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Full text of "Gesammelte mathematische Abhandlungen"

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LIBRARY 


UNIVERSITY Of 
CALIFORNIA 


MATH-STAT. 


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FELIX KLEIN 


GESAMMELTE MATHEMATISCHE 
ABHANDLUNGEN 


ERSTER BAND 
LINIENGEOMETRIE 
GRUNDLEGUNG DER GEOMETRIE 
ZUM ERLANGER PROGRAMM 


HERAUSGEGEBEN 
VON 


R. FRICKE und A. OSTROWSKI 


(VON F. KLEIN MIT ERGÄNZENDEN ZUSÄTZEN VERSEHEN) 


MIT EINEM BILDNIS 





BERLIN 
VERLAG VON JULIUS SPRINGER 
1921 


Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, 


vorbehalten. 


Copyright 1921 by Julius Springer in Berlin. 


VORWOÖRT. 


Die umfassende Wirksamkeit, welche Felix Klein in den vielseitigen 
Richtungen seiner Betätigung ausgeübt hat, wurzelt in dem engeren Ge- 
biete seiner rein mathematischen Forschungen und in der wichtigen Stellung, 
welche die Ergebnisse dieser Forschungen, sowie ihre Grundauffassung und 
Methodik in der neueren Gesamtentwicklung der mathematischen Wissen- 
schaft einnehmen. Bereits in den ersten Schöpfungen Kleins war der Weg 
vorgezeichnet, dessen folgerechte Weiterbildung zu seiner mathematischen 
Denkweise hinführte. Im Laufe der Jahrzehnte hat Klein seine Auffassung 
und Methodik in fast allen Einzeldisziplinen der Mathematik zur glänzenden 
Durchführung gebracht und so eine Entwicklung geschaffen, die mit außer- 
ordentlicher Fruchtbarkeit überall eine Fülle neuer Gesichtspunkte und 
Probleme schuf, und deren früheste Periode jetzt eben im Laufe des 
letzten Jahrzehntes in die Entwicklung der mathematischen Physik in so 
überraschender Weise klärend und grundlegend eingriff. 

Kleins mathematische Auffassungen entstammen der geometrischen 
Denkweise. Die neueste Mathematik wird demgegenüber von den Begriffen 
der Zahl und der Menge beherrscht. Doch wieviel ärmer wäre diese mehr 
kritische als produktive Periode unserer Wissenschaft, hätte sie nicht zuvor 
von den der Geometrie entstammenden Auffassungen jene mächtigen Im- 
pulse erlebt, welche nicht nur in der Geometrie selbst, sondern auch in 
der Algebra, Gruppentheorie und vor allem in der Funktionentheorie die 
wahren und wertvollen Gegenstände und Probleme auch für die spätere 
mehr kritische Bearbeitung ans Licht brachte! 

Die Vielseitigkeit der Forschungen Kleins brachte ihn in unmittel- 
bare Berührung und persönliche Fühlung mit einer sehr großen Anzahl 
deutscher und ausländischer Gelehrter Für die Weiterführung seiner Ideen 
trat eine stattliche Reihe von Mitarbeitern und Schülern ein. Seit lange 
war demnach im Kreise der Freunde und Schüler Kleins der Wunsch 
rege geworden, die wissenschaftlichen Werke Kleins in einer einheitlichen 
Gesamtausgabe vereinigt zu sehen. Die Feier des goldenen Doktorjubiläums 
Kleins am 12. Dezember 1918 gab den willkommenen Anlaß, zur Schaffung 
einer solchen Ausgabe den ersten Schritt zu unternehmen. Den Text der 
Urkunde, die dem Jubilar zu diesem Zwecke am genannten Tage über- 
reicht wurde, bringen wir unten zum Abdruck. 


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IV - Vorwort. 


Die Unterzeichneten haben es sich zu einer besonderen Ehre an- 
gerechnet, an ihrem Teile Herrn Geheimrat Klein bei der Herausgabe 
seiner gesammelten mathematischen Abhandlungen behilflich sein zu dürfen. 
Die Ausgabe ist auf drei ungefähr gleich starke Bände berechnet, an 
welche sich noch ein kurzer Registerband anschließt. Gleich mit Beginn 
der geschäftlichen Verhandlungen über Druck und Verlag der Neuausgabe 
hat Klein in eingehenden Besprechungen mit Ostrowski die Vorberei- 
tungen zum Drucke insbesondere des ersten Bandes begonnen. In Ver- 
bindung hiermit hat Klein über ‚seine zunächst in Betracht kommenden 
Arbeiten vor einem kleinen Kreise von Zuhörern Vorträge gehalten, aus 
denen dann wesentlich die Vorbemerkungen und Zusätze entstanden sind, 
die unserer Neuausgabe ihren besonderen Wert verleihen. Eine Eigenart 
der Kleinschen Produktion ist es, daß er immer mit Freunden und 
Schülern arbeitete. Dementsprecheud berichten die genannten Bemerkungen 
wesentlich über die Art der Entstehung der einzelnen Abhandlungen. 

Längere Überlegungen Kleins mit Ostrowski haben die Anordnung 
der Abhandlungen ergeben, welche für den ersten Band durchgeführt und für 
die folgenden Bände wenigstens im allgemeinen festgelegt ist. Wir haben 
die auf den zweiten und dritten Band bezüglichen Einzelangaben, weil 
sie noch nicht bindend sein können, im Einverständnis mit der Verlagsbuch- 
handlung nur auf den Umschlag des gegenwärtigen Bandes gesetzt. Es ist 
eine Mischung von sachlicher Anordnung mit chronologischen Gesichts- 
punkten befolgt. Hierdurch gelang es, jedem der drei ersten Bände einen 
geschlossenen Charakter zu erteilen. 

Erschöpft ist die Summe der auf Klein zurückgehenden Fortschritte 
durch unsere Ausgabe allerdings noch nicht. Manche seiner Ideen und 
Resultate finden sich nämlich nur in den Veröffentlichungen seiner Mit- 
arbeiter eingestreut, und es erscheint ganz unmöglich, sie systematisch 
herauszulösen und zu sammeln, weil sie mit den jeweiligen Gedankengängen 
der anderen organisch verknüpft sind. Auf Beziehungen dieser Art konnte 
demnach nur gelegentlich hingewiesen werden. 

Der vorliegende erste Band enthält insbesondere die Mehrzahl der 
rein geometrischen Arbeiten Kleins, mit Ausnahme derjenigen über 
Realitätsverhältnisse algebraischer Gebilde und Analysis situs, die für den 
zweiten Band zurückgestellt wurden. Demnach umfaßt der erste Band den 
Hauptteil der Abhandlungen Kleins aus seiner ersten Schaffensperiode 
(1868— 1872), zusammen mit den Weiterbildungen, welche die damals 
entstandenen Grundanschauungen im Laufe der Zeit gefunden haben. Im 
vorliegenden Bande fanden auch die letzten Aufsätze ihren Platz, mit 
denen Klein an seine Jugendarbeiten anknüpfend zur modernen Relativi- 
tätstheorie der Physiker ‘Stellung nehmen konnte. 


Vorwort. V 


Der Text der Abhandlungen ist vor dem Druck durchgesehen und an 
einzelnen Stellen sind kleine Verbesserungen angebracht worden. Da 
manche der Abhandlungen bereits an verschiedenen Stellen abgedruckt 
und dabei auch wiederholt kleine Änderungen im Texte vorgenommen 
sind, würde ein pedantisches Eingehen auf alle Einzelheiten im Sinne 
einer textkritischen Ausgabe die Darstellung gelegentlich recht unüber- 
sichtlich gemacht haben. Es wurde daher der Mittelweg gewählt, nur 
die von irgendwelchem Gesichtspunkte aus wichtigen Änderungen, sowie 
. die Zusätze und Fußnoten, die sich vom übrigen Text abheben, besonders 
zu bezeichnen, indem sie in eckige Klammern gesetzt wurden. Indessen 
ist selbstverständlich z. B. alles, was von irgendwelcher Bedeutung für 
etwaige Prioritätsfragen sein konnte, aufs sorgfältigste hervorgehoben 
worden. Größere Zusätze und zusammenfassende Vorbemerkungen sind teils 
an den Anfang, teils an den Schluß der einzelnen Abhandlungen, teils endlich 
in die Einleitungen zu den drei Hauptabschnitten dieses Bandes gesetzt. — 

Mit verbindlichem Dank haben wir der freundlichen Hilfe zu gedenken, 
die uns mehrere Fachgenossen bei der Herausgabe zuteil werden ließen. 
Herr A. Schönflies hat einen großen Teil der Korrekturen des vor- 
liegenden Bandes durchgesehen und seine Bemerkungen sind uns von 
großem Nutzen gewesen. Herr H. Vermeil hat sämtliche Korrekturen und 
Revisionen des Textes mit großer Sorgfalt gelesen. Außerdem hat er an 
der Vorbereitung der die Relativitätstheorie betreffenden Abhandlungen 
zum Wiederabdruck wesentlichen Anteil. Bei einzelnen Teilen des Bandes 
haben uns die Herren L. Bieberbach und F. Engel und Frl. E. Noether 
bei der Korrektur unterstützt. Ebenso möchten wir an dieser Stelle den 
Herren M. Noether und F. Engel für die freundliche Erlaubnis zur Be- 
nutzung der Sonderabzüge einiger älterer Arbeiten Kleins danken, ganz 
besonders aber der Firma B. G. Teubner, die einige ältere Bände der 
Mathematischen Annalen der Druckerei zur Verfügung gestellt hat. 

Die Verlagsfirma Julius Springer hat bei der Drucklegung des 
ersten Bandes allen unseren Wünschen und Vorschlägen in entgegen- 
kommender Weise entsprochen, aber, was mehr ist, sie hat es in einer 
schweren Zeit, in der der Herstellung eines größeren der reinen Wissen- 
schaft gewidmeten Werkes fast unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen- 
" stehen, gewagt, den vorliegenden Band herzustellen und in Verlag zu nehmen. 
Die Firma Julius Springer hat hierdurch nicht nur den aufrichtigen 
Dank der Nächstbeteiligten erworben, sondern dem Ansehen und der 
Wirkung deutscher Wissenschaft einen unschätzbaren Dienst geleistet. 


Braunschweig und Göttingen, im Oktober 1920. 


Die Herausgeber. 


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HERRN 
GEHEIMEN REGIERUNGSRAT 
DR, PHIL. ET ING. 


FELIX KLEIN 


ORDENTLICHEM PROFESSOR 

DER MATHEMATIK AN DER 

GEORG AUGUST UNIVERSITÄT 
GÖTTINGEN 


ZUM 10. DEZEMBER 1918 
DEM TAGE SEINES 
GOLDENEN DOKTORJUBILÄUMS 











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Hochverehrter Herr Geheimrat! 


A 12. Dezember 1918 sind fünfzig Jahre verflossen, seit Sie 
damals neunzehnjährig, von der philosophischen Fakul- 
tät der Universität Bonn auf Grund Ihrer Dissertation „Über 
die Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grades 
zwischen Linienkoordinaten auf eine kanonische Form‘ zum 
Doktor promoviert wurden. Den Tag Ihres goldenen Doktor- 
jubiläums haben Ihre unterzeichneten mathematischen Freunde 
und Verehrer als eine willkommene Gelegenheit ergriffen, Ihnen 
Gruß und Glückwunsch zu entbieten und zugleich freudig Be- 
kenntnis davon abzulegen, was Sie während des verflossenen 
halben Jahrhunderts der Wissenschaft und Ihren Freunden und 
Schülern gewesen sind. Bereits kurze Zeit nach dem Erscheinen 
Ihrer Dissertation haben Sie die Geometrie um eine Reihe 
wertvoller Untersuchungen bereichert, haben Sie zusammen 
mit Lie Ihre ersten gruppentheoretischen Entwicklungen aus- 
geführt. Im Anfang der siebziger Jahre erfolgten Ihre tiefen 
Untersuchungen über Nicht-Euklidische Geometrie, und bei An- 
tritt Ihrer Erlanger Professur übergaben Sie Ihr bahnbrechendes 
Erlanger Programm der Öffentlichkeit. Was zum wesentlichen 
Charakter der glänzenden Reihe Ihrer weiterfolgenden Unter- 
suchungen wurde, trat schon hier hervor: die Durchdringung 
und gegenseitige Belebung der verschiedenen mathematischen 
Disziplinen, der geniale Blick für ihre inneren Zusammen- 


hänge. Zur schönsten Blüte erwuchs diese Ihnen ganz eigen- 











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b] 


tümliche Denkweise mathematischer Forschung in Ihrer 
bewunderungswürdigen Arbeit über die Transformation sie- 
benter Ordnung der elliptischen Funktionen, die stets als ein 
Juwel mathematischer Forschung verehrt werden wird. Aber 
auch in der reichen Fülle Ihrer weiteren Arbeiten, die sich 
namentlich auf die naturwissenschaftlichen Anwendungen der 
Mathematik beziehen, sehen wir überall die Vorzüge Ihrer 
Denkweise sich glänzend bewähren. 

Aber nicht nur den bahnbrechenden Forscher sehen wir in 
Ihnen, der unserer Wissenschaft neue Wege erschlossen hat, 
wir verehren in Ihnen zugleich den unermüdlichen Freund und 
Helfer, der dem gleichstrebenden Forscher durch schriftlichen 
und mündlichen Ausspruch stets freigebig von dem Reichtum 
seiner Ideen spendete. Wir verehren in Ihnen den geistreichen 
Lehrer, der es verstand, unserer Wissenschaft eine große An- 
zahl von Schülern zu gewinnen, die begeistert die belebende 
Zauberkraft Ihres Vortrages empfanden. So wollen wir an Ihrem 
heutigen Jubeltage Ihnen, dem bahnbrechenden Forscher, dem 
hilfsbereiten Führer, dem geistvollen Lehrer unsere Verehrung 
und Dankbarkeit darbringen. 

Zugleich aber wollen wir eine Bitte aussprechen. Um die wert- 
vollen Errungenschaften Ihrer Lebensarbeit noch zugänglicher 
und wirkungsvoller zu gestalten, besteht der lebhafte Wunsch, 
Sie möchten den Entschluß fassen, eine einheitliche Ausgabe 
Ihrer gesammelten Werke zu eranatalten. Bei dem großen 
Reichtume und Umfange Ihrer gesamten Tätigkeit verkennen 


wir nicht die riesige Arbeit, die eine Verwirklichung dieses 


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Wunsches in sich schließen würde. Aber vielleicht besteht doch 
einige Hoffnung, daß vorerst eine Ausgabe Ihrer gesammelten 
wissenschaftlichen Abhandlungen und Noten der Verwirklichung 
entgegengeführt werden könnte. Ihrer Forschertätigkeit, deren 
Jugendkraft wir noch jüngst zu bewundern Gelegenheit hatten, 


wird ja eine zurückschauende Arbeit wenig behagen. Darum nahen 


wir Ihnen heute noch mit einer letzten Bitte, nämlich freund- 
lichst die Verfügung über eine Stiftung annehmen zu wollen, die 
den ausdrücklichen Zweck hat, nach Ihrem Ermessen alles Dien- 
liche zur Vorbereitung und Durchführung einer Ausgabe Ihrer 
gesammelten Abhandlungen zu ermöglichen und zu befördern. 
Sehen Sie, hochverehrter Herr Geheimrat, in unserer Bitte die 
Lebhaftigkeit unseres Wunsches, daß Ihre Schöpfungen, die 
uns zu einer so reichen Quelle der Belehrung und des Ge- 
nusses geworden sind, in dem Gesamtrahmen der mathe- 
matischen Literatur auch äußerlich die ihnen ge- 
bührende Stellung gewinnen, daß sie künftigen 
Generationen leichter zugänglich werden 
und damit die ihnen innewohnende Kraft 
und Wirksamkeit für die fernere 
Fortentwicklung unserer Wis- 
senschaft noch sicherer 
zur Geltung 
bringen. 


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BULLET TITLE TITEL TTTTTTTTTTITTTTTTTTTTITTTTTTTTTTTTTT ET TTTTTT TIP TTTTTTTTTTTETTTTTTTTTTTTTTTTTTTTT TI TTT 


INHALTSVERZEICHNIS DES ERSTEN BANDES’) 


Seite 

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Btiftungsurkunde.. .- - - 2. : une nenn A 3: 

Zur Liniengeometrie. 
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I. Über die Transformation der allgemeinen Gleichung des zweiten Grades 

zwischen Linienkoordinaten auf eine kanonische Form (1868) ... 5 

Zu den folgenden liniengeometrischen Arbeiten ..... ce... . 50 


II. Zur Theorie der Linienkomplexe des ersten und zweiten Grades (1869--70) 53 
Ill. Die allgemeine lineare Transformation der Linienkoordinaten (1869-70) 81 
IV. Über Abbildung der Komplexflächen vierter Ordnung und vierter 


Kiss tEBae 22000: 5 a a ae ee 87 

V. Eine Abbildung des Linienkomplexes zweiten Grades auf den Punkt- 
ER EHE 89 

VI. (Zusammen mit S. Lie.) Über die Haupttangentenkurven der Kumme er- 
schen Fläche vierten Grades mit 16 Knotenpunkten (1870) . .. 

VII. Über einen Satz aus der Theorie der Linienkomplexe, weicher dem 
Dupinschen Theorem entspricht (1871). . » ». 2». 22... 0.. 98 
VIII. Über Liniengeometrie und metrische Geometrie (1871-72) . » ... - 106 

IX. Über gewisse in der Liniengeometrie auftretende Differentialgleichungen 
DE ae re ee re ee 127 
X. Über einen liniengeometrischen Satz (1872)... . 2: 2.2.2... 153 
XI. Über die Plückersche Komplexfläche (1873-74) . . » 2.2.2... 160 

XII. Über Konfigurationen, welche der Kummerschen Fläche zugleich ein- 
geschrieben und umgeschrieben sind (1885) . » » ........ 164 

X1II. Zur geometrischen Deutung des Abelschen Theorems der hyperellip- 
EEE ENEREO LEBBO) en en 0 re ae ne 200 

XIV. Notiz, betreffend den Zusammenhang der Liniengeometrie mit der Mechanik 
EEE EEE IND ee ee ea ee 226 


Zur Grundlegung der Geometrie. 


Vorbemerkungen zu den Arbeiten über die Grundlagen der Geometrie 241 
XV. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie (Vorl. Mitt.) (1871) 244 
XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie (erster Aufsatz) (1871) 254 


XVII. Über einen Satz aus der Analysis Situs (1872) .. 2.2... 306 
XVIII. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie (zweiter Aufsatz) 
atyy en. 1 N N a N er 311 
XIX. Nachtrag zu dem „zweiten Aufsatz über Nicht- Euklidische Geometrie“ 
BE seen ed ET RETTEN U 





!) Wo zwei Jahreszahlen beigesetzt sind, bezieht sich die eine auf die Datierung 
der Arbeit, die andere auf die des betrefienden Zeitschriftbandes. 


XXV. 


XXVI 


XXVI. 


XXVI. 
XXIX. 
XXX. 
XXXI. 
XXXI. 


XXXIIL 


. Zar Nicht-Euklidischen Geometrie (1890) 
. Gutachten, betreffend den dritten Band der Theorie der Transforma- 


Inhaltsverzeichnis. 


Über die geometrische Definition der Projektivität auf den Grund- 
gebilden erster Stufe (1880) . 


tionsgruppen von S. Lie anläßlich der ersten Verteilung des Loba- 
tschewsky-Preises (1897) 


. Zur Interpretation der komplexen Elemente in der Geometrie (1872) 
. Eine Übertragung des Pascalschen Satzes auf Raumgeometrie (1873) 


Zum Erlanger Programm. 


Zur Entstehung der Abhandlungen XXV—XXXII 
(Zusammen mit S. Lie.) Deux notes sur une certaine famille de courbes 
et de surfaces (1870) 
(Zusammen mit $. Lie.) Über diejenigen ebenen Kurven, welche durch 
ein geschlossenes System von einfach unendlich vielen vertausch- 
baren linearen Transformationen in sich übergehen (1871). . 
Vergleichende Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen 


ee Wan a DESK WERL FRE Mash DEE TEE SWEET ame: So SE Sorız SEHE Sue ER Kar 


(Das Ielanger Progsamm.) (1879) 2... 2.2.0000. 
Autographierte Vorlesungshefte (Höhere Geometrie) (1894) . ... . 
Zur Schraubentheorie von Sir Robert Ball (1901-02). ...... 


Über die geometrischen Grundlagen der Lorentzgruppe (1910) ... . 
Zu Hilberts erster Note über die Grundlagen der Physik (1917—18) 
Über die Differentialgesetze für die Erhaltung von Impuls und Energie 
in der Einsteinschen Gravitationstheorie (1918) 
Über die Integralform der Erhaltungssätze und die Theorie der räumlich 
geschlossenen Welt (1918) .. . 


DE U u er Te De WE ae a RE a SER Ze 


Seite 


351 
353 


384 


Zur Liniengeometrie. 





2 








. Zur Dissertation. 


Vielleicht darf ich einige Bemerkungen über die Entstehung meiner Dissertation 
vorausschicken. — Ich war seit Ostern 1866 Assistent bei Plücker bis zu seinem 
Tode am 22. Mai 1868. Plücker beschäftigte sich damals neben seiner Vorlesung 
über Experimentalphysik mit der Ausarbeitung seiner „Neuen Geometrie des Raumes, 
gegründet auf die Betrachtung der geraden Linie als Raumelement“ (Leipzig, 
B. G. Teubner, Teil I 1868, Teil II 1869). Ich hatte nicht nur bei der Vorlesung 
zu helfen, sondern auch bei der Vorbereitung und Redaktion des genannten Werkes. 
Einiges hierüber wird noch in Bd. II dieser Ausgabe meiner Abhandlungen anzu- 
geben sein. Als Plücker starb, war im wesentlichen nur erst die erste Hälfte des 
Werkes im Druck vollendet, die dann nach dem Wunsche der Verlagsbuchhandlung 
von Clebsch herausgegeben wurde. Ich kam so mit Clebsch in persönliche Ver- 
bindung, der mich insbesondere auf die Arbeiten von Battaglini aufmerksam machte. 
Battaglini hatte nicht nur die Theorie der Komplexe ersten Grades, sondern 
auch die der Komplexe zweiten Grades bereits in Angriff genommen (s. bes. 
Atti della R. Accademia di Napoli, III, 1866). Es wurde mir nicht ganz leicht, von 
den mehr elementaren Methoden der Plückerschen Darstellung zu dem konsequenten 
Verfahren der projektiven Koordinaten überzugehen, wie es von Battaglini gehand- 
habt wurde. Das Studium der Lehrbücher von Salmon-Fiedler und mancher 
Originalabhandlung half mir über diese Schwierigkeit weg. Ich bemerkte dann aber 
bald, daß die von Battaglini zugrunde gelegte kanonische Form der Komplexe 
zweiten Grades nicht die allgemeine sein konnte'). Damit hatte ich das Thema, aus 
dem ich hoffte, eine Dissertation gestalten zu können, nämlich die Herstellung einer 
wirklich allgemeinen kanonischen Form. Die simultane Reduktion zweier quadra- 
tischer Formen von beliebig vielen Variabeln auf Aggregate bloß quadratischer 
Glieder, — das verallgemeinerte Hauptachsenproblem — war mir natürlich bekannt. 
Aber es hat lange gedauert, bis ich sie, wie in der Dissertation geschieht, als Durch- 





!) Vgl. die erste der a. S. 49 abgedruckten Doktorthesen. — Battaglini setzt 
(wenn ich die Bezeichnungen meiner Dissertation gebrauchen darf) & und P von 
vornherein in der kanonischen Form an 


Q= Sa,pt, P= D)PuPurs 


Da man auf das einzelne Koordinatenstystem 15 Konstante zu rechnen hat, die sechs 
Größen a, aber nur ihren Verhältnissen nach in Betracht kommen, so hat man scheinbar 
20 Konstante zur Verfügung, so daß der von 19 Konstanten abhängige allgemeine 
Komplex zweiten Grades jedenfalls umfaßt zu werden scheint. Aber die voraus- 
gesetzte Gleichungsform bleibt, wie ich bemerkte, ungeändert, wenn man unter Ein- 
führung dreier beliebiger Größen /, «, » für die p, folgende andere Variable setzt: 


1 1 . 
pı=Ap, PA=7P5 Pi=up. Ps =, Ps; P=rPn DD 


Sie enthält also in Wirklichkeit nur 17 wesentliche Konstante. 
1* 


4 Zur Liniengeometrie. 


gangspunkt benutzte, ich habe zunächst immer wieder versucht, nach Analogie des 
Hauptachsenproblems einen Ansatz zu finden, bei welchem die Form P= BR? #., 


auch zwischendurch ihre ursprüngliche Gestalt behielt. Nachdem ich im September 1868 
(gelegentlich eines Aufenthalts in meiner Vaterstadt Düsseldorf) den richtigen Ge- 
danken gefaßt hatte, habe ich ihn rasch ausgearbeitet und meinem verehrten Lehrer 
Lipschitz, der mich zu examinieren hatte, vorgelegt. Ich hatte dabei, wie es da- 
mals bei geometrischen Untersuchungen üblich war, nur erst den einfachsten (freilich 
auch interessantesten) Fall berücksichtigt, wo die Determinante von Q-+AP, gleich 
Null gesetzt, für A sechs verschiedene Wurzeln ergibt. Dementgegen verlangte Lip- 
schitz, daß ich alle anderen, mehr speziellen Fälle, mit berücksichtigen solle, und 
gab mir zugleich die Korrekturbogen der eben noch im Druck befindlichen Arbeit 
von Weierstraß: Zur Theorie der quadratischen und bilinearen Formen (Monats- 
berichte der Berliner Akademie vom Mai 1868), in der die für diesen Zweck erforder- 
liche Theorie der „Elementarteiler* zum ersten Male in voller Allgemeinheit ent- 
wickelt it. Es wurde mir nicht schwer, diese Theorie in wenigen Tagen einzuar- 
beiten, womit meine Dissertation die Form erhielt, in der sie jetzt vorliegt. Ich bin 
dabei, wie ich im Hinblick auf meine späteren Untersuchungen hervorheben möchte, 
gleich in zweierlei Richtung über die Weierstraßschen Entwickelungen hinausge- 
gangen, indem ich einmal darlegte, welche Möglichkeiten hinsichtlich der Realität 
der Transformation jeweils vorliegen (natürlich vorausgesetzt, daß Q von Haus aus 
reelle Koeffizienten hat), andererseits aber untersuchte, wie viele Parameter bei der 
Transformation jeweils verfügbar bleiben (welche kontinuierliche Gruppe linearer 
Transformationen die einzelne kanonische Form in sich selbst überführt). 

Es hat übrigens immer meiner Denkweise entsprochen, die besonderen Fälle, 
wo die Wurzeln der determinierenden Gleichung |Q +4 P!=0 nicht sämtlich von- 
einander verschieden sind, als Ausartungen aufzufassen; ich habe das sehr viel 
später einmal in einer Vorlesung für den Fall von fünf Variablen auseinandergesetzt, 
worüber das Buch von Böcher über die Reihenentwickelungen der Potentialtheorie 
(B.G.Teubner, 1894), S.56, 57 zu vergleichen ist. Dies schließt nicht aus, daß eine genaue 
Untersuchung der Spezialfälle mir wünschenswert schien. So ist 1873, als ich schon in 
Erlangen war, die Dissertation von A.Weiler entstanden (Math. Ann. Bd.7), an die sich 
dann in bekannter Weise die Arbeiten von Segre und Loria und anderen For- 
schern angeschlossen haben. Siehe, was insbesondere Liniengeometrie und die von 
mir untersuchten Konfigurationen angeht, die bezüglichen Referate von Zindler und 
Steinitz in Bd. III der Mathematischen Enzyklopädie. K. 


I. Über die Transformation 
der allgemeinen Gleichung des zweiten Grades zwischen 
Linien-Koordinaten auf eine kanonische Form. 


[Inauguraldissertation, Bonn 1868. Wiederabgedruckt mit kleinen Änderungen 
und Zusätzen in den Math. Ann., Bd. 23 (1884).] 


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Ueber 


die Transformation 


der allgemeinen Gleichung des zweiten Grades 


zwischen Linien-Coordinaten 


auf eine eanonische Form. 





Inauguraldissertation, 


zur Erlangung der Doctorwürde bei der philosophischen 
Facultät zu Bonn eingereicht 


und am 12. December 1868 mit Thesen vertheidigt 


von 


Felix Klein. 


Namen der Opponenten: 


Emil Budde, Dr. phil. 
Ernst Sagorski, cand. phil. 
Johannes Seeger, Dd. phil. 





Bonn. 


Druck von Carl Georgi. 













































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rn er 5 E « i 





Seinem unvergesslichen Lehrer 


Julius Pluecker 


in dankbarer Erinnerung 


der Verfasser. 


Ein Linienkomplex des n-ten Grades umfaßt eine dreifach unendliche 
Anzahl gerader Linien, welche im Raume in einer solchen Art verteilt 
sind, daß diejenigen geraden Linien, welche durch einen festen Punkt gehen, 
einen Kegel der n-ten Ordnung bilden, oder, was dasselbe sagt, daß die- 
jenigen geraden Linien, welche in einer festen Ebene liegen, eine Kurve 
der n-ten Klasse umhüllen. 


Seine analytische Darstellung findet ein derartiges Gebilde durch die 
von Plücker in die Wissenschaft eingeführten Koordinaten der geraden 
Linie im Raume?). Nach Plücker erhält die gerade Linie sechs homogene 
Koordinaten, welche eine Bedingungsgleichung zweiten Grades erfüllen. 
Vermöge derselben wird die gerade Linie mit Bezug auf ein Koordinaten- 
tetraeder bestimmt. Eine homogene Gleichung des n-ten Grades zwischen 
“diesen Koordinaten stellt einen Komplex des n-ten Grades dar. 


In dem Folgenden ist es unsere Absicht, die Gleichung des zweiten 
Grades zwischen Linienkoordinaten, einer Verwandlung des Koordinaten- 
tetraeders entsprechend, auf eine kanonische Form zu transformieren. Wir 
geben zunächst die allgemeinen Formeln, welche bei einer derartigen Trans- 
formation überhaupt in Anwendung kommen. Auf Grund derselben behandelt 
sich das Problem algebraisch als die simultane lineare Transformation der 
Komplexgleichung auf eine kanonische Gestalt und der Bedingungsgleichung 
des zweiten Grades, welcher die Linienkoordinaten genügen müssen, in sich 
selbst. Bei dar Durchführung dieser Transformation gelangen wir insbe- 
sondere zu einer Einteilung der Komplexe zweiten Grades in unterschiedene 


Arten. 





!) Proceedings of the Royal Soc. 1865; Phil. Transaetions 1865, p. 725, über- 
setzt in Liouv. Journal, 2. Serie, t. XI; Les Mondes, par Moigno, 1867, p. 79; Annali 
di matematica, Ser. II, t. 1 [siehe den Wiederabdruck in den Gesammelten Abhand- 
lungen von J. Plücker, Bd. I, herausgegeben von A. Schoenfließ]; Neue Geometrie 
des Raumes, gegründet auf die Betrachtung der geraden Linie als Raumelement, 
erste Abteilung, Leipzig 1868, bei B. G. Teubner. 


12 Zur Liniengeometrie. 
1. 
Über Linienkoordinaten im allgemeinen. 


1. Wenn wir die homogenen Koordinaten zweier, beliebig auf einer 
gegebenen geraden Linie angenommener Punkte bezüglich mit 
ER ER - 
2 4 1 2 3274 
Yı > Ya» Y3> Y%ı 


bezeichnen, so erhält die gegebene gerade Linie, welche geometrisch als 
Verbindungslinie der beiden Punkte (x) und (y) bestimmt ist, die folgenden 
sechs, ebenfalls homogenen Koordinaten: 


Pı = %ı Ya — %aYı > Pı = %Y — UuYs > 
(1) Pa = %ı Ya 7% Yı > P, = 2%, Ya — %oYı > 
P; = %,Yy, 0 UYıo Peg = YaYz — %aYa- 


Es sind dies die aus den Elementen 

T X Tz T, 

Yı Ya :% % 
gebildeten sechs Determinanten zweiten Grades, mit einem derartigen Zeichen 
genommen, daß eine Vertikalreihe der Elemente (in unserer Annahme die 
erste) ausgezeichnet auftritt. 

Zufolge der Determinantenform behalten die sechs gewählten Koordi- 
naten dieselben relativen Werte, wenn wir an die Stelle der angenommenen 
beiden Punkte (x) und (y) irgend zwei andere Punkte der gegebenen ge- 
raden Linie setzen. Denn die Koordinaten eines beliebigen solchen Punktes 
lassen sich auf die Form bringen: 


12, ty. HA + uYı: 


wo 4, u näher zu bestimmende Konstanten bezeichnen, und die Substitution 
solcher Größen an Stelle der x und y in die für die Koordinaten 9 ge- 
gebenen Ausdrücke liefert, wie sich sofort ergibt, Multipla der für die p 
ursprünglich erhaltenen Werte. 

Die sechs Koordinaten p befriedigen identisch die folgende Relation des 
zweiten Grades: 


PZAAM FT FAR U 


welche wir auch so schreiben können: 


DDr Durs = 0, 


indem wir den Index x von 1 bis 3, oder auch von 1 bis 6 laufen lassen, 


I. Dissertation: Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grade. 13 


und dabei unter «-++ 3 diejenige Zahl verstehen, welche in der kontinuier- 
lichen Reihenfolge: 
23 .4,.:37051,2,.., 


die («+ 3). Stelle einnimmt. 

Vermöge dieser Relation, welcher die sechs homogenen Koordinaten p 
genügen, vertreten dieselben die zu der Bestimmung einer geraden Linie 
notwendigen vier Konstanten. 

Für die Gleichungen derjenigen vier Ebenen (Projektionsebenen), welche 
sich durch die vermöge der beiden Punkte (z) und (y) bestimmte gerade 
Linie und bezüglich die vier Eckpunkte des Koordinatentetraeders hindurch- 
legen lassen, erhalten wir die folgenden: 


9%+93 4m, — 0; 
P,2ı — Pa + 94 = 0; 
P5 ?, re P3?% — Pı%4 — 0, 
| Po?%ı — Pa?2 + Pı% = 0, 


wo wir mit 2,,...,2, laufende Punktkoordinaten bezeichnen. Es sind somit 
die Koordinaten p die in die Gleichungen der vier Projektionsebenen ein- 
gehenden Konstanten. Die Gleichung: 


P=0 


drückt aus, daß sich die fraglichen vier Ebenen nach derselben geraden 
Linie schneiden. Sie ist also nicht nur die notwendige, sondern auch die 
hinreichende Bedingung, damit sechs beliebig ausgewählte Größen: 


Pı> Pa; ee Ps 
als Linienkoordinaten betrachtet werden können. Die geometrische Kon- 
struktion der durch sie bestimmten geraden Linie wird durch zwei beliebige 
unabhängige der Ebenen (2) vermittelt. 

Der Koordinatenbestimmung (1) liegt das Prinzip zugrunde, die in die 
Gleichungen der geraden Linie in Punktkoordinaten (2) eingehenden Kon- 
stanten als Bestimmungsstücke derselben zu betrachten, und dieselben durch 
die Koordinaten einer Anzahl von Punkten der geraden Linie darzustellen, 
welche erforderlich und hinreichend ist, um die letztere geometrisch zu 
definieren. 

2. In dem Vorstehenden haben wir die gerade Linie durch zwei ihrer 
Punkte bestimmt. Wir betrachten in dieser Bestimmungsweise die gerade 
Linie als einen Ort von Punkten, als einen Strahl. Auf vollständig ent- 
sprechende Weise können wir die gerade Linie durch zwei ihrer Ebenen be- 
stimmen und betrachten sie dann als von Ebenen umhüllt, als eine Achse?). 


(2) | 








?®) Vgl. Plückers „Neue Geometrie“, S. 2. 


14 Zur Liniengeometrie. 


Zwei beliebige Ebenen (t) und (u) der gegebenen geraden Linie seien 
durch die Koordinaten bestimmt: 


und 
RE 


Dann erhalten wir, ganz dem Früheren entsprechend, als Koordinaten der 
gegebenen geraden Linie die folgenden sechs Ausdrücke: 


bug — bal,; ,=bu — UUs, 
(3) Gubu — U, y;—=hUu— bu, 
; =tu, — U; I: — laUg — bzUg, 


welche die folgende Gleichung: 
= Na lers 0 


identisch befriedigen. Den vier Gleichungen (2) entsprechend erhalten wir 
für die Durchschnittspunkte der durch die Ebenen (£) und (%) bestimmten 
geraden Linie mit den vier Seitenflächen des Tetraeders die folgenden vier 
Gleichungen: 
4 ty +, — 0, 
vr, 4% 49%, —=0, 

;%, +5%—- 1, —0, 
Bu eBratny—d, 


(4) 








WO %,,...,®, laufende Ebenenkoordinaten bedeuten. 

Wenn sich die Strahlenkoordinaten p und die Achsenkoordinaten q 
auf dieselbe gerade Linie beziehen, so hat man zwischen denselben die 
folgenden Proportionen: 


Ja 95 96 9ı 92 93 
Die Richtigkeit dieser Beziehungen ergibt sich sofort, wenn wir die Größen gq 
aus den Koordinaten zweier Ebenen (2), oder die Größen p aus den Koordi- 
naten zweier Punkte (4) bilden. 

Die Koordinaten p sind also von den Koordinaten g nur durch dıe 
Anordnung verschieden. Ihrer doppelten geometrischen Bedeutung ent- 
sprechend, wird die gerade Linie durch dieselben sechs Größen dargestellt. 
Es ist das kein geringer Vorteil der Plückerschen Koordinatenwahl. 

3. Wir wollen die vier Eckpunkte des Koordinatentetraeders mit 


DO; O,; O5, 0, 
und die vier gegenüberstehenden Seitenflächen desselben mit 


E,; E,, E;, E, 


(5) RN. mM Bo 


1. Dissertation: Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grades. 15 


bezeichnen. Dann sind die sechs Kanten des Tetraeders durch die folgenden 
Verbindungen der Zeichen O bzw. E bestimmt: 


09. 00.00.00. 00,.:00, 
EEE ER E58 mE 50 5%, 


Von den sechs Koordinaten einer Kante des Koordinatentetraeders ver- 
schwinden fünf, und nur die sechste behält einen endlichen Wert. Es ergibt 
sich das sofort, wenn wir in die Ausdrücke (1) oder (3) die Koordinaten 
zweier Eckpunkte bzw. zweier Seitenflächen des Tetraeders substituieren. 
Wir wollen, in der vorstehenden Reihenfolge, die Kanten des Koordinaten- 
tetraeders mit 
| pP, Pr Pr P, P,; BR, 


Q,; Q,; 9: o; Q,: Q; 


bezeichnen. Dann verschwinden für eine beliebigausgewählte Kante(P,=Q,:3) 
alle Koordinaten bis auf diejenige, welche wir mit 9, = g,+3 bezeichnet haben. 

Die Gruppierung der Tetraederkanten unter sich ist dadurch bestimmt, 
daß sich P,,P,, P,(Q,,Q,; 95) in einem Punkte schneiden, während 
P,,P,, P, (Q,: 9; Q;) In einer Ebene liegen. 

Der Kürze wegen werden wir in dem Folgenden nur von der in- 
dependenten Darstellung der Linienkoordinaten durch Punktkoordinaten 
Gebrauch machen, und die jedesmal vollständig analogen (reziproken) Ent- 
wicklungen, welche sich an die Darstellung derselben durch Ebenenkoor- 
dinaten anknüpfen, nicht immer wieder ausdrücklich hervorheben. Wir be- 
dienen uns daher in der Folge auch nur der Bezeichnung » für Linien- 
koordinaten, wenn auch die Beibehaltung der Koordinaten g neben den 
Koordinaten p manche Formeln übersichtlicher zu schreiben erlaubt. 

4. Damit sich zwei gegebene gerade Linien (p) und (9’) schneiden, 
müssen ihre Koordinaten die folgende Gleichung befriedigen: 


(6) Dr Dar 0. 


Denn es seien die beiden geraden Linien (p) und (9) bezüglich durch 
die beiden Punkte (a), (b) und (c), (d) bestimmt. Wenn wir dann in 
die vorstehende Gleichung für die Koordinaten 9, p’ ihre Werte aus (1) 
in den Koordinaten dieser Punkte einsetzen, so erhalten wir: 


PH-- a,b,c,d, =. 
Das Verschwinden dieser Determinante ist die Bedingung dafür, daß die 
vier Punkte (a), (b), (c), (d) in einer Ebene liegen; und also schneiden 
sich die beiden geraden Linien (a,b) und (c, d)°). 


oder mit 


®) Vgl. den Aufsatz von Lüroth: Zur Theorie der windschiefen Flächen, Crelles 
Journal, Bd. 67 (1867), S. 130. 


16 Zur Liniengeometrie. 


Wenn wir in der Gleichung (6): 
PH? : Pr+3 —( 


die p},;3 als fest, die p, als veränderlich betrachten, so stellt sie die Ge- 
samtheit aller derjenigen geraden Linien dar, welche die feste gerade Linie ( 7’) 
schneiden. Insbesondere also genügen der Gleichung: 


Pı«+3 = 0 


die Koordinaten aller derjenigen geraden Linien, welche die Tetraeder- 
kante P, schneiden. Wenn für die Kante P, selbst alle Koordinaten bis 
auf die eine, 9,, verschwinden, so ist damit ausgedrückt, daß sie alle 
Tetraederkanten bis auf die ihr gegenüberliegende schneidet. 

Wenn drei gerade Linier (9), (p’), (p”) einander gegenseitig schneiden, 
so besteht zwischen den Koordinaten je zweier derselben eine Gleichung 
von der Form (6). Dabei gehen die drei geraden Linien entweder durch 
einen Punkt oder liegen in einer Ebene. Das Kriterium für den ersten 
oder zweiten Fall bildet das Verschwinden des zweiten oder ersten Faktors 
des unter der gemachten Annahme immer verschwindenden Produktes: 


PETRRHDIETN AH 
und der ähnlich gebildeten Produkte, welche sich aus dem Vorstehenden 
durch Vertauschung von jedesmal zwei der Indizes 1, 2, 3 mit den ent-- 
sprechenden 4, 5, 6 ergeben. 

Den Beweis liefert die Betrachtung der Gleichungen (2) und (4). 
Wenn sich drei Linien in einem Punkte schneiden, so haben diejenigen 
drei Ebenen, welche sich durch einen Eckpunkt des Koordinatentetraeders 
und jedesmal eine der gegebenen geraden Linien hindurchlegen lassen, eine 
gerade Linie gemein, und umgekehrt, wenn drei Linien in einer Ebene 
liegen, so sind diejenigen drei Punkte, in welchen eine Seitenfläche des 
Koordinas5entetraeders von den gegebenen geraden Linien geschnitten wird, 
in gerader Linie. 

5. Wir können den sechs Variabeln p, immer unter der Voraussetzung, 
daß die Bedingungsgleichung 


DD ER En 0 
erfüllt sei, imaginäre Werte erteilen. Sei also: 
Pr = Pu + iPpr 
Wir betrachten die Größen p, als die Koordinaten einer imaginären 


geraden Linie. Diese rein formelle Definition führt zu der folgenden geo- 
metrischen. Nach der Gleichung (6) der 4. Nummer wird die gegebene 


I. Dissertation: Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grades, 17 


imaginäre gerade Linie, sowie die konjugiert imaginäre von allen reellen 
geraden Linien geschnitten, deren Koordinaten die folgenden beiden linearen 
Bedingungsgleichungen befriedigen: 


DDr Ders = 0, D-Dur = 0. 


Durch vier beliebige unter den Linien, deren Koordinaten diesen beiden 
Gleichungen genügen‘), sind die beiden Gleichungen, oder vielmehr ist die 
von denselben gebildete zweigliedrige Gruppe: 


DI Up, + up!) Durs = 0 


x 


bestimmt (außer, wenn die angenommenen vier geraden Linien derselben 
‚Erzeugung eines Hyperboloids angehören). Eine imaginäre gerade Linie 
und ihre konjugierte sind somit geometrisch als die beiden geradlinigen 
Transversalen vier reeller gerader Linien gegeben. 

Es stimmt das mit der Definition, welche die neuere synthetische 
Geometrie für die imaginäre gerade Linie im Raume aufstellt, überein. 

Im allgemeinen besitzt eine imaginäre gerade Linie keinen reellen 
Punkt und keine reelle Ebene. Nur wenn sich die gegebene imaginäre 
gerade Linie und ihre konjugierte schneiden, ist beiden ein reeller Punkt 
und eine reelle Ebene gemeinsam. Die imaginäre gerade Linie wird dann 
von allen reellen Linien geschnitten, welche durch diesen Punkt gehen, 
bezüglich in dieser Ebene liegen. Sie ist nicht mehr durch vier ihrer 
reellen geradlinigen Transversalen bestimmt. Man definiere sie geometrisch 
durch den reellen Punkt, die reelle Ebene und einen von dem reellen 
Punkte ausgehenden Kegel der zweiten Ordnung, oder eine in der reellen 
Ebene liegende Kurve der zweiten Klasse. 


ir. 


Transformation der Linienkoordinaten, entsprechend einer Verwandlung 
Ä des Koordinatentetraeders. 


6. In dem Folgenden stellen wir zunächst diejenigen Transformations- 
formeln für Linienkoordinaten auf, welche einer Verwandlung des Koor- 
dinatentetraeders, oder, was dasselbe sagt, der linearen Transformation von 
Punkt- oder Ebenenkoordinaten entsprechen °). 





*) Das System solcher geraden Linien findet man insbesondere betrachtet in dem 
Aufsatze von 0. Hermes: Über Strahlensysteme der ersten Ordnung und der ersten 
Klasse. Crelles Journal, Bd. 67 (1867), S. 153. 

5) Man vergleiche die beiden Aufsätze von Battaglini: 

Intorno ai sistemi di rette di primo ordine; Rendiconti della R. Accademia di 
Napoli, Giugno 1866; 

Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 2 


18 Zur Liniengeometrie. 


Diese Transformationsformeln werden linear. Sie würden ihren linearen 
Charakter verlieren, wenn statt der sechs homogenen Koordinaten, welche 
eine Bedingungsgleichung befriedigen, deren nur fünf unabhängige genommen 
worden wären, wie sie zur Bestimmung einer geraden Linie ausreichen. — 
Wir gelangen im folgenden zu dem Resultate, daß die in Rede stehenden 
linearen Substitutionen die allgemeinen sind, durch welche der Ausdruck: 


= pr Pr +3 


in ein Multiplum seiner selbst übergeführt wird. 

Der vorstehende Satz bedarf noch der folgenden Bestimmung. Es sei 
eine lineare Substitution gegeben, welche den Ausdruck P in ein Multiplum 
seiner selbst überführt. Unter den sechs neuen Veränderlichen können wir 
diejenige frei auswählen, welcher wir den Namen p, geben wollen. Dann 
ist die Veränderliche p, zugleich mit bestimmt. Wir können ferner p, 
ohne weiteres unter den noch übrigen vier Veränderlichen annehmen; dann ist 
p, gegeben. Welche von den zwei noch übrigen Variabeln p, und welche p, 
zu nennen sei, bleibt aber nicht mehr willkürlich. Denn diejenige Kante 
des neuen Tetraeders, auf welche sich das neue p, bezieht, schneidet die 
beiden Kanten, welche den neuen p, und 7», entsprechen, in einem Punkte 
und ist also eindeutig bestimmt. (Nr. 3). Nur unter der Voraussetzung, 
daß p, demgemäß ausgewählt sei, gelten die Ausdrücke der Linienkoor- 
dinaten in den Koordinaten zweier Punkte, bzw. zweier Ebenen, wie sie 
unter (1) und (3) gegeben worden sind. 

Es sei nun, unter x,, y, Punktkoordinaten verstanden, 


> 
’ 
I, = > 1, 
x 
D 
ser &,.." Yı> 
L\ % 


eine allgemeine lineare Substitution, wie sie einer beliebigen Verwandlung 
des Koordiratentetraeders entspricht. Die Substitutionskoeffizienten «,,; 
stellen dabei die Koordinaten der Seitenflächen des früheren Tetraeders mit 
Bezug auf das neue dar; wie sich ergibt, wenn wir x, (y,) verschwinden lassen. 

Durch Einsetzen dieser Werte für x,, y, in die durch (1) gegebenen 
Ausdrücke für die Linienkoordinaten p erhalten wir die gesuchten Formeln. 
Die in dieselben eingehenden Substitutionskoeffizienten erhalten .die De- 
terminantenform: 


(7) | 





u, u,» — buy u 





Intorno ai sistemi di rette di secondo grado; Atti della R. Accademia di Napoli, 
3, 1866. 

Beide Aufsätze finden sich wieder abgedruckt: Giornale di Matematiche, Napoli, 
Bd. 6, 7 (1868, 1869). 


I. Dissertation: Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grades. 19 


und stellen also, geometrisch gedeutet, die Koordinaten der Kanten des 
früheren Tetraeders mit Bezug auf das neue dar, in einer solchen Größe 
genommen, wie sich dieselben unter Zugrundelegung der Formeln (3) aus 
den Koordinaten «,; der Seitenflächen des früheren Tetraeders mit Bezug 
auf das neue ergeben. Indem wir dieselben mit a,, bezeichnen, je nachdem 
sie zu einer Kante P,, gehören und unter den Koordinaten dieser Kante, 
wenn wir dieselben in der unter (1) festgesetzten Reihenfolge schreiben, 
die A-te Stelle einnehmen, werden die gesuchten Transformationsformeln: 


(8) Px = DD Qur3,143° Ph. 
k 


Denn verlangen wir, daß p, verschwinde, das heißt, daß die gerade Linie 
(p, p') die Kante P,;s schneide, so ist dafür, nach der vierten Nummer, 
das Verschwinden des Ausdrucks: 


Nase e pi 
1 
die Bedingung. 


7. Durch die Substitution (8) wird der Ausdruck: 
2 == ER Px' Px+3 
in ein Multiplum des entsprechenden: 


P'= Dr pr Pr+3 
übergeführt. Wenn wir den ersten Ausdruck aus (8) bilden und mit dem 
zweiten vergleichen, so erhalten. wir eine Reihe von Relationen für die 
Koeffizienten a, welcher dieselben, vermöge ihrer Darstellung durch die 
Koeffizienten «, identisch genügen. 

Die wirkliche Entwicklung des Ausdruckes P nach den 7’ liefert in 
diesen Variabeln ein Polynom des zweiten Grades mit 21 Gliedern. Die 
Koeffizienten von 18 dieser Glieder müssen verschwinden, die der übrigen 
drei unter sich gleich werden. Die 36 Größen @ sind somit 20 Bedingungen 
unterworfen und deshalb durch die 16 Größen « independent darstellbar. 
Nach diesen Zahlenverhältnissen kommt es auf dasselbe hinaus, ob wir den 
Ausdruck der Linienkoordinaten durch Punkt- (oder Ebenen-) Koordinaten 
zugrunde legen und diese letzteren linear transformieren, oder ob wir die 
Linienkoordinaten selbst unmittelbar linear transformieren und bedingen, 
daß dabei der Ausdruck: 


P= 3 9,.-Purı 


in ein Vielfaches seiner selbst übergehe. Die volle Bestätigung dieser Aus- 
sage finden wir in der geometrischen Deutung der Bedingungen, welchen 
2* 


20 Zur Liniengeometrie. 


die Substitutionskoeffizienten a zufolge der letzten Beschränkung unter- 
worfen sind. Nur in der Benennung der neuen Veränderlichen muß, nach 
der vorigen Numer, eine feste Regel beobachtet werden. 

8. Sei also: 


(9) pP. = BET: 2 


eine lineare Substitution, durch welche der Ausdruck: 
P= N r- Dass 
in ein Multiplum seiner selbst übergeführt wird. Dann gelten für die 
Koeffizienten b zunächst die folgenden Relationen: 
(10) bus denu=0 (u=1,2,4,5,6), 


“ 


(11) burn bus =d, 


wo d eine willkürlich zu bestimmende Konstante bezeichnet. 
Zufolge der Beziehungen (10) verschwinden die folgenden beiden 
Produkte: 


ee: 6.129033 ee b;ı Dua des 
> = bu Das das =. ns bu by; Dos: 


Denn die Entwicklung dieser Produkte nach dem Multiplikationstheorem 
der Determinanten liefert eine neue dreigliedrige Determinante, für deren 
Elemente (x, A) das Gesetz gilt: 


(x,4)+(4,2)=0. 


Wir fügen nun den Bedingungen (10) und (11) die weitere hinzu, daß 
die beiden vorstehenden Produkte darum verschwinden, weil die beiden 
Faktoren. 


und 


e 
> un 6,1 052003: De = bu ba; Das 


gleich Null sind. Und dementsprechend sollen die ähnlich gebildeten 
Determinanten verschwinden, welche sich aus den vorstehenden durch Ver- 
tauschung von jedesmal zwei der ersten oder zweiten Indizes 1,2,3 mit 
den entsprechenden 4, 5, 6 ergeben. Diese Bedingungen beschränken durch- 
aus nicht die relative Größe der Koeffizienten b, sondern nur die Will- 
kürlichkeit in deren Reihenfolge. | 

Die Auflösung der Substitutionen (9) wird unter Zuziehung der Be- 
dingungsgleichungen (10) die folgende: 


(12) bu bin — Sb, 2; 


I. Dissertation: Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grades. 21 


oder, unter Berücksichtigung der Gleichungen (11): 
(13) d-p= Ib. Pr 


Indem wir von (13) zu (9) zurückgehen, ergeben sich, den Formeln (10) 
entsprechend, die folgenden: 


(14) Dbr.nrs dern, a = 0 (v1, 2, 4, d, 6). 
3 


Wenn wir die Substitutionsdeterminante 2 + bi,1ba,2... de,s mit D, 
die einem beliebigen Elemente b,,, zugehörige Unterdeterminante derselben, 
wie überhaupt im folgenden die Unterdeterminanten, durch die beiden 
Indizes x, A (D,,;) bezeichnen und dabei das Vorzeichen richtig bestimmen: 


((— 1)**”), so folgt aus den Auflösungen (12) der Gleichungen (9): 
Du. D Du 1407 Dars.a DB: D. 


1 
Diese Formel bleibt für jeden Index x und jeden Index 4 gültig. Es 
findet sich also, bis auf einen Faktor: 


(15) D= I ber d..us, 


G=I,2; 8:3 
oder, infolge von (11): 
(16) DE), 


Aus den Gleichungen (10) folgt, daß die Vertikalreihen der Substitu- 
tionskoeffizienten (9) die Linienkoordinaten der Kanten eines neuen Te- 
traeders mit Bezug auf das frühere darstellen. Denn diese Gleichung sagt 
aus, einmal, wenn wir u—=6 setzen, daß die Koeffizienten einer Vertikal- 
reihe der Substitutionen (9) die Bedeutung von Linienkoordinaten haben, 
dann den vier anderen Werten von u entsprechend, daß eine jede der durch 
die Substitutionskoeffizienten bestimmten sechs Linien vier der fünf übrigen 
schneidet, daß also die sechs dargestellten geraden Linien ein Tetraeder 
bilden. 

Wir wollen die sechs Kanten dieses Tetraeders, den Koordinäten 5, ,; 
entsprechend, mit P; bezeichnen. Dann sagen die Bedingungen, welche 
wir den Gleichungen (10) und (11) über die Reihenfolge der Koeffizienten b, ‚; 
hinzugefügt haben, nichts anderes aus, als daß sich die drei Kanten P,, pP: P; 
in einem Punkte schneiden und die drei Kanten P,, P;, P; in einer Ebene 
liegen. Ausgeschlossen ist durch jene Bedingungen (falls die Substitutions- 





°) [Die drei im Original auf Gleichung (16) folgenden Zeilen sind hier weg- 
gelassen, da der in ihnen enthaltene Nachweis, daß das Vorzeichen in (16) richtig 
gewählt ist, nicht bindend war. Die Tatsache selbst ergibt sich aus den an die 
Formel (18) geknüpften Überlegungen. K.] 


22 Zur Liniengeometrie. 


determinante > + bi,1...ds,s nicht verschwindet), daß P,, P;, P; in einer 
Ebene enthalten sind und P,, P;; P; durch einen Punkt gehen. Im Verein 
mit diesen Bedingungen besagen die drei Gleichungen (11), daß die Ver- 
hältnisse der Koordinaten dieser sechs geraden Linien unter sich in einer 
solchen Größe gewählt seien, wie sie sich aus den Koordinaten der vier 
Eckpunkte (Seitenflächen) des von ihnen gebildeten Tetraeders unter Zu- 
grundelegung der Formeln (1), (3) ergeben. 

Damit ist der vollständige Nachweis geführt, daß die gewählte Trans- 
formation der Verwandlung des gegebenen Koordinatentetraeders in ein 
anderes entspricht. 

9. Wir denken uns die Substitutionskoeffizienten d independent durch 
die Koeffizienten ß einer derselben Koordinatenverwandlung entsprechenden 
linearen Transformation von Punktkoordinaten: 


(17) =) B.ı® 

n 
dargestellt. Dann erhalten wir die folgende Relation: 
(18) d= I tbıs..bei 


Von der Richtigkeit derselben überzeugen wir uns einmal durch direkte 
Ausrechnung, indem wir von einer der Formeln (11) ausgehen, dann 
aber auch durch die Bemerkung, daß die Determinante D, als gebildet 
aus den zweiten Unterdeterminanten der viergliedrigen Determinante 


># Pı,ı.:- Pa,ı gleich ist der dritten Potenz dieser Determinante”). 


Die Kunstante d kann jeden positiven oder negativen Wert annehmen, 
nur darf sie nicht verschwinden. Denn dann würden sich, infolge der 
Gleichungen (11), die gegenüberliegenden Kanten des neuen Tetraeders 
schneiden und damit die Koordinatenbestimmung unmöglich werden. Dem 
entspräche, daß die vier Eckpunkte oder die vier Seitenflächen des Tetraeders 
zusammenfielen, was seinen Ausdruck in dem Verschwinden der Deter- 


minante Dt + Pı.ı... 8a,a findet. 

In dem Folgenden nehmen wir die Konstante d gleich der positiven 
Einheit an, so daß also durch die lineare Substitution, in welche dann 
nur noch 15 unabhängige Koeffizienten eingehen, der Ausdruck P in sich 
selbst übergeführt wird. 

Der Übergang von der Substitution (9) zu der Substitution (17) 
gestaltet sich folgendermaßen. Wir können uns drei Horizontal- und 





?) [Beweist man die Formel (18) auf dem zuerst angegebenen Wege, so ergibt 
die Umkehrung der darauf folgenden Überlegung die Formel (16) mit der richtigen 
Vorzeichenbestimmung. K.] 


I. Dissertation: Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grades. 23 


drei Vertikalreihen der Koeffizienten b in einer solchen Weise auswählen, 
daß, wenn wir uns in b die Größen £ eingeführt denken und wir mit 4 
einen laufenden Index, mit x, u zwei in jedem einzelnen Falle bestimmte 
Indizes bezeichnen, weder Glieder von der Form f,,, noch von der Form 
ß,,. vorkommen. Die Determinante aus den so gewählten Koeffizienten b 
ist dann aus den Unterdeterminanten der Determinante d,, zusammen- 


gesetzt und hat folglich den absoluten Wert d,„. Die so bestimmten 
Determinanten d,,„ sind gerade diejenigen Koeffizienten, welche in die 
Auflösungen der Gleichungen (17) eingehen. 

10. Die Aufgabe, einen gegebenen Ausdruck in Linienkoordinaten durch 
eine lineare Substitution auf eine bestimmte Gestalt zu transformieren, 
kann zu imaginären Substitutionskoeffizienten und damit zu Tetraedern 
mit imaginären Kanten führen. Wir mögen ein solches Tetraeder einfach 
ein imaginäres Tetraeder nennen. 

Im allgemeinen gehört zu einem imaginären Tetraeder ein konjugiertes. 
Dann werden beide Tetraeder immer gemeinsam auftreten. 

Insbesondere aber können die imaginären Kanten desselben imaginären 
Tetraeders einander konjugiert sein. Wenn dann sämtliche Seitenflächen 
(Eckpunkte) imaginär sind, so besitzt das Tetraeder zwei realle, sich nicht 
schneidende Kanten, während die vier übrigen Kanten weder einen reellen 
Punkt noch eine reelle Ebene enthalten und die gegenüberstehenden paar- 
weise konjugiert sind. 

Sind dagegen nur zwei Seitenflächen (Eckpunkte) imaginär, so sind, 
wie im vorhergehenden Falle, nur zwei gegenüberstehende Kanten reell; 
aber längs der einen schneiden sich zwei reelle Ebenen des Tetraeders, 
auf der anderen liegen, als Durchschnittspunkte mit diesen Seitenflächen, 
zwei reelle Eckpunkte desselben. Die übrigen vier Kanten des Tetraeders 
sind paarweise konjugiert. Je zwei konjugierte verlaufen innerhalb einer 
der reellen Seitenflächen und schneiden sich in derselben in dem ent- 
sprechenden reellen Eckpunkte. Solche zwei imaginäre gerade Linien sind 
von der am Schlusse der fünften Nummer betrachteten Art. 

Wenn also die imaginären Kanten eines Tetraeders konjugiert sind, 
sind immer zwei gegenüberstehende reell, und wir haben es mit einem 
Tetraeder der einen oder anderen Art zu tun, je nachdem von den vier 
übrigen Kanten sich die konjugierten schneiden oder nicht. — Tetraeder 
von der einen wie von der andern Art können isoliert auftreten, insofern 
sie sich selbst konjugiert sind. 

Auch solche imaginäre Tetraeder, die nicht in sich konjugiert sind, 
können zwei reelle, einander gegenüberstehende Kanten besitzen. Dann 
sind dieselben dem gegebenen und dem konjugierten Tetraeder gemeinsam. 


24 Zur Liniengeometrie. 


III. 
Über Linienkomplexe im allgemeinen. 


11. Eine homogene Gleichung zwischen Linienkoordinaten bestimmt 
ein dreifach unendliches System von geraden Linien. Solch ein Gebilde 
heißt, nach Plücker, ein Linienkomplex. Indem wir in die Gleichung 
eines Komplexes des n-ten Grades für die Linienkoordinaten die Aus- 
drücke (1) oder (3) einsetzen, erhalten wir die folgenden beiden, unter 
sich identischen, geometrischen Definitionen eines solchen Komplexes®): 

In einem Komplexe des n-ten Grades bilden diejenigen geraden 
Linien, welche durch einen festen Punkt gehen, einen Kegel der n-ten 
Ordnung. 

In einem Komplexe des n-ten Grades bilden diejenigen geraden 
* Linien, welche in einer festen Ebene liegen, eine Kurve der n-ten Klasse. 

Ist also insbesondere der Komplex linear, so entspricht jedem Punkte 
eine Ebene, die durch ihn hindurch geht, jeder Ebene ein Punkt, der in 
ihr liegt. Einen derartigen Komplex bildet die Gesamtheit aller geraden 
Linien, welche eine gegebene gerade Linie schneiden (Nr. 4). 

Als ausgezeichneter Fall der Komplexe des n(n — 1)-ten Grades kann 
die Gesamtheit der Tangenten einer Fläche der n-ten Ordnung oder Klasse 
angesehen werden. Wenn sich die Fläche dahin partikularisiert, daß sie 
in eine abwickelbare Fläche mit zugehöriger Rückkehrkante ausartet, so 
umfaßt der Komplex alle diejenigen geraden Linien, welche die erste be- 
rühren oder die zweite schneiden. 

12. Die allgemeine Gleichung des n-ten Grades umfaßt (n +5), ver- 
schiedene Glieder. Allein der Komplex hängt, sobald n > 1, von einer 
geringeren als der um 1 verminderten Anzahl unabhängiger Konstanten 
ab, indem es freisteht, aus seiner Gleichung eine Reihe von Gliedern 
vermöge der Relation: 


P= 2,92... —0 


zu entfernen. Wir können, ohne den gegebenen Komplex zu ändern, zu 
seiner Gleichung P, mit einer beliebigen Funktion des (n — 2)-ten Grades 
multipliziert, addieren. Eine derartige Funktion enthält (n +3), un- 
bestimmte Konstanten. Eine gleiche Anzahl von Konstanten dürfen wir 
also auch in der Gleichung des Komplexes beliebig annehmen. 

Die Erniedrigung in der Anzahl der unabhängigen Konstanten fällt 
fort, sobald wir die Gleichung des Komplexes nicht in den sechs Koordi- 
naten 9,, sondern in 6n Koordinaten 


’ ” 
Px» Px; ME a 





®) Plücker: „Neue Geometrie“, Nr. 19. 


I. Dissertation: Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grades. 25 


n-fach linear schreiben. Denn der Ausdruck P schreibt sich bilinear: 
D/ Pı-Drrs 


und ist dann, außer wenn die beiden geraden Linien (2°) und (p”) sich 
schneiden, nicht mehr gleich Null, so daß er nicht mehr ohne weiteres 
der Gleichung des gegebenen Komplexes zugefügt werden kann. 

Nach dem Vorstehenden hängt ein Komplex des zweiten Grades 
nicht von 21 — 1= 20, sondern nur von 19 unabhängigen Konstanten 
ab. Dagegen gibt es eine einfach unendliche Schar zugehöriger Polar- 
systeme (bilinearer Formen), deren jedes durch 20 Konstanten bestimmt 
wird. In einem solchen Polarsysteme entspricht einer beliebig an- 
genommenen geraden Linie ein linearer Komplex®). Diejenigen Linien, 
welche sich selbst entsprechen, sind in allen Polarsystemen dieselben: die 
Linien des zugehörigen Komplexes zweiten Grades. 

Es ist die Theorie der Komplexe durchaus analog der Theorie der 
Kurven, welche auf einer Fläche der zweiten Ordnung liegen, oder der 
Theorie der abwickelbaren Flächen, welche eine Fläche der zweiten Klasse 
umhüllen. Die einzelne Fläche, welche durch ihren Durchschnitt mit 
der gegebenen Fläche der zweiten Ordnung eine Kurve bestimmt, kommt bei 
der Diskussion dieser Durchschnittskurve gar nicht in Betracht, sondern nur 
die durch sie und die gegebene Fläche der zweiten Ordnung bestimmte Schar. 
Dagegen ist in einem Punkte der gegebenen Fläche zweiten Grades in 
bezug auf die fragliche Durchschnittskurve ein anderes auf dieser Fläche 
liegendes Gebilde zugeordnet, je nach der Wahl der zweiten die Kurve 
bestimmenden Fläche. 

Diejenigen geraden Linien, welche zwei Komplexen gemeinsam sind, 
bilden eine Kongruenz. Die Kongruenz heißt vom Grade mn, wenn die 
beiden sie bestimmenden Komplexe bezüglich vom Grade m und n sind. 
Alle Linien einer linearen Kongruenz schneiden zwei feste gerade Linien, 
die reell oder imaginär sein können: die Direktrizen der Kongruenz. 

Diejenigen geraden Linien, welche drei Komplexen, die bezüglich vom 
Grade m, n, p sind, zugleich angehören, bilden eine Linienfläche (wind- 
schiefe Fläche) von der Ordnung und Klasse 2mnp. Insbesondere be- 
stimmen drei lineare Komplexe eine Fläche des zweiten Grades durch die 
Linien der einen Erzeugung derselben '°). 





®), Plücker, a.a.0. — Es ist hier nicht der Ort, die im Texte angedeutete Rezi- 
prozität zwischen geraden Linien und Komplexen des ersten Grades, die, bei konse- 
quenter Behandlungsweise, dazu führt, den Komplexen ersten Grades sechs homogene, 
unabhängige Koordinaten zu erteilen, weiter zu verfolgen. (Plückers „Neue Geome- 
trie“, Nr.25). Die gerade Linie erscheint in dieser Auffassungsweise als ein linearer 
Komplex, dessen Koordinaten die Gleichung: P=0 befriedigen (Nr. 4). 

10) Vgl. Plückers Neue Geometrie, a. a. O. 


26 - Zur Liniengeometrie. 
IV. 


Transformation der Gleichung des zweiten Grades zwischen Linien- 
koordinaten auf eine kanonische Form. 
13. Es sei 
(19) 20 
die allgemeine Gleichung der Komplexe des zweiten Grades; 


; re 
bezeichne die Bedingung 


Zr Pr Prrs = 0. 


x 


Unsere Aufgabe ist, ein Tetraeder zu bestimmen, welches zu dem Kom- 
plex (19) in einer ausgezeichneten Beziehung steht, und die Form anzu- 
geben, welche die Gleichung des Komplexes annimmt, wenn derselbe auf 
dieses Tetraeder als Koordinatentetraeder bezogen wird. 

Diese Aufgabe behandelt sich algebraisch als die lineare simultane 
Transformation der Form P in sich selbst und der Form Q auf eine 
kanonische Gestalt. Wir definieren dabei die kanonische Gestalt der Form Q 
als die einfachste, auf welche sich dieselbe durch eine derartige Trans- 
formation umformen läßt. Es wird in der Auswahl dieser kanonischen 
Gestalt immer eine gewisse Willkür herrschen, und der Weg, auf welchem 
wir in der Folge zu einer solchen gelangen, ist kein notwendiger, sondern 
ein nach Belieben ausgewählter. — Die algebraische Fassung dieses Pro- 
blems ist insofern allgemeiner als die geometrische, als in derselben P 
und ® als individuelle Formen auftreten, während bei der geometrischen 
Untersuchung neben P nur die zweigliedrige Gruppe 

Q-+AP, 
wo 4 eine willkürliche Konstante bedeutet, in Betracht kommt'!). 

Indem wir bei der linearen Transformation der Form P in sich selbst 
noch über 15 willkürliche Konstanten verfügen können, wird die kano- 
nische Gestalt der Form Q noch sechs Konstanten enthalten. Wenn wir durch 
eine derselben durchdividieren und den Ausdruck P, mit einer geeigneten 
Konstante multipliziert, hinzuaddieren, können wir noch zwei Konstanten aus 
derselben fortschaffen. Die kanonische Form der Komplexgleichung ent- 
hält somit nur noch vier wesentliche Konstante. 

Es erfordert eine Partikularisation des Komplexes, wenn in seiner 
Gleichung weniger als vier Konstanten vorkommen sollen, oder wenn es 





11) Die algebraische Behandlungsweise knüpft sich an die oben erwähnte Er- 
weiterung der geometrischen Deutung von sechs Veränderlichen. Einer Verwandlung 
des Koordinatentetraeders entsprechend, transformieren sich die Koordinaten eines 
Komplexes ersten Grades linear in einer solchen Weise, daß der Ausdruck P, der 
nicht verschwindet, in sich selbst übergeht. 


I. Dissertation: Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grades. 27 


möglich sein soll, denselben auf unendlichfach verschiedene Weise auf 
. dieselbe Form mit vier Konstanten zu transformieren. 

Wir beginnen, im Anschluß an die neueste Arbeit von Weierstraß 
über die quadratischen Formen!?), mit einer eigentümlichen Umgestaltung 
der beiden Formen P und 2, welche in unserem Falle immer anwendbar ist. 
Dieselbe schließt als besonderen Fall die Transformation der beiden Formen 
P und Q auf solche zwei in sich, die nur die Quadrate der Variabeln 
enthalten, eine Transformation, die bekanntlich nicht in allen Fällen 
möglich ist. 

Durch die in Rede stehende Umgestaltung werden P und Q in zwei 
neue Formen P’ und Q’ übergeführt. Wir gehen sodann durch eine ein- 
fache lineare Substitution von P’ zu P zurück und transformieren dadurch 
Q’ in eine neue Form 2”, welche wir als kanonische bezeichnen. Wir 
gelangen so, durch Benutzung der in der angeführten Abhandlung ge- 
wonnenen Ergebnisse, auf dem kürzesten Wege zur Aufstellung der jedem 
Falle entsprechenden kanonischen Form und damit zur Einteilung der 
Komplexe des zweiten Grades. 

Wir wiederholen zunächst die Ergebnisse, zu denen Weierstraß in 
dem oben zitierten Aufsatze gelangt, in einer Form, wie sie dem hier 
vorliegenden Falle entspricht. Weierstraß betrachtet die simultane 
Transformation zweier beliebig gegebener quadratischer (oder bilinearer) 
Formen, und muß, dem Falle entsprechend, daß die Determinante einer 
jeden der beiden Formen verschwindet, besondere Vorsichtsmaßregeln 
treffen. In unserem Falle ist die eine Form, P, gegeben und hat die 
nicht verschwindende Determinante (— 1). 


14. Es mögen 
®,Y 


zwei quadratische Formen derselben n Veränderlichen z,, &,, ..., X, 


bezeichnen. Wir machen die Voraussetzung, daß die Determinante von 
® nicht verschwindet. Dann ist die Determinante der Form 


sp +Y, 


die wir kurz mit $ bezeichnen wollen, eine ganze Funktion des n-ten 
Grades von s, und kann immer als Produkt von n Faktoren, die lineare 
Funktionen von s sind, dargestellt werden. 

Es sei, unter der Voraussetzung, daß der Koeffizient der höchsten 
in 8 enthaltenen Potenz von s der Einheit gleich, oder daß er als kon- 
stanter Faktor aus dem Produkt jener n linearen Faktoren herausge- 





“) Zur Theorie der quadratischen und bilinearen Formen; Monatsbericht> d. 
Berl. Akad., Mai, 1868, S. 310-338 (Werke, Bd. IT). Vgl. einen früheren Aufsatz über 
denselben Gegenstand, Monatsberichte, 1858, S. 207-220 (Werke, Bd. ]). 


28 Zur Liniengeometrie. 


zogen sei, (s— c) irgendeiner dieser Faktoren. Mit Z bezeichnen wir den 
Exponenten der höchsten in S aufgehenden Potenz desselben. Ferner 
bedeute /” den Exponenten der höchsten Potenz von (s— c), durch 
welche alle aus den Elementen von $ gebildeten partiellen Determinanten 
(n — x)-ter Ordnung teilbar sind. Dann gelten, wie Weierstraß zeigt, 
die folgenden Ungleichheiten: 


Be 
en = 7” > ]” Fe jet S 


Setzt man daher: 
En SER e: FE © nn sa 


so sind e,e’,..., e”-® positive Zahlen, welche nach ihrer Größe geordnet 
sind, so daß: 
ei) > e+D, 


Jeder einzelne der so definierten » Faktoren von (s— c)!: 
v1) 
Vet ö 


heiße ein Elementarteiler der Determinante S"?).. Wir nennen einen 
Elementarteiler, je nach dem Grade e der höchsten in ihm enthaltenen 
Potenz von s, von der e-ten Ordnung. 

Es gilt zunächst der allgemeine Satz, daß wie auch die beiden Formen 
®,Y durch lineare Substitution in andere Formen ®’, Y’ transformiert 
werden mögen, die zugehörigen Elementarteiler dieselben bleiben. Und 
umgekehrt. wenn zwei Formenpaare, ®, Y und ®’, Y’, dieselben Elementar- 
teiler besitzen, so lassen sie sich durch eine lineare’ Substitution mit nicht 
verschwindender Determinante ineinander überführen !*). 

