt, um jenſeits derſelben im erſten Sié⸗kia zu über⸗ 
nachten. 

Dadurch wurde ein kleiner Vorſprung gewonnen, 
der es ermöglichte, ſchon am nächſten Nachmittag Schao⸗ 
tſcheu zu erreichen, wo die Reiſenden auf dem Herweg 
die militäriſche Begleitung erhalten hatten. 

Der Methuſalem ritt bei dem Mandarin vor und 
wurde von dieſem noch viel ehrerbietiger als vorher 
empfangen, eine Folge davon, daß ſich der Bettlerkönig 
in Perſon bei ihm befand. Da es galt, hier ein flußab⸗ 
gehendes Schiff zu bekommen, ſo mußten ſie daſelbſt 
über Nacht bleiben. Der T'eu fand auch wirklich eine 
Dſchunke, deren Führer ſolche Ehrerbietung vor ihm 
hatte, daß er ſich bereit erklärte, ſein Fahrzeug bis zum 
Morgen klar zu machen. 

Der Methuſalem ſtellte dem Mandarin die Pferde 
und alle Gegenſtände, welche die Soldaten im Stich ge⸗ 
laſſen hatten, zurück. Zu bezahlen hatte er nichts dafür. 
Als er nach dem Oberleutnant fragte, erhielt er eine 
ausweichende Antwort. 

Am Morgen wurden die Reiſenden mit großem 
Gefolge nach dem Fluſſe gebracht, wo die Dſchunke für 
ſie bereit lag. Da ſie dieſe vor Kanton nicht verlaſſen 
wollten, ſo hatten ſie ſich reichlich mit Mundvorrat ver⸗ 
ſehen. 

Der Ho⸗tſchang des Fahrzeuges ließ ſich bewegen, 
auch während der Nacht zu fahren. Dadurch, und weil 
es nun ſtromabwärts ging, wurde eine u ſchnelle 
Rückreiſe ermöglicht. 

Es war eines frühen Morgens, als man Kanton 


— 558 — 


erreichte. Hier durften ſich die Fremden und auch In⸗ 
tſian nicht ſehen laſſen. Der T'eu übernahm es, den 
Tong⸗tſchi und den Ho⸗po⸗ſo aufzuſuchen und ihnen den 
Dank der glücklich heimkehrenden Geſellſchaft zu über⸗ 
mitteln. 

Bereits nach zwei Stunden kehrte er mit dem Ho⸗ 
po⸗ſo zurück und meldete, daß von einer Verfolgung Jin⸗ 
tſians nicht die Rede geweſen ſei. Der Ho⸗po⸗ſo bat, 
Kanton ſchleunigſt zu verlaſſen, wozu er eine beſondere 
Dſchunke zur Verfügung ſtellte. 

Es dauerte auch gar nicht lange, ſo kam ein Schnell⸗ 
ſegler herangerudert und legte ſich Bord an Bord mit 
der Dſchunke aus Schao⸗tſcheu. Auf dieſe Weiſe konnte 
die Umquartierung vor ſich gehen, ohne daß die Auf⸗ 
merkſamkeit der auf den nahe liegenden Schiffen befind⸗ 
lichen Chineſen erregt wurde. 

Nun galt es, Abſchied von dem Bettlerkönig und 
dem Ho⸗po⸗ſo zu nehmen. Man hatte dem letzteren viel 
und dem erſteren noch weit mehr zu verdanken. Der 
Ho⸗po⸗ſo machte, nachdem er dem Führer der Dſchunke 
ſeine Befehle erteilt hatte, die Sache mit einigen Ver⸗ 
beugungen ab. Er war, obgleich er den Fremden das 
Leben verdankte, doch herzlich froh, ſie nun auf der 
Heimreiſe zu wiſſen. Degenfeld wollte dem Bettler⸗ 
könig den T'eu⸗kuan zurückgeben, doch bat derſelbe, den 
Paß als ein Andenken an ihn zu behalten. Dann reichte 
er allen die Hände, verſprach, ſeinen Schwiegerſohn und 
den Tong⸗tſchi zu grüßen und vor allen Dingen ſich des 
Mijnheer anzunehmen, und verabſchiedete ſich dann mit 
einer Herzlichkeit, aus der zu erſehen war, daß er die 
Fremdlinge aufrichtig liebgewonnen hatte. 