Wir bezeichnen nun durch 8" diejenige Unterdeterminante der Deter- 
minante S, welche aus derselben durch Weglassung der x ersten Horizontal- 
und Vertikalreihen entsteht. Ferner bedeute 


(Ne 
unter der Voraussetzung, daß «,ß beide größer als x sind, die Deter- 
minante (n — x — 1)-ter Ordnung, deren Elementensystem aus dem von 
Ss“ durch Weglassung der (@ — x)-ten Horizontal- und der (% — x)-ten 


Vertikalreihe hervorgeht, — werde aber gleich Null gesetzt, wenn eine 
der beiden Zahlen «, $ < x ist. s 





13) Die Elementarteiler, zu welchen die beiden Formen ®,4®+Y führen, sind 
von den Elementarteilern, die zu den Formen ®, Y zugehören, nur dadurch ver- 
schieden, daß s in denselben durch s-+4 ersetzt ist. 

4) [Wir bemerken, daß dieser Satz nur dann allgemein gilt, wenn man auch 
solche lineare Substitutionen zuläßt, deren Substitutionskoeffizienten imaginäre, nicht 
notwendig paarweise konjugierte Werte besitzen.) 


I. Dissertation: Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grades. 29 


Die Funktionen: 
8.8°,.8°,::. 
sind bezüglich durch 


(8 0), («—e)', (8— 0)", 
teilbar. Wir nehmen an, daß in keiner dieser Funktionen eine höhere 


Potenz von (s— c) als die angegebene als Faktor enthalten sei. Sollte 
dieses doch der Fall sein, so sei in der Reihe der Funktionen: 


ER... 


S” die erste, welche eine höhere Potenz von (s—c) als die 2”-te ent- 
hält. Dann können wir vorab eine lineare Transformation von der Gestalt: 


I, = %, +h,r%41+ .+h, L, 
Te =%, wenn azrv 
eintreten lassen und über die Konstanten . ..., h, derart verfügen, 


daß das neue S" nur noch die Z”-te Potenz von (s — c) enthält"°). Indem 
die vorstehende Substitution die Determinante (+ 1) hat, sind bei ihr die 
Funktionen: 
BB, 2.00% 

ungeändert geblieben. Wir können also, in der angegebenen Weise fort- 
fahrend, es immer dahin bringen, daß von den Determinanten 8” keine 
eine höhere Potenz von (s— c) enthält, als die 2'”-te 
Diese Hilfstransformation vorausgesetzt, sei: 


; ö® ® ® 


X a 
‚ ‚0® 
(20) | X eg er, , tn 





Ferner bezeichne e, in der Reihe der zu dem Teiler (s—c) ge- 
hörigen Zahlen e die x-te. Wir mögen zugleich c, statt c schreiben, so 
daß dieselbe Wurzel c der Gleichung $ = 0, den verschiedenen ihr zu- 
gehörigen Elementarteilern entsprechend, verschiedene Indizes bekommt. 
Man entwickle sodann die Funktionen: 

xe-n 
Vse-D.g@ 

5) [An dieser Stelle enthält die ursprüngliche Weierstraßsche Abhandlung, 

über die hier referiert wird, eine Lücke. Der betreffende Hilfssatz ist erst von 


G. Frobenius (Sitzungsber. d. Berl. Akad. 1894, Sitzung v. 18. Januar) bewiesen 
worden. Vgl. auch K. Weierstraß’ Werke, Bd. II, S. 31).] 











30 Zur Liniengeometrie. 


nach aufsteigenden Potenzen von (8— c;). Die Entwieklung beginnt mit 


der Potenz — * von (8s— c,) und hat die Gestalt: 


2 
e, 
2%. el 8 
3-=0.1....,08. 
Dabei ist: 


1 o® o® 
(21) Kan Te (Can dan + u. + Onanza.) 


wo C©, und sämtliche Koeffizienten der Größen 3 ganze Funktionen von 


c; und den Koeffizienten der Formen ®, Y sind. 
Der Koeffizient C,, auf dessen Vorzeichen in dem Falle Gewicht zu 
legen ist, daß c; eine reelle Größe ist, schreibt sich entwickelt: 


dr 





(8—€;) 
(22) Gi ge-1. gWw f 


s=e, 


wo 1” die früher 1” gegebene Bedeutung hat, und der Index A nur auf 


die Zusammengehörigkeit mit e,, c; hinweist. 
Man bezeichne nun, wenn e eine beliebige ganze Zahl bedeutet: 


> Ks -X,, mit (X, X), 
ktr=e-—1). 
Dann erhält man die folgenden Umformungen: 


Ve 
(23) | e 





Y - 0 (X, X), + (KıX:)a-1 
2 


wo die Summation sich über die den verschiedenen Elementarteilern ent- 
sprechenden / zu erstrecken hat und (X, X,)a-1 gleich Null zu setzen ist, 
wenn e, den Wert 1 hat. 

Dies sind die fraglichen Umgestaltungen der Formen ®,Y. Es läßt 
sich nachweisen, daß die neuen n Variabeln: 


X,,0, X11; B# iia-1 
X,o; Aı,, ...9 Kai: 


durch welche ® und Y vorstehend ausgedrückt sind, aus den Variabeln 
X (20) und damit aus den ursprünglichen Variabeln x durch eine Sub- 
stitution hergeleitet worden sind, deren Determinante nicht verschwindet. 


I. Dissertation: Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grades. 31 


Einem gegebenen Systeme von Elementarteilern entsprechend können 
wir, nach den Formeln (23), ohne weiteres ein System zweier Formen 
hinschreiben. Sind insbesondere alle Elementarteiler von der ersten Ord- 
nung, so stellen sich ® und Y dar durch die Quädrate der neuen Variabeln. 

15. Ehe wir zur Anwendung der vorstehenden Umgestaltung auf die 
beiden uns gegebenen Formen P, 2% übergehen, mögen wir untersuchen, 
inwieweit sich die unter (21) eingeführten Variabeln X, . durch andere, 
gleichberechtigte, ersetzen lassen, in denen sich ® und Y ebenfalls unter 
der Form (23) darstellen. 

Von den Elementarteilern der Determinante S seien «, mal » einander 
gleich. Dann ist es möglich, eine lineare Substitution anzugeben, welche 


Alien 


v 





willkürliche Konstante enthält und die Eigenschaft besitzt, ® und W in 
der unter (23) gegebenen Gestalt in sich selbst zu transformieren. 

Es seien nämlich » unter sich gleiche Elementarteiler der e-ten Ord- 
nung gegeben, und es sei zunächst e> 1. Wir bezeichnen die Teiler 
der Reihe nach mit den Indizes 1,2,...,», allgemein durch den Index 
«. Einem jeden dieser Elementarteiler entspricht, in der unter (23) 
gegebenen Darstellung der Formen ® und Y, in ® eine Funktion der 
e Variabeln: 

2.2.0 ui; art Z,, A E 
die wir mit (X„X.)., bezeichnet haben, und in Y dieselbe Funktion der- 
selben e Variabeln, multipliziert mit einer von dem Index « unabhängigen 
Konstanten, vermehrt um eine Funktion, [((X,X.).,-ı], allein der (e— 1) 
Variabeln: 

er >07 ...g Bun: 

Die Variabeln X,.,-ı kommen nur in der ersten Funktion und in 
derselben, gemäß der Bedeutung des Symbols (X.X.).,, nur in der Ver- 
bindung: 

2X,0Xo,0,-1> 
in ® und Y also nur in dem folgenden Ausdruck vor: 


2X,0-X,4-ı+2Xg30'X2.-ı + ... +2X,0.%,.-ı- 


-Die Form von ® und Y bleibt also ungeändert, wenn wir die Variabeln 
Xa,e,-ı durch eine folgende lineare Substitution: 


Xa,00-1 = Xu, e,-ı , vermehrt um eine lineare Funktion von X,,0,..., X,0, 


transformieren und dabei bedingen, daß durch diese Substitution der 
Ausdruck 


X,0 X,a-ı+ I2,0 I,.ı+ ... +2,00: 2,.-ı 


32 Zur Liniengeometrie. 


in sich selbst übergehe. Bei einer derartigen Substitution haben wir über 


»® Konstante zu verfügen und en 





Bedingungen zu befriedigen. Es 
bleiben also noch 
Br slanr v(v»—]1) 
1-2 1-2 





Konstanten willkürlich. 
Die gleiche Zahl ergibt sich, wenn wir e= 1 annehmen. Denn dann 
ist die Funktion: 


XuotXgo+... +80 
in sich selbst zu transformieren. 
Auf diese Weise können wir mit jedem in der Reihe der Elementar- 


teiler der Determinante S enthaltenen System gleicher Teiler verfahren 
und erhalten so die oben angegebene Zahl: 


v(w—]) 
PN ER 


Es bezeichnet diese Zahl den Wert, den das den Formen (23) zu- 
grunde gelegte System von Variabeln für diese Formen besitzt. 

16.'%) Eine weitere Untersuchung knüpft sich an das Vorzeichen der 
durch die Gleichung (22) bestimmten Konstante (O;. 

Man teilt bekanntlich die quadratischen Formen von n Variabeln 
mit nicht verschwindender Determinante in Klassen ein, je nach dem 
Überschuß, den die Anzahl der positiven Quadrate über die Anzahl der 
negativen Quadrate ergibt, wenn man die gegebene Form durch irgend- 
eine reelle lineare Substitution mit nicht verschwindender Determinante 
auf eine Form transformiert, die nur die Quadrate der Variabeln enthält. 
Es bezeichne m den Überschuß, welcher zu der gegebenen Funktion ® ge- 
hört. Dann gilt der folgende Satz, unabhängig von der Wahl der Form Y: 

Wenn man die Konstanten C',, welche zu reellen Elementarteilern 
einer ungeraden Ordnung gehören, nach ihrem Vorzeichen in zwei Gruppen 
teilt, so enthält die Gruppe der positiven C; m Glieder mehr als die der 
negativen. 

Und daraus folgt der Satz, daß die Determinante $, unabhängig 
von der Wahl der Form Y, mindestens m reelle Elementarteiler ungerader 
Ordnung besitzen muß. 

Wenn (s— c;)”ı einen reellen Elementarteiler und &; die positive oder 
negative Einheit bezeichnet, je nachdem C', positiv oder N ist, wollen 
wir (mit Weierstraß) 





mt + Va Ku 





16) [Die meisten Betrachtungen, soweit sie Realitätsverhältnisse betreffen, setzen 
Linienkomplexe 2=( mit reellem Q voraus.] 


I. Dissertation: Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grades. 33 


und also: 


(XuX:)., == 81 (Kı &ı )e, 


setzen. Dann sind die &,„ lineare Funktionen der ursprünglichen Ver- 
änderlichen x mit reellen Koeffizienten. Ist dagegen (s— c,)” ein ima- 
ginärer Elementarteiler, so findet sich ein zweiter, ihm konjugierter, 
(8— cv), wo 9=&,. Indem wir dann den Wurzelgrößen VO;, VO. 
konjugierte Werte erteilen und 


Aru Far Kıu + Ku 
DE a PP 


setzen, werden %,., X. lineare Funktionen der Variabeln x ebenfalls mit 
reellen Koeffizienten; und man hat: 


(Xi X;)., + (X Xr)e,, = 2(Kıkı)., 2 (BE), 


Nach diesen Substitutionen ist ® dargestellt durch n reelle Variabeln 
Wir haben ® jetzt durch irgendeine reelle Substitntion auf die Quadrate 
n neuer Veränderlicher zu transformieren. Dann muß der Überschuß der 
positiven über die Anzahl der negativen Quadrate m betragen. 

Je zwei konjugiert imaginäre Elementarteiler liefern offenbar keinen 
Beitrag zu diesem Überschusse m. Denn (Kıkı)e, liefert ebenso viele 
Quadrate des einen Zeichens, wie (X &)«.. 


Der einem ungeraden reellen Elementarteiler entsprechende Aus- 
druck liefert den Überschuß eines Quadrates mit dem Zeichen &. Denn 


—1 
der entsprechende Ausdruck (X, Kı)e, enthält ein Quadrat und I Pro- 


dukte von jedesmal zwei Variabeln. Solch’ ein Produkt vertritt ein posi- 
tives und ein negatives Quadrat. 

Ist dagegen der reelle Elementarteiler von einer geraden Ordnung, 
so umfaßt der Ausdruck (X X; )e, nur Produkte der Variabeln zu zwei 


und liefert somit eine gleiche Anzahl positiver und negativer Quadrate. 

Damit sind die vorstehenden beiden Sätze bewiesen. Umgekehrt ist 
aus den Formeln (23) klar, daß man, bei gegebenem ®, einem beliebigen 
Systeme von Elementarteilern entsprechend, eine Form Y mit reellen 
Koeffizienten bestimmen kann, sobald unter den Quadraten, welche in der Dar- 
stellung (23) von ® den ungeraden reellen Teilern entsprechen, m positive 
mehr als negative angenommen werden. Denn man denke sich ® durch 
irgendeine reelle lineare Substitution auf eine Form transformiert, welche 
nur die Quadrate der Variabeln enthält. Es lassen sich dann, unter der 
gemachten Voraussetzung, immer lineare Substitutionen angeben, welche ® 


von dieser Form zu der unter (23) gegebenen überführen, wobei die neuen 
Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 3 


34 Zur Liniengeometrie. 


Variabeln entweder sich reell durch die früheren ausdrücken oder paarweise 
imaginär konjugiert sind, je nach der Art des Elementarteilers, welchem 
sie entsprechen. Es genügt dann in (23) Y mit solchen Koeffizienten zu 
versehen, wie sie den verschiedenen Elementarteilern zugehören. Dann 
führt die Rücksubstitution zu einer Form Y in den ursprünglichen Variabeln 
mit reellen Koeffizienten. Es gibt das das Mittel, bei gegebenem ® ohne 
weiteres alle Fälle hinzuschreiben, welche bei der Transformation der 
Formen ®, Y auf die Gestalt (23) auftreten können. 

17. Wir kehren zu den uns gegebenen Formen P und Q zurück. Indem 
wir P als Form mit nicht verschwindender Determinante an die Stelle 
von ®, Q an die von Y treten lassen, erhalten wir aus (23) die folgende 
Darstellung der Formen P und 2: 


| ie KK). 


(24) 
2 = a (X) + (Kıkı)a-ı. 
2 





\ 


Die neuen Variabeln bestimmen sich, wie in dem allgemeinen Falle, 
durch die Formeln (20), (21), (22). Es ist in denselben die Zahl n der 
Variabeln überall durch 6 zu ersetzen. Wir bemerken nur, daß diese 
Formeln sich bei der gegebenen Form von P dadurch vereinfachen, daß 


an die Stellen der Größen = ‚die Variabeln x selbst, nur in veränderter 


Reihenfolge, treten. 

Auch die Erörterungen der 15. Nummer über die Multiplizität der 
Transformation auf die Form (23) behalten ihre Gültigkeit. Wir mögen 
deswegen die Bezeichnung u, der Anzahl der Systeme von » Elementar- 
teilern, die unter sich gleich sind, beibehalten. 


Die in der 16. Nummer gegebenen Sätze über die Anzahl der in der 
Darstellung (23) der Form ® enthaltenen positiven und negativen reellen 
Quadrate modifizieren sich, der besonderen Gestalt von P entsprechend, 
folgendermaßen. 

Wenn wir die Form P durch irgendeine reelle Substitution mit nicht 
verschwindender Determinante auf eine Form transformieren, die nur die 
Quadrate der Variabeln enthält, so finden sich unter diesen Quadraten 
gleich viele positive und negative. Die Zahl m also, welche in dem allge- 
meinen Falle den Überschuß der positiven über die negativen Quadrate 
angab, wird in dem Falle der Form P gleich Null. 

Es werden sich also in der Darstellung (24) der Form P immer eine 


gleiche Anzahl positiver und negativer reeller Quadrate vorfinden. Wir 
mögen diese Anzahl mit o bezeichnen. Dann ist 20 die Zahl der reellen 


I. Dissertation: Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grade. 35 


Elementarteiler einer ungeraden Ordnung. — In dem allgemeinen Falle 
der Form ® sind wenigstens m solcher Elementarteiler vorhanden, während 
die Zahl der reellen Elementarteiler einer geraden Ordnung willkürlich ist. 
Umgekehrt läßt sich die Form Y so wählen, daß überhaupt nur m reelle 
Elementarteiler, und zwar ungerader Ordnung, vorhanden sind. Weil m für 
die Form P den Wert Null hat, können also, je nach Wahl der Form Q, 
beliebig viele Paare der Elementarteiler der Determinante der Form sP +0 
imaginär werden. — Die Anzahl der Elementarteiler einer ungeraden Ord- 
nung mögen wir in der Folge mit 20 bezeichnen. 

Das Vorstehende liefert das vollständige Material zu einer Einteilung 
der Komplexe des zweiten Grades. Nach der Ordnung der Q zugehörigen 
Elementarteiler bestimmt sich die Gestalt der Formen (24). Indem wir 
die Zahlen zusammenstellen, welche die Ordnungen der einzelnen Elementar- 
teiler angeben, erhalten wir in dem folgenden Schema eine Einteilung 
sämtlicher Komplexe zweiten Grades in elf unterschiedene Arten: 


Ordnung der Elementarteiler. 
oe Men Dre Mn 





- 


. 


’ 


= 


’ 


“= 


’ 


- 


» 


1 
1 
1 
1 
1 
2, 
2 
d 
4 
3 


vv eD—DnD Ha 


- 


’ 


“ 


’ 


- 


’ 


_ 
ram 
NH Dumm m 


“ 


’ 





XI 


Es bezeichnet die Zahl 11 die Anzahl der Möglichkeiten der RE der 
Zahl der Veränderlichen, 6, in Summanden. 

Weitere Einteilungsgründe gibt die Zahl der gleichen und die Zahl 
der imaginären Elementarteiler; dann das Vorzeichen der reellen Elementar- 
teilern in der Darstellung (24) von P entsprechenden Glieder. — Wir unter- 
lassen es, die verschiedenen Fülle, welche sonach stattfinden können, einzeln 
aufzuzählen, oder nachzuweisen, wie sich dieselben kontinuierlich als Über- 
gangsfälle zwischen extremen Gliedern aneinander reihen lassen. 

18. Wir wollen die unter (24) gegebene Gestalt der Form P noch folgender- 
maßen transformieren. Alle diejenigen Glieder, welche imaginären Elementar- 
teilern entsprechen, lassen wir unverändert. Dagegen führen wir statt der 
Variabeln X,,0,..., X7,.,-ı, welche einem rellen Elementarteiler zugehören, 
je nach dem Vorzeichen der Konstante C, (22), neue Variabeln ein. In 

3* 


o 


36 Zur Liniengeometrie, 


dem Falle, daß C, positiv ist, behalten wir die ursprünglichen Veränder- 
lichen bei. In dem entgegengesetzten Falle setzen wir: 


Xp= Lids 


und bestimmen dabei das Vorzeichen der Quadratwurzel in einer solchen Weise, 
daß ein jedes der doppelten Produkte 2X,,5- X, ,.,-p-ı als 2,5 K&ı,e,-p-ı 
mit dem positiven Vorzeichen ın die neue Darstellung der Form P eingeht. 

Dann ist die Form P dargestellt durch die Quadrate von 20 Variabeln, 
unter denen sich 20 reelle finden, und (3— o) doppelte Produkte von 
jedesmal 2 der übrigen 6 — 20 Veränderlichen. Dabei haben diejenigen 
doppelten Produkte, in welche reelle Variabeln eingehen, das positive Vor- 
zeichen. Von dieser Darstellung der Form P müssen wir durch eine neue 
lineare Substitution zu der ursprünglich gegebenen Gestalt: 


Di De’ Durs, 


in welcher nur doppelte Produkte von jedesmal zwei der sechs Veränder- 
lichen vorkommen, die alle das positive Vorzeichen haben, zurückgehen. 

Zu diereem Zwecke werden wir diejenigen 6 — 2o Variabeln, die in 
der gegebenen Darstellung der Form bereits zu doppelten Produkten von 
je zwei verbunden sind, ohne weiteres beibehalten. Dagegen werden wir 
die 20 Quadrate in oe Gruppen von jedesmal 2 einteilen und jede einzelne 
Gruppe in das doppelte Produkt zweier neuer Variabeln auflösen. Wir 
zerlegen so 

Ya+Y5, 

wo Y,, Y; zwei derartige Quadrate bedeuten, in das Produkt der beiden 
linearen Faktoren: 








ti 3 | 
12 a Ale, 


wo / eine noch willkürliche Konstante bedeutet. Sind Y., Y, nicht ein- 
ander konjugiert imaginär, so ist es vorteilhaft, A einfach der positiven 
Einheit gleichzusetzen. Im entgegengesetzten Falle wählen wir A gleich 
1— i und erhalten dadurch neue Veränderliche, die sich aus den reellen 
und imaginären Bestandteilen der Y,, Y; bzw. als Summe und Differenz 
zusammensetzen. 

Die Art und Weise der Einteilung der 20 Quadrate in o Gruppen von 
2 ist eine willkürliche. Solange die Elementarteiler, welche den einzelnen 
Quadraten entsprechen, sämtlich verschieden sind, hat jedes System neuer 
Variabeln, welches durch eine beliebige Gruppierung der 20 Quadrate ge- 
wonnen wird, eine gleiche Berechtigung. Wir haben dann die Wahl zwischen 


(2e—-1)(20e—3)... 


I. Dissertation: Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grades. 37 


verschiedenen Systemen. Denn dieses ist die Anzahl der Möglichkeiten einer 
verschiedenen Gruppierung von 20 Elementen zu 2. Diese Zahl nimmt 
für die in der vorigen Nummer aufgezählten elf Fälle bezüglich die folgenden 
Werte an: 

IE SIEBTE LE 

Anders ist es, wenn sich unter den Elementarteilern, welche den 20 
Quadraten zugehören, gleiche befinden. Wir werden sodann immer solche 
Quadrate zunächst zu zwei gruppieren, welche gleichen Elementarteilern 
entsprechen. Und mit dem Reste der Quadrate, welcher bei dieser Operation 
zurückbleibt, werden wir in derselben Weise vorgehen, wie eben mit den 
überhaupt vorhandenen 20 Quadraten. 

In der 15. Nummer haben wir mit «, diejenige Zahl bezeichnet, welche 
angibt, wie oft sich unter den Elementarteilern » gleiche befinden. Dem- 
entsprechend bezeichnen wir mit ı3,, bezüglich 3,;ı diejenigen Zahlen, 
welche ausdrücken, wie oft sich 2», bezüglich 2” +1 gleiche unter den 
Elementarteilern einer ungeraden Ordnung befinden. Endlich führen wir 
die Bezeichnung u/ für die Summe w,—+ w,+1 ein. 

Eine jede Abteilung von 2» zusammengehörigen (gleichen Elementar- 
teilern entsprechenden) Quadraten liefert 


(2v— 1)(2v — 3)... 


verschiedene Systeme neuer Variabeln. 

Aus jeder Abteilung von 2» + 1 zusammengehörigen Quadraten müssen 
wir zunächst beliebig ein Quadrat aussondern, was auf (2» + 1)-fache Weise 
geschehen kann, und haben dann die übrigen 2» zu 2 zu kombinieren. 
Wir erhalten also die Zahl: 


(2’+1)(2v—1)(2v»—3).... 
So bleiben schließlich noch BR 4a,+1 Einzelquadrate übrig. Dieselben 


lassen 
war es 1) (Dr karrı re 3) .<, 


verschiedene Gruppierungen zu. 
Als Totalanzahl der Systeme gleichberechtigter Variabeln erhalten wir 
somit das Produkt: 


R= ie 1) (Nair Zi 3) ... 
IIe+ 1)" ®rt1.[(2» — 1) (2v — 3) SE 


In diesem allgemeinen Ausdrucke ist der oben abgeleitete: 


(2e—1)(2e-3)... 
als besonderer Fall enthalten. 


38 Zur Liniengeometrie. 


Den so bestimmten sechs neuen Veränderlichen geben wir, indem P 
durch ihre Einführung seine frühere Gestalt wieder angenommen hat, die 
Bedeutung von Linienkoordinaten. Durch Substitution derselben in die 
Form Q (24) geht dieselbe in eine neue Form über, welche wir als 
kanonische bezeichnen. Dieselbe erhält, je nach Zahl und Ordnung der 
Elementarteiler, eine verschiedene Gestalt. Wir unterlassen es, dieselbe 
den vorstehend unterschiedenen elf Arten von Komplexen entsprechend 
hinzuschreiben. Wern unter den Elementarteilern ungerader Ordnung gleiche 
auftreten, erhalten einige der in die zugehörige kanonische Form ein- 
gehenden Konstanten den Wert Null. 


19. Die Transformation der Form R auf die kanonische Gestalt ist 
eine mehrdeutige. Die in der vorigen Nummer gegebene Zahl R bestimmt 
den Grad dieser Mehrdeutigkeit. Wir untersuchen jetzt, inwieweit sich 
unter diesen verschiedenen Transformationen solche finden, die zu reellen 
neuen Variabeln führen. 


Dazu ist zunächst die Bedingung zu erfüllen, daß sich unter den 
mehrfachen Wurzeln der Gleichung in s, welche ausdrückt, daß die De- 
terminante 8 der Form sP + verschwindet (Nr. 13), keine imaginären 
finden. Denn solchen Wurzeln entspricht entweder eine Reihe gleicher 
Elementarteiler, oder, wenn dieses nicht der Fall ist, zum mindesten ein 
Elementarteiler von einer höheren als der ersten Ordnung. In beiden 
Fällen erhalten wir unter den kanonischen Variabeln imaginäre. Weiter 
verlangt die Annahme, daß ein System reeller kanonischer Variabeln möglich 
sei, die Bedingung, daß unter den 2», bezüglich 2» + 1 Quadraten, die 
zu gleichen Elementarteilern gehören, » positive und » negative vorkommen. 
Wenn diese Bedingung durchgängig für Werte von v, die größer als 0 
sind, erfüllt ist und wir nur Quadrate von entgegengesetztem Zeichen zu 
zwei kombinieren, finden sich, nach den Erörterungen der 17. Nummer, 
unter den schließlich übrigbleibenden Einzelquadraten gleichviele positive 
und negative. — Wir erhalten unter den vorstehenden Voraussetzungen 
die folgende Anzahl reeller Transformationen. Eine jede Gruppe von 2», 
bezüglich 2» + 1 zusammengehörigen Quadraten gibt v!, bezüglich (v +1)! 
verschiedene Systeme neuer reeller Variabeln. Denn aus der Anzahl der 
2»-+1 Quadrate muß ein Quadrat ausgesondert werden, welches ein der- 
artiges Vorzeichen hat, wie außer ihm noch » andere. Es ist das auf 
(”+1)-fache Weise möglich. Und dann sind » positive Elemente mit » 
negativen so zu 2 zu kombinieren, daß jede Gruppe ein positives und ein 
negatives Element enthält. Solcher Kombinationen gibt es »!. Schließlich 


sind noch 9 Wy+ı Einzelquadrate zu gruppieren. Wir haben oben ange- 
nommen, daß die Anzahl aller reeller Quadrate in der Darstellung von 


I. Dissertation: Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grades. 39 


® 20 betrage. Nun haben wir schon über 2 5 v-u) reelle Quadrate ver- 
fügt. Es bleiben also unter den Einzelquadraten noch 


2 (0 rar) 
reelle übrig. Indem wir sodann die konjugiert imaginären unter den Einzel- 
quadraten zusammen nehmen, und unter den reellen Quadraten jedesmal 


ein positives mit einem negativen verbinden, erhalten wir (o -- 3 v. ar)! 


Systeme reeller Variabeln. Eine reelle Transformation der gegebenen 
Form Q auf die kanonische Form ist demnach auf R’- fache Weise möglich, 
wo R’ das folgende Produkt bezeichnet: 


R= (o = Dv-wr) :; Ile E= 1yar+ı. Di. 


Sind insbesondere alle Elementarteiler verschieden, so ist diese Zahl 
gleich o!. Beispielsweise können in dem oben mit J bezeichneten Falle 


0,2,4,6 


der Elementarteiler imaginär werden, und danach sind von den 15 ver- 

schiedenen Systemen linearer Substitutionen, welche Q unter der Voraus- 

setzung verschiedener Teiler in diesem Falle auf die kanonische Form trans- 

formieren, bezüglich 
Ä A | 

reell. 

Auch in solchen Fällen, in denen alle Systeme kanonischer Variabeln 
imaginär ausfallen, ist es selbstverständlich möglich, @ durch eine reelle 
Substitution auf eine einfache Form zu transformieren, etwa indem wir 
die reellen und imaginären Teile der in Rede stehenden imaginären Varia- 
beln als neue Veränderliche betrachten; aber wir dürfen eine solche Form 
nicht als kanonische bezeichnen, weil sie nach einem anderen Modus als dem- 
jenigen, der in allen übrigen Fällen angewandt ist, aus der Darstellung (24) 
der Form 2% sich ableitet. 


25. Wenn wir zusammenfassen, sind wir zu dem folgenden Resultate 
gelangt: 
Es sei ein Komplex des zweiten Grades gegeben: 
; 2=0, 
und es bezeichne: 
P=0 
die Bedingungsgleichung zweiten Grades, welcher die Linienkoordinaten 
genügen müssen. 
Es sei ferner (s — c;)” ein beliebiger Elementarteiler der Determinante 


40 Zur Liniengeometrie. 


der Form sP +2, und es bedeute u, die Zahl, welche angibt, wie oft 
sich unter den Elementarteilern » gleiche befinden. us, und us,+1 mögen 
diejenigen Zahlen bezeichnen, welche ausdrücken, wie oft unter den Blemen- 
tarteilern ungerader ee RER 2» und 2» + 1 gleiche vorkommen, 
u, bedeute die Summe us, + u»+1. Endlich sei 20 die Anzahl der reellen. 
unter den Elementarteilern einer ungeraden Ordnung. 

Dann lassen sich P und 2 durch eine Substitution mit nicht ver- 
schwindender Determinante, welche noch 


willkürliche Konstanten enthält, simultan auf die folgende Gestalt trans- 


formieren: 
ErgE = Yaux, 


ik (u+r=&g-—1) 


2| C Km Et End), 
4 


Q 


| 


(u+r=&-1) (u+v=e&—2) 


wo X3,0, ..-, Ar,e,-ı die neuen Variabeln bedeuten, und die Summe 


RK, 


(u+r=e,—2) 


gleich Null zu setzen ist, wenn e; den Wert der Einheit hat. 
Von dieser Darstellung der Form Q können wir durch 


wog BE 1) BR. 
N»=+ı)r.&»-1) #3): 


verschiedene Systeme linearer Substitutionen mit nicht verschwindender 
Determinante zu der kanonischen Gestalt derselben übergehen. Im gün- 
stigen Falle läßt sich das System der neuen Variabeln auf 


R = [o— I». FAR ‚Ber 1Yer+3.(n1)” 


-fach verschiedene Weise so auswählen, daß die Transformation eine 
reelle wird. Dazu ist erforderlich, einmal, daß sich unter den Wurzeln 
der gleich Null gesetzten Determinante von sSP+NR keine mehrfachen 
imaginären finden; dann, daß die Anzahl reeller positiver Quadrate, 
welche zu gleichen Elementarteilern in der vorhin gegebenen Form von 
P gehören, von der Anzahl der reellen negativen höchstens um 1 ver- 
schieden sei. 


” 


I. Dissertation: Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grades. 41 


Y. 


Geometrische Deutung der Transformation auf die kanonische Form, 
insbesondere in dem Falle, daß alle Elementarteiler linear und ver- 
schieden sind. 


21. Die Koeffizienten der Substitution, durch welche Q auf die kano- 
nische Gestalt transformiert wird, geben, nach der 8. Nummer, unmittelbar 
die Kanten des ausgezeichneten Koordinatentetraeders, mit Bezug auf 
welches sich die Gleichung des Komplexes unter kanonischer Form schreibt. 
Den verschiedenen Substitutionen entsprechend, erhalten wir eine 


94% ZU) ‚fach 


” 





unendliche Schar von jedesmal R Koordinatentetraedern, unter welchen R’ 
reelle vorkommen. Diese Tetraeder stehen sämtlich in derselben ausge- 
zeichneten Beziehung zum Komplex. 

Wir verstehen dabei unter einer einfach, zweifach, ... m-fach unend- 
lichen Schar von Koordinatentetraedern die Gesamtheit aller derjenigen, 
welche Kanten besitzen, deren Koordinaten sich aus den Koordinaten der 
Kanten eines derselben unter Zuhilfenahme von 1,2,..., m willkürlichen 
Konstanten ableiten lassen. Wenn wir also, unter P,, P,:s zwei gegenüber- 
stehende Kanten des Koordinatentetraeders verstanden, die Transformation: 


px = Apr, Pr+3 = APu+3 
anwenden, durch welche die Kanten selbst und damit das Tetraeder nicht 
verändert werden und nur der dem Koordinatensystem zugrunde gelegte 
Maßstab ein anderer wird, so müssen wir konsequenterweise, den ver- 
schiedenen Werten der willkürlichen Konstante A entsprecrend, von einer 
einfach unendlichen Schar von Tetraedern sprechen. 

22. Wir beschränken uns in dem Folgenden auf die geometrische Dis- 
kussion des gewonnenen Resultates allein in dem Falle, daß alle Elementar- 
teiler linear und verschieden sind. In diesem Falle sind P und Q unter 
(24) durch die folgenden Formen dargestellt: 


ß 
> 2 
P» A,, 
2 
' o 
N— > cı 15 
} h 


wo die Summation von 1 bis 6 zu gehen hat, undc,,...,c, voneinander 
verschiedene Größen bedeuten. Auf 15 verschiedene Arten können wir Q, 
von dieser Darstellung ausgehend, auf die kanonische Form transformieren. 
Je nachdem 


(25) 





42 Zur Liniengeometrie. 


der Elementarteiler imaginär sind, sind von den 15 ausgezeichneten Te- 
traedern bezüglich 5 
reell. Mit Bezug auf ein beliebiges dieser letzten Teetraeder schreibt sich 
die Form Q unter der folgenden Gestalt: 


(26) Q= A,ı(p Ep) + 2B,4P,P, 
+ As,s(p} + P5)+ 2 B2,5P3P;, 
# As,c(Pp? > p;) + 2 B3,6P3 9%» 


WO P4>.-., 7, die neuen reellen Variabeln und A die Koeffizienten der 
einen, B die der anderen Gruppe bezeichnen (Nr. 12). Von den drei unbe- 
stimmt gebliebenen Vorzeichen ist einem jeden Paare imaginärer Elementar- 
teiler entsprechend eins negativ zu wählen. 

Dies ist in dem Falle linearer und verschiedener Elementarteiler 
die kanonische Gestalt der Form 2, deren Ableitung unsere Aufgabe war. 


23. Es beschäftigt uns zunächst die Gruppierung der 15 ausgezeichneten 
Tetraeder unter sich. Wir mögen dieselben kurz als die Fundamental- 
tetraeder des Komplexes bezeichnen. 

Zwei gegenüberstehende Kanten eines der 15 Fundamentaltetraeder 
sind ihm mit zwei anderen gemeinsam. Denn wenn wir von den sechs 
Quadraten, durch welche P unter (25) dargestellt wird, zwei beliebige 
auswählen, so lassen sich die vier übrigen noch dreimal in zwei Gruppen 
von zwei teilen. Das System der 15 Fundamentaltetraeder umfaßt so- 
nach 30 Kanten. Die 60 Seitenflächen derselben schneiden sich zu 6 
nach diesen Kanten, und die 60 Eckpunkte derselben sind ebenfalls zu 6 
auf dieselben verteilt. Es schneidet also eine jede der 30 Kanten 12 der 
übrigen. Dieselben 12 Kanten werden von einer zweiten Kante geschnitten, 
die zu der ersten in einer ausschließlichen Beziehung steht. Danach sondern 
sich die 30 Kanten in 15 Gruppen von 2, die zusammengehören. 

Die in (25) eingehenden Variabeln X, stellen, einzeln gleich Null ge- 
setzt, lineare Komplexe dar. Wenn wir zwei derselben, X,, X,, beliebig 
auswählen, so stellen die beiden Gleichungen: 


ZZ, +42,=8, X, —-iX,=0 
zwei zusammengehörige der 30 Kanten der Fundamentaltetraeder dar. Alle 
geraden Linien, welche die eine und die andere dieser beiden Kanten 
schneiden, befriedigen die vorstehenden beiden Gleichungen und gehören 
somit den beiden Komplexen X,, X, an. Es sind also die in Rede 
stehenden beiden Kanten die Direktrizen der von den beiden Komplexen 


X,, X, gebildeten. Kongruenz (Nr. 12). Es gibt das die geometrische 
Deutung der Variabeln X, aus dem System der Fundamentaltetraeder. 


I. Dissertation: Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grades. 43 


Drei unter den Komplexen X,, etwa X,, X,, X,, bestimmen eine 
Fläche des zweiten Grades (Hyperboloid) als windschiefe Fläche (Nr. 12). 
Dieser Fläche gehören, als Direktrizen der Kongruenzen je zweier der 
drei Komplexe’), die folgenden sechs aus dem System der Kanten der 
Fundamentaltetraeder als Linien einer Erzeugung derselben an: 


ee 
DE 0 


Und weil die 30 fraglichen Kanten zu Tetraedern gruppiert sind, sind .die 
folgenden sechs Kanten: 


X, +iX=0; ZH, -0, LI, + =0, 
X, -i%,=0, X,-iX,=0, L,-iX,=0 


Linien der anderen Erzeugung. 


m. — 20-fache Weise zu drei 


kombinieren. Die 30 Kanten der Fundamentaltetraeder sondern sich also 
in 20 Gruppen von jedesmal 6, die paarweise zusammengehören. Die sechs 
Kanten einer Gruppe sind Linien derselben Erzeugung einer Fläche des 
zweiten Grades, die sechs Kanten der zugehörigen Gruppe Linien der anderen 
Erzeugung derselben Fläche. Das System der 30 Kanten steht also zu 
10 verschiedenen Flächen zweiten Grädes, von denen sich jedesmal vier 
nach einer Kante schneiden, in einer ausgezeichneten Beziehung. 


Die sechs Symbole X, lassen sich auf 


24. Wenn sämtliche Elementarteiler reell sind, werden sechs der 
15 Fundamentaltetraeder reell. Die übrigen neun Tetraeder sind von der 
Art, daß sie zwei reelle, gegenüberstehende Kanten besitzen, und von den 
übrigen Kanten die gegenüberstehenden konjugiert sind. Zwei zusammen- 
gehörige reelle Kanten sind zwei reellen und einem imaginären Tetraeder 
gemeinsam. Von den 30 Kanten der 15 Tetraeder sind also 18 reell und 
die 12 anderen imaginär, so zwar, daß die konjugiert imaginären zusammen- 
gehören. 

Wenn zwei der sechs Elementarteiler imaginär sind, so sind nur zwei 
der 15 Tetraeder reell. Eins ist, wie die neun Tetraeder in dem vorigen 
Falle, in sich konjugiert. Die übrigen 12 imaginären Tetraeder sind ein- 
ander paarweise konjugiert. Von den 30 Kanten werden nur zehn reell, die 
übrigen 20 imaginär. Von diesen 20 Kanten sind zweimal zwei Kanten konju- 
giert und zugleich zusammengehörig, während sich die übrigen 16 Kanten 
in zwei Gruppen teilen, welche konjugiert sind, und deren jede acht solche 
Kanten enthält, die paarweise zusammengehören. 

In dem dritten und vierten Falle endlich, daß vier oder sechs der 





& ”) Vgl. Plückers „Neue Geometrie“, Nr. 101. 


44 Zur Liniengeometrie. 


Elementarteiler imaginär werden, ist nur eins der 15 Tetraeder reell. Von 
den 30 Kanten sind sechs reell, die übrigen 24 imaginär. Sie teilen sich 
in zwei einander konjugierte Gruppen, deren jede 12 solche Kanten um- 
faßt, welche paarweise zusammengehören. Unter den imaginären Funda- 
mentaltetraedern kommt keins mit nur zwei imaginären Eckpunkten vor. 
(Nr. 10.) | 

In dem Falle, daß sechs der 15 Fundamentaltetraeder reell sind, ge- 
langen wir von einem der reellen Tetraeder zu einem zweiten, und zwar 
zu demjenigen, welches mit dem angenommenen die beiden Kanten P,, P, 
.gemein hat, wenn wir setzen: | 


PT = %: Pat = 4 

pr —- Mi; P%—- = im, 
und 

2, — it, =2pı, x, t+i2, =2m, 

x, + ia, = 29, x, — ix, = 2%. 


Es kommt dies auf die direkte Transformation hinaus: 


2p=mMtTmM-PptB: 
2m=Pp tm +P—-B: 
2p=mn-NMtPmRtP 
2B=—-m+Ntm+tP» 
29: = 2P,, 
2P% a 29, > 
und dieser entspricht die folgende Transformation der Punktkoordinaten 
ERBE 1 5 2 
YVıi= 2z.+3, Ri=za—-z: 
rRa=-z+2, NRsı=2z,+2. 

Indem wir auch in dem Falle imaginärer Tetraeder ganz dieselben Um- 
formungen anwenden können, erhalten wir den Satz, daß die vier Seiten- 
ebenen zweier Fundamentaltetraeder, welche sich nach einer Kante schneiden, 
so wie die vier Eckpunkte, welche auf einer Kante liegen, einander har- 
monisch konjugiert sind. 

25. Wir gehen dazu über, die geometrische Bedeutung der Gleichungs- 
form (26) zu untersuchen. Wir nehmen dabei der Einfachheit wegen an, 
daß alle Elementarteiler reell sind, daß also in (26) nur positive Zeichen 
vorkommen. 

Es sei eine Linie des Komplexes bekannt, deren Koordinaten sind: 


P1> Pa» P3> P4> Ps» Pe - 


Dann gehören demselben Komplexe eine Reihe anderer gerader Linien an, 
deren Koordinaten durch dieselben sechs Größen, zunächst nur in anderer 


I. Dissertation: Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grades. 45 


Reihenfolge, gegeben werden. Wir können p, mit p,, ?, mit p,, und 9, 
mit 9, vertauschen. So erhalten wir sieben neue gerade Linien, welche 
ebenfalls Linien des Komplexes sind: 


P;> P>; P3 > Pı> P; > Ps; 
Pı> P5> Pa» Pı> Pa: P3> 
Pı: P; > Pe > Pı> Pa; P3 ; 


Wir erhalten weitere Linien des Komplexes, wenn wir die Vorzeichen von 
p, und 2,, von p, und p,, von 9, und 9, ändern. So bekommen wir, 
einer jeden der vorstehenden acht Linien entsprechend, drei neue, die eben- 
falls dem Komplexe angehören. Im ganzen also sind, wenn eine Linie 
gegeben ist, damit 32 bestimmt. 

Diese Zahl leitet sich, wie folgt, unmittelbar ab. An die Stelle von 
+9, kann +9,, — ?,; — ?, treten; ebenso an die von +7, und +», 
bezüglich + 9,, — 95, — p, und +95 — P3, — Ps: Wir erhalten also 


4:44 = 64 


Kombinationen und dementsprechend = — 832 gerade Linien, weil ein 


Wechsel der Vorzeichen aller Koordinaten. die durch dieselbe dargestellte 
gerade Linie nicht ändert. 

Die Beziehung zwischen diesen 32 geraden Linien ist eine gegenseitige. 
Sie läßt sich geometrisch durch diejenigen zehn Flächen des zweiten Grades 
vermitteln, deren jede 12 Kanten des Systems der 30 Kanten der Funda- 
mentaltetraeder enthält (Nr. 23). Eine beliebige dieser Flächen ist mit 
Bezug auf ein passend gewähltes Fundamentaltetraeder dargestellt durch 
die Gleichung: 

4,4 32%, = 0; 

WO 2,,...,2, Punktkoordinaten bedeuten mögen. Dann entspricht der 
willkürlich angenommenen geraden Linie mit den Koordinaten: 


Pı> Pa> P3> P4> P5> Pe 


in bezug auf diese Fläche eine zweite als Polare, deren Koordinaten sind: 


P4 > Pa» — Pa> Pı> Ps: — Po» 
und dies ist eine der vorstehend aufgeführten 32 geraden Linien. So liefert 
jede dieser 32 Linien in bezug auf jede der zehn Flächen eine gerade Linie 
als Polare, welche selbst in der Reihe der 32 Linien enthalten ist. 
Wir können sagen, daß mit Bezug auf jede dieser zehn Flächen 
zweiten Grades der gegebene Komplex sich selbst reziprok ist, das heißt: 
einer jeden Linie des Komplexes entspricht in Beziehung auf jede dieser 


46 Zur Liniengeometrie. 


Flächen eine andere Linie desselben als Polare, oder mit andern Worten: 
dem von Komplexlinien, die durch einen festen Punkt gehen, gebildeten 
Kegel entspricht mit Bezug auf jede der vorstehend genannten Flächen 
eine ebene Kurve, die selbst wieder von Linien des Komplexes umhüllt wird. 

Die Bestimmung dieser zehn Flächen ist unabhängig von den in die 
Gleichung (26) eingehenden Konstanten. 

26. Die Gleichungsform (26) gibt eine geometrische Konstruktion der 
Komplexe des zweiten Grades. Wir können zunächst diese Form auf die 
folgende Gestalt bringen: 


(27) 2P,P,+2P,P,+2P,P,=0, 


wo P,,:..., P, lineare Komplexe bezeichnen. Wir brauchen zu diesem 
Zwecke nur jedesmal das Aggregat der Glieder: 


A,,u+3(Px + Px+3) + 2B,, ”»+3 Px' Px+3 


in das Produkt der beiden Linearfaktoren: 


2 (ep. + BP+3)-(BPx + @D.43) 


aufzulösen, wo «&, ß sich durch die Gleichungen bestimmen: 
20ß = A,,.r3; @®—+ = Byu.+s- 


Die Komplexe P,,..., P, lassen sich vermöge des Koordinatentetraeders 
und jedesmal einer ihnen angehörigen geraden Linie, oder allgemeiner, 
durch fünf ihrer Linien linear konstruieren '®). 

Man bestimme die sechs Ebenen, welche einem beliebigen Punkte des 
Raumes in bezug auf diese sechs linearen Komplexe entsprechen. Wir 
mögen diese Ebenen ebenfalls mit dem Symbole P,,..., P, bezeichnen. 
Dann lassen sich diejenigen beiden Kanten, nach welchen der Kegel zweiter 
Ordnung, welcher von den Linien des gesuchten Komplexes in dem ange- 
nommenen Punkte gebildet wird, eine beliebige dieser Ebenen, etwa P,, 
schneidet, als Durchschnitt dieser Ebene mit dem Kegel: 


P,P, + PP, = 9 
welcher durch zwei projektivische Ebenenbüschel, etwa: 
P,+4AP,: P,—-AP,, 


gegeben ist, konstruieren. Eine dreimalige Wiederholung dieser Konstruktion 
liefert sechs Kanten des fraglichen Komplexkegels. Fünf derselben reichen 
hin, um denselben zu bestimmen. 


27. Wir mögen zum Schlusse die Art der ausgezeichneten Beziehung 
untersuchen, in welcher die Fundamentaltetraeder zu dem Komplexe stehen. 





ı#, Plückers „Neue Geometrie“, Nr. 29. 


I. Dissertation: Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grades. 47 


Einer beliebigen geraden Linie ist, mit Bezug auf einen Komplex des 
zweiten Grades, nach Plücker, eine zweite als Polare zugeordnet'?). 
Dieselbe steht zu der ersten in der doppelten Beziehung, daß sie einmal 
der geometrische Ort ist für die Pole der ersten geraden Linie mit Bezug 
auf alle Kurven, die in den durch sie hindurchgelegten Ebenen von Linien 
des Komplexes umhüllt werden; dann, daß sie umhüllt wird von den Polar- 
ebenen der ersten geraden Linie mit Bezug auf alle Kegel, die in den 
Punkten derselben von Linien des Komplexes gebildet werden. Dieses 
Verhältnis zwischen den beiden Linien ist indes kein gegenseitiges. Zu 
der zweiten Linie gehört eine dritte, usf. Abgesehen von den Linien des 
Komplexes, die sich selbst konjugiert sind, wird es nur eine endliche Anzahl 
von geraden Linien geben, die selbst wieder die Polaren ihrer Polaren sind. 

Wenn wir in der Gleichung (26) beliebig solche drei Koordinaten ver- 
schwinden lassen, welche sich auf drei, sich in einem Punkte schneidende 
oder in einer Ebene ‚liegende Kanten des Fundamentaltetraeders beziehen 
so erhalten wir zur Darstellung des von dem Eckpunkte ausgehende. 
Kegels, bezüglich der in der Seitenfläche liegenden Kurve eine Gleichung, 
die nur die Quadrate der übrigen drei Variabeln enthält. Kegel und Kurve 
sind also bezüglich auf ein in bezug auf dieselben sich selbst konjugiertes 
Dreikant und Dreieck bezogen. Daraus folgt, daß die im Komplexe einer 
beliebigen Kante eines Fundamentaltetraeders zugeordnete Polare die gegen- 
überstehende Kante desselben Fundamentaltetraeders ist, daß also die 
Fundamentaltetraeder in einer solchen Weise ausgewählt sind, daß je zwei 
gegenüberstehende Kanten derselben gegenseitig mit Bezug auf den Kon,plex 
konjugiert sind. 

28. Nun läßt sich zeigen, daß außer den 30 Kanten der 15 Funda- 
mentaltetraeder keinen anderen Linien mehr die Eigenschaft zukommt, sich 
gegenseitig in bezug auf den gegebenen Komplex zu entsprechen. 

Denn es seien zwei derartige Linien gegeben. Wir wählen sie zu gegen- 
überstehenden Kanten eines Koordinatentetraeders und beziehen den Komplex 
auf dasselbe. Dann fehlen in seiner Gleichung, wenn wir die beiden ge- 
gegebenen Kanten mit P, und P, bezeichnen, die acht Glieder mit den 
doppelten Produkten: 

Pı Pa» PıP3> PıP5> PıPe >» 


Pı Pa: Pi P3> PL P5> PıP% > 





ı%) Plückers „Neue Geometrie“, Nr. 170. — Das Verhältnis einer geraden Linie 
zu ihrer Polaren läßt sich auch mit Hilfe der in der 12. Nummer erwähnten einfach 
unendlichen Schar linearer Polarsysteme darstellen, welche der angenommenen geraden 
Linie in bezug auf den gegebenen Komplex des zweiten Grades entsprechen. Die 
angenommene gerade Linie und ihre Polare sind die Direktrizen der durch die ein- 
ee Gruppe der linearen Polarkomplexe bestimmten Kongruenz. (Plücker, 
a.a. 0.) 


48 Zur Liniengeometrie. 


und es treten also p, und 2, nur in der Verbindung: 


A,ı I + 24,49 Pı + Ay v 
auf. Wenn wir also die beiden Formen: 


> Be 


und 

2 (Pı> Pa> Pg> Pı> Ps: Pe): 
wie wir statt Q schreiben wollen, den Gleichungen (25) entsprechend, auf 
zwei Formen transformieren, die nur die Quadrate der Variabeln enthalten, 
so wird es gestattet sein, diese Transformation mit den beiden Formen- 
paaren: 


2p,p, und a,p} +2a,P,9, + 4,P 
und 


299, + 2P;P5 und 2(0, P2: P3> 0, Ps; Pa) 


einzeln vorzunehmen. Damit ist der Beweis geführt, daß die Kanten P,,P, 
des angenommenen Koordinatentetraeders zu dem System der 30 Kanten 
der Fundamentaltetraeder gehören. Und somit haben wir den Satz: 

Es sei ein Komplex gegeben, dessen zugehörige Elementartevler sämt- 
lich linear und voneinander verschieden sind. Dann gibt es 30 gerade 
Linien, welche einander mit Bezug auf den Komplex gegenseitig konju- 
giert sind. Je nachdem von den linearen Elementarteilern 0, oder 2, 
oder mehr imaginär ausfallen, sind von diesen 30 geraden Linien be- 
züglich 18, oder 10, oder 6 reell. 


I. Dissertation: Transformation der allgemeinen Gleichung zweiten Grades. 49 


Thesen. 


1. Diejenige kanonische Gleichungsform, welche Battaglini seiner 
Arbeit über Komplexe des zweiten Grades zugrunde legt: 


Da. =0, 


ist nicht die allgemeine. 

2. Die Anwendung, welche Cauchy von den in seiner methode generale, 
propre & fournir les &quations de conditions relatives aux limites des corps 
[Comptes rendus, VIII (vgl. Cauchys Werke (1) IV, p. 193 ff.)] entwickelten 
Prinzipien auf lineare Differentialgleichungen einer beliebigen Ordnung gibt 
(ibid.), scheint nicht über alle Bedenken erhaben. 

3. Bei Erklärung der Lichtphänomene kann die Annahme eines Licht- 
äthers nicht umgangen werden. 

4. Positive und negative Elektrizität sind nicht als entgegengesetzt 
gleich zu betrachten. 

5. Es ist wünschenswert, daß neben der Euklidischen Methode neuere 
Methoden der Geometrie in den Unterricht auf Gymnasien eingeführt werden. 


Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 4 


Zu den folgenden liniengeometrischen Arbeiten. 


Den Abdruck der folgenden liniengeometrischen Arbeiten möchte ich mit einigen 
autobiographischen Notizen einleiten: 

1. Von Neujahr 1869 bis Mitte August war ich bei Clebsch in Göttingen, zu- 
nächst um Teil II der Plückerschen „Neuen Geometrie“ fertigzustellen, was bis 
zum 25. Mai gelang. Gleichzeitig entstanden die weiteren liniengeometrischen Arbeiten, 
die nachstehend unter II und III abgedruckt sind. Beim Vergleich mit der Dissertation 
wird man den anregenden Einfluß erkennen, den die Göttinger Umgebung auf mich aus- 
geübt hat. Ich wähle diesen etwas unbestimmten Ausdruck, weil neben Clebsch selbst 
die vorab noch kleine Zahl von Spezialschülern, die er um sich versammelt hatte, regsten 
Einfluß auf mich gewann. Clebsch selbst hatte uns damals vor allen Dingen die von 
ihm entdeckte rationale Abbildung der niedersten algebraischen Flächen auf die 
Ebene vorgetragen und insbesondere Nöther die prinzipielle Weiterführung dieser 
Untersuchungen und ihre Erweiterung auf mehrdimensionale Gebilde übertragen. Die 
weiter unten unter IV und V abgedruckten Notizen sind ein Beleg dafür, wie weit 
ich selbst, allerdings mehr beiläufig, an diesen Arbeiten teilnahm. — Im übrigen ist 
die damalige Anregung durch Clebsch für mich von viel durchschlagenderer Be-, 
deutung gewesen, als in diesen Einzelangaben hervortritt. Ich war nach Göttingen 
durchaus mit der Absicht gekommen, mich nach Vollendung der Plücker- Ausgabe 
wieder physikalischen Studien zuzuwenden. Diese Absicht schob ich nun zurück 
und habe nach verschiedenen späteren Ansätzen — die ersten Vorlesungen, die ich 
1871—72 hielt, bezogen sich noch in der Hauptsache auf physikalische Fragen — 
schließlich ganz darauf verzichten müssen. 

2. Von Ende August 1869 bis Mitte März 1870 bin ich in Berlin gewesen. 

Ich darf zunächst des engen Verkehrs mit meinem Düsseldorfer Freunde 
A. Wenker gedenken, der damals in den astronomischen Werkstätten von Pistor 
und Martins arbeitete). Wir haben zusammen die vier Modelle zur Theorie der 
Linienkomplexe zweiten Grades. hergestellt, von denen in Bd. II dieser Ausgabe die 
Rede sein soll. 

Das wichtigste Ereignis meiner Berliner Zeit aber war jedenfalls, daß ich Ende 
Oktober im dortigen mathematischen Verein mit dem Norweger $. Lie bekannt wurde. 
Wir hatten von verschiedenen Ausgangspunkten aus schließlich über dieselben oder 
doch nahe verwandte Fragen gearbeitet. So waren wir denn bald in regstem Gedanken- 
austausch fast täglich zusammen und schlossen uns um so näher aneinander an, als 
wir für unsere geometrischen Interessen in unserer nächsten Umgebung zunächst nur 
wenig Interesse fanden. 

Dies will nicht sagen, daß ich nicht auch von anderen Altersgenossen mannig- 
fache Anregung erfuhr. So habe ich damals durch L. Kiepert Weierstraß’ 
Theorie der elliptischen Funktionen kennen gelernt, von O. Stolz aber erfuhr ich 
zum ersten Male von Nicht-Euklidischer Geometrie und erfasste damals gleich den Ge- 
danken, daß diese mit Cayleys allgemeiner projektiver Maßbestimmung auf das 
engste zusammenhängen müsse. Vorlesungen habe ich in Berlin kaum gehört. Um so 





!) Wenker ist leider während des Krieges 1870/71 am Typhus gestorben. 


Zu den folgenden liniengeometrischen Arbeiten. 51 


eifriger beteiligte ich mich an dem von Kummer und Weierstraß geleiteten mathe- 
matischen Seminar, wo ich in der Kummerschen Abteilung zahlreiche Vorträge 
über Liniengeometrie hielt. Es ist mir noch heute unverständlich, warum sich zu 
den nahe verwandten Kummerschen Untersuchungen über algebraische Strahlen- 
systeme, so genau ich die Kummerschen Veröffentlichungen studierte, keine 
lebendige Beziehung entwickelt hat. Bei Weierstraß habe ich in dem Schlußseminar, 
Mitte März 1870, über Cayleysche Maßbestimmung vorgetragen und geradezu mit 
der Frage geschlossen, ob hier nicht eine Beziehung zur Nicht-Euklidischen Geometrie 
vorliege. Weierstraß lehnte dies ab, indem er die Entfernung zweier Punkte als 
notwendigen Ausgangspunkt für die Grundlegung der Geometrie erklärte und dem- 
entsprechend die Gerade als kürzeste Verbindungslinie definiert wissen wollte. 

3. Von Ende April 1870 bis zum Ausbruch des deutsch-französischen Krieges, 
Mitte Juli, war ich mit Lie zusammen in Paris. Wir wohnten Zimmer an Zimmer 
und haben neue wissenschaftliche Anregung wieder wesentlich in persönlichem Verkehr 
gesucht, insbesondere mit jüngeren Mathematikern. Einen großen Eindruck machte 
mir Camille Jordan, dessen trait& des substitutions et des &quations algebriques 
eben erschienen war und uns ein Buch mit sieben Siegeln erschien. Den nächsten 
Verkehr aber hatten wir mit G. Darboux. Die damals neuen Untersuchungen der 
Franzosen über metrische Geometrie (Geometrie der reziproken Radien, beständige 
Benutzung des Kugelkreises) waren uns in Deutschland noch unbekannt geblieben; 
jetzt ergab sich, daß sie auf das innigste mit unseren eigenen liniengeometrischen Ar- 
beiten verwandt waren. Insbesondere hatte Darboux für seine konfokalen Zykliden 
Untersuchungen mit fünf Veränderlichen angestellt, die das genaue Gegenstück ‚meiner 
vorherigen Verwendung der sechs linearen Fundamentalkomplexe in der Theorie der 
Komplexe zweiten Grades waren (vgl. die folgende Abhandlung Il). Für Lie kamen 
vielleicht noch mehr die Untersuchungen der Franzosen über die geometrische Theorie 
der Differentialgleichungen in Betracht; aus der Verschmelzung der beiden Ideen- 
kreise ist dann seine Entdeckung der Beziehung zwischen Haupttangentenkurven und 
Krümmungskurven erwachsen, die weiter unten wiederholt zur Sprache kommt. 

Der Krieg hat, so tief er in die Erlebnisse eines jeden von uns eingriff, doch 
lange nicht so störend auf unsere wissenschaftlichen Beziehungen gewirkt,. wie man 
heutzutage voraussetzen möchte. Ich hatte mich wegen der Mobilmachung in meine 
Heimat begeben, bin aber, nachdem ich für militäruntauglich erklärt wurde, erst gegen 
Mitte August in das Bonner Nothelferkorps eingetreten. Bis dahin hatte ich mit 
Lie, der solange noch in Paris geblieben war, ungestört mathematisch korrespon- 
dieren können. Die nächsten 4 Monate sind dann für jeden von uns mit mannig- 
fachen Erlebnissen ausgefüllt, deren Erzählung aber, so interessant sie sein möchte, 
nicht hierher gehört. Ich habe, vom 1. Oktober beginnend, lange Wochen typhus- 
krank in meiner Vaterstadt Düsseldorf gelegen. Um Mitte Dezember besuchte mich 
Lie dort auf seiner Rückreise nach Norwegen, und wir hapen damals die gemeinsame 
Note über die Haupttangentenkurven der Kummerschen Fläche fertiggestellt, die 
weiterhin unter VI abgedruckt ist. Als aber Paris Ende Januar 1871 gefallen war, 
hat sich sofort wieder ein lebhafter Briefwechsel mit Darboux entwickelt. 

4. Von Neujahr 1871 bis Ende September 1872 hat dann mein zweiter Göt- 
tinger Aufenthalt gedauert. Ich habe mich am 7. Januar 1871 habilitiert. Meine 
produktiven Arbeiten, die fortgesetzt durch fast tägliches Zusammensein mit Clebsch 
belebt wurden, galten zunächst einer ausführlicheren Darstellung der Ideen, die ich 
im Verkehr mit Lie gewonnen hatte. Ein reger Briefwechsel hielt dabei unsere 
persönliche Beziehung lebendig. Man vergleiche neben den nachstehend abgedruckten 
Abhandlungen über liniengeometrische Themata (VI—IX) insbesondere auch XXV 
und XXVI. Ich erhielt dann einen neuen wesentlichen Impuls dadurch, daß 
O. Stolz für das Sommersemester 1871 nach Göttingen kam. Die Ideen über den Zu- 
sammenhang der Nicht-Euklidischen Geometrie mit der Cayleyschen Maßbestimmung, 
die sich seit meiner Berliner Zeit bereits einigermaßen weitergebildet hatten, traten 


4* 


53 Zur Liniengeometrie. 


in den Vordergrund, und es gelang mir, Stolz nicht nur von ihrer Richtigkeit zu 
überzeugen, sondern auf Grund der Ansätze v. Staudts zu einer unabhängigen pro- 
jektiven Begründung der Gesamttheorie vorzudringen. Stolz war alle die Zeit nicht 
nur mein strenger Kritiker, sondern auch mein literarischer Anhalt. Er hatte Lo- 
batschewsky, Joh. Bolyai und v. Staudt genau studiert, wozu ich mich nie habe 
zwingen können, und stand mir bei allen meinen Fragen Rede und Antwort. 

Mein Interesse war schon von meiner Bonner Zeit her darauf gerichtet, im Wider- 
streite der sich befehdenden mathematischen Schulen das gegenseitige Verhältnis der 
nebeneinander herlaufenden, äußerlich einander unähnlicher und doch ihrem Wesen nach 
verwandter Arbeitsrichtungen zu verstehen und ihre Gegensätze durch eine einheitliche 
Gesamtauffassung zu umspannen. Innerhalb der Geometrie gab es in dieser Hinsicht 
noch viel für mich zu tun. Ich habe im Herbst 1871 insbesondere daran gearbeitet, 
die konsequente projektive Denkweise, wie ich sie beiSalmon-Fiedler kennen gelernt 
habe und Clebsch sie glänzend vertrat, wie sie sich dann wieder in der Nicht- 
Euklidischen Geometrie bewährt hatte, mit den Entwicklungen von Möbius’ baryzen- 
trischem Kalkul und den Grundanschauungen von Hamiltons Quaternionen in klare 
gegenseitige Beziehung zu setzen. So ist im November 1871 der Grundgedanke meines 
im Oktober 1872 ausgearbeiteten Erlarger Programms (XXVII) entstanden. Ich habe 
ihn zuerst in meiner zweiten Abhandlung über Nicht-Euklidische Geometrie (XVIIT) 
zur Darstellung gebracht, die infolge äußerer Druckschwierigkeiten erst nach dem 
Erlanger Programm erschien. Es ist dort noch, je nach der Gruppe, welche man bei 
der Behandlungsweise der. Geometrie zugrunde legen will, von verschiedenen „geo- 
metrischen Methoden“ die Rede, eine Ausdrucksweise, die ich später auf Anraten 
von Lie fallen gelassen häbe. 

5. Die nachstehend unter XII, XIII abgedruckten Abhandlungen gehören einer 
wesentlich späteren Zeit an (1885/86).| Sie sind hier angeschlossen, weil auch bei 
ihnen das liniengeometrische Interesse voransteht. Daß die Theorie der Kummer- 
schen Fläche, insofern letztere Singularitätenfläche von einfach unendlich vielen Kom- 
plexen zweiten Grades ist, mit derjenigen der hyperelliptischen Funktionen p= 2 
auf das innigste zusammenhängen muß, findet sich schon am Schlusse von IX 
(1871) ausgesprochen. Ich habe dann später, als ich in München war, meinem da- 
maligen Schüler Rohn vorgeschlagen, diesen Zusammenhang weiter zu verfolgen. 
Seine Dissertation (1878) gab eine Menge der merkwürdigsten Resultate, die dadurch 
an Aktualität gewannen, daß eben 1877—78 die Beziehung der Kummerschen 
Fläche zu den genannten hyperelliptischen Funktionen von Cayley, Borchardt und 
Weber von ganz anderem Ausgangspunkte aus bemerkt wurde. Es folgt 1879 die 
Habilitationsschrift von Rohn (Math. Ann., Bd. 15), deren Ergebnisse ich dann meiner- 
seits 1885, als ich begann, mich ausführlicher mit den hyperelliptischen und Abel- 
schen Funktionen zu beschäftigen, für meine Seminarvorträge durcharbeitete und 
durch möglichst unmittelbare (von Zwischenrechnungen befreite) Schlüsse zu beweisen 
suchte. Dies der Ursprung der Arbeiten XII, XII. 

Bei ihnen wird das Zusammengehen algebraischer Beziehungen geometrischer Ge- 
bilde mit den Ideenbildungen von Galois als wesentlich bekannt vorausgesetzt; es 
ist dies eine Sache, der ich in der Zwischenzeit viel Nachdenken gewidmet hatte 
und die in meinen Arbeiten über algebraische Gleichungen, welehe erst im Il. Bande 
dieser Abhandlungen abgedruckt werden sollen, zur vollen Geltung kommt. K. 


I. Zur Theorie der Linienkomplexe des ersten 
und zweiten Grades’). 


[Math. Annalen, Bd. 2 (1870).] 





Als Koordinaten. der geraden Linie im Raume betrachtet man die 
relativen Werte der aus den Koordinaten zweier Punkte oder zweier Ebenen 
gebildeten sechs zweigliedrigen Determinanten. Zwischen denselben besteht 
identisch eine Relation zweiten Grades: 


R= 


Indem sechs beliebig ausgewählte Größen, welche diese Gleichung befrie- 
digen, als Koordinaten einer geraden Linie angesehen werden können, ist 
es gestattet, von der Entstehungsweise der Linienkoordinaten aus den Koor- 
dinaten zweier Punkte oder Ebenen abzusehen, und die Linienkoordinaten 
als selbständige homogene Veränderliche zu betrachten, welche einer Glei- 
chung zweiten Grades zu genügen haben. | 

Eine weitere Gleichung zweiten Grades zwischen denselben: 


2=0 


bestimmt einen Linienkomplex des zweiten Grades. 

Es liegt nahe, die beiden Gleichungen R und Q durch eine lineare 
Substitution in solche zwei zu verwandeln, welche nur noch die Quadrate 
der Veränderlichen enthalten. Eine derartige Umformung ist bekanntlich 
immer und in einziger Weise möglich, vorausgesetzt, daß die Wurzelwerte, 
welche die gleich Null gesetzte Determinante der Form Q+4AP für A er- 
gibt, sämtlich voneinander verschieden sind?),. Im folgenden soll der 
geometrische Sinn dieser Transformation erörtert werden. Indem wir solche 
Komplexe zweiten Grades, bei welchen die in Rede stehende Umformung 





‘) Im Auszuge bereits mitgeteilt in den Göttinger Nachrichten, 1869, Sitzung 
vom 9. Juni, S. 258. 

?) In meiner Inaugural-Dissertation: Über die Transformation der allgemeinen 
Gleichung zweiten Grades zwischen Linienkoordinaten auf eine kanonische Form, 
Bonn, 1868 (Abhandlung I dieser Ausgabe) habe ich die algebraische Durchführung 
dieser Transformation behandelt. Ich habe dort zugleich die im Texte ausgeschlossenen 
Fälle von Komplexen zweiten Grades mit in Betracht gezogen und die ihnen ent- 
sprechenden kanonischen Gleichungsformen aufgestellt. 


54 Zur Liniengeometrie. 


nicht möglich ist, von der Betrachtung ausschließen, denken wir uns die 
beiden Formen R und 2 von vornherein in der vereinfachten Gestalt gegeben. 

Es sei gleich hervorgehoben, daß diese Gleichungsform nicht nur für 
die Komplexe zweiten Grades als solche, sondern auch für die mit diesen 
Komplexen in enger Beziehung stehenden Flächen vierter Ordnung und 
vierter Klasse mit 16 Doppelebenen und 16 Doppelpunkten von Wichtigkeit ist. 

Die statt der ursprünglichen Linienkoordinaten eingeführten neuen 
Veränderlichen stellen, gleich Null gesetzt, lineare Komplexe dar, welche 
in ausgezeichneter Weise zueinander gruppiert sind. In bezug auf dieselben 
ordnen sich die geraden Linien des Raumes zu Systemen von 32, die 
Ebenen und Punkte desselben zu Systemen von 16 Ebenen und 16 Punkten 
zusammen. Die Beziehung der 16 Ebenen und 16 Punkte eines solchen 
Systems zueinander ist dieselbe, wie die der 16 Doppelebenen und 16 Doppel- 
punkte jener Flächen vierter Ordnung und vierter Klasse. 

Die fundamentale Bedeutung dieser linearen Komplexe für den Komplex 
zweiten Grades ist die, daß für alle Elemente, welche einander durch die 
linearen Komplexe zugeordnet werden, die Beziehung zu dem Komplexe 
zweiten Grades dieselbe ist. Ein Gleiches, wie für den Komplex zweiten 
Grades, gilt für die durch denselben bestimmte Fläche der vierten Ordnung 
und vierten Klasse. Es folgt hieraus eine Reihe von Theoremen sowohl 
für jene Komplexe als für diese Flächen. 

Die algebraische Darstellung der bei diesen geometrischen Betrach- 
tungen auftretenden Gebilde gestaltet sich sehr einfach. Insbesondere stellt 
sich die Schar von Komplexen zweiten Grades, welche zu derselben Fläche 
vierter Ordnung und vierter Klasse gehören, auf dieselbe Art durch einen 
willkürlichen Parameter dar, wie ein System konfokaler Kurven oder 
Flächen zweiten Grades. 

Es sei noch bemerkt, daß wir von zwei einander reziprok entgegen- 
gesetzten Sätzen meistens nur den einen aufgenommen haben, ohne aus- 
drücklich auf den anderen hinzuweisen. 


1, 
Vorbereitende Betrachtungen. 
1. Die Koordinaten zweier Punkte einer geraden Linie seien durch: 
% %a; X 4; 
Yı> Ya Y> Yu» 
die Koordinaten zweier Ebenen derselben geraden Linie durch: 


U, Ug, U, U, 


II. Linienkomplexe ersten und zweiten Grades. 55 


bezeichnet. Als Koordinaten der geraden Linie sind dann die Determi- 
nanten: 

Pix UYı — Ya: 
oder die Determinanten: 

Ir UP, 7 Ur 


ı 


zu betrachten. Dabei ist: 


Pırt Pu= 0: Gt mit. 
Nach Plücker nennt man die Koordinaten p,, Strahlenkoordinaien, 
die Koordinaten g;, Achsenkoordinaten. 
Unter «, ß, y, ö die Zahlen 1, 2, 3, 4 in beliebiger Reihenfolge ver- 
standen, hat man die folgenden Identitäten: 


P=PapP;5 + PayPsp + PasPp; = 0; 
Q= gap9ys + Gar 158 + Gas Qpr = 0; 
die gemeinsam durch das Symbot: 
R=0 
bezeichnet sein mögen. 

In dieser Bezeichnung ist: 
°Q op 
Ogır ’ 4. 0 Öpır ’ 
wo o einen Proportionalitätsfaktor bedeutet. 

Eine gerade Linie, deren Koordinaten Dir, dr sind, werde im fol- 
genden durch (r®) bezeichnet. Statt p;%, qix werde in solchen Fällen, 
in welchen die Unterscheidung zwischen Strahlen- und Achsenkoordinaten 
unnötig ist, r;; geschrieben. 

2. Diese Bezeichnungsweise vorausgesetzt, schreibt sich die Bedingung 
dafür, daß zwei gerade Linien (r), (r’) sich schneiden, unter den folgenden 
gleichbedeutenden Formen: 


er; Oi 
SE, Opfı e 0, > Pik Op; er 0, 

0 _ 9 _ 
PET era 24470: 


Di Gr =; Dr Dir Gr =. 
Drei gerade Linien (r), (r’), (r”), die sich gegenseitig schneiden, haben 
entweder einen Punkt oder eine Ebene gemeinsam. Je nachdem das eine 


oder das andere stattfindet, verschwindet der zweite oder der erste Faktor 
der vier Produkte: 


PIE" Daß Pay Pas‘ EN + P,5P5RP%,; 


op. = 





56 Zur Liniengeometrie., 


die sich auch unter einer der folgenden Formen darstellen lassen: 


DE PapPeyp?s: D) + Yapdır Ws; 
IE DE Ger a 
Br: Q,5 Q5B QBr° > £ P,3P8R Ppy- 


Sind (r), (r’), (r”) gerade Linien, welche innerhalb derselben Ebene 
durch einen Punkt hindurchgehen, so verschwinden sämtliche aus den Koor- 
dinaten derselben gebildete dreigliedrige Determinanten, und man kann 
setzen: 

ng =ÄArigt+ urik- 

Es seien (r’), (r”), (r””) gerade Linien, welche in einer Ebene liegen 
oder durch einen Punkt hindurchgehen. Dann sind die Koordinaten einer 
beliebigen geraden Linie (r), welche in derselben Ebene liegt, bezüglich 
durch denselben Punkt hindurchgeht, darstellbar durch 


Lid 


air + ur + Prik. 

3. Wenn in den Ausdruck R an Stelle der Koordinaten einer geraden 
Linie die in die Gleichung eines Komplexes ersten Grades eingehenden 
Konstanten gesetzt werden, entsteht ein im allgemeinen nicht verschwinden- 
der Ausdruck, welcher die Invariante des Komplexes genannt werden mag. 
Das Verschwinden derselben sagt aus, daß der Komplex die Gesamtheit 
aller geraden Linien umfaßt, welche eine feste gerade Linie schneiden, 
deren Koordinaten die Konstanten des Komplexes sind, daß der Komplex 
ein sogenannter spezieller Komplex ist. 