Kurze Zeit ſpäter zog die Mannſchaft die beiden 
Segel auf, und die Dſchunke ſetzte ſich nach Whampoa zu 


— 559 — 


in Bewegung, um durch die Bocca Tigris nach Hongkong 
zu gehen, deſſen Hafen man beim Grauen des nächſten 
Morgens erreichte. 

Dort wurde die Dſchunke, nachdem das Gepäck an 
Bord von Turnerſticks Klipperſchiff geſchafft worden 
war, abgelohnt; die Reiſenden ſelbſt aber begaben ſich 
nach dem Gaſthaus, in welchem ſie den braven Mijn⸗ 
heer kennen gelernt hatten. Der Wirt lächelte vergnügt, 
als er ſie, den Neufundländer voran, ſich durch das 
Menſchengewühl Bahn brechen und auf ſein Haus zu⸗ 
ſteuern ſah. Turnerſtick zog es dieſes Mal vor, zu gehen. 
Er hatte nicht Luſt, wieder „Sänfte zu laufen“. Die 
Damen jedoch wurden per Palankin nach dem Gaſthof 
gebracht. 

Infolge des ungeahnt ſchnellen und glücklichen Ver⸗ 
laufs des Unternehmens ſchlug der Gottfried vor, China 
nicht zu verlaſſen, ohne nochmals beim edlen Gerſten⸗ 
ſaft Abſchied gefeiert zu haben. Als dieſes löbliche Vor⸗ 
haben ausgeführt war, begab ſich Turnerſtick nach ſeinem 
Schiff, um nachzuſehen, ob alles in Ordnung ſei. Bei 
ſeiner baldigen Rückkehr meldete er, daß die Ladung ge⸗ 
löſcht und neue Fracht an Bord genommen ſei und man 
ſchon am nächſten Tage unter Segel gehen könne. 

Die Reiſe hätte per Dampfer ſchneller und wohl 
auch bequemer zurückgelegt werden können; aber der gute 
Turnerſtick hatte ſo lange gebeten, bis es ihm verſprochen 
worden war, daß man ſich auch auf der Rückfahrt ſeines 
Schiffes bedienen werde. Er wollte, und folte es zu 
ſeinem größten Schaden ſein, die Freunde bis in ihre 
Heimatsſtadt begleiten, um dort Ye⸗kin⸗li und Richards 
Mutter kennen zu lernen und — was er aber kaum ſich 
ſelbſt eingeſtand — auch ſeinen Anteil an dem Ruhm zu 
haben, der die Heimkehrenden dort erwartete. 


— 560 — 


An Bord des Klippers follte ein ausführlicher Be 
richt über das Erlebte verfaßt und mit dem erſten vor⸗ 
überlaufenden Dampfer vorangeſchickt werden. 


Turnerſtick ſchlief die Nacht ſchon an Bord. Die 
andern blieben im Gaſthof. Als ſie ſich am Morgen auf 
dem Klipper einfanden, hatte er ſeine chineſiſche Man⸗ 
darinenkleidung ab⸗ und den Südkarolinafrack ſamt 
Halstuch mit Schmetterlingsſchleife wieder angelegt. 
Seine eigene Kabine war während der Nacht ganz aller⸗ 
liebſt für die Damen eingerichtet worden, und ebenſo 
hatte er ſehr ausgiebig dafür geſorgt, daß die eee 
Paſſagiere gute Plätze fanden. 

Seine Kommandoſtimme erſcholl munter über das 
Deck. Die Anker wurden angezogen und die Segel ge⸗ 
hißt. Getrieben von der Ebbe und einer guten Priſe glitt 
der ſchlanke Klipper aus dem Hafen. 