Als simultane Invariante zweier linearer Komplexe sei der Ausdruck 
bezeichnet, welcher entsteht, wenn man in den bilinear geschriebenen Aus- 
druck R die Konstanten zweier linearer Komplexe einträgt. 

Das Verschwinden der simultanen Invariante zweier Komplexe drückt 
eine Beziehung zwischen denselben aus, welche als /nvolution bezeichnet 
werden mag. 

Sind beide lineare Komplexe spezielle, so ist das Verschwinden der 
simultanen Invariante die Bedingung dafür, daß sich die durch dieselben 
dargestellten geraden Linien schneiden. Ist nur einer der beiden Komplexe 
ein spezieller, so sagt das Verschwinden der simultanen Invariante aus, daß 
die durch denselben dargestellte gerade Linie dem anderen Komplexe angehört. 

In dem Folgenden sei angenommen, daß keiner der zu betrachtenden 
Komplexe ein spezieller sei. 

Alle geraden Linien, welche zwei linearen Komplexen gemeinschaftlich 
angehören, schneiden zwei feste gerade Linien, die Direktrizen der durch 
die beiden Komplexe bestimmten Kongruenz. Liegen die beiden Komplexe 


II. Linienkomplexe ersten und zweiten Grades. 57 


in Involution, so sind diejenigen beiden Punkte, welche in ihnen einer be- 
liebigen Ebene entsprechen, harmonisch zu denjenigen beiden Punkten, in 
welchen die Ebene von den beiden Direktrizen geschnitten wird. Läßt 
man eine Ebene sich um eine beiden Komplexen gemeinsame gerade Linie 
drehen, so sind die Punktepaare, welche der Ebene in ihren verschiedenen 
Lagen entsprechen, auf dieser geraden Linie in Involution. Einem jedem 
der beiden Punkte, welche durch die beiden Komplexe in einer beliebigen 
Ebene bestimmt werden, entspricht in denselben noch eine zweite Ebene. 
Diese Ebene ist für beide Punkte dieselbe. 

Die Ebenen und Punkte des Raumes ordnen sich mit Bezug auf zwei 
lineare Komplexe, welche in Involution liegen, in Gruppen von zwei 
Ebenen und zwei auf der Durchschnittslinie derselben liegenden Punkten. 

Mit Bezug auf drei gegenseitig in Involution liegende lineare Kom- 
plexe ordnen sich die Ebenen und Punkte des Raumes zu Tetraedern 
zusammen, welche sich in bezug auf die durch die drei linearen Kom- 
plexe bestimmte Fläche zweiten Grades konjugiert sind. Die drei Punkte, 
welche einer Seitenfläche eines solchen Tetraeders in den drei Komplexen 
entsprechen, sind die drei in derselben liegenden Eckpunkte des Tetraeders; 
umgekehrt sind die drei Ebenen, welche einem Eckpunkte entsprechen, die 
drei durch denselben hindurchgehenden Seitenflächen. 

4. Die Linienkoordinaten r,, stellen die mit gewissen (nicht voll- 
ständig willkürlichen) Konstanten multiplizierten Momente der zu be- 
stimmenden geraden Linie mit Bezug auf die sechs Kanten des Koordinaten- 
tetraeders dar. Wir fragen nach der Bedeutung einer allgemeinen linearen 
Transformation der Linienkoordinaten. 

Die Einführung linearer Funktionen der Linienkoordinaten an Stelle 
dieser Koordinaten kommt darauf hinaus, als Bestimmungsstücke der ge- 
raden Linie die mit willkürlichen Konstanten multiplizierten Momente 
derselben in bezug auf die sechs gegebene lineare Komplexe zu betrachten.?) 

Wenn man die durch eine lineare Substitution eingeführten neuen Ver- 
änderlichen in die zwischen den ursprünglichen Linienkoordinaten bestehende 
Identität einführt, erhält man einen Ausdruck des zweiten Grades in diesen 
Veränderlichen, der wieder mit R bezeichnet sein mag, dessen Verschwinden 
die notwendige und hinreichende Bedingung dafür ist, daß sechs, sonst be- 
liebig gegebene Werte der Veränderlichen auf eine gerade Linie bezogen 
werden können. 

Dieser Ausdruck R hat ganz dieselbe Bedeutung, wie der aus den 
früheren Koordinaten gebildete. So wie sich früher Strahlen- und Achsen- 





®) [Die Formulierung des Textes ist bei diesem Wiederabdruck etwas abgeändert 
worden, entsprechend den am Anfang der nächstfolgenden Abhandlung III zugefügten 
Bemerkungen, auf die hier verwiesen sei. K.] 


58 | Zur Liniengeometrie. 


koordinaten entsprachen, entsprechen sich jetzt die neuen Koordinaten und 
die nach denselben genommenen partiellen Differentialquotienten von R. 

Die Form von R gibt sofort Aufschluß über die Art und die gegen- 
seitige Lage der für die Koordinatenbestimmung zugrunde gelegten Komplexe. 

Insbesondere ist klar, daß, wenn R, wie es bei den ursprünglichen 
Koordinaten der Fall war, nur drei Glieder enthält, die neuen Veränder- 
lichen wiederum die Momente der zu bestimmenden geraden Linie in bezug 
auf die Kanten eines Tetraeders sind. 


II. 
Das System der sechs Fundamentalkomplexe. 


5. Die eingehends erwähnte Normal-Gleichungsform für Komplexe des 
zweiten Grades führt zur Untersuchung solcher linearer Funktionen der 
Linienkoordinaten, in welchen sich die Bedingungsgleichung R=0 als 
Summe der mit passenden Konstanten multiplizierten Quadrate schreibt. 
Gleich Null gesetzt, stellen dieselben sechs lineare Komplexe dar, welche 
die sechs Fundamentalkomplexe genannt werden sollen. 

Dieselben seien durch: 


u =I0, =I0, %=I0, ,=I0, %=0, %=0 
bezeichnet und die Symbole x gleich mit solchen Konstanten multipliziert 
gedacht, daß sich die Bedingungsgleichung unter der folgenden Form schreibt: 
(1) teen. 

Das System dieser Veränderlichen hängt von 15 Konstanten ab. 
Die Invariante eines linearen Komplexes: 


| 4%, 49% +... 492%, = 0 
ist in demselben dargestellt durch: 
a+ta-+...+a,, 
und die simultane Invariante zweier linearer Komplexe: 
a, +9 +:::+9%% = 0; 
b,2, +6, +...+56% = 0; 
ab, +ab,+:.:+0,b;:- 
Es folgt hieraus zunächst, daß die Multipla der x so gewählt sind, 
daß die Invarianten sämtlicher Fundamentalkomplexe der positiven Ein- 


heit gleich werden. Ferner folgt, daß die simultane Invariante zweier be- 


liebiger Fundamentalkomplexe verschwindet. 
Je zwei der sechs Fundamentalkomplexe liegen in Involution. 


durch: 


II. Linienkomplexe ersten und zweiten Grades. 59 


Die Bedingungsgleichung: 
R=0, 

wie sie zwischen den ursprünglichen Linienkoordinaten stattfand, umfaßte 
die. drei Produkte von jedesmal zwei der paarweise gruppierten sechs Ver- 
änderlichen. Wenn dieselbe also durch eine reelle lineare Substitution in 
der Art transformiert wird, daß sie nur die Quadrate der Variabeln ent- 
hält, so müssen sich unter diesen Quadraten gleich viele positive und 
negative finden. Indem ferner die Summe der Quadrate zweier konjugiert 
imaginärer Ausdrücke gleichwertig ist der Summe eines positiven und eines 
negativen reellen Quadrates, ergibt sich das Folgende‘): 

Es kann eine beliebige (gerade) Anzahl der sechs Fundamentalkom- 
plexe imaginär sein. 

Die Symbole x, welche reellen Fundamentalkomplexen entsprechen, 
sind so gewählt, daß die Hälfte von ihnen reelle, die andere H Bes rein 
imaginäre Koeffizienten enthält. 

Und hieraus: 

Die reellen Fundamentalkomplexe sondern sich in zwei gleich zahl- 
reiche Gruppen. Die Komplexe der einen Gruppe sind rechts-, die der 
anderen sind linksgewunden?). 

Die sechs Fundamentalkomplexe mögen im folgenden durch 
die Zahlen 1,2,..., 6 bezeichnet sein, und es bleibe unberücksichtigt, ob 
sich unter denselben imaginäre finden oder nicht. 

6. Die Direktrizen der Kongruenz der beiden Fundamentalkomplexe 
(1,2) haben offenbar als Koordinaten: 


es, =1, 09, = 4, 0,=I0, 0%,=0, 0,=0, 0, =0. 

Die Direktrizen der Kongruenz zweier Fundamentalkomplexe gehören 
den übrigen vier Fundamentalkomplexen an. 

Die Gesamtheit der geraden Linien, welche eine beliebige der beiden 
Direktrizen schneiden, ist dargestellt durch: 

+2 =0, 
oder, was dasselbe ist, durch: 
+7 +2 +=0. 

Die sechs Fundamentalkomplexe bestimmen = —=15 lineare Kon- 
gruenzen, deren 30 Direktrizen dementsprechend in ausgezeichneter Weise 
gruppiert sind. Indem die Direktrizen der Kongruenz (1,2) den Kom- 





“) [In der Darstellung des Textes ist nicht hinreichend klar zum Ausdruck ge- 
kommen, daß nur solche lineare Substitutionen betrachtet werden, bei denen unter 
den neu eingeführten Ausdrücken die konjugiert En zu gleicher Zeit vor- 
kommen.) 


5) Plücker, Neue Geometrie. Nr. 47. 


60: Zur Liniengeometrie. 


43 


=6 


plexen 3, 4, 5, 6 angehören, werden sie von den 12 Direktrizen der 


durch dieselben bestimmten Kongruenzen geschnitten. 

Je zwei zusammengehörige der 30 Direktrizen werden von 12 der 
übrigen geschnitten. 

Von den Direktrizen einer der drei Kongruenzen (1,2), (3, 4), (5, 6) 
schneidet jede die Direktrizen der anderen beiden Kongruerizen. 

Die Direktrizen solcher drei Kongruenzen, welche zusammen von sämt- 
lichen sechs Fundamentalkomplexen abhängen, bilden die Kanten eines 
Tetraeders. 

Hiermit in Übereinstimmung schreibt sich die Bedingungsgleichung 


R=% 


in den folgenden Veränderlichen: 


ltr, Yyaltız, alt 0% 


7 a Hut u a ie 


welche, gleich Null gesetzt, die betreffenden Direktrizen darstellen, in der 
für die Kanten eines Tetraeders charakteristischen Form: 


Yıyı tr yYı rt Y%—0. 

Die Gesamtheit der geraden Linien, welche in einer Seitenfläche des 
Tetraeders liegen oder durch einen Eckpunkt desselben gehen, ist darge- 
stellt durch: | 
2 + =d, 
a +2=(, 
+2 —=%: 


Indem sich sechs Elemente auf 15 verschiedene Weisen in drei Gruppen 
von zwei teilen lassen, bilden die 30 Direktrizen die Kanten von 15 Te- 
traedern. Diese Tetraeder mögen die Fundamentaltetraeder heißen. Die 
Eckpunkte und Seitenflächen dieser Tetraeder sind sämtlich verschieden. 

Je zwei zusammengehörige Direktrizen gehören als gegenüberstehende 
Kanten dreien der Fundamentaltetraeder an. Die zwölf Direktrizen, welche 
die angenommenen beiden schneiden, sind die noch übrigen 3-4 Kanten 
dieser Tetraeder. Diese drei Tetraeder bestimmen auf jeder der beiden 
Direktrizen sechs paarweise zusammengehörige Punkte. Indem die Funda- 
mentalkomplexe gegenseitig in Involution liegen, sind zwei beliebige der drei 
Paare gegeneinander harmonisch. Ein Gleiches gilt für die sechs Seitenflächen 
der Tetraeder, die sich nach einer beliebigen der beiden Direktrizen schneiden ®) 


. 
4’ 





®) Es geht hieraus hervor, daß die drei Tetraeder, welche zwei gegenüberstehende 
Kanten gemein haben, nie zugleich reell sein können. Bezüglich der Realität der 
hier vorkommenden Gebilde ist überhaupt das Folgende zu bemerken. Die sechs 


II. Linienkomplexe ersten und zweiten Grades. 61 


Mit Bezug auf ein beliebiges der 15 Fundamentaltetraeder teilen sich 
die vierzehn übrigen in zwei Gruppen von sechs und acht. Die Tetraeder 
der ersten Gruppe haben mit dem gegebenen zwei gegenüberstehende Kanten 
gemein, die der zweiten Gruppe nicht. 


7. Die sechs Direktrizen (1,2), (3,4), (5, 6), welche ein Tetraeder 
bilden, haben die folgenden Koordinaten: 








X X, L, T, L, Lg 
eye a ng i 5 
eier 
ee 


Welche von drei sich schneidenden dieser Direktrizen einen Punkt, 
welche eine Ebene gemeinschaftlich haben, kann nur dann entschieden 
werden, wenn der explizite Ausdruck der Veränderlichen &,,...,&, in den 
ursprünglichen Linienkoordinaten gegeben ist. Es mögen I, III, V durch 
einen Eckpunkt des Tetraeders gehen, dann liegen II, IV, VI in der gegen- 
überstehenden Seitenfläche. Ob drei sich gegenseitig schneidende gerade 
Linien (x,x’,x”) einen Punkt oder eine Ebene gemeinschaftlich haben, 
bestimmt sich dann, gemäß dem Obigen, danach, ob der erste oder der 
zweite der folgenden beiden Ausdrücke verschwindet: 


| 2, +12, x, +, x, + 12, 
Br are re], 
ut 8 +1 +12 
% — 1% 2 —ı2, x, — 1% 
x — ix x —ie x, — 12 
27 — ta, x, —ı2) x; — im 








Es ıst dabei gestattet, das Vorzeichen von & in zwei beliebigen Vertikal- 
reihen gleichzeitig zu ändern. 


Ähnliche Kriterien erhält man in bezug auf jedes der vierzehn übrigen 
Fundamentaltetraeder. 

8. Durch einen jeden der 60 Eckpunkte der 15 Fundamentaltetraeder 
gehen außer den drei zugehörigen noch weitere 12 der 60 Seitenflächen, 
die in drei Gruppen von je vier gesondert sind, welche sich bezüglich nach 





Fundamentalkomplexe sind entweder alle reell, oder es sind zwei, oder vier, oder alle 
imaginär. Diesen Annahmen entsprechend sind 


2 


Ne a See | 
der 15 Fundamentaltetraeder reell. 


der 30 Direktrizen und 


62 Zur Liniengeometrie. 


einer der drei durch den Eckpunkt hindurchgehenden Direktrizen schneiden. 
Eine jede derselben schneidet eine der drei zu dem Eckpunkte zugehörigen 
Seitenflächen in einer neuen geraden Linie. Der Punkt, in welchem die- 
selbe der dritten in dieser Seitenfläche liegenden Direktrix begegnet, ist 
einer der 59 weiteren Eckpunkte. 
Eine derartige Linie ist die folgende: 

%, Ta Tg % T, Tg 

0 0 1 i 1 i 
Dieselbe ist die Verbindungslinie der beiden Eckpunkte: 

| (2, +0, 3 tir, u ti): 

{2 — 10, Btitı: u ti): 
und die Durchschnittslinie der beiden Seitenebenen: 

(ddr, tin, rt iX, ); 

(2 Hi, ti, u +tir). 
Solcher geraden Linien gehen durch den angenommenen Eckpunkt zwölf. 
Es gibt ihrer im ganzen 





2-60 


Die 12 Seitenflächen, welche außer den drei zugehörigen durch einen 
Eekpunkt hindurchgehen und die in drei Büschel von vier verteilt sind, 
schneiden sich zu je drei nach 16 weiteren Linien, deren jede außer dem 
angenommenen Eckpunkte zwei weitere enthält. In der Tat, die gerade Linie: 





enthält die drei Eckpunkte: 
(x, +2, % ti, % + 1%): 
(2, +12, Bits + i2,); 
(2, +i2, SB tia, ,+i%,) 
und liegt in den drei Seitenflächen: 
(2, +30, ti: + iz,), 
(2, +12, u +10, + ix}, 
(, ti, u ti, 5 tim). 


Solcher gerader Linien gibt es ah — 320. 


In den vorstehenden Betrachtungen können überall die Worte Eck- 
punkt und Seitenfläche vertauscht werden. 

Die 30 Direktrizen der 15 durch die 6 Fundamentalkomplexe. be- 
stimmten Kongruenzen sind die Kanten von 15 ( Fundamental-) Teiraedern. 

Durch jeden der 60 Eckpunkte der Fundamentalietraeder gehen 15 
Seitenflächen,; in jeder der 60 Seitenflächen liegen 15 Eckpunkte. 


II. Linienkomplexe ersten und zweiten Grades. 63 


Es gibt 360 gerade Linien, welche je zwei der 60 Eckpunkte der 
Fundamentaltetraeder enthalten. Dieselben geraden Linien bilden den 
Durchschnitt von je zwei der 60 Seitenflächen. 

Es gibt 320 gerade Linien, auf welchen je drei der 60 Eckpunkte 
der Fundamentaltetraeder liegen. Nach denselben geraden Linien schnei- 
den sich je drei der 60 Seitenflächen. 

Die 30 Direktrizen der 15 durch die sechs Fundamentalkomplexe be- 
stimmten Kongruenzen enthalten je sechs der 60 Eckpunkte und sind der 
Durchschnitt von je sechs der 60 Seitenflächen. 

Die sechs Eckpunkte, sowie die sechs Seitenflächen gehören paarweise 
zusammen. Je zwei Paare sind zueinander harmonisch. 


9. Je drei der Fundamentalkomplexe, beispielsweise 1, 2, 3, be- 
stimmen eine Fläche des zweiten Grades vermöge der Linien ihrer einen 
Erzeugung. Die Direktrizen der Kongruenzen (2,3), (3,1), (1,2) sind 
Linien zweiter Erzeugung. Indem diese Direktrizen den Komplexen 4,5, 6 
angehören, ist klar, daß die Komplexe 4, 5, 6 dieselbe Fläche zweiten 
Grades vermöge der Linien ihrer anderen Erzeugung bestimmen. 
65:4 1 
1.2.3 2 
Gruppen von drei teilen. Je zwei zusammengehörige Gruppen bestimmen die- 
selbe Fläche des zweiten, Grades vermöge ihrer verschiedenen Erzeugungen. 

Die zehn so definierten Flächen mögen die zehn Fundamentalflächen 
heißen. 

Je zwei zusammengehörige der 30 Direktrizen gehören vier der Funda- 
mentalflächen als Erzeugende an. So liegt das Direktrizenpaar (1,2) auf 
den Flächen (1,2,3), (1,2,4), (1,2,5), (1,2,6). In bezug auf die 
übrigen sechs Fundamentalflächen sind die Direktrizen (1, 2) einander 
konjugierte Polaren. 

In bezug auf eins der Fundamentaltetraeder teilen sich die Funda- 
mentalflächen in zwei Gruppen. Die sechs Flächen der einen Gruppe ent- 
halten je vier der sechs Tetraederkanten, in bezug auf die Flächen der 
anderen Gruppe ist das Tetraeder sich selbst konjugiert. 

Um eine der Fundamentalflächen, etwa (1,2,3)=(4,5,6), darzu- 
stellen, diene die Bedingung, welche ausspricht, daß eine gerade Linie die 
Fläche berührt, mit anderen Worten, die Komplexgleichung der Fläche’). 


Die sechs Komplexe lassen sich auf — 10-fache Weise in zwei 





?) Sind f,, fs, fs drei lineare Komplexe, A,,, Ass, As, ihre Invarianten, A,, usf. 
ihre simultanen Invarianten, so ist die Komplexgleichung des durch sie bestimmten 


Hyperboloids: 
N Au DR 
(= fı Au Ayo Ass 
2 21 As Ass 
3 As Ag As 


64 . Zur Liniengeometrie. 


Dieselbe wird: 

2? +23 =0, 
oder, was offenbar dasselbe ist: 

+3 + =0. 

10. In bezug auf die sechs Fundamentalkomplexe gruppieren sich 
die geraden Linien des Raumes und die Ebenen und Punkte desselben 
zu ın sich geschlossenen Systemen, ähnlich wie dies mit den Ebenen und 
Punkten bei zwei oder drei in Involution liegenden Komplexen der Fall war. 

Sei zunächst eine gerade Linie gegeben, deren Koordinaten sind: 


RE 


at +:..+9%=0. 
Indem diese Relation bei willkürlicher Annahme der Vorzeichen der Koor- 


dinaten erfüllt bleibt, erhält man einer jeden der 2°— 32 Zeichenkombi- 
nationen: 


So ist: 


Ta, 28...,286 


entsprechend eine gerade Linie. Die Beziehung der 32 geraden Linien 
zueinander ist offenbar eine gegenseitige. 

Mit Bezug auf die sechs Fundamentalkomplexe gruppieren sich die 
geraden Linien des Raumes zu 32 zusammen. 

Indem man sich aus dem Schema: 


| 
“RR 7 SEE RE FE An 9 


+a, +0, +0, +a, ta, ta, 
die zweigliedrigen Determinanten gebildet und dieselben gleich Null gesetzt 
denkt, übersieht man sofort, daß von den 32 Linien 


2.15 mal 16 einem Komplexe, 
4-20 mal 8 einer Kongruenz, 
8-15 mal 4 einer Fläche zweiten Grades 


angehören, wobei jede der 32 Linien auf 15 der Komplexe, auf 20 der 
Kongruenzen und auf 15 der Flächen zweiten Grades liegt. 

Die 32 Linien teilen sich in zwei Gruppen von 16, je nachdem von 
ihren Koordinaten eine gerade oder eine ungerade Anzahl ein gleiches 
Zeichen besitzt. Wenn von einer geraden Linie einer der beiden Gruppen 
eine ebene Kurve erzeugt wird, geschieht ein Gleiches mit den übrigen 
15 Linien derselben Gruppe; die 16 Linien der anderen Gruppe erzeugen 
Kegelfläehen. 

Gegen eine beliebige Linie der einen Gruppe sondern sich die der 
anderen Gruppe in solche, welche ihre konjugierten Polaren in bezug auf 
die sechs Fundamentalkomplexe, und in solche, welche ihre konjugierten 


| 


II. Linienkomplexe ersten und zweiten Grades. 65 


Polaren in bezug auf die zehn Fundamentalflächen sind. Die Koordinaten 
der ersteren sechs unterscheiden sich von den Koordinaten der angenommenen 
geraden Linie durch einen Zeichenwechsel; die der letzteren zehn durch drei. 

Die Gleichung des 32. Grades, durch welche ein derartiges System 
von geraden Linien, wie das hier betrachtete, bestimmt wird, verlangt, 
nachdem die sechs Fundamentalkomplexe durch eine Gleichung des sechsten 
Grades gefunden worden sind, nur noch die Auflösung von Gleichungen 
des zweiten Grades. 

Das System der 32 zusammengehörigen geraden Linien vereinfacht 
sich, sobald eine oder mehrere der Koordinaten a gleich Null sind. Insbe- 
sondere entsprechen sich diejenigen geraden Linien, welche zwei zusammen- 
gehörige der 30 Direktrizen schneiden, zu 8, diejenigen, welche Erzeugende 
einer der zehn Fundamentalflächen sind, zu 4, endlich die 30 Direktrizen 
selbst zu 2. 

11. Sei die Gleichung der Projektion des in einer beliebig ange- 
nommenen Ebene dem Komplexe 


% =0 
entsprechenden Punktes auf eine der Koordinatenebenen: 
au+bv+cw=0. 
Dann verschwindet, zufolge der Bedingungsgleichung: 


2 +23+..+%=0 
der Ausdruck 


en (a,u +50 + c,w)' 


L...8 
identisch. Es verschwindet also auch die folgende Determinante: 
Be ehe 

2 2 2 
net en a a, 





| 
| 


Bei Di u, 
was aussagt, daß die sechs Punkte 1,2,...,6 auf einem Kegelschnitt 
liegen. 
Die sechs Punkte, welche einer beliebigen Ebene in den sechs Funda- 
mentalkomplexen entsprechen, liegen auf einer Kurve der zweiten Ordnung. 
Die sechs Ebenen, welche einem beliebigen Punkte in den sechs Funda- 
mentalkomplexen entsprechen, umhüllen einen Kegel der zweiten Klasse. 
Wenn die beliebig angenommene Ebene durch einen der 60 Eckpunkte 


der 15 Fundamentaltetraeder hindurchgeht, so wird das von den sechs, 
Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. d 


66 Zur Liniengeometrie. 


den Fundamentalkomplexen entsprechenden Punkten gebildete Sechseck ein 
Brianchonsches. Der Tetraedereckpunkt wird der Brianchonsche Punkt. 
Das Sechseck erhält zwei, bez. drei in gerader Linie liegende Brianchon- 
sche Punkte, wenn die beliebig angenommene Ebene eine der 360, bez. 
der 320 zu dem System der Fundamentaltetraeder gehörigen geraden Linien 
enthält. Die Zahl der Brianchonschen Punkte wird vier, wenn die Ebene 
durch eine der 360 geraden Linien und eine dieselbe schneidende der 320 
geraden Linien hindurchgelegt ist. 

Wenn die beliebig anzunehmende Ebene eine der zehn Fundamental- 
flächen berührt, so liegen die sechs den Fundamentalkomplexen entsprechen- 
den Punkte zu drei auf zwei geraden Linien: den beiden Erzeugenden der 
Fundamentalfläche, welche die Ebene enthält. Ist die Ebene durch eine 
der 30 Direktrizen hindurchgelegt, so rücken von den sechs Punkten vier 
auf die Direktrix, die anderen zwei fallen in den Durchschnittspunkt mit 
der zugehörigen Direktrix. Fällt endlich die Ebene mit einer der Seiten- 
flächen der Fundamentaltetraeder zusammen, so rücken die sechs Punkte 
paarweise in die drei zusammengehörigen Tetraedereckpunkte. 


12. Die sechs Punkte, welche einer gegebenen Ebene in den sechs 
Fundamentalkomplexen entsprechen, seien mit: 


1,2,.9,.4,9,8 


bezeichnet. Einem jeden dieser Punkte entsprechen außer der gegebenen 
fünf weitere Ebenen. Es gibt das, insofern die Ebene, welche 1 in x, 
entspricht, mit der Ebene zusammenfällt, die zu 2 in, gehört, im ganzen 
15 neue Ebenen, welche die gegebene nach den 15 Verbindungslinien der 
sechs Punkte unter sich schneiden. Die drei Ebenen (2,3), (3,1), (1,2) 
schneiden sich (vgl. Nr. 3) in dem Pole der gegebenen Ebene mit Bezug 
auf die Fundamentalfläche (1,2,3). Indem diese Fläche mit der Fläche 
(4, 5,6) identisch ist, schneiden sich die Fbenen (5, 6), (6,4), (4,5) in 
demselben Punkte. Die sechs Ebenen, welche diesem Punkte in den sechs 
Fundamentalkomplexen 
2, 


entsprechen, fallen mit den Ebenen: 
23. 5, 11,0 1,6. 16,8, 14,5 


zusammen, welche in der Tat, wie dies aus der Betrachtung des Sechsecks 
123456 hervorgeht, einen Kegel der zweiten Klasse umhüllen. 

Mit Bezug auf die Fundamentalkomplexe gruppieren sich die Ebenen 
und Punkte des Raumes zu in sich geschlossenen Systemen von 16 Ebenen 
und 16 Punkten. In jeder der 16 Ebenen liegen sechs der 16 Punkte, 
durch jeden der 16 Punkte gehen sechs der 16 Ebenen. Die sechs Punkte 


II. Linienkomplexe ersten und zweiten Grades. 67 


in einer Ebene liegen auf einer Kurve der zweiten Ordnung, die sechs 
Ebenen durch einen Punkt umhüllen einen Kegel der zweiten Klasse. 

Wenn eine der 16 Ebenen gegeben ist, findet man die 16 Punkte, 
indem man die ihr in den sechs Fundamentalkomplexen entsprechenden 
Punkte und die ihr in bezug auf die zehn Fundamentalflächen konjugierten 
Pole konstruiert. 

Von der hier betrachteten Art ist das System der 16 Doppelebenen 
und 16 Doppelpunkte der Flächen vierter Ordnung und vierter Klasse, 
die Herr Kummer untersucht hat”). 

Wenn eine von 32 in bezug auf die Fundamentalkomplexe zusammen- 
gehörigen geraden Linien in einer der 16 Ebenen eines solchen Systems 
liegt, so verteilen sich die 15 Linien derselben Gruppe auf die 15 weiteren 
Ebenen und die 16 Linien der anderen Gruppe auf die 16 Punkte. Berührt 
insbesondere die angenommene gerade Linie den in der betreffenden Ebene 
liegenden Kegelschnitt, so findet dasselbe bei den 15 Linien derselben 
Gruppe statt, und die 16 Linien der anderen Gruppe sind Seiten der von 
den 16 Punkten ausgehenden Kegel. 

Die 32 zusammengehörigen Linien sind durch die Vorzeichen ihrer 
Koordinaten unterschieden. Es gibt diese Bemerkung unmittelbar die Be- 
zeichnung derselben durch fünf Indizes, welche zwei verschiedene Werte an- 
nehmen können. Auf ähnliche Weise können die 16 Ebenen und 16 Punkte 
des hier betrachteten Systems bezeichnet werden. Die 16 Ebenen ent- 
sprechen den geraden Linien der einen, die 16 Punkte denen der anderen 
Gruppe. Es geht hieraus hervor, daß die Gleichung 16. Grades, welche die 
16 Ebenen bestimmt, von der eben betrachteten Gleichung des 32. Grades 
nur dadurch verschieden ist, daß bei ihr eine Quadratwurzel als bekannt 
vorausgesetzt wird. 

Wenn einer von den 16 Punkten des hier betrachteten Systems in 
einer der 16 Ebenen eines beliebigen ähnlichen Systems liegt, findet ein 
Gleiches für die übrigen 15 Punkte statt, und jede der 16 Ebenen enthält 


einen der 16 Punkte des zweiten Systems. 


Die 16 Ebenen eines Systems schneiden sich nach nn — 120 geraden 


Linien, welche zugleich die Verbindungslinien der 16 Punkte sind. Die- 
selben sondern sich in 15 Gruppen von jedesmal acht. Die Linien einer 
Gruppe gehören denselben beiden Fundamentalkomplexen an und haben 
also die beiden entsprechenden Direktrizen zu gemeinschaftlichen Trans- 
versalen. Es gibt dies das Mittel, aus dem Systeme der 16 Ebenen und 
16 Punkte die 30 Direktrizen und die 15 Fundamentaltetraeder zu kon- 
struieren. 


®) Monatsberichte der Berliner Akademie, 1864. 
5% 


68 Zur Liniengeometrie. 


Außer in den 16 Punkten des Systems schneiden sich die 16 Ebenen 
desselben zu drei in 240 Punkten, welche zu sechs auf «den 120 Durch- 
schnittslinien liegen. Ebenso gibt es 240 Ebenen, welche drei der 16 Punkte 
des Systems enthalten. Sie schneiden sich zu sechs nach denselben 120 ge- 
raden Linien. 

Wenn eine der 16 Ebenen des Systems gegen die sechs Fundamental- 
komplexe eine ausgezeichnete Lage hat, findet ein Gleiches für die übrigen 
15 Ebenen und die 16 Punkte statt. Besonders hervorzuheben ist das- 
jenige System, welches entsteht, wenn eine der Ebenen einen der 60 Eck- 
punkte der Fundamentaltetraeder enthält. Dann gehen die 16 Ebenen zu 
vier durch die Eckpunkte des fraglichen Tetraeders und die 16 Punkte 
liegen zu vier in den Seitenflächen desselben. Es ist das System das Singu- 
laritätensystem eines Tetraedroids®) geworden. Die Gleichung 16. Grades, 
welche die Ebenen des Systems bestimmt, ist hier algebraisch lösbar, indem 
dieselbe nur die Auflösung einer biquadratischen Gleichung und mehrerer 
quadratischer verlangt. 


IH. 


Die Kummersche Fläche und ihr Zusammenhang mit den Komplexen 
zweiten Grades. 


13. Als Gleichung des zu untersuchenden Komplexes zweiten Grades 
sei die folgende gegeben: 


2) ke? +k,22+..+k=0. 
Dabei ist: 
(1) +2 +..+2=0, 


so daß der Komplex unverändert bleibt, wenn statt k, allgemein geschrieben 
wird k„+4. Die vier Konstanten, welche hiernach noch in der Glei- 
chung (2) enthalten sind, geben mit den 15 Konstanten der Fundamental- 
komplexe die 19 Konstanten des Komplexes zweiten Grades. 

Die Gleichungsform (2) sagt aus, daß der gegebene Komplex und 
alle von demselben unmittelbar abhängigen geometrischen Gebilde sich 
selbst mit Bezug auf das System der sechs Fundamentalkomplexe ent- 
sprechen”). 

Es gruppieren sich also die Linien des Komplexes in Systeme von 32. 
Jedesmal 16 Komplexkurven und 16 Komplexkegel gehören zusammen usf. 

Aus diesem Satze leiten sich, unter Zugrundelegung der von Plücker 





?) Cayley in Liouvilles Journal, 11 (1846). (Coll. Papers, Bd. I, 302—306.) 
10) Dieses gegenseitige Entsprechen kann statt als durch die sechs Fundamental- 
komplexe auch als durch die zehn Fundamentalflächen vermittelt angesehen werden. 


II. Linienkomplexe ersten und zweiten Grades. 69 


entwickelten Eigenschaften der Komplexe des zweiten Grades'!?), die im 
folgenden aufgeführten Theoreme ab. 

14. Diejenigen Punkte, deren Komplexkegel in ein Ebenenpaar zer- 
fällt, die sogenannten singulären Punkte, bilden eine Fläche der vierten Ord- 
nung und Klasse, mit 16 Doppelpunkten und 16 Doppelebenen. Dieselbe 
Fläche wird von den singulären Ebenen umhüllt, solchen Ebenen, deren 
Komplexkurve sich in das System zweier Punkte aufgelöst hat??). 

Eine derartige Fläche soll im folgenden eine Kummersche Fläche 
genannt werden. In ihrer Beziehung zum Komplexe heiße sie seine Singu- 
laritätenfläche. 

Die nächstfolgenden Betrachtungen untersuchen die Kummersche 
Fläche als solche, abgesehen von ihrer Beziehung zu dem gegebenen 
Komplexe. 

Eine Kummersche Fläche entspricht sich selbst mit Bezug auf eın 
System von sechs Fundamentalkomplexen. 

Die bezüglichen Fundamentalkomplexe'?) seien jedesmal, nach wie vor, 
durch &,,%,, ...,%, bezeichnet, 

Zur Bestimmung der Tangentialebenen, welche sich an eine gegebene 
Kummersche Fläche durch eine gerade Linie 


ER de = 
legen lassen, dient eine Gleichung des vierten Grades. Dieselbe kann nur 


die Quadrate der Koordinaten a enthalten'*).... Es sind also die vier Tan- 
‚gentialebenen, welche durch eine beliebige der 32 geraden Linien: 


Er LU... 
hindurchgehen, alle durch dieselbe biquadratische Gleichung bestimmt. 





11) Neue Grometrie des Raumes, gegründet auf die Betrachtung der geraden Linie 
als Raumelement. Von Julius Plücker. Leipzig, B. G. Teubner, 1868, 1869. 

12) Plücker, Newe Geometrie. Nr. 311, 320. 

13) Für die Fresnelsche Wellenfläche, die sich aus dem Ellipsoid: 

% 2 % 98 2 93 
az+by+cz=]1 
ableitet, sind die Fundamentalkomplexe die folgenden : 
(y2’ -y'z)tay-1(x-x’)=0, (yz’-y'’z2)-ay-1(z-z’)=0, 
(z2’ -2’z)+by-I(y-y’)=0, (2e’-2'2)-by—-l(y-y’)=0, 
(zy'’—z’y)+ey—1(2—-.’)=0, (zy'—’y)—cy—-1(z—-:’)=0. 

14) [Diese Behauptung ist an sich richtig, war aber im Text nicht richtig be- 
gründet worden; die Begründung müßte aus den algebraischen Entwickelungen des 
Abschnittes IV mühsam abgeleitet werden, ist also hier weggelassen. — Ich hatte den 
Satz von der Gleichheit der anharmonischen Verhältnisse, auf den die Überlegung hin- 
zielt, ursprünglich durch dieselbe Methode bewiesen, welche später Herr A. Voß in 
der Abhandlung: Über Komplexe und Kongruenzen, Math. Annalen, Bd.9 (1876) ent- 
wickelt hat und die davon ausgeht, daß eine beliebige gerade Linie nach (8) bis (10), 
S.79 einem (und sogar vier) Komplexen zweiten Grades angehört, die dieselbe Singulari- 


FE -. Zur Liniengeometrie. 


Den vier Tangentialebenen, welche sich durch die gegebene gerade 
Linie an die Fläche legen lassen, sind die vier Durchschnittspunkte einer 
beliebigen der 16 Linien der anderen Gruppe mit der Fläche reziprok zuge- 
ordnet. Es folgt hieraus und aus dem Vorhergehenden, daß dieselbe Glei- 
chung die durch eine beliebige gerade Linie gehenden Tangentialebenen 
und die auf derselben liegenden Durchschnittspunkte bestimmt. 

Das anharmonische Verhältnis der vier Tangentialebenen, welche sich 
durch eine gerade Linie an eine Kummersche Fläche legen lassen, ist 
gleich dem anharmonischen Verhältnisse der vier Durchschnittspunkte der- 
selben Linie mit der Fläche. 

15. Es sei ein Punkt einer Kummerschen Fläche gegeben. Aus dem- 
selben leitet sich vermöge der sechs entsprechenden Fundamentalkomplexe 
ein System von 16 Punkten und 16 Ebenen ab. Die Punkte sind Punkte 
der Fläche, die Ebenen Ebenen derselben. Ebenso entspricht der Tan- 
gentialebene in dem gegebenen Punkte ein System von 16 Ebenen und 
16 Punkten der Fläche. Die beiden Systeme stehen in der gegenseitigen 
Beziehung, daß in jeder Ebene des einen ein Punkt des anderen liegt, 
welcher der zugehörige Berührungspunkt ist. Es folgt hieraus, daß die 
sechs geraden Linien, nach welchen eine Ebene des einen Systems von 
den sechs dem zugehörigen Berührungspunkte in dem anderen Systeme 
entsprechenden Ebenen geschnitten wird, außer in dem allen gemeinsamen 
Punkte jede noch in einem derjenigen sechs Punkte berühren, welche der 
angenommenen Ebene in den Fundamentalkomplexen entsprechen. Es sind 
also diese Linien Doppeltangenten der Fläche. Somit ergeben sich die 
folgenden Sätze: 

Nachdem die einer Kummerschen Fläche zugehörigen Fundamental- 
komplexe durch eine Gleichung des sechsten Grades bestimmt worden sind, 
leiten sich aus den Koordinaten eines Punktes (einer Ebene) der Fläche 
die Koordinaten von 32 Punkten, 32 Ebenen und 96 Doppeltangenten 
derselben rational ab. 

Die sechs Tangenten, welche sich von dem Berührungspunkte einer 
Ebene der Kummerschen Fläche an die in derselben liegende Durch- 
schnittskurve ziehen lassen, berühren in den sechs auf einem Kegelschnitt 
gelegenen Punkten, welche der angenommenen Ebene in den sechs Funda- 
mentalkomplexen entsprechen. 


tätenfläche haben. In meiner Note: Über die Plückersche Komplexfläche (siehe 
Abhandlung XI dieser Ausgabe) habe ich einen anderen Beweis gegeben, der sich in 
einer mehr elementaren Weise an die von Plücker selbst gefundenen Eigenschaften 
der allgemeinen Komplexflächen anschließt. — Für die Auffindung des Satzes war 
im übrigen der Anlaß gewesen, daß v. Staudt ein ähnliches Theorem für das Tetra- 
eder aufgestellt hatte und man das Tetraeder (als Inbegriff von vier Ebenen und vier 
Ecken) als äußerste Ausartung einer Kummerschen Fläche ansehen kann. K.] 


II. Linienkomplexe ersten und zweiten Grades. 71 


Die 28 Doppeltangenten einer beliebigen ebenen Durchschnittskurve 
einer Kummerschen Fläche teilen sich in zwei Gruppen von 16 und 12. 
Die Doppeltangenten der ersten Gruppe sind der Durchschnitt der Ebene 
der Kurve mit den 16 Doppelebenen der Fläche. Die 12 Doppeltangenten 
der zweiten Gruppe sondern sich in Gruppen von zwei. Die sechs Punkte, 
in welchen sich bezüglich die Linien der verschiedenen Paare schneiden, 
sind die auf einem Kegelschnitt gelegenen sechs Punkte, welche der Ebene 
der Kurve in den sechs Fundamentalkomplexen entsprechen. 


Die Doppeltangenten einer Kummerschen Fläche bilden sechs ver- 
schiedene Kongruenzen der zweiten Ordnung und Klasse, deren jede einem 
der sechs Fundamentalkomplexe angehört"). 


16. Ausgezeichnet unter den in bezug auf die sechs Fundamental- 
komplexe zusammengehörigen Systemen von 16 Punkten und 16 Ebenen 
der Kummerschen Fläche ist das System der 16 Doppelpunkte und 
16 Doppelebenen derselben. An Stelle des zugehörigen zweiten Systems 
tritt in diesem Falle das System der 16 Berührungskegel und der 16 Be- 
rübrungskurven. Die 96 Doppeltangenten werden durch die 96 Büschel 
solcher gerader Linien ersetzt, welche bezüglich innerhalb einer der Doppel- 
ebenen durch einen der Doppeipunkte hindurchgehen. 


Die Bestimmung der Singularitäten einer Kummerschen Fläche 
hängt von der Auflösung einer Gleichung sechsten Grades und mehrerer 
quadratischer Gleichungen ab'*). 

Um die Fundamentaltetraeder aus dem Singularitätensystem einer 
Kummerschen Fläche zu finden, hat man diejenigen 30 geraden Linien 
zu konstruieren, welche acht der 120 Durchschnittslinien der 16 Doppel- 
ebenen schneiden. 

Wenn außer den sechs Fundamentalkomplexeri eine der Doppelebenen 
der Kummerschen Fläche bekannt ist, läßt sich die Fläche konstruieren”). 
Denn indem dann durch die Fundamentalkomplexe sämtliche 16 Doppel- 
ebenen und die Berührungskurven in ihnen gegeben sind, kennt man zur Kon- 
struktion einer beliebigen ebenen Durchschnittskurve der Fläche 16 Doppel- 
tangenten und die Berührungspunkte auf denselben. 


Enthält die gegebene Doppelebene einen der 60 Eckpunkte der Funda- 
mentaltetraeder, so wird die zugehörige Kum mersche Fläche ein Tetraedroid. 
Ein Tetraedroid st dadurch charakterisiert, daß die sechs in einer 





15) Vgl. Kummer. Abhandl. der Berl. Akad., 1866. 

16) C. Jordan in Crelles Journal, Bd. 70 (1869). 

1°), Wenn man die Doppelebene durch eine derjenigen 320 geraden Linien hin- 
durchlegt, welche drei der 60 Eckpunkte der 15 Fundamentaltetraeder enthalten, so 
erhält man eine Fläche, die dem Modelle entspricht, dessen Herr Kummer (Monats- 
berichte der Berl. Akad., 1864) Erwähnung tut. 


72 Zur Liniengeometrie. 


Doppelebene desselben liegenden Doppelpunkte ein Brianchonsches Sechs- 
eck bilden. 
Die Singularitäten eines Tetraedroids sind algebraisch bestimmbar. 


17. Wir wenden uns zur Betrachtung der Komplexe zweiten Grades 
zurück. 

Diejenigen geraden Linien, welche Durchschnittslinien zweier Ebenen 
sind, in welche sich ein Komplexkegel aufgelöst hat, oder, was auf das- 
selbe hinauskommt, diejenigen geraden Linien, welche Verbindungslinien 
zweier Punkte sind, in welche eine Komplexkurve zerfallen ist, sind die 
singulären Linien des Komplexes. Dieselben bilden eine Kongruenz der 
vierten Ordnung und Klasse. Die singulären Linien berühren die Singu- 
laritätenfläche des Komplexes. Der Berührungspunkt heißt der zugeordnete 
singuläre Punkt, die Berührungsebene die zugeordnete singuläre Ebene. 
Der Komplexkegel, dessen Mittelpunkt der zugeordnete singuläre Punkt 
ist, hat sich in die beiden Tangentialebenen der Singularitätenfläche auf- 
gelöst, die außer der doppelt zu zählenden zugeordneten singulären Ebene 
durch die singuläre Linie hindurchgehen. Entsprechend ist die Komplex- 
kurve in der zugeordneten singulären Ebene in das System derjenigen 
beiden Punkte zerfallen, welche der singulären Linie neben dem doppelt 
zu zählenden zugeordneten singulären Punkte mit der Singularitätenfläche 
gemein sind?®). 

Die Komplexkurve, welche in einer beliebigen Ebene liegt, berührt 
die Durchschnittskurve vierter Ordnung der Ebene mit der Singularitäten- 
fläche in vier Punkten. Gemeinschaftliche Tangenten beider Kurven in 
diesen Punkten sind die vier in der Ebene liegenden singulären Linien '?). 


Welche unter den Tangenten der Singularitätenfläche in einem ge- 
gebenen Punkte derselben dem gegebenen Komplexe als singuläre Linie 
angehört, ist durch die Fläche selbst noch nicht bestimmt. Es kann eine 
aus der einfach unendlichen Anzahl der Tangenten willkürlich als singuläre 
Linie angenommen werden; dann läßt sich ein zugehöriger Komplex ein- 
deutig bestimmen. Aus der zugeordneten singulären Ebene leitet sich ver- 
möge der sechs Fundamentalkomplexe ein System von 16 singulären Ebenen 
ab. Sobald die beiden Punkte, in welche die Komplexkurve für die eine 
singuläre Ebene zerfallen ist, durch Auflösung einer quadratischen Gleichung 
bestimmt worden sind, sind die entsprechenden Punkte in den übrigen 
Ebenen bekannt. Sechs unter denjenigen Komplexlinien, welche durch 
einen der Schnittpunkte von drei der 16 Ebenen hindurchgehen, sind also 
gegeben und deshalb die Komplexkegel für diese Punkte linear konstruier- 





18) Plücker, Neue Geometrie. Nr. 317. 
19) Plücker, Neue Geometrie. Nr. 318. 


1I. Linienkomplexe ersten und zweiten Grades. 73 


bar. Indem diese Schnittpunkte zu sechs auf einer jeden der 120 Durch- 
schnittslinien von zwei der 16 Ebenen liegen, kennt man die zu diesen 
Linien gehörigen Komplexflächen. Zur Konstruktion der in einer beliebigen 
Ebene liegenden Komplexkurve kann man also über 240 Tangenten verfügen. 

Wenn eine Kummersche Fläche und eine dieselbe berührende gerade 
Linie gegeben ist, so kann man einen Komplex zweiten Grades eindeutig 
konstruieren, welcher die Fläche zur Singularitätenfläche und die gerade 
Linie zur singulären Linie hat. 

Eine Kummersche Fläche ist die Singularitätenfläche für eine ein- 
fach unendliche Schar von Komplexen zweiten Grades. 

Eine Kummersche Fläche hängt von 18 Konstanten ab”). 


Wenn die gegebene gerade Linie eine Doppeltangente der Fläche ist, 
so artet der zugehörige Komplex in den doppelt zu zählenden linearen 
Fundamentalkomplex aus, welchem die Doppeltangente angehört. 

Zu der Schar von Komplexen zweiten Grades, welche eine gegebene 
Kummersche Fläche zur Singularitätenfläche haben, gehören auch die 
doppelt zu zählenden sechs linearen Fundamentalkomplexe. Als singuläre 
Linien eines solchen Komplexes sind die ihm angehörigen Doppeltangenten 
der Fläche anzusehen. 


18. Ausgezeichnet unter den singulären Linien des gegebenen Kom- 
plexes sind diejenigen, welche die Singularitätenfläche oskulieren. Die Tan- 
genten im Berührungspunkte gehören sämtlich dem gegebenen Komplexe an. 

Wenn eine Kummersche Fläche und eine dieselbe beruhrende gerade 
Linie gegeben ist, gibt es außer dem eben konstruierten noch zwei weitere 
Komplexe, welche die Fläche zur Singularitätenfläche haben und die gerade 
Linie (aber nicht als singuläre Linie) enthalten. Singuläre Linien in dem 
Berührungspunkte der gegebenen sind für diese Komplexe die beiden Haupt- 
tangenten in diesem Punkte. 

Bei der Konstruktion eines solchen Komplexes sind zunächst die beiden 
Haupttangenten im Berührungspunkte durch eine quadratische Gleichung 
zu bestimmen. Die beiden Punkte, in welche sich die Komplexkurve inner- 
halb der zugeordneten singulären Ebene aufgelöst hat, sind dann linear 
gegeben. 

Die Komplexkurve in einer beliebigen Ebene hat mit der in derselben 
Ebene liegenden Durchschnittskurve vierter Ordnung der Singularitäten- 
fläche außer den vier doppelt zu zählenden singulären Linien noch 2-4-3 
— 2-4—= 16 Tangenten gemein. Die Berührungspunkte derselben mit der 
Durchschnittskurve der Singularitätenfläche sind diejenigen Punkte, in 
welchen die angenommene Ebene von der Kurve solcher Punkte der Singu- 





20) Es stimmt das mit der von Herrn Kummer gegebenen Zählung überein. 


74 Zur Liniengeometrie. 


laritätenfläche geschnitten wird, in welchen die zugehörige singuläre Linie 
mit einer Haupttangente zusammenfällt. 

Die Kurve der singulären Punkte, deren zugeordnete singuläre Linien 
die Singularitätenfläche oskulieren, ist von der 16. Ordnung. 

19. Sei eine Kummersche Fläche und eine beliebige gerade Linie 
gegeben. Durch die gerade Linie gehen vier Ebenen der Fläche, und auf 
ihr liegen vier Punkte derselben. Die biquadratische Gleichung zur Be- 
stimmung der vier Ebenen ist dieselbe, wie die zur Bestimmung der vier 
Punkte. Dementsprechend kann man die vier Ebenen den vier Punkten 
einzeln zuordnen, und zwar auf vierfache Weise. Nachdem über die Art 
der Zuordnung entschieden ist, ziehe man in einer der Ebenen durch den. 
Berührungspunkt mit der Kummerschen Fläche und den zugeordneten Punkt 
eine gerade Linie. Derjenige Komplex, welcher die gegebene Kummersche 
Fläche zur Singularitätenfläche und die konstruierte gerade Linie zur singu- 
lären Linie hat, enthält offenbar die gegebene gerade Linie. 

Es lassen sich vier Komplexe konstruieren, welche eine gegebene 
Kummersche Fläche zur Singularitätenfläche haben und die außerdem 
eine gegebene gerade Linie enthalten. 

Die beiden auf der konstruierten singulären Linie liegenden Punkte 
bestimmen sich linear, indem der eine als Durchschnittspunkt der gegebenen 
geraden Linie mit der Fläche bekannt ist. 

Wenn die gegebene gerade Linie die Singularitätenfläche berührt, fallen 
‚zwei von den vier vorstehend konstruierten Komplexen in denjenigen zu- 
sammen, der die gegebene Linie zur singulären hat. 

Die Tangenten der Singularitätenfläche sind solche gerade Linien, 
für welche die biquadratische Gleichung, welche die vier einer gegebenen 
geraden Linie zugehörigen Komplexe bestimmt, eine doppelte Wurzel hat. 

Die Komplexgleichung der Singularitätenfläche hat die Form einer 
Diskriminante. 

20. Die einfach unendliche Schar der zu einer gegebenen Kummer- 
schen Fläche gehörigen Komplexe zweiten Grades bestimmt in jeder Ebene 
des Raumes ein System von Kegelschnitten, welche die Durchschnittskurve 
vierter Ordnung der Kummerschen Fläche mit der Ebene viermal be- 
rühren. Das System ist von der vierten Klasse. Indem als Ausartungs- 
kegelschnitte die sechs den Fundamentalkomplexen entsprechenden Punkte 
mit ihrem Doppeltangentenpaare anzusehen sind, ist das System von. der 
Ordnung 2.4 —6=2. 

Durch eine Kummersche Fläche wird in jeder Ebene des Raumes 
ein Kegelschnittsystem der vierten Klasse und zweiten Ordnung bestimmt. 

21. Diejenigen Linien des Komplexes, welche innerhalb einer Doppel- 
ebene der Singularitätenfläche verlaufen, schneiden sich in einem Punkte 


II. Linienkomplexe ersten und zweiten Grades. 75 


der Berührungskurve. Sie sind sämtlich singuläre Linien. Es kann dieser 
Punkt beliebig auf der Berührungskurve angenommen werden; dann ist ein 
zugehöriger Komplex linear bestimmt. Läßt man den Punkt in einen der 
sechs auf der Berührungskurve liegenden Doppelpunkte rücken, so artet 
der Komplex in denjenigen Fundamentalkomplex aus, welchem das durch 
den Doppelpunkt in der angenommenen Ebene gehende Büschel gerader 
Linien angehört. Auf ähnliche Weise entspricht jedem Doppelpunkte der 
Fläche eine Ebene, welche den Tangentialkegel im Doppelpunkte berührt??). 

Die 16 Punkte und 16 Ebenen entsprechen einander in bezug auf die 
sechs Fundamentalkomplexe. 

Im allgemeinen sind die Linien des gegebenen Komplexes keine Doppel- 
tangenten der Singularitätenfläche. Es findet dies nur für diejenigen 
96 Büschel von singulären Linien statt, welche innerhalb einer Doppel- 
ebene der Fläche durch einen Doppelpunkt gehen. 


Diejenigen 16 singulären Linien, welche in einer Doppelebene der 
Singularitätenfläche liegen und die Berührungskurve der Doppelebene be- 
rühren, sind die einzigen Komplexlinien, welche die Singularitätenfläche 
vierpunktig berühren. Die 16 entsprechenden singulären Linien, welche 
durch die Doppelpunkte de: Singularitätenfläche gehen, sind die einzigen 
Komplexlinien, welche die dualistisch entgegengesetzte Eigenschaft besitzen. 


22. Einer jeden geraden Linie entspricht in bezug auf einen Komplex 
zweiten Grades eine zweite gerade Linie als Polare. Dieselbe steht zu der 
ersten in der doppelten Beziehung, einmal, daß sie der geometrische Ort 
ist für die Pole der ersten geraden Linie mit Bezug auf alle Kurven, die 
in den durch sie hindurchgelegten Ebenen von Linien des Komplexes um- 
hüllt werden, dann; daß sie umhüllt wird von den Polarebenen der ersten 
geraden Linie mit Bezug auf alle Kegel, die in den Punkten derselben von 
Linien des Komplexes gebildet werden. Diese Beziehung zwischen den 
beiden Linien ist indes keine gegenseitige. Abgesehen von den Linien des 
Komplexes, deren jede sich selbst als Polare konjugiert ist, gibt es nur 
eine endliche Anzahl solcher gerader Linien, die selbst wieder die Polaren 
ihrer Polaren sind’°?). 

Die Polaren der Diagonalen des von den vier in einer beliebigen Ebene 
liegenden singulären Linien gebildeten Vierseits schneiden sich in einem’ 
Punkte. Dieser Punkt wird der Pol der Ebene mit Bezug auf den Komplex 
genannt. Derselbe fällt zusammen mit dem Pol der Ebene in bezug auf 
die Singularitätenfläche. — Auf ähnliche Weise entspricht jedem Punkte 
in bezug auf den Komplex eine Polarebene. 


>) Plücker, Neue Geometrie. Nr. 321. 
”®) Plücker, Neue Geometrie. Nr. 299. 


76 Zur Liniengeometrie. 


Der Pol einer singulären Ebene ist ihr Berührungspunkt mit der Singu- 
laritätenfläche, die Polarebene dieses Punktes ist wiederum die gegebene 
singuläre Ebene. 

Aber im allgemeinen ist die Beziehung zwischen Ebene und Pol, Punkt 
und Polarebene keine gegenseitige. Es tritt das — abgesehen von den 
singulären Ebenen und Punkten — nur bei einer endlichen Anzahl von 
Ebenen und Punkten ein??). 


23. Der gegebene Komplex des zweiten Grades werde auf ein be- 
liebiges der 15 Fundamentaltetraeder bezogen. Dann nimmt seine Glei- 
chung die folgende Form an°*): 


ss. 
= Arie + 2 Araptys + 2 Brayrag + 2C rast, = 0, 


wo r,, Strahlen- oder Achsenkoordinaten bedeuten. 

Wird die Gleichung des gegebenen Komplexes zweiten Grades in bezug 
auf eins der 15 Fundamentaltetraeder als Koordinatentetraeler geschrieben, 
so treten in derselben außer den Quadraten der Veränderlichen die Produkte 
von nur solchen Veränderlichen auf, welche sich auf gegenüberstehende 
Kanten des Tetraeders beziehen. 


Es ist leicht zu sehen, daß diese Gleichungsform für die Fundamental- 
tetraeder charakteristisch ist. Man schließt weiter: 

Wenn der gegebene Komplex auf ein beliebiges Koordinatenietraeder 
bezogen wird und in der entsprechenden Gleichung zwei Veränderliche, 
die sich auf gegenüberstehende Kanten des Koordinatentetraeders beziehen, 
außer als Quadrate nur in gegenseitiger Verbindung auftreten, so sind 
die betreffenden Kanten zwei zusammengehörige aus dem System der Funda- 
mentaltetraeder. 

Die vorstehende Gleichungsform zeigt, daß die gegenüberstehenden 
Kanten des zugrunde gelegten Tetraeders einander gegenseitig entsprechende 
Polaren in bezug auf den gegebenen Komplex sind. 

Von den 30 Kanten der Fundamentaltetraeder entsprechen sich die 
zusammengehörigen in bezug auf den Komplex gegenseitig als Polaren. 

Die 30 Kanten der Fundamentaltetraeder sind, abgesehen von den 
Linien des Komplexes, die einzigen geraden Linien, welche diese Eigen- 
schaft besitzen. 


Und hieraus schließt man: 
Von den 60 Eckpunkten und 60: Seitenflächen der Fundamental- 


tetraeder entsprechen sich die zusammengehörigen gegenseitig in bezug auf 
den Komplex als Pol und Polarebene. 





23) Plücker, Neue Geometrie. Nr. 328,: 330, 337. 
4) Vgl. Nr. 6. 


1I. Linienkomplexe ersten und zweiten Grades. 77 


Es gibt, abgesehen von den singulären Punkten und Ebenen, keine 
weiteren Punkte und Ebenen, die sich gegenseitig in bezug auf den Komplex 
zugeordnet sind. FE 

Insofern das Verhältnis von Ebene und Pol, Punkt und Polarebene 
als durch die Singularitätenfläche vermittelt angesehen werden kann, lassen 
sich die vorstehenden beiden Sätze auch als Eigenschaften der Kummer- 
schen Fläche aussprechen. 


24. Ähnliche Untersuchungen, wie die vorstehenden, sind bereits in 
der Abhandlung über Komplexe zweiten Grades von Herrn Battaglini”°) 
enthalten. Nur sind die Voraussetzungen, welche er zugrunde legt, nicht 
allgemein genug. Unter r,, Strahlen- oder Achsenkoordinaten verstanden, 
gibt er dem Komplexe zweiten Grades die folgende Gleichung: 


2 
>, Yırır = 0, 


welche drei Glieder weniger besitzt, als die letzt-vorangehende, in welcher 
der Komplex auf eins der Fundamentaltetraeder bezogen ist. In der Tat 
enthält sie nur 17 Konstanten, während der Komplex von 19 Konstanten 
abhängt. Dementsprechend verschwinden zwei der simultanen Invarianten, 
welche sich aus ihr und der zwischen den Linienkoordinaten bestehenden 
Bedingungsgleichung ableiten lassen. 


Der Komplex, welchen Herr Battaglini untersucht, ist dadurch parti- 
kularisiert, daß für denselben die um eine passende Konstante vermehrten 
Größen k,,k,,...,k, einander entgegengesetzt gleich werden. Infolge- 
dessen ist eins der Fundamentaltetraeder, dasselbe, auf welches der Komplex 
in seiner vereinfachten Gleichung bezogen ist, vor den übrigen ausgezeichnet, 
und die Singularitätenfläche wird ein Tetraedroid, welches zu diesem Te- 
traeder gehört. (Nr. 16.) 


IV. 
Algebraische Darstellung. 


25. Der gegebene Komplex sei, wie oben, durch die Gleichung be- 
stimmt: 


(2) kr, +k22+..: +62 =0, 
wo: 
(1) +2 +..+=0. 


Vermöge der Gleichung (1) ist es gestattet, die Größen k um eine 





5) Atti della Reale Accademia di Napoli, 3 (1866), sowie Giornale di Mate- 
matiche, Napoli, Bd. 6 (1868). 


78 Zur Liniengeometrie. 


beliebige Konstante wachsen zu lassen, ohne daß üer Komplex ge- 
ändert wird. 

Die singulären Linien des Komplexes sind alsdann dargestellt ?°) 
durch (1), (2) und die folgende Gleichung: 


(3) Kıa+kı3+t...+kı=0. 


Sei unter (x) eine beliebige singuläre Linie verstanden, so sind die 
Koordinaten (%y) einer derjenigen geraden Linien, welche innerhalb der (=) 
zugeordneten singulären Ebene durch den zugehörigen singulären Punkt 
gehen, von der folgenden Form: 

(4) OYa — (ka + 0) 2a, 

wo o einen Proportionalitätsfaktor, o eine Konstante bedeutet?‘). Die 
durch (4) dargestellten geraden Linien mögen die zugeordneten der singu- 
lären Linie (x) heißen. Die Gesamtheit der zugeordneten Linien aller 
singulären Linien fällt mit der Gesamtheit der Tangenten der Singularitäten- 
fläche zusammen. 

Wenn die singuläre Linie (x) so bestimmt wird, daß die zugeordneten 
Linien dem gegebenen Komplexe (2) angehören, so oskuliert sie die Singu- 
laritätenfläche. Man findet also zur Darstellung der oskulierenden singu- 
lären Linien außer (1), (2), (3) die Gleichung: 

(5) Breit... 
Die von den oskulierenden singulären Linien gebildete Linienfläche ist von 
der 16. Ordnung und 16. Klasse. 

Die 32 ausgezeichneten singulären Linien, welche bezüglich in einer 
der Doppelebenen der Singularitätenfläche liegen und die in derselben ent- 
haltene Berührungskurve berühren, oder durch einen der Doppelpunkte der 
Singularitätenfläche gehen und Erzeugende des Tangentialkegels in dem- 
selben sind, sind durch die Bedingung bestimmt, daß ihre zugeordneten 
singulären Linien selbst wieder singuläre Linien sind. Ihre Koordinaten 
genügen also außer den Gleichungen (1), (2), (3), (5) auch noch der 
folgenden Gleichung: 





(6) Bart klatt... + kat 0. 
Durch Auflösung findet man: 

1 
“ 7 he 


26. Wenn &,,%,,...,%, und o willkürliche Parameter bezeichnen, 
welche den Gleichungen (1), (2), (3) Genüge leisten, so ist eine beliebige 


— "Jr 


26) Plücker, Neue Geometrie. Nr. 300. 
2”) Plücker, Neue Geometrie. Ebenda. 


II. Linienkomplexe ersten und zweiten Grades. 79 


der Tangenten der — nn durch die Gleichung (4) gegeben. 











Durch Elimination von &,,%,, ...,%, ergibt sich: 

(8) ee 
yi yr er 

(9) Es Era er 
2 2 r 

10 .. > BL ec® — Ys — 

a ETTT ET T 


Die Gleichung (9) ist eine Gleichung vierten Grades zur Bestimmung 
von o. Die Gleichung (10) sagt aus, daß der nach « genommene Diffe- 
rentialquotient der Gleichung (9) verschwinde. 

Die Komplexgleichung der Singularitätenfläche ist die nach o ge- 
nommene Diskriminante der Gleichung (9). 

Wie das sein muß, wird diese Komplexgleichung vom 12. Grade, 

Unter o eine willkürliche Größe verstanden, stellt die Gleichung (9) 
einen Komplex des zweiten Grades dar. Derselbe hat mit dem gegebenen (2) 
die Singularitätenfläche gemein. Denn das System der Gleichungen (8), 


: ersetzt wird. 
k o 


a 


Die Gleichung (9) stellt das zu der Singularitätenfläche des gegebenen 
Komplexes zugehörige System von Komplexen zweiten Grades dar. 

Die Gleichung (9) ist durchaus analog den Gleichungen, welche bei 
der Bestimmung konfokaler Kurven oder Flächen zweiten Grades auftreten. 

Wenn (y) eine gegebene gerade Linie bedeutet, bestimmt die Glei- 
chung (9) vier zugehörige Werte von o. Von denselben werden zwei ein- 
ander gleich, wenn (y) eine Tangente der Singularitätenfläche ist. 

Die Haupttangenten der Singularitätenfläche sind dadurch charakte- 
risiert, daß drei Wurzeln der Gleichung (9) gleich werden; sie sind also 
durch (8), (9), (10) und die folgende Gleichung gegeben: 

Yo 
en ter A 
Endlich sind diejenigen geraden Linien, welche die Berührungskurven in 
den Doppelebenen der Singularitätenfläche umhüllen, bezüglich die Be- 
rührungskegel in den Doppelpunkten derselben erzeugen, durch (8), (9), 
(10), (11) und die og: a bestimmt: 


retten 

Sei irgendeinem Werte von o entsprechend das System der Glei- 
chungen (8), (9), (10), (11), (12) aufgelöst. Die in dem entsprechenden 
Komplexe (9) den so bestimmten geraden Linien zugeordneten Linien sind 
selbst wieder singuläre Linien. Ihre zugeordneten Linien bilden die Ge- 


(9), (10) bleibt ungeändert, wenn %. allgemein durch 

















80 Zur Liniengeometrie. 


samtheit der in den Doppelebenen der Singularitätenfläche liegenden und 
der durch die Doppelpunkte derselben hindurchgehenden geraden Linien. 
Die Koordinaten einer solchen geraden Linie lassen sich also unter der 
Form schreiben: 


(13) 02. (+ 2. : ) Ya; 


ka+o - (kafe) 


wo y. eine Lösung der Gleichungen (8), (9), (10), (I1), (12) ist. Diese 
Form bleibt unverändert, welchen Wert man o erteilen mag. 

Es erübrigt, die Doppeltangenten der Singularitätenfläche zu bestimmen. 
Für die von denselben gebildeten sechs Kongruenzen ergibt sich aus (9) 
und (10), indem o der Reihe nach = —k, = — k, usw. gesetzt wird: 











{ ae Yr Y5 nn 
Ken 


(14) 4 











%=P,; Free: 
Auf dieselben Gleichungen kommt man aus(4), wenınmano=—k 
usw. setzt und hierauf x, aus (1), (2), (3) eliminiert. 


—k, 


Ess 





Die bei den vorstehenden Betrachtungen vorausgesetzte Umformung 
der Komplexgleichung ist in vielen Fällen nicht möglich. Unter die hier 
ausgeschlossenen Komplexe gehört auch der von Herrn Th. Reye be- 
trachtete, dessen Linien der Durchschnitt entsprechender Ebenen zweier 
kollinearer räumlicher Systeme sind?®). Derartige Komplexe sind durch 
das Auftreten von Doppellinien, Ausnahmepunkten und Ausnahmeebenen®®) 
ausgezeichnet. Eine Übersicht über die bei ihnen zu unterscheidenden Fälle 
denke ich bei nächster Gelegenheit zu geben. 





[Vielleicht ist es nützlich, aus den Formeln des Abschnittes IV noch folgende 
Regeln zu abstrahieren: 


Während der einzelne Komplex Dr ka ungeändert bleibt, wenn man für die 


k; irgendwelche k’=ak;+b setzt, wird die ganze Komplexschar und damit die zu 
ihr gehörige Kummersche Fläche erhalten bleiben, wenn man die k;' gleich irgend- 
ek; + 


. . ri ’ wu re Ei 
welcher linearer Funktion der k; setzt: k; Er T K.] 


Göttingen, 14. Juni 1869. 





2) Reye, Die Geometrie der Lage. Hannover, C. Rümpler, 1868. 
2) Plücker, Neue Geometrie. Nr. 313. 


2 ee ee 


II. Die allgemeine lineare Transformation der 
Linienkoordinaten. 


[Math. Annalen, Bd. 2 (1870).] 





Die Bedeutung der Linienkoordinaten ist zunächst in ihrer steten 
Verbindung mit den Punktkoordinaten einerseits und den Ebenenkoor- 
dinaten andererseits zu suchen. Dem entsprechend stellen sich die Linien- 
koordinaten dar als die Determinanten aus den Koordinaten zweier Punkte 
oder zweier Ebenen. Indessen scheint es, als wenn der Fortgang der 
allgemeinen Theorie es wünschenswert mache, die Linienkoordinaten un- 
abhängig von dieser Beziehung als selbständige Veränderliche zu betrachten. 
Dieselben haben alsdann eine Bedingungsgleichung zweiten Grades zu er- 
füllen, welche eine Identität ist, sobald wir zu dem Ausdrucke der Linien- 
koordinaten in den Koordinaten zweier Punkte oder zweier Ebenen zurück- 
gehen. Die Theorie der Linienkomplexe fällt mit der Theorie der simultanen 
Formen der Komplexgleichung und dieser Bedingungsgleichung zusammen. 

Die nächste hier entstehende Frage ist die nach der geometrischen 
Bedeutung der allgemeinen linearen Transformation der Linienkoordinaten. 
Ich erledige dieselbe in der folgenden Notiz durch eine entsprechende 
allgemeinere Definition der Linienkoordinaten, bei welcher ich, wie dies 
bereits Herr Zeuthen getan hat!), von dem Moment zweier gerader 
Linien in bezug aufeinander als einfacher Maßbestimmung ausgehe. 
Überdies betrachte ich als bekannt den Begriff des linearen Komplexes, 
sowie den der involutorischen Lage zweier solcher Komplexe?). 

1. [Vorbemerkung?). Da Moment ein metrischer Begriff ist, wird es 
gut sein, zunächst von gewöhnlichen rechtwinkligen Punktkoordinaten x. y,z 
auszugehen, also die Linienkoordinaten p,, so zu definieren: 9, = 2 — x’, ..., 
Ps =y2— y'2,... Das Moment zweier Geraden p und p’ drückt sich 
dann in bekannter Weise durch die Formeln aus: 


(a) 2 PıaP3ı + PısBia + PıaP3s + PaaPia + PasPıs + Pas Pıs 
Vor +pist+t pi vpi? + Pi, + pıE 








’ 


1) Math. Annalen, Bd. 1, S. 432. 

®) Vgl. Math. Annalen, Bd. 2, S. 201 (siehe Abh. II dieser Ausgabe, S. 56). 

®) [Erst in dieser Ausgabe zur Richtigstellung bez. Klarstellung aller Einzelheiten 
eingefügt, unter gleichzeitiger Änderung einiger Stellen in Nr. 1. K.) 

Klein. Gesammelte math. Abhandlungen. I. 6 


82 Zur Liniengeometrie. 


(wo im Nenner die Ausdrücke stehen, welche verschwinden, wenn 9 bez. p’ 
den Kugelkreis schneidet). Der Zähler von M gibt, seinerseits gleich Null 
gesetzt, die Bedingung dafür, daß die Gerade p dem „speziellen“ linearen 
Komplex angehört, dessen sämtliche Gerade p’ schneiden. Schreiben wir 
dementsprechend die Gleichung eines allgemeinen linearen Komplexes 


(b) = Prslyıt PısYaat PısYas + Pirat Pıialıs T Past» 
so ist es natürlich, den folgenden Ausdruck: 


( e ) M'—P. Ay Pıs yet Pıalost Pzstıet Paelıst Pas Aıa 

VpR+ph+pi Vehtas+al 
als Moment der Geraden p in bezug auf den linearen Komplex a zu be- 
zeichnen, überhaupt aber als Moment zweier linearer Komplexe a, a’ in 
bezug aufeinander: 








(d) Mi Apazc+ Asia + Yu + Gz4jo + Ag Ql;+ Ay alu ' 
Vertabtaf Yartaz+tar 
Läßt man hier a mit a’ zusammenfallen, so hat man das, was Plücker 
den Parameter K des bez. Komplexes nannte, mit 2 multipliziert. 
Nun findet man für M” durch geschickte Partikularisierung des 
Koordinatensystems leicht folgende geometrische Definition: 


(e) M"—Asing+(K-+K’)cosp, 








unter K, K' die Parameter der linearen Komplexe, unter A den Abstand 
ihrer Hauptachsen, unter 9 deren gegenseitige Neigung verstanden (wo 
Asin natürlich das Moment der beiden Hauptachsen in bezug aufein- 
ander bedeutet). Danach ist es klar, was der Ausdruck M’ (c) bedeutet; 
man hat in (e) nur X’ gleich 0 zu setzen.] 

Dies vorausgesetzt, seien nun sechs lineare Komplexe gegeben, die 
mit den Symbolen X,,X,,..., X, bezeichnet sein mögen. Über ihre 
gegenseitige Lage mache ich nur die Voraussetzung, daß es keinen linearen 
Komplex gibt, der mit sämtlichen sechs zugleich in Involution liegt... 
Die relativen Werte der mit gegebenen Konstanten multiplizierten Momente 
einer geraden Linie in bezug auf diese (Komplexe) betrachte ich als die 
homogenen Koordinaten derselben. 

Dieselben seien durch &,, &,,..., x, bezeichnet. Damit die gerade Linie 
einem der Komplexe X angehöre, muß die betrefiende Koordinate ver- 
schwinden. x = 0 ist also die Gleichung des Komplexes X. 

Einem beliebig gegebenen Wertsysteme der x entspricht im allgemeinen 
keine gerade Linie. Damit dieses stattfinde, müssen die x eine Bedingungs- 
gleichung des zweiten Grades erfüllen: 


f=,=0, 


III. Lineare Transformation der Linienkoordinaten. 83 


in welcher die a Konstanten sind. Aus der Form dieser Gleichung wird 
es erlaubt sein, auf die Art und die gegenseitige Lage der zugrunde ge- 
legten sechs linearen Komplexe X zu schließen. 

Neben die hier gegebene Koordinatenbestimmung stellt sich sofort 
eine zweite. Wir erhalten dieselbe, wenn wir die halben nach den einzelnen 
x genommenen partiellen Differentialquotienten von f als neue Veränder- 
liche u,,%,, ..., u, einführen. Dieselben sind proportional den mit pas- 
senden Konstanten multiplizierten Momenten der geraden Linie in bezug 
auf sechs lineare Komplexe U,,U,,..., U,, welche bezüglich durch u = 0 
dargestellt werden. 

Indem wir die vu an Stelle der x in feinführen, erhalten wir eine Form: 


y=w= (abedeu)*, 


deren Verschwinden die Bedingung ist, damit einem gegebenen Wertsysteme 
der u eine gerade Linie entspricht. 