Die Fahrgäſte ſtanden alle an Deck, die Blicke nach 
dem uralten, ſeltſamen Land gerichtet, das ſie wohl ſicher 
nicht wiederſehen würden. Als es verſchwinden wollte, 
nahm Turnerſtick den Klemmer ab und ſagte, indem er 
ſich mit der Hand über die Augen fuhr: „Sonderbare 
Erde, und noch ſonderbarere Menſchen darauf! Können 
nicht einmal ihre Mutterſprache richtig ſprechen; haben 
nicht den mindeſten Begriff von einer richtig chineſiſchen 
Endung! Und doch tut es mir leid, daß ich Abſchied neh⸗ 
men muß. Vielleicht nur deshalb, weil wir den Dicken 
zurücklaſſen mußten.“ 

„Dat wird es ſein!“ ſtimmte der Gottfried bei. 
„Wäre meine Oboe mich nicht jar ſo lieb, ſo hätte ich 
ſie ihm als Andenken an feinen Jottfried zurückjelaſſen. 
Auch mich tut dat Scheiden weh; aberſt es beſeligt mir 
doch dabei der Jedanke, dat wir unſer Kong⸗kheou ex» 


— 561 — 


füllt haben. Darum weg mit die traurigen Jefühle! 
Habe ich dat China mit einem Tſching⸗tſching bejrüßt, 
ſo verabſchiede ich mir jetzt von ihm mit einem Tſching⸗ 
leao, wat ſo viel heißt als: Behüt dich Gott, du Land der 
jeſchlitzten Augen; du tuſt mich herzlich leid, denn dich 
jeht ſoeben dein ſchönſter Jottfried für immer verloren!“ 


May, Der blaurste Nethnſalem. 88 


Achtzehntes Kapitel. 
Rong⸗kheou, das Ehrenwort. 


Unbegreiflich, vollſtändig unbegreiflich! Die Her⸗ 
ren Profeſſoren und Dozenten ſtanden da, ſchüttelten die 
Köpfe und brachten es doch zu keiner Erklärung der un⸗ 
geheuerlichen Tatſache, daß heute auch nicht ein einziger 
Hörer erſchienen war. So etwas war noch nie dage⸗ 
weſen. So etwas ſpottete ſogar der Weisheit des ſonſt 
unwiderleglichen alten Ben Akiba! 

Und doch wäre die Erklärung ſo leicht geweſen, 
wenn man im „Geldbriefträger von Ninive“ nachge⸗ 
fragt hätte. Die Sache hatte einfach folgenden Grund: 
Die Aufregung der akademiſchen Welt über das plötzliche 
Verſchwinden des Methuſalem hatte ſich nach und nach 
gelegt. Man vermißte ihn zwar, aber man ſprach nicht 
mehr davon. Da kamen aus China die Briefe an Frau 
Stein und De⸗kin⸗li, die Berichte über den glücklichen 
Verlauf des abenteuerlichen Unternehmens. Die Emp⸗ 
fänger waren entzückt und brachen in ihrer Freude ihr 
bisheriges Schweigen. Nun erfuhr man, wohin der 
Blaurote ſei und was er dort wolle. Hätte man es eher 
erfahren, ſo hätte man darüber gelacht; da aber die Auf⸗ 
klärung zugleich mit der Kunde des Gelingens kam, ſo 


— 563 — 


war des ſtaunenden Rühmens kein Ende, und man er⸗ 
wartete mit Spannung die Heimkehr des Helden. Man 
erachtete es für ganz ſelbſtverſtändlich, daß ihm ein wür⸗ 
diger Empfang bereitet werde. 

Das hatte der Methuſalem geahnt und war, um 
dem vorzubeugen, mit ſeinen Gefährten dahin überein⸗ 
gekommen, daß ſie die Ihrigen überraſchen wollten. 
Alle hatten zugeſtimmt, auch Gottfried von Bouillon; 
heimlich aber war dieſer nicht mit dem Abkommen ein⸗ 
verſtanden. Er glaubte, einen feſtlichen Empfang ver⸗ 
dient zu haben, und ſo hatte denn heute früh der Tele⸗ 
graphenbote eine Depeſche mit der Aufſchrift „Geld⸗ 
briefträger von Ninive“ zur Beſorgung anvertraut er⸗ 
halten. Als der Wirt das Telegramm geöffnet hatte, 
las er: 

„Heute abend Zehnuhrzug Methuſalem zurück, vier 
Herren, drei Chineſinnen, zwei Chineſen, ein Halbchineſe 
und ein Hund. Gottfried von Bouillon.“ 

Die Rückkehr ſeiner zwei beſten Stammgäſte ver⸗ 
ſetzte den Wirt in eine ſo freudige Aufregung, daß er die 
Depeſche ſofort in Umlauf gab, infolgedeſſen ſich ſeine 
Aufregung mit außerordentlicher Schnelligkeit der gan⸗ 
zen akademiſchen Bürgerſchaft mitteilte. An eine Vor⸗ 
leſung war nicht zu denken. Man kam in den „Kneipen“ 
zuſammen, um wichtigen Beſchluß zu faſſen, und bald 
waren ſämtliche Seiler der Stadt emſig beſchäftigt, aus 
ſanftem Werg und zähem Pech feſtliche Fackeln zu be⸗ 
reiten. 

Der Methuſalem ahnte nicht, welch eine Bewegung 
daheim um ſeinetwillen herrſche. Er hatte einen ganzen 
Wagen zweiter Klaſſe genommen, um ſich und ſeine 
Gefährten bequem unterzubringen. Die beiden Säcke 
mit den Barren, ſorgfältig in Decken eingeſchnürt, lagen 


— 564 — 


auf dem weichen Plüſch, denn er mochte fie dem Gepäck⸗ 
wagen nicht anvertrauen. 

So dampfte er wohlgemut und ahnungslos der 
Heimat entgegen und ſtand kurz vor der Ankunft von 
ſeinem Sitz auf, um durch das geöffnete Fenſter die Lich⸗ 
ter des Bahnhofs zuerſt zu erblicken. 

„Soll ich die Pipe anbrennen? Jeſtopft habe ich 
ihr ſchon,“ fragte Gottfried. 

„Ja, denn Ordnung muß ſein!“ 

Der Gottfried lächelte ſtill vor ſich hin und gab ihm 
das Mundſtück. Degenfeld begann zu rauchen. Der 
Wichſier ſchnallte dem Hunde den Ranzen auf den Rücken 
und gab ihm das Stammſeidel in das Maul. Ein ſchril⸗ 
les Pfeifen, ein Glockenzeichen, ein ohrbetäubendes Knir⸗ 
ſchen und Stöhnen der Räder — der Zug hielt. 

„Alle Teufel!“ rief der Blaurote. „Was iſt das? 
Draußen wimmelt es von Mützen aller Farben. Wem 
ſoll das gelten?“ 

Aber man hatte bereits ſeinen Kopf geſehen. Die 
Tür wurde aufgeriſſen, und aus mehreren hundert Keh⸗ 
len ertönte ein donnerndes Salve Methusala! Man 
zog ihn aus dem Abteil; man umringte ihn jubelnd und 
drängte ihn fort. Er hörte Rufe wie: „Wo ſind die 
Damen? Wo ſind die echten Zöpfe? Wo iſt der Halb⸗ 
chineſe? Da iſt der Hund; laßt ihn durch! Nehmt die 
Säcke mit! Wetter, ſind die ſchwer! Doch nicht etwa Mo⸗ 
neten darin?“ 

Im Nu brannten die Fackeln. Er ſah drei ge⸗ 
ſchmückte Wagen ſtehen. Er ſah auch, daß man die Chine⸗ 
ſinnen höflich geführt brachte und jede in eine beſondere 
Droſchke beförderte. Er wollte ſich ſträuben, doch ver⸗ 
gebens. Er wetterte aus Leibeskräften. Lautes Lachen 
war die Antwort, und er mußte ſich fügen. 