Dabei ist: 

[zp=yu,- 

2. Die Koordinaten zweier gegebener gerader Linien seien, in der 
zwiefachen Koordinatenbestimmung, bezüglich x, y und u, v. Wir bilden 
uns den Ausdruck: 

u=v,=a,a,= Ude: 
Derselbe stellt, bis auf leicht anzugebende Faktoren, das Moment der 
beiden geraden Linien in bezug aufeinander dar. Die Gleichung: 


u,=v,= 4,4, = Ude = 0 


vertritt also, wenn wir in ihr die y, v als fest, die x, u als veränderlich 
betrachten, die Gesamtheit derjenigen Linien (z, «), welche eine gegebene 
Gerade (y, v) schneiden. 

Hiernach entspricht die doppelte Koordinatenbestimmung, x und u, 
der zweifachen Bedeutung, in welcher die gerade Linie in der vorstehen- 
den Gleichung — sowie überhaupt in den hier anzustellenden Betrach- 
tungen — auftritt. Das eine Mal ist die gerade Linie Raumelement, das 
andere Mal stellt sie die Gesamtheit der sie schneidenden geraden Linien 
dar. Der ersten Vorstellung entsprechen die Koordinaten x, der zweiten 
die Koordinaten u, oder umgekehrt, je nachdem wir bei ihrer Bestimmung 
von den Komplexen X oder den Komplexen U ausgehen. 

3. Wenn wir in die vorstehende Gleichung an Stelle von y, v beliebige 
Größen setzen (welche nicht mehr der Gleichung 


f=0, des 0 
zu genügen brauchen), stellt dieselbe einen linearen Komplex dar. Die 


Größen y, v bezeichne ich als die Koordinaten dieses Komplexes. 
6* 


84 Zur Liniengeometrie. 


Dadurch, daß man diese Koordinaten in f, @ einführt, entsteht ein 
Ausdruck, den ich als Invariante des Komplexes bezeichnet habe‘). Bis 
auf leicht zu bestimmende Faktoren ist die Invariante gleich dem Para- 
meter?) des Komplexes. Das Verschwinden der Invariante gibt an, daß 
der Komplex ein spezieller Komplex ist. 


Als simultane Invariante zweier linearer Komplexe (x, w) und (y, v) 
habe ich den Ausdruck bezeichnet): 


uZzvy, = 4,0, = Uada: 


Derselbe hat die folgende geometrische Bedeutung. Seien die Parameter 
der beiden Komplexe bezüglich K und K’, der Abstand ihrer Haupt- 
achsen A, die gegenseitige Neigung derselben @, so ist die simultane In- 
variante bis auf leicht angebbare Faktoren: 


— Asinpg+(K-+K')cosp. 


Diese letztere Größe soll das Moment der beiden linearen Komplexe in 
bezug aufeinander genannt werden. [Vgl. Vorbemerkung in Nr. 1.] 

Das Verschwinden der simultanen Invariante zweier Komplexe sagt 
aus, daß die beiden Komplexe in ‚Involution liegen. 

Für die simultanen Invarianten eines gegebenen Komplexes mit den 
Komplexen X bezüglich U finden wir seine betreffenden Koordinaten. Als 
Koordinaten eines Komplexes ersten Grades sind die relativen Werte 
der mit gegebenen Konstanten multiplizieren Momente desselben mit 
Bezug auf die sechs gegebenen Komplexe anzusehen. 


4. Indem wir den Variabeln in der Gleichung eines Komplexes un- 
beschränkte Veränderlichkeit erteilen, gelangen wir, nach dem Vorstehen- 
den, zu einer zweifachen Auffassung eines linearen Komplexes. Das 
eine Mal ist der lineare Komplex Element, das andere Mal Vertreter der 
Gesamtheit der mit ihm in Involution liegenden linearen Komplexe. 

Die bei dieser Anschauung zunächst in Betracht kommenden Gebilde 
sind diejenigen, welche durch 


1,72, 9, 4,8 


lineare Gleichungen zwischen den Komplexkoordinaten definiert werden. 





4) Math. Annalen, Bd. 2, S. 201. [Siehe Abh. II dieser Ausgabe, S.56.] Wenn 
man in f,9 bezw. die nach den einzelnen 4, x genommenen partiellen Differentialquo- 
tienten irgendeiner Komplexgleichung an Stelle der Variabeln einsetzt, entsteht ein 
Ausdruck, welcher, gleich Null gesetzt, denjenigen kovarianten Komplex darstellt, der 
mit dem gegebenen die singulären Linien desselben bestimmt. (Plücker, Neue Geo- 
metrie, S. 296.) 

5) Plücker, Neue Geometrie. $. 38. 

6) Math. Annalen a.a.O. [Siehe Abh. II dieser Ausgabe.) 


Ill. Lineare Transformation der Linienkoordinaten. 85 


Mögen für diese Koordinaten zunächst die X gewählt sein. Dann erhält 
män dieselben Gebilde bezüglich durch: 
5,4, 3,2, 1 


Gleichungen zwischen den « bestimmt. Dem entspricht eine doppelte 
Auffassung der dargestellten Gebilde. Wie sich dieselbe bei den End- 
gliedern der vorstehenden zwei Reihen (1,5), (5, 1), die beide lineare 
Komplexe sind, gestaltet, ist bereits erörtert. Bei (2, 4), (4, 2), welche 
beide Kongruenzen sind, kommt dieselbe, wenn wir uns auf die Betrach- 
tung spezieller Komplexe beschränken, darauf hinaus, als eine lineare 
Kongruenz entweder die Gesamtheit der geraden Linien, welche zwei ge- 
gebene schneiden, oder solche zwei gegebene gerade Linien selbst zu be- 
trachten. In der doppelten Darstellungsweise von (3, 3) endlich ist die 
doppelte Erzeugung der Flächen zweiten Grades durch gerade Linien aus- 
gesprochen. 

5. Nach diesen Erörterungen ergibt sich für das hier zugrunde gelegte 
Koordinatensystem der X und U das Folgende. 

Die Koordinaten von X, in dem Systeme der U, sowie die von U, 
in dem Systeme der X, sind: 


1,.95:0:.0, 0,0, 


Es sind also die U diejenigen sechs Komplexe, welche mit jedesmal 
fünf der Komplexe X in Involution liegen. Diese Beziehung zwischen 
den X und U ist eine gegenseitige. 

Für die Koordinaten von X, in dem System der X finden wir: 


9,1» Ga» Az; LTE G5> A,» 
und für die Koordinaten von U, in dem Systeme der U: 


& [24 & [A 


‘11? 

Die Koeffizienten a, « sind die Invarianten der Komplexe X, U. 

Mit dem Koordinatensysteme in unmittelbarem Zusammenhange stehen 
die durch die Komplexe X oder die Komplexe U bestimmten gemein- 
samen Elemente. Dabei findet die Reziprozität statt, daß alles, was nach 
der einen Auffassung der geraden Linie (des linearen Komplexes) einer 
Anzahl von Komplexen X gemeinsam angehört, nach der anderen Auf- 
fassung den Komplexen U zukommt, welche den noch übrigen. X ent- 
sprechen. 

So bestimmen zwei Komplexe X, z. B. X,, X, eine Kongruenz, 
deren Direktrizen diejenigen beiden Linien sind, welche 2.0.00, 
zugleich angehören. 

Im ganzen bestimmen die Komplexe X, sowie die Komplexe U, 
15 Kongruenzen. Die Direktrizen einer Kongruenz einer dieser beiden 


r 
Kar Rygs gs Ass As: 


86 Zur Liniengeometrie. 


Gruppen werden durch die Direktrizen von sechs Kongruenzen der anderen 
Gruppe geschnitten. 

Drei Komplexe X, z.B. X,, X,, X,, bestimmen eine Fläche zweiten 
Grades vermöge der Linien ihrer einen Erzeugung. Dieselbe Fläche gehört 
vermöge der Linien ihrer anderen Erzeugung den Komplexen U,,U,,U, an. 


6. Wir mögen noch kurz die folgenden Bemerkungen hinzufügen. 

So oft einer der Koeffizienten a,,, «;, verschwindet, wird einer der 
Komplexe X, bezüglich U ein spezieller Komplex. Sind insbesondere 
alle @,, und «,, gleich Null, so bilden die zwölf geraden Linien X und U 
eine [Schläflische] Doppelsechs. Als ein ausgezeichneter Fall dieser Grup- 
pierung ist das System der sechs Kanten eines T'etraeders zu betrachten, 
für welches die X von den U nur durch die Anordnung verschieden sind. 

Dann ist noch hervorzuheben dasjenige Koordinatensystem, für welches 
die Komplexe X mit den Komplexen U identisch werden‘) Dasselbe ist 
durch das Verschwinden sämtlicher Koeffizienten in f, g außer denen mit 
gleichen Indizes charakterisiert. 


Göttingen, den 4. August 1869. 





”) Von der Betrachtung eines derartigen Systems bin ich in dem Aufsatze: Zur 
Theorie der Komplexe ersten und zweiten Grades |Math. Annalen, Bd. 2 (siehe 
Abh. II dieser Ausgabe)! ausgegangen. 


IV. Über Abbildung der Komplexflächen vierter Ordnung 
und vierter Klasse. 


‘Math. Annalen, Bd. 2 (1870).] 


Herr Clebsch hat in den Math. Annalen (Bd. 1, 8. 253) die Abbildung 
der Flächen vierter Ordnung mit einer Doppellinie gegeben. Ein Beispiel 
für Flächen dieser Art bilden die Komplexflächen vierter Ordnung und 
vierter Klasse, deren Erzeugung sich an die Linienkomplexe zweiten Grades 
anknüpft!). Ausgezeichnet sind diese Flächen dadurch, daß Kegelschnitte, 
nach welchen dieselben von den Ebenen, die durch die Doppellinie hin- 
durchgehen, geschnitten werden, nicht als Kurven der zweiten Ordnung, 
sondern als Kurven der zweiten Klasse definiert sind. 

Solch eine Komplexfläche besitzt acht paarweise zusammengehörige 
Doppelpunkte. Die Verbindungslinien der beiden Doppelpunkte eines Paares 
sind die sogenannten singulären Strahlen der Fläche. Die vier doppelt 
zu zählenden singulären Strahlen sind — abgesehen von dem Doppelstrahl — 
die einzigen Strahlen, welche der Fläche angehören. Die acht Doppel- 
punkte liegen zu vier in acht, paarweise zusammengehörigen Doppelebenen. 
In jeder Doppelebene liegt ein Berührungskegelschnitt; und diese acht, 
doppelt zu zählenden Kegelschnitte sind, abgesehen von der Kegelschnitt- 
schar in den durch die Doppellinie gehenden Ebenen, die einzigen Kegel- 
schnitte, welche auf der Fläche liegen. Je zwei zusammengehörige Doppel- 
ebenen schneiden sich in einem Punkte der Doppellinie. Diese Punkte 
heißen die singulären Punkte der Fläche. 

Es sind dies die Singularitäten der Fläche, die bei ihrer Abbildung 
zur Sprache kommen, sofern man die Fläche als durch Punkte erzeugt be- 
trachtet. 

Die Abbildung selbst gestaltet sich in der folgenden Weise. 

Das Bild der Doppellinie wird eine Kurve der dritten Ordnung. Auf 
derselben liegt ein doppelter FundamentalpunktO. Die Berührungspunkte «, 





‘) Vgl. Plücker, Neue Geometrie des Raumes, gegründet auf die Betrachtung 
der geraden Linie als Raumelement. Leipzig, B. G. Teubner, 1868, 1869. 


88 Zur Liniengeometrie. 


b,c,d der von O an die Kurve gezogenen vier Tangenten sind doppelt zu 
zählende einfache Fundamentalpunkte. Die Tangenten mögen «, ß, y, 6 
heißen. 

Von den acht Doppelpunkten der Fläche sind vier dargestellt durch 
@, ß, y, 6, die vier übrigen durch a, 5, c, d, doch in der Art, daß eine 
auf der Fläche liegende Kurve, deren Bild bezüglich durch a,b,c,d geht, 
nur dann die betreffenden Doppelpunkte enthält, wenn sie nicht «, f, y, Ö 
in @,b,c,d berührt. | 

Die vier singulären Strahlen sind durch a, b, c, d dargestellt. Kurven, 
welche a,b,c,d enthalten und in denselben «, ß, >, ö berühren, schneiden 
die entsprechenden singulären Strahlen in Punkten, die von den auf den- 
selben liegenden Doppelpunkten verschieden sind. 

Von den acht Kegelschnitten, nach welchen die Doppelebenen die 
Fläche berühren, ist einer durch den Punkt O, ein anderer durch den 
Kegelschnitt a, db, c, d, O abgebildet. Die sechs übrigen sind durch die 
Verbindungslinien von a,b,c,d unter sich gegeben. 
= Einer der vier singulären Punkte fällt in den Fundamentalpunkt O. 
Alle ihn enthaltenden Kurven berühren in O die Kurve dritter Ordnung. 
Die übrigen drei singulären Punkte sind der Durchschnitt je zweier zu- 
sammengehöriger der sechs Verbindungslinien von a, b,c,d. Diese Durch- 
schnittspunkte liegen auf der Kurve dritter Ordnung. 

Endlich sind die durch O hindurchgehenden geraden Linien das Bild 
der auf der Fläche liegenden Kegelschnittschar. 


Göttingen, den 14. Juni 1869. 


V. Eine Abbildung des Linienkomplexes zweiten Grades 
auf den Punktraum. 


[Abgedruckt mit einigen im Interesse der Verständlichkeit gebotenen Umstellungen aus 

Max Nöther, Zur Theorie der ulgebraischen Funktionen mehrerer komplexer Variabeln. 

Nachrichten von der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, 1869, Nr. 15 
(14. Juli 1869), S. 298—306.) 


. Die einfachste Abbildung eines Linienkomplexes zweiten Grades!) 
auf den Punktraum verdanke ich Herrn Dr. Klein. Wenn man den Komplex 
auf ein Tetraeder bezieht, welches so gegen ihn liegt, daß alle geraden 
Linien, welche durch den den beiden Kanten 5 und 6 gemeinsamen Punkt 
innerhalb der durch dieselben bestimmten Ebene hindurchgehen, dem Kom- 
plex angehören, so lassen sich die Gleichungen desselben ebenfalls in der 
Form (3) schreiben 


(3) %(2,2,%2%,)+A4As, + Bu, =0, 


wobei man nur unter ® eine homogene Funktion zweiten Grades, unter 
A und B lineare homogene Funktionen von %,, %,, %,, x, zu verstehen hat. 
Denkt man sich noch in den Formeln (4) 


| 0%, = &,(AE, = BE) 
1% E(AE — ea 
0%, = &s An - &) 
o,= 8,(A, PR 
eu = EBENE Er 
u = AH 


inA undB an Stelle VON %,, %y, %g, %, TEeBp. &,, &g, &,, &, gesetzt, so wird 
der Komplex im Raume abgebildet N diese Funktionen dritter Ord- 
nung, und als Fundamentalgebilde tritt eine Kurve 5. Ordnung auf. 


1) (Hair Nöther selbst hat ebendort die heutzutage wohlbekannte Abbildung 
des Linienkomplexes ersten Grades auf den Punktraum mitgeteilt, zu der ziemlich 
gleichzeitig auch von ganz anderem Ausgangspunkte aus S. Lie geführt war. K.] 


8 
1 
| 


4) 4 





VI. Über die Haupttangentenkurven der Kummerschen 
Fläche vierten Grades mit 16 Knotenpunkten. 


ıSitzungsberichte der Berl. Akad. 1870. Vorgelegt durch E.E.Kummer, Sitzung vom 
15. Dezember 1870. Wiederabgedruckt in den Math. Annalen, Bd. 23 (1884).] 


Von 


Sophus Lie und Felix Klein. 


Die Kummersche Fläche vierten Grädes mit 16 Knotenpunkten ist 
bekanntlich!) für einfach unendlich viele Komplexe des zweiten Grades 
Singularitätenfläche, d. h. diejenige Fläche, welche der geometrische Ort ist 
für solche Punkte, deren Komplexkegel in zwei Ebenen zerfallen ist, oder, 
was auf dasselbe hinauskommt, die umhüllt wird von solchen Ebenen, deren 
Komplexkurve sich in zwei Punkte aufgelöst hat. Die Betrachtung dieser 
Komplexe zweiten Grades führt fast unmittelbar zu der Bestimmung der 
Haupttangentenkurven der Fläche, wie im nachstehenden gezeigt werden soll. 

1. Aus der einfach unendlichen Zahl der zu der Fläche gehörigen 
Komplexe zweiten Grades heben wir einen heraus. 

Die demselben innerhalb einer Tangentialebene der Fläche entspre- 
chende Komplexkurve hat sich in zwei Punkte aufgelöst. Diese beiden 
Punkte sind diejenigen, in denen die in der Tangentialebene enthaltene 
Durchschnittskurve vierter Ordnung mit der Fläche von einer bestimmten, 
üUurch den Berührungspunkt gehenden Geraden, die dessen zugeordnete 
singuläre Linie genannt wird, noch außer in diesem Berührungspunkte ge- 
schnitten wird. | 

Man kann nun nach denjenigen Punkten der Fläche fragen, deren 
zugeordnete singuläre Linie eine Haupttangente der Fläche ist. Die übrigen 
Tangenten der Fläche in einem solchen Punkte gehören offenbar auch dem 
Komplexe an. Andererseits sind diese letzteren Komplexgeraden die einzigen, 
welche die Fläche berühren, ohne zugleich singuläre Linien des Komplexes zu 





1) Vgl. Plücker, Neue Geometrie des Raumes, gegründet auf die Betrachtung 
der geraden Linie als Raumelement. (B.G. Teubner 1868, 69.) Nr. 310 ff. Vgl. auch, 
hier und im folgenden: Klein, Zur Theorie der Komplexe des ersten und zweiten 
Grades. Math. Ann., Bd. 2. [Siehe Abh. II dieser Ausgabe. ] 


VI. Haupttangentenkurven der Kummerschen Fläche. 91 


sein. Betrachten wir nun in einer beliebigen Ebene den Komplexkegelschnitt 
und die Durchschnittskurve vierter Ordnung mit:.der Fläche. Dieselben 
berühren sich in vier Punkten, und die Tangenten in diesen Punkten sind 
die in der Ebene gelegenen singulären Linien®?). Außer diesen doppelt zu 
zählenden Tangenten haben die beiden Kurven, als bez. von der zweiten 
und zwölften Klasse, noch 16 Tangenten gemein. Die Berührungspunkte 
derselben mit der Durchschnittskurve vierter Ordnung sind Punkte der ge- 
suchten Beschaffenheit. 

Die Punkte der Kummerschen Fläche, deren zugeordnete singuläre 
Linien Haupttangenten der Fläche sind, bilden also eine Kurve der 
16. Ordnung. 

2. Die so bestimmte Kurve ist nun eine Hauptiangentenkurve der Fläche. 

Zum Beweise bemerken wir zunächst, daß zwischen den durch eine 
Komplexlinie, — welche nur keine singuläre Linie sein darf, — hindurch- 
gelegten Ebenen und den Berührungspunkten der in denselben enthaltenen 
Komplexkurven mit der Linie projektivisches Entsprechen stattfindet. Hier- 
aus schließt man, daß einer unendlich kleinen Verschiebung des Punktes 
auf der Linie eine Drehung der Ebene entspricht, deren Größe von der- 
selben Ordnung des Unendlich-Kleinen ist. 

Nun ist die Verbindungslinie zweier konsekutiver Punkte der eben be- 
stimmten Kurve eine Komplexlinie, ohne zugleich singuläre Linie desselben 
zu sein. Die beiden Tangentialebenen in den beiden Punkten enthalten 
dem Komplexe angehörige Strahlbüschel, deren Scheitel diese Punkte sind. 
Die beiden Tangentialebenen sind also zwei Ebenen, deren Komplexkurven 
die angenommene Tangente in zwei konsekutiven Punkten berühren. Hier- 
aus folgt, nach der vorstehenden Bemerkung, daß, wenn man auf der 
Kurve fortschreitet, die Tangentialebene der Fläche sich um die Tangente 
der Kurve dreht. 

Das aber ist die charakteristische Eigenschaft der Haupttangenten- 
kurven einer Fläche; unsere Behauptung ist also erwiesen. 

Da der Begriff der Haupttangentenkurve, sowie der des Komplexes, 
sich selbst dualistisch ist, folgt, daß die dualistisch entgegenstehenden Singu- 
laritäten der Kurve einander gleich sind. Insbesondere ist ihre Klasse gleich 
ihrer Ordnung, also gleich 16. 

Da ferner die Kurve sich selbst dualistisch in einziger Weise durch 
den Komplex bestimmt ist, geht sie, wie dieser, durch ein System linearer, 
sowie reziproker Transformationen in sich über?). Man schließt hieraus 
eine Reihe von Eigenschaften derselben, die wir hier nicht weiter verfolgen 
können. 


?) Plücker, Neue Geometrie. Nr. 318. 
®) Vgl. die bereits zitierte Abhandlung: Zur Theorie usw., Nr. 13. 





92 Zur Liniengeometrie. 


3. Auf die auseinandergesetzte Weise erhalten wir einem jeden der ein- 
fach unendlich vielen Komplexe zweiten Grades, die zu derselben Kummer- 
schen Fläche gehören, entsprechend eine Haupttangentenkurye. Hiermit 
hat man aber alle Haupttangentenkurven, wofern nicht etwa Umhüllungs- 
kurven derselben existieren, da man für jeden Punkt der Fläche einen der 
Komplexe angeben kann, der die eine oder die andere der beiden Haupt- 
tangenten in demselben zur singulären Linie hat. 


Unter den zu der Fläche gehörigen Komplexen zweiten Grades be- 
finden sich sechs, doppelt zu zählende, lineare Komplexe. Als die singu- 
lären Linien derselben sind die Doppeltangenten der Fläche anzusehen, 
so zwar, daß jedem der sechs Komplexe eines der sechs von den Doppel- 
tangenten gebildeten Systeme angehört. Entsprechend diesen Komplexen 
gibt es sechs ausgezeichnete Hauptiangentenkurven. Dieselben sind, wie 
sich durch dieselben Betrachtungen ergibt, durch die wir Ordnung und 
Klasse der allgemeinen Kurve bestimmt haben, nur noch von der achten 
Ordnung und der achten Klasse. 


4. Wir gehen jetzt dazu über, die Singularitäten der Haupttangenten- 
kurven zu bestimmen. Hierzu gelangen wir, indem wir der allgemeinen 
Theorie solcher Kurven die folgenden Sätze entlehnen: 

Die Haupttangentenkurven einer beliebigen Fläche haben in den Knoten- 
punkten dieselben Spitzen. 


Überhaupt haben sie Spitzen in den Punkten der parabolischen Kurve, 
vorausgesetzt, daß diese nicht selbst Haupttangentenkurve ist. In dem 
letzteren Falle ist sie Umhüllungskurve für die übrigen Haupttangenten- 
_ kurven. Dies gilt besonders, wenn die parabolische Kurve aus ebenen Be- 
rührungskurven besteht. 


Ferner haben die Haupttangentenkurven in den Durchschnittspunkten 
mit der Kurve vierpunktiger Berührung stationäre Tangenten, wofern die 
Kurve vierpunktiger Berührung nicht zugleich parabolische Kurve ist, was 
eine besondere Betrachtung verschiedener Fälle verlangt, die wir hier nicht 
nötig haben. 

Endlich können die Haupttangentenkurven außer in den angegebenen 
Fällen keine Spitzen und keine stationären Tangenten haben. 


In unserem Falle hat man 16 Knotenpunkte, in denen also die Haupt- 
tangentenkurven Spitzen haben. 


Die parabolische Kurve, welche von der 32. Ordnung sein muß, be- 
steht aus den 16 Berührungskegelschnitten in den 16 Doppeltangential- 
ebenen der Fläche. Sie ist also Umhüllungskurve der Haupttangenten- 
kurven. Die 16 Ebenen sind dabei stationäre Ebenen dieser Kurven, wie 
dies überhaupt die Ebenen ebener Berührungskurven sind. 


VI. Haupttangentenkurven der Kummerschen Fläche. 93 


Man überzeugt sich nun leicht, daß die Hzupttangentenkurven in jedem 
Knotenpunkte nur eine Spitze haben und nur je einmal die‘ Doppeltan- 
gentialebenen stationär berühren. Die Kurve kann nämlich mit der Doppel- 
tangentialebene nur 16 Punkte gemein haben; vier davon kommen auf die 
stationäre Berührung, und zwölf auf die sechs Spitzen in den sechs in der 
Ebene liegenden Knotenpunkten. 

Die Haupttangentenkurven haben hiernach 16 (in die Knotenpunkte 
der Fläche fallende) Spitzen und 16 (mit den Doppeltangentialebenen der- 
selben identische) stationäre Ebenen. 

Die Kurve vierpunktiger Berührung besteht in unserem Falle einmal 
aus den 16 Berührungskegelschnitten, die hier nicht weiter in Betracht 
kommen, da sie schon erledigt sind. Andererseits besteht sie aus den sechs 
ausgezeichneten Haupttangentenkurven achter Ordnung, die den sechs linearen 
Komplexen angehören. Es geht dies daraus hervor, daß die singulären 
Linien dieser Komplexe, wie schon angeführt, Doppeltangenten der Fläche 
sind. Weitere Kurven umfaßt die Kurve vierpunktiger Berührung nicht, 
da die aufgezählten zusammen die richtige Ordnung, 80, besitzen. 

Wir müssen jetzt die Zahl der Durchschnittspunkte einer Haupttan- 
gentenkurve mit den sechs ausgezeichneten bestimmen. 

Diese Durchschnittspunkte sind dadurch charakterisiert, daß die vier- 
punktig berührende Haupttangente eine Linie des Komplexes zweiten Grades 
ist, dem die gegebene Haupttangentenkurve zugehört. Die in den Punkten 
einer der sechs Kurven vierpunktig berührenden Haupttangenten bilden 
aber eine Linienfläche von der achten Ordnung, da der vollständige Durch- 
schnitt derselben mit der Kummerschen Fläche aus der gewählten Kurve 
besteht, welche vierfach zählt. Mit einer solchen Fläche hat aber der 
Komplex zweiten Grades 16 Linien gemein. Man erhält also, jeder der 
sechs Kurven entsprechend, 16 Durchschnittspunkte. Wir haben somit 
den Satz: 

Die Haupttangentenkurven haben 6-16 = 96 stationäre Tangenten. 

Fügen wir noch hinzu, daß die Haupttangentenkurven keinen wirk- 
lichen Doppelpunkt und also auch keine wirkliche Doppeloskulationsebene 
besitzen können, da in keinem Punkte der Kummerschen Fläche, der 
nicht auf der parabolischen Kurve liegt, die beiden Haupttangenten dem- 
selben Komplexe als singuläre Linien angehören, so können wir die sämt- 
lichen Singularitäten derselben, von denen die dualistisch entgegenstehenden 
gleich sind, ohne weiteres bestimmen. Insbesondere finden wir: den Rang 
—48, die Zahl der scheinbaren Doppelpunkte — 72, die Ordnung der 
Doppelkurve der Developpablen — 952, das Geschlecht = 17. 

5. Für die sechs ausgezeichneten Haupttangentenkurven wird die Zahl 
der Spitzen und stationären Oskulationsebenen gleich Null. Eine solche 


94 Zur Liniengeometrie. 


Kurve geht nämlich durch jeden der Doppelpunkte einfach hindurch und 
hat in ihm eine der sechs ihn enthaltenden Doppeltangentialebenen zur 
Öskulationsebene. Man hat sich den stetigen Übergang zwischen den allge- 
meinen Kurven und diesen besonderen so vorzustellen, daß die letzteren 
doppelt zählen und aus der Vereinigung je zweier in einer Spitze zusammen- 
stoßender Zweige der übrigen entstanden sind. Darum sinkt Ordnung und 
Klasse auf die Hälfte. Hiernach müßte auch der Rang halb so groß sein, 
wie der der anderen, also gleich 24. Das aber findet man auch, wenn 
man die Zahl der stationären Tangenten berechnet. Für dieselbe kommt 
nämlich jetzt 40, indem die Kurve jede der anderen nicht mehr 16 mal, 

> sondern, weil sie 2 mal zählt, nur 8 mal schnei- 
det, und das nicht 6 mal, sondern nur 5 mal 
geschieht. 

Wir finden weiter: die Zahl der schein- 
baren Doppelpunkte gleich 16, die Ordnung der 
Doppelkurve der Developpable gleich 200, das 
Geschlecht gleich 5. 

6. Wie man sich die Aufeinanderfolge der 
Haupttangentenkurven zu denken hat, ist in 
| der nebenstehenden Zeichnung für den Fall, 
daß die sechs zugehörigen linearen Komplexe 
reell sind, schematisch dargestellt. 

In diesem Falle haben nämlich die Teile 
der Fläche, für welche die Haupttangenten reell 
werden, die Gestalt eines von zwei Kegelschnitt- 
stücken begrenzten Segmentes, das sich von 
einem Knotenpunkte nach einem anderen hin- 

ul | zieht. Die beiden begrenzenden Kurvenstücke 
gehören den Berührungskegelschnitten in denjenigen beiden Doppeltan- 
gentialebenen der Fläche an, welche beide Knotenpunkte zugleich ent- 
halten. 

Innerhalb eines solchen Segmentes verlaufen nun zunächst zwei der 
sechs ausgezeichneten Haupttangentenkurven. Dieselben gehören denjenigen 
zwei der sechs linearen Komplexe an, denen in den zwei Knotenpunkten, 
zwischen denen sich das Segment erstreckt, die beiden dasselbe begrenzenden 
Doppeltangentialebenen entsprechen. Die betreffenden Kurven sind in der 
Figur stärker ausgezogen. Dieselben haben eine S-förmige Gestalt. Sie 
ziehen sich von dem einen Knotenpunkte zu dem anderen hin, indem sie 
in jedem eine der beiden Begrenzungskurven berühren. Außer in den beiden 
Knotenpunkten schneiden sich dieselben in einem beiden gemeinsamen Wende- 
punkte, der den Mittelpunkt der Zeichnung bildet. — Übrigens setzen sich 





VI. Haupttangentenkurven der Kummerschen Fläche. 95 


- diese Kurven über die beiden Knotenpunkte hinaus auf weitere, ähnlich 
gestaltete Segmente der Fläche fort. 

Von den übrigen Haupttangentenkurven, deren drei gezeichnet sind. 
weiß man, daß sie in den Knotenpunkten eine Spitze haben, daß sie jeden 
der beiden begrenzenden Kegelschnitte einmal berühren, und daß sie dort, 
wo sie, außer in den beiden Knotenpunkten, die beiden ausgezeichneten 
Kurven treffen, einen Wendepunkt besitzen. Hiernach wird es leicht sein, 
ihrem Verlaufe in der Figur zu folgen. 





7. Die im vorstehenden gegebene Bestimmung der Haupttangenten- 
kurven der Kummerschen Fläche, welche wir an die Betrachtung der 
zugehörigen Komplexe zweiten Grades geknüpft haben, kann noch unter 
einem anderen Gesichtspunkte gefaßt werden, indem man von einem der 
sechs unter denselben befindlichen linearen Komplexe ausgeht. Die Fläche 
ist nämlich Brennfläche eines diesem Komplexe angehörigen Strahlensystems: 
des einen Systems ihrer Doppeltangenten. Wir wollen nun zeigen, daß 
das Problem: die Haupttangentenkurven auf der Brennfläche eines einem 
linearen Komplexe angehörigen Strahlensystems zu bestimmen, identisch 
ist mit dem: anderen: die Krümmungskurven einer gewissen Fläche zu 
finden. In unserem Falle wird diese Fläche die Fläche vierter Ordnung, 
welche den unendlich weit entfernten imaginären Kreis doppelt enthält; 
und da man deren Krümmungskurven kennt, so erhält man eine Bestim- 
mung der Haupttangentenkurven der Kummerschen Fläche, die natürlich 
mit der oben gegebenen übereinstimmt. 

Man beziehe nämlich die Linien des gegebenen linearen Komplexes 
eindeutig auf die Punkte des Raumes, indem man, vermöge der gegebenen 
linearen Gleichung und der zwischen den Linienkoordinaten bestehenden 
Identität zwei der sechs Linienkocrdinaten, die sich auf zwei sich schneidende 
Kanten des Tetraeders beziehen, als Funktionen der vier übrigen auffaßt 
und diese letzten als Punktkoordinaten interpretiert ®). 

Man findet, daß dann allen Linien des Komplexes, welche durch einen 
Punkt hindurchgehen, die Punkte einer geraden Linie entsprechen, und 
daß diese gerade Linie einen festen Kegelschnitt schneidet, der für die 
Abbildung fundamental ist. Das Strahlensystem, welches dem linearen 
Komplexe mit einem Komplexe n-ten Grades gemein ist, bildet sich 
ab als Fläche 2n-ten Grades, welche den Kegelschnitt n-fach enthält. 
Insbesondere ist das Bild einer geraden Linie, d. h. der dieselbe schnei- 





*) Dieses Abbildungsverfahren ist bereits gelegentlich von Herrn Nöther ange- 
geben worden: Zur Theorie der algebraischen Funktionen mehrerer komplexer Ver- 
änderlichen. Gött. Nachrichten 1869. 


96 Zur Liniengeometrie. 


denden Komplexlinien, eine Fläche zweiten Grades, die durch den Kegel- 
schnitt geht. 

Wir wollen fortan für den fundamentalen Kegelschnitt den unendlich 
weit entfernten imaginären Kreis wählen, so daß also das Bild einer ge- 
raden Linie eine Kugel wird. 

Sei jetzt eine beliebige Fläche gegeben und auf derselben eine Krüm- 
mungskurve. Die Fläche ist das Bild eines dem linearen Komplexe ange- 
hörigen Strahlensystems, die Kurve das Bild einer in demselben enthaltenen 
geradlinigen Fläche. Wir behaupten, daß diese geradlinige Fläche die Brenn- 
fläche des Strahlensystems nach einer Hauptiangentenkurve berührt. 

Zum Beweise bemerken wir zunächst, daß, rückwärts, das Bild dieser 
Brennfläche dasjenige Strahlensystem ist, dessen Linien gleichzeitig die ge- 
gebene Fläche berühren und den unendlich weit entfernten imaginären 
Kreis schneiden. Einer jeden geraden Linie, welche die Brennfläche be- 
rührt, entspricht hiernach eine die gegebene Fläche berührende Kugel. 
Insbesondere entspricht einer Haupttangente eine stationär berührende Kugel. 

Eine der beiden in einem beliebigen Punkte der Krümmungskurve 
stationär berührenden Kugeln enthält aber drei konsekutive Punkte der 
Krümmungskurve. Also schneidet eine der beiden Haupttangenten der 
Brennfläche in einem Berührungspunkte mit der umgeschriebenen Linien- 
fläche drei konsekutive Erzeugende derselben, mit anderen Worten, ist eine 
Haupttangente auch der letzteren. 

Man hat aber allgemein den Satz: Wenn zwei Flächen sich nach einer 
Kurve berühren und in jedem Punkte dieser Kurve ist ihnen eine Haupt- 
tangente gemeinsam, so ist die Kurve eine Haupttangentenkurve. 

Damit ist unsere Behauptung erwiesen. 

Wenn man nun insbesondere für die gegebene Fläche eine Fläche 
vierter Ordnung nimmt, die den unendlich weit entfernten imaginären Kreis 
doppelt enthält, — eine solche ist das Bild eines dem linearen Komplexe 
angehörigen Strahlensystems zweiter Ordnung und Klasse, — so erhält man 
auf diesem Wege die Haupttangentenkurven der Kummerschen Fläche, 
welche die Brennfläche eines solchen Strahlensystems ist. 


Die in der letzten Nummer enthaltenen Betrachtungen sind es ge- 
wesen, durch die der eine von uns (Lie)?) zuerst zu der Bemerkung ge- 
führt wurde, daß die Haupttangentenkurven der Kummerschen Fläche 





5) Vgl. Lie: Über eine Klasse geometrischer Transformationen, Berichte der 
Akademie zu Christiania, 1870, oder auch: Sur une transformation geometrique, in 
den Comptes rendus de l’Acad&mie des Sciences von demselben Jahre (Bd. 71, 
31. Oktober 1870). 


u 
r 


VI. Haupttangentenkurven der Kummerschen Fläche. 97 


algebraische Kurven der 16. Ordnung sind; hierauf fand der andere (Klein) 
die Beziehung dieser Kurven zu den Komplexen zweiten Grades, die zu 
der Kummerschen Fläche gehören, und bestimmte, wie im vorstehenden 
auseinandergesetzt ist, ihre Singularitäten®). 





®) [Vorstehende Abhandlung geht, wie schon im Text angedeutet, auf das Zu- 
sammenarbeiten von Lie und mir in unserer Pariser Zeit zurück und bildet sozu- 
sagen dessen Höhepunkt. Ich war — Anfang Juli 1870 — eines Morgens früh auf- 
gestanden und wollte gerade ausgehen, als mich Lie, der noch im Bette lag, in sein 
Zimmer rief und mir den von ihm in der Nacht gefundenen Zusammenhang der Haupt- 
tangentenkurven einer Fläche mit den Krümmungskurven einer anderen Fläche in 
einer Weise auseinandersetzte, daß ich kein Wort verstand. (Es handelte sich um 
die Linienkugeltransformation, aber statt mit Kugeln operierte er halbanschaulich 
mit geradlinigen Hyperboloiden, die durch einen festen rellen Kegelschnitt gingen.) 
Jedenfalls versicherte er mir, daß danach die Haupttangentenkurven der Kummer- 
schen Fläche algebraische Kurven 16. Ordnung sein müßten. Am Vormittage kam 

mir dann, während ich das Conservatoire des Arts et Metiers besichtigte, der Ge- 
danke, daß es sich um eben jene Kurven 16. Ordnung handeln müßte, welche schon in 
der Abhandlung II (siehe S. 74) in meiner „Theorie der Linienkomplexe ersten und 
zweiten Grades“ aufgetreten waren, und es gelang mir rasch, die im Texte unter 1 bis 5 
gegebenen, von der Lieschen Transformation unabhängigen geometrischen Betrach- 
tungen durchzuführen. Als ich am Nachmittage um 4 Uhr nach Hause zurückkam, 
war Lie ausgegangen, und ich hinterließ ihm eine Zusammenstellung meiner Resultate 
in einem Briefe. — Die Figur der Nr. 6 des Textes fand ich Ende Juli oder Anfang 
August 1370 während meines Aufenthaltes in Düsseldorf. 

Die Haupttangentenkurven der Kummerschen Fläche sind ja seitdem vielfach 
weiter untersucht worden. Zunächst von Lie und mir in unseren Abhandlungen in 
Bd. 5 der Math. Ann. (1871); siehe die nachstehenden Abhandlungen. Während Lie 
daselbst seine Linienkugeltransformation eingehend entwickelte, habe ich den in Be- 
tracht kommenden Integrationsprozeß von verschiedenen anderen Seiten beleuchtet. — 
Ich verweise auf diese Arbeiten um so lieber, als die vorstehend in Nr. 2 und 7 des 
Textes entwickelten Beweise des Hauptsatzes, trotzdem sie materiell richtig sind, 
vielleicht in formaler Hinsicht unbefriedigend erscheinen können. — Es folgen die 
Entwicklungen von Herrn Rohn in seiner Dissertation (München, 1878) und in 
seinen Abhandlungen in Bd. 15, 18 der Math. Ann. (1879 bez. 1881). Hier tritt die 
Bedeutung der Haupttangentenkurven der Kummerschen Fläche für deren Dar- 
stellung durch byperelliptische Funktienen zum erstenmal klar hervor, und wird ihr 
reeller Verlauf für die Fälle, wo die in Nr. 6 des Textes gegebene Figur eines von 
zwei Kegelschnittstücken umgrenzten Segmentes nicht stimmt, angegeben. Weiteres 
vergleiche man im Artikel IIIC8 der Enzyklopädie der Math. Wiss. von K. Zindler 
über algebraische Liniengeometrie. K.) 


Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 7 


VII. Über einen Satz aus der Theorie der Linienkomplexe, 
welcher dem Dupinschen Theorem analog ist. 


Vorgelegt von A. Clebsch. 


[Nachrichten von der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, 1871, Nr. 3 
(8. März 1871), vorgelegt in der Sitzung vom 4. März 1871?).] 


Bei der Bestimmung der Haupttangentenkurven der Kummerschen 
Fläche?) hat sich gezeigt, daß diese Kurven in einem unmittelbaren Zu- 
sammenhange mit den Komplexen zweiten Grades stehen, deren Singu- 
laritätenfläche die Kummersche Fläche ist. Im. folgenden will ich nun ein 
allgemeines Theorem aufstellen, betreffend eine Beziehung zwischen Linien- 
komplexen und Haupttangentenkurven, unter welches sich die Bestimmung 
der Haupttangentenkurven der Kummerschen Fläche subsumiert. 

Seien zunächst zwei Komplexe und eine ihnen gemeinsame Gerade 
gegeben. In einer beliebig durch die letztere hindurchgelegten Ebene be- 
finden sich zwei bez. den beiden Komplexen angehörige Komplexkurven 
und diese berühren die gegebene Gerade je in einem Punkte. Man be- 
trachte den einen Berührungspunkt als dem anderen entsprechend. Läßt 
man sich die angenommene Ebene um die gerade Linie drehen, so erhält 
man daraus ein lineares Entsprechen zwischen zwei auf der Geraden be- 
findlichen Punktreihen. Die beiden Komplexe sollen nun mit Bezug auf 
die gegebene gerade Linie in Involution heißen, wenn die Beziehung 
zwischen diesen Punktreihen die involutorische ist. 

Analytisch drückt sich dies, wie ich hier ohne Beweis angebe, fol- 
gendermaßen aus?). Die Linienkoordinaten &,,..., x, mögen so gewählt 





ı) [Das Prinzip ist, in die vorliegende Ausgabe von den vorläufigen Mitteilungen, 
die in den Göttinger Nachrichten oder anderen Akademieberichten erschienen sind, 
nur aufzunehmen, was nicht in spätere umfassende Abhandlungen eingearbeitet ist. 
Bei VII wird wie in einigen analogen Fällen eine Ausnahme gemacht, weil die Methode 
der Darstellung eine andere ist, als bei der endgültigen Darstellung in VIII. K. 

2) Vgl. die Arbeit von Herrn Lie und mir: „Über die Haupttangentenkurven 
der Kummerschen Fläche“, Monatsberichte der Berliner Akademie, Dezember 1870; 
sowie eine Notiz von mir in diesen Nachrichten, 1871. Nr. 1. [Vgl. Abh. II, VI 
dieser Ausgabe. | 

®) Hier und im folgenden verweise ich auf die beiden Arbeiten: „Zur Theorie der 
Linienkomplexe ersten und zweiten Grades“ und „Die allgemeine lineare Transforma- 
tion der Linienkoordinaten“, Math. Ann., Bd. 2. [Siehe Abh. II, III dieser Ausgabe.) 


VII. Analogon des Dupinschen Theorems. 99 


sein, daß die Summe ihrer Quadrate identisch verschwindet. Die beiden 
gegebenen Komplexe seien A=0, B=0); sie liegen mit Bezug auf eine 


gemeinsame gerade Linie in Involution, wenn für diese Linie — 


verschwindet. 

Diese Definition vorausgesetzt, ist nun der Satz, um den es sich hier 
handelt, der folgende: | 

Wenn vier Komplexe mit Bezug auf eine gemeinsame gerade Linie (p) 
paarweise in Involution liegen, wenn ferner je drei derselben mit Bezug 
auf die ihnen gemeinsame, nächstfolgende gerade Linie ebenfalls paar- 
weise in Involution sind, so berührt die dreien der Komplexe gemein- 
same Linienfläche die Brennfläche desjenigen Strahlensystems, das zweien . 
dieser drei Komplexe angehört, in der Nähe von (p) nach der Richtung 
einer Haupttangentenkurve. 


Der hiermit ausgesprochene Satz hat seiner Form nach eine gewisse 
Ähnlichkeit mit dem Dupinschen Theorem über Krümmungskurven, wenn 
man das letztere so ausspricht, wie dies beispielsweise in Salmons Raum- 
geometrie (II, S.51 der Übersetzung von Fiedler) geschieht. Diese Ähn- 
lichkeit entspricht dem Wesen der Sache; ich werde hier einen solchen. 
Beweis für den aufgestellten Satz geben, der dem in Salmons Raum- 
geometrie mitgeteilten Beweise des Dupinschen Theorems genau nach- 
gebildet ist, und aus dem sich ergibt, daß der Satz eine Erweiterung des 
Dupinschen Theorems von drei Variabeln auf vier ist. 


Überhaupt ist, wie an einem anderen Orte ausführlicher dargelegt 
werden soll, die Liniengeometrie äquivalent mit der metrischen Geometrie 
für vier Variabeln. Diese Behauptung findet ihren einfachsten Ausdruck in 
der sogleich zu gebrauchenden Koordinatenbestimmung, vermöge derer die 
bilineare Invariante zweier gerader Linien sich darstellt wie die Entfernung 
zweier Punkte und die Bedingung für die involutorische Lage zweier Kom- 
plexe wie die Bedingung für die Orthogonalität zweier Flächen. Zu dieser 
Beziehung zwischen metrischer Geometrie und Liniengeometrie, insbesondere 
auch zu der Aufstellung des hier in Rede stehenden Theorems, bin ich 
durch weiteren Verfolg eines Gedankenganges gekommen, der Herrn Lie 
angehört. Herr Lie hat nämlich, wie dies beiläufig auch in der vor- 
stehend zitierten Arbeit: „Über die Haupttangentenkurven usw.“ |vgl. 
die vorstehende Abhandlung VI] auseinandergesetzt ist, gefunden, daß 
zwischen der Geometrie eines linearen Komplexes und der metrischen Geo- 
metrie bei drei Variabeln ein vollständiger Parallelismus statthat, der 
darauf zurückkommt, daß man die Linien eines linearen Komplexes in 
der Art eindeutig auf die Punkte des Raumes beziehen kann, daß dabei 
der unendlich weit entfernte imaginäre Kreis als fundamentales Gebilde 

7% 


100 Zur Liniengeometrie. 


auftritt‘). Dabei entsprechen sich, wie Herr Lie fand, die Krümmungs- 
kurven im metrischen Raume und die Haupttangentenkurven im Raume 
des linearen Komplexes in einer gewissen Weise. 

Man kann sich nun die Frage vorlegen: Was bedeutet für den linearen 
Komplex das auf den metrischen Raum bezügliche Dupinsche Theorem? 
Die Antwort auf diese Frage ist eben der hier aufgestellte Satz, nur nicht 
in seiner allgemeinsten Form, sondern mit der Beschränkung, daß einer 
der vier Komplexe, von denen in demselben die Rede ist, ein linearer ist. 
Es ist nicht schwer, von dieser besonderen Annahme zu dem allgemeinen 
Satze überzugehen; der Wunsch, einen unmittelbaren Beweis zu haben, 
führte mich zu der Aufstellung des im nachstehenden benutzten Koordi- 
natensystems und dieses zu der oben hervorgehobenen Analogie zwischen 
Liniengeometrie und metrischer Geometrie bei vier Variabeln. 

Ich wende mich jetzt zu dem Beweise des aufgestellten Theorems. 


Die vier gegebenen Komplexe mögen heißen: 


(1) 9,—=0, 9-0, 9,70, 9,=0, 


die ihnen gemeinsame gerade Linie, in bezug auf welche sie paarweise in 
Involution liegen, sei 9; Ihre (Komplex-)Gleichung sei 9=0. Aus der 
einfach unendlichen Schar der linearen Tangentialkomplexe von. 9,,9,, 93,9, 
mit Bezug auf p wähle man je einen aus; dieselben heißen x, = 0, 2,= 0, 
x2,=0, x2,=0. Endlich möge g= 0 diejenige gerade Linie sein, welche 
den vier linearen Komplexen noch außer p gemeinsam ist. Die sechs 
linearen Ausdrücke &,, %,, %,, %,, pP, q lege ıch im folgenden als Linien- 
koordinaten zugrunde. Wegen der zwischen den betreffenden linearen Kom- 
plexen bestehenden Beziehungen schreibt sich die für diese Linienkoor- 
dinaten geltende Identität bei passender Wahl von Multiplikatoren unter 
der folgenden Form: 


(2) = +++? + 2pg. 
Fortan werde ich g=--1 setzen, dann ist: 
(3) 9-1 ++ +3 


p drückt sich mithin rational und ganz durch die x aus. Es ist also ge- 
stattet, in allen Gleichungen, welche vorkommen, p durch die x zu er- 
setzen und die x als die einzigen und dann unabhängigen Veränder- 
lichen zu betrachten. 

Seien unter dieser Voraussetzung A=0, B=0 die Gleichungen 





*) Herr Lie hat diese Beziehungen ausführlicher in einer demnächst in den 
Berichten der Akademie zu Christiania erscheinenden Abhandlung auseinandergesetzt 
(1871). [Vgl. die große Abhandlung von Lie in den Math. Ann., Bd. 5.] 


VII. Analogon des Dupinschen Theorems. 101 


zweier Komplexe, so ist die Bedingung dafür, daß dieselben mit Bezug 
auf eine. gemeinsame Linie in Involution liegen, 


0A oB oB oA oB 0A oB 


(4) 0x, 0m, +5 zn a m > 


was der Bedingung für die Orthogonalität zweier Flächen im Raume von 
vier Dimensionen entspricht. Die Bedingung für die Involution ist näm- 
lich ursprünglich: 

= oB oA 0oB DA oB 


TER Fa 7 ar TRnaiE TOT Dash 


da aber A und B nach Voraussetzung kein p mehr enthalten, so fallen 


die Glieder mit — = 2: fort, und man erhält die vorstehende Bedin- 
gung (4)°). 


’0p 

Die Gleichungen der vier gegebenen Komplexe (1) erhalten nun die 

folgende Form: 

(5) (eo =2.,. 492 (27,2, 7.5 

usw., wo Q eine homogene Funktion zweiten Grades der x ist und die 
nicht hingeschriebenen Glieder aus homogenen Funktionen höheren Grades 
derselben Argumente bestehen. 

Die Form von (5) sagt erst aus, daß die vier Komplexe mit Bezug 
auf die gemeinsame Gerade p paarweise in Involution liegen; sollen die- 
selben zu je drei auch mit Bezug auf die ihnen angehörige nächstfolgende 
Gerade paarweise in Involution sein, so partikularisiert das die Form der Q. 
Man findet nämlich, daß die Q dann nur die Quadrate der x enthalten 
dürfen, so daß also: 

(6) ee 
0=9,=22,+(bz.?+b,.?+b,232+bad)+... 
usf. die Gleichungen der vier gegebenen Komplexe werden. 

Betrachten wir jetzt die Kongruenz, welche zweien der vier Komplexe, 
etwa p, und 9,, gemeinsam ist. Dieselbe besitzt eine Brennfläche und 
diese wird von p in zwei Punkten (den Doppelpunkten des auf p befind- 
lichen, zu p, und @, gehörigen, involutorischen Punktsystems) berührt. 
Sei a einer dieser Berührungspunkte. Jetzt möge p in eine benachbarte 
Lage übergehen, doch in der Art, daß es nach wie vor den beiden Kom- 





5) Auf ähnliche Weise erhält man für das Moment zweier Geraden (2%, ,2,,23,%,,P,9) 
und (Y,,Ys, Y3,Y4, P', q'), welches ursprünglich (bis auf einen Faktor) 


= ytBytasytsy)tra'+p'g 
ist, durch Einsetzung der Werte für p und g: 


= ya - ut nt]. 


102 Zur Liniengeometrie. | 


plexen 9, = 0, 9, = 0 angehört. Dann ist p Doppeltangente der Brenn- 
fläche geblieben; der Berührungspunkt a ist in einen benachbarten Be- 
rührungspunkt übergegangen. Soll dieser Punkt in der Richtung einer 
der beiden in a die Brennfläche berührenden Haupttangenten liegen, so 
muß die Tangentialebene in ihm, auch wenn man auf Größen erster Ord- 
nung Rücksicht nimmt, durch a hindurchgehen Mit anderen Worten: 
das Büschel der in a und das Büschel der in dem benachbarten Punkte 
die Fläche berührenden Tangenten. müssen, auch wenn man auf Größen 
erster Ordnung Rücksicht nimmt, eine Gerade gemein haben. Dies werde 
ich analytisch ausdrücken; in der Form der betreffenden Gleichung liegt 
dann unmittelbar der Beweis des aufgestellten Theorems. 

Beiläufig sei bemerkt, daß sich aus den folgenden Resultaten ergibt, 
daß, wenn der Berührungspunkt a auf einer Haupttangente der Brenn- 
fläche fortrückt, dieses auch mit dem zweiten Berührungspunkte der Brenn- 
fläche mit der Linie p der Fall ist. 

Die Linie p hat bei unserer Koordinatenwahl die Koordinaten: 


%> %p %s; %5 pP, q 
Ge EIER: I: Bee: AIR | 





Für eine benachbarte Linie ist wegen (3) dp= 0; sie hat also die Koor- 
dinaten: 
dz,,.d2,, dx, @2,,.0, L, 


wo dx,, dx,, dx,, dx, völlig unabhängig sind. Soll die benachbarte Linie, 
wie hier vorausgesetzt, den Komplexen 9,, 9, angehören, so ist dx, 
und dx, gleich Null: Die genannte Bedingung also: daß die beiden Tan- 
gentenbüschel eine Gerade gemein haben, wird eine Gleichung zwischen dx, 
und dx,. Der Beweis für das aufgestellte Theorem liegt nun darin, daß 
diese Gleichung die Form annimmt: 


dz,.de,=(, 
wie jetzt gezeigt werden soll. 

Zunächst, um auszudrücken, daß zwei Geradenbüschel eine Gerade 
gemein haben, wähle man zwei Gerade aus beiden Büscheln aus. Die Be- 
dingung ist die, daß die aus beliebigen vier der Koordinaten der vier ge- 
raden Linien zusammengesetzten Determinanten verschwinden. 

Von dem Büschel der in a die Brennfläche berührenden Tangenten 
kennt man aber eine gerade Linie; das ist p selbst, deren Koordinaten, 
wie schon angegeben, sind: 

0: 8,020, 7 


Ferner. findet sich unter denselben jedesmal eine Direktrix der Kongruenz, 
welche irgend zweien auf p bezüglichen linearen Tangentialkomplexen 


VIl. Analogon des Dupinschen Theorems. 103 


von p, und 9, gemeinsam ist. Nehmen wir für die beiden Tangential- 
komplexe x,—0 und x,—0, so erhält die Direktrix die Koordinaten: 


1:3 DB,.0.0.0, 


In dem zweiten (benachbarten) Büschel enthalten ist zunächst die zu p 
benachbarte Linie mit den Koordinaten: 


0.0,02.,.09.0, 3, 


sodann wieder eine Direktrix jeder Kongruenz, die irgend zwei auf diese 
Linie bezüglichen linearen Tangentialkomplexen von p, und 9, gemeinsam 
ist. Für solche zwei Komplexe findet man aus (6) unmittelbar die fol- 
genden: 

0=x2,+: +a,d2,-2,+a,dr,' 2% 

0=- +2, +b,da,-2,+b,de, x,. 


Eine Direktrix der diesen beiden Komplexen gemeinsamen Kongruenz 
hat zu Koordinaten: 


1, %, (a,+ib,)dx,, (a,+ib,)dz,, 0, 0. 


Die aus den Koordinaten der aufgezählten vier geraden Linien gebil- 
deten viergliedrigen Determinanten sollen verschwinden. Vereinigt man 
dieselben in ein rechtwinkliges Schema, so kann man dasselbe auf die 
folgende Form reduzieren: 





Oh 0 0 0 
os 0 0 Wa 
0 v dx, de, 0 0 
0 0 (a,+ib,)dr, (a,+ib,)d«, 0 0| 


Damit die aus diesem Schema gebildeten Determinanten sämtlich ver- 
schwinden, muß offenbar sein: 


dı,-da,=0, 


womit der Beweis unseres Theorems geführt ist. 

Diese Gleichung sagt nämlich aus: damit der Berührungspunkt @ und 
also auch der zweite Berührungspunkt von p mit der Brennfläche bei 
einer infinitesimalen Verschiebung von p auf einer Haupttangente der Brenn- 
fläche fortrücke, muß diese Verschiebung so geschehen, daß dx, oder dx, 
gleich Null ist, d. h. daß p in der benachbarten Lage nicht nur, wie 
selbstverständlich, den Komplexen p,= 0, 9,=0, sondern auch einem 
der beiden Komplexe 9, —= 0 oder @, = 0 angehöre. Mit anderen Worten: 
die Linienfläche, welche 9, = 0, 9,=0 und 9,=0 oder 9,=0, 9, = 0 
und 95= 0 gemeinsam ist, berührt die Brennfläche der Kongruenz p, = 0, 
9, = 0 ın der Nähe von p nach der Richtung einer Haupttangentenkurve, 
was das aufgestellte Theorem war. 


104 Zur Liniengeometrie. 


Es mag jetzt ein System von unendlich vielen Komplexen gegeben 
sein, welches von einem Parameter A abhängt, der bis zur vierten Potenz 
vorkommt: 


tt. 

Eine beliebige gerade Linie gehört vieren der Komplexe des Systems 
an. Das System soll nun so beschaffen sein, daß diese vier Komplexe 
jedesmal mit Bezug auf die gemeinsame Gerade in Involution sind‘). Dann 
gibt das aufgestellte Theorem durch Übergang vom Unendlich-Kleinen zum 
Endliehen den Satz: 

Die Linienfläche, welche dreien der Komplexe des Systems gemeinsam 
ist, berührt die Brennfläche der zweien dieser drei Komplexe gemein- 
samen Kongruenz nach einer Haupttangenienkurve. | 


Hiernach kennt man die Haupttangentenkurven auf den Brennflächen 
der Kongrenzen je zweier der Komplexe des Systems. 

Aber auch die Haupttangentenkurven auf den je dreien der Komplexe 
gemeinsamen Linienflächen bestimmen sich ohne weiteres. Die Berührungs- 
kurven einer solchen Linienfläche mit den Brennflächen der zweien der 
drei Komplexe gemeinsamen Kongruenzen sind nämlich auch Haupt- 
tangentenkurven der Linienfläche, da überhaupt, wenn zwei Flächen sich 
nach einer Haupttangentenkurve berühren, diese Kurve für beide Haupt- 
tangentenkurve ist. Diese drei Haupttangentenkurven schneiden die Er- 
zeugenden der Linienfläche in drei Punktepaaren. Da nun die Erzeugen- 
den einer Linienfläche von den Haupttangentenkurven derselben projektivisch 
geteilt werden’), so ist die Bestimmung der übrigen Haupttangentenkurven 
der Fläche im vorliegenden Falle auf rein algebraische Operationen zurück- 
geführt. Zugleich ergibt sich, daß die drei Punktepaare, die auf jeder 
Erzeugenden festgelegt wurden, sechs festen Elementen projektivisch sein 
müssen. In der Tat findet man, daß jedes Paar zu jedem anderen harmo- 
nisch ist. 


Die hiermit ausgesprochenen Sätze finden ihre Stelle insbesondere bei 
den Komplexen zweiten Grades, die dieselbe Singularitätenfläche besitzen. 
Das von ihnen gebildete System hat nämlich gerade die Eigenschaft: daß 
eine beliebige gerade Linie vieren der Komplexe angehört, und daß diese 
Komplexe mit Bezug auf die Gerade in Involution liegen. Für die Kom- 
plexe zweiten Grades, welche eine Kummersche Fläche zur Singularitäten- 





6, Ein solches Komplexsystem entspricht bei vier Variabeln einem Orthogonal- 
flächensysteme bei drei Variabeln. Die allgemeinen Eigenschaften der letzteren [cf. 
Darboux, Recherches sur les surfaces orthogonales. Ann. de l’Ecöle Normale Sup£rieure, 
t. 2 (1865)] finden bei den Komplexsystemen ihre Analoge. 

?) Dieser Satz ist, soviel ich weiß, zuerst von Herrn Paul Serret ausgesprochen 
worden. 


VII. Analogon des Dupinschen Theorems. 105 


fläche haben, kann man dies aus den Gött. Nachrichten 1871, Nr. 1 [siehe 
Abh. II dieser Ausgabe] mitgeteilten Formeln unmittelbar entnehmen. Der 
Nachweis für die allgemeine Gültigkeit dieses Satzes, den ich hier der. 
Kürze wegen nicht ausführe, entspricht übrigens ganz dem Gange, den man 
einschlägt, um zu zeigen, daß konfokale Flächen zweiten Grades sich senk- 
recht schneiden. 

Sei nun ein solches System von Komplexen zweiten Grades gegeben. 
Zwei demselben angehörige Komplexe bestimmen eine Kongruenz, deren 
Brennfläche im allgemeinen von der 16. Ordnung und Klasse ist. Auf 
diesen Brennflächen kennt man nach dem aufgestellten Theoreme die Haupt- 
tangentenkurven; es werden algebraische Kurven von der 32. Ordnung und 
Klasse. Dieselben sind die Berührungkurven mit den je dreien der Kom- 
plexe angehörigen Linienflächen, die im allgemeinen auch von der 16. Ord- 
nung und Klasse sind. Auf diesen Linienflächen kann man nach dem 
Obigen ebenfalls durch algebraische Operationen die Haupttangenkurven 
bestimmen. 

Durch passende Partikularisationen erhält man hieraus die Bestimmung 
der Haupttangentenkurven auf einer großen Zahl von besonderen Flächen. 
Hier sei nur eine solche Partikularisation erwähnt. Die beiden Komplexe 
des Systems, welche miteinander die Kongruenz und durch diese die Brenn- 
fläche bestimmen, mögen unendlich wenig voneinander verschieden sein. Dann 
wird die Kongruenz die Kongruenz der singulären Linien desjenigen Kom- 
plexes, in welchen die beiden zusammengefallen sind. Ihre Brennfläche 
zerfällt in die allen Komplexen gemeinsame Singularitätenfläche, die von 
der vierten Ordnung und Klasse ist, und eine weitere Fläche von der 
12. Ordnung und Klasse. Auf beiden erhält man die Haupttangentenkurven. 
Nun ist für die allgemeinen Komplexe zweiten Grades die Singularitäten- 
fläche eine Kummersche Fläche vierten Grades mit 16 Knotenpunkten. 
Man erhält also eine Bestimmung der Haupttangentenkurven dieser Fläche 
und zwar eine solche, die sich unmittelbar in diejenige überführen läßt, 
welche Herr Lie und ich in der im Eingange zitierten Arbeit auseinander- 
gesetzt haben. 


VII. Über Liniengeometrie und metrische Geometrie. 


[Math. Annalen, Bd. 5 (1872).] 


In der vorstehenden Abhandlung!) hat Herr Lie unter anderem eine 
fundamentale Analogie ‘entwickelt, welche zwischen der Geometrie des 
linearen Komplexes und . der gewöhnlichen metrischen Geometrie besteht. 
Diese Analogie kommt darauf zurück, daß man den linearen Komplex 
eindeutig auf den Punktraum abbilden kann?), wobei im linearen Komplexe 
eine einzelne Linie, im Punktraume ein Kegelschnitt als Fundamental- 
gebilde auftritt. Denn die metrische Geometrie ist ja nichts anderes, als 
die Untersuchung der projektivischen Eigenschaften der räumlichen Gebilde 
unter Zugrundelegung eines ein für allemal gegebenen Kegelschnittes, des 
unendlich fernen imaginären Kreises. Die Geometrie des linearen Kom- 
plexes ist durch die fragliche Abbildung also mit der metrischen Geome- 
trie in Verbindung gesetzt, jedoch so, daß im linearen Komplexe noch 
eine Linie willkürlich ausgezeichnet ist. — Der hierdurch aufgedeckte 
Zusammenhang zwischen zwei auf den ersten Blick sehr heterogenen Ge- 
bieten der Geometrie muß nach beiden Seiten hin von großer Fruchtbar- 
keit sein. Es mag hier genügen, in diesem Betracht auf den reichen 
Inhalt der vorstehenden Abhandlung zu verweisen, insbesondere auf die 





!) [Gemeint ist die im Bd.5 der Math. Ann. unmittelbar vorher abgedruckte 
große Abhandlung von Lie: „Über Komplexe, insbesondere Linien- und Kugelkom- 
plexe, mit Anwendung auf die Theorie partieller Differentialgleichungen“. Es wäre 
gewiß erwünscht, die engen Beziehungen, die zwischen den Abhandlungen VIII und IX 
und dieser Abhandlung von Lie bestehen, genauer klarzulegen, zumal auch letztere 
auf zahlreiche zugehörige Bemerkungen meinerseits Bezug nimmt. Aber es scheint 
unmöglich, dies in Form eines kurzen zusammenfassenden Kommentars zu tun. So 
muß es bei gelegentlichen Verweisen sein Bewenden haben. Hoffen wir, daß die 
Fülle der geometrischen Ideen, welche in den jetzt schwer zugänglichen Lieschen 
Abhandlungen in ihrer ursprünglichen Form enthalten ist, doch noch einmal in der 
seit langem vorbereiteten, durch die Ungunst der Verhältnisse bislang zurückgestellten 
Ausgabe der Lieschen Werke zum Gesamtgut der Mathematiker wird! K.] 

?2) Auf diese Abbildung ist zuerst durch Herrn Nöther aufmerksam gemacht 
worden: Zur Theorie algebraischer Funktionen. Gött. Nachrichten. 1869. 


EEE 


VIII. Liniengeometrie und metrische Geometrie. 107 


dort gegebene Beziehung zwischen dem Probleme der Haupttangenten- 


 kurven und der Krümmungskurven. 


Anknüpfend an, diese Untersuchungen von kun Lie, über die ich 
durch wiederholte ausführliche Mitteilungen desselben unterrichtet war, 
fand ich, daß in ganz gleicher Weise, wie die Geometrie des linearen 
Komplexes mit der metrischen Geometrie des gewöhnlichen Raumes 
zusammenhängt, ein Zusammenhang besteht zwischen dem Gesamtinhalte 
der Liniengeometrie und der metrischen Geometrie des Raumes von 
vier Dimensionen?). In diesem Betracht stellte ich insbesondere ein 
liniengeometrisches Theorem auf*), welches dem Dupinschen Theorem der 
gewöhnlichen metrischen Geometrie nachgebildet war. Hieran habe ich 
weitere Überlegungen geknüpft, die darauf abzielen: einmal den gesamten 
Inhalt der metrischen Geometrie auf Liniengeometrie zu übertragen; 
andererseits die algebraischen Methoden, deren man sich in der Linien- 
geometrie mit Erfolg bedient, zur Behandlung metrischer Probleme zu 
verwerten. Diese Betrachtungen — die übrigens mit den von Herrn 
Lie vorgetragenen in engster Beziehung stehen und aus ihnen erwachsen 
sind — sollen im folgenden, wenn auch nur in allgemeinen Zügen, dar- 
gelegt werden. Hoffentlich genügt die hier gegebene Auseinandersetzung, 
um deutlich zu zeigen: daß auf dem hier eingeschlagenen Wege eine 
Weiterentwickelung der beiden in Betracht kommenden Disziplinen: der 
Liniengeometrie und der metrischen Geometrie gegeben ist. 

In der Liniengeometrie pflegt man, wie bekannt, die Gerade durch 
sechs homogene Koordinaten p,, zu definieren, welche an eine Bedingungs- 
gleichung zweiten Grades: 


P = PaP34 + PısPıa + Pıs Pas — 0 
geknüpft sind. Betrachtet man einen Augenblick die p,, als unabhängige 
Veränderliche, so konstituieren sie eine Mannigfaltigkeit, oder, wie man 
häufig sagt, einen Raum von fünf Dimensionen. Derselbe soll mit R, be- 
zeichnet werden (überhaupt ein Raum von n Dimensionen mit R,). Aus 
diesem Raume wird die von den Geraden gebildete Mannigfaltigkeit von 
vier Dimensionen durch die vorstehende quadratische Gleichung aus- 
geschieden, in ähnlicher Weise, wie aus der Gesamtheit der Punkte des 
gewöhnlichen Raumes (R,) durch eine quadratische Gleichung eine Fläche 





3) Unter der metrischen Geometrie eines solchen Raumes ist wiederum die 
Untersuchung der projektivischen Eigenschaften seiner Gebilde unter Zugrunde- 
legung eines ausgezeichneten Gebildes zu verstehen, welches dem Kegelschnitte der 
gewöhnlichen Geometrie entspricht. Bestimmt man, wie gewöhnlich bei metrischen 
Untersuchungen, das Raumelement (den Punkt) durch rechtwinklige Koordinaten, 
hier also durch vier Koordinaten x, y, z, t, so besteht das fragliche Gebilde aus den- 
jenigen unendlich fernen Elementen, für die 2?+y?+z2°?+1°:=0. 

*) Göttinger Nachrichten. 1871. Nr. 3. [Vgl. Abh. VII dieser Ausgabe.) 


108 Zur Liniengeometrie. 


zweiten Grades ausgeschieden wird. Man wird so dazu geführt, die Linien- 
geometrie in. ähnlicher Weise analytisch zu behandeln, wie die Geometrie 
auf einer Fläche zweiten Grades. Die hiermit angedeutete Auffassung 
soll in $1 noch näher erörtert und begründet werden; sie liegt übrigens 
meinen sämtlichen bisherigen Arbeiten über Liniengeometrie zugrunde. 


Es mag hier gleich eine Bezeichnung eingeführt werden, die im 
folgenden nötig wird. Den Raum von n Dimensionen bezeichneten wir 
bereits als R,. Ein Gebilde nun, welches aus ihm durch « Gleichungen 
ausgeschieden wird, welches also noch immer eine Mannigfaltigkeit von 
n — u Dimensionen vorstellt, soll als M„-. bezeichnet sein. Dabei 
mögen rechts oben zugesetzte Indizes den Grad der u Gleichungen an- 
geben, durch welche die M„_,„ bestimmt wird. — Die Gesamtheit der 
geraden Linien bildet bei dieser Bezeichnung eine M/”, die im Raume AR, 
gelegen ist. In ähnlicher Weise bilden die Linien eines linearen Komplexes 


eine M.” des R,, die Linien einer linearen Kongruenz eine M 9 des R,, 
endlich die Linien einer Regelschar eine M}” des R,. [Während diese Ge- 
bilde, im R, betrachtet, die Bezeichnungen M3"", Mr MEN er 
halten mußten.] Diese Bezeichnungsweise ist etwas abstrakt; sie ist aber 
im folgenden nicht gut zu umgehen. 


Der Zusammenhang zwischen Liniengeometrie und metrischer Geometrie 
bei vier Variabeln kommt nun auf eine eindeutige Abbildung der in R, ge- 
legenen M/” auf den R, hinaus. — Es ist bekannt, wie man eine im 
R, gelegene M}”, also etwa eine im gewöhnlichen Raume gelegene Fläche 
zweiten Grades, eindeutig auf den R,, etwa die Ebene, abbilden kann. 
Dies geschieht, geometrisch ausgedrückt, durch das Verfahren der stereo- 
graphischen Projektion. Dabei treten in der Ebene zwei Fundamental- 
punkte auf, die Bilder der durch den Projektionspunkt gehenden beiden 
Erzeugenden. Auf der Fläche zweiten Grades findet sich ein Fundamental- 
punkt, der Projektionspunkt. Nun benutzt aber die metrische Geometrie 
in der Ebene als Fundamentalgebilde ein Punktepaar, die beiden unend- 
lich fernen imaginären Kreispunkte.e Man wird deshalb sagen können; 
die Geometrie auf einer Fläche zweiten Grades und die metrische Geometrie 
in der Ebene entsprechen einander, sowie man auf der Fläche einen (will- 
kürliehen) Punkt auszeichnet. — Bei der in Rede stehenden Abbildung 


einer My, des R, auf den R„-ı findet nun etwas ganz Ähnliches statt. 


Ein Element der. M}), (welches dem Projektionspunkte entspricht) wird 


ausgezeichnet. Dafür tritt im R„-ı ein Fundamentalgebilde auf, wie es 


. : r Pr . 7. . 1,2 
auch die metrische Geometrie des R,_ı benutzt, nämlich eine Myr3. 


Allgemein kann man also sagen: 


VIII. Liniengeometrie und metrische Geometrie. 109 


Die metrische Geometrie des R„-ı kann als stereographische Projek- 
tion der Geometrie auf einer im R, gelegenen My, aufgefaßt werden?). 

Mit diesem Satze, der in $ 2 vollständig begründet werden soll, ist 
der Zusammenhang der Liniengeometrie mit der metrischen Geometrie des 
R, vollständig gegeben. Ebenso natürlich der Zusammenhang zwischen 
der Geometrie des linearen Komplexes und der metrischen Geometrie des 
R,. Man könnte endlich in dem nämlichen Sinne die Geometrie der 
linearen Kongruenz mit der metrischen Geometrie des R,, die Geometrie 
der Regelschar mit der metrischen Geometrie des R, in Verbindung setzen. 
Andererseits begründet der Satz diejenige Behandlung der metrischen 
Geometrie des R„-ı, welche vorher bereits angedeutet wurde. Dieselbe 
soll ebenfalls in $2 etwas weiter ausgeführt werden. Man wird bei ihr 
in erster Linie dazu geführt, zwischen solchen metrischen Eigenschaften 


des R,_, zu unterscheiden, welche, auf die M%, des R, übertragen, eine 
besondere Beziehung zu dem bei der Abbildung benutzten Projektions- 
punkte implizieren, und solche, welche dies nicht tun. Letztere ergeben, 
wenn n— 5, allgemeine liniengeometrische Sätze; erstere solche, bei denen 
eine willkürliche Gerade fundamental auftritt. 

Um wenigstens an einem Beispiele die Fruchtbarkeit dieser Über- 
tragungen zu zeigen, suche ich in $ 3 das liniengeometrische Analogon 
der Orthogonalsysteme der metrischen Geometrie. Es sind dies Systeme 
von Linienkomplexen, welche ich als Involutionssysteme bezeichne. Ein 
Involutionssystem ist ein einfach unendliches System von Komplexen, 
welche von einem Parameter im vierten Grade abhängen, so daß durch 
jede Gerade des Raumes vier Komplexe des Systems hindurchgehen. 
Diese vier Komplexe — und das konstituiert eben den Charakter der in 
Rede stehenden Systeme — liegen paarweise mit Bezug auf die gemein- 
same Gerade in Involution®). Die involutorische Lage zweier Komplexe 
entspricht dabei auf seiten der Liniengeometrie der Orthogonalität zweier 





5) Die metrische Geometrie der Ebene als stereographische Projektion der 
Geometrie auf einer Fläche zweiten Grades (insbesondere einer Kugel) anzusehen, 
ist ein Mittel, welches namentlich von Chasles gebraucht worden ist. Die im 
Texte angedeutete allgemeine Auffassung wird gelegentlich von Herrn Darboux 
in der Theorie der Orthogonalflächensysteme benutzt (Comptes Rendus t. 69. 1869, 2. 
Sur unenouvelle serie de syst&mesorthogonaux algebriques). Wie mir Herr Darboux auf 
eine Anfrage meinerseits mitteilte, ist sie ein allgemeines Prinzip gewesen, welches ihn 
bei der Aufstellung seiner Theoreme über metrische Geometrie geleitet hat. 