— 565 — 


Voran das Muſikkorps, ſetzte ſich der Zug in Be⸗ 
wegung. Zwölf Chargierte folgten mit Schärpen und 
blanken Schlägern. Hinter ihnen trollte der Hund mit 
Torniſter und Bierglas. Dann kam der Methuſalem, 
vor Aerger dampfend wie ein Vulkan. An ſeinen Ferſen 
ſchritt der Gottfried von Bouillon mit der Pfeife und 
Oboe, ein vergnügtes Lachen auf dem verſchmitzten An⸗ 
geſicht. Nun folgte Richard mit dem Onkel Daniel, wel⸗ 
cher europäiſche Kleidung trug. Ihr Hintermann war 
Turnerſtick, in chineſiſcher Mandarinentracht mit dem 
Klemmer auf der Naſe und den ausgebreiteten Fächer in 
der Hand. Es war ihm anzuſehen, daß er ſich mit als 
Held des Tages fühlte. Nun kamen Liang⸗ſſi und Jin⸗ 
tſian in ihrer heimatlichen Kleidung, worauf die drei 
Wagen folgten. Hinter dieſen gingen mehrere Pack⸗ 
träger, welche die beiden Säcke und diejenigen Gepäck⸗ 
ſtücke trugen, die ſich im Wagen befunden hatten, und an 
ſie ſchloß ſich der ſchier endloſe Zug der fackeltragenden 
Burſchen. Fackelträger gingen auch zu beiden Seiten 
der Feſtgäſte. 

So bewegte ſich der Zug durch die Stadt, bis man 
die Wohnung der Frau Stein und Ye⸗kin⸗lis erreicht 
hatte. 

Dieſe beiden hatten natürlich die Ankunft der 
Ihrigen erfahren. Sie ſtanden miteinander unter der 
Tür, als die Spitze des Zuges ſich unter den Klängen 
eines Feſtmarſches nahte. Da aber löſte ſich die Reihen⸗ 
folge der ſo ſehnſüchtig Erwarteten ſchnell auf. 

Der Hund war ſamt Ranzen und Glas mit einigen 
ſchnellen Sätzen in das Haus hinein und die Treppe 
hinauf. Richard warf ſich mit einem lauten Freudenruf 
in die Arme ſeiner Mutter. Die chineſiſchen Brüder 
traten mit ehrerbietigen Schritten auf De⸗kin⸗li zu, deſ⸗ 


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ſen Kleidung ihn als ihren Vater bezeichnete. Degenfeld, 
Gottfried und Turnerſtick öffneten die Wagenſchläge, um 
die Damen beim Ausſteigen zu unterſtützen und ſie dem 
Händler zuzuführen. Dann verſchwanden alle dieſe Per⸗ 
ſonen in dem Hauſe, nach ihnen die Kofferträger mit 
den Sachen. Die Träger kehrten bald zurück, die anderen 
aber natürlich nicht. 

Welch eine Fülle von Freude und Wonne dieſe 
Mauern jetzt umſchloſſen, das konnten ſich die auf der 
Straße Bleibenden wohl denken. Sie hatten ſich wäh⸗ 
rend der letzten Szene ſtill verhalten. Sie drängten ſich 
heran und ſchwiegen auch noch eine geraume Weile. 
Dann aber erſcholl, erſt vereinzelt und dann vielſtimmig 
der Ruf: „Methuſalem, ans Fenſter!“ 

Er wurde ſo lange wiederholt, bis der Blaurote ſich 
droben zeigte. „In den ‚Geldbriefträger‘!” rief man ihm 
zu. „Bring den Jottfried mit!“ 

„Heute nicht, heute abend nicht!“ 

„Wir gehen nicht eher. Wir warten. Oder willſt 
du eine Katzenmuſik?“ 

„Tolle Kerls! Nun wohl, wir kommen.“ 

Er gab nur deshalb ſeine Zuſtimmung, weil ihm 
ſein Zartgefühl riet, die beiden glücklichen Familien für 
jetzt ſich ſelbſt zu überlaſſen. Bald erſchien er an der 
Tür mit dem Hund, mit Gottfried und mit Turnerſtick, 
der ſich natürlich für vollberechtigt hielt, die Feier bis 
zur Neige auszukoſten. Sie wurden wieder in Reih und 
Glied genommen und unter den Klängen der Muſik nach 
dem „Geldbriefträger“ geführt, deſſen großer, hell er⸗ 
leuchteter Saal die Teilnehmer des Fackelzugs kaum zu 
faſſen vermochte. 

Was dort getrunken, geſungen, erzählt, beſtaunt 
und — belacht wurde? Hm, man munkelte etwas von 


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einem berühmten Tur⸗ning⸗ſti⸗king kuo⸗ngan ta⸗fu⸗ 
tſiang, von famoſen Endungen, von einem Klemmer, der 
nie auf der Naſe bleiben wollte, von einem talmichine⸗ 
ſiſchen Mandarin, der mit allen Anweſenden Brüder⸗ 
ſchaft getrunken und ſie dann einzeln doch mit „Mijn⸗ 
heer Dicker“ angerufen hat. Was davon zu glauben iſt, 
das werden diejenigen wiſſen, welche dabei waren. Tat⸗ 
ſache iſt, daß gerade in dem Augenblick, als der auf der 
Humboldtſtraße wohnende Bäcker die neubackenen Sem⸗ 
melzeilen in das Schaufenſter legte, drei männliche Per⸗ 
ſonen mit einem Neufundländer, der ein leeres Seidel 
trug, um die Ecke des Pfeffergäßchens gebogen kamen 
und nach längerem Klirren des Hausſchlüſſels in dem 
Hauſe verſchwanden, wo der Methuſalem ſeit Jahren 
ſeine „Bude“ hatte. 

Man munkelt ferner davon, daß Turnerſtick die 
Treppe mittels einer vierarmigen Sänfte erſtiegen habe, 
nämlich menſchenarmig, was er, wenn es wirklich ge⸗ 
ſchehen ſein ſollte, jedenfalls nur der größeren Bequem⸗ 
lichkeit wegen getan hat. Feſtgeſtellt aber iſt es, daß er, 
als er droben in Gottfrieds Bett gelegt wurde, ſofort 
tüchtig zu ſchnarchen begann und, davon erwachend, zor⸗ 
nig ausrief: „Nicht ſchnarchen, Dicker! Ich will ſchlafing! 
Schmollis, Gottfried! Fiduzit, Methuſalung!“ 

Er blieb noch eine volle Woche bei ſeinen Freunden, 
hatte aber bereits am erſten Tag den langen, chineſiſchen 
Rock wieder mit dem Südkarolinafrack vertauſcht. Dann 
kehrte er nach Hamburg zurück, wo ſein Klipper vor 
Anker lag. 

Wer der Meinung geweſen war, daß der Methu⸗ 
ſalem ſeine täglichen, regelmäßigen Gänge nach dem 
„Geldbriefträger“ wieder beginnen werde, der hatte ſich 
ſehr geirrt. Ja, er ging täglich aus, aber nur einmal, 


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mit dem Gottfried und dem Hunde ganz in der früheren 
Weiſe und Reihenfolge, aber nicht in das altberühmte 
Schanklokal, ſondern nach einem einſam gelegenen Spa⸗ 
zierweg. Fragte man ihn, warum er dieſe ungeahnte 
Neuerung eingeführt habe, ſo antwortete er: „Ik wil 
niet drinken. De lucht is hier zeer goed.“ 

Darüber ſchüttelte man natürlich die Köpfe und 
ließ nach einigen vergeblichen Verſuchen, ihn wieder in 
ſeine alte Bahn zu lenken, ihn ruhig ſeines Weges gehen. 
Und „de lucht“ ſchien ihm allerdings ſehr gut zu be⸗ 
kommen. Sein Geſicht nahm nach und nach eine hellere 
Farbe an, und die Naſe näherte ſich mehr und mehr der 
Form ſolcher Naſen, die nicht infolge eines „Hiebes“ 
blaurot angelaufen ſind. 