6) Als involutorische Lage zweier Komplexe mit Bezug auf eine gemeinsame 
Gerade bezeichne ich die folgende Beziehung. In jeder durch die Gerade hindurch- 
gelegten Ebene befindet sich, jedem Komplexe entsprechend, eine Komplex-Kurve 
welche die gegebene Gerade berührt. Die beiden Berührungspunkte mögen als 
einander zugeordnet angesehen werden. Dreht sich nun die Ebene, so beschreiben 
die beiden Punkte kollineare Punktreihen. Die Komplexe heißen nun involutorisch 
gelegen, wenn die Beziehung der beiden Punktreihen die involutorische ist. 


110 Zur Liniengeometrie. 


Flächen ın der metrischen Geometrie. — Für Involutionssysteme von 
Komplexen gilt dann ein Theorem, welches dem Dupinschen Theoreme 
der gewöhnlichen metrischen Geometrie analog ist. Dasselbe ist, wie ich 
in $ 4 des weiteren auseinandersetze, insofern höchst fruchtbar, als es, 
sowie ein Involutionssystem gegeben ist, auf einer großen Zahl von Flächen 
dıe Haupttangenten-Kurven kennen lehrt. Insbesondere ist hier ein- 
geschlossen die Bestimmung der Haupttangenten-Kurve der Kummerschen 
Fläche vierter Ordnung mit sechzehn Knotenpunkten, wie sie sich aus 
den Untersuchungen von Herrn Lie und mir ergeben hat’). 

Ich will noch ausdrücklich auf einen Unterschied aufmerksam machen, 
der zwischen den hier vorgetragenen Dingen und einigen Kapiteln der 
voraufgehenden Lieschen Arbeit besteht und dabei zugleich auseinander- 
setzen, wie, anknüpfend an diesen Unterschied, Herr Lie eine neue in der 
metrischen Geometrie anzuwendende Transformation entwickelt hat®). Ver- 
möge der erwähnten Abbildung des linearen Komplexes in den gewöhn- 
lichen Punktraum setzt Herr Lie die Liniengeometrie in Verbindung mit 
der Geometrie, deren Element die Kugel des gewöhnlichen Raumes ist. 
Hier dagegen wird die Liniengeometrie auf die Punktgeometrie des Raumes 
von vier Dimensionen bezogen. Während die letztere Beziehung einein- 
deutig ist, ist es die erstere hicht, jeder Linie entspricht allerdings nur 
eine Kugel, dagegen jeder Kugel ein Linienpaar. Da beide Abbildungen 
der Liniengeometrie metrisch interessante Dinge ergeben, so wird man, 
zur Behandlung metrischer Probleme, indem man die Betrachtung der 
Liniengeometrie als unwesentlich beiseite läßt, die folgende Methode 
aufstellen können: Man bezieht den Punkt des Raumes von n Dimen- 
sionen auf die Kugel des Raumes von n — 1: Dimensionen, in der Art, 
daß jedem Punkte eine Kugel, jeder Kugel dagegen ein Punktepaar ent- 
spricht. Dies geschieht einfach, indem man die n Koordinaten des Punktes 
im R, bez. die an — 1 Mittelpunktskoordinaten und den Radius einer Kugel 
im R„-ı bedeuten läßt. Dies ist die von Lie aufgestellte Methode, welche 
die metrische Geometrie des R, und des R._, in Verbindung setzt. Nicht 
zu verwechseln mit ihr ist ein von Heriu Darboux aufgestellter Prozeß), 
der ebenfalls die metrische Geometrie des R, mit der des R„_, verknüpft. 
Derselbe kommt im wesentlichen darauf zurück: die metrische Geometrie 
des R, durch sphärische Abbildung auf eine Kugel des R, und dann von 
dieser durch stereographische Projektion auf den R„-ı zu übertragen. 





?) Vgl. eine gemeinsame Mitteilung in den Monatsberichten der Berliner Akademie. 
Dezember 1870 [siehe Abh. VI dieser Ausgabe]; sowie die in der vorstehenden Ab- 
handlung [von S. Lie] enthaltenen bez. Auseinandersetzungen. 

®) Göttinger Nachrichten. 1871. Nr. 7. 

9) Vgl. die bereits zitierte Note: Sur une nouvelle serie de syst&mes orthogonaux 
algebriques. Comptes Rendus. 69. 1369. 


VIII. Liniengeometrie und metrische Geometrie. 111 


$1. 
Die Liniengeometrie ist wie die Geometrie auf einer Mf? des R;. 


Diese Aussage findet in dem folgenden Verhalten der Linienkoordi- 
naten 9,, ihre eigentliche Begründung. Für die Koordinaten p,, hat man: 


P=P9aPs + PısPıa + Pu Pas = I. 


: 2 ° ’ . ° 
Damit sich nun zwei Gerade, p und p, schneiden, muß sein: 


| 93 In -Pir— 0. 

Infolgedessen kann man den folgenden Satz aufstellen, den ich bereits ge- 
legentlich mitteilte !°): 

Setzt man statt der Linienkoordinaten P;x beliebige lineare Funk- 
tionen derselben, die nur der einen Bedingung genügen sollen, die 
Mannigfaltigkeit M{”: 

F=29 
in sich überzuführen, so hat man eine kollineare oder eine dualistische 
(reziproke) Umformung des Linienraumes. Andererseits erhält man auf 
diesem Weg alle solchen kollinearen und reziproken Umformungen. 

Was den ersten Teil dieses Satzes betrifft, so werden offenbar durch 
die in Rede stehenden Transformationen alle Geraden wieder in Gerade, 
sich schneidende Gerade in sich schneidende Geraden übergeführt. Der 
Gesamtheit der zweifach unendlich vielen Geraden, die durch einen Punkt 
gehen (sich also schneiden), entsprechen wiederum zweifach unendlich 
viele Gerade, die sich schneiden. Dabei bleibt die doppelte Möglichkeit: 
daß dieselben entweder wieder durch einen Punkt gehen oder daß sie die 
Gesamtheit der in einer Ebene verlaufenden Geraden vorstellen'!')., Im 
ersten Falle hat man eine räumliche Transformation vor sich, welche 
jede Gerade in eine Gerade, jeden Punkt in einen Punkt überführt, und 
das ist ersichtlich eine kollineare Umformung. Im zweiten Fall dagegen 
hat man eine räumliche Transformation, welche jede Gerade in eine Ge- 
rade, jeden Punkt in eine Ebene überführt. Es ist also eine dualistische 
Umformung. 

Aber auch umgekehrt wird jede kollineare und jede dualistische Um- 
formung sich in Linienkoordinaten in der vorgenannten Weise darstellen. 





10) Math. Ann., Bd. 2 (1870) (Geometrisches über Resolventen...) [Siehe Bd. 2 
dieser Ausgabe. Dieser Satz ist bereits in meiner Dissertation ( Abh. I dieser Ausgabe) 
auf dem Wege der Rechnung bewiesen worden. (Nr.6—8.) K.] 

“%) In äbnlicher Weise spalten sich überhaupt die linearen Transformationen, 
welche eine M®, im R,„ in sich überführen, falls n eine ungerade Zahl ist, in zwei 
Scharen. Vgl. die Arbeit: „Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie“, $ 16. 
(Math. Annalen, Bd. 4 (1872).) [Siehe Abh. XVI dieser Ausgabe. ] 


.112 Zur Liniengeometrie. 


Denn bei einer solchen Umformung werden die Punktkoordinaten durch 
lineare Funktionen der neuen Punkt- oder Ebenenkoordinaten ersetzt. 
Infolgedessen treten an Stelle der früheren Linienkoordinaten 9,,, die 
gleichmäßig als zweigliedrige Determinanten aus Punktkoordinaten oder 
aus Ebenenkoordinaten dargestellt werden können, lineare Funktionen 


derselben. Diese linearen Funktionen haben auch die Eigenschaft, die M” 
29 


in sich selbst überzuführen, da ja bei ihnen gerade Linien gerade Linien 
bleiben und sich also die durch die vorstehende Gleichung dargestellte 
Linienmannigfaltigkeit nicht ändert. 

Hiermit ist der vorstehende Satz vollständig bewiesen. Dieser Satz 
gibt nun zu der folgenden Behandlung liniengeometrischer Probleme Veran- 
lassung. Die neuere Geometrie untersucht alle räumlichen Gebilde, 
insonderheit also die Liniengebilde, nur insofern sie durch kollineare oder 
dualistische Transformationen üngeändert bleiben, oder, wenn man will, 
sie führt alle anderen Eigenschaften auf Eigenschaften dieser Art zurück. 
Ganz denselben Umfang von Transformationen ziehen wir aber in Betracht, 


wenn wir den Linienraum als eine M,” im R, betrachten und die pro- 


jektivischen Eigenschaften des R, untersuchen, welche sich auf die M Na 
beziehen. Die gesamte Liniengeometie wird dadurch auf folgendes Problem 
zurückgeführt: | 

Man untersuche im projektivischen Sinne die im R, gelegene M’”. 
Sodann übertrage man die Resultate in die Sprache der Liniengeometrie. 

Wie sich dies bei näherer Ausführung stellt, habe ich in aller Kürze 
in dem Aufsatze: „Die allgemeine lineare Transformation der Linien- 
koordinaten“ (Math. Annalen, Bd. 2 [siehe Abh. III dieser Ausgabe]) aus- 
einandergesetzt. Eine lineareGleichung (oder sagen wir: die Ebene des A, ) stellt 
einen linearen Komplex dar, der ein spezieller wird, wenn die Ebene die M!” 
berührt. Sind zwei Ebenen in bezug auf die My konjugiert, so heißen die Kom- 
plexe in Involution. Berührt der Durchschnitt der beiden Ebenen die M}”, so 
berühren sich die beiden Komplexe (die ihnen gemeinsame Kongruenz 
hat danri zwei zusammenfallende Direktrizen). 

Es soll hier nicht weiter in diese Dinge eingegangen werden'?); doch 
mag noch folgende Bemerkung hier ihre Stelle finden. Liniengeometrie 
ist schließlich nichts, als überhaupt projektivische Raumgeometrie. Der 
vorstehende Satz begründet also eine eigentümliche Behandlung der Geo- 
metrie des R,, bei der die linearen und dualistischen Transformationen 





'*) |Diese Untersuchungsmethode ist später von C. Segre systematisch aus- 
gebaut worden. (Mem. della R. Acc. di Torino, Ser. II, T. 36, (1885).] 


VIII. Liniengeometrie und metrische Geometrie. 113 


des R, durch die linearen Transformationen eines höheren Raumes ersetzt 
werden, welche ein in diesem Raume gelegenes Gebilde ungeändert lassen. Man 
kann die Frage aufstellen, ob eine analoge Behandlung bei anderen Räumen, 
als dem R,, möglich ist. Dies ist allerdings, aber nur bei besonderen 
Räumen, der Fall. So kann man den R, behandeln als Kegelschnitt im R, 
oder als Raumkurve dritter Ordnung im R, usw. Denn die gerade Linie R, 
läßt sich derart auf einen Kegelschnitt, bez. eine Raumkurve dritter Ordnung 
beziehen, daß ihren dreifach unendlich vielen linearen Transformationen die 
gleich zahlreichen linearen Transformationen entsprechen, welche einen 
Kegelschnitt in der Ebene, eine Raumkurve der dritten Ordnung im Raume 
in sich überführen. Hierauf beruht das von Hesse vorgeschlagene Über- 
tragungsprinzip (Borchardts Journal, Bd. 66, 1866). Hesse bespricht insbe- 
sondere die Beziehung zwischen der geraden Linie und dem Kegelschnitte 
der Ebene und zeigt, wie bei der Übertragung die projektivische Geometrie 
der Ebene eine Geometrie der Punktepaare auf der Geraden ergibt'!?). 


8 2. 


Zusammenhang der metrischen Geometrie bei (n — 1) Variabeln und 


der Geometrie auf einer M®, eines R,. 


Sei eine M,”, eines R, gegeben. Durch passende Wahl der homogenen 
Veränderlichen &, ... %„+1 wird man deren Gleiehung im Allgemeinen auf 
die Form bringen können: 


2 Er 2 2 2 
= +9 +:..:-+m-ıt nt nr: 


Setzen wir jetzt: Pp=%,-+ iları 
g=r,— Ilnıız 
so kommt: = t+m+... +-1+20. 


Von dieser Gleichungsform ausgehend, kann man die M ®_ ohne weiteres 
auf den R„-ı abbilden. Zu diesem Behufe hat man nur zu setzen, unter 
o einen Proportionalitätsfaktor verstanden: 


0%,  —YıYn 
0%, 0 YoYı 


OXn-ı = Yn-1% 
eP = YuYn \ i i 
oq = — (yı+Yw+:.. + %-ı)- 


13) Hiermit wieder kann man in Zusammenhang bringen, wenn man, wie die 
Herren Clebsch und Gordan, behufs der typischen Darstellung gerader binärer 
Formen getan haben, die Punkte der Geraden durch drei homogene Koordinaten be- 
stimmt, zwischen denen eine Bedingungsgleichung zweiten Grades statthat; vgl. 
Clebsch: Theorie der binären Formen (Leipzig 1871). Neunter Abschnitt. 


Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I, 8 





114 | Zur Liniengeometri 


Für n—3 sind dies die bekannten Formeln, welche die stereographische 
Projektion einer Fläche zweiten Grades auf die Ebene vorstellen: 
Als Fundamentalgebilde treten bei dieser Abbildung auf: 
1. Im R,-ı die M"?, welche durch die beiden Gleichungen vor- 
gestellt wird: | = 
ee 1 | 
o=y+yp+:.. +Y-ı- | 
Jedem Elemente derselben entspricht nicht ein Element der gegebenen 
M{?,, sondern einfach unendlich viele. 


2. Auf der M/”, ein einzelnes Element (der Projektionspunkt): 
z,=0, u, =0,...,m1ı=0, 2%. 
Ihm entspricht die lineare Mannigfaltigkeit von (n — 1) Dimensionen: 
Y =0. 


Nun wurde bereits bemerkt, daß die metrische Geometrie des R,_ı 


eben eine M{"?) als fundamentales Gebilde benutzt. Durch unsere Ab- 


bildung wird also, wie behauptet wurde, die metrische Geometrie des 


R„-ı mit der Geometrie der M @, des BR unter Zugrundelegung eines 
ausgezeichneten Elementes, in Beziehung gesetzt. | 

Die Art dieser Beziehung wird durch den folgenden Satz dargelegt, 
der die Beziehung als eine wesentliche kennzeichnet: 


Den linearen Transformationen des R„-ı, welche dessen fundamen- 
tale MY} ungeändert lassen, entsprechen diejenigen linearen Transfor- 
mationen des R,, welche die gegebene M„-ı und den auf ihr befindlichen 


(willkürlich gewählten) Projektionspunkt nicht ändern. 


In der Tat, setzen wir statt y,.... y, lineare Funktionen derselben, 
welche die fundamentale MM». 
= Y,„ 


o=y+typ+... +y-ı 
nicht ändern, so ergeben die Formeln ohne weiteres die Richtigkeit des 
Satzes. 

Die ersteren Transformationen sind aber diejenigen, welche man in 
der metrischen Geometrie des R„_ı betrachtet; d.h. es sind diejenigen 
Umformungen, welche metrische Eigenschaften des R„_, nicht ändern. 
Beispielsweise, ist n—=4, so ist der R„_ı der gewöhnliche Punktraum. 
Die fundamentale M("3 ist der unendlich ferne imaginäre Kreis. Die 
linearen Transformationen des Punktraumes, welche letzteren nicht ändern, 
sind diejenigen, die man als Bewegungen, als Ähnlichkeitstransformationen 


VIII. Liniengeometrie und metrische Geometrie. 115 


und als Transformationen durch Spiegelung bezeichnet. Bei diesen Trans- 
formationen bleiben aber alle metrischen Beziehungen räumlicher Figuren 
ungeändert. — Andererseits würde man den entsprechenden Zyklus linearer 
Transformationen der x in Betracht zu ziehen haben, wenn man nach 
denjenigen Eigenschaften von Gebilden des R, fragt, welche sich auf die 


gegebene M/?, und den auf ihr befindlichen Projektionspunkt beziehen. 
Man wird jetzt die Frage aufstellen können: Welche Transformationen 
des R„_-ı entsprechen denn denjenigen linearen Transformationen des R,, 


welche nur die gegebene My,.,, nicht aber auch den Projektionspunkt 
selbst ungeändert lassen? Ehe wir diese Frage beantworten, wollen wir 
die benutzten Abbildungsformeln so umändern, daß auch formell der Zu- 
sammenhang mit der gewöhnlichen Darstellung der metrischen Geometrie 
des R, (wobei rechtwinklige Koordinaten gebraucht werden) hervortritt. 
Es genügt, zu diesem Zwecke y, = 1 zu setzen und die dann absolut be- 
stimmten %, ... %n-ı als rechtwinklige Koordinaten des R„_, aufzufassen. 
y„= 0 ist dann der Ort der unendlich fernen Elemente des R„-ı (die 
unendlich ferne Ebene). In y„=0 befindet sich die fundamentale 
M|?}, die aus ihm durch die Gleichung: 


ee ee ee ee A 


ausgeschieden wird. — Es sei nun gestattet, die M ®,, welche durch 
folgende Gleichung dargestellt wird: 


(Yı - 4)" +(%— er ... + (yn-ı — au): _. 


nach Analogie mit der gewöhnlichen Raumgeometrie als eine Kugel des 
R„-ı zu bezeichnen. &,,@,,...,&-ı sind die Koordinaten ihres Mittel- 
punktes, r ist der Radius. Eine derartige Kugel ist das Bild eines ebenen 


Schnittes der im R, gegebenen und auf den R,„_ı projizierten M}”,. 
Denn die Gleichung der Kugel ist die allgemeine lineare Gleichung zwischen 


den die gegebene My, darstellenden Abbildungsfunktionen. Unter den 
Kugeln finden sich insbesondere solche mit unendlich großem Radius, d.h. 


Ebenen; sie sind das Bild solcher ebenen Schnitte der gegebenen Me. 
welche durch den Projektionspunkt hindurchgehen !t). 


Betrachten wir jetzt, wie sich die Abbildung der gegebenen M”, 


ändert, wenn wir die M”, durch lineare Transformationen des R, In sich 
selbst überführen. Wir untersuchten bereits diejenigen unter diesen Trans- 
formationen, welche den Projektionspunkt nicht ändern. Ihnen entsprechen 


14) Man versinnliche sich dies an der gewöhnlichen stereographischen Projek- 
tion einer F,. Jeder ebene Schnitt bildet sich als Kreis ab; insbesondere als Gerade, 
wenn er den Projektionspunkt enthält. 


8*+ 


116 Zur Liniengeometrie. 


die Bewegungen und die Ähnlichkeitstransformationen des R„_,. Alle 
anderen Transformationen setzen sich aber augenscheinlich aus Transfor- 
mationen dieser besonderen Art und solchen Transformationen zusammen, 
welche einer Verlegung des Projektionspunktes auf der gegebenen My), 
entsprechen. Vertauschen wir aber den bisher benutzten Projektionspunkt: 


.,=0, 8=0,..,%m-1=0, p=0 
mit einem anderen, für den wir, unbeschadet der Allgemeinheit, den Punkt: 
.,=0, %=0,...,%m-1=0, q=0 


nehmen wollen, so kommt dies darauf hinaus, im R„-ı die Größen 


Yı> Yar - >» Yn-1 
mit den folgenden | 


zu vertauschen, wo 0? den Ausdruck bezeichnet: 


e=-yityt... +9: 

Eine derartige Transformation soll, nach Analogie mit der entsprechenden 
Transformation bei zwei und drei Variabeln, eine Transformation durch 
reziproke Radii vectores heißen. Wir können jetzt den Satz aussprechen: 

Der Gesamtheit der linearen Transformationen des R,, welche die 
gegebene M/”, in sich überführen, entspricht im R„-ı ein Transforma- 
tionszyklus, der sich aus dessen Bewegungen, den Ähnlichkeitstrans- 
formationen und den Transformationen durch reziproke Radien zu- 
sammensetzt. Ä 

Hier nun knüpft diejenige Behandlung der metrischen Geometrie des 
R„-ı an, von der in der Einleitung die Rede war. Zunächst wird man 
den Gesamtinhalt der metrischen Geometrie in zwei Teile sondern. Man 
wird solche Beziehungen unterscheiden, welche, auf die M{, übertragen, 
den gewählten Projektionspunkt implizieren, und solche, bei denen dieses 
nicht der Fall ist Die letzteren sind, wie man jetzt sieht, alle diejenigen, 
welche bei Umformung durch reziproke Radien ungeändert bleiben. Zu 
ihrer Behandlung muß es vorteilhaft sein, den R„_ı auch algebraisch als 
eine M®, des R, zu behandeln. Das heißt: man wird bei ihrer Behand- 
lung das Element des R,„_ı nicht durch n — 1 ahsolute, sondern durch 
n.+- 1 homogene Koordinaten bestimmen, zwischen denen eine Bedingungs- 
gleichung zweiten Grades besteht. (Da dieselben, gleich Null gesetzt, ebene 
Schnitte der M}”, vorstellen, so repräsentieren sie im R„-ı Kugeln.) 

Man bestimme also z. B. den Punkt des gewöhnlichen Raumes nicht 
durch drei absolute Koordinaten, sondern durch fünf homogene: 


3 9: I ur 


VIII. Liniengeometrie und metrische Geometrie. 117 


die, gleich Null gesetzt, Kugeln vorstellen. Geometrisch kommt dies 
darauf hinaus, den Punkt durch die relativen Werte der mit gewissen 
Konstanten multiplizierten Potenzen desselben in bezug auf fünf gegebene 
Kugeln festzulegen. Zwischen den fünf s besteht eine Bedingungsgleichung 
zweiten Grades: 
22-0. 

In der Diskussion dieser Gleichung ist in demselben Sinne der gesamte 
Teil der metrischen Raumgeometrie vorhanden, der durch reziproke Radıen 
ungeändert bleibt,‘ wie sich die gesamte Liniengeometrie an die Diskussion 
der entsprechenden Gleichung P=0 anknüpft. Daß diese Behandlung 
metrischer Probleme von großem Vorteile sein kann, mag hier nur an 
einem Beispiele erörtert werden. Auf dieses Beispiel ist Herr Lie bei 
dem Studium seiner Abbildung des linearen Komplexes geführt worden, 
indem er liniengeometrische Betrachtungen, die ich in einer früheren Ab- 
handlung!?) gegeben hatte, auf die entsprechenden metrischen Dinge über- 
trug. Andererseits ist dieses Beispiel eben für mich Veranlassung gewesen, 
die allgemeineren hier vorgetragenen Überlegungen anzustellen. Man be- 
stimme nämlich den Punkt des Raumes durch fünf Koordinaten s, ... 8,; 
welche, gleich Null gesetzt, Kugeln vorstellen, die sich orthogonal schneiden. 
Dann hat Q die Gestalt: 


2 2 2 8 2 ER 
Ts ra. re, 75 ; 


Schreibt man nun die Gleichung: 
5 2% ne ER 2 RE 0 
a Tee a 


wo 4 ein Parameter, so hat man ohne weiteres das Orthogonalflächen- 
system vor sich, welches von den Herren Darboux und Moutard ge- 
funden wurde, und das aus Flächen vierter Ordnung gebildet ist, die den 
imaginären Kreis doppelt enthalten!®). — Diese Form entspricht, bis auf 
die Zahl der Variabeln, genau der Gestalt, die ich 1. c. der Gleichung der 
Komplexe zweiten Grades mit gemeinsamer Singularitätenfläche gegeben 
habe; es findet also auch dieselbe Art der Diskussion auf sie Anwendung, wie 
dies Herr Lie in der vorstehenden Abhandlung [Matlı. Ann., Bd. 5] ausführt. 








15), Math. Annalen, Bd. 2 (1870). Zur Theorie der Komplexe ersten und zweiten 
Grades. [Siehe .Abh. II dieser Ausgabe.] 

16) Vgl. Lie. Göttinger Nachrichten. 1871.Nr.7, oder die vorstehende Abhandlung von 
S. Lie (Math. Ann., Bd. 5). — Auf dieselbe Gleichungsform war Herr Darboux bereits 
früher geführt worden. Er hat dieselbe in einer Abhandlung entwickelt, welche er 1868 
der Akademie zu Paris eingereicht hat, die aber noch nicht veröffentlicht ist. Vgl. eine 
neuere Note in den Comptes Rendus, Sept. 1871, wo Herr Darboux einige in seiner 
gen. Abhandlung enthaltene Resultate anführt. [Die hier erwähnte Abhandlung von 
Darboux ist seitdem in erweiterter Form als Buch erschienen: Sur une classe 
remarquable des courbes et des surfaces. Paris, 1873.) 


118 Zur Liniengeometrie. 


Aber auch für die Geometrie der My, des R, ist die Verbindung, 
in welche sie hier mit der metrischen Geometrie gebracht wird, nicht 
ohne Wichtigkeit. Ich will hier unter vielen ähnlichen Betrachtungen 
nur eine hervorheben, die im folgenden für Liniengeometrie verwandt 
werden soll. Die o0*-? verschiedenen Fortschreitungsrichtungen, welche 
von einem Elemente des metrischen Raumes R,„_ı zu benachbarten Ele- 
menten führen, bilden miteinander Winkel, z. B. können zwei solche Fort- 
schreitungsrichtungen aufeinander senkrecht stehen. Diese Winkel bleiben, 
wie bekannt, bei Umformungen durch reziproke Radien ungeändert. Man 


wird daher, wenn im R, eine M}, gegeben ist, auch von Winkeln reden 
können, welche die Fortschreitungsrichtungen von eineın Elemente der My”, 
zu benachbarten Elementen der M,%, bilden. Bei der Bestimmung dieser 


Winkel kommen nur die projektivischen Eigenschaften der My, selbst, 


nicht etwa außerhalb im R, gelegene fundamentale Gebilde in Betracht. 
Man übersieht dies deutlich, wenn man n = 3 nimmt, die M%”, also eine 
Fläche zweiten Grades bedeuten läßt. Durch jeden Punkt der Fläche 
gehen zwei Erzeugende hindurch; auf sie beziehen sich, als fundamentales 
Geradenpaar!”), die zwischen den Fortschreitungsrichtungen zu benach- 
barten Punkten bestehenden Winkel. Insbesondere wird man zwei Fort- 
schreitungsrichtungen zueinander senkrecht nennen, wenn sie harmonisch 
zu den beiden Erzeugenden liegen. Der analytische Ausdruck hierfür ist 
offenbar dieser. Sei Q= 0 die Fläche zweiten Grades. So bilden wir 
den Ausdruck: | 


0° oR 


082 
Ne ht 


02 

Ytz. yrtza, N 

Setzen wir: in ihn für z,, 2,, 2%, 2. bez. dz,,.da.. dz,, dz,,. für 
Yı> Yar Ya, Y, bez. d’x,, d’x,, d’x,, d'z.; so bedeutet das Verschwinden 
des Ausdrucks, daß die beiden Fortschreitungsrichtungen in dem genannten 
Sinne aufeinander senkrecht stehen'®). Die entsprechende Formel wird 
auch bei n Dimensionen gültig bleiben und soll im folgenden Paragraphen 
für Liniengeometrie verwandt werden. 


17) Vgl. „Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie“. Math. Annalen, 
Bd. 4 (1871) [siehe Abh. XVI dieser Ausgabe] $ 2, 3. 

18) Allgemein wird der fragliche Winkel durch den folgenden Ausdruck ge- 
geben sein. Sei Q,, der im Texte aufgestellte Aufdruck; Q,,. und Q,, bedeute die 
Gleichung 2 bez. mit den x oder den y geschrieben. So ist der gesuchte Winkel 


rs 
V Rrx VR,, 
wo statt x und y bez. dx und d’x einzutragen ist. 


Hier ist ersichtlich, wie diese Winkelbestimmung mit der allgemeinen von 
Cayley aufgestellten projektivischen Maßbestimmung zusammenhängt, die eine F, als 





= arc COS 





VIII. Liniengeometrie und metrische Geometrie. 119 


8 9. 


Übertragung der Lehre von den Krümmungskurven und den 
Orthogonalsystemen auf Liniengeometrie. 


Die Lehre von den Krümmungskurven und den Orthogonalsystemen 
konstituiert einen Teil der metrischen Geometrie, welcher durch reziproke 
Radien ungeändert bleibt. Es soll jetzt — als ein Beispiel für solche 
Übertragungen — das Entsprechende bei der Liniengeometrie aufgesucht 
werden. Zu diesem Zwecke mag die gewöhnliche Theorie zunächst so 
formuliert werden, daß ihre Unabhängigkeit von der Transformation durch 
reziproke Radien in Evidenz tritt. 


Sei im gewöhnlichen Raum R, eine Fläche gegeben. Dieselbe wird 
in jedem Punkte von einfach unendlich vielen Kugeln berührt. Unter 
denselben gibt es nun jedesmal zwei ausgezeichnete, die auch noch in 
einem benachbarten Punkte berühren, die sogenannten Hauptkugeln. An 
ihre Existenz knüpft sich unmittelbar die Definition der Krümmungs- 
kurven. Man erhält eine Krümmungskurve, wenn man vom gewählten 
Punkte zu dem benachbarten Punkte fortschreitet, in welchem eine der 
beiden Hauptkugeln berührt. Krümmungskurven sind also solche auf 
einer Fläche verlaufenden Kurven, in deren konsekutiven Punkten die 
Fläche von derselben Kugel berührt wird'®). Durch jeden Punkt gehen 
zwei Krümmungskurven; dieselben stehen aufeinander senkrecht. 


Gehen wir nun zum metrischen Raume von vier oder gleich von 
(n — 1) Dimensionen. Eine Fläche desselben, d. h. eine Mannigfaltigkeit, 
die durch eine Gleichung von ihm ausgeschieden wird, wird wieder in 
jedem Punkte von einfach unendlich vielen Kugeln berührt (unter einer 


Kugel, wie oben, eine besondere MX”, verstanden ). Unter denselben 
finden sich (n — 2) stationär berührende, d.h. solche, die noch in einem 
benachbarten Elemente berühren. Man wird jetzt von dem beliebig ge 
wählten Punkte zu einem der benachbarten Berührungspunkte fortschreiten 
können und so weiter fort. Man erhält dann, einer Krümmungskurve 





fundamentales Gebilde benutzt. (Phil. Transactions. t. 149. A sixth Memoir upon 
Quantics [(1859) Coll. Papers, Bd. II]. Vgl. auch des Verf.: „Über die sogenannte 
Nicht-Euklidische Geometrie“ 1.c.) Indes soll dieser Zusammenhang, der auch bei be- 
liebig vielen Dimensionen gilt, hier nicht weiter verfolgt werden. [Auf den Begriff des 
Winkels zweier linearer Komplexe geht ausführlicher F. Lindemann in seiner Disser- 
tation ein: Über unendlich kleine Bewegungen und über Kraftsysteme bei allgemeiner 
projektivischer Maßbestimmung. Erlangen, 1873 (Math. Ann., Bd.7).) 

1%) Die gewöhnliche Definition der Krümmungskurven, daß sich die Flächen- 
normalen in konsekutiven Punkten einer Krümmungskurve schneiden, ist eine 
Folge der hier vorgetragenen. Sie geht durch Anwendung reziproker Radien in eine 
allgemeinere über, in welcher das (zufällig gewählte) Inversionszentrum mit auftritt; 
deshalb ziehen wir die Definition, wie sie im Texte gegeben ist, vor. 


120 Zur Liniengeometrie. 


im R, entsprechend, eine einfach unendliche auf der Fläche gelegene 
Mannigfaltigkeit, welche die Eigenschaft hat, daß die gegebene Fläche in 
je zwei konsekutiven Punkten derselben von der nämlichen Kugel be- 
rührt wird. Solcher Mannigfaltigkeiten?®) gehen durch jeden Punkt der 
Fläche n — 2; ihre Fortschreitungsrichtungen stehen aufeinander senkrecht. 


Gehen wir jetzt zur Liniengeometrie über. Wir haben dann n gleich 
5 zu setzen. An Stelle der Fläche des R, tritt hier der Linienkomplex. 
Statt von Punkten der Fläche sprechen wir von Linien des Komplexes; 
statt von Kugeln des R, von linearen Komplexen (den ebenen Schnitten 
der in R, gelegenen M;’, die den Linienraum vorstellt). So erhalten 
wir das Folgende. 

Sei ein Linienkomplex gegeben. Derselbe wird in einer (beliebig 
gewählten) seiner Geraden von einfach unendlich vielen linearen Kom- 
plexen berührt, den von Plücker sogenannten linearen Tangential- 
komplexen. Unter ihnen gibt es drei ausgezeichnete, welche auch noch 
in einer benachbarten Geraden berühren. Schreitet man von der angenom- 
menen Geraden zu einer dieser benachbarten und von da weiter in gleichem 
Sinne fort, so beschreibt man eine dem Komplexe angehörige Linienfläche 
— sie soll im folgenden eine Haupifläche des Komplexes heißen — 
welche die Eigenschaft hat, daß der Komplex in je zwei konsekutiven 
Erzeugenden derselben von dem nämlichen linearen Komplexe berührt 
wird. Durch jede Gerade des Komplexes gehen drei Hauptflächen hın- 
durch; ihre Fortschreitungsrichtungen sind, in übertragenem Sinne, zu- 
einander senkrecht. 

Wir haben jetzt noch zu erörtern, welchen metrischen Sinn dieses 
Senkrecht-Stehen besitzt. Da unter Zugrundelegung gewöhnlicher Linien- 
koordinaten die für sie geltende Bedingungsgleichung die Form hat: 


PZ=9uPr tr Pi Pia t Pır Pas = 0; 


so werden nach $2 zwei Fortschreitungsrichtungen dp und d’p zueinander 
senkrecht genannt werden müssen, wenn: 


0= Ipı.d Pr, u. dpıd Pi: Fr Apd Pzs 
+d PaAPsı + 4 PısdPıa + I Pıs@Pa- 


Dann aber besteht zwischen der gegebenen Geraden p und ihren beiden 
benachbarten, p+dp und p-+-.d’p, eine Beziehung, die ich als involu- 





®) Man kann sie wieder dadurch definieren, daß sich die in ihren konse- 
kutiven Punkten errichteten Flächennormalen schneiden. — Die Krümmungstheorie 
eines Raumes von beliebig vielen Dimensionen ist in neuerer Zeit Gegenstand wieder- 
holter Darstellungen gewesen. Man geht dabei meist von der letztgenannten Defini- 
tion aus. 


VIII. Liniengeometrie und metrische Geometrie. 121 


torische Lage der beiden benachbarten Geraden bezeichne?') und die fol- 
genden geometrischen Inhalt hat. 

Eine benachbarte Gerade p + dp ordnet jedesmal die Ebenen, welche 
durch p gehen, den auf p befindlichen Punkten projektivisch zu. Jede 
durch p gehende Ebene schneidet nämlich p-+dp in einem Punkte, 
der beim Grenzübergange auf p selbst rückt. Man übersieht dies deut- 
lich, wenn man p und p-+-.dp als konsekutive Erzeugende einer Linien- 
fläche betrachtet. Jeder durch p hindurchgehenden Ebene entspricht dann 
ein auf p gelegener und durch p+dp bestimmter Punkt: der Berüh- 
rungspunkt mit der Fläche. 

Sind nun zwei benachbarte Gerade p+dp, p-+-d'p gegeben, so be- 
trachte man jedesmal diejenigen beiden Punkte als entsprechend, die einer 
durch p gelegten Ebene bezüglich durch die beiden benachbarten Geraden 
zugeordnet werden. So erhält man auf p zwei kollinear aufeinander be- 
zogene Punktreihen. 

Die beiden benachbarten Geraden heißen nun involutorisch gelegen, wenn 
die beiden Punktreihen eine Involution bilden ??). [Vgl. die ganz analoge Defini- 
tion von der involutorischen Lage zweier Komplexe in der Einleitung, S. 109.] 

Gehen wir jetzt noch einmal zu dem metrischen Raume R, zurück 
und betrachten in demselben Orthogonalsysteme. Dies sind einfach 
unendlich viele Flächen, von denen durch jeden Punkt des Raumes drei 
hindurchgehen. Dieselben schneiden einander senkrecht. Für solche Ortho- 
gonalflächensysteme gilt der Dupinsche Satz: Je zwei Flächen des Systems 
schneiden sich nach einer gemeinsamen Krümmungskurve. 

Ähnliche Flächensysteme kann man im R,„-ı betrachten; für sie gilt 
ein Satz, der dem Dupinschen entspricht. Diese Flächensysteme sind 
wieder einfach unendlich, durch jeden Punkt des R„-ı gehen n — 1 Flächen. 
Dieselben schneiden sich gegenseitig senkrecht. Für diese Systeme gilt 
dann der Satz: Je n — 2 Flächen schneiden sich nach einer gemeinsamen 
Krümmungskurve, unter Krümmungskurven die eben betrachteten einfach 
unendlichen Mannigfaltigkeiten verstanden. 





*ı) Als Winkel zweier benachbarter Geraden würde man bezeichnen können 
i i 
arc cos -— dpı.d Pos + Prsdps he... ei 
2V dpadpu +... VER E .- . 

°*) Man sieht ohne weiteres die Richtigkeit des folgenden Satzes ein: Diejenigen 
Geraden, welche einem Linienkomplexe in der Nähe einer seiner Geraden p an- 
gehören, liegen zu einer bestimmten p benachbarten Linie, die im allgemeinen nicht 
selbst dem Komplexe angehört, in Involution. Und umgekehrt gehören alle solche 


benachbarten Geraden dem Komplexe an. — Zwei Komplexe heißen nun in bezug 
auf eine gemeinsame Gerade p in Involution, wenn die benachbarten Geraden 


p+dp, p-+d'p involutorisch liegen, die sie bez. in dem hier auseinandergesetzten 
Sinne der Geraden p zuordnen. 








122 Zur Liniengeometrie. 


Im Linienraume werden wir uns den Begriff der Involutionssysteme 
von Komplexen zu bilden haben. Das sind einfach unendliche Komplex- 
systeme. Jede Gerade des Raumes gehört vieren der Komplexe 'an, und 
zwar liegen die vier Komplexe, denen eine Gerade angehört, jedesmal 
paarweise mit Bezug auf diese Gerade in Involution. 

Für diese Komplexinvolutionssysteme gilt dann wieder ein Satz, der 
dem Dupinschen entspricht: Je drei Komplexe schneiden sich nach einer 
gemeinschaftlichen Hauptfläche. 

Es ist bekannt, wie für irreduzibele Orthogonalsysteme noch andere 
allgemeine Sätze aufgestellt werden können. So zeigte Herr Kummer, 
daß die Kurven eines irreduzibelen Orthogonal-Kurvensystems notwendig 
konfokal sind; Herr Darboux®?) dehnte diesen Satz auf Orthogonalflächen- 
systeme im R, aus und fügte weitere, erst im R, auftretende, Eigen- 
schaften hinzu. Es ist ersichtlich, daß analoge Eigenschaften für die 
irreduzibeln Orthogonalsysteme in beliebigen Räumen, wie auch im 
Linienraume für irreduzibele Involutionssysteme existieren. Ich gehe 
hier auf dieselben nicht ein; ich bemerke nur, daß dem Satze von der 
Konfokalität der orthogonalen Flächen der liniengeometrische Satz ent- 
spricht: Komplexe eines irreduzibeln Involutionssystems haben eine ge- 
meinsame Singularitätenfläche?*). 

Das einfachste Beispiel eines irreduzibelen Involutionssystems geben 
denn auch die einfach unendlich vielen Komplexe zweiten Grades mit 
gemeinsamer Singularitätenfläcke. Man kann für dieselben, wie ich in 
der schon genannten Arbeit: „Zur Theorie usw.“ (Math. Annalen, Bd. 2 (1870) 
[siehe Abh. II dieser Ausgabe] gezeigt habe, die folgende algebraische 
Darstellung anwenden. Seien &,,..., x, homogene Funktionen der p,;,, 
für die : R j 

u 92 +..+2%=0. 
So sind die Komplexe dargestellt durch: 
a3 x 3 
wre . nn 
wo 4 einen Parameter bezeichnet. In der Tat kommt der Parameter A 


vermöge der Relation Ba x?’ —=( im vierten Grade vor. Jede Gerade des 
Raumes gehört also vier Komplexen des Systems an. Je zwei Komplexe 
A=4»und A=4, liegen aber auch in bezug auf die gemeinsame Gerade 
in Involution. Die Bedingung dafür, daß zwei Komplexe 


=, y=0 





23) Annales Scientifiques de l’Ecole Normale Superieure. t. 2. 1865. 

%) Bei Plücker ist die Singularitätenfläche nur für Komplexe zweiten Grades 
definiert. Diese Lücke ist durch Herrn Pasch in seiner Habilitationsschrift: „Zur Theorie 
der Komplexe und Kongruenzen von Geraden“, Gießen 1870, ausgefüllt worden. 


VIII. Liniengeometrie und metrische Geometrie. 123 


mit Bezug auf eine gemeinsame Gerade in Involution sind, ist nämlich 
bei der gewählten Koordinatenbestimmung: 


—- :—— = () { vermöge o—=ß0, y=0}. 


- Dieser Ausdruck verschwindet aber immer, wenn 9, y zwei Komplexe des 
hier betrachteten Systems sind. Denn derselbe wird gleich 











2 x} 


© | 6 
= (&=%) (ul) (ka—4,) BT se (ka—h,) (ka—4,) 
‘ und das ist durch Zerlegung in Partialbrüche: 


ER aan (p wu y), 
verschwindet also mit p und w, 

Je drei Komplexe des Systems haben als Komplexe des zweiten 
Grades Linienflächen des sechzehnten Grades gemein; die Haupfflächen 
der Komplexe zweiten Grades sind also vom sechzehnten Grade. Ich 
gehe nicht näher auf die Diskussion dieser Flächen ein, die, wenn man 


die Komplexe spezialisiert, eine große Zahl besonderer Flächen unter sıch 
begreifen. 


$ 4. 
Weitere Betrachtungen über die Hauptflächen der Komplexe. 


In diesem letzten Paragraphen mögen wir noch weitere Eigenschaften 
der Hauptflächen von Komplexen, der Involutionssysteme usw. entwickeln, 
und zwar an der Hand rein liniengeometrischer Betrachtungen. Dieselben 
übertragen sich natürlich wieder auf die metrische Geometrie des R,, 
was aber nicht weiter verfolgt werden soll. 

Herr Lie hat den merkwürdigen Satz gefunden (der bei ihm in ander- 
weitigem Zusammenhange steht), daß man auf jeder Linienfläche, die einem 
linearen Komplexe angehört, eine Haupttangenten-Kurve kennt. Es gibt näm- 
lich auf jeder Erzeugenden der Linienfläche zwei Punkte, deren Tangential- 
ebene gleichzeitig die ihnen im linearen Komplexe entsprechende Ebene ist. Die 
Gesamtheit dieser Punkte bilden die in Rede stehende Haupttangenten-Kurve. 

Den Beweis kann man einfach so stellen. Alle Tangenten der Fläche 
in einem solchen Punkte gehören dem Komplexe an. Die Punkte bilden 
daher eine Kurve, deren Tangenten dem Komplexe angehören, eine Komplex- 
kurve. Eine Komplexkurve hat aber die Eigenschäft, in jedem ihrer Punkte 
die im Komplexe entsprechende Ebene zur Oskulationsebene zu besitzen. 
Andererseits ist diese Ebene jedesmal nach Voraussetzung Tangential- 
ebene der Fläche. Die Kurve ist also eine Haupttangenten-Kurve. 

Wenn nun eine Linienfläche als irgendeinem Komplexe angehörig 
gegeben ist, so kann man auf ihr immer in ähnlicher Weise eine Kurve 


124 Zur Liniengeometrie. 


bestimmen; nur ist sie dann im allgemeinen keine Haupttangenten-Kurve. 
Man suche nämlich auf jeder Erzeugenden diejenigen beiden Punkte, in. 
denen die Fläche vom Komplexkegel berührt wird. Die Reihenfolge dieser 
Punktepaare konstituiert die fragliche Kurve. 

Ist nun aber die Linienfläche insbesondere eine Hauptfläche des ge- 
gebenen Komplexes, so ist die so konstruierte Kurve eine Haupttangenten- 
Kurve derselben”?). 

Der Beweis ergibt sich vermöge des Lieschen Satzes unmittelbar 
aus der Definition der Hauptfläche. Der gegebene Komplex wird in je 
zwei konsekutiven Erzeugenden von dem nämlichen linearen Komplexe 
berührt. Der betreffende lineare Komplex enthält also drei konsekutive 
Erzeugende der Linienfläche und bestimmt auf den beiden ersten derselben 
die nämlichen beiden Punktepaare, wie der, gegebene Komplex selbst. 

Nun kann man den Lieschen Satz auch so formulieren. Enthält ein 
linearer Komplex drei konsekutive Erzeugende einer Linienfläche, so be- 
stimmt er auf den beiden ersten Punktepaare, die derselben Haupttan- 
genten-Kurve angehören. Hiermit ist der Beweis unseres Satzes gegeben. 

Wenden wir uns jetzt zur Betrachtung eines Involutionssystems. Eine 
einzelne Gerade p gehört vieren der Komplexe an, die mit a,b, c,d 
bezeichnet sein mögen. Dieselben liegen paarweise miteinander in Invo- 
lution. Infolgedessen hat man zunächst die folgenden Sätze, wegen deren 
Beweis ich auf die Arbeit: „Zur Theorie usw.“ (Math. Annalen, Bd. 2 
(1870) [siehe Abh. II dieser Ausgabe] verweise **). 

1. Die Linienfläche, welche dreien der Komplexe, etwa a,b,c, angehört wird 
in allen Punkten von p von dem betreffenden Komplexkegel von d berührt. 

2. Die Linie p berührt die Brennfläche der Kongruenz zweier Kom- 
plexe a, b in den nämlichen beiden Punkten, in denen sie die Brennfläche 
der Kongruenz der beiden anderen Komplexe c, d berührt. 

3. Die drei in dieser Weise auf der Geraden entstehenden Punkte- 
paare (ab, cd), (ac, bd), (ad,bc) sind zueinander harmonisch ?”), 

Betrachten wir jetzt eine Hauptfläche, die dreien der Komplexe, 
etwa a,b,c, gemeinsam ist. Auf ihr kennt man, jedem der drei Kom- 
plexe entsprechend, eine Haupttangenten-Kurve, welche jede Erzeugende 
zweimal schneidet. Nun gilt aber für Haupttangenten-Kurven der Linien- 





25) Auch die Umkehrung dieses Satzes ist richtig. 

26) Dieselben sind dort nur für lineare Komplexe bewiesen. Sie gelten also auch 
für die linearen Tangentialkomplexe der hier gegebenen Komplexe und hiermit für 
die letzteren selbst. 

?”) Hieran knüpft sich der weitere Satz: Legt man durch p eine Ebene, so 
enthält dieselbe, a, b, c, d entsprechend, je eine Komplexkurve. Die vier Berüh- 
rungspunkte der vier Kurven mit p bilden eine viergliedrige Punktgruppe, deren 
Kovariante sechsten Grades durch die drei Punktepaare des Textes dargestellt wird. 


VIII. Liniengeometrie und metrische Geometrie. 1235 


flächen der von Herrn Paul Serret angegebene Satz: daß die Erzeugen- 
den der Linienfläche von den Haupttangenten-Kurven projektivisch ge- 
teilt werden. Hieraus wird man einmal schließen, daß die sechs Punkte, 
in denen jede Erzeugende von den drei Haupttangenten-Kurven a, b, c 
geschnitten wird, sechs festen Elementen projektivisech sind. Dies ist, 
wie vorstehend (Satz 3) angegeben, in der Tat der Fall. Andererseits 
wird man folgern, daß man auf der fraglichen Hauptfläche alle Haupt- 
tangenten-Kurven durch rein algebraische Prozesse bestimmen kann. Denn 
man erhält alle Haupttangenten-Kurven, wenn man sich einen Punkt auf 
der Fläche so bewegen läßt, daß er jedesmal aut allen Erzeugenden mit 
dreien der sechs Punkte (und also mit allen) ein festes Doppelverhältnis 
bildet, und hierzu sind nur algebraische Operationen notwendig. 


Die beiden Punkte, in denen die Haupttangenten-Kurve a eine Er- 
zeugende, etwa p, trifft, sind, behaupte ich jetzt, die Berührungspunkte 
von p mit der Brennfläche der b und c gemeinsamen Kongruenz. Denn 
in diesen Punkten berührt der Komplexkegel von a die Fläche, also auch, 
nach Satz 1, den Komplexkegel von d. Deshalb sind diese Punkte die Be- 
rührungspunkte von p mit der Brennfläche ad und also auch, nach Satz 2, 
mit der Brennfläche bc, was zu beweisen war. Man hat also den Satz: 


Die Haupifläche abc berührt die Brennfläche be nach der Haupt- 
tangenten-Kurve a, die Brennfläche ca nach der Kurve b, die Brenn- 
fläche ab nach der Kurve c. 


Hieraus wird man weiter schließen: 

Daß man auch auf den Brennflächen der Kongruenzen je zweier 
Komplexe die Haugttangenten-Kurven kennt. 

Es sind dies dieselben Kurven, die Haupttangenten-Kurven der Haupt- 
flächen waren. In der Tat erhält man in der Gesamtheit der Berührungs- 
Kurven der Brennfläche mit den Hauptflächen auch die Gesamtheit der Haupt- 
' tangenten-Kurven der Brennfläche. Denn die in einem Punkte der Brennfläche 
ab berührende Gerade, welche a und b angehört, gehört gleichzeitig zwei 
weiteren Komplexen c und d an. Man erhält also in den Berührungskurven 
der Brennflächen mit den Hauptflächen abc, abd die beiden durch den 
gewählten Punkt hindurchgehenden Haupttangenten-Kurven °®®). 





8) Die verschiedenen hier aufgestellten Sätze hatte ich, mitsamt dem Satze 
des $ 3: „daß sich je drei Komplexe eines Involutionssystems nach einer gemein- 
samen Hauptfläche schneiden“, in der bereits zitierten Note in den Gött. Nachrichten 
Nr. 3. (1871) [siehe Abh. VII dieser Ausgabe] in dem Satze zusammengefaßt: daß die 
Linienfläche, welche drei Komplexen eines Involutionssystems gemeinsam ist, die Brenn- 
fläche je zweier derselben nach einer Haupttangenten-Kurve berührt, und in dieser Fassung 
analytisch erwiesen. Die heterogenen Bestandteile, welche dieser Satz enthielt, er- 
scheinen im Texte gesondert. Ich bin Herrn Lie dafür verpflichtet, daß er mich auf 
die Möglichkeit der Sonderung aufmerksam gemacht hat. 


126 | Zur Liniengeometrie. 


Für das Involutionssystem der Komplexe zweiten Grades findet man 
insbesondere: die Haupttangenten-Kurven auf den Hauptflächen, nach 
denen diese die Brennflächen berühren, sind von der 32. Ordnung und 
Klasse. Die Brennflächen selbst sind gleich den Hauptflächen von der 
sechzehnten Ordnung und Klasse, 

Durch passende Partikularisationen erhält man aus der Betrachtung 
dieser Brennflächen und Hauptflächen die Bestimmung der Haupttangenten- 
Kurven auf einer großen Zahl besonderer Flächen. Hier sei nur eine 
solche Partikularisation erwähnt. Die beiden Komplexe des Systems, die 
miteinander die Kongruenz und durch diese die Brennfläche bestimmen, 
mögen zusammenfallen. Dann wird die Kongruenz die Kongruenz der 
singulären Linien des betreffenden Komplexes. Ihre Brennfläche zerfällt 
in die allen Komplexen gemeinsame Singularitätenfläche, die von der 
vierten Ordnung und Klasse ist und eine weitere Fläche von der zwölften 
Ordnung und Klasse. Auf beiden erhält man die Haupttangenten-Kurven, 
die jetzt bezüglich von der sechzehnten Ordnung werden. Nun ist für 
die allgemeinen Komplexe zweiten Grades die Singularitätenfläche eine 
Kummersche Fläche vierten Grades mit sechzehn Knotenpunkten. Man 
erhält also eine Bestimmung der Haupttangenten-Kurven dieser Fläche, 
die dahin geht: daß sie die Berührungs-Kurven der Fläche mit denjenigen 
Linienflächen sind, welche einem beliebigen (aber fest gewählten) zuge- 
hörigen Komplexe als singuläre Linien und außerdem noch bez. einem 
zweiten (veränderlichen) der zugehörigen Komplexe angehören. Hiermit 
in Übereinstimmung findet sich eine Bestimmung der Haupttangenten- 
Kurven der Kummerschen Fläche, wie sie in einer gemeinsamen Arbeit 
in den Monatsberichten der Berliner Akademie, Dezember 1870 [siehe 
Abh. VI dieser Ausgabe], von Lie und mir gegeben worden ist. Der In- 
halt dieser Note kann als eine nähere Ausführung einiger der dort vor- 
getragenen Betrachtungen angesehen werden. 


Göttingen, im Oktober 1871. 


IX. Über gewisse in der 'Liniengeometrie auftretende 
Differentialgleichungen. 


[Math. Annalen, Bd. 5 (1872):] 





Bei liniengeometrischen Untersuchungen wird man zu gewissen Diffe- 
rentialgleichungen geführt, die im folgenden formuliert und in noch näher 
anzugebenden Fällen integriert werden sollen. Dieselben entsprechen im 
wesentlichen den folgenden drei Aufgaben: 


1. Man soll diejenigen Linienkomplexe finden, deren Geraden die Tan- 
genten einer Fläche sind. | 

2. Man soll diejenigen einem gegebenen Linienkomplexe angehörigen 
Kongruenzen bestimmen, deren Geraden Haupttangenten ihrer Brenn- 
flächen sind. 

3. Man soll die Umhüllungskurven der Linien einer Kongruenz an- 
geben. 

Bei der im folgenden eingeschlagenen Darstellung, bei welcher durch- 
gängig von Linienkoordinaten Gebrauch gemacht werden wird!), erkennt 
man, wie diese drei Probleme zusammen eine naturgemäße Gruppe bilden. 

Das Problem 1 ist eines der ersten, welche bei der Untersuchung der 
Linienkomplexe auftreten. Es ist denn auch bereits von Cayley in seiner 
ersten bez. Mitteilung?), wenn auch nur beiläufig, beantwortet worden. 
Cayley untersucht dort diejenigen Bedingungen, denen ein Linienkomplex 
genügen muß, damit seine Geraden eine feste Kurve schneiden. Er findet 
nur eine erste Bedingung, die aber noch nicht hinreichend ist, vielmehr 
auch dann erfüllt ist, wenn die Linien des Komplexes eine Fläche um- 
hüllen®). Diese nämliche Bedingung wird im folgenden auf einem ganz 





!) Das Nachstehende mag zugleich dazu dienen, zu illustrieren, wie man mit 
Linienkoordinaten operieren kann, ohne auf den Zusammenhang derselben mit Punkt- 
und Ebenenkoordinaten zurückzugehen. 

2) Quarterly Journal, t. 3, S. 227. [(1860) Coll. Papers IV.) 

) [Ein vollständiges System von Bedingungen für den Sekantenkomplex einer 
Kurve hat erst Herr A. Voß in einer Note in den Gött. Nachr., 1875, S. 101—123, 
aufgestellt.) 


128 Zur Liniengeometrie. 


anderen Wege abgeleitet werden, und es wird gezeigt werden, daß sie in 
der Tat den Komplex als Gesamtheit der Tangenten einer Fläche charakte- 
risiertt. Für Komplexe zweiten Grades, insbesondere für diejenigen, die 
eine Fläche umhüllen, findet sich das Entsprechende bei Plücker a 
Geometrie, ‘Nr. 341) angegeben. 

Das Problem 2 ist von Lie, zunächst unter einer anderen Form auf- 
gestellt worden‘). Er verlangt nämlich, solche Flächen zu finden, die in 
jedem ihrer Punkte von dem Komplexkegel eines gegebenen Komplexes 
berührt werden. Sodann zeigt er, daß die Kante, nach welcher der Komplex- 
kegel die gesuchte Fläche berührt, eine Haupttangente der Fläche ist, und 
daß diese Eigenschaft die fraglichen Flächen charakterisiert. Das Problem 
kommt also darauf hinaus: Flächen zu finden, bei welchen ein System 
Haupttangenten dem gegebenen Komplexe angehört. In dieser Form ist 
es offenbar mit dem Problem 2 identisch; die Gestalt, die ihm vorstehend 
erteilt wurde, schließt sich nur besser an die gleich vorzutragende Behand- 
lung an. 

Das Problem 3 endlich entsteht, sowie man von Linienkongruenzen 
handelt. Die Linien einer Kongruenz lassen sich nach der allgemeinen 
Theorie®) auf zwei Weisen in eine Reihe Developpablen zusammenfassen; 
das Problem ist: wenn die Kongruenz gegeben ist, diese Developpablen 
zu bestimmen. | 

Das Problem 2 ‚soll im folgenden insbesondere für den allgemeinen 
Linienkomplex zweiten Grades gelöst werden. Eine solche Lösung hat auf 
anderem, mehr geometrischem Wege Lie in der vorstehenden Abhandlung 
gegeben. Die Resultate stimmen natürlich überein; es wird daher inter- 
essant, zu verfolgen, wie seine geometrischen Betrachtungen den hier ange- 
wandten analytischen entsprechen. In der analytischen Schlußformel, die 
aufgestellt werden wird, erscheinen seine Resultate in übersichtlicher Weise 
zusammengefaßt. 

Gleichzeitig erledigt sich bei der eingeschlagenen Methode das Problem 3 
für diejenigen Linienkongruenzen vierter Ordnung und Klasse, welche zwei 
Linienkomplexen zweiten Grades gemeinsam sind, die zu der nämlichen 
Singularitätenfläche gehören. Unter dieselben fallen als besondere Art, wie 
hier gleich hervorgehoben sein soll, die allgemeinen Kongruenzen zweiter 





*) Vgl. die Abhandlung von Lie in den Math. Annalen, Bd. 5 und dessen bezügliche 
Mitteilungen an die Akademie zu Christiania (Berichte 1870, 71). Es ist dort die das 
Problem darstellende Differentialgleichung kurz als „die Differentialgleichung des ge- 
gebenen Linienkomplexes“ bezeichnet. — Auch Herr Darboux batte sich mit diesem 
Gegenstände beschäftigt; vgl. eine bez. Bemerkung von Lie in dem vorstehenden Auf- 
satze. [Die hier und weiter im Text als vorstehender Aufsatz zitierte Arbeit von Lie 
ist die in der Fußnote !) zur Abh. VIII erwähnte Abhandlung.) 

?) Vgl. Kummer in Borchardts Journal, Bd. 57 (1860). 


IX. Differentialgleichungen der Liniengeometrie. 129 


Ordnung und Klasse, welche einem Komplexe zweiten und einem Komplexe 
ersten Grades angehören‘). 

Nach der oben zitierten Abhandlung von Lie wird man erkennen, 
wie diese liniengeometrischen Probleme identisch sind mit Problemen, die 
sich auf Kugelgeometrie beziehen. Problem 1 entspricht dann der Forde- 
rung: diejenigen Gleichungen zwischen den vier Koordinaten einer Kugel 
(ihren Mittelpunktskoordinaten und ihrem Radius) anzugeben, welche drei- 
fach unendliche Kugelsysteme (Kugelkomplexe) darstellen, deren sämtliche 
Kugeln eine feste Fläche berühren. Dem Problem 2 entspricht die Auf- 
gabe: Wenn ein Kugelkomplex gegeben ist, diejenigen Flächen zu finden, 
deren ein System Hauptkugeln dem Komplexe angehört”). Endlich dem 
Probleme 3 die Aufgabe: Wenn eine Kugelkongruenz, d. h. zweifach un- 
endlich viele Kugeln, gegeben ist, solche einfach unendliche Kugelreihen 
aus ihr auszuscheiden, in denen sich je zwei konsekutive Kugeln berühren. 

Andererseits wird man, von dem Zusammenhange ausgehend, der 
zwischen Liniengeometrie und der metrischen Punktgeometrie des Raumes 
von vier Dimensionen besteht®), äquivalente Probleme für diese metrische 
Geometrie aufstellen können. Die entsprechenden Probleme der metrischen 
Geometrie des Raumes von drei Dimensionen mögen hier ausgesprochen 
sein; ihre Zahl hat sich, wie die Zahl der Variabeln, um 1 vermindert. 
Es sind die folgenden beiden: 

&) diejenigen developpablen Flächen anzugeben, welche den unendlich 
fernen imaginären Kreis enthalten; 

b) auf einer gegebenen Fläche diejenigen Kurven zu bestimmen, deren 
Tangenten den unendlich fernen Kreis fortwährend treffen (die sogenannten 
Kurven ohne Länge). 

Mit den letzteren Kurven haben sich besonders die neueren französischen 
Geometer beschäftigt. Auf die Aufsuchung dieser Kurven kommt, wie bei- 
läufig bemerkt sei, das Problem der konformen Abbildung zweier Flächen 
aufeinander hinaus. Man hat nämlich nur die beiden Flächen so aufeinander 
zu beziehen, daß den fraglichen Kurven der einen Fläche die der anderen 
entsprechen. — Die Developpablen a) sind hinsichtlich ihrer ausgezeichneten 


®) Vgl. den Satz XXXVI der allgemeinen Aufzählung der Strahlensysteme zweiter 
Ordnung von Kummer. (Abhandlungen der Berl. Akad. 1866.) 

?) Mit diesem Probleme, das, zusammen mit Problem 2), von Lie in der vor- 
stehenden Abhandlung behandelt ist, haste sich, wie er uns mitteilte, auch Herr 
Darboux in der neuesten Zeit beschäftigt. Er hatte dasselbe gerade in dem Um- 
fange gelöst, wie eine solche Lösung bei Lie angegeben ist, und wie sie durch An- 
wendung der Lieschen Transformation von Liniengeometrie in Kugelgeometrie aus 
der im Texte gegebenen Lösung des liniengeometrischen Problems hervorgeht. Die 
Methode, die Herr Darboux dabei benutzte, war, soweit ich übersehen kann, mit 
der, die hier angewandt werden soll, durchaus identisch. 

®) Vgl. den vorstehenden Aufsatz: Über Liniengeometrie und metrische Geometrie. 

Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. I 


130 Zur Liniengeometrie. 


metrischen Eigenschaften zuerst von Herrn Darboux untersucht worden?). 
Herr Darboux hat auch, wie er mir mitteilte, das Problem b) für die 
Flächen vierten Grades gelöst, die den imaginären Kreis doppelt enthalten. 
Dies entsprichtvermöge derLieschen Abbildung (wieauch Lie bemerkt) dervon 
mirim folgenden gegebenenundschon früher gelegentlich mitgeteilten [Göttinger 
Nachrichten, 1871, Nr. 1 (in diese Ausgabe nicht aufgenommen)] Integration der 
Umhüllungskurven einer Linienkongruenz zweiter Ordnungund Klasse. Es mag 
genügen, hiermit auf die entsprechenden metrischen Probleme hingewiesen 
zu haben, die sich natürlich nicht nur auf den metrischen Raum von drei 
und vier, sondern von beliebig vielen Dimensionen beziehen). Ich wende 
mich jetzt zu den liniengeometrischen Aufgaben zurück, die den eigentlichen 
Inhalt dieser Mitteilung bilden sollen und beginne damit, einiges, was 
später benutzt werden soll, über den linearen Komplex vorauszuschicken. 


81. 
Einiges über den linearen Komplex. 


In dem vorhergehenden Aufsatze: „Über Liniengeometrie und metrische 
Geometrie“ habe ich in $ 1 entwickelt, wie die Liniengeometrie aufgefaßt 
werden kann als die Geometrie auf einer im Raume von fünf Dimensionen 
gelegenen Fläche zweiten Grades!!). Dieselbe sei, unter &,,%,,...,%, die 
homogenen Koordinaten des Raumes von fünf Dimensionen verstanden, 


durch 
Hein, 


dargestellt. Ein linearer Komplex: 


UF t UF t-.:- + = 0 
ist bei dieser Auffassung wie die Ebene des betrefienden Raumes. Hieraus 
schließt man, daß ein linearer Komplex eine Invariante hat, nämlıch . 
denjenigen Ausdruck, der, gleich Null gesetzt, aussagt, daß die Ebene 
u,=0 die Fläche Q—=0 berührt. Dieser Ausdruck entsteht aus der De- 
terminante von Q durch Ränderung mit den Koeffizienten vw. Hat Q ıns- 
besondere!?), wie im folgenden der Einfachheit wegen angenommen werden 


wird, die Form 
= er’ +n +... +8, 





®) Annales scientifiques de l’Ecole Normale Sup£rieure, t. 2, 1865. 

10) Nach den Auseinandersetzungen des $ 2 des vorhergehenden Aufsatzes ist 
ersichtlich, wie sich diese metrischen Probleme genau mit denselben Formeln be- 
handeln lassen, wie die hier ausgeführten liniengeometrischen. 

11) Dieser Ausdruck sei hier gestattet, da er wohl nicht mißverstanden werden kann. 

12) Vgl. „Zur Theorie der Komplexe usw.“, Math. Annalen, Bd. 2 (1870). [Siehe 
Abh. II dieser Ausgabe. | 





IX. Differentialgleichungen der Liniengeometrie. 131 


so erhält die Invariante die Gestalt: 

w“tw+t:..+u- 
Verschwindet die Invariante, so ist der lineare Komplex ein sogenannter 
spezieller, d.h. er besteht aus der Gesamtheit der Geraden, die eine feste 


Gerade schneiden. 
Seien jetzt zwei lineare Komplexe gegeben: 


u=ß, u=ß. 


Dieselben haben eine lineare Kongruenz gemein, die gleichzeitig allen 
Komplexen ns 

angehört. Unter denselben finden sich zwei spezielle, die sogenannten 
beiden Direktrizen. Man bestimmt dieselben, indem man die Invariante 
von Au-+ uv bildet. Sei A,, die Invariante von u, A,, die enige von v, 
endlich A,, = 4, derjenige Ausdruck, der entsteht, wenn man die De- 
terminante von Q auf der einen Seite mit den Koeffizienten von u, auf 
der anderen mit denen von v rändert. Diesen Ausdruck A,, habe ich ge- 
legentlich die simultane Invariante der beiden Komplexe genannt. (Ihr 
Verschwinden ist die Bedingung für die involutorische Lage zweier Kom- 
plexe.) Bei dieser Bezeichnung wird die Invariante von Au+ uv: 


iM. +2AuA „+ u?’4,,- 
Dieselbe, gleich Null gesetzt, ergibt eine quadratische Gleichung für - i 


und diese ist es, welche die beiden Direktrizen bestimmt. Die hiermit 
aufgestellte quadratische Gleichung hat, als quadratische binäre Form der 
Variabeln A, «u betrachtet, eine Invariante: 


2 
A, ne. Fi 2% Auv- 


Dieselbe ändert sich (bis auf einen Faktor) nicht, wenn man statt u, v 
irgend zwei andere Komplexe der Gruppe Au + uv setzt. Sie ist also eine 
Kombinante der beiden Komplexe u, v, und deswegen eine /Invariante 
der durch dieselben bestimmten Kongruenz. 

Das Verschwinden dieser Invariante sagt aus, daß die quadratische 
Gleichung zur Bestimmung der Direktrizen der Kongruenz zwei gleiche 
Wurzeln hat, daß also die Direktrizen der Kongruenz zusammenfallen (vgl. 
Plückers Neue Geometrie, Nr. 68). Die Kongruenz soll dann eine spezielle 
lineare Kongruenz heißen. 

Eine weitere Partikularisation tritt ein, wenn nicht nur A,,A,, 
— An —=0, sondern A,,, A,,, A,, einzeln verschwinden. Dann sind « 
und ® beides spezielle Komplexe (gerade Linien), die sich schneiden. Die 
Kongruenz zerfällt in zwei: in die Kongruenz erster Ordnung und nullter 

9%* 


132 Zur Liniengeometrie. 


Klasse derjenigen Geraden, die durch den gemeinsamen Schnittpunkt gehen, 
und die Kongruenz erster Klasse und nullter Ordnung der in der gemein- 
samen Ebene verlaufenden Geraden. Eine solche lineare Kongruenz wird 
im folgenden als eine zerfallende bezeichnet werden. Eine zerfallende 
Kongruenz hat unendlich viele Direktrizen: die Geraden des Büschels, dem 
u und v angehören und die durch 
iu+uv=0 
dargestellt sind. 
Betrachten wir jetzt drei lineare Komplexe: 


ER vl, w=(,. 


Dieselben haben eine Regelschar, d. h. die eine Erzeugung einer Fläche 
zweiten Grades (eines einschaligen Hyperboloids) gemein. Die anderen 
Erzeugenden des Hyperboloids sind die Direktrizen der Kongruenz je zweier 
Komplexe der Gruppe: | 

iu+uv+vwv—)0. 
Man erhält alle zweiten Erzeugenden, wenn man alle Werte von A, u,» wählt, 
für welche die Invariante von Au + uv + vw verschwindet, für welche also: 


De A; +2 /uA,,.+ WA; +2v14,„t2urA,u+ VAse: 


Diese Gleichung stellt, wenn wir A, u, » als Koordinaten in der Ebene 
interpretieren, einen Kegelschnitt dar. Derselbe hat, hinsichtlich linearer 
Transformationen, denen man A, u, » aussetzen kann, eine Invariante, 
nämlich die Determinante: 


uu UV uw 
A A, 2 
Ar, A, An 


Wir werden dieselbe als die Invariante der den drei Komplexen ge- 
meinsamen Regelschar zu bezeichnen haben. 

Das Verschwinden der Invariante sagt aus: zunächst, daß der Kegel- 
schnitt, der durch die Gleichung zwischen A, u, » dargestellt wird, zerfällt. 
Es zerfällt also auch das zweite Erzeugendensystem. Das bez. Hyperboloid 
artet in diesem Falle in zwei Ebenen und zwei auf deren Durchschnitt 
gelegene Punkte aus (vgl. Plückers Neue Geometrie, Nr. 144)'?). Die 





15) Während also eine F, als Punktgebilde betrachtet den Kegel, als Ebenen- 
gebilde betrachtet den Kegelschnitt als erste Partikularisation ergibt, tritt hier ein 
mit einem Punktepaare vereinigt gelegenes Ebenenpaar als solche auf. Es ist inter- 
essant, daß man bei den allgemeinen auf Systeme von Flächen zweiten Grades be- 
züglichen Abzählungen gleichmäßig auf alle drei Partikularisationen Rücksicht nehmen 
muß. Vgl. die Arbeit von Herrn Schubert: Zur Theorie der Charakteristiken 
(Borchardts Journal, Bd. 71, 1870). Die hier in Rede stehende Partikularisation der F, 
ist dort als „begrenzter Ebenenschnitt“ bezeichnet. 


IX. Differentialgleichungen der Liniengeometrie. 133 


eine Erzeugung desselben besteht aus den Geraden, welche durch den ersten 
Punkt in der ersten Ebene, oder durch den zweiten Punkt in der zweiten 
Ebene hindurchgehen; die andere Erzeugung aus den Geraden, die durch 
den ersten Punkt in der zweiten Ebene, oder den zweiten Punkt in der 
ersten Ebene hindurchgehen. Die drei Komplexe haben also zwei ver- 
einigt gelegene Strahlbüschel gemein. Wir werden eine solcherart zer- 
fallene Regelschar in Analogie mit dem Vorstehenden als spezielle Regel- 
schar zu bezeichnen haben. 

Eine weitere Partikularisation ist, daß nicht nur die Invariante der 
Regelschar, sondern sämtliche Unterdeterminanten derselben verschwinden. 
Dann ist die Regelschar in zwei sich deckende Strahlbüschel ausgeartet 
(Plückers Neue Geometrie, Nr. 146). Die Kongruenzen je zweier Kom- 
plexe der Schar Au+ uv-+vw sind alsdann spezielle, da sich ihre In- 
varianten linear aus den verschwindenden Unterdeterminanten zusammen- 
setzen. 

Es wäre der letzte Fall noch denkbar, daß auch die zweiten Unter- 
determinanten, d. h. A,,, A,, usw. selbst sämtlich verschwinden. Dann 
sind , v, w drei spezielle Komplexe, deren Achsen sich gegenseitig schneiden, 
also entweder einen Punkt gemein haben oder in einer Ebene verlaufen. Es 
genügen dann den drei Gleichungen u=0, v—= (0, w= 0 zweifach unend- 
lich viele Linien, nämlich diejenigen, die durch den gemeinsamen Punkt 
gehen, resp. in der gemeinsamen Ebene liegen. Denn die Bedingungs- 
gleichung Q = 0 ist dann vermöge u= 0, v—=0, w=( identisch erfüllt; 
die dritte Gleichung, etwa w» = 0, dient nur dazu, um aus der zerfallenden 
Kongruenz: u=0, 9» = 0, w=0 den einen Teil auszusondern. Es ist 
dies also ein von den vorhergehenden wesentlich verschiedener Fall, der 
im folgenden nicht in Betracht kommen wird. 


Es mögen endlich vier Komplexe: 
vwd, vo, 0, = 0 


in Betracht gezogen werden. Dieselben haben zwei Geraden gemein, und 
für dieses Geradenpaar erhält man die Invariante: 


An A 8 Aus 
A. 4. A A 
An A, 2 8 Ass 
Ay A, A A, 








Verschwindet dieselbe, so fallen die beiden Geraden zusammen'*). Ver- 





14) Läßt man t=( einen speziellen Komplex bedeuten, wodurch A,, verschwindet, 
so sagt das Verschwinden der Invariante des Textes aus, daß die Gerade t das Hyper- 
boloid der drei Komplexe u=0, v=0, w=0 berührt. Aber A,u, Ar, Arm Sind 
offenbar nichts anderes, als die Gleichungen der Komplexe u, v, w, in die nur die 


134 Zur Liniengeometrie. 


schwinden die ersten Unterdeterminanten, so schneiden sich die beiden 
zusammenfallenden Geraden [und also haben die linearen Komplexe das 
ganze Büschel, welches durch diese beiden Erzeugenden gegeben ist, gemein ]. 
Was das Verschwinden der zweiten und dritten Unterdeterminanten bedeutet, 
mag hier unerörtert bleiben. 


8 2. 
Aufstellung der Differentialgleichungen. 
Sei jetzt ein beliebiger Komplex 
0o—%d 
gegeben. Betrachten wir eine seiner Geraden (x). In der Nähe dieser 
Geraden kann der Komplex als ein linearer angesehen werden, d.h. die 


benachbarten Geraden sind, bis auf Größen höherer Ordnung, durch einen 


tangierenden linearen Komplex bestimmt (vgl. Plückers Neue Geometrie, 
Nr. 297 fi.). Derselbe ist: 


ep 09 op 
an) t (tt ae) 
wo die eingeklammerten Differentialquotienten sich auf den konstanten 
Wert x beziehen. Dieser lineare Tangentialkomplex ist indes nicht einzig 


bestimmt, sondern es gibt einfach unendlich viele gleichberechtigte. Da 
nämlich der gegebene Komplex 





o—=0 
nicht geändert wird, wenn man zu seiner Gleichung Q mit einem beliebigen 
Faktor hinzufügt: 
ipo+uR=0, 


so ist jeder lineare Komplex, der in der Gleichung enthalten ist: 





Koordinaten der Geraden t eingetragen sind. Ersetzt man daher A,,, A,,; An Kurz 
durch u, v, w, so stellt die resultierende Gleichung: 


A, u A, v A, w 
Ayr Ay y. 
A, u An v A» w 
u v w 
die Komplexgleichung der Hyperboloids u, v, w dar, wie ich Math. Annalen, Bd. 2 (1870) 


[siehe Abh. II dieser Ausgabe] ohne Beweis angab. — Auf ähnliche Weise findet man 
das Produkt der Gleichungen der beiden Direktrizen der Kongruenz u, v: 


Au Au % 


0 = 


oge®er 


nn 
a Br 


IX. Differentialgleichungen der Liniengeometrie. 135 


ein linearer Tangentialkomplex??). Dabei ist: 

08 

ie sd 
die Gleichung des speziellen Komplexes, dessen sämtliche Gerade die Ge- 
rade x schneiden. 

Die einfach unendlich vielen linearen Tangentialkomplexe haben eine 

spezielle lineare Kongruenz gemein. In der Tat, nehmen wir für Q, wie 
fortan immer geschehen soll, die vereinfachte Form: 


=? ++... +0), 


so wird die Schar der linearen Tangentialkomplexe: 


ö 
rat az) ya=0. 
Die Invariante der einzelnen Komplexe ist also gleich: 
 S(2e\ 
De) : 
da sowohl DH x. vermöge Q—0, als Sr ed vermöge 9—=(0 ver- 
schwindet, und ergibt, gleich Null gesetzt, die Doppelwurzel = 0. Die 
beiden Direktrizen der Kongruenz fallen also zusammen, und zwar in die 
gegebene Gerade (x). 
Es wird nun insbesondere unter den Linien eines Komplexes solche 
geben, für welche die den tangierenden linearen Komplexen gemeinsame 


spezielle Kongruenz zerfällt. Die Bedingung hierzu ist nach dem vor- 
stehenden 





Dann sind alle einfach unendlich vielen Tangentialkomplexe speziell, d.h. 
gerade Linien, und diese Geraden bilden ein Büschel. Durch dies Büschel 
werden der gegebenen Geraden ein auf ihr gelegener Punkt und eine durch 
sie hindurchgehende Ebene zugeordnet. Alle Geraden des Komplexes, 
welche der gegebenen (x) unendlich nahe sind und sie schneiden, müssen 
entweder sie in dem zugeordneten Punkte treffen oder in der zugeordneten 
Ebene verlaufen. Der zugeordnete Punkt ist deshalb gemeinsamer Be- 
rührungspunkt für die Gerade (x) und die in den durch sie hindurch- 
gelegten Ebenen enthaltenen Komplexkurven; ebenso wird die zugeordnete 
Ebene von allen Kegeln, die von Punkten der Geraden (x) ausgehen, nach 
der Geraden (x) berührt. 





‘%) Unter den linearen Tangentialkomplexen gibt es drei ausgezeichnete, die 
stationär berühren. Vgl. den vorhergehenden Aufsatz. 


136 Zur Liniengeometrie. 


Derartige Komplexlinien (x) heißen bei Plücker singuläre Linien 
des Komplexes (Nr. 305, 306 der Neuen Geometrie ). Der zugeordnete Punkt 
heißt der zugeordnete singuläre Punkt, die zugeordnete Ebene die zuge- 
ordnete singuläre Ebene. 

Hat 2, wie oben angenommen, die vereinfachte Gestalt PX? ER 
so werden die singulären Linien des Komplexes 


o—=0 


aus demselben ausgeschieden durch die Gleichung: 


2) 
0%, 
Ist @ vom Grade m, so ist diese Gleichung vom Grade 2(m — 1); die 
singulären Linien bilden also eine Kongruenz der Ordnung und Klasse 
2m(m —1). | 
Ich will hieran beiläufig die Definition einer für die Theorie der 
Komplexe sehr wichtigen Fläche knüpfen. Jeder der zweifach unendlich vielen 
singulären Linien ist ein singulärer Punkt und eine singuläre Ebene zugeordnet. 
Es gibt hiernach eine Fläche der singulären Punkte und eine Fläche der 
singulären Ebenen. Diese beiden Flächen sind nun identisch und bilden 
einen Teil der von der Kongruenz der singulären Linien umhüllten 
Brennfläche‘*). Im folgenden werde ich diese Fläche, wie ich bereits früher 
gelegentlich getan, als die Singularitätenfläche des Komplexes bezeichnen. 
Es wird nun Komplexe besonderer Art geben können — sie sollen 
im folgenden spezielle Komplexe heißen —, für die 





vermöge ER —(, g=0 identisch verschwindet, deren sämtliche Linien 


also singuläre Linien sind. Ich behaupte, daß diese Komplexe es sind, 
deren Linien eine Fläche umhüllen, daß also die Komplexe, die aus der 
Gesamtheit der Tangenten einer Fläche bestehen, durch die Differentval- 
gleichung 


charakterisiert sind'‘). 


Zunächst ist ersichtlich, daß für alle Komplexe, deren Linien eine 
Fläche umhüllen, diese Bedingung erfüllt ist. Denn jede Linie eines solchen 


16, Es ist dieser Satz von Herrn Pasch in seiner Habilitationsschrift gegeben 
worden (Zur Theorie der Komplexe usw., Gießen 1870). Bei Plücker findet sich das 
Entsprechende für Komplexe zweiten Grades auf einem Umwege bewiesen (Nr.318—320). 

17) [Auch dieser Satz ist zum erstenmal in der oben zitierten Abhandlung von 
Pasch gegeben worden. 


IX. Differentialgleichungen der Liniengeometrie. 137 


Komplexes hat den Charakter einer singulären. Die Komplexkurven z. B., 
die in den durch sie hindurchgelegten Ebenen liegen (die Durchschnitts- 
kurven dieser Ebenen mit der umhüllten Fläche), berühren die Gerade in 
einem festen Punkte usw. 

Um auch die Umkehrung des Satzes einzusehen, benutzen wir einen 
Hilfssatz. Sei nämlich (x) eine Linie des Komplexes. So wird wegen 


öp ah 
(6) = 
auch (>) eine gerade Linie sein. Dieselbe wird überdies, wegen 
9=0 und also Nat —0 


die Gerade (x) schneiden. (x+ 220) ist deshalb ein Büschel gerader 


Linien, das schon oben betrachtete Büschel der zu der singulären Linie (x) 
gehörigen speziellen linearen Tangentialkomplexe. /m vorliegenden Falle 
gehört nun dieses ganze Büschel von Geraden dem Komplexe —=0 an. 

Der Beweis, den ich bei einer anderen Gelegenheit ausführlicher zu 
geben hoffe, läßt sich so führen. Ist, wie vorausgesetzt: 


vermöge 9 = (0, > x, — 0, so kann man, wie sich zeigen läßt, setzen'%): 


I(H)-Up+N Ya. 


Man bilde jetzt 











Das Glied mit 4° und mıt A' verschwindet ohne weiteres mit 9 —=0, 


EN x. —= 0. Für die anderen Glieder kann man es dann durch ein rekurrentes 


2 
Verfahren nachweisen, indem man von der dem Ausdrucke 2) ge- 
a@ 


gebenen Darstellung Gebrauch macht. 
Die Linien des Komplexes fassen sich also in zweifach unendlich 
viele Büschel 





18) [Die Zulässigkeit des Ansatzes für algebraische Komplexe ergibt sich aus den 
in der Note: Über einen liniengeometrischen Satz (Gött. Nachr. 1872, Math. Ann., Bd. 22, 
siehe Abh. X dieser. Ausgabe) entwickelten Überlegungen.) 


138 Zur Liniengeometrie. 


zusammen. Der gemeinsame Schnittpunkt der Geraden des Büschels ist 
für alle der zugeordnete singuläre Punkt, die Ebene des Büschels für alle 
die zugeordnete singuläre Ebene. Den dreifach unendlich vielen Geraden 
des Komplexes entsprechen also nur zweifach unendlich viele singuläre 
Punkte und zweifach unendlich viele singuläre Ebenen. Es gibt also (wie 
beim allgemeinen Komplexe) eine Fläche der singulären Punkte und eine 
Fläche der singulären Ebenen. Nun ist es leicht, zu sehen, daß (wie beim 
allgemeinen Komplexe) diese beiden Flächen identisch sind und daß die 
Linien des Komplexes die Tangenten dieser Fläche sind. Jede Komplex- 
linie muß nämlich jetzt die Komplexkurve in einer beliebigen durch sie 
hindurchgelegten Ebene, als singuläre Linie, im zugehörigen singulären 
Punkte berühren. Die in einer Ebene enthaltene Komplexkurve ist also 
die Durchschnittskurve der Ebene mit der Fläche der singulären Punkte. 
Die Fläche der singulären Punkte wird mithin von den Linien des Kom- 
plexes umhüllt. Die Linien des Komplexes umhüllen also in der Tat eine 
Fläche, die Fläche der singulären Punkte. Dasselbe beweist man von der 
Fläche der singulären Ebenen. Die Fläche der singulären Punkte und die 
Fläche der singulären Ebenen sind also identisch ?). 
Betrachten wir jetzt die Kongruenz, welche zwei Komplexen 
o=ß; a==0 
gemeinsam ist. Eine Linie derselben habe die Koordinaten x. In der 


Nähe derselben kann ınan die beiden Komplexe durch einen ihrer linearen 
Tangentialkomplexe ersetzen: 


09 IE 
I Fr ia) Ya en 0, 





19%, Man kann, wie hier beiläufig angegeben sein mag, die Singularitätenfläche 
eines Komplexes als denjenigen speziellen Komplex definieren, der dem Komplexe 
umschrieben ist; die Brennfläche einer Kongruenz als denjenigen speziellen Komplex, 
dem die Kongruenz angehört. [Der innere Zusammenhang der Singularitätenfläche 
und der anderen hier vorkommenden Gebilde mit den entsprechenden Differential- 
gleichungen wird vielleicht deutlicher werden, wenn ich die ursprüngliche Auffassung, 
die mich bei diesen Untersuchungen geleitet hat, erwähne. Man gehe von den Linien- 
koordinaten aus, die der Identität 2? +2? +2? +x2?+pq=(0 genügen, setze g=1 und 
eliminiere dann p aus der Komplexgleichung. Dann wird z. B. die partielle Differential 
gleichung der speziellen Komplexe zu 


HEHE DER 
0x, ti are 
Man sieht die Analogie mit den Developpablen, die im gewöhnlichen R, dem Kugel- 
kreis umgeschrieben sind. Die „Büschel“ des Komplexes entsprechen den Erzeugenden 
der Developpablen (und damit den Charakteristiken der partiellen Differentialglei- 


chung), die vereinigte Lage konsekutiver Büschel dem Schnitt aufeinander folgender 
Erzeugender (bzw. der vereinigten Lage konsekutiver charakteristischerStreifen). K.] 





IX. Differentialgleichungen der Liniengeometrie. 139 


Die gegebene Kongruenz kann man in der Nähe von (x) durch die lineare 
Kongruenz ersetzen, welche irgend zwei dieser Komplexe gemeinsam ist, 
Es gibt also zweifach unendlich viele lineare Kongruenzen, welche eine 
gegebene Kongruenz in einer ihrer Geraden (x) berühren. 

Diese linearen Kongruenzen haben alle eine Regelschar gemein: 


=, Din ya=0, Dzaya = 0. 


Aber dieselbe zerfällt in zwei Büschel, da ihre Invariante 
öp \" op dy 
I) 2 öx, x F 
öp  öy op \“ 
wu 2E) » 
P Y 7 


vermöge 9 = 0, y=(, = x. — 0) verschwindet. Die Direktrizen der zwei- 
fach unendlich vielen tangierenden Kongruenzen bestehen also aus zwei 
Büscheln, welche die gegebene Gerade (x) gemein haben. Irgend zwei 
Gerade, entnommen den beiden Büscheln, sind Direktrizen emer tangierenden 
Kongruenz. Man erkennt in diesen beiden Büscheln die Tangentenbüschel?°) 
der Brennfläche der Kongruenz in deren Berührungspunkten mit der Ge- 
raden (=). 

Unter den Linien einer Kongruenz wird es nun insbesondere solche 
geben, für welche die beiden Büschel, d. h. also die beiden Berührungs- 
punkte mit der Brennfläche zusammenfallen. Dann wird die Kongruenz- 
gerade, die vorher Doppeltangente der Brennfläche war, im allgemeinen 
eine vierpunktig berührende Tangente. Diese Kongruenzgeraden sind durch 
die Bedingung dargestellt, daß für sie die Unterdeterminanten der vor- 
stehenden Invariante verschwinden, was sich, vermöge der vereinfachten 
Form der letzteren, auf die eine Bedingung reduziert: 


2 2 2 
a) or) (rn) nt 
Diese Gleichung, zusammen mit ! 
9=0, y=0I, Im=0 
stellt eine Linienfläche der Kongruenz dar, welche die Brennfläche vier- 


punktig berührt. Ist $ vom Grade m, y vom Grade n; so wird diese 
Fläche vom Grade 4mn(m +n — 2). 

















20) Bei der gewöhnlichen Darstellung zeichnet man die gegen (x) rechtwinkligen 
Linien der beiden Büschel aus und bezeichnet sie als die Brennlinien des in der Nähe 
von (x) verlaufenden unendlich dünnen Strahlenbündels. Jedes andere den beiden 
Büscheln entnommene Linienpaar ist im projektiven Sinne gleichberechtigt. 


140 | Zur Liniengeometrie. 


Diejenigen Linien einer Kongruenz [m, n], welche die Brennfläche 
vierpunktig berühren, bilden im allgemeinen eine Linienfläche vom Grade 


4mn(m—-n—2). 


Es wird nun besondere Kongruenzen geben — sie sollen spezielle 
Kongruenzen heißen —, für welche die vorstehende Gleichung: 


op \® öy \® ö öy \? 
a) le) 
oo—VU, vyvzW$, La = 0 


ıdentisch erfüllt ist. Diese haben die Eigentümlichkeit, daß alle ihre 
Linien die Brennfläche in zusammenfallenden Punkten berühren. Es sind 
dies diejenigen Kongruenzen, deren Linien Haupttangenten der Brennfläche 
sind?!): im Gegensatze zu den allgemeinen Kongruenzen, deren Linien 
Doppeltangenten der Brennfläche sind. 

Hiermit ist denn auch das Problem (2) formuliert?”). Ist ein Linien- 





vermöge 





1) Vgl. Kummer, Allgemeine Theorie der Strahlensysteme, $ 8. (Borchardts 
Journal, Bd. 57). 

22) Lie erteilte diesem Problem bereits früher eine ähnliche Form. Er fand 
nämlich, daß die betr. Differentialgleichung durch eine Transformation, die darauf 
hinauskommt, die Geraden des Komplexes als Raumelement einzuführen, in eine 
Gleichung zweiten Grades übergeht. Insbesondere gibt er die Gleichung: 


OH 0H_0H vos SE =; er | 
P =, rg I a nlrp +q°: öy ide au, 
(Bericht der Akademie zu Christiania, 1870, Dezember.) Wollte man statt Linien- 
koordinaten Punktkoordinaten anwenden, so würde man zu einer auf den ersten Blick 
sehr verschiedenen partiellen Differentialgleichung geführt werden. Sei unter An- 
wendung der Koordinaten p;, die Gleichung des Komplexes 





P (Pix) = 0 
so stellt die Gleichung 


9 (YR — Yırk) = 0 


wenn man den x feste Werte erteilt, den vom Punkte (x) ausgehenden Komplex- 
kegel dar. Das Problem (2) besteht nun darin, solche Flächen y(x)=0 zu finden, 
die in jedem ihrer Punkte von dem betreffenden Komplexkegel berührt werden. Man 
drücke also die Bedingung aus, daß die Ebene 


2 1) 
Fr ut vr 2 ht ee y=0 


den Kegel 
P (Tiyr — Yıza) = 0 
berühre, so hat man die Differentialgleichung des Problems. Ist p vom Grade m, 
oy 


so werden die Differentialquotienten eg im allgemeinen bis zum Grade m(m-—1) 


vorkommen. 


IX. Differentialgleichungen der Liniengeometrie. 141 


komplex 9—=0 gegeben, so suche man solche Kongruenzen desselben: 
9=0, y=0, daß für die Kongruenzlinien 


09 öy 2 WE 
DACH )- Pic )- | 02, =) En 
Ist insbesondere @ = 0 ein spezieller Komplex, d.h. eine Fläche, so redu- 
ziert sich diese Gleichung auf: 











Es mögen endlich drei Komplexe 
P=0, yv=ß, 1% 
gegeben sein. Dieselben haben eine Linienfläche gemein. Sei (x) eine 


Gerade derselben. Dieselbe hat in p, w, x bez. die folgenden Tangential- 
komplexe 


Je drei Komplexe aus diesen drei Scharen haben ein Hyperboloid gemein- 
sam, welches die den drei gegebenen Komplexen gemeinsame geradlinige 
Fläche in (x) berührt. Es gibt dreifach unendlich viele solcher berüh- 
renden Hyperboloide. Alle haben zwei zusammenfallende Gerade gemein, 
nämlich (x) und die benachbarte Erzeugende: die gemeinschaftlichen Ge- 
raden der vier Komplexe: 


RZ Die Zaun 0 


Denn die Invariante des diesen Komplexen gemeinsamen Geradenpaares: 


v2 








BNed : dp ‚dv dp ar 
dx, Öx, de, Tr 
oy 0p Oy n Toy 0% 
0%, Ö%, a) 2, 0x, X 
| 
| STE TE 81/2.) 
ER 03, 0x, —\ox, X 
2 
| p y x %a 
verschwindet. 


Für besondere Geraden der Linienfläche werden auch sämtliche Unter- 
determinanten dieser Invariante verschwinden. Es sind dies die soge- 


142 Zur Liniengeometrie. 


nannten singulären Erzeugenden der Linienfläche, die ihre konsekutive 
schneiden. Zu ihrer Bestimmung erhält man: 











HR: a, Sag, 0x 
0x 0x, 0x — 0X 0%, 
> öy ‚op /öy\® yöy 0x 
I 2 d=. 2] Dee 
or re : 

0%, 0x, 0%, 0%, 0%, 





Diese Gleichung ist, wenn @, yw, x bez. vom Grade m, n, p sind, vom 
Grade 2(m +n+p— 3). Man erhält also den Satz: die Linienfläche, 
welche drei Komplexen bez. vom Grade m, n, p gemeinsam ist, hat im 
allgemeinen 

Amnp(m +n+p-—3) 
singuläre Erzeugende??). 

Es gibt nun spezielle Linienflächen, deren sämtliche Linien singuläre 
Erzeugende sind, d, h. ihre konsekutiven schneiden. Dies sind die Deve- 
loppablen. Sie sind dadurch charakterisiert, daß für sie, vermöge 9 — 0, 
y=0(0,x=0 die vorstehende Gleichung identisch erfüllt ist. Sind also & 
und w gegeben und betrachtet man y als unbekannt, so stellt diese @Glei- 
chung die Differentialgleichung für die Developpablen der Kongruenz 
P=0, y=0 dar, was das Problem (3) ist. Dieselbe wird insbesondere 
linear, wenn 9=0, y=0 eine spezielle Kongruenz ist. 

Die Umhüllungskurven der Kongruenz zweier zu derselben Singulari- 
tätenfläche gehöriger Komplexe zweiten Grades werden wir in etwas anderer 
Weise bestimmen, indem wir nämlich die Kongruenzgeraden durch zwei 
Parameter ausdrücken und dann die Bedingung aufstellen, daß sich zwei 
benachbarte Kongruenzgeraden schneiden. Zu diesem Zwecke mag hier 
die Bedingung gegeben werden, unter der sich überhaupt zwei benach- 
barte Gerade (x) und («+ dx) schneiden. Damit sich zwei Gerade (x) 
und (y) schneiden, muß sein 


>, CaYa =O. 
Ist aber „„—=x,+ dx., so ist diese Gleichung identisch befriedigt, weil 
die %., als Linienkoordinaten, an die Gleichung Bi: — () geknüpft sind, 
was, wegen Na —=(, auf D/ %a dxz.—=0 führt. Setzen wir jetzt 
Ya %, + dx, -+d”x,, so haben wir einmal, wegen > Y == 0: 


I au dea—0, D, (22. d’2.+ dr) = 0. 


23) Dieselbe Zahl hat auf etwas anderem Wege Herr Lüroth abgeleitet: Zur 
Theorie der windschiefen Flächen (Borchardts Journal, Bd. 67, 1867). 





XI. Differentialgleichungen der Liniengeometrie. 143 


Andererseits wird die Bedingung des Schneidens 


PH d’x.=0 


und diese reduziert sich vermöge der letzten Gleichung auf 


Dan=0. 


Dies ist die Bedingung für das Schneiden zweier konsekutiven Ge- 
raden, welche im folgenden angewandt werden wird”*). 


8 8. 


Elliptische Koordinaten zur Bestimmung der geraden Linie®°). 
Bestimmung verschiedener Umhüllungskurven. 


Ich werde jetzt statt der bisher gebrauchten homogenen Linienkoor- 
dinaten &,,...,%,, welche an die Bedingungsgleichung 


Lm=0 


gebunden waren, vier voneinander unabhängige, nicht homogene Koor- 
dinaten A,, A,, A,, 4, einführen. Dieselben werden in der folgenden Weise 
definiert. 

In einer früheren Arbeit [Math. Ann., Bd. 2 (siehe Abh. II dieser Aus- 
gabe)] habe ich gezeigt, daß die Komplexe zweiten Grades mit  gemein- 
samer Singularitätenfläche in der folgenden Weise durch einen Parameter A 
dargestellt werden können: 

3 = x 
ar 55 u ar ee er, 
WO %,,%,,...,%, Koordinaten der eben betrachteten Art sind. Die ge- 
meinsame Singularitätenfläche ist in dem allgemeinen Falle, auf welchen 
diese kanonische Form paßt, eine Kummersche Fläche vierten Grades mit 
16 Knotenpunkten. 

Nun kann man die vorstehende Gleichung, wenn man für die x die 
Koordinaten einer geraden Linie setzt, als eine Gleichung für A betrachten. 
Dieselbe ist vom vierten Grade, da die beim Heraufmultiplizieren auf- 


tretende Potenz A” den verschwindenden Faktor PX, hat. Die vier Wurzeln 


der Gleichung sollen A,,A,, A,, A, heißen; sie sind es, die fortan als Koor- 
dinaten der Geraden benutzt werden. Diese vier Koordinaten geben also 





4) Lie benutzt als Bedingung für das Schneiden zweier konsekutiven Geraden 
(oder die Berührung zweier konsekutiver Kugeln) die folgende: 


dx? +dy®+dz?-+(idH)' =0. 


5) Vgl. eine Note in den Göttinger Nachrichten, 1871, Nr.1. [In die vorliegende 
Ausgabe nicht, aufgenommen, weil sie genau die Entwicklungen des Textes enthält.) 


144 Zur Liniengeometrie. 


den Wert des Parameters A derjenigen vier Komplexe des Systems an, 
denen die fragliche Gerade angehört. 

Wie man sieht, ist diese Koordinatenbestimmung der allgemeinen 
Jacobischen Methode der elliptischen Koordinaten analog. Bei derJacobi- 
schen Methode hat man nur eine Gleichung, und zwar eine nicht homogene, 
von der Form’°®): n 





Hrkhe- --] 
az 
während hier zwei homogene Gleichungen’ gegeben sind: 
n+1 x? n+i1 
Be en 
Bi 
1 1 


Diese allgemeinere?”) Art elliptischer Koordinaten findet sich zuerst 
bei Herrn Darboux erwähnt?®) und werden von ihm in einem neueren 
Aufsatze entwickelt?®). Er bezeichnet dieselben als die erste Derivation 
der gewöhnlichen elliptischen Koordinaten, insofern er auf sie durch ein- 
malige Anwendung eines Prozesses geführt wird, durch den er aus jedem 
Örthogonalsysteme ein neues Orthogonalsystem herleitet. Auf das System 
der konfokalen Flächen zweiten Grades angewandt, ergibt der Prozeß das 
Darboux-Moutardsche Orthogonalsystem der Flächen vierten Grades, 
die den imaginären Kreis doppelt enthalten, und auf dieses System be- 
ziehen sich die neuen Koordinaten. (Vgl. hierzu auch den vorstehenden 
Aufsatz, $ 2.) 

Wir werden zunächst die früheren Koordinaten x, durch die neuen A, 
ausdrücken. Zu diesem Zwecke mag f(A) den Ausdruck bezeichnen: 


= (kA), A)... (kn A). 


So hat man bekanntlich die Relationen: 


1 Ku ke Kr a 
a et 
Infolgedessen sind die x. durch die folgende Gleichung gegeben: 
(Ku— A) (Ky— Az) (Ku— hs) (ka — A) 
f (ka) 


26) Bei Jacobi ist dem Parameter A ein anderes Vorzeichen gegeben, was aber 
nicht vorteilhaft scheint. 

?”) Als allgemeiner kann man diese Koordinaten bezeichnen, da sich aus ihnen 
die gewöhnlichen elliptischen Koordinaten ergeben, wenn zwei der x, zusammenfallen. 


Es würde dies einer Ausartung der Kummerschen Fläche in eine Fläche mit Doppel- 
linie, d.h. in eine Plückersche Komplexfläche, entsprechen. 

2°) Comptes Rendus, t.69, 1869, 2. Sur une nouvelle serie de syst&mes ortho- 
gonaux algebriques. 

2%, Comptes Rendus, t. 73, 1871, 2. Des courbes trac&es sur une surface et 
dont la sphere osculatrice est tangente en chaque point & la surface. 


2 


O%a — 








IX. Differentialgleichungen der Liniengeometrie. 145 


In der Tat überzeugt man sich infolge der zwischen den f’(k) existierenden 
Gleichungen ohne weiteres, daß diese Werte von x? sowohl der Gleichung 


=> x? = 0 als den vier Komplexgleichungen genügen, welche den Werten A, , 
Ay, Ag, A, von A entsprechen. 

Wir mögen beiläufig erörtern, wie durch die Parameter / die haupt- 
sächlichen Elemente des gegebenen Komplexsystems und der mit ihm ver- 
knüpften Kummerschen Fläche dargestellt werden ’°®"). 

Setzt man zwei Parameter A, etwa A, und A,, einander gleich, so hat 
man eine Tangente der Kummerschen Fläche. Betrachtet man A, und 4, 
als konstant, während 4, =4, alle Werte durchläuft, so erhält man das 
Büschel aller solcher Tangenten, welche die Fläche in einem Punkte be- 
rühren. A, und A, charakterisieren also den Berührungspunkt; man kann 
sie als Koordinaten des Punktes auf der Fläche auffassen®*). Die von den 
Tangenten in zwei Punkten (A,, 4,) und (A, As) gebildeten zwei Büschel 
sind dabei, gleichen Werten von A, =4, entsprechend, eindeutig und also 
projektiv aufeinander bezogen. 

Setzt man drei Parameter einander gleich, so erhält man die Haupt- 
tangenten der Fläche. 

Nimmt man die vier Parameter paarweise gleich, so hat man die 
Linien, welche die 16 Doppelebenen der Fläche ausfüllen und diejenigen, 
die durch die 16 Doppelpunkte hindurchgehen. 

Endlich die Annahme, daß alle Parameter einander gleich sind, ergibt 
die Tangenten der in den 16 Doppelebenen gelegenen Berührungskegel- 
schnitte, sowie die Erzeugenden der in den 16 Knotenpunkten berührenden 
Kegel. 

Die einem bestimmten Komplexe des Systems angehörigen Geraden 
erhält man, wenn man einen der Parameter, etwa A,, dem betreffenden A 
gleichsetzt. Nimmt man zwei Parameter konstant, etwa A, und A,, so hat 
man die Linien der Kongruenz, die den beiden Komplexen A—=47, und 
i=/, gemeinsam ist. Ist dabei gleichzeitig A,—=4,, so hat man die 
singulären Linien des Komplexes A=4,=4,. Durch den Wert von 
}, = 4, wird also in jedem Tangentenbüschel der Kummerschen Fläche 
diejenige Tangente bestimmt, die dem Komplexe 4—=4,=4, als singuläre 
Linie zugehört. Ist ,=4,=k,, so sind die singulären Linien Doppel- 
tangenten der Kummerschen Fläche, nämlich diejenigen, welche dem unter 
den Komplexen des Systems befindlichen linearen (Fundamental-) Komplexe 


%a = () angehören. — Sind drei Parameter konstant, etwa A,, A 


u, 4,00 





#0) Wegen der Beweise siehe den Aufsatz: Zur Theorie der Komplexe usw. 
Math. Annalen, Bd. 2 (1870) [siehe Abh. II dieser Ausgabe |. 


#2) Die Kurven 4,=o, %,=o sind, wie noch gezeigt werden soll, die Haupt- 
tangentenkurven der Kummerschen Fläche. 


Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I, 10 


146 Zur Liniengeometrie. 


erhält man die Erzeugenden der den drei Komplexen 1=4,, A=4,, A==4, 
gemeinsamen Linienfläche. Ist dabei J,—=4,=4,, so hat man die singu- 
lären Linien des Komplexes A=4,—=4,=4,, welche die Kummersche 
Fläche oskulieren. Wenn der gemeinsame Wert von ,=4,=4, gleich 
k. ist, so sind dies vierpunktig berührende Linien. Und zwar erhält man, 
wenn man « die Werte 1...6 erteilt, alle vierpunktig berührenden Linien 
der Kummerschen Fläche, außer denen, die die Berührungskegelschnitte 
in den 16 .Doppelebenen tangieren®”). — Endlich die Annahme, daß alle 
Parameter konstant sind, ergibt die den Komplexen i=4,,/=4,41=41,, 
A= 4, gemeinsamen 32 geraden Linien. Ist dabei 4, =4,=4,=4,, so 
hat man die 32 ausgezeichneten singulären Linien des Komplexes A=4, 
— 4, =4, = 4,, welche Tangenten der Berührungskegelschnitte in den Doppel- 
ebenen, bez. Erzeugende der Berührungskegel in den Doppelpunkten sind. 

Die neuen Koordinaten A,, A,, A,, 4, wollen wir jetzt in die Gleichung 


N de=0 


einsetzen, welche ausdrückt, daß sich zwei konsekutive Linien schneiden. 














Man findet: 
0—di?. AA) _—_. (1A) 
un a (ah) 

da}. bi) a (ah) 
1 da2. ah) a Mh) 


Diese Differentialgleichung wird nun in einigen Fällen ohne weiteres inte- 
grierbar. | 

Es tritt dies insbesondere ein für die Kongruenzen je zweier Kom- 
plexe des gegebenen Systems. Setzt man nämlich 4, und 4, konstant, 
also dA,, dA, gleich Null, so hebt sich der Faktor (A, — A,) fort und man 
erhält die Differentialgleichung der Umhüllungskurven der Kongruenz in 


der Form: 
(hd) (u) (da) ah) 
Ba er en 
Setzt man in dieser Gleichung A, =4,, so hat man die Umhüllungskurven 
der singulären Linien des Komplexes A=4, —=4,. 
Ist insbesondere A, =4A,=k,, so hat man die Umhüllungskurven 
derjenigen Doppeltangenten der Kummerschen Fläche, die dem Kom- 

















®) Vgl. die Arbeit von Lie und mir: Über die Haupttangentenkurven der 
Kummerschen Fläche. Monatsberichte der Berliner Akademie, 1870, Dezember. 
[Siehe Abh. VI dieser Ausgabe. ] 


IX. Differentialgleichungen der Liniengeometrie. 147 


plexe x. —0 angehören. Diese Doppeltangenten bilden bekanntlich eine 
allgemeine Kongruenz zweiter Ordnung und zweiter Klasse; für diese Kon- 
gruenzen ist also das Problem 3 gelöst. 

Setzt man in die vorstehende Differentialgleichung A, = A,, 4, =4,, s0 
wird sie identisch befriedigt. Die Kongruenz A, —=4,, ),=4, ist also eine 
solche, in der jede Gerade alle ihre benachbarten schneidet. In der Tat 
stellen die Gleichungen A, =4,, 4, —=4,, wie schon bemerkt, diejenigen 
Geraden dar, welche entweder in einer Doppelebene der Kummerschen 
Fläche liegen oder durch einen Doppelpunkt hindurchgehen. Ihre Gesamt- 
heit bildet eine Kongruenz 16. Ordnung und Klasse, welche allerdings die 
geforderte Eigenschaft hat. 

Endlich sei AJ,=4,=4,. So wird die vorstehende Differentialglei- 
chung: 

di, = U, also A, = konst. 


Dies sind die Haupttangentenkurven der Kummerschen Fläche: In Worten: 
Die Haupttangentenkurven der Kummerschen Fläche werden jedesmal von 
solchen Punkten der Fläche gebildet, in welchen die zweite Haupttangente 
einem bestimmten Komplexe des Systems als singuläre Linie angehört. Es 
sind dies dieselben Kurven 16. Ordnung, welche ich in dem früheren Aufsatze: 
Zur Theorie usw. (Math. Annalen, Bd. 2 [siehe Abh. II dieser Ausgabe]) in 
Nr. 18 betrachtet hatte. Daß die Haupttangentenkurven der Kummer- 
schen Fläche algebraische Kurven der 16. Ordnung sind, hat zuerst Lie 
gefunden, indem er seine Abbildung studierte, die Liniengeometrie in Kugel- 
geometrie, Haupttangentenkurven in Krümmungskurven überführt. Sodann 
bemerkte ich die Identität der fraglichen Haupttangentenkurven mit dem 
früher von mir untersuchten Kurvensysteme, und bestimmte im Anschluß 
hieran die Singularitäten derselben. Diese Resultate haben Lie und ich 
in einer gemeinsamen Arbeit dargestellt??). Hierauf fand ich den hier vor- 
getragenen analytischen Beweis®*) und erkannte endlich®®), daß sich die 
ganze Bestimmungsweise der Haupttangentenkurven durch die zugehörigen 
Komplexe unter ein allgemeineres liniengeometrisches Theorem subsumiert, 
das dem Dupinschen Theoreme der metrischen Geometrie entspricht. 
Dieses letztere ist in dem vorhergehenden Aufsatze ausführlicher dargelegt, 
und dort auch gezeigt worden, wie dasselbe die Bestimmung der Haupt- 
tangentenkurven der Kummerschen Fläche umfaßt. — Es sei noch be- 
merkt, daß die sechs Haupttangentenkurven A, = k. die Kurven der vier- 
punktigen Berührung auf der Kummerschen Fläche sind. 





3) Monatsberichte der Berl. Akademie, 1870, Dezember. [Siehe Abh. VI dieser 
Ausgabe.) 
3%) Göttinger Nachrichten, 1871, Nr. 1. [In diese Ausgabe nicht aufgenommen. 
5) Göttinger Nachrichten, 1871, Nr. 3. [Siehe Abh. VII dieser Ausgabe.) 
10* 


148 Zur Liniengeometrie. 


84. 


Bestimmung der Integralflächen der allgemeinen Komplexe 
zweiten Grades. 


Die Einführung der neuen Veränderlichen A,, A,, A,, A, in die Diffe- 
rentialgleichung 
> de; —=0 


2 (hd) (As) (h A) 
0=di,- tn) +.... 


Die partielle Differentialgleichung, welche die speziellen Komplexe charak- 


terisierte: : 
ve\ 
3) = 


wird also nach bekannten Methoden übergehen in: 


ergab: 











_ (39 f (h) og f (A) | 
0-3) ma want) Bmamemt 
Nun ist aber bekannt?®), daß eine Differentialgleichung, wie die vor- 


stehende, ohne weiteres eine vollständige Lösung (mit drei willkürlichen 
Konstanten) ergibt, nämlich: 
































V(A,—a) (A,—b) far,‘ a) (A,—b) far, ı VA=a) (A—) 
— id 2% 
z ja m)" nn vr vr) 
V(4,—a)(1,—b) 
+fai, a vr) u 


Lassen wir a, b, C der Reihe nach alle möglichen Werte annehmen, 

so stellt uns die Gleichung 

P—=0 
dreifach unendlich viele spezielle Komplexe, dreifach unendlich viele Flächen 
dar. Jeder in der allgemeinen Lösung enthaltene Komplex, d. h. jeder 
Komplex, dessen Linien eine Fläche umhüllen, wird als Umhüllungsgebilde 
von zweifach unendlich vielen dieser Flächen erhalten. 

Nun behaupte ich, daß die Fläche g=0 mit den Konstanten a, 
b,C gemeinsames Integral der beiden Komplexe A=a und A =b ist?"), 
d.h. daß das eine System Haupttangenten der Fläche dem Komplexe 1= a, 
das andere dem Komplex A = b angehört, oder, was dasselbe ist, daß die 
Fläche mit dem Komplexe A= a, sowie mit dem Komplexe A=b eine 
spezielle Kongruenz gemein hat. 





3) Vgl. Jacobis Vorlesungen über Dynamik. 
3”) Daß zwei Komplexe des Systems einfach unendlich viele gemeinsame Inte- 
gralflächen haben, bildet den Ausgangspunkt der bez. Überlegungen von Lie. 


IX. Differentialgleichungen der Liniengeometrie. 149 


Um dies zu beweisen, ist nur zu zeigen, daß der Differentialgleichung 
der speziellen Kongruenzen: 


(2ER) 22) 


Genüge geschieht, wenn man statt p eine der hier gefundenen Flächen 


. op \® ; 
und statt y etwa (A,— a) oder (A,— b) nimmt. 2 5) verschwindet 
aber, da p ein spezieller Komplex. Es bleibt also nur noch: 

op  Oy 
FR Prheaihe 


oder, unter Anwendung der Koordinaten 4: 





_.ö0p dy f(A,) 
DEE DR Dante 


verschwinden, da y=4,—a, oder y=4, — b nur 


De, Via) AB) und verschwindet 
Oh vr) 
wenn A,—a oder = b gesetzt wird. Der Differentialgleichung der speziellen 
Kongruenzen wird also allerdings Genüge geleistet. 

Der Wert der Konstante © in der Gleichung von p kommt; dabei 
gar nicht in Betracht, bleibt also willkürlich. Wir haben also den Satz: 
Je zwei Komplexe A—=a, A=b der zu der Kummerschen Fläche ge- 
hörigen Schar haben einfach unendlich viele gemeinsame Integralflächen. 

Läßt man außer © auch noch 5 sich ändern, so erhält man zweifach 
unendlich viele Integralflächen des Komplexes A=a, also eine voll- 
ständige Lösung der mit dem Komplexe verknüpften partiellen Differential- 
gleichung. Die allgemeine Lösung umfaßt alle Flächen, die das Um- 
hüllungsgebilde von einfach unendlich vielen Flächen aus der so bestimmten 
zweifach unendlichen Schar sind. — Hiernach ist das Problem 2) für 
allgemeine Komplexe zweiten Grades erledigt. 

Die gefundenen Integralflächen, welche den Komplexen 4 = a und 
i=b gemeinsam sind, stehen zu den Umhüllungsgeraden der Kongruenz 
A=a,4=b, welche im vorigen Paragraphen bestimmt wurden, in einer 
bemerkenswerten Beziehung. 

[In der Tat reduziert sich die Gleichung der einzelnen Integralflächen, 
wenn wir A, konstant gleich @,4,=b nehmen, auf die Differentialgleichung 
der genannten Umhüllungskurven. Die Beziehung, welche hiernach zwischen 
der Integralfläche und der Brennfläche der Kongruenz A,=a, /,=b be- 
steht, bleibt näher zu entwickeln®®). ] 


Oo Op Oy 
Aber Z > di > 7 








von A, abhängt. Andererseits ist 





38) [Die genaueren Angaben, welche hierüber im Original, Math. Ann., Bd.5, gemacht 
sind, lassen sich nach dem Einwande, den Herr A.Voß in den Math. Ann., Bd. 9, S. 134—135 
erhoben hat, nicht aufrecht erhalten. Das Sachverhältnis bedarf weitererUntersuchung. K.] 


150 Zur Liniengeometrie. 


Aus der Bedeutung der Singularitätenfläche folgt ferner, daß die In- 
tegralfläche überall dort, wo sie die Singularitätenfläche trifft, sie be- 
rühren muß. Denn der Komplexkegel a oder b, der von einem Punkte . 
der Singularitätenfläche ausgeht, hat sich in ein Ebenenenpaar aufgelöst, 
dessen Durchschnitt, die zugeordnete singuläre Linie, die Singularitäten- 
fläche berührt. Die Integralfläche kann den ausgearteten Kegel nicht 
anders berühren, als indem sie die singuläre Linie berührt. Die Integral- 
fläche berührt also in jedem Punkte, in welchem sie die Singularitäten- 
fläche trifft, die beiden zugehörigen singulären Linien der Komplexe a 
und 5b, d.h. sie berührt die Singularitätenfläche selbst. 


Wir erhalten die singulären Linien des Komplexes a, die zu den 
Punkten der Berührungskurve gehören, wenn wir in der Gleichung der 
Integralfläche A,=4,=a setzen. So bleibt: 


dj, Ya=e) (kb) fa, VER), og, 
Sa vo ne 


Diese Gleichung bestimmt mit 4,=4,=« zusammen die fraglichen singu- 
lären Linien. Andererseits können wir sie — da nach dem vorigen Para- 
graphen A, und }, als Koordinaten eines Punktes auf der Singularitäten- 
fläche angesehen werden können — geradezu für die Gleichung der Be- 
rührungskurve halten. Wir haben so den Satz: 

Die Integralfläche berührt die Singularitätenfläche nach Erstreckung 
einer Kurve, deren Gleichung die vorstehende ist. 

















Die Singularitätenfläche entspricht also einer singulären Lösung der 
mit dem Komplexe verknüpften Differentialgleiechung in dem Sinne, als 
dieselbe von allen Integralflächen des Komplexes nach einer Kurve be- 
rührt wird. 

Wir mögen endlich noch das Folgende bemerken. Setzen wir in 
der Gleichung einer Integralfläche des Komplexes a, A,=a, so kommt man 


zur Darstellung der bezüglichen dem Komplexe a angehörigen speziellen 
Kongruenz: 


za) (4b) | Va) (ab) | Va) (3b) 
EN d}, a BE 97 +C0=0. 
j E vf(h) & 3 Vf) : Vf(@3) 

Nun sind die hier vorkommenden Integrale hyperelliptische, die p = 3 


entsprechen. Es ist also durch die vorstehende Gleichung ein Umkehr- 
problem indiziert. Wir schreiben sie zu diesem Zwecke in der Form: 


jas, Va) (h—b) ER 
Vf) 


und verknüpfen sie mit zwei ähnlich gebauten Gleichungen, deren Inte- 





























IX. Differentialgleichungen der Liniengeometrie. 151 


grale sich aus den vorstehenden durch Differentiation nach den Para- 
metern a,b ergeben: 
VAu—b 
di E ir 
j "aa yf(h) 


Vh—a 
di +. =w 
j "Yh—bVf(h) 
Diese Gleichungen dienen dazu, um die A,,A,,A,, und weiterhin die &,,...,2, 


der Komplexlinie durch die u, v, w auszudrücken. Und da =, mit den A 
durch eine Gleichung von der rg Form: 


Ta ae 9) 
za fü ) 
zusammenhängt, drücken sich die x, geradezu als hyperelliptische Funk- 
tionen der u, v, w aus. 

Die Koordinaten x. der Linien eines Linienkomplexes zweiten 
Grades sind hiermit unter Zugrundelegung eines zweiten Komplexes als 
sechsfach periodische hyperelliptische Funktionen dreier Parameter u, v, w 
dargestellt. 

Es wurde bereits wiederholt hervorgehoben, wie das von Flächen 
vierter-OÖrdnung mit imaginärem Doppelkreise gebildete Orthogonalsystem 
dem System der Linienkomplexe zweiten Grades mit gemeinsamer Singu- 
laritätenfläche entspricht. Man übersieht, wie man für diese Flächen 
ähnlich wie für diese Komplexe einen Satz aufzustellen hat, der dahin 
geht: daß sich die Koordinaten der Punkte einer Fläche des Orthogonal- 
systems als vierfach periodische hyperellyptische Funktionen zweier Para- 
meter darstellen lassen. Diesen Satz hat Herr Darboux in den Comptes 
Rendus (t. 68, 1869, 1: Me&moire sur une classe de courbes et de surfaces) 
ohne Beweis angegeben; er hebt besonders hervor, wie derselbe auf all- 
gemeine Flächen dritten Grades Anwendung findet, da drei unter den 
Flächen des Orthogonalsystems allgemeine Flächen dritten Grades sind. 
Ein ähnlicher Satz gilt offenbar für die entsprechenden Gebilde bei be- 
liebig viel Dimensionen. 

Noch zu einem zweiten Umkehrprobleme wird man geführt, nämlich 
durch die Gleichung der Umhüllungskurven der singulären Linien: 


LO SORT Er 
| Vr@,) x Vf@%) 


da auch für sie die Zahl der summierten Integrale mit dem p der auf- 
tretenden hyperelliptischen Funktionen übereinstimmt. Wir setzen zu 
diesem Zwecke: 




















fan fee a) _ 
7%) Vr@) 


152 Zur Liniengeometrie. 


und nehmen eine ähnliche Gleichung hinzu: 


f ra u | hu ti, Sa 
V/@). f@%) 

Es sind dies zwei Scharen auf der allen Komplexen gemeinsamen Singu- 
laritätenfläche (der Kummerschen Fläche) verlaufender Kurven: die Um- 
hüllungskurven der singulären Linien der Komplexe A=a und i=b 
Indem wir statt « und ® lineare Kombinationen derselben setzen, können 
wir insbesondere a und d gleich zweien der sechs Größen k, nehmen. Dann 
stellen die vorstehenden Gleichungen zwei der Scharen von Umhüllungs- 
kurven vor, welche die sechs Doppeltangentensysteme der Fläche besitzen. 
Mit Bezug auf zwei solche Kurvensysteme sind dann die Koordinaten 
der Punkte der Kummerschen Fläche als vierfach periodische hyper- 
elliptische Funktionen dargestellt. 

Für besondere Linienkomplexe zweiten Grades vereinfachen sich 
natürlich die in den hier genannten Umkehrproblemen auftretenden hyper- 
elliptischen Funktionen. Sind z. B. die k, paarweise gleich, so werden sie 
Logarithmen. Der Komplex ist dann in den bekannten Komplex über- 
gegangen, dessen Geraden ein festes Tetraeder nach konstantem Doppel- 
verhältnisse schneiden. Die Singularitätenfläche ist in dies Tetraeder aus- 
geartet. In der Tat sind die gemeinsamen Integralflächen zweier zu dem 
nämlichen Tetraeder gehörigen Komplexe durch eine Gleichung zwischen den 
Logarithmen der Koordinaten, nämlich durch eine lineare Gleichung zwischen 
denselben dargestellt. Es sind dies dieselben Flächen, die Lie und ich 
unter der Bezeichnung ‚Flächen W‘‘ untersucht?®) und deren Analoga in 
der Ebene wir neuerdings in einem gemeinsamen Aufsatze in diesen An- 
nalen) betrachtet haben. 





’ 


Göttingen, im November 1871. 





39) Comptes Rendus. 1870, 1. Sur une certaine classe de courbes et de sur- 
faces. [Siehe Abh. XXV dieser Ausgabe.] Die Auffassung der Flächen W als gemein- 
samerIntegralflächen zweier zu dem nämlichen Tetraeder gehöriger Komplexe gehört Lie 

4%) Über diejenigen ebenen Kurven usw. Math. Ann., Bd. 4 (1871). [Siehe 
Abh. XXVI dieser Ausgabe. ] 


X. Über einen liniengeometrischen Satz. 


[Nachrichten von der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, 1872, Nr. 9 
20. März 1872), abgedruckt in den Math. Annalen, Bd. 22 (1884). ] 


Statt die Koordinaten p,, der geraden Linie im Raume als zwei- 
gliedrige Determinanten aus den Koordinaten zweier Punkte oder Ebenen 
zu definieren, kann man sie bekanntlich auch als selbständige Veränder- 
liche auffassen, welche an eine Bedingungsgleichung zweiten Grades: 


P= PaPs4 + PısPıa + Pıs Pas — 0 

gebunden sind. Bei diesem Ausgangspunkte entsteht die Frage, ob jeder 
algebraische Linienkomplex durch eine zu P = 0 hinzutretende algebraische 
Gleichung definiert werden kann, oder ob nicht zur reinen Darstellung des 
Komplexes gelegentlich mehrere Gleichungen erforderlich sind. Ich werde 
nun im folgenden zeigen: daß allerdings zur Darstellung eines algebraischen 
Linienkomplexes immer eine zu P=0 hinzutretende Gleichung genügt. 
Die zum Beweise notwendigen, sehr einfachen Überlegungen, wie sie im 
nachstehenden auseinandergesetzt sind, können voraussichtlich überhaupt 
bei der Untersuchung analoger Fragen!) Anwendung finden und scheinen 
dadurch ein allgemeineres Interesse zu besitzen. 

Rein analytisch gefaßt, lautet der zu beweisende Satz folgendermaßen: 
„Aus einer allgemeinen?) Mannigfaltigkeit von fünf Dimensionen ist eine 
Mannigfaltigkeit von vier Dimensionen durch eine quadratische Gleichung 
mit nicht verschwindender Determinante?) 


PN 
ausgeschieden. Jede in ihr enthaltene algebraische Mannigfaltigkeit von 


drei Dimensionen kann durch eine zu P=0 hinzutretende algebraische 
Gleichung dargestellt werden. 





!) Ich erinnere hier an eine Betrachtung, welche Cayley gelegentlich anstellt 
(Quart. Journ., Bd. 3, 1860, S. 234 [Coll. Pap., Bd. IV]), und die sich darauf bezieht, 
daß nicht auf allen algebraischen Flächen unvollständige Durchschnittskurven gelegen 
sein können. 

2) Allgemein max eine Mannigfaltigkeit von n Dimensionen heißen, deren Elemente 
von unabhängig gedachten Parametern abhängt. 

3) Diese nähere Bestimmung ist zugefügt, weil sie die quadratische Gleichung, 
sofern ihre Eigenschaften hier in Betracht kommen, vollständig charakterisiert. 


154 Zur Liniengeometrie. 


Statt dieses Satzes mögen wir gleich den folgenden, ihn einschließenden 
beweisen: 

„Es sei eine allgemeine Mannigfaltigkeit von n Dimensionen gegeben, 
wo n>4, und aus ihr eine Mannigfaltigkeit von (»—1) Dimensionen 
durch eine quadratische Gleichung: 

P=0 
ausgeschieden. Jede in der letzteren enthaltene algebraische Mannigfaltigkeit 
von (n— 2) Dimensionen kann durch eine zu P = 0 hinzutretende algebra- 
ische Gleichung dargestellt werden, falls nicht alle aus den Koeffizienten 
von P zusammengesetzten fünfreihigen Unterdeterminaten verschwinden.“ 

Diese Bedingung ist in dem ursprünglich aufgestellten Satze befriedigt, 
insofern dort die (sechsreihige) Determinante von P selbst nicht ver- 
schwindet, um so weniger also ihre fünfreihigen Unterdeterminanten sämt- 
lich gleich Null sind. 

Der Beweis des allgemeinen algebraischen Satzes mag zunächst für 
n = 4 geführt werden, wo also die Bedingung die ist, daß die Determinante 
von P nicht verschwindet. Bei einem beliebigen n lassen sich hinterher 
dieselben Betrachtungen anstellen, für n—=4 haben wir nur den Vorzug, 
den Überlegungen, wie im folgenden geschehen soll, ein anschauliches 
geametrisches Bild zugrunde legen zu können. 

Das einzelne Element der gegebenen Mannigfaltigkeit von vier Dimen- 
sionen sei durch die relativen Werte der fünf homogenen Veränderlichen 
%5 Xa> Lg; I T, 
bestimmt. Man wird dieselben immer (und auf unendlich viele Weisen) 
so wählen können, daß die gegebene quadratische Gleichung P = 0 (deren 

Determinante nicht verschwindet) die folgende Gestalt annimmt: 


+: + +7 + =0, 
oder, indem man / 
u +. =7, UI mg 


2 + taltpg=0. 


setzt: 


Das Element. 
u =0, %=I, =0, ?7=I, 

welches im folgenden ausgezeichnet werden soll, ist dabei ein unter den 
übrigen der Mannigfaltigkeit P=0 angehörigen beliebig ausgewähltes. 

In der nunmehr hergestellten Gleichungsform kann die Mannigfaltig- 
keit P=0 ohne weiteres auf eine allgemeine Mannigfaltigkeit von drei 
Dimensionen eindeutig abgebildet werden, ganz dem entsprechend, wie die 
Abbildung einer Fläche zweiten Grades auf die Ebene durch Projektion 
von einem Punkte der Fläche aus erfolgt. Man setze nämlich, unter 


5 FR &; £, 


X. Liniengeometrischer Satz. 155 


die homogenen Koordinaten eines Elementes einer allgemeinen Mannig- 
faltigkeit von drei Dimensionen verstanden: 


om lee en orten = — (& F & Er &)- 

Die allgemeine Mannigfaltigkeit von drei Dimensionen mag jetzt durch 
den Punktraum vorgestellt sein, die £ mögen also homogene Punktkoor- 
dinaten bedeuten: dann ist die gegeben: Mannigfaltigkeit P—=0 durch 
die vorstehenden Gleichungen eindeutig auf den Punktraum abgebildet. 
Dabei tritt im Punktraume ein fundamentaler Kegelschnitt auf: 


dessen Punkten jedesmal oo! Elemente der gegebenen Mannigfaltigkeit P = 0 
entsprechen. Andererseits sind sämtliche übrige Punkte der Ebene 


&,=0 
einem einzigen Elemente der Mannigfaltigkeit P= 0, dem Elemente: 
u, =0, =0, ,=0, p=0 


zugeordnet, welches, in Analogie mit dem Projektionspunkte bei der Ab- 
bildung der Flächen zweiten Grades, im folgenden das Projektionselement 
heißen mag. 

Fügt man nun zu P=( eine weitere algebraische Gleichung, die vom 
m-ten Grade sein mag; 

| 2= 0 

hinzu, so erhält man im Punktraume als Bild der beiden Gleichungen ge- 
nügenden Elemente eine Fläche vom Grade 2m, welche den fundamentalen 
Kegelschnitt m-fach enthält. Von dieser Bildfläche kann sich gelegentlich, 
einfach oder mehrfach zählend, die Ebene &, = 0 absondern. Es tritt dies 
dann und nur dann ein, wenn das Projektionselement selbst der Mannig- 
faltigkeit Q = 0, als gewöhnliches oder singuläres Element, angehört. Aber 
dies können wir immer vermeiden, da es uns ja frei steht, auch wenn die 
Mannigfaltigkeit Q —= 0 bereits gegeben ist, das Projektionselement unter 
den Elementen von P= 0 zu wählen, wie wir wollen. Es bildet sich also 
allgemein die Mannigfaltigkeit: 


P=0, 2=0 


als eine Fläche vom 2m-ten Grade ab, welche den fundamentalen Kegel- 
schnitt zur m-fachen Kurve hat, und die Ebene desselben in nichi dem 
Kegelschnitte angehörigen Punkten nicht trifft. 

Es ıst aber auch umgekehrt ersichtlich, daß jede Fläche 2 m-ten 
Grades, welche diesen Bedingungen genügt, den vollständigen Durchschnitt 
von P=0 mit der durch eine hinzutretende Gleichung Q — 0 vorgestellten 
Mannigfaltigkeit repräsentiert. Denn die Gleichung einer solchen Fläche 


156 | Zur Liniengeometrie. 


muß in jedem Gliede die Ausdrücke &, und (& + &, +£)) zusammen in 
der m-ten Dimension enthalten. Das einzelne Glied hat also, unter u 
eine Zahl > 0 und <m verstanden, die folgende Form 


(At rt -p(E,, ee; Es 2% 


wo @ eine homogene Funktion vom w-ten Grade der beigefügten Argu- 
mente ist. Aber das Produkt: 


HEART &g> 69» 2 
ist ersichtlich nichts anderes, als eine homogene Funktion u-ten Grades 
der Argumente 


Mm— u 


Eu Sadır Seda> ua 


Jedes Glied der gegebenen Flächengleichung und also die Flächengleichung 
selbst ist mithin eine homogene Funktion m-ten Grades der fünf Argu- 
mente: 


ee letter: 
Man hat jetzt nur statt dieser Argumente bez. 


%; Zu I: Ps 74 
zu setzen, um die Gleichung m-ten Grades 
2=0 

derjenigen Mannigfaltigkeit zu haben, welche mit P=0 zusammen als 
vollständigen Durchschnitt eine Mannigfaltigkeit bestimmt, deren Bild im 
Punktraume die ursprünglich gegebene Fläche ist, womit denn die Be- 
hauptung, daß die Fläche das Bild eines vollständigen Durchschnittes sei, 
bewiesen ist. 

Eine beliebige in P=0 enthaltene algebraische Mannigfaltigkeit von 
zwei Dimensionen, wird sich nun aber, — falls wir nicht, was wir immer 
vermeiden können, das Projektionselement unter ihren Elementen wählen — 
nicht anders als eine solche Fläche abbilden können, die den vorgenannten 
Bedingungen genügt. Denn die Bildfläche darf, der Annahme über die 
Lage des Projektionselementes entsprechend, die Ebene &, —=0 in keinen 
anderen Punkten, als in den Punkten des fundamentalen Kegelschnittes 
treffen, und das ist, weil der Kegelschnitt ein irreduzibeles Gebilde ist, 
nicht anders möglich, als wenn sie von gerader Ordnung = 2m ist, und 
den Kegelschnitt als m-fache Kurve enthält*). 





4) [Für die genaue Durchführung dieses Schlusses ist esnotwendigzu berücksichtigen, 
daß die Bildfläche mit der Ebene &,= O0 auch keine Berührung haben kann, weil die ihr 
im R, entsprechende Mannigfaltigkeit sonst durch den benutzten Projektionspunkt 
hindurchgehen würde. Man überzeugt sich hiervon in einfachster Weise durch Betrach- 
tung der ebenen Schnitte mit den durch den Projektionspunkt hindurchgehenden 
Ebenen, wenn man die bekannten Verhältnisse bei der stereographischen Projektion 
einer Fläche zweiten Grades heranzieht. K.) 


X. Liniengeometrischer Satz. 157 


Hiermit ist der Beweis unseres Satzes für n—4 geführt. Seine 
wesentlichen Momente mögen hier noch ausdrücklich zusammengefaßt 
werden, es sind die folgenden: 


1. daß im Punktraume eine irreduzibele Fundamentalkurve auftritt; 


2. daß eine durch die Fundamentalkurve gelegte Fläche (die Ebene 
&,=0) ein einzelnes, beliebig anzunehmendes Element des darzustellenden 
Gebildes repräsentiert; 


3. daß es nur auf das Verhalten der Bildfläche zum Fundamental- 
kegelschnitte ankommt, ob eine P= (0 angehörige Mannigfaltigkeit von 
zwei Dimensionen als vollständiger Durchschnitt gefaßt werden kann. — 


Unser Schluß würde dagegen sofort ungültig werden, wenn der Funda- 
mentalkegelschnitt reduzibel wäre, also in ein Geradenpaar zerfiele. Denn 
dann kann man Flächen von der Ordnung (m’ -+- m”) konstruieren, welche 
die Geraden bez. m’- und m”-fach enthalten. Dieselben treffen, wie ver- 
langt, die Ebene des Kegelschnittes nur in Punkten des Kegelschnittes, aber 
vollständige Schnitte würden sie erst dann vorstellen, wenn m’ = m” wäre. 

Dieses Zerfallen des fundamentalen Kegelschnittes tritt nun gerade 
dann ein, wenn die Determinante der Form P verschwindet, und mußte 
deshalb beim Beweise unseres Satzes diese Möglichkeit ausdrücklich ausge- 
schlossen werden. In der Tat, hat P eine verschwindende Determinante 
(ohne daß zugleich alle Unterdeterminanten verschwinden), so kann man 
ihm die Form geben: 

0=31+%+29 
die Abpildungsfunktionen werden: 


or, me me, ee 0 — (& au 5)» 
und der fundamentale Kegelschnitt wird: 

8-0, H+5=0, 
ist also in ein Linienpaar: 

,=0, ri, =0, 

0, -r,=0 
zerfallen. — 

Auf ganz ähnliche Weise, wie nunmehr der Beweis unseres Satzes für 

n —4 geführt und das Nichtverschwinden der Determinante als notwendige 
und hinreichende Bedingung erkannt wurde, erledigt sich die Frage für 
ein beliebiges n. Ist erstlich n—= 3, haben wir also eine Fläche zweiten 
Grades, so entsteht bei der Abbildung derselben auf die allgemeine Mannig- 
faltigkeit der nächst niederen Dimension ohnehin ein reduzibeles Funda- 
mentalgebilde, auch wenn die Determinante der Fläche nicht verschwindet, 
nämlich ein Punktepaar. Auf Flächen zweiten Grades findet unser Satz 


158 Zur Liniengeometrie. 


deshalb keine Anwendung°). Dagegen gilt der Satz allemal, wenn bei der 
Abbildung der Mannigfaltigkeit P = 0 auf die allgemeine Mannigfaltigkeit 
von (n—1) Dimensionen — eine Abbildung, die sich immer in gleicher 
Weise gestaltet — ein irreduzibeles Fundamentalgebilde auftritt. Hierzu 
ist das Nichtverschwinden der aus den Koeffizienten von P gebildeten 
fünfreihigen Determinanten die notwendige und hinreichende Bedingung. 
Als Fundamentalgebilde tritt nämlich eine Mannigfaltigkeit von (n — 3) 
Dimensionen aıf, welche aus einer allgemeinen Mannigfaltigkeit von (n — 2) 
Dimensionen durch eine quadratische Gleichung ausgeschieden wird. Soll 
das Fundamentalgebilde zerfallen, so ist dazu das Verschwinden aller aus 
den Koeffizienten der Gleichung gebildeter dreireihiger Unterdeterminanten 
die Bedingung; und dies Verschwinden tritt dann und nur dann ein, wenn 
ein Gleiches bei den fünfreihigen Unterdeterminanten der ursprünglichen 
quadratischen Gleichung P=0 der Fall war. Hiermit ist denn unser 
allgemeiner Satz für ein beliebiges n, insbesondere das in ihm enthaltene 
liniengeometrische T’heorem, bewiesen. 


Ich will hier von der auseinandergesetzten Theorie noch zwei weitere 
geometrische Anwendungen geben. Die erste bezieht sich wieder auf Linien- 
geometrie. Man verbinde nämlich mit der quadratischen Gleichung, der 
die Linienkoordinaten zu genügen haben: 


P=0, 


eine lineare. So hat man einen linearen Komplex, den man auch in der 
folgenden Weise bestimmen kann. Aus der linearen Gleichung nehme mar 
de- Wert einer der Veränderlichen, ausgedrückt in den fünf anderen, und 
substituiere ihn in P = 0, wodurch eine neue quadratische Gleichung P’ = 0 
entsteht. Der lineare Komplex erscheint dann als durch diese Gleichung 
aus einer allgemeinen Mannigfaltigkeit von vier Dimensionen ausgeschieden. 
Die Determinante von P’ verschwindet nicht, wenn der lineare Komplex 
ein allgemeiner ist; sie verschwindet dann und nur dann, wenn er ein 
spezieller wird®). Wir erhalten also den folgenden Satz: 





5) Ebensowenig gilt der Satz für Kegelschnitte, wie ohne weiteres ersichtlich. 

6) Es braucht kaum darauf hingewiesen zu werden, daß die eben vorgetragene 
Abbildung einer Mannigfaltigkeit P=0 von drei Dimensionen auf den Punktraum 
mit der Abbildung des linearen Komplexes auf den Punktraum gleichbedeutend ist, 
welche Herr Nöther in den Göttinger Nachrichten, 1869. Nr. 15, gegeben und die 
Herr Lie seinen metrisch-projektivischen Untersuchungen zugrunde gelegt hat. Ich 
möchte an dieser Stelle ausdrücklich auf die Abbildung des speziellen linearen Kom- 
plexes hinweisen, welche die Theorie der Flächen mit einer mehrfachen Geraden mit 
derjenigen der Flächen mit zwei sich schneidenden mehrfachen Geraden in eine merk- 
würdige Verbindung setzt, durch welche z. B. die Zeuthenschen Untersuchungen 
über die Flächen mit einer mehrfachen Geraden [Math. Ann., Bd. 4 (1871)] für die letzt- 
genannten Flächen verwertet werden können. 


X. Liniengeometrischer Satz. 159 


Kongruenzen, welche einem allgemeinen linearen Komplexe ange- 
hören, können als vollständiger Durchschnitt desselben mit einem anderen 
Komplexe dargestellt werden. 

Für den speziellen linearen Komplex gilt aber der Satz nicht mehr. 
Ebensowenig wird der analoge Satz gelten, wenn wir zu der Gleichung 
des linearen Komplexes eine weitere lineare Gleichung hinzufügen und die 
durch beide dargestellte lineare Kongruenz ins Auge fassen. Auf. einer 
linearen Kongruenz gibt es in der Tat Linienflächen, welche sich nicht als 
vollständiger Durchschnitt der Kongruenz mit einem hinzutretenden Kom- 
plex darstellen lassen. Es sind dies diejenigen, welche die Leitlinien der 
Kongruenz ungleich oft enthalten. 

Eine zweite geometrische Anwendung bezieht sich auf die Darstellung 
des Raumpunktes durch die relativen Werte seiner (mit gewissen Kon- 
stanten multiplizierten) Potenzen mit Bezug auf fünf Kugeln, welche Herr Lie 
in Anknüpfung an die Abbildung des linearen Komplexes Göttinger Nach- 
richten, 187I, Nr. 7, 8. 208 gegeben hat, während sie Herr Darboux be- 
reits früher (1868) in einer der Pariser Akademie eingereichten Abhandlung 
aufgestellt hatte, die aber noch nicht veröffentlicht ist (vgl. Darboux in 
den Comptes Rendus, 1871, September). Der Punkt wird durch fünf 
homogene Koordinaten dargestellt, welche, einzeln gleich Null gesetzt, fünf 
linear unabhängige Kugeln vorstellen, und diese Koordinaten sind an eine 
Bedingungsgleichung zweiten Grades mit nicht verschwindender Determi- 
nante geknüpft. Der Punktraum ist hiernach das Bild einer Mannigfaltig- 
keit, die aus einer allgemeinen Mannigfaltigkeit von vier Dimensionen 
durch diese quadratische Gleichung abgeschieden wird, es liegen also genau 
die Verhältnisse vor, wie wir sie eben bei dem Beweise des allgemeinen 
Satzes für n— 4 voraussetzten. Dem Projektionselemente entspricht die 
unendlich ferne Ebene des Punktraumes, der in ihr enthaltene imaginäre 
Kugelkreis ist: der fundamentale Kegelschnitt. Einer Verlegung des Pro- 
jektionselementes entspricht, wie man leicht sieht, eine Transformation des 
Punktraums durch reziproke Radien. Hier erhalten wir also: Jede alge- 
braische Fläche kann vermöge Umformung durch reziproke Radien in eine 
solche übergeführt werden, die durch eine Gleichung zwischen den in Rede 
stehenden Koordinaten rein dargestellt wird. Dagegen würde der ent- 
sprechende Satz bei einer analogen Koordinatenbestimmung in der Ebene 
nicht mehr richtig sein’). 





”).[Man vergleiche die Arbeiten.von Lie und mir in Math. Ann., Bd. 5 (s. Abh. VIII, 
1X dieser Ausgabe), sowie Herrn Darboux’ im Jahre 1873 erschienenes Buch: „Sur 
une certaine famille de courbes et de surfaces“ (Paris, Gauthier-Villars).) 


XI. Über die Plückersche Komplexfläche. 
[Math. Annalen, Bd. 7 (1874).] 


Aus der Diskussion der Linienkomplexe zweiten Grades, wie sie Herr 
Weiler in dem vorstehenden Aufsatze!) durchgeführt hat, geht hervor, daß 
die Plückersche Komplexfläche gleich der allgemeineren Kummerschen 
Fläche für unendlich viele Komplexe zweiten Grades aie singuläre Fläche’) 
bildet, und daß dieselbe also mit ganz ähnlichen Mitteln untersucht werden 
kann, wie dies der Verf. früher [Math. Ann., Bd. 2, S. 198ff. (siehe Abh. II 
dieser Ausgabe)] bei der Kummerschen Fläche getan hatte. Das System 
der sechs paarweise in Involution liegenden linearen Komplexe, welches 
bei der Kummerschen Fläche eine fundamentale Rolle spielte, ist bei 
der Komplexfläche nur in dem Sinne ausgeartet, daß zwei dieser Komplexe, 
indem sie zusammenrückten, speziell wurden und in die Doppellinie der 
Fläche übergingen. Mit Bezug auf die vier übrigen linearen Komplexe 
bleiben durchaus die Schlußweisen bestehen, welche bei der Kummerschen 
Fläche ihre Anwendung fanden, und man hat also insbesondere den Satz: 

Eine Plückersche Komplexfläche ist mit Bezug auf vier paarweise 
in Involution liegende lineare Komplexe ihre eigene reziproke Polare. 

Aus diesem Satze folgt ohne weiteres, daß das Doppelverhältnis der 
vier singulären Punkte der Komplexfläche gleich dem Doppelverhältnisse 
ihrer vier Ebenen sei. Indem man sodann die Komplexfläche nicht mehr 
als singuläre Fläche eines besonderen Komplexes zweiten Grades betrachtet, 
sondern in der Art, wie sie bei Plücker eingeführt wird, d. h. als Brenn- 
fläche derjenigen Linien eines Komplexes zweiten Grades, welche eine feste 
Gerade schneiden, erhält man: 

Die vier Punkte, in denen eine beliebige Gerade die singuläre Fläche 
eines Komplexes zweiten Grades trifft, und die vier Ebenen, die man 
durch dieselbe Gerade als Taangentenebenen der singulären Fläche legen 
kann, haben dasselbe Doppelverhältnis. 





!) [A. Weiler, Über die verschiedenen Gattungen der Komplexe zweiten Grades, 
Math. Ann., Bd.7 (1874).] 

?) Ich ziehe diesen von Herrn Voß vorgeschlagenen Ausdruck (Göttinger Nach- 
richten, 1873, S. 546) dem sonst gebräuchlichen „Singularitätenfläche“ vor. 


XI. Plückersche Komplexfläche. 161 


Diesen Satz habe ich für die singuläre Fläche des allgemeinen Kom- 
plexes vom zweiten Grade, d.h. für die Kummersche Fläche, bereits in 
Math. Ann., Bd. 2, S. 215 (siehe Abh. II dieser Ausgabe, S. 70) mitgeteilt; 
aber der Zusammenhang, in welchem er dort ausgesprochen ist, kann nicht 
als Beweis desselben gelten. 

Um so lieber will ich hier eine einfache Betrachtung mitteilen, die in 
Anlehnung an die von Plücker begonnene Untersuchungsweise der Komplex- 
flächen (vgl. dessen Neue Geometrie, S. 205 ff.) unmittelbar die vier zur 
Fläche gehörigen linearen Komplexe nachweist und aus ihrer Existenz die 
Gleichheit der fraglichen Doppelverhältnisse, sowie weiterhin die Eigen- 
schaft der Fläche erschließt, ihre eigene reziproke Polare zu sein. Aus der 
Gleichheit der beiden Doppelverhältnisse wird man weiterhin, was bei 
Plücker in minder übersichtlicher Weise bewiesen wird, den Satz von der 
Identität der von den singulären Punkten gebildeten und von den singu- 
lären Ebenen umhüllten Fläche gewinnen. Ist nämlich das Doppelverhältnis 
der vier Punkte, in welchen eine beliebige Gerade die erste Fläche trifft, 
immer gleich dem Doppelverhältnisse der vier Ebenen, welche man durch 
die Gerade hindurch an die zweite Fläche legen kann, so sind die Tan- 
genten der ersten Fläche immer auch Tangenten der zweiten Fläche, d.h. 
die beiden Flächen sind identisch?), wie zu beweisen. 

Für die Singularitäten der Komplexfläche, wie sie Plücker nachweist, 
sollen im nachstehenden, soweit sie in Betracht kommen, die folgenden 
Bezeichnungen‘) angewandt werden. Die vier singulären Ebenen der Fläche 
mögen E,, E,, E,, E, heißen. Sie enthalten je ein Paar von Doppel- 
punkten der Fläche: 1,1’; 2,2’; 3,3’; 4,4’. Die in ihnen verlaufenden 
Verbindungslinien der Doppelpunktpaare, die singulären Strahlen der Fläche, 
seien 8,,8,,8,,8,. Dieselben schneiden die Doppellinie und die Polare 
der Fläche bez. in den Punkten 9, ?,, ?,, ?, und q,, ,, 95, Q,, die jedesmal 
zu den zwei auf dem singulären Strahle gelegenen Doppelpunkten harmonisch 
sind. Weiter sollen die vier singulären Punkte derFlächeP, ,P,, P,, P, genannt 
sein. Von ihnen gehen die Paare Doppelebenen /, I’; II, II’; III, IIT’; 
IV,IV’ aus. Die singulären Achsen endlich, in welchen sich die zusammen- 
gehörigen Doppelebenen schneiden, seien durch A,, A,, 4,, A, bezeichnet. 

Die Doppelebenen der Fläche enthalten (vgl. Plücker) jedesmal vier 
Doppelpunkte, und durch jeden Doppelpunkt gehen vier Doppelebenen hin- 





®) Der Nachweis der Identität der beiden Flächen ist durch Herrn Pasch in 
seiner Habilitationsschrift (Gießen 1870) auf allgemeinere und fundamentalere Be- 
trachtungen betr. Brennflächen von Kongruenzen zurückgeführt worden. Der im Texte 
angegebene Beweis scheint aber immer dadurch interessant, daß er bis zum Schlusse 
die Vorstellung des Unendlich-Kleinen vermeidet. 

*) Vgl. Clebschs Bericht über Plückers Neue Geometrie in den Göttinger 
Anzeigen, 1869. 


Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 11 


162 Zur Liniengeometrie. 


durch. Man kann die festgesetzten Bezeichnungen insbesondere so wählen, 
daß dieses Verhältnis in dem folgenden Schema seine Darstellung findet: 
































Ebenen Punkte Ebenen Punkte 
I 1394 F ra: 4 
II I 083 IE. 234 

III a a ir | 
10 Er 














Ich behaupte nun zunächst, daß es möglich ist, die acht Doppelpunkte 
den acht Doppelebenen in den folgenden vier Weisen durch lineare Kom- 
plexe zuzuordnen. Es entsprechen den Punkten: 


’ 


+; r. 2, g, %. 4, L' 
bezüglich die Ebenen: 


BR. DI, Du 
N 1: I T 


Gesetzt, es sei dieses bewiesen, dann folgt unmittelbar, daß die vier be- 
treffenden linearen Komplexe paarweise in Involution liegen. Denn die 
Zuordnungen, wie sie durch das vorstehende Schema gegeben sind, haben 
ersichtlich die Eigenschaft, paarweise vertauschbar zu sein, und die Ver- 
tauschbarkeit der mit ihnen verknüpften Zuordnungen ist für lineare Kom- 
plexe das Kennzeichen der involutorischen Lage [vgl. Math. Ann., Bd. 4, 
$. 414. (Siehe Abh. XIV dieser Ausgabe, 8. 237)]. 

Um aber den nötigen Beweis zu führen, konstruiere ich vier lineare 
Komplexe aus je fünf denselben angehörigen Linien und zeige sodann, daß 
sie die voraufgeführten Zuordnungen zur Folge haben. Es soll dies der 
Kürze wegen nur mit Bezug auf die erste Zuordnung auseinandergesetzt 
werden. Man konstruiere nämlich den linearen Komplex, der die folgenden 
fünf Geraden enthält: 

die Doppellinie der Fläche, 

die Polare, 

die Verbindungsgeraden der Doppelpunkte 2,3; 3, 4: 4, 2. 

Man betrachte sodann etwa die singulären Strahlen 8, und 8,. Die Linien 
des linearen Komplexes, welche beide schneiden, müssen eine Regelschar 
bilden, und vermöge derselben werden die beiden Punktreihen S, und 8, 
projektiv aufeinander bezogen sein. Aber von dieser Regelschar sind 
drei Erzeugende bekannt: die Doppellinie, die Polare und die Gerade 2, 3’. 
Sie ordnen den Punkten p,, g,, 2 von 8, die Punkte 9,, 95; 3° von 8, 


XI. Plückersche Komplexfläche. 163 


' Da aber p,, q, auf 8, zu 2, 2 und p,, q, auf 8, zu 3, 3, oder, 
was dasselbe ist, zu 3, 3 ER sind, so werden auch 2, 3 durch 
die Regelschar zugeordnet werden. Dem linearen Komplexe yehört also 
auch die Gerade 2, 3 an. Dasselbe beweist: man in ähnlicher Weise von 
den Geraden 3' ‚4; 4 2: 

Unter den geraden Linien, die durch den Punkt 2 hindurchgehen, 
kennt man jetzt zwei als dem linearen Komplexe angehörig, nämlich 2, 3’ 
und 2, 4. Dem Punkte 2 ist also im Komplexe die Ebene 2,3',4', d.h. 
nach der oben festgesetzten Bezeichnung die Ebene // zugeordnet. Die- 
selbe geht außer durch 2, 3, 4 noch durch 1 hindurch; die Gerade 1, 2 
gehört also ebenfalls dem Komplexe an. In gleicher Weise zeigt man, 
daß den Punkten 3 und 4 die Ebenen I/II und IV entsprechen und also 
auch 1, 3; 1, 4 dem Komplexe angehören. Hieraus denn endlich folgt, 
daß dem Punkte 1 die Ebene I entspricht. Die Zuordnung von 1,2',3', 4’ 
bez. zu /, II, III,IV ergibt sich auf dieselbe Weise, und es ist somit 
der geforderte Beweis erbracht. 

Durch denselben linearen Komplex werden einander zugeordnet, wie 
nicht näher ausgeführt zu werden braucht: die vier singulären Ebenen E,, 
E,, E,, E, bez. den vier singulären Punkten P,, P,, P,, P,; die vier 
singulären Strahlen $,, $,, 8,, S, bez. den vier singulären Achsen A,, 
A,, A,, A, usw. Wir haben also: 


Das Singularitätensystem ist in. bezug auf den konstruverten line- 
aren Komplex seine eigene konjugierte Polare, 


was die Gleichheit .der von den vier singulären Punkten und den vier 
singulären Ebenen gebildeten Doppelverhältnisse als einzelne Behauptung 
einschließt. Weiter aber folgt: ' 


Die Komplexfläche selbst ist in bezug auf den Komplex ihre 
eigene konjugierte Polare. 
Denn die Polarfläche derselben ist wieder eine Fläche vierter Ordnung mit 
derselben Doppellinie, denselben singulären Strahlen, denselben Berührungs- 
kegelschnitten in den Doppelebenen, und durch diese Elemente ist die 
Fläche als Fläche vierter Ordnung mehr als vollständig bestimmt. 
Hiermit sind die zu Anfang voraufgeschickten Sätze und also auch 
die aus ihnen gezogenen Folgerungen bewiesen. 


Erlangen, Oktober 1873. 


11? 


XII. Über Konfigurationen, welche der Kummerschen 
Fläche zugleich eingeschrieben und umgeschrieben sind. 


[Math. Annalen, .Bd. 27 (1885).] 





Eine Reihe von Vorträgen, welche ich in dem nun vergangenen 
Sommer in meinem Seminare gehalten habe, gaben mir die Veranlassung, 
die interessanten Sätze, welche Herr Rohn betreffs des in der Überschrift 
genannten Gegenstandes von der Theorie der hyperelliptischen Funktionen 
ausgehend in seiner Habilitationsschrift!) mehr andeutet als entwickelt, im 
Zusammenhange darzulegen und nach einigen Richtungen weiter zu führen. 
Indem ich im folgenden den wesentlichen Inhalt meiner Betrachtungen 
reproduziere, hoffe ıch zu erreichen, daß der Gegenstand allseitig zugänglich 
wird und von anderer Seite vielleicht bald weiter gefördert werden kann. 


I. Elementares über Liniengeometrie. 


81, 
Vorbemerkungen. 


Die eigentliche Grundlage für die Betrachtung der Kummerschen 
Fläche bildet anerkanntermaßen die Untersuchung der Linienkomplexe 
zweiten Grades, deren Singularitätenfläche die Kummersche Fläche ist. 
Ich werde ım folgenden durchweg, wie dies auch Herr Rohn tut, von dem 
kanonischen Koordinatensysteme ausgehen, das ich im zweiten Bande der 
Math. Annalen?) einführte und vermöge dessen die Raumgerade homogene 
Koordinaten &,,%,,..., 2, erhält, welche an die Bedingung: 


(1) PN 


gebunden sind, während gleichzeitig die unendlich vielen in Rede stehenden 
Komplexe zweiten Grades durch folgende Gleichung gegeben sind: 


(2) Se 


FE 





*) Math. Ann., Bd. 15: Transformation der hyperelliptischen Funktionen p=2 
und ihre Bedeutung für die Kummersche Fläche (vgl. insbesondere $. 348—350 
daselbst). [An die in der Einleitung genannten Vorträge schließt sich hinwiederum 
die Leipziger Dissertation von Reichardt (Halle, 1886), welche die Anwendung der 
hyperelliptischen Funktionen auf die Kummersche Fläche in ausführlicher Dar- 
stellung zusammenfassend behandelt. Für die spätere Entwicklung vgl. den Enzy- 
klopädieartikel von Krazer und Wirtinger.] 

®) [Vgl. Abh. II dieser Ausgabe.) 


XII. Über Konfigurationen der Kummerschen Fläche. 165 


unter A einen Parameter verstanden. Übrigens setze ich im folgenden die 
Theorie dieser Komplexe, die jetzt ja verschiedentlich bearbeitet und zur 
Darstellung gebracht ist, im wesentlichen als bekannt voraus. Es soll sich 
zunächst darum handeln, die l. c. besprochenen Konfigurationen, soweit 
dies unmittelbar gelingt, in elementarer Weise, d.h. unter Beiseitelassung 
der hyperelliptischen Funktionen, zu behandeln. Wenn wir dann weiter 
unten, im zweiten Teile der gegenwärtigen Darstellung, die letzteren in 
Betracht ziehen und, auf ihre Kenntnis gestützt, im dritten Teile auf die 
Konfigurationen zurückkommen, so wird der große Vorteil, den die Be- 
nutzung transzendenter Funktionen hier bietet, um so deutlicher hervor- 
treten. Derselbe zeigt sich zumal darin, daß wir alle Konstruktionen sofort 
verallgemeinern und insbesondere eine neue Klasse von Konfigurationen 
konstruieren können, worauf gleich hier aufmerksam gemacht sei. 


$ 2. 


Konjugierte Punkte und Ebenen der Kummerschen Fläche. 


Der Hauptsatz, den ich nunmehr der speziellen Betrachtung voran- 
stellen will, ist folgender: 

Die vier Punkte, in denen eine beliebige Raumgerade die Kumm er- 
sche Fläche schneidet, und die vier Tangentialebenen, welche man durch 
dieselbe Raumgerade an die Fläche legen kann, sind in der Art auf- 
einander bezogen, daß jeder Zerlegung der vier Punkte in zwei Paare 
eine Zerlegung der vier Ebenen in zwei Paare rational entspricht. 

Dieser Satz ergibt sich, beiläufig bemerkt, als Korollar des anderen, 
mehrfach behandelten, den ich in Bd. 2 der Math. Ann. (l. ec.) mit- 
teilte, demzufolge die vier Punkte und die vier Ebenen in richtiger Reihen- 
folge zusammen dasselbe Doppelverhältnis darbieten®). In der Tat sind 
vier Elemente eines einstufigen Gebildes 


TRIER & 
172,9, 4 
eines zweiten einstufigen Gebildes projektiv, so sind sie es nicht minder zu 
folgenden Elementenreihen: 


vier Elementen 


Se OR Dh 
8:4: 45-2; 
U Te | 


’ 


, 


’ 





°®) Vgl. meine Bemerkungen: in Bd. 7 der Math. Annalen [vgl. Abh. XI dieser 
Ausgabe] oder auch die Entwicklungen von Voß im 9. Bande daselbst, S. 66. Übrigens 
folgt der Satz auch sofort aus der allgemeinen Theorie der zwei-zweideutigen Ver- 
wandtschaft zweier Grundgebilde erster Stufe. Man betrachte die Raumgerade als 
Leitlinie einer gewöhnlichen Komplexfläche und beachte, daß dann ihre Punkte und 
Ebenen zwei-zweideutig zusammen geordnet sind, usw. 


166 Zur Liniengeometrie. 


und es entsprechen sich also die Zerfällungen: 


(7,27 (202 -IV wind: (1,20) 8, 
(3) (Z, IH) (IV; I) und (1, 3) (45'2); 

(7, IV) (II 21T) und: (1; 4).(2, 3) 
in eindeutiger Weise. 

Es sollen jetzt die römischen Ziffern die Ebenen und die arabischen 
Ziffern die Punkte der Kummerschen Fläche bedeuten, welche unserer 
Raumgeraden angehören. Ich werde dann solche Ebenenpaare und Punkte- 
paare, welche in einer der Zerfällungen (3) nebeneinander stehen, z. B. 


(1,22) : ad. (1; 2). 


in bezug auf die Kummersche Fläche konjugiert nennen. Zu jeder 
Raumgeraden gehören offenbar zwölf konjugierte Ebenen- und Punktepaare. 
Kennen wir von den Ebenen der Kummerschen Fläche, die durch eine 
Raumgerade gehen, zwei und außerdem einen Schnittpunkt der Raum- 
geraden mit der Fläche, so können wir denjenigen anderen Schnittpunkt, 
der mit den beiden Ebenen und dem vorgegebenen Punkte konjugiert ist, 
rational berechnen. Man beachte, daß man diesen Satz auch umkehren 
kann. Gelingt es, durch rationale Prozesse einen weiteren Schnittpunkt 
unserer Raumgeraden mit der Kummerschen Fläche zu finden, so wird 
dies eben derjenige Schnittpunkt sein, der mit den anderen Elementen 
konjugiert ist. 

Ich stelle jetzt die Frage, wie der Begriff konjugierter Ebenen und 
Punkte hervortritt, wenn wir unsere Raumgerade mit einem Komplexe 
der Schar (2) kombinieren und die Komplexfläche konstruieren, deren Leit- 
linie sie ist. | 

Es soll zunächst einer derjenigen vier Komplexe der Schar (2) her- 
ausgegriffen werden, denen unsere Raumgerade als Linie angehört. Ver- 
möge eines solchen Komplexes werden die Ebenen und Punkte unserer 
Raumgeraden in bekannter Weise eindeutig zusammengeordnet, indem jede 
Ebene einen Komplexkegelschnitt trägt, der die Gerade in einem be- 
stimmten Punkte (den wir dann der Ebene entsprechend setzen) berührt. 
Für die Ebenen /, II, III, IV, die wir jetzt die singulären Ebenen nennen, 
gilt insbesondere folgendes: Der in der singulären Ebene enthaltene Kom- 
plexkegelschnitt hat sich in zwei Strahlbüschel aufgelöst, deren eines seinen 
Mittelpunkt auf unserer Raumgeraden hat. Dieser Mittelpunkt, welcher 
der singulären Ebene in dem hier in Betracht kommenden Sinne entspricht, 
ist gleichzeitig einer der vier auf unserer Raumgeraden gelegenen singu- 
lären Punkte, die wir schon mit 1,2,3,4 bezeichneten. — Es sind hier 
betrefis der Zusammengehörigkeit der singulären Ebenen und Punkte dem 
projektiven Charakter der Zuordnung und der Vierzahl der in Betracht 


XI. Über Konfigurationen der Kummerschen Fläche. ‚167 


kommenden Komplexe entsprechend genau jene vier Anordnungen möglich, 
die wir soeben aufgezählt haben. Daher folgt zunächst: 

(A) Beliebige zwei der singulären Ebenen und diejenigen zwei der 
singulären Punkte, die ihnen in einem der vier Komplexe entsprechen, 
sind jedesmal kon’ugiert. 

Wir können auch s0 sagen: 

(A’) Sind zwei der Ebenen und zwei der Punkte konjugiert, so gibt 
es unter den vier Komplexen unserer Schar, denen die Raumgerade an- 
gehört, immer zwei, welche den beiden Ebenen, in der einen oder anderen 
Reihenfolge, die beiden Punkte entsprechen lassen; 
oder auch: 

(A”) Befindet sich unter den vier Komplexen einer, der zweien der 
Ebenen zwei bestimmte unter den Punkten entsprechen läßt, so gibt es 
noch einen zweiten Komplex, der dies ebenfalls tut, nur daß die Reihen- 
folge, in der die Punkte den Ebenen zugeordnet werden, bei ihm um- 
gekehrt erscheint. — 

Es sei jetzt A=a ein Komplex unserer Schar, dem unsere Raum- 
gerade nicht angehört. Die Komplexkegelschnitte, welche A=a in den 
singulären Ebenen /, II, III, IV entsprechen, sind wieder je in zwei Strahl- 
büschel zerfallen; ich will die Mittelpunkte dieser Büschel (von denen jetzt 
keiner auf der anfänglichen Raumgeraden liegt) folgendermaßen bezeichnen: 
(4a) Fr: 2.0: I II: WW. 

Wir betrachten andererseits die Komplexkegel, die von den singu- 
lären Punkten 1,2,3,4 auslaufen. Sie sind ebenfalls je in zwei Büschel 
zerfallen, deren Ebenen wir beziehungsweise nach folgendem Schema be- 
nennen mögen: 

(4b) I a 
keine dieser Ebenen geht durch unsere Raumgerade hindurch. 

Nun ist die Beziehung dieser Ebenen zu den Punkten (4a) bekannt- 
lich die, daß jede der Ebenen vier der Punkte trägt (immer einen aus jeder 
singulären Ebene), während zugleich die beiden Ebenen eines Paares zu- 


sammengenommen alle acht Punkte enthalten. 
Wir betrachten jetzt die Punkte: 


IM vII.IE, 
die in den singulären Ebenen /, II enthalten sind. Dieselben mögen sich 
auf die beiden von 1 auslaufenden Ebenen: 


„ 


| 


in der Weise verteilen, daß 1’ durch /, II’ und also 1” durch 7”, II" 
hindurchgeht (was keine Partikularisation ist, sondern immer durch Wahl 


168 Zur Liniengeometrie. 


der Bezeichnung erreicht werden kann). Nun mögen 1,2, wie wir vorhin 
schon annahmen, zu /, II konjugiert sein; wir fragen, wie sich unter dieser 
Voraussetzung die Punkte I = I = rn ” auf die beiden von 2 auslaufen- 
den Ebenen (also auf 2’, 2”) verteilen. Ich behaupte, daß die Verteilung 
genau so geschehen muß, wie bei den Ebenen 1', 1, also in der Art, 
daß I’, II’in einer der beiden Ebenen liegen (die wir fernerhin 2’ nennen 
wollen), / = ” in der anderen der beiden Ebenen (die dann u genannt 
werden muß). Es gibt nämlich überhaupt nur zwei Weisen, wie sich die 
Punkte I’, I",II', II" auf die beiden von einem der singulären Punkte 
1,2,3,4 auslaufenden Ebenen verteilen können: entweder gehören I SR 
und andererseits I”, II" zusammen, oder I’, II" und I',II‘. Böten nun 
die von 2 auslaufenden Ebenen nicht dieselbe Verteilungsweise dar, wie die 
von 1 auslaufenden, so müßten es die Ebenen tun, die von 3 oder von 4 
ausgehen. Dann aber gehörte 3 oder 4 zu 1 und den beiden Ebenen 7, // 
eindeutig hinzu, wäre also aus /, ZI und 1 rational zu berechnen, während 
dies nach Annahme doch nur bei 2 zutreffen kann. Daher usw. — Na- 
türlich könnte man den hiermit gegebenen indirekten Beweis sofort durch 
einen direkten ersetzen, wenn man genauer auf die Gruppierung der acht 
Punkte und acht Ebenen eingehen wollte, wie ich dies beispielsweise in 
Bd. 7 der Math. Annalen‘) (1. c.) getan habe. Wichtiger ist für das Folgende, 
daß wir unseren Satz, wie sofort ersichtlich, umkehren können. Wir haben: 

(B) Wenn die Punkte I ', I", II‘, II" irgendzweier singulärer 
Ebenen I, II sich auf die von zwei singulären Punkten 1,2 der Durch- 
schnittskante auslaufenden Ebenen ai F. z, 2" in gleicher Weise ver- 
teilen, so sind I, II,1,2 in bezug auf die Kummersche Fläche kon- 
jugiert. 

83. 
Ausgezeichnete Tetraeder. 

Wir wollen jetzt das Tetraeder genauer betrachten, welches in 1,2 
und in zweien der in /,/I von uns zusammengeordneten Punkte, also etwa 
inI', II‘, seine Eckpunkte hat, und dessen Seitenebenen durch I, II, be- 
ziehungsweise 1’, 2’ vorgestellt sein werden, wobei den Punkten 

Da4,.Ir 
- der Reihe nach die folgenden Ebenen 

2, 1,14 
gegenüberliegen. Der Komplex A==«a enthält von den 12 Büscheln, die, 
in den Seitenflächen des Tetraeders liegend, eine Ecke des Tetraeders zum 
Mittelpunkte haben, vier, nämlich: 


GEF AI. 





“) [Vgl. Abh. XI dieser Ausgabe.] 


XI. Über Konfigurationen der Kummerschen Fläche. 169 


Jedes dieser Büschel hat mit zweien derselben eine Kante unseres Te- 
traeders gemein, so daß wir überhaupt von einer windschiefen Büschel- 
konfiguration unseres Tetraeders sprechen können, die dem Komplexe A = a 
angehört. Wir schließen hieraus, daß je zwei Ebenen unseres Tetiraeders 
und die beiden Eckpunkte, welche ihre Durchschnittskante enthält, in 
bezug auf die Kummersche Fläche konjugvert sind. Für die ursprünglich 
allein betrachtete Linie (/, II), bez. (1,2), war dies von vornherein be- 
kannt, bez. folgte aus (B); ebenso folgt es aus (B) für die gegenüber- 
liegende Kante. Für die anderen vier Kanten (die jedesmal zweien der 
vier Büschel der Büschelkonfiguration gemeinsam sind) ergibt sich der 
Satz aus (A). 

Ein Tetraeder der hiermit betrachteten Art werde ich fortan als aus- 
gezeichnetes Tetraeder bezeichnen. Ein ausgezeichnetes Tetraeder ist der 
Kummerschen Fläche gleichzeitig ein- und umgeschrieben. Denn seine 
Ecken sind singuläre Punkte eines Komplexes A= a, seine Ebenen singu- 
läre Ebenen desselben. Offenbar gibt es fünffach unendlich viele aus- 
gezeichnete Tetraeder’). Denn wir können den Komplex A=a und die 
Anfangskante /, II (die ihrerseits von vier Konstanten abhängt) beliebig 
annehmen. Übrigens gelangen wir auch noch durch andere Annahme der- 
selben Bestimmungsstücke zu demselben Tetraeder. Erstlich ist klar, daß 
wir, unter Festhaltung des Komplexes A—= a, statt mit der Kante (I,II) 
ebensowohl mit der gegenüberliegenden Kante (1',2’) beginnen können. 
Dann aber sage ich, daß unser Tetraeder noch zu zwei anderen Kom- 
plexen der Schar (2), die ich A=b und A=c nennen will, genau in 
derselben Beziehung steht, wie zum Komplexe A=a. Es sind dies die- 
jenigen beiden unter den vier Komplexen, denen die Kante (/, II ) angehört, 
welche dem Theoreme (A’) zufolge die Ebenen /, II und die Punkte 1,2 
zusammenordnen. 

In der Tat: jedem der beiden hiermit definierten Komplexe muß eine 
windschiefe Büschelkonfiguration unseres Tetraeders angehören. Der Kom- 
plexi=b möge etwa zunächst das Büschel 7, 1 und also das Büschel II, 2 
enthalten. Er enthält dann insbesondere die Tetraederkanten, längs deren 
sich Z und 1’, bez. IT und 2’ schneiden. Aber die beiden Ebenen, welche 
wir hiermit bei der einzelnen Kante nennen, sind zu den beiden Eck- 
punkten, die auf derselben Kante liegen, also zu 1 und /', bez. zu 2 
und //’, wie wir wissen, konjugiert. Daher gehören dem Komplexe A —=b 
auch die Büschel an, die von den Ecken ]/ ® II’ bez. in den Ebenen £r 2 
auslaufen, womit unsere Behauptung bewiesen ist. 





5) Den Satz, daß es 00° Tetraeder gibt, die der Kummerschen Fläche gleich- 
zeitig ein- und umgeschrieben sind, hat gelegentlich Herr Hurwitz auf meinen Wunsch 
mitgeteilt; siehe Bd. 15 der Math. Ann., S. 14 (Fußnote). 


170 Zur Liniengeometrie. 


Auf Grund dieser Betrachtungen ergibt sich schließlich eine Kon- 
struktion unseres Tetraeders, welche von den drei Komplexen A=a, A=b, 
A=c ganz unabhängig ist. Die drei Eckpunkte, welche einer Seitenfläche 
Jes Tetraeders bez. in den drei Komplexen entsprechen, sind nämlich, 
wie aus der Konstantenzählung hervorgeht, unter den Punkten der Durch- 
schnittskurve, die unserer Ebene mit der Kummerschen Fläche gemeinsam 
ist, drei ganz beliebige. Daher also werden wir zur Konstruktion unseres 
Tetraeders erstlich eine Seitenfläche desselben unter den Tangentialebenen 
der Kummerschen Fläche nach Willkür annehmen, dann aber auf der 
zu Ihr gehörigen Durchschnittskurve mit der Kummerschen Fläche drei 
Ecken des Tetraeders beliebig fixieren. Wenn wir dann durch je zwei 
dieser Ecken diejenige Ebene legen, die zu ihnen in bezug auf die an- 
Fänglich angenommene Ebene konjugiert ist, so schneiden sich diese Ebenen 
von selbst in einem weiteren Punkte der Kummerschen Fläche, und wir 
haben ein ausgezeichnetes Tetraeder konstruiert. 


S 4. 
Allgemeinere Konfigurationen. 


Die fünffach unendlich vielen Tetraeder, welche wir jetzt kennen, 
gruppieren sich in charakteristischer Weise zu größeren Konfigurationen 
zusammen, welche ebenfalls der Kummerschen Fläche gleichzeitig ein- 
und umgeschrieben sind. Eine erste solche Konfiguration erhalten wir 
sofort, wenn wir erneut an die Anfangsüberlegung anknüpfen, von der aus 
wir die ausgezeichneten Tetraeder zunächst definiert haben. Es ist dies die- 
jenige Konfiguration, welche von den vier sin, ‚ulären Punkten und Ebenen 
1,2,3,4 bez. I, II, III, IV, den acht zugehörigen Ebenen .45,80,0> 
5.8". 4,4 und den acht zugehörigen Punkten J Se; er x Hr 11 “ 
IV’, IV”, kurzum von den singulären Elementen der zu unserer Raum- 
geraden und dem Komplexe A—= a gehörigen Komplexfläche gebildet wird, 
und aus der man, wie sofort ersichtlich, die Ecken und Ebenen von 24 
ausgezeichneten Tetraedern herausgreifen kann®). Nun ist aber die Kom- 
plexfläche als Umhüllungsgebilde derjenigen Komplexlinien, welche eine 
feste Raumgerade treffen, in allen diesen Untersuchungen nur der spezielle 
Fall jener Brennfläche, welche bei Zusammenstellung des Komplexes = a 
mit einem allgemeinen linearen Komplexe entsteht, und die selbst eine 
Kummersche Fläche sein wird, die wir mit unserer von Anfang an be- 





®) Ich verfolge die Gruppierung dieser Punkte und Ebenen oder auch die Be- 
ziehung der Komplexfläche zu unserer Kummerschen Fläche (der Singularitäten- 
fläche) nicht weiter, weil selbstverständlich alles, was im Text sogleich über den Fall 
der als Brennfläche auftretenden Kummerschen Fläche gesagt werden soll, auf den 
speziellen Fall der Komplexfläche übertragen werden kann. 


XII. Über Konfigurationen der Kummerschen Fläche. 171 


trachteten Kummerschen Fläche, der Singularitätenfläche der Komplexe (2), 
natürlich nicht verwechseln dürfen”), Wir handeln im folgenden nur von 
der Konfiguration (16),, welche von den Doppelpunkten und den Doppel- 
ebenen der neuen Kummerschen Fläche gebildet wird. Offenbar ist auch 
diese Konfiguration der anfänglichen Kummerschen Fläche gleichzeitig 
ein- und umgeschrieben. Denn durch jeden der Doppelpunkte geht inner- 
halb einer der hindurchlaufenden Doppelebenen der Theorie der Linien- 
kongruenzen zweiter Ordnung und Klasse zufolge®) ein Strahlbüschel, so 
daß der Doppelpunkt als Punkt, die Doppelebene als Ebene der Singu- 
laritätenfläche des Komplexes A=a angehören muß. Man zeigt aber 
überhaupt (wie ich hier beiläufig anführe, da ich es sogleich als Beweis- 
grund benutze), daß die beiden Kummerschen Flächen einander nach 
Erstreckung einer Kurve achter Ordnung, resp. einer Developpablen achter 
Klasse berühren, so zwar, daß sie ‚keinen Punkt und keine Ebene gemein 
haben, welche nicht dieser Kurve, bez. dieser Developpablen angehörten. 
Die betreffende Berührungkurve ist der geometrische Ort solcher singulären 
Punkte des Komplexes A—= a, deren zugeordnete singuläre Linie unserer 
Kongruenz angehören; die, Umhüllungsdeveloppable ist in genau dualisti- 
scher Weise definiert. Zum Beweis beachte man, daß eine singuläre Linie 
des Komplexes A= a nur von solchen benachbarten Linien desselben ge- 
schnitten wird, die entweder durch den zugeordneten singulären Punkt 
laufen oder in der zugeordneten singulären Ebene liegen, — daß anderer- 
seits unsere zweite Kummersche Fläche, nach der Begriffsbestimmung 
der Brennfläche, von allen Linien der zugehörigen Kongruenz umhüllt wird). 


8 5. 
Eigenschaften der neuen Konfigurationen. 


Über die nunmehr gewonnenen Konfigurationen (16), hat Herr Rohn, 
den ich seinerzeit auf die Existenz derselben aufmerksam machte, zwei einfache 
Sätze aufgestellt, deren Beweis sich jetzt ohne Mühe ergibt, wie ich zeigen will!®). 





”) Dem widerspricht nicht, daß weiterhin die Beziehung der Kummerschen 
Flächen zueinander als eine durchaus gegenseitige erkannt wird; vgl. die Note am 
Schluß von 85. 

8) Wegen der Sätze, die im Texte betreffs der in Rede stehenden Kongruenzen 
gebraucht werden, möchte ich hier ein für alle Mal auf Kummers Öriginalabhand- 
lung: Über algebraische Strahlensysteme usw. verweisen; siehe Abhandl, d. Berliner 
Akademie von 1866, insbesondere S. 62—71 daselbst. 

®) In allgemeinerer Form findet man diese Überlegungen bei Voß in Bd. 9 
der Math. Ann., siehe insbesondere, was die Resultate angeht, S. 148ff. daselbst. 

10) Rohn l.c.; ebenda ($. 352) die Darstellung der Berührungskurve achter Ord- 
nung in transzendenter Form. Man vgl. hierzu die Entwicklungen von Herrn Reye 
im 97. Bande des Journals für Mathematik [Über die Singularitätenflächen quadratischer 
Strahlenkomplexe und ihre Haupttangentenkurven (1884)). 


173 Zur Liniengeometrie. 


Wir betrachten zunächst eine einzelne Ebene der Konfiguration, die 
wir ] nennen wollen. Sie ist Tangentialebene der ursprünglichen Kummer- 
schen Fläche und schneidet die letztere also in einer Kurve vierter Ordnung 
mit Doppelpunkt. Andererseits berührt sie die zutretende Kummersche 
Fläche (die Brennfläche) nach Erstreckung eines Kegelschnitts. Jetzt trägt 
der Kegelschnitt 6 von den 16 Doppelpunkten der Brennfläche (die wir 
weiterhin mit 1,2,...,6 bezeichnen wollen), und wir bemerkten bereits 
oben, daß sämtliche 16 Doppelpunkte als einfache Punkte der Singularitäten- 
fläche angehören. Daher fallen sechs von den acht Schnittpunkten, welche 
unser Kegelschnitt mit der Kurve vierter Ordnung gemein hat, in die 
Punkte 1,2,...,6. Der erste von Herrn Rohn mitgeteilte Satz behauptet: 
daß die weiteren beiden Schnittpunkte unserer Kurven im Doppelpunkte 
der Kurve vierter Ordnung koinzidieren, daß also der Kegelschnitt zur 
Kurve vierter Ordnung adjungiert ist. In der Tat, die. ursprüngliche 
Kummersche Fläche und die Ebene / haben die Eigenschaft gemein, die 
zweite Kummersche Fläche überall zu berühren, wo sie dieselbe treffen. 
Gibt es also einen Punkt, der allen drei Flächen gemein ist und ist der- 
selbe, wie wir hier annehmen (da die Doppelpunkte 1,2,..., 6 bereits be- 
trachtet wurden), kein singulärer Punkt der zweiten Kummerschen Fläche, 
so ist er ein Berührungspunkt der ersten Kummerschen Fläche mit der 
Ebene /. Aıiso usw. — Natürlich gilt der entsprechende Satz für den 
Kegel zweiter Klasse, der in einem beliebigen Eckpunkte unserer Kon- 
figuration durch die zugehörigen Tangentialebenen der zweiten Kummer- 
schen Fläche umhüllt wird, wie denn überhaupt alle Beziehungen, die im 
_ vorliegenden Aufsatze zur Sprache kommen, nach dualistischer Umkehr 
ebenfalls zutreffen, wie ich nicht jedesmal betonen möchte und also hier 
ein für allemal hervorgehoben haben will. 

Wir nehmen jetzt die übrıgen 15 Ebenen zu /J hinzu. Da durch jede 
der 15 Verbindungslinien der sechs in / enthaltenen Eckpunkte 1,2,..., 6 
eine der Ebenen hindurchläuft, so wird es zweckmäßig sein, die einzelne 
Ebene durch diejenigen beiden dieser Punkte zu benennen, welche sie enthält. 
Sechs Ebenen, welche durch einen der zehn nicht in / enthaltenen Eckpunkte 
der Konfiguration laufen, erhält man dann bekanntlich in der Weise, daß man 
die Punkte 1,2,...,6 irgendwie in zwei Gruppen von drei teilt, z. B. 


17,8; 3,3, 


und dann die Ebenen aufzählt, welche irgendzwei der sonach zusammen- 
gehörigen Punkte tragen, also im Beispiele: 


12,28, 81;:48, 56, 64. 
Wir fassen jetzt drei Ebenen ik, kl, li mit I zu einem Tetraeder 
zusammen und erhalten so ein Tetraeder, welches der ursprünglichen 


XII. Über Konfigurationen der Kummerschen Fläche. 1753 


Kummerschen Fläche gleichzeitig um- und eingeschrieben ist. Offenbar 
gibt es solcher Tetraeder, zu J gehörig, 20, also im ganzen bei unserer 
Konfiguration, wenn wir J durch eine beliebige Ebene der 16 ersetzen, 


— — 80. Ich sage jetzt, daß diese sämtlichen Tetraeder ausgezeichnete 


Tetraeder in dem früher definierten Sinne sind. 

Der Beweis zerlegt sich, indem wir von dem Komplexe A=a aus- 
gehen, in mehrere Schritte. Ich will annehmen, daß dem Komplexe 1 = a 
in der Ebene / speziell dasjenige Strahlbüschel angehöre, dessen Mittel- 
punkt in 1 fällt. Dann werden von den 20 Tetraedern, deren eine Seiten- 
fläche mit I koinzidiert, 10 eine windschiefe, dem Komplexe a angehörige 
Büschelkonfiguration tragen, wie sofort aus bekannten Sätzen über die Kon- 
gruenzen zweiter Ordnung und Klasse folgt: diejenigen 10 nämlich, welche 
zugleich 1 zu einer ihrer Ecken haben und denen also das Büschel (I, 1) 
angehört. Ersetzen wir hier die Ebene / durch irgendeine andere Ebene 
unserer Konfiguration, so erhalten wir im ganzen 40 Tetraeder derselben 
Definition, bei denen also die Behauptung, die wir aufstellen, selbstverständ- 
lich ist. Nun aber partizipieren an diesen 40 Tetraedern alle 120 durch 
den Schnitt zweier Konfigurationsebenen entstehenden Linien als Kanten. 
Zum Beweise betrachte man nur die 15 dieser Linien, die in Z liegen: 
diejenigen fünf derselben, welche durch 1 laufen, sind, wie man unmittelbar 
sieht, bei je vier von den 10 Tetraedern, die / zur Seitenfläche haben, 
beteiligt, die zehn, welche nicht durch 1 laufen, bei je einem derselben. 
Wir schließen hieraus, was an sich ein schönes Theorem ist: daß die beiden 
Ebenen unserer Konfiguration, welche durch eine der 120 Linien hin- 
durchgehen, und die beiden Eckpunkte derselben, welche auf derselben 
Linie liegen, allemal in bezug auf die erste Kummersche Fläche konju- 
giert sind. Das aber heißt, daß überhaupt jedes Tetraeder, welches man 
aus den Ebenen und Ecken unserer Konfiguration bilden kann, ein ausge- 
zeichnetes Tetraeder im früher festgestellten Sinne ist, w. z. b. w.'!). 

An die hiermit gegebenen Entwicklungen knüpfen wir jetzt zunächst 
eine einfache Konstruktion unserer Konfiguration (16),, in der man sofort 
die sechs Konstanten erkennt, von denen die Konfiguration abhängt: wir 
wählen zunächst unter den Tangentenebenen der ersten Kummerschen 
Fläche die Ebene / beliebig (2 Const.), zeichnen die Kurve vierter Ord- 
nung, in der sie die Kummersche Fläche durchdringt, nehmen dann in / 
einen zur Kurve vierter Ordnung adjungierten Kegelschnitt und bezeichnen 
diejenigen sechs Schnittpunkte desselben mit der Kurve vierter Ordnung, 





"ı) Der im Text gegebene Beweis wäre unnötig, wenn man zeigen könnte (was 
vermutlich nicht schwer ist), daß in der Tat jedes einer Kummerschen Fläche gleich- 
zeitig um- und eingeschriebene Tetraeder ein ausgezeichnetes Tetraeder ist. 


174 Zur Liniengeomettrie. 


welche nicht in den Doppelpunkt der letzteren fallen, mit 1,2,...,6 
Wir werden die 16 Ebenen einer Konfiguration der von uns gewollten Art 
haben, indem wir durch jede der 15 Verbindungsgeraden 12,... eine Ebene 
legen, die mit / zusammen zu den beiden auf der Verbindungsgeraden. 
liegenden Punkten (also zu 1 und 2, usw.) in bezug auf die Kummersche 
Fläche konjugiert ist, — und diese 15 Ebenen der Ebene / hinzufügen. 
Die 16 Eckpunkte der Konfiguration sind 1,2,...,6 und die weiteren 
Punkte, in denen sich die konstruierten Ebenen begegnen. — 


Übrigens aber haben wir alle Mittel, um den zweiten Satz von Rohn 
abzuleiten. Die sechs Strahlbüschel, welche innerhalb der Ebene / durch 
die Punkte 1,2,..., 6 laufen, werden sechs Komplexen unserer Schar be- 
ziehungsweise angehören, nämlich A= «a und fünf weiteren Komplexen, die 
wie A=b5,c,d,e, f resp. nennen wollen. Aus dem eben aufgestellten 
Satze von dem Konjugiertsein gewisser Ebenen- und Punktenpaare und 
dem in $ 2 gegebenen Theoreme (A’) folgt dann, daß jedem der sechs 
Komplexe (also nicht nur A= a) in jeder der 16 Ebenen ein Strahlbüschel 
angehört, dessen Mittelpunkt in einen der 16 Eckpunkte der Konfiguration 
fällt. Dabei erweist sich die Gruppierung dieser 6-16 Strahlbüschel als die- 
selbe, welche man für die Strahlbüschel der sechs zu der zweiten Kummer- 
schen Fläche gehörigen Kongruenzen zweiter Ordnung und Klasse kennt. 
Wir gingen davon aus, daß die eine dieser Kongruenzen dem Komplexe 

— a angehört; ich sage, daß die anderen fünf Kongruenzen beziehungs- 
werse in den Komplexen A=b,c,d,e,f liegen. In der Tat kann ein 
Komplex zweiten Grades mit einer irreduziblen Kongruenz zweiter Ordnung 
und Klasse nicht 16 Strahlbüschel gemein haben, ohne die Kongruenz ganz 
zu enthalten. Wir würden unsere „zweite“ Kummersche Fläche also 
ebensowohl haben gewinnen können, hätten wir nicht mit Komplex A =, 
sondern mit dem Komplex A=b oder A=c usw. begonnen. Mit anderen 
Worten (und dies ist der Rohnsche Satz): Die Komplexe a,b,c,d,e,f 
sind für die Definition der zweiten Kummerschen Fläche (oder auch der 
Konfiguration (16),) von durchaus gleicher Bedeutung. — 

Ich breche hier die elementaren Betrachtungen ab, obgleich ersichtlich 
ist, daß sich eine Menge von Fragen aufdrängen, welche einer direkten 
(algebraisch-geometrischen ) Behandlungsweise sehr wohl zugänglich sind ??). 





12) Herr Rohn hat sich früher, wie er mir mitteilt (und übrigens auch in Bd. 15 
der Math. Ann., S. 350, andeutet), seinerseits mit solchen weitergehenden Fragen be- 
schäftigt. Indem ich seine Ausdrucksweise den von mir EÜERREHEEN Bezeichnungen 
anpasse, entnehme ich einem seiner Briefe das Folgende: 

„Es seien die Komplexe zweiten Grades, denen die Doppeltangentensysteme der 
Rn Kummerschen Fläche angehören sollen, d.h. die Konstanten A=a,b,c,d,e,f, 
gegeben; ich stelle die Aufgabe, die linearen Komplexe zu bestimmen, welche die 
Doppeltangentensysteme enthalten, und überhaupt die Schar von Komplexen zweiten 


XII. Über Konfigurationen der Kummerschen Fläche. 175 


II. Über die Darstellung der Kummerschen Fläche durch hyper- 
elliptische Funktionen 2 =2. 


8 6. 


Allgemeine Vorbemerkungen, die Theorie der hyperelliptischen 
Funktionen betreffend. 


Um die Darstellung der Kummerschen Fläche durch hyperelliptische 
Funktionen zweier Argumente U,, U,, oder vielmehr, um die Ausbreitung 
zweier Integralsummen U,, U, auf der Kummerschen Fläche (die allein bei 
der folgenden Darstellung in Betracht kommt) in völliger Deutlichkeit zu 





Grades anzugeben, deren Singularitätenfläche die zweite Kummersche Fläche ist. 
Ich will der Kürze halber A,, 4,,...,4, für a,b,..., f schreiben und die Produkte 


(#, — Am) (#g — Am): » (X — Am), bez. (nun — A) (&n— Ag)... (#n — Ag) 


mit f(A„) und @ (x„) bezeichnen. Ist dann, unter o einen Proportionalitätsfaktor ver- 
standen: 


(1) oa -V f (Am): P(*n) 
=E (dt — Am)" -f (&n) z p' (Am) 


so sind die gesuchten linearen Komplexe durch folgende Gleichungen gegeben: 
(2) 2, = 2% +92, +... +0,20 =0. 
Ich habe dabei die linken Seiten gleich so normiert, daß 3. z,=0 wird vermöge 


Das =0. Man hat’ also eine orthogonale Substitution und die Auflösungen von (2) 
lauten mit Unterdrückung eines Proportionalitätsfaktors: 








(3) %4=4, 2, + is 2t-.:-.+ A;g?g- 


Hierin liegt zugleich, daß die Vorzeichen der Quadratwurzeln in (1) nicht völlig will- 
kürlich sind. Vielmehr wird man die Vorzeichen nur derjenigen ann, welche einem 
festen m oder einem festen n entsprechen, willkürlich annehmen dürfen, worauf alle 
anderen Vorzeichen fixiert sein werden. Es entspricht dies (mit Rücksicht auf den 
in (1) auftretenden Proportionalitätsfaktor 0) dem Umstande, daß die vorgelegte Auf- 


gabe 2°= 32 Lösungen zuläßt. — Die Schar der Komplexe zweiten Grades, deren 
Singularitätenfläche die zweite Kummersche Fläche ist, wird jetzt durch folgende 
Gleichung gegeben: 


Za 
c) rn 
unter x den Parameter verstanden. Vergleicht man diese Formel mit Gleichung (2) 
des Textes (welche die zur ersten Kummerschen Fläche gehörigen Komplexe vor- 
stellt), so ist ersichtlich, daß zwischen beiden Kummerschen Flächen volle Gegen- 
seitigkeit besteht. Die Doppeltangenten der ersten Ku mmerschen Fläche liegen also in 
den Komplexen x =x,, *%,, -. ., %, der Komplexschar (4). Dabei findet noch folgende 
Übereinstimmung statt. Eine Linie, welche unsere erste Kummersche Fläche be- 
rührt, wird einem Komplex der ersten Schar, sagen wir A=m, als singuläre Linie 
angehören. Jetzt soll der Berührungspunkt insbesondere auf jene Berührungskurve 
achter Ordnung rücken, die den beiden Kummerschen Flächen gemeinsam ist. Die 
Linie wird dann auch einem Komplex der zweiten, durch (4) gegebenen, Schar als 


singuläre Linie angehören. Der Satz ist, daß dieser Komplex durch x= m gegeben 
ist, unter m dieselbe Größe verstanden, wie vorhin.“ 





=(, 


176 Zur Liniengeometrie. 


gewinnen, scheint es zweckmäßig, einige allgemeine Bemerkungen zur Theorie 
der hyperelliptischen Integrale vom Geschlechte Zwei vorauszuschicken. 

Die beiden Integrale, welche wir im folgenden zugrunde legen wollen, 
sind diese: 


Ad}. 
5 = we ren; 
= ja une 
wo die Bezeichnung f(A), die wir schon gelegentlich benutzten, das Produkt 


(A—x,)(A—%,)...(A—x,) vertreten soll. Man betrachtet den Verlauf 
dieser Integrale gemeinhin — und so müssen wir es hier zunächst auch 
tun — auf der zweiblättrigen Riemannschen Fläche vom Geschlechte 


Zwei, die zu Vf(A) gehört und deren Verzweigungspunkte bei A=x,, 
%gy...,%, legen. Es erscheint dann zweckmäßig, die untere Grenze der 
Integrale in einen der Verzweigungspunkte zu legen, als welchen wir x, 
wählen wollen. Indem wir gleichzeitig die obere Grenze genau fixieren, 
wird das einzelne Integral durch folgende Formel gegeben sein: 

2,104) 
(6) w = ja w. 
Ich habe diese Formel der Kürze halber so geschrieben, daß nach Be- 
lieben 1 oder 2 als Index zugefügt werden kann, ein Verfahren, dessen 
ich mich weiterhin durchgängig bedienen will. 

Es kommt jetzt darauf an, die Periodizitätsmoduln der so definierten 
Integrale in möglichst einfacher Weise zu bezeichnen. Zu dem Zwecke 
werde ich statt der vier Fundamentalperioden, aus denen sich alle anderen 
zusammensetzen, fünf Perioden einführen, zwischen denen natürlich eine 
lineare Abhängigkeit bestehen muß. Ich denke mir nämlich den Ver- 
zweigungspunkt x, mit den anderen Verzweigungspunkten x,, %3, ..., %, 
durch fünf in demselben Blatte der Riemannschen Fläche verlaufende 
Linien, welche einander nur in x, treffen, verbunden und setze nun, indem 
ich an diesen Linien hinintegriere: 


(7) P® — an 


Was aber die Relation angeht, die nee den so definierten Perioden 
besteht, so findet man nach bekannter Methode: 
5 


(8) AP®=09). 


1 





13) Will man die Symmetrie der später zu entwickelnden Formeln noch steigern, 


so empfiehlt es sich, noch eine sechste Periode P®, mit der Relation P'® - 0, einzu- 
führen, was ich hier nur beiläufig erwähne. 


XII. Über Konfigurationen der Kummerschen Fläche. 177 


Die Größe w ist durch die Formel (6) nur bis auf beliebig hinzu- 


fügbare ganzzahlige Multipla der Perioden P bestimmt. Indem ich mit @ 
einen der Werte bezeichne, deren sie fähig ist, werde ich das Gesagte durch 
die Formel ausdrücken: 

(9) w=% (mod. P”). 

Sind die Werte der w (d. h. von w, und w,) gegeben, so ist nach der 


Theorie der hyperelliptischen Fılnktionen die obere Grenze A, Vf(A) in (6) 
völlig bestimmt. Daß w,, w, dabei nicht unabhängig sein können, sondern 
durch eine Relation verbunden sein müssen (8 = 0), ist selbstverständlich, 
aber soll hier nicht weiter untersucht werden, wie überhaupt von der Theorie 
der 8-Funktionen abgesehen werden wird. Solche Werte w,, w,, die ver- 


möge (6) zu einer oberen Grenze A, Yf(A) zugehören, nenne ich einfache 
Integrale. Bezeichnen wir mit @ dieselben Größen, wie in (9) und schreiben: 


(10) w=—% (mod. P”), 


so haben wir wieder einfache Integrale, die jetzt zur oberen Grenze A, — Vf(A) 
gehören. Wir berühren hiermit die charakteristische Eigenschaft des hyper- 
elliptischen Gebildes, die im folgenden immer wieder hervortritt, die Eigen- 
schaft nämlich, durch eine Transformation von der Periode Zwei (die in 
dem Vorzeichenwechsel der Quadratwurzel Yf(A), oder nach (10), des @, 
ihren Ausdruck findet) in sich selbst überzugehen. 

Die hiermit aufgezählten Sätze und die Anschauungsweisen, auf denen 
sie beruhen, sind wohlbekannt. Es scheint nun aber für den Fortschritt 
unserer Untersuchungen wesentlich und überhaupt für die Theorie der hyper- 
elliptischen Funktionen vorteilhaft, ein neues methodisches Hilfsmittel einzu- 
führen. Neben der zweiblättrigen Riemannschen Fläche nämlich, die zu 


Vf(A) gehört, werden wir die andere Riemannsche Fläche in Beiracht 
ziehen, die durch Simultanstellung der fünf in der laufenden Proportion: 


WM—x,:Vi—%:...:Vl 3% 
vereinigten Wurzelfunktionen entsteht‘‘). Es ist dies eine 32-blättrige 


Fläche (32 — 2°), welche in der Art regulär verzweigt ist, daß beii=x,, 
#93 ...,%, jedesmal 16 einfache Verzweigungspunkte übereinander liegen, 
was im ganzen 96 einfache Verzweigungspunkte und also p = 17 ergibt. 
Wir müssen uns vorstellen, daß diese 32-blättrige Fläche 16-fach über 
die bisher betrachtete zweiblättrige Fläche ausgebreitet sei, so zwar, daß 


wir einem Punkte A, Vf(A) der letzteren unter den 32 Punkten der ersteren, 








“) Wegen der hier im Texte gebrauchten Ausdrucksweisen siehe insbesondere 
Dyck: Über Untersuchung und Aufstellung von Gruppe und Irrationalität regulärer 
Riemannscher Flächen in Bd. 17 der Math. Ann. (1880). 


Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I, 12 


178 Zur Liniengeometrie. 


welche dasselbe A besitzen, etwa diejenigen 16 zuweisen, für welche 
ee er 

wird. Demselben Werte von A entsprechen auf der 32-blättrigen Fläche 

noch 16 weitere Punkte; sie korrespondieren dann ihrerseits dem Punkte 

A, — Vf(A) der zweiblättrigen Fläche. 

Wir werden jetzt die Integrale (5) auf der 32-blättrigen Fläche be- 
trachten. Zu dem Zwecke müssen wir ihre oberen und unteren Grenzen 
wesentlich genauer bezeichnen, als es in (6) geschehen ist. Dem Werte 
A— x, entsprechen auf unserer neuen Fläche 16 Punkte, von denen wir 
einen herausheben, indem wir für die Verhältnisse: 











Va — %:V% — Ha} 2. 1 Vie — %, 
bestimmte Vorzeichen verabreden. Ich will dies in der Weise bezeichnen, 
. daß ıch oVx, — x, als untere Grenze an das Integralzeichen schreibe, wo 
man sich das o als einen Proportionalitätsfaktor denken mag, dessen Wert 
völlig gleichgültig ist. Genau entsprechend werde ich zur Bezeichnung der 
oberen Grenze die Schreibweise oeVi— x, anwenden (wodurch also ausge- 
drückt sein soll, daß die Quotienten: 


N —-,:M—%:... :Ni—x, 
vollständig, d.h. auch den Vorzeichen nach gegeben sind). An Stelle der 
Formel (6) tritt also jetzt die folgende: 








oyi-x; 
(11) w - [aw. 
Eee 

Es sei nun wieder # einer der Werte, die durch (11) definiert sind. 
Welches ist die allgemeinste Bedeutung von w? Wie modifiziert sich die- 
selbe, wenn wir den oberen Grenzpunkt durch einen beliebigen der 16 oder 
32 ersetzen, mit denen er zusammengehört? Und sind die so entstehenden 
Integralwerte (d.h. die Werte von w, und w,) wiederum für den oberen 
Grenzpunkt charakteristisch? — Auf diese Fragen gibt die Theorie der 
hyperelliptischen Funktionen folgende Auskunft: 

1. Die Größe w ist durch (11) bis auf gerade Periodenmultipla be- 
stimmt, was wir, der Formel (9) entsprechend, in folgender Weise an- 
deuten wollen: 

(12) w=% (mod.2P”). 

2. Wir wollen unter e die 1 oder die 0 verstehen, je nachdem beim 
Übergange von dem anfänglich gewählten oberen Grenzpunkte zum neuen 
der Quotient VA—x,:Vx,— x; sein Vorzeichen ändert oder nicht. Die 








XI. Über Konfigurationen der Kummerschen Fläche. 179 


Integralwerte, welche zur neuen oberen Grenze gehören, sind dann durch 
folgende Formel gegeben: 


AO En 
(13) tl or Youp® (mod 2PP), 

3. Die letzte Frage ist zu bejahen. Die Integralwerte w,, w,, welche 
sich aus (11) für eine bestimmte obere Grenze ergeben, und die ich wieder 


als einfache Integrale bezeichnen werde, sind in der Tat zur Definition 
der oberen Grenze ausreichend. 


En 
Über elliptische Linienkoordinaten. 


Ich werde nunmehr als Koordinaten einer Raumgeraden statt der 
bisher benutzten &,,%,...,&%,, welche an die Identität (1): 


a0 


gebunden sind, diejenigen Größen A; ri ) , A’ einführen, die ich in 
Bd. 5 der Math. Annalen*®) als elliptische Linienkoordinaten. bezeichnete, 
und die durch die Gleichung (2): 


x? 
i 
6 
ee 


gegeben werden, indem man in ihr die x, als bekannt, das A als unbe- 
kannt betrachtet. Vor allem bemerke ich, daß sich die x, durch die A 
folgendermaßen darstellen: 


RIKER, I var %; eu #4 VI. 











(14) T0,— a ä 

Vf’) 
wo r einen Proportionalitätsfaktor und f’ den Differentialquotienten von f 
bedeutet. Die 32 Vorzeichenwechsel der x,:%,:...:x%,, welche für die 


geometrische Theorie in bekannter Weise fündamental sind, indem sie die 
16 Kollinestionen und 16 Reziprozitäten vorstellen, durch welche unsere 
Gebilde in sich selbst übergeführt werden, erscheinen hier durch die Vor- 
zeichenwechsel der rechter Hand auftretenden Quadratwurzeln bedingt. Ich 
erinnere übrigens an folgende Sätze: 


1. Sind zwei A einander gleich, z. B. ll Y so hat man eine Tan- 
gente der Kummeerschen Fläche, zugleich eine singuläre Linie des Kom- 
plexes 4" — A”. 

2. Ändert man A” — A” (die fortwährend einander gleich sein sollen ) 
beliebig, während A’, X” konstant bleiben, so dreht sich die gerade Linie 





15) Über gewisse in der Liniengeometrie auftretende Differentialgleichungen, siehe 
insbesondere daselbst S. 293 ff. [Vgl. Abh. IX dieser Ausgabe, S. 143 ff. ] 
12* 


sa Zur Liniengeometrie. 


als Tangente der Kummerschen Fläche innerhalb ihrer Tangentialebene 
um ihren Berührungspunkt. 


3. Wird bei dem so definierten Änderungsprozesse 4” (— A!” gleich A’ 


oder gleich A”, so hat man eine der beiden in dem genannten Büschel 
enthaltenen Haupttangenten der Kummerschen Fläche. 


4. Nimmt man außer A” = 4A!” auch noch A’=4", so hat man solche 
gerade Linien, welche entweder in einer der 16 Doppelebenen der Kummer- 
schen Fläche liegen oder durch einen ihrer 16 Doppelpunkte laufen. 

An den letztangeführten Satz knüpfen wir jetzt noch eine Verabredung, 
die prinzipiell wichtig ist. Indem wir in (14) =4", 4” — AP setzen, 
kommt: = > 
(15) ee 

Vf (*:) 
Die 32 hier zu unterscheidenden Vorzeichenkombinationen werden wir wieder 
auf zwei Gruppen von je 16 verteilen, je nachdem das Produkt der Vor- 
zeichen positiv oder negativ ist!®). Es ist a priori deutlich, daß die Unter- 
scheidung der beiden Gruppen der Unterscheidung der Doppelpunkte und 
Doppelebenen der Kummerschen Fläche entspricht. Welche der Gruppen 
aber die Doppelpunkte bez. die Doppelebenen liefert, ist zunächst unent- 
schieden, da wir weder für die Koordinaten x, einen bestimmten Zusammen- 
hang mit den Punktkoordinaten oder den Ebenenkoordinaten festgesetzt 





haben, noch auch die Bedeutung der Quadratwurzeln Vf(e ;) In absoluter 
Weise fixiert haben, was doch beides geschehen sein müßte, sollte unsere 
Frage unzweideutig beantwortet werden können. Die Unbestimmtheit, die 
hier vorliegt, wollen wir nun durch eine Verabredung beseitigen, mit der 
wir unsere späteren Entwicklungen natürlich in Übereinstimmung halten 
müssen: wir wollen festsetzen, daß den Doppelpunkten eine gerade, den 
Doppelebenen eine ungerade Anzahl von Minuszeichen in (15) entsprechen 
soll. Es gibt dann insbesondere einen Doppelpunkt, für welchen in (15) 
rechter Hand lauter gleiche Vorzeichen (Plus- oder Minuszeichen, was wegen 
des r dasselbe ist) auftreten, und eine Doppelebene, für welche in (15) 
die ersten fünf Vorzeichen übereinstimmen und nur das Vorzeichen von x, 
von den anderen abweicht. Ersteren Punkt nennen wir den Anfangspunkt 
(der Kummerschen Fläche), die Ebene die Anfangsebene. Die Anfangs- 
ebene läuft durch den Anfangspunkt und entspricht ihm im Komplex x, = 0. 

Wir benutzen die Formeln (14) jetzt, um zwischen den Geraden des 
Raumes und den Punktquadrupeln der 32-blättrigen Riemannschen Fläche 





16, Bei Abzählung der Kombinationen wolle man immer beachten, daß die x; 
homogene Koordinaten sind und also nur ihre Verhältnisse in Betracht kommen, wie 
hier ein für allemal hervorgehoben sei. 


XII. Über Konfigurationen der Kummerschen Fläche. 181 


ein Entsprechen herzustellen. Es seien den Werten /—= ED > 2 
zugehörig vier Punkte der Riemannschen Fläche gegeben, wobei also die 


Wurzelquotienten 


14 er ET ’ Dt 
‚ zu, Vi eg _% 
usw. in bestimmter Weise fixiert gedacht werden. Wir werden diese vier 


Punkte einer zu denselben Werten von 4', ee er 7 gehörigen Raum- 
geraden (14) dann und nur dann entsprechend setzen, wenn die auf die 
vier Punkte bezüglichen Produkte 


ER a Vin x, var x wir... 














v7 _% Var %, nV aVten 
den mit Vf (x, (x,) bez. multiplizierten Koordinaten x, der Raumgeraden pro- 
portional werden. Es entspricht hiernach jedem Punktquädrupel eine be- 


6 


stimmte Raumgerade, umgekehrt aber sind jeder Raumgeraden 32° — 2" 
Punktquadrupel zugeordnet. In der Tat, wir können, um die gewünschte 
Übereinstimmung zu erzielen, die Vorzeichen der Quadratwurzeln, die sich 
auf drei der Größen A, z. B. auf 4’, A”, A”, beziehen, ganz beliebig nehmen, 
die zur vierten Größe gehörigen Vorzeichen sind dann gerade bestimmt 
(wir können die drei ersten Punkte des Quadrupels jeden in ein beliebiges 
der 32 Blätter der Riemannschen Fläche legen, der vierte Punkt ist 
dann eindeutig gegeben). Ist insbesondere A” — 47” (bei den Tangenten 
der Kummerschen Fläche) oder A" — 4" — 47” (bei den Haupttangenten)""), 
so können wir zwei oder drei Punkte des Punktquadrupels zusammenfallen 
lassen, wobei sich dann die Zahl der zulässigen Punktquadrupel auf 
32°— 2", bez. auf 32— 2° reduziert. Ist A’—4”, und haben wir ins- 
besondere eine Gerade, die durch den Anfangspunkt der Kummerschen 
Fläche läuft, so können wir die Punkte der zugehörigen Quadrupel paar- 
weise zusammenfallen lassen, worauf wieder nur 32 — 2° Quadrupel zu- 
lässig erscheinen. 





1”) Hält man i fest und läßt A"=4"=4"" sich ändern, so umhüllt die betr. 
Haupttangente nach den Untersuchungen von Lie und mir eine Haupttangenten- 
kurve der Kummerschen Fläche (siehe die Mitteilung in den Berliner Monats- 
berichten von 1870, die in Bd. 23 der Math. Annalen, wieder abgedruckt ist [vgl. 
Abh. VI dieser Ausgabe]). Wir lassen jetzt der Haupttangente im Sinne des Textes 
ein Punktquadrupel der 32-blättrigen Fläche entsprechen, welches drei zusammen- 
fallende Punkte besitzt. Die Haupttangentenkurve erscheint dann, indem wir an dem 
Gesetze der Kontinuität festhalten, eindeutig auf unsere 32-blättrige Fläche bezogen, 
womit übereinstimmt, daß ihr Geschlecht früher (l. c., mit Hilfe der Plücker- 


182 Zur Liniengeometrie. 


88. 
Transzendente Parameter einer Raumgeraden. 

Es seien jetzt (indem wir eine früher gebrauchte Bezeichnung auf- 
nehmen) y V}’ in y VI)” =r, or yz” SER or ir, die Punkte 
eines Punktquadrupels auf der 32-blättrigen Riemannschen Fläche, das 
einer Raumgeraden zugeordnet ist. Wir werden dann der betr. Raumgeraden 


vier Paare transzendenter Parameter w),w,; w], u; ; usw. beilegen, indem 
wir schreiben: 


Nase ER ae FE e!’vı Ira, 
(16) w' = (dw, u"—[aw, w en fin, u "-füe 
oY%s-% oYre—%; öYxe—x; oVxe—%; 


In genauer Analogie zu den Entwicklungen des $ 6 fragen wir zunächst 
nach den allgemeinsten Größensystemen w, welche in diesem Sinne einer 
Raumgeraden zugehören. Es sei wieder %’, ©”, w”, w!V ein erstes zu- 
lässiges Wertsystem. Dann folgt durch Vergleich von $6 und 87: 

Die allgemeinsten Werte w', w”, w”, wIV sind modulo doppelter 
Ferioden durch folgende ee, definiert: 


4 
“ +8 u w" = n” nz +. pi, 
Er ; 





4 
ns ; r Fr ne i 
wre". > p® wP=nWV.@V 4 PO, 


wo die n die positive n negative Einheit, die e, h Bine oder Null be- 
deuten und 

= +, ei" He + "+ = 0. (mod. 2) 
zu setzen vst. 

Die Unsymmetrie, welche wir in die Formulierung dieses Satzes einführten, 
indem wir die vorkommenden Summen von eins bis vier erstreckten, kann 
durch Heranziehen der Identität (8) sofort ausgeglichen werden. 

Wir fragen ferner, wie sich die w abändern werden, wenn wir statt 
der anfänglichen Raumgeraden die anderen setzen, die sich aus ihr durch 
Vorzeichenwechsel der Koordinaten x, ergeben. Es wird genügen, wenn 
wir angeben, wie wir in jedem Falle aus den anfänglichen #’, #”, #””, w I” 
ein einzelnes zulässiges Parametersystem erhalten. Es wird ferner genügen, 





Cayleyschen Formeln) zu p=17 bestimmt wurde. Die sechs l. c. genannten aus- 
gezeichneten Haupttangentenkurven, welche nur p=5 aufweisen, gehören eindeutig 
zu solchen 16-blättrigen Flächen über der A-Ebene, welche bloß an fünf der sechs 
Stellen #,,%, -.., 2%, verzweigt sind und also 5 - 3= 40 Verzweigungspunkte aufweisen. 
Es ist lehrreich, den Vergleich dieser verschiedenen Riemannschen Flächen und der 
Haupttangentenkurven ins einzelne durchzuführen. 


XI. Über Konfigurationen der Kummerschen Fläche. 183 


wenn wir bei den %,@”, usw. nur diejenigen Modifikationen angeben, 
welche dem Vorzeichenwechsel allein einer Koordinate x, entsprechen: 
sollten mehrere x, im Zeichen geändert werden, so kombinieren wir ein- 
fach die den einzelnen Änderungen entsprechenden Formeln. Wir rekur- 
rieren wieder auf $6 und $7 und erhalten als Antwort auf unsere neuen 
Fragen den Satz: 

Wird die Koordinate x, der Raumgeraden in — x, abgeändert, so 
haben wir in (17) für Br 
die folgenden Größen einzuführen: 

e wip®. 27 BEPN Er ar pr Br ur ıp". 

Endlich konstatieren wir, daß eine Raumgerade eindeutig bestimmt 
ist, sobald wir ein System zugehöriger transzender Parameter kennen. — 

Wir betrachten jetzt insbesondere den Fall, daß unsere Raumgerade 
eine Tangente der Kummerschen Fläche wird. Indem wir ı — 47 


nehmen, wollen wir den Punkt 0” Wr x, mit dem Punkte 0?” vr x, 
zusammenfallen lassen. Es wird dann w”=w!P (mod. 2P®). Die 
Werte w’, w” nun, welche unter dieser Voraussetzung resultieren, will ich 
in der Folge u’,w” nennen. Die Formeln (17) nehmen, was die w’, u” 
angeht, eine äußerst einfache Bedeutung an. Es zeigt sich nämlich, daß 
die Änderungen, welche man bei %’,w” unter Festhaltung der Raum- 
geraden (der Tangente an die Kummersche Fläche) anbringen kann, 
gerade darauf hinauslaufen, daß man u’, u” entweder simultan im Zeichen 
umgekehrt oder simultan um irgendwelche Periodenvielfache vermehrt. — 
Handelt es sich insbesondere um gerade Linien, die durch einen Doppel- 
punkt der Kummerschen Fläche laufen oder in einer Doppelebene der- 
selben liegen, so wird 


(18) u’ — = tu" + I op‘ \?) (mod. pP) 


wo das Minuszeichen für die en zutrifft und die &% je nach der Wahl 
des Doppelpunktes oder der Doppelebene Null oder Eins bedeuten. Sämt- 
liche e®® werden Null sein, wenn es sich um den Anfangspunkt oder die 
Anfangsebene handelt. 


89. 
Ausbreitung von Integralsummen auf der Kummerschen Fläche. 
Die letztangeführten Sätze sind es, auf die wir jetzt die Zuordnung 
der Punkte und Ebenen der Kummerschen Fläche zu transzendenten 


Parametern, die sich als Summen (oder Differenzen) zweier einfacher 
hyperelliptischer Integrale darstellen, stützen wollen. Aus $7 geht her- 


184 Zur Liniengeometrie. 


vor, daß alle solche Tangenten der Kummerschen Fläche, welche denselben 
Berührungspunkt und dieselbe Berührungsebene besitzen, dieselben Para- 
meter u’,u” aufweisen (während w”’ = w!’? von einer Tangente zur anderen 
wechselt). Diese Parameter wollen wir jetzt auf den Punkt und die Ebene 
selbst übertragen. Wer legen nämlich dem Punkte die Parameter: 


(19a) U,-W u Ki -W; 
der Ebene die Parameter: 
(19b) (U,)=wtw), (U,)=w+W 


bei (die wir weiterhin mit Unterdrückung der Indizes durch U und (U) 
bezeichnen wollen). 

Offenbar gehören zu jedem Punkte unendlich viele Parameterpaare, 
welche sich aus einem ersten Paare, welches wir U nennen, nach dem Ge- 
setze ableiten: 

(20) U= EUlmed 3P 

entsprechend ist es mit den Parametern (U) der Tangentialebenen. Aber 
ich sage, daß rückwärts zu einem gegebenen Wertsysteme ‚der U,,UD, 
(resp. der (U,), (U,)) immer nur ein Punkt, bez. eine Ebene der 
Kummerschen Fläche zugehört. Für Wertsysteme der U,, U, (oder der 
(U,),(U,)), die von 0,0 oder Multiplis der Perioden verschieden sind, 
ist dies aus den Untersuchungen über das Jacobische Umkehrsystem 
sofort deutlich. Letztere zeigen nämlich, daß es in solchen Fällen (von 
möglicherweise zutretenden Perioden abgesehen) immer nur ein System 
einfacher Integrale w’, a” gibt, welche den Gleichungen (19a) oder den 
Gleichungen (19b) genügen, wodurch wir zu einem eindeutig definierten 
Tangentialbüschel der Kummerschen Fläche und also zu einem bestimmten 
Punkte und einer bestimmten Ebene derselben geführt werden. Wenn 
aber U,,U,oder(U,), (U,) gleich 0, 0 oder gleich Multiplis von Perioden 
sind, so haben wir allerdings den sogenannten unbestimmten Fall des 
Umkehrproblems, und es gibt dann unendlich viele zugehörige Wertsysteme 
von w’,u” und also unendlich viele in Betracht kommende Tangenten- 
büschel der Kummerschen Fläche. Aber infolge der in $7 getroffenen 
Verabredung und auf Grund der in (19a), bez. in (19b) gewählten 
Zeichen, haben alle Büschel denselben Mittelpunkt, resp. dieselbe Ebene. 
Es handelt sich nämlich um die unendlich vielen Tangentenbüschel, welche 
in einem Doppelpunkte der Kummerschen Fläche berühren, bez. in einer 
Doppelebene derselben liegen. In der Tat, sind beispielsweise in (19a) 
die U gleich = e” P®, so hat man für die unendlich vielen zugehörigen 
Lösungen w’,w” die Relation: 


WV—y" + 


XI. Über Konfigurationen der Kummerschen Fläche. 185 


und eben hierdurch sind nach $ 8 (Schluß) die Raumgeraden charakteri- 
siert, welche durch einen bestimmten Doppelpunkt der Kummerschen 
Fläche laufen. Analog bei den Doppelebenen. — Man beachte insbesondere, 
daß der Anfangspunkt und die Anfangsebene der Kummerschen Fläche 
die Argumentenpaare 


U,=U,=0, un. AN 


erhalten (die natürlich noch vermöge (20) modifiziert werden können). 

Ich werde das Gesagte noch in etwas anderer Weise ausdrücken. Die 
unendlich vielen komplexen Wertsysteme, deren die Variabeln U,,U,, 
bez. (U,),(U,), fähig sind, erfüllen einen vierfach ausgedehnten Raum, 


der den Perioden P", P®, P®, P"” entsprechend in vierdimensionale 
Parallelepipeda zerlegt sein soll. Wir müssen 2° — 16 der letzteren zu- 
sammenstellen, um ein Parallelepipedon von doppelter Kantenlänge (dessen 


Kanten also durch 2P'® gegeben sind) zu erhalten. Ein Parallelepidon der 
letzteren Art mag in der Weise konstruiert werden, daß sein Mittelpunkt 
in U, =0, U,=o fällt, worauf wir dasselbe durch eine beliebige Dia- 
metralebene (d.h. durch einen linearen Raum von drei Dimensionen ) hal- 
bieren. Es entsteht so ein Bereich, dessen Begrenzungspunkte teils durch 


die Operationen U’ U+2P®, teils durch die Transformation U’ —= — U 
zusammengeordnet sind. Indem wir festsetzen, daß in dieser Weise zu- 
sammengehörige Punkte nur je einmal gezählt werden sollen, definieren 
wir, wenn ich diesen Ausdruck einer früheren Arbeit von mir entlehnen 
darf!?), einen gewissen Fundamentalbereich, und nun ist die Sache die, 
daß einerseits, durch (19a), die Punkte der Kummerschen Fläche, 
andererseits, durch (19b), die Ebenen derselben ausnahmslos eindeutig 
auf die Elemente des Fundamentalbereichs bezogen sind. 

Was die Einzelheiten der hiermit gefundenen Parameterausbreitung 
angeht, so verweise ich insbesondere auf Herrn Rohns Dissertation'”), wo 
dieselbe mit dem Verlaufe der Haupttangentenkurven auf der Kummer- 
schen Fläche in Verbindung gebracht ist. Will man die 16 Punkte er- 
halten, die aus dem Punkte U vermöge der 16 Kollineationen entstehen, 
die die Kummersche Fläche in sich selbst überführen, so hat man U ın 

4 


U-+ > e" P® zu verwandeln. Will man dagegen die 16 Punkte auf- 


1 
suchen, in denen die 16 Ebenen berühren, die aus dem Punkte U bei den 
Reziprozitäten, die die Kummersche Fläche in sich überführen, hervor- 





18) Vgl. Bd. 21 der Math. Ann., S. 149. |Vgl. die Abhandlungen im III. Band 
dieser Ausgabe.) 

1%) Betrachtungen über die Kummersche Fläche und ihren Zusammenhang mit 
den hyperelliptischen Funktionen p=?2 (München, Straub, 1878). 


186 Zur Liniengeometrie. 


4 
gehen, so hat man U = u’ — u” zu setzen und wird in wu + u” —+ > mp 
= 


die Parameter der 16 Purkte haben. Die Ebenen selbst erhalten die Para- 


meter (U)= U+ en e" P®. Insbesondere sind die Parameter U eines 


Punktes und (U) einer Ebene einander gleich, wenn Punkt und Ebene 
einander im Komplexe x, = 0 entsprechen. 


III. Konfigurationen bei der Kummerschen Fläche, mit Hilfe der 
transzendenten Parameter behandelt. 


8 10. 


Transzendente Parameter für diejenigen Punkte der Kummerschen 
Fläche, die einer festen Tangentialebene angehören. 


Um jetzt die Theorie der Konfigurationen der Behandlung vermittelst 
der transzendenten Parameter zugänglich zu machen, betrachten wir vorab 
den Umhüllungskegel vierter Klasse, der von einem Punkte der Kummer- 
schen Fläche aus sich an letztere erstreckt, oder, was für die Ausdrucks- 
weise bequemer ist, und übrigens auf dasselbe hinauskommt, die Kurve 
vierter Ordnung, in welcher die Kummersche Fläche von einer ihrer 
Tangentialebenen geschnitten wird. Besagte Kurve ist, wie selbstverständ- 
lich, eine hyperelliptische Kurve vom Geschlechte Zwei, von der man leicht 
erkennt, daß sie sich auf die zweiblätitrige Fläche A, Vf(#) eindeutig be- 
ziehen läßt. Ordnet man nämlich jeder Linie, die innerhalb der Ebene 
der Kurve durch den Doppelpunkt derselben geht, als Parameter das A 
desjenigen Komplexes unserer Schar (2) zu, dessen singuläre Linie sie ist, 
so treffen auf die sechs unter ihnen enthaltenen Doppeltangenten der 
Kummerschen Fläche (auf die sechs Tangenten also, die sich vom Doppel- 
punkte an die Kurve legen lassen) die Parameterwerte #,, %g, -.., %,, wie 
bekannt. Um jetzt unsere Kurve auf die zweiblättrige Fläche eindeutig 
zu beziehen, brauchen wir nur den beiden beweglichen (nicht in den Doppel- 
punkt fallenden) Schnittpunkten unserer Geraden A mit der Kurve vierter 
Ordnung beziehungsweise die beiden Punkten entsprechend zu setzen, dıe 
auf der Riemannschen Fläche demselben Werte von A zugehören. Welchem 


der beiden Punkte wir dabei + Vf(), welchem — Vf(A) zuweisen wollen, 
haben wir bei dem ersten Punktepaare, bei dem wir die Entscheidung 
treffen, willkürlich festzusetzen; für alle anderen Punktepaare ergibt es sich 
dann durch analytische Fortsetzung. Es entspricht diese doppelte Möglich- 
keit der Zuordnung dem schon oben hervorgehobenen Satze, daß jedes 
hyperelliptische Gebilde sich durch eine Transformation von der Periode 


XII. Über Konfigurationen der Kummerschen Fläche. 187 


Zwei eindeutig auf sich selbst beziehen läßt. — Übrigens ist der Para- 
meter A, den wir hier der um den Doppelpunkt der Kurve drehbaren Linie 
beilegen, dieselbe Größe, die wir oben (bei Einführung der elliptischen 
Linienkoordinaten) mit A” —4’” bezeichnet haben; A’ und A’ sind speziell 
die Parameter A derjenigen beiden Linien, die unsere Kurve vierter Ord- 
nung im Doppelpunkte berühren (der im Büschel enthaltenen Haupttan- 
genten der Kummerschen Fluche). Die beiden Punkte unserer Kurve 


vierter Ordnung, denen wir die Parameterwerte 4, + Vf(A) zuordnen, sind 
zugleich die Mittelpunkte der beiden Strahlbüschel, welche dem Komplex 4 
der Schar (2) in unserer Ebene angehören. 
Dies vorausgesetzt werden wir nun an unserer ©, die Integrale (6): 
AS) 
w—= | dw 
hinerstrecken. Jeder Punkt der C, enthält dann, insofern er der Ü, ange- 
hört, unendlich viele Parameterwerte, die wir W,, W, nennen wollen, und 
die sich aus einem ersten Paare, das W,, W, heißen mag, durch Zufügen 
beliebiger Periodenmultipla ergeben: 


(21) W=W (mod. P'”). 
Dabei ist natürlich vorausgesetzt, daß die ©, auf die zweiblättrige Fläche 


k; Vf(A) in bestimmter Weise bezogen sei. Führen wir hinterher die andere, 
ebenso zulässige Beziehungsweise ein, so erfahren die Parameter W,, W, 
sämtlicher Punkte einen simultanen Zeichenwechsel. 

Es seien jetzt in dem hiermit definierten Sinne 0/,C) und 0/,C, 
transzendente Parameterpaare, welche denjenigen beiden Punkten unserer ©, 
zukommen, die im Doppelpunkte derselben vereinigt sind. Ferner seien durch 
WW Parameterpaare bezeichnet, welche solchen 4n Punkten 
der C', zugehören, in denen unsere ©, von einer beliebigen C', geschnitten 
wird. Wir haben dann nach dem Abelschen Theoreme in bekannter Weise: 


(22) WWW Nzen(l’+0”) (mod. PP). 

Ich will hier insbesondere n —=1 nehmen. Dann finden wir für die vier 
Schnittpunkte einer geraden Linie mit unserer C,: 

(23) W+w”+w"”+wW"=(C’+C”) (mod. P®). 


Ich will andererseits, worauf ich später gelegentlich zurückkomme, n = 2 
setzen, aber annehmen, daß W” und W® mit ©’ und C” koinzidieren, daß 
also der schneidende Kegelschnitt zur C, adjungiert sei. Dann kommt für 
die übrigen sechs Schnittpunkte unseres Kegelschnitts mit der C;: 


(24) CHR HH. WE +0”) time. PM). 


188 Zur Liniengeometrie. 


Diese Gleichungen (23), (24) sind bekanntlich auch hinreichend, um ein 
vorgelegtes Punktsystem als Schnittpunktsystem der in Betracht kommenden 
Art zu charakterisieren. Was wir hier besonders beachten müssen, ist die 
Bedeutung der rechter Hand stehenden konstanten Größen. Es sind C’ und 
C” beide einfache Integrale (in dem früher definierten Sinne), dazu im 
allgemeinen (d. h. bei beliebig gelegter Tangentialebene) voneinander ver- 
schieden. Die Summe C’-+ C” ist also keineswegs, von partikulären Fällen 
abgesehen, einem zweimal genommenen einfachen Integrale gleich, ein Satz, 
auf den wir uns später stützen müssen. 


s 11. 


Fundamentalsätze über den Schnitt einer geraden Linie mit der 
Kummerschen Fläche. 


Wir knüpfen jetzt an Formel (23) an. Die gerade Linie, welche die 
Schnittpunkte W’, W",wW”, w'” verbindet, gehört, wie schon oben hervor- 
gehoben wurde, den Komplexen A’, 2,2 ,A'P’ an. Wenn wir ihr also in 
früherer Weise Parameterpaare w’, w”, w”’, wIV beilegen (Formel (16)), so 
werden, von Multiplis der Perioden P“ abgesehen, Gleichungen der folgen- 
den Art bestehen müssen: 


’ 


‚ ” Z m m IV IV 
v-r:W, v=+W, w=-z3#7 5; wW=-t+W,, 


wo uns inzwischen die Vorzeichen noch unbekannt sind. Indem wir in (23) 
eintragen, erhalten wir den vorläufigen Satz, daß eine gerade Linie (w’, w”, 
w”, wIV), die sich in einer Tangentialebene der Kummmerschen Fläche 
bewegt, die folgende Relation befriedigt: 


(252) + w’ + w” + w” + wI? = Const. (mod. P'®). 


Hier sind die Vorzeichen linker Hand noch unbestimmt und ist Const. im 
allgemeinen nicht gleich dem Doppelten eines einfachen Integrals. 
Wir können diesen Satz sofort so präzisieren, daß wir schreiben: 


(25b) tw +w”+w” + wIV = Const. (mod. ap), 


wo nun natürlich Const. modulo doppelter Perioden bestimmt gedacht werden 
muß, was aber die Bemerkung, die wir über die Natur von Const. gemacht 
haben, nicht modifiziert. In der Tat ist, wie wir früher sahen, die auf der 
linken Seite von (25 a) oder (25 b) stehende Verbindung der w’, w”, w”’, w!” 
für jede. einzelne Raumgerade modulo doppelter Perioden definiert. Dann 
aber dürfen wir von (25a) sofort zu (25b) übergehen, da ja die Raum- 
geraden, von denen wir handeln, sich kontinuierlich aneinander schließen. 

Wir wenden uns jetzt zur Bestimmung der Vorzeichen. Dabei ist die 
erste Bemerkung. die wir machen, daß von einer absoluten Fixierung der 


XI. Über Konfigurationen der Kummerschen Fläche. 189 


Vorzeichen überhaupt nicht die Rede sein kann. Denn die Parameterpaare 
w', w” usw., welche wir einer geraden Linie beilegten, waren selbst nur bis 
auf gewisse Abänderungen bestimmt: nach Formel (17) dürfen wir für 
w’, w”, w”’, wIV nach Belieben + w’, + w”, + w”, + w!P einführen, so- 
fern wir nur an der einen Bedingung festhalten, daß die Anzahl der Vor- 
zeichenwechsel eine gerade sein muß°°). Alles also, was wir entscheiden 
können, ist dies: ob in (25a) resp. (25b) linker Hand eine gerade oder 
eine ungerade Anzahl von Minuszeichen richtig ist? Wir können gleich 
vermuten, daß hier die Verabredung des $ 7 zur Geltung kommt, und dies 
bestätigt sich in der Tat, indem wir zur Beantwortung unserer Frage nun- 
mehr ein Beispiel heranziehen. In unserer Ebene liegt eine gerade Linie, 
welche zugleich der Anfangsebene angehört, für welche also nach unseren 
früheren Entwicklungen 
wW"=—-w",w”=wlI? 
genommen werden kann. Kombinieren wir nun diese Beziehungen mit 
irgendeinem der acht Ausdrücke, in denen eine gerade Anzahl von Minus- 
zeichen vorkommt: 
+ (w’ e w") + (w” + wir), 
+ (w’ se w”) e® (w"' RER wir), 

so erhalten wir allemal das Doppelte eines einfachen Integrals, nämlich 
+2w” oder +2w’. Nun soll aber die in (25) auftretende Konstante 
dem Doppelten eines einfachen Integrals gerade nicht gleich sein. Es bleibt 
also nichts anderes übrig, als daß wir linker Hand in (25) eine ungerade 
Anzahl von Minuszeichen in Anwendung bringen. 

Ehe wir aus dem Gesagten weitere Konsequenzen ziehen, wollen wir 
die in (25b) auftretende Konstante in Beziehung zu den Parametern (U) 
setzen, die unserer Ebene als einer Tangentialebene der Kummerschen 
Fläche nach Formel (19b) zukommen. Wir betrachten zu dem Zwecke 
unter den Linien der Ebene insbesondere diejenigen, die durch ihren Be- 
rührungspunkt laufen, und erinnern uns, daß nach $8 für sie 


w’ BR u, w” Re u”, w”” BR wIv 


genommen werden kann. Ich trage diese Werte von w in die acht Aus- 
drücke ein, die eine ungerade Anzahl von Minuszeichen haben: 

+ (w’ + w”) + (w’” ar wIv), 

+ (w’ FR w”) + (w’” 2 wir). 


Nur die ersten vier dieser Ausdrücke ergeben dann eine Summe, die von 





20), Mit dieser Unbestimmtheit korrespondiert die andere, daß die in (22) rechter 
Hand auftretende Konstante (C’ + C’ " ebenfalls nach Belieben im Vorzeichen geändert 
werden kann, da wir unsere Kurve vierter Ordnung ja ebensowohl auf die eine als 
auf die andere Weise auf die zweiblättrige Fläche A,yf(A) beziehen können. 


190 | Zur Liniengeometrie. 


dem wechselnden w”” — wIP” nieht mehr abhängt und also der in (25) auf- 
tretenden Konstanten gleich sein kann. Wir finden so: 
Const. — + (w’ + u”) (mod. 2 P®). 

Nun sind aber die Ausdrücke (w’-+ u”) genau jene Parameter (U), 
die wir der Ebene als einer Tangentialebene der Kummerschen Fläche 
beilegten. Diese (U) können selbst im Vorzeichen oder durch Hinzufügen 
doppelter Perioden beliebig abgeändert werden. Das Resultat ist daher 
einfach dieses: daß wir Const. durch (U) selbst ersetzen können. 

Fassen wır zusammen, so haben wir einen Satz bewiesen, der für alles 
Folgende fundamental ist, und den ich als Fundamentalsatz I bezeichne 
(insofern ihm sogleich vermöge dualistischer Umkehr der Betrachtungen ein 
zweiter Fundamentalsatz an die Seite gestellt werden soll). . Derselbe lautet: 

Sind w’, w”, w”, wIV die Parameter einer geraden Linie, die’ in der 
Ebene (U‘) liegt, so wird, je nach der Wahl der w', w", w'", wIV, resp. 
der (U), eine der folgenden acht Kongruenzen statthaben: 

w’ ort ww” — wIV } 
(26) w' Ri ww" — w' xs wir 

w' — w" en ww’ 35 IV 

w — w" — w" — wIV 

Die Unbestimmtheit der Vorzeichen, welche hier zur Geltung kommt, 
findet nach anderer Seite ihre Erklärung darin, daß durch die gerade Linie 
w',w”,... in der Tat vier Tangentialebenen der Kummerschen Fläche 
hindurchgehen. Ich habe mit Rücksicht hierauf die acht Formeln ( 26) 
bereits auf vier Zeilen verteilt. Wir können einfach sagen: 

Die Parameter (U) derjenigen vier Tangentialebenen der Kummer- 
schen Fläche, welche durch eine Raumgerade w', w”, w'”’, wIV hindurch- 
gehen, sind durch die Formeln. (26) gegeben. 

In der Tat sind sie durch diese Formeln so weit gegeben, als sie über- 
haupt bestimmt sind, nämlich bis auf die Vorzeichen und bis auf gerade 
Multipla der Perioden. 

Ich wende mich sofort zum Fundamentalsatz II. Es ist nicht nötig, 
daß ich alle die einzelnen Schritte, die wir bei der Aufstellung des ersten 
Fundamentalsatzes vollzogen haben, unter durchgängiger dualistischer Um- 
kehr hier wiederhole. Vielmehr gebe ich sofort das Resultat an. Wir haben: 

Geht eine Gerade w’, w” , w””, wIV’ durch einen Punkt U der Kummer - 
schen Fläche, so muß eine der acht Kongruenzen statthaben: 

w' — w" — w”’ + wIV t 
(27) w wre wWziy (mod. ap»), 
w + w” — w” — wIV 


ww" +w” + wIV | 


= + (U): (mod. 2 P®). 








XII. Über Konfigurationen der Kummerschen Fläche. 191 


Umgekehrt berechnet man aus diesen Gleichungen die Parameter U der 
vier Punkte, in denen eine Gerade w',w"”,... die. Kummersche Fläche 
schneidet. 

Ich will unter den Folgerungen, die sich an unsere Fundamentalsätze 
knüpfen, nur einige wenige hervorheben?) 

1. Es sei w” — wIV, die gerade Linie also eine singuläre Linie des 
Komplexes 4” —4'”. Wir haben dann als Parameter des Berührungs- 
punktes der ursprünglichen Definition dieser Parameter zufolge: 


+ U = w' — w” (mod. 2P”). 

Formel (27) gibt jetzt für die beiden anderen Schnittpunkte 
+U=w'+w” +2” (mod. 2 P®). 

Nun sind aber die w’ + w”, ebenfalls zufolge der ursprünglichen Definition, 
gleich den Parametern (U) der Tangentialebene, die zu unserer singulären 
Linie gehört, während die beiden vom Berührungspunkte verschiedenen 
Punkte, in denen unsere singuläre Linie der Kummerschen Fläche be- 
gegnet, diejenigen Punkte sind, welche der genannten Ebene in dem Kom- 
plexe A” als Büschelmittelpunkte entsprechen. Wir haben also folgenden 
Satz (in welchem ich A statt 2” geschrieben habe): 

Die Mittelpunkte der beiden Strahlbüschel, die einem Komplex i in 

einer Ebene (U) angehören, sind durch folgende Formel gegeben: 
A,Yr a) 

(28) + U = (U) + 2 [dw (mod. 2P®). 
Dabei erinnere man sich, daß dieselben beiden Punkte als Punkte der in 
der Ebene enthaltenen Kurve vierter Ordnung nach $ 10 die folgenden 
Parameter erhielten: BE 

Ay) 

W= + [au (mod. P®”), 

wobei wir noch willkürlich festsetzen können, ob das Plus- oder das Minus- 
zeichen dem in (28) auftretenden Pluszeichen entsprechen soll. 

2. Wir haben hiermit das Mittel gewonnen, um konjugierte Punkte 
und Ebenen durch ihre transzendenten Parameter zu charakterisieren. Unter 
w', w" einfache Integrale verstanden, die den oberen Grenzen 1.2 zuge- 
hören, betrachte man folgende Ebenen: 





21) Vgl. hier überall Rohn in Bd. 15 der Math. Ann., S. 349 ff. Die von mir 
gegebene Darstellung weicht von der Röhnschen einmal durch die bindenden Verab- 
redungen betrefis der Vorzeichen, dann aber dadurch ab, daß ich immer neben den 
Parametern U der Punkte der Kummerschen Fläche die Parameter (U) ihrer Ebenen 
in Anwendung bringe. 


192 Zur Liniengeometrie. 


(29a) (3, (U) +2w +2w” 
und zugleich die Punkte: 
(295) (U) +2w, (U)+2w”. 


Aus (28) ergibt sich dann sofort, daß beide Punkte der Ebene (U) in den 
Komplexen 4’, 2” und der Ebene (U)+2w’-+2w” in den Komplexen 
Far 4 zugeordnet sind. Dies aber heißt sofort, daß Ebenen und Punkte im 
allgemeinsten Sinne konjugiert sind (Theorem (A) des $ 2). Also: 

Konjugierte Ebenen und Punkte werden durch die Formeln (29) 
geliefert. 

3. Ich will zum Schluß noch eine gerade Linie betrachten, welche 
durch den Anfangspunkt der Kummerschen Fläche läuft. Für sie kann 
w' — w”, w”’ = wIV” genommen werden und wir erhalten dann für die 
weiteren beiden Schnittpunkte, die sie mit der Kummerschen Fläche ge- 
mein hat, nach (27): 

(30) +U=2(w+w”), bz. tU=2(w— w”). 


Ich werde weiter unten dieses Resultat benutzen und bemerke hier nur, 
daß durch diese Formeln eine elementare Methode indiziert ist, um die 
Parameter U der Punkte der Kummerschen Fläche einzuführen, indem 
man die Punkte den durch sie gehenden Linien zuordnet, welche durch den 


Anfangspunkt laufen, die Parameterpaare Ber ua bestimmt, die einer solchen 
Linie zukommen, usw.”?) 


8 12. 
Transzendente Darstellung der früher untersuchten Konfigurationen. 


Aus den nunmehr formulierten Sätzen können wir jetzt die früheren 
Theoreme über Konfigurationen, welche der Kummerschen Fläche gleich- 
zeitig eingeschrieben und umgeschrieben sind, mit leichter Mühe wieder- 
gewinnen. 

Es seien K,, K, irgend zwei Konstante, a,, a,; b,, b,; €,, 6, ein- 
fache Integrale. Wir betrachten die vier Punkte der Kummerschen 
Fläche: 


(31a) +U=-]&-arbdr6, (mod. 2 P®) 








?2) Es ist dies im wesentlichen diejenige Methode, welche Herr Darboux im 
92. Bande der Comptes Rendus, S. 1493—1495, entwickelt. 


XII. Über Konfigurationen der Kummerschen Fläche. 193 


und die vier Tangentialebenen derselben: 
eK ta+b-+ec, 
K+a—bdb-c, (#) 

(31b) A er une 
K-a-—b-+e. 
Offenbar liegt, nach Formel (28), der an- s-ter Stelle angeführte Punkt je 
in denjenigen drei Ebenen (31b), die nicht an der i-ten Stelle stehen 
und entspricht in jeder dieser Ebenen als Büschelmittelpunkt bez. einem 
der drei Komplexe a, b oder c”?). Gleichzeitig sind, nach (29), je zwei 
Punkte mit den beiden durch sie gemeinsam hindurchgehenden Ebenen 
konjugiert. Dies aber ist die ganze Theorie der früher als ‚ausgezeichnet‘ 
benannten fünffach unendlich vielen Tetraeder. Die Zahl Fünf resultiert 
dabei aus den drei Paaren einfacher Integrale (@, b undc) und den beiden 
unabhängigen Konstanten K,,K,. 

2. Nicht minder einfach ist die Darstellung der Konfigurationen (16),°*). 
Es seien a,b,c,d,e, f die Bezeichnungen für sechs Paare einfacher Inte- 
grale, und es mögen e’, e”, e””, e!P nach Belieben die positive oder negative 
Einheit bedeuten. Dann werden die 16 Ecken und 16 Ebenen unserer 
sechsfach unendlich vielen Konfigurationen durch die Formeln gegeben sein: 


+ Uzateb+Ee"c+e"d+eVe— ee" "elVf, 
+ WD)=ateb+e’c+e”dtelVe+te'e"e”"elVf, 
wo die zugehörigen sechs Komplexe zweiten Grades direkt durch a,b,c, 
d,e,f bestimmt sind. 
Beispielsweise liegen in der Ebene: 
(D=a+bdb+c+d+te+f, 

und zwar den sechs Komplexen a, b, c, d, e, f entsprechend, die sechs 
Punkte: ern 
+a—b+c+d+te+f, 





\ 


(32) (mod. 2 P*) 


Als Punkte der C,, welche von der Ebene aus der Kummerschen Fläche 
ausgeschnitten wird, erhalten diese Punkte die transzendenten Parameter: 


W=a,b,c,d,e, f (mod. P®), 


deren Summe dem Parameter (U) der Ebene selbst gleich ist. Hierin liegt 
unmittelbar, nach Formel (24), daß unsere sechs Punkte aus der C, von 





°») Ich benutze hier die zu den Parametern A der Komplexe gehörigen einfachen 
Integrale kurzweg zur Benennung der Komplexe selbst. 
%) Vgl. wieder Rohn |. e. 


Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 13 


194 Zur Liniengeometrie. 


einem Kegelschnitte ausgeschnitten werden, der zur ©, adjungiert ist, usw. — 
Man beachte noch, daß durch Angabe der Komplexe a,b,c... die ein- 
fachen Integrale ta, +5, +c,... nur modulo einfacher Perioden be- 
stimmt sind. Wir erhalten also aus einer ersten zu den genannten Kom- 
plexen gehörigen Konfiguration (16),, die durch (32) gegeben sein mag, 
im ganzen 16 gleichberechtigte, die aus (32) hervorgehen, indem man sämt- 
liche U und (U) um dieselbe Kombination einfacher Perioden vermehrt. 
Von diesen 16 Konfigurationen war schon oben in der Anmerkung zu $ 5 
die Rede. — Daß man unter den Punkten und Ebenen (32) die Ecken 
und Seitenflächen von 80 ausgezeichneten Tetraedern, dem Schema (31) 
entsprechend, herausgreifen kann, liegt unmittelbar auf der Hand. — 

Die hiermit gewonnene Darstellung unserer früheren Konfigurationen 
ist so einfach, daß wir sofort allgemeinere Konfigurationen derselben Art 
konstruieren können. Einmal werden wir, indem wir die Formeln (31) 
mit den (32) vergleichen, auch letzteren additive Konstante X willkürlich 
zufügen ‚wollen, andererseits aber statt der drei Paare einfacher Integrale 
von (31) und der sechs Paare von (32) deren überhaupt eine beliebige 
Zahl, sagen wir » ins Auge fassen. Indem wir diese Integrale der besseren 
Übersicht halber mit w’,w”, ... bezeichnen, erhalten wir so Aggregate 


von 2””' Punkten und 2””' Ebenen der Kummerschen Fläche, die 
durch folgende Formeln definiert sind: 


v—1 
+U=ew4e'w" +... +er9.0rd— ]J e®- we) + K (mod. 2P®), 
(33) { i-1 


vi: 
| + U)=ew+e"w7 +... +eeD. werd + ]] e@ -w® + K (mod. 2P®”). 
i=1 
Es ist nicht meine Absicht, die Theorie der sich solchergestalt dar- 
bietenden Konfigurationen, zu der übrigens im vorangehenden alle Mittel 
gegeben sind, eingehender zu verfolgen. Vielmehr möchte ich hier neben 


ihnen noch allgemeinere Konstruktionen in Betracht ziehen, die entstehen, 
indem wir die Argumente U eines Punktes oder (U) einer Ebene um be- 





liebig gegebene Konstante 0,0’,C”,... vermehren. Wenn man die hyper- 
elliptischen Funktionen den elliptischen parallelisiert, so entsprechen unsere 
neuen Konstruktionen unmittelbar den wohlbekannten Polygonen von 
Poncelet, die sich auf Kegelschnitte eines Büschels oder einer Schar 
beziehen ?°). 





25) Verallgemeinerungen der Ponceletschen Sätze, welche durch Einführung 
hyperelliptischer Funktionen vom Geschlechte Zwei an Stelle der elliptischen Funk- 
tionen entstehen, sind auch jene Theoreme über geradlinige beim Flächenbüschel zweiter 
Ordnung auftretende Polygone, die neuerdings Herr Staude in Bd. 22 (1883) der Math. 
Ann. systematisch untersucht hat. In seiner Dissertation (Über die Darstellung der 


XI. Über Konfigurationen der Kummerschen Fläche. 195 


8 13. 
Das Additionsproblem der transzendenten Parameter. 


Die Elementaraufgabe, mit der wir "uns jetzt zunächst beschäftigen 
müssen, verlangt, aus einem Punkte U der Kummerschen Fläche, bez. 
aus einer Ebene (U) derselben allgemein den Punkt oder die Ebene zu 
konstruieren, welche durch die Formel: 

(34) | =-U+O, red. (U)=-(U)+C 
definiert sind. 

Konstatieren wir zunächt, daß die Aufgaben, welche hier einander 
dualistisch koordiniert erscheinen, in der Tat untrennbar miteinander ver- 
bunden sind. Sind nämlich irgendwelche Punkte U in einer Ebene (U) ge- 
legen, so werden die Punkte U +C in der Ebene (U) -+C enthalten sein. In 
der Tat ist ja die Bedingung für die vereinigte Lage von Punkt und Ebene 
nach unseren früheren Entwicklungen die, daß die Differenz der betreffen- 
den transzendenten Parameter gleich dem Doppelten eines einfachen Inte- 
grales ist, — und diese Differenz wird durch Einfügen der Konstante C 
nicht geändert. 

Bemerken wir ferner, daß unsere Aufgabe im allgemeinen zwei, un- 
trennbar miteinander verbundene Lösungen besitzt. Wir verstehen dies 
am besten, wenn wir uns dessen erinnern, was in $ 9 über die Beziehung 
der Punkte der Kummerschen Fläche auf das 16-fache Periodenparallel- 
epiped des Raumes der U gesagt wurde”®). Wenn wir solche Wertsysteme 
der U, die sich um doppelte Periöden unterscheiden, als gleichwertig er- 
achten, so wird durch (34) einem jeden Werte von (Ü entsprechend eine 
eindeutige Transformation des Periodenparallelepipedes in sich selbst vor- 
gestellt. Aber für die Kummersche Fläche wırd dieselbe im allgemeinen 
zweideutig. In der Tat, dem einzelnen Punkte der Kummerschen Fläche 
entspricht ebensowohl die Stelle + U als die Stelle — U des Paraliel- 
epipeds, und wir müssen ihm also ebensowohl den Punkt U-+-C als den 
Punkt — U-+-C, oder, was dasselbe ist, den Punkt U — C', entsprechend 





Flächen vierter Ordnung mit Doppelkegelschnitt durch hyperelliptische Funktionen, 
Leipzig 1885, siehe auch Grunerts Archiv, Neue Serie, Teil II) hat nun Herr Domsch 
die betreffenden Polygone durch einen direkten geometrischen Übertragungsprozeß 
mit Schließungssätzen für die Kummersche Fläche, bez. für die zugehörigen Kom- 
plexe zweiten Grades, in Verbindung gebracht. Die von Herrn Domsch benutzten 
Konstruktionen sind indes minder einfach, als die von mir im Texte abzuleitenden, 
und scheinen dementsprechend einem weiteren Gebiete als spezielle Fälle anzugehören ; 
ich begnüge mich also hier, beiläufig auf dieselben verwiesen zu haben. [Vgl. hierzu 
die folgende Abhandlung XIII.) 

2%) Ich lasse der Einfachheit halber im Texte die Ebenen (U) beiseite, wie ich 
auch im folgenden immer nur entweder die Punkte oder die Ebenen bei den Kon- 
struktionen betrachte, wie es gerade am bequemsten scheint. 


13* 


196 Zur Liniengeometrie. 


setzen. Diese beiden Punkte aber fallen nur dann zusammen, wenn ent- 
weder C' gleich einer ganzzahligen Verbindung der Perioden ist (wo wir 
dann zu den 16 Kollineationen geführt werden, die die Kummersche 
Fläche in sich transformieren) oder wenn U einer solchen Verbindung 
gleich ist, wir also einen Doppelpunkt der Fläche herausgegriffen haben. 

Wir können das Gesagte auch so ausdrücken: Unsere Aufgabe bleibt 
ungeändert, wenn wir die Konstante Ü im Vorzeichen umkehren. Daß 
sie ebenfalls ungeändert bleibt, wenn wir C um beliebige gerade Multipla 
der Perioden vermehren, braucht kaum hervorgehoben zu werden. 

Was nun die konstruktive Behandlung unserer Aufgabe angeht, so 
sind alle Mittel dazu in $ 11, insbesondere in den Formeln (26), (27) 
daselbst enthalten. Ich will hier insbesondere von den Ebenen (26) en 
Nehmen wir irgendzwei derselben, z, B. 

w + w” — w” — wIV 

w + w"+w”—4 wIv, 
und bezeichnen die erste mit (U), die zweite mit (U)-+C, so wird 
C=2(w”-+wIV), eine Gleichung, die sich bei beliebig gegebenem C be- 
friedigen läßt. Es kommt also nur darauf an, den Zusammenhang zwischen 
den beiden in Betracht genommenen Ebenen in Form einer Konstruktions- 
vorschrift auszusprechen. Ich kann dies bei der Einfachheit der Sache 
ohne weitere Zwischenbetrachtungen ausführen. Wir verfahren folgender- 


maßen: 
Vor allen Dingen setzen wir 


und 





am Vera”) Ir ra’) 
c=2 (f dw + dw) (mod. 2P®) 
z \ „ 
was uns 4 ,A!” und die zugehörigen Quadratwurzeln Vf 2% Vf (17?) ein- 
deutig bestimmt, — sofern wir von dem nicht in Betracht kommenden 


Ausnahmefalle absehen, daß C,,C,= 0,0 (mod. ep ist. Wir denken 
uns dann die Durehschnittskurve der Ebene (U) mit der Kummerschen 
Fläche gezeichnet und suchen auf ihr die beiden Punkte, welche den Kom- 


plexen A”, A’’ in der Art zugehören, wie es durch die Vorzeichen der mit- 


bestimmten Va”), Vera”) verlangt wird. Hier ist es nun, wo die 
Zweideutigkeit der Konstruktion Platz greift. Wie wir immer wieder be- 
tonten, kann unsere ©, auf die fundamentale zweiblättrige Riemannsche 
Fläche auf zwei Weisen bezogen werden. Bezeichnen wir mit p””, p!P die 
beiden Punkte unserer C,, welche bei Anwendung der einen Beziehungs- 
weise resultieren, so sind mit ihnen die anderen beiden Punkte, die bez. 
mit ihnen auf denselben durch den Doppelpunkt der ©‘, laufenden geraden 


XI. Über Konfigurationen der Kummerschen Fläche. 197 


Linien liegen und die ich n””, rn!” resp. nennen will, gleichberechtigt. Wir 


verbinden jetzt p”’, p!’ und ebenso rn”, a!P durch eine Gerade. Wir 
werden die Ebenen (U) + bekommen, indem wir durch jede dieser @e- 
raden diejenige Ebene hindurchlegen, welche zu (U) und zu p”, p!”, bez. 
zu a”, nIV, konjugiert vst. 

Wir fügen dem Gesagten noch folgende Bemerkung hinzu. Haben wir 
eine der beiden in Rede stehenden Ebenen gewählt, z. B. diejenige, die 
durch p»”, p!Y’ geht, so folgt, daß in ihr p”” und 9»/” den Wurzeln 


an und Ze zugeordnet werden müssen, womit die Be- 
ziehung der in der neuen Ebene enthaltenen Durchschnittskurve vierter 
Ordnung zur fundamentalen Riemannschen Fläche festgelegt (sogar über- 
bestimmt) ist. Handelt es sich also jetzt darum, aus der Ebene (U) + © 


weitergehend eine neue Ebene (U) +C +0’ zu konstruieren (wo die C 
irgendwie gegeben sein sollen), so ıst dies eine Aufgabe, welche nur eine 
Lösung zuläßt. 


8 14. 
Verschiedene Polygonkonstruktionen. 


Es gibt zweierlei Weisen, um durch Wiederholung der Additions- 
operation des vorigen Paragraphen geschlossene Serien von Punkten (oder 
Ebenen) zu gewinnen. Entweder wir addieren zu einem anfänglichen Ele- 


mente solche Konstante C,C’,C”,... zu, deren Summe unmittelbar ver- 


schwindet, oder aber, wir wählen 0,0’, C”,... derart, daß ihre Summe 
gleich einem geraden Periodenvielfachen ist. Einen besonders einfachen 
Fall der ersten Art haben wir, wenn wir nach vorgängiger Addition be- 


liebiger Größen 0,0’, ... hinterher dieselben Größen 0, C’,.... wieder sub- 
trahieren. Wenn wir dabei die Reihenfolge der Summanden und Subtra- 
henden noch beliebig permutieren, so bekommen wir Aggregate von Punkten 
oder Ebenen, deren Beziehung zu den früher betrachteten Konfigurationen auf 
der Hand liegt. Einen besonders einfachen Fall der zweiten Art bekommen 


wir, wenn wir Ö, C',... einander gleich nehmen. Wir betrachten also etwa 
die Serie der Punkte 
...U—-20, U—-0, U, U+C, U+2C,... 
Ist 
(1) (2) (8) (4) 
(35) 03. en _ in 
(wo a,,4,,Q,, a, vier ganze Zahlen vorstellen sollen, die mit der gleich- 
falls ganzen Zahl n keinen Faktor gemein haben), so wird unsere Punkt- 
reihe mit n Punkten abgeschlossen sein, und zwar unabhängig von der 





198 Zur Liniengeometrie. 


Wahl des Ausgangspunktes”’); ist C nicht in solcher Form darstellbar, 
so kann sich die Punktreihe niemals schließen. Ich will n insbesondere 
(um Einzeldiskussionen zu entgehen, die hier zunächst kein Interesse 
haben) als ungerade Primzahl voraussetzen. Dann sind in der Formel (35) 
[n‘ — 1] wesentlich verschiedene Werte von C' enthalten. Indem © und 
— C immer gleichzeitig bei der Konstruktion der einzelnen Punktreihe in 


RE ı_] x i 
Betracht kommen, erhalten wir im ganzen I verschiedene Serien. Aber 


jedesmal = derselben enthalten dieselben Punkte. Denn ich werde, 


von Ü ausgehend, in allerdings veränderter Reihenfolge jeweils dieselben 
Elemente erhalten, wenn ich statt des anfänglich gewählten © das Dop- 
pelte, 2C, oder das Dreifache, 3C, usw. in Anwendung bringe. Die An- 
zahl der verschiedenen hier resultierenden Punktaggregate ist also (n' — 1): 
(n—1)=n?+n?-+n+1, gleich der Zahl der unterschiedenen Trans- 
formationen »-ter Ordnung. Es scheint vom geometrischen Standpunkte 
aus interessant, die sämtlichen n* — 1 Punkte, welche durch 

2 3 a, P(2) +a, pP) + a,Pp'® 

N 





U+2 


gegeben sind, mit dem Punkte U zu einer Figur zu vereinigen. — 


$ 15. 


Über eindeutige Transformationen der Kummerschen Fläche 
in sich selbst. 


Ich wünsche hier noch eine letzte Frage zu berühren. Wir kennen 
von früher her 32 eindeutige Transformationen der Kummerschen Fläche 
‘in sich selbst: die oft genannten 16 Kollineationen und 16 Reziprozitäten. 


Erstere erhält man, wenn man (um nur von den Punkten der Kummer- 
4 


schen Fläche zu reden) U—-U+ BE EP” setzt, wo die e” nach Be- 
1 


’ 


lieben 0 oder 1 bedeuten, letztere, indem man U — u’— u” nimmt und 


4 
dann U —=w+u”+ 2 EP” sein läßt. Hierüber hinaus erkennt man 
1 


auf geometrischem Wege die Existenz noch weiterer 32 eindeutiger Trans- 
formationen. Dieselben setzen solche zwei Punkte der Kummerschen 
Fläche einander entsprechend, die entweder ihre Verbindungslinie durch 
einen der 16 Doppelpunkte der Fläche schicken oder deren Tangential- 





?”) Sollte sich unter den Punkten unserer Reihe ein Doppelpunkt der Kummer- 
schen Fläche befinden, so muß unsere Behauptung in leicht erkennbarer Weise modi- 
fiziert werden. 


XII. Über Konfigurationen der Kummerschen Fläche. 199 


ebenen sich in einer geraden Linie kreuzen, die einer der 16 Doppelebenen 
angehört. Die 32 neuen Transformationen erwachsen offenbar, indem man 
auf eine derselben die 32 Transformationen der ersten Art (die Kolline- 
ationen und Reziprozitäten) anwendet. Es wird also genügen, wenn wir 
nur eine der neuen Transformationen analytisch darstellen. Dies aber wird 
durch Formel (30) geleistet. Dieselbe besagt, daß die Parameter solcher 
zwei Punkte, deren Verbindungslinie durch den Anfangspunkt der Kummer- 
schen Fläche geht, sich in der Form 


2(w'+w”) und 2(w’-- w”) 
darstellen, unter w’, w” einfache Integrale verstanden. Um also zu einem 
Punkte U den in der betreffenden Transformation entsprechenden U’ zu 
finden, hat man einfach U— 2(w’-+ w”)zu setzen und dann U’ = 2(w’ — w”) 
zu nehmen. Es ist die Frage, ob mit den 64 eindeutigen Transformationen, 


welche wir sonach kennen, die sämtlichen eindeutigen Transformationen 
der Kummerschen Fläche in sich selbst erschöpft sind. 


Leipzig, den 28. September 1885. 


Xlll. Zur geometrischen Deutung des Abelschen 
Theorems der hyperelliptischen Integrale. 


[Math. Annalen, Bd. 28 (1886).] 


In der im vorigen Annalenbande abgedruckten Arbeit über Konfigura- 
tionen, welche der Kummerschen Fläche zugleich eingeschrieben und um- 
geschrieben sind [vgl. die vorstehende Abhandlung XII], entwickele ich 
im Anschlusse an die Untersuchungen von Herrn Rohn u.a. einen Satz, 
demzufolge eine gerade Linie mit den elliptischen Koordinaten 4, , A,, A,, A, 
sich entweder um einen festen Punkt der zugrunde liegenden Kummerschen 
Fläche dreht oder in einer festen Tangentialebene derselben fortschreitet, 
sofern bei irgendwie fixierten Vorzeichen die Differentialgleichungen des 
Abelschen Theorems erfüllt sind: 


4 
zug MER 76 
(a) Fe _ 
at VP(A,) 


wo v»—(, 1 zu nehmen ist und (A) das Produkt bezeichnet: 
6 


?()= J[Ua-%). 


i=1 





» 


Ich berühre ferner (S. 138 daselbst, Fußnote) eine andere Deutung des- 
selben Theorems, die sich für Differentiale von analogem Aufbau in der 
Dissertation des Herrn Domsch findet?!) und auf deren Inhalt ich weiter 
unten noch genauer eingehen werde. Die folgenden Entwicklungen, die 
ich bei Gelegenheit zusammenstellte, haben den Zweck, die allgemeinen 
auf konfokale Mannigfaltigkeiten zweiten Grades eines beliebig ausgedehnten 
Raumes bezüglichen Sätze aufzuweisen, unter welche sich die gesamten 
Theoreme subsumieren. Hierdurch wird, wie ich hoffe, nicht nur über die 
zunächst in Betracht kommenden liniengeometrischen Theoreme und eine 
große Zahl ähnlicher Beziehungen neue Klarheit verbreitet, sondern insbe- 
sondere auch unsere allgemeine Kenntnis der konfokalen Mannigfaltigkeiten 
zweiten Grades durch Aufweisung einer merkwürdigen Gruppierung gewisser 
in ihnen enthaltener linearer Räume wesentlich vervollständigt. Letzteres 





1) 1885, vgl. Grunerts Archiv, Neue Serie. Teil II. 


XIII. Zur geometrischen Deutung des Abelschen Theorems. 201 


aber erscheint um so wertvoller, als die Gruppierung der auf quadratischen 
Mannigfaltigkeiten enthaltenen linearen Räume immer noch wenig unter- 
sucht ist, während sie doch in verschiedenem Betracht von durchschlagender 
Wichtigkeit sein muß; man vergleiche die Schlußbemerkungen der [im 
28. Bande der Math. Annalen] vorangehenden Arbeit: Über die Auflösugg 
der allgemeinen Gleichungen sechsten und siebenten Grades.”) — Um die 
Darstellung nicht zu abstrakt zu gestalten, erörtere ich die zur Verwendung 
kommenden Schlußweisen zunächst ausführlich für den dreidimensionalen 
Punktraum, übertrage dieselben dann in großen Zügen auf den Raum von 
beliebig vielen Dimensionen und steige schließlich zum Falle der Linien- 
geometrie wieder herab. Mein Grundsatz ist dabei, im Gegensatze zu 
sonstigen diese Fragen betreffenden Arbeiten möglichst wenig zu rechnen, 
weshalb ich denn auch in $ 1 und anderwärts auf den Beweis sonst be- 
kannter Theoreme aufs neue eingehe. 


81. 
Die konfokalen F“’ des I; und der auf sie bezügliche Fundamentalsatz. 


Indem ich von der Berücksichtigung irgendwelcher metrischer Be- 
ziehungen oder Realitätsdiskussionen im folgenden durchweg absehe, definiere 
ich hier, was fortan eine Schar konfokaler Flächen zweiten Grades des dreifach 


ausgedehnten Punktraums genannt werden soll, durch folgende Gleichung: 
4 


EA RE 
(2) = vg = ’ 
in der die k, irgendwie gegebene voneinander verschiedene Größen, die x, aber 
beliebige Tetraederkoordinaten bedeuten sollen. Als elliptische Koordinaten 
des Punktes i bezeichne ich die Wurzeln A,,A,, A, (allgemein A,), welche (2) 


bei festgehaltenen x, für A als Unbekannte ergibt. Schreiben wir dann: 
4 





(3) #(@)= [I (4 k.)-(A—a) (Ab) 
i=1 
und verlangen das Bestehen der Abelschen Differentialgleichungen: 
3 
+is-di 
(4) = 0, 6-0), 
a1 VP (da) 


so bewegt sich der Raumpunkt /, einem Satze zufolge, der wohl zuerst 
von Liouville aufgestellt wurde?) und der hier als Fundamentalsatz be- 





?2) (Vgl. Bd. II dieser Ausgabe.) 

®) Journal des Math&matiques, ser. I, Bd. 12 (1847). Wegen weiterer hier an- 
knüpfender Entwicklungen und insbesondere der einschlägigen Literatur vgl. Staude 
in Bd. 22 der Math. Ann. (Geometrische Deutung des Additionstheorems der hyperellip- 
tischen Integrale usw., 1883). 


202 Zur Liniengeometrie. 


zeichnet werden soll, auf einer geraden Linie, welche die Flächen A = a und 
i=b berührt. Aus dem in der Einleitung bemerkten Grunde und mit Rück- 
sicht auf die Verallgemeinerungen, die ich für höhere Fälle beabsichtige, gebe 
ich hier zunächst einen neuen, möglichst einfachen Beweis dieses Satzes. 


« Mein Beweis ruht darauf, das algebraische Gebilde, welches von der 
Gesamtheit der Schnittpunkte einer beliebigen Raumgeraden mit den 
Flächen (2) gebildet wird, in doppelter Weise aufzufassen. Erstlich nehme 
ich, wie es am nächsten liegt, je diejenigen drei (durch die Werte A|, A,, 4, 
des zugehörigen A unterschiedenen) Schnittpunkte zusammen, welche in den 
nämlichen Punkt der Raumgeraden fallen. Das algebraische Gebilde stellt 
sich dann als dreifache Überdeckung unserer Raumgeraden dar, wobei die drei 
Überdeckungen an denjenigen Stellen Verzweigungspunkte haben, an denen 
die Raumgerade der developpablen Fläche begegnet, welche den Flächen (2) 
gemeinsam umgesehrieben ist. Als Zahl dieser Stellen ergibt sich auf Grund 
bekannter Abzählungen acht, woraus sich das Geschlecht des algebraischen 
Gebildes als zwei berechnet. Wir schließen sofort, daß es zwei zugehörige 
überall endliche Differentiale gibt, die wir d u”, dw” nennen wollen. Indem 
wir noch durch einen unteren Index 1, 2 oder 3 unterscheiden, ob wir unsin 
der ersten oder der zweiten oder dritten Überdeckung der Raumgeraden be- 
finden (ob wir uns also die in den Differentialen vorkommende algebraische Funk- 
tion des Ortes, A, gleich A, oder gleich A, oder A, gesetzt denken wollen) haben 
wir In bekannter Weise bei beliebigem Fortschreiten auf der Raumgeraden: 


(5) du + du Hd" =0, du +tdu” +du®—=0. 


Wir wenden uns jetzt zur zweiten Auffassung unseres algebraischen Ge- 
bildes. Dieselbe ruht darauf, daß wir immer diejenigen zwei Stellen des- 
selben zusammengenommen denken, welche derselben Fläche A der Schar (2) 
angehören. Wir erhalten so eine zweifache Überdeckung des Gebietes der 
Variablen A, wobei, damit das Geschlecht 2 herauskomme, sechs Ver- 
zweigungsstellen auftreten müssen, solchen Flächen zweiten Grades der 
Schar (2) entsprechend, die unsere Raumgerade in zusammenfallenden 
Punkten treffen. Vier dieser letzteren Flächen sind a priori bekannt: es 
sind die doppeltzählenden Ebenen des Koordinatentetraeders der x,;, welche 
unter der Schar (2) für A=k,k,,k,,k, enthalten sind; die anderen 
beiden (die beliebig liegen können) nennen wir, um den Anschluß an die 
Formeln (3) und (4) zu erzielen, A=a und 4=b. Ich will auch die Be- 
zeichnung @(A) der Formel (3) wieder aufnehmen. Dann ist vermöge 
unserer neuen Auffassungsweise ersichtlich, daß die beiden soeben einge- 
führten Differentiale du”, dw” in folgende Form gesetzt werden können: 


+di + Adi 


ve (ih ve) 











(6) du” — ‚, du" = 


4 


XIII. Zur geometrischen Deutung des Abelschen Theorems. 203 


- Dies aber in (5) eingetragen ergibt die Formeln (4), womit der gewünschte Be- 
weis der letzteren erbracht ist. In der Tat ist ja die „beliebige‘‘ Raumgerade, 
mit der wir unseren Beweis begannen, im Verlaufe des Beweises von selbst 
in eine solche übergegangen, welche die Flächen A= «a und 4 —b berührt. 
Übrigens ist leicht zu sehen, daß wir unseren Fundamentalsatz noch 
ein wenig strenger formulieren können. Man beachte, daß von einem be- 
liebigen Raumpunkte aus an zwei gegebene Flächen zweiten Grades vier 
gemeinsame Tangenten möglich sind, während die Differentialgleichungen (4) 
vermöge der in ihnen unbestimmt bleibenden Vorzeichen gerade auch vier 
Fortschreitungsrichtungen vom Punkte A aus bestimmen. Wir wußten bis- 
her nur, daß unsere Differentialgleichungen tatsächlich erfüllt sind, wenn 
wir auf einer der genannten gemeinsamen Tangenten fortschreiten; wir 
sehen jetzt, daß sie auch auf keine andere Weise erfüllt werden können. 
Die gemeinsamen Tangenten der Flächen A=a und A—=b sind also als 
Integralkurven der Differentialgleichungen (4) charakterisiert. In diesem 
verschärften Sinne soll fortan unser Fundamentalsatz aufgefaßt sein. 


52. 


Die erste Ausdehnung des Fundamentalsaizes. 


Statt der Gleichungen (3), (4) betrachte ich jetzt einen Augenblick 

die folgenden: i ö 
|  +di, 

(7) Y (A) IK k;), 2 re Eu ee 
wo in @, (A) die beiden in dem früheren @ (4) enthaltenen Faktoren (A — a) 
und (4—b), die ich fortan als willkürliche Faktoren bezeichne, weg- 
geblieben sind und dafür nur eine Differentialgleichung geschrieben ist, bei 
der sich das Summenzeichen auf die beiden Indizes 1 und 2 beschränkt, 
so daß A, als konstant zu gelten hat. Welches ist die geometrische Deu- 
tung dieses Gleichungssystems? Da wir A, = Const. gesetzt haben, so 
liefert die Integration von (7) jedenfalls solche Kurven, die ganz auf einer, 
übrigens beliebigen F® unserer Schar verlaufen. Man erkennt jetzt leicht, 
daß es sich einfach nur um die geradlinigen Erzeugenden der F 9 handelt‘). 
Der Beweis läßt sich genau so gliedern, wie beim Satze des vorigen Para- 
graphen. Wir haben unsere Aufmerksamkeit wieder einem einfach ausge- 
dehnten algebraischen Gebilde zuzuwenden, nämlich demjenigen, das von 





*) Dieser Satz ist keineswegs neu; man findet ihn bespielsweise in Herrn Dar- 
boux’ Buche: Sur une classe remarquable de courbes et de surfaces algebriques ( Paris 
1873), auf welches ich hier um so lieber verweisen will, als es mannigfache Beziehungs- 
punkte auch zu den folgenden Paragraphen des Textes darbietet. 


204 Zur Liniengeometrie. 


den Schnittpunkten einer geradlinigen Erzeugenden unserer festen F mit 
den übrigen F” der konfokalen Schar gebildet wird. Dieses Gebilde kann 
einmal so aufgefaßt werden, daß es die gewählte Erzeugende mehrfach (und 
zwar doppelt) überdeckt, andererseits wieder so, daß jeder Fläche A zwei 
seiner Elemente zugeordnet werden, wobei sich Verzweigungsstellen bei 
A—=k,,k,, k,, k, einstellen. Der Vergleich beider Auffassungsweisen ergibt 
sofort, daß die Differentialgleichung (7) beim Fortschreiten auf einer gerad- 
linigen Erzeugenden der festen F® tatsächlich erfüllt ist. Nun bietet (7) 
aber ebenso viele Vorzeichenkombinationen dar, als die Zahl der Erzeugenden 
beträgt, die auf 4, = Const. durch einen beliebigen Punkt laufen. Die ın 
Rede stehenden Erzeugenden sind also wieder auch die einzigen Kurven, 
die der vorgeschriebenen Differentialbeziehung genügen. 

Diese Betrachtung und Interpretation der Gleichungen (7) sollen hier 
nur vorläufige Bedeutung haben. Was wir eigentlich anstreben, ist die 
geometrische Interpretation der folgenden Gleichung: 


3 
+ di 
(8) ..... 


wt vP (Au) “ 


in der 9, (A) dieselbe Bedeutung hat, wie in (7), die Summation über « 
aber von 1 bis 3 erstreckt ist, also sämtliche A als beweglich gelten. Offenbar 
handelt es sich jetzt darum, daß der Punkt A, , A,, A, auf gewissen Flächen 
fortschreitet, die den Raum so erfüllen, daß durch jeden Punkt vier der- 
selben laufen. Aus dem Umstande, daß wir es in (8) mit der Differential- 
gleichung des Additionstheorems des elliptischen Integrals erster Gattung 
zu tun haben, werden wir sofort schließen, daß es sich um algebraische 
Flächen handelt. Aber welches ist die nähere Definition dieser Flächen? 
Ich sage, daß wir Ebenen finden, und zwar keine anderen Ebenen, als die 
gemeinsamen Tangentialebenen der F” unserer konfokalen Schar. 

Der nächstliegende Beweis dieses Satzes beruht auf einer direkten Ver- 
allgemeinerung der Betrachtungen des vorigen Paragraphen. Da es bekannt 
ist, daß es gemeinsame Tangentialebenen unserer F gibt und daß diese 
Ebenen eine Devoloppable vierter Klasse umhüllen, so genügt es, zu veri- 
fizieren, daß die Differentialgleichung (8) erfülit ist, wenn wir in einer 
solchen Ebene, die wir als gegeben betrachten, fortschreiten. Dies aber 
gelingt sofort, wenn wir beachten, daß die Paare geradliniger Erzeugender, 
in denen eine solche Ebene von unseren konfokalen F'” geschnitten wird, 
innerhalb der. Ebene eine Kurve dritter Klasse vom Geschlechte Eins um- 
hüllen, zu der ein bestimmtes überall endliches Integral gehört, das wir u 
nennen, — daß für je drei in einem Punkte der Ebene zusammenlaufende 
Tangenten der Kurve dem Abelschen Theoreme zufolge 


uU + U; u, = Const. ° 








XIII. Zur geometrischen Deutung des Abelschen Theorems. 205 


ist, — daß endlich dw vermöge der Beziehung der Kurve auf das Gebiet 
der Variablen A in die Form gesetzt werden kann: 
er 
vP (A) | 


Der Unterschied dieser Betrachtung von der früheren ist ersichtlich nur 
der, daß jetzt eine ebene Kurve zugrunde gelegt wird, wo wir damals eine 
mehrfach überdeckte Gerade vor uns hatten. 

Der hiermit angedeutete Beweis ist an sich so einfach wie möglich. 
Er setzt aber voraus, daß wir über die Existenz und Haupteigenschaften 
der gemeinsamen Tangentialebenen unserer F” bereits unterrichtet sind, 
und eignet sich daher nicht für die weiterhin beabsichtigten Verallgemeine- 
rungen, bei denen uns solche Vorkenntnisse nicht zu Gebote stehen. Ich 
entwickle daher hier eine andere Beweismethode, bei welcher die Existenz 
der gemeinsamen Tangentialebenen unserer F” selbst erst aus (8) er- 
schlossen wird. 

Die neue Methode, welche ich darzulegen habe, geht davon aus, Glei- 
chung (8) mit Gleichung (7) zu vergleichen und die für (7) gefundene 
Interpretation als bekannt vorauszusetzen. Gleichung (7) geht aus Glei- 
chung (8) hervor, indem wir A, konstant nehmen. Wir schließen, daß die 
durch (8) definierten Flächen die Eigenschaft haben, jede Fläche A, — Const., 
d.h. schlechthin jede F” unserer konfokalen Schar, nach Kurven schneiden, 
welche (7) befriedigen, d.h. nach geradlinigen Erzeugenden zu schneiden. 
Unsere Fläche ist also jedenfalls vollständig durch gerade Linien überdeckt. 
Nun gehen ‘aber durch jeden Raumpunkt drei F“” der konfokalen Schar. 
Unsere Fläche ist also sogar dreifach durch gerade Linien überdeckt. 
Dann aber muß sie aus evidenten Gründen eine Ebene sein. Denn eine 
krumme Fläche kann nie mehr als zwei Scharen geradliniger Erzeugender 
aufweisen (Hyperboloid). Wir finden also Ebenen, und zwar Ebenen, 
welche sämtliche F” unserer Schar nach geraden Linien schneiden, d.h. 
gemeinsame Tangentialebenen der F'” unserer Schar, w.z. b. w. 

Wir müssen noch ausführen, daß mit den so definierten Ebenen sämt- 
liche gemeinsame Tangentialebenen unserer F® erschöpft sind. Dies ge- 
lingt folgendermaßen. Wir beträchten irgendzwei durch einen Punkt laufende 
F unserer Schar und die zweimal zwei Erzeugenden, welchen auf diesen 
F” durch den Punkt hindurchgehen. Soll eine gemeinsame Tangential- 
ebene sämtlicher konfokaler F® durch den Punkt hindurch möglich sein, 
so muß dieselbe jede der beiden vorgenannten F® nach einer durch den 
Punkt hindurchlaufenden Erzeugenden schneiden, sie muß also eine der 
beiden durch den Punkt hindurchgehenden Erzeugenden der einen Fläche 
mit einer der beiden entsprechenden Erzeugenden der anderen Fläche ver- 
binden. Die Zahl der durch den Punkt hindurchlaufenden gemeinsamen 


206 Zur Liniengeometrie. 


Tangentialebenen unserer F'” kann also nicht größer als vier sein, und 
da vier gerade auch die Zahl der bei (8) möglichen Vorzeichenkombinationen 
ist, so ist die geforderte Ergänzung unseres Gedankenganges erbracht: 

Durch jeden Raumpunkt hindurch gehen der Differentialgleichung (8) 
entsprechend vier Ebenen, welche geometrisch als gemeinsame Tangential- 
ebenen der F® der konfokalen Schar charakterisiert sind. 

Es ist sehr merkwürdig, daß die Ergänzung, welche wir unserem 
zweiten Beweisgange hinzufügten, zu derjenigen, welche beim ersten Be- 
weisgange nötig war, gewissermaßen komplementär ist. In der Tat handelte 
es sich jetzt darum, daß geometrisch nicht mehr Ebenen einer gewissen 
Definition geliefert werden, als es Ebenen gibt, die der Differentialglei- 
chung (8) genügen, während wir früher zu zeigen hatten, daß unsere 
Differentialgleichungen nicht etwa noch andere Integralmannigfaltigkeiten 
zulassen als diejenigen, deren geometrische Natur wir bereits erkannten. 


S 38. 
Die zweite Ausdehnung des Fundamentalsatzes. 


Die zweite Ausdehnung, die ich dem Fundamentalsatze zu geben beab- 
sichtige, bezieht sich auf folgendes: es soll sich darum handeln, anzugeben, 
wie sich die Bedeutung der Gleichungen (4) oder (8) modifiziert, wenn 
wir in (A) oder g, (A) statt eines oder mehrerer Faktoren (A — k,) will- 
kürliche Faktoren (A — c), (A— d) usw. einführen. 

Um die so gestellte Frage in einfachster Weise zu beantworten, be- 
diene ich mich einer geometrischen Transformation. Ich setze: | 


(9) 6: 
Dann geht Gleichung (2) der konfokalen Flächen zweiten Grades in fol- | 
gende über: r | 


d.h. die Schar der Flächen in die Schar der einfach unendlich vielen Osku- 
lationsebenen einer Raumkurve dritter Ordnung. Für Gleichung (4) aber, 


die wir in unveränderter Form hersetzen: 
4 


(11) Nade _g, "0,1: #W- Ta-m@-a)@-)) 


wei V Yp (Au) il 
ergibt sich nach leichter‘ Überlegung’), daß sie diejenigen Kegelschnitte 





5) Nämlich entweder vermöge unserer Transformation aus dem Fundamental- 
satze des $ 1, oder auch durch Wiederholung des damaligen Beweisverfahrens an dem 
von den Schnittpunkten des Kegelschnitts und der Oskulationsebenen (10) erzeugten 
algebraischen Gebildes. 


XIII. Zur geometrischen Deutung des Abelschen Theorems. 207 


des Raumes der & definiert, welche die Ebenen (10), die folgenden Para- 
meterwerten entsprechen: 
ji=h,k,k,k.,0.b, 


berühren. Gleichung (8) hingegen, die ich ebenfalls noch einmal herschreibe: 


(12) San (na -Ha-n). 


a1 VPı (da) | 2. 
bedeutet jetzt diejenigen Steinerschen Flächen, welche zur Raumkurve 
dritter Ordnung (10) in der Beziehung stehen, daß sie eine beliebige Osku- 
lationsebene derselben in zwei Kegelschnitten schneiden, die vier Oskulations- 
ebenen aber, deren Parameter A bez. gleich k,,k,,k,,k, sind, nach Er- 
streckung ganzer Kegelschnitte berühren. 

Der Gewinn, den wir hiernach durch die Substitution (9) erzielt haben, 
liegt darin, daß die Unterscheidung der Faktoren (A— k,) und der will- 
kürlichen Faktoren (A — a) usw. für die geometrische Deutung gegenstandslos 
geworden ist. Führen wir statt etwelcher Faktoren (A — k,) neue willkür- 
liche Faktoren (A — c) usw. ein, so ist der Erfolg augenscheinlich der, daß 
in den gerade ausgesprochenen Sätzen an Stelle der Ebenen = k, usw. 
die Ebenen A=c usw. zu nennen sind, während die Form der Sätze selbst 
völlig ungeändert bleibt. Dies legen wir jetzt zugrunde und kehren ver- 
möge der Transformation (9) von den £, zu den x, zurück. Die ursprüng- 
liche Frage nach der Bedeutung der modifizierten Differentialgleichungen 
im Raume der x, ist dann in folgende rein algebraische verwandelt: /m 
Raume der £, ist ein Kegelschnitt gegeben (der selbstverständlich mit der 
Raumkurve dritter Ordnung (10) sechs Oskulationsehenen gemein hat) oder 
auch eine Steinersche Fläche, welche zur Raumkurve dritter Ordnung 
in der oben bezeichneten Beziehung steht (die der Raumkurve eingeschrieben 
ist, wie man kurz sagen könnte): es soll entschieden werden, welche 
Bilder Kegelschnitt und Sieinersche Fläche im Raume der x, haben. 

Ich will das Resultat, welches sich unmittelbar darbietet, hier nur 
für den Fall aussprechen, daß sämtliche Faktoren (A — k,) durch willkür- 
liche Faktoren ersetzt worden sind. Dabei benenne ich eine Fläche oder 
eine Kurve oder auch Punktsystem als symmetrisch, wenn die zugehörige 
algebraische Definition bei irgendwelchen Vorzeichenänderungen der x, un- 
geändert bleibt. Wir haben dann folgende Sätze: 

I. Sei 


PÜ)=-A-a)(A-d)A-e)A-A)Ü-e)(A-N), 
dann werden die Differentialgleichungen: 


+4’ .di 
(13) En Mnde SE = 0,1 
2 VP (ie) $ 





208 Zur Liniengeometrie. 


durch symmetrische Kurven achter Ordnung integriert, welche die Flächen 
=a,b,c,d,e,f je achtmal in beziehungsweise symmetrisch gelegenen 
Punkten berühren. 
II. Sei 
9(4)=(1—c)(A—d)(A-e)(A—f). 


Die Integralflächen der Differentialgleichung: 
3 
(14) 


sind dann symmetrische Flächen achter Ordnung, welche jede F” der 
konfokalen Schar in einem Paare symmetrischer Kurven achter Ordnung 
durchsetzen, die Flächen A=c,d,e,f aber nach Erstreckung je einer 
solchen Kurve berühren. 

Wie nun entstehen aus diesen Kurven und Flächen die speziellen, die 
wir in $1 und 2 fanden? Die Sache ist selbstverständlich elementar, und 
so mag es genügen, hier nur das Resultat der betr. Überlegung mitzuteilen. 
Solange in p(A) oder @, (A) der Faktor A — k, noch nicht vorhanden ist, 
wird die Koordinatenebene x,— (0 von der symmetrischen Kürve oder 
Fläche achter Ordnung gewissermaßen senkrecht geschnitten, d. h. so ge- 
schnitten, daß die Tangente der Kurve bez. die Tangentialebene der Fläche 
durch den gegenüberliegenden Eekpunkt des Koordinatentetraeders hin- 
durchläuft. Dies kann nicht völlig aufhören zu gelten, wenn auch einer 
der Faktoren von p(A) oder @, (4) in (A— k,) übergeht, während dann 
doch gleichzeitig die Kurve oder Fläche achter Ordnung die Ebene x, — 0 
berühren soll. Die Folge ist, daß die acht Schnittpunkte der Kurve mit 
der Ebene in vier Doppelpunkte zusammenrücken und die Schnittkurve 
achter Ordnung der Fläche mit der Ebene in eine Doppelkurve vierter 
Ordnung übergeht (während Kurve wie Fläche nach wie vor symmetrisch 
bleiben). Man denke sich dies jetzt bei sämtlichen vier Koordinatenebenen 
gleichzeitig eintretend. Dann ist die Folge, wie man sofort sieht, daß die 
Kurve oder Fläche in ein symmetrisches Aggregat von acht linearen Be- 
standteilen zerfällt, also die Kurve in acht Gerade, die Fläche in acht 
Ebenen, die aus einer Geraden bez. Ebene durch die Vorzeichenwechsel 
der x, hervorgehen. Und nun ist die Beziehung zu den Sätzen der $ 1 und 2 
ohne weiteres ersichtlich: wir haben damals je nur von einer dieser acht 
geraden Linien oder Ebenen gesprochen, insofern wir keinen Anlaß hatten, 
auch noch die anderen Linien usw. zu betrachten, die aus der ersten Geraden 
durch die Vorzeichenwechsel der x, entstehen. Dem entspricht auch, daß wir 
statt der achtmaligen Berührung der Kurve achter Ordnung mit gewissen 
Flächen zweiten Grades in $ 1 nur eine je einmalige Berührung der in Betracht 
kommenden geraden Linie und der Flächen A—= a und 4 = b fanden, usw. — 


dh, 





’ 


221 VPı (da) 


XIII. Zur geometrischen Deutung des Abelschen Theorems. 209 


Ich habe hier gleich die beiden äußersten Fälle einander gegenüber- 
gestellt, daß nämlich an den Produkten (A), p,(A) entweder keiner der 
Faktoren A— k, oder alle dieser Faktoren beteiligt sind. Es hat keinen 
Zweck, die verschiedenen möglichen Zwischenfälle hier einzeln aufzuzählen. 
Ich will hier nur den Fall hervorheben, daß in (A) drei der Faktoren 
(A—k,) und also noch drei willkürliche Faktoren enthalten sind. Die 
Integralkurven des allgemeinen Falles zerfallen dann in Kegelschnitte, 
welche nur auf der einen der vier Koordinatenebenen senkrecht stehen (in 


dem eben erwähnten Sinne) während sie gleichzeitig drei F” der konfo- 
kalen Schar je zweimal berühren ®). 


$4. 


Übergang zu Räumen von (n — 1) Dimensionen. 


Indem wir jetzt statt des gewöhnlichen Punktraums einen Raum von 
(n — 1) Dimensionen, R,_,, einführen, versuchen wir die Entwickelungen 
der $ 1 und 2 auf diesen allgemeineren Fall zu übertragen. Eine gleiche 
Übertragung ist natürlich ebensowohl bei den Betrachtungen des $ 3 statt- 
haft; wir unterlassen sie aber, da sie keinerlei besondere Schwierigkeit 
darbietet und eine bloße Häufung in ihrer Allgemeinheit doch unanschau- 
licher Theoreme nicht unser Zweck sein kann. Auf den Inhalt des $ 3 
kommen wir vielmehr erst zurück, wenn wir später die für beliebiges n 
erhaltenen Resultate am Falle der Liniengeometrie, der n = 6 entspricht, 
wieder spezialisieren. 


Als Ausgangsgleichung für unsere neue Betrachtung werden wir, der 
Gleichung (2) entsprechend, die folgende hinstellen: 


r 
(15) Dr —=/(, 
i=1 


vermöge deren jedem Raumpunkte x im Ganzen (n — 1) elliptische Koor- 
dinaten 





AysAgy 5 An-ı (allgemein 4,) 
zugeordnet werden. Wir wollen dabei sagen, daß jede einzelne Gleichung (15) 
eine quadratische Mannigfaltigkeit von (n— 2) Dimensionen, Ma-.,, be- 
stimmt. Den Buchstaben M mit ähnlicher Stellung zweier Indizes ver- 
wenden wir später allgemein zur Bezeichnung irgendwelcher algebraischer 
Mannigfaltigkeiten nach Ordnung und Dimension. Insbesondere lineare 
in R,_, einbegriffiene Mannigfaltigkeiten bezeichnen wir kurzweg mit dem 





®) Man sehe diesen Satz bei Darboux, |. c. 
Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 14 


210 Zur Liniengeometrie. 


Buchstaben R, wobei wir die Dimensionen wieder durch einen rechts 
unten beigefügten Index markieren (z.B. R,)‘). | 

Wenn wir jetzt zunächst das Analogon zum Fundamentalsatze des 
$ 1 aufstellen wollen®), so werden wir vor allem. dem Produkte der n 
jetzt a priori gegebenen Faktoren 


IH a-%) 
«—=i 
noch (n — 2) willkürlichen Faktoren zufügen, die 
(4 a.) 


heißen sollen («=1,2,...,(n — 2)), so daß ein Ausdruck p(}) entsteht, 


der folgendermaßen lautet: 
n—2 


(16) ea) = TTü-k) UIa-a). 


Wir konstruieren dann die en 


n-1 
+Au di 
17 oh, 1 5 5 BERN n— 3), 


und finden durch genau dasselbe Schlußverfahren, das wir in $ 1 anwandten, 
den folgenden ersten Satz: 

I. Die Gleichungen (17) werden durch diejenigen o0””* R, integriert, 
welche die (n — 2) beliebig vorgegebenen Mn»: 


i=4,4i=4,..,i=4- 


berühren, und von denen durch jeden Raumpunkt 2” "” hindurchgehen. 
Diese Zahl 2””” ist zunächst durch die Zahl der in (17) möglichen 
Vorzeichenkombinationen . gegeben; wir bestimmen sie algebraisch, indem 
wir die (n — 2) Kegel zweiter Ordnung, die sich vom beliebig gewählten 
Raumpunkte aus an die (n — 2) Mi{n_s) legen lassen, zum gemeinsamen 
Schnitt bringen. Daß beidemal dieselbe Zahl resultiert, ist in der Form, 
die wir dem Satz I erteilt haben, bereits ausgesprochen. 
‘ Wir fahren nun fort, wie in $2 zu Anfang, indem wir von den 
in p(A) auftretenden locken Faktoren zwei EN, also etwa 
schreiben: 


(18) 


n n-—i 


JIa-%): I - a.) 


{=1 »=1 


S 
= 





?) Dies ist dieselbe Bezeichnungsweise, deren ich mich in der auf S. 201 zitierten 
Abhandlung bediene. 

8) Die Ausdehnung des Fundamentalsatzes auf beliebig viele Dimensionen findet 
sich schon in einer Arbeit von Schläfli, die von 1849 datiert ist und 1852 in Crelles 
Journal, Bd. 43 veröffentlicht wurde. 


XIII. Zur geometrischen Deutung des Abelschen Theorems. >11 


und nun nur (n — 3) Differentialgleichungen bilden, bei denen wir eines 
der A, also etwa nn ‚, als konstant voraussetzen. 








ar Ah 
19 ER »=0,1,..,(n 4). 
(19) a Vor (h, ” 
Wir finden: 
II. Durch jeden Punkt der einzelnen Min -»: 
A, , > Const. 


laufen den Gleichungen (19) entsprechend 2" ° in der M%_ o, enthaltene R, , 

welche geometrisch dadurch charakterisiert sind, daß sie die (n — 4) be- 

liebig vorgegebenen Mu-.2: 
i=a,4=4,-.,i=& 


berühren. 
Die Gesamtzahl der so auf der einzelnen Mi, (bei festgehaltenen 
Ay, ag, ...,@,_,) bestimmten R, beträgt oo""*. Was die Zahl 2" "" an- 


geht, so erhalten wir dieselbe indem wir die ausgezeichnete M(% _», 
(deren Gleichung A,_, — Const. ist) mit ihrer Tangentialebene in dem 
gerade ausgewählten Punkte und übrigens den (n— 4) Kegeln zweiter 
Ordnung schneiden, die sich vom genannten Punkte aus an die Mannig- 
faltigkeiten A=Q,,4,,...,a,_, legen lassen. 

Jetzt ist deutlich, daß wir den Schritt, der von (16) und ( 17) zu (18) 
und (19) führt, und der darin besteht, daß wir zwei der willkürlichen 
in p(A) enthaltenen Faktoren wegwerfen und dafür die Zahlenreihen, 
welche die Indizes « und » in den Differentialgleichungen durchlaufen, je 
um eine Einheit kürzen, — für größere n mehrere Mal wiederholen können. 
Ich will annehmen, daß dieser Schritt bereits o-mal ausgeführt sei, wo 


e< — sein wird. An Stelle des in (16) eingeführten (A) erhalten 


wir dann: 





n—-2—2o 


(20) 9, (A) = [& —k) fa 4), 


an Stelle der an a7) Re die (n—2—e) Differen- 
tialgleichungen: 
+ % ; Ude 


n-i-o 
21 ZZ 
a=1 V% (Au) 
Der zugehörige Satz, aber, der die Sätze I und II als spezielle Fälle unter 


sich begreift, wird folgendermaßen lauten: 


III. Auf der Mn. welche irgend o Mannigfaltigkeiten unseres 
konfokalen Systems: 


(21a) „ml, = 0... din, 





—=Q, ‚=0,1,..,(n—-3-0). 


14* 


212 Zur Liniengeometrie. 


gemeinsam ist, verlaufen den Differentialgleichungen (21) entsprechend 


durch jeden Punkt 2""""°* R,, die geometrisch unter den übrigen R, der 
genannten Mannigfaltigkeit dadurch definiert sind, daß sie dien — 2 — 20 
RT 

en, 0,10, 
berühren. 

Die Gesamtzahl der hier (bei festen C,,C,,...., C,, @ , @, -. -,.in-2-20) 
in Betracht kommenden R, ist oo"? 

Die Aufstellung der Sätze I, II, III erfolgt auf Grund der früheren 
Betrashtungen ohne Schwierigkeit. Es ist nun aber die Frage, ob wir, 
an sie anknüpiend, so weiterschließen können, wie in $2 geschah, ob wir 
also zu mehrfach ausgedehnten linearen Räumen von erkennbarer geome- 
trischer Eigenschaft geführt werden, wenn wir den Index « in den For- 
meln (17), (19), (21) gleichförmig von 1 bis n -—- 1 laufen lassen und die 
so entstehenden Differentialgleichungen integrieren. Daß dies in der Tat 
der Fall ist, wollen wir im folgenden Paragraphen zeigen. 


$ 9. 
Ausdehnung der Sätze des vorigen Paragraphen. 

In welcher Richtung die Ausdehnung der Sätze des vorigen Paragraphen 
zu suchen ist, dürfte nach dem Gesagten bereits erkennbar sein. Wenn 
wir in den Differentialgleichungen (21) die Summation nach « nicht von 1 
bis (n— 1— oe), sondern von 1 bis (n—-1-—-0_0-+-0) ausdehnen, wo o 
irgendeine Zahl < o ist, also schreiben: 


n-1-o+o 


+Ag:di 
22 : Zu —e—d, wu... v—3— P 
, Pro | 2 


während, den Gleichungen (21a) entsprechend, 
(23) An-ı=0;; An-2=Ü,, .., An-are = Üo-o 
gesetzt sein soll, so werden wir bei Integration der neuen Differential- 


(o—o 
gleichungen von jedem Punkte der durch (23) vorgestellten wi; aus- 
laufend 2””'"°*” ganz in dieser Mannigfaltigkeit enthaltene algebraische M,;ı 


(überhaupt also auf der durch (23) vorgestellten Mannigfaltigkeit Bea) 
erhalten. Von diesen M,;ı wissen wir zunächst nur, daß sie jedes Aggregat 


von weiter zutretenden o Mannigfaltigkeiten M(%_3): 
(24) An-0+0-1= Ü-0413 5 An-o= 0% 


dem Satze III des vorigen Paragraphen zufolge (wie aus Vergleichung der 
Differentialgleichungen hervorgeht) nach lauter solchen R, schneiden, 


XIII. Zur geometrischen Deutung des Abelschen Theorem. 213 


welche die an dem Ausdrucke. p, (A) ausgezeichnet beteiligten Mannig- 
faltigkeiten 
(25) i=qa,4=4,.3i=M-2-2 


berühren (wobei alle in (24) enthaltenen berührenden R, dieser Art zur 
Verwendung gelangen). Hieraus wollen wir schließen, daß die M,„.ı selber 
linear (also R,;ı) sind, — daß sie jede einzelne der zutretenden Mannig- 
faltigkeiten (24) nach einem Paare linearer Räume (R,) schneiden, welche 
zusammenfallen, wenn man als zutretende Mannigfaltigkeit insbesondere 
eine der durch (25) gegebenen wählt, — daß ferner außer den R,;ı, die (24) 
genügen, keine anderen R,;ı derselben geometrischen Definition existieren. 
Wir mögen in diesem Satze der Zahl o insbesondere den Maximalwert o 
erteilen. ee soll es also den Differentialgleichungen entsprechend: 


tig - dh R 
(26) B3 Tan —=(, v=0,1,..,(0n—-3- 0) 
a=i VYo\ka 


von jedem Punkte des R„:ı auslaufend 2" Ra+ı (i. e. im ganzen 
oo"? R,;ı) geben, welche jede unserer konfokalen Mannigfaltigkeiten 
nach einem Paare von R, schneiden, die dann und nur dann zusammen- 
fallen, wenn man eine der Mannigjaltigkeiten (25) herannimmt; zugleich 
soll es keine anderen R,.ı dieser Eigenschaft geben als die durch (26) 
gefundenen. 

Man bemerke, daß wir aus dem letztausgesprochenen Satze den vor