Einem früheren Zechbruder ſoll er ernſthaft und 
vertraulich geſagt haben: „Ich bin ein Tor geweſen. 
Der Menſch hat andre Zwecke als das Zechen, das doch 
nur Leib und Geiſt zerrüttet. Ich brauche kein Amt, 
denn ich bin reich; aber ich will dem braven Jungen, 
dem Richard Stein, als Beiſpiel leben, damit er nicht 
auf meine früheren Wege gerät. Er ſoll doppelt lernen, 
erſtens das Seinige und zweitens das, was ich verſäumt 
habe.“ 

Onkel Daniel lebt mit ſeiner Schwägerin und deren 
Kindern als Rentner von den Zinſen ſeines Vermögens. 
Degenfeld wohnt bei ihnen. Frick Turnerſtick beſucht ſie 
jedes Jahr, um „nachzuſehen, ob der Methuſalem noch 
immer nicht chineſiſch kann“. Und der Mijnheer ſchreibt 
alle Monate. 

Wer die Hauptſtraße entlang geht, dem fällt ein 
eigentümlich geformtes Schild auf, das die Firma 
„Liang⸗ſſi, Drogenhändler“ enthält. Der Laden iſt 
mit Hilfe der bekannten Goldbarren glänzend eingerich⸗ 


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tet und ſeine Tür erklingt faſt unausgeſetzt vom frühen 
Morgen bis zum ſpäten Abend. 

Mei-pao und Sim⸗ming, die beiden Schweſtern, 
kamen in ein Inſtitut, um ſchneller Deutſch zu lernen 
und eine deutſche Erziehung zu erhalten. 

Wer nun, da einige Jahre vergangen ſind, auf dem 
Univerſitätsplatz wohnt, der kann täglich drei Studenten 
beobachten, die ein einmal belegtes Kollegium gewiß 
nicht verſäumen. Sie gehen ſtets Arm in Arm. Der 
mittlere iſt von hoher, ſtarker Figur; er muß die Vier⸗ 
zig ſchon zurückgelegt haben. Der zweite hat ein hübſches, 
rotwangiges, offenes Geſicht, deſſen Oberlippe ſich unter 
dem Flaum eines leiſen Bärtchens dunkelt. Der dritte 
zeigt mongoliſche Züge, doch ohne daß deren Schnitt auf⸗ 
fällig wäre. Dieſe drei ſind der Methuſalem, Richard 
Stein und Jin⸗tſian. Sie ſtudieren um die Wette, die 
beiden letzteren aus Eifer für ihren ſpäteren Beruf und 
der erſtere, um ſie anzufeuern. Daß er, der Alte, auch 
während der Vorleſungen zwiſchen ihnen, den viel Jün⸗ 
geren, ſitzt, das hat erſt manches Lächeln hervorgerufen, 
ihn aber gar nicht ſtören können. Er hat ſich ſelbſt das 
Ehrenwort gegeben, daß er ihnen als Beiſpiel voran⸗ 
leuchten wolle, und wie er ſein Verſprechen in China ge⸗ 
halten hat, ſo hält er auch dieſes Wort, dieſes ſtille 


„Kong⸗kheou“. 


- 


Karl May's 
Geſammelte Werke 


Bisherige Auflage: 51 Millionen Bändel 


Band Band 
Durch die Wüſte 34 „ch“ 
2 Durchs wilde Kurdiftan 35 Unter Gelern 
3 don Bagdad nach Stambul 36 der Schatz im Sülberſee 
In den Schluchten des Balkan 37 der Glprinz 
5 Dutcch das Land der Sklpetaren 38 Halbblut 
6 Der Schut 39 Das Dermächtnis des Inka 
7/9 Winnetou. 3 Bände 40 der blaurote Methujalem 
10 Orangen und Datteln 41 die Sklavenkarawane 
11 Am Stillen Ozean 42 der alte Dejjauer 
12 Am Rio de la Plata 3 Aus dunklem Tann 
13 In den Kordilleren 34 Der Waldſchwarze 
13/15 Old Surehand. 2 Bände 45 Jepter und Hammer 
16/18 Im Lande des Mahdi. 3 Bände 46 die Juweleninjel 
19 Kapitän Raiman 47 Profeſſor Ditzliputzli 
20/22 Satan und Iſcharlot. 3 Bände 48 Das Jauberwaſſer 
23 Auf fremden Pfaden 39  Himmelsgebanten (Gedichte) 
24 Weihnacht 50 In Mekka 
25 Am Jenſeits [4 Bände 51 Schloß Nodriganda 
26/29 Im Neiche des ſilbernen Cowen. 52 Dom Rhein zur Napimi 
30 Und Friede auf Erden 53 Benito Juarez 
31/32 Ardiftan und Dſchinnlſtan. 51 rapper Gelerſchnabel 
33 Winnetous Erben [2 Bände 55 der fterbende Kalſer 


Jeder Band iſt einzeln käuflich 
Preis geheftet je M. 3.50, 

grün gebunden mit farbigem Dedelbilb 

ſe M. 5.— 


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Wichtige Ergänzungen zu Karl Rays e 
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Rarl⸗Mau „Jahrbücher 


Jahrgang IV bis XII = 1921 bis 1929 
Karl» Maps Jahrbücher 1918, 1919 und 1920 
(., I. und Ill. Jahrgang) ſind vergriffen. 


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Jeder Band enthält bisher noch unbekannte Erzählungen, Gedichte und 
Briefe Karl Maps, ferner zahlreiche Beiträge, Novellen uſw. bedeutender 
Sachkenner und Schriftfteller, ſowie viele Abbildungen. ! 


Alljährlich erſchelnt ein weiteres Jahrbuch. 
* 


Ritar beiter ſind u. a.: 
Noſe v. Aichberger, Dr. Ernſt Altendorff, Ciſa Barthel» Winkler, Dr. Arthur 
Berger, Reichsbahninſpektor Alfred Biedermann, Geheimrat Prof. Dr. Alfred 
Bleſe, Dr. Lrnſt Bloch, Hauptmann a. D. Braune, Stadtſchulrat Dr. Artur 
Buchenau, Dr. Charlotte Bühler, Major a. D. Regierungsrat Max Cajella, Dr. 
Stanz Cornaro, Geheimer Regierungsrat Cumme, Studienrat Dr. Adolf Droop, 
Hauptmann a. D. Dr. Reinhold Lichacker, Redakteur Otto Licke, Prof. Dr. Eduard 
Engel, Dr. Curt Sloericke, Dr. Georg Fröſchel, Mar Geißler, Nechtsanwalt Dr. 
Oskar Gerlach, Strafanſtaltslehrer Heinrich Glatzel, Arhivrat Hauptmann a. D. 
Ouftan Goes, Univ.-Prof. Dr. Ronrad Guenther, Prof. Dr. Cudwig Gurlitt, Thea 
von Harbou, Derlagsdirektor Wirkl. Nat Otto Hartmann, Landgerichtsdirektot 
Dr. Albert Hellwig, Geh. Regierungsrat Hochſchul⸗Prof. Dr. Wilhelm Heß, Max 
Jungnickel, Kaplan Franz Ranbdolf, Tony Kellen, Srembdenlegionär Max Kirſch, 
Studienrat Dr. Rarl Rontad, Prof. Wilhelm Kreis, Dr. Ritter Richard v. Kralif, 
Gehelmrat Dr. Lorenz Krapp, Hauptmann Dr. Paul Ceutwein, Dr. Heinrich 
Thotzky, Dr. Werner Mahrholz, Dr. Wilhelm Matthießen, Frau Klara May, 
Walters. Molo, Univ.-Prof. Dr. Hans Naumann, Amand v. Dzoröczy, Muſeums⸗ 
direktor Prof. Dr. R. Th. Preuß, Studienrat Fritz Prüfer, Pfarrer W. Richter, 
Mittelſchulrektor Franz Nohrmoſer, Derlagsdirektor Dr. E. A. Schmid, Prof. 
Saſcha Schneider , Geheimer Nat Univ.-Prof. Dr. Emil Sehling T, Dr. Rarl 
gans Strobl, Marine⸗Oberzahlmeiſter a. D. Adalbert Stütz, Hauptmann 
Hans ⸗Erich v. Izſchirner⸗Bey, Hochſchul⸗Profeſſor Dr. Benno Wandolleck, 
Dr. Wolfgang von Weill, Rechtsanwalt Max Weiß, Niniſt.⸗Dir. Dr. Erich 
Wulffen, Heinrich Jerkaulen, Carl Juckmaper. 


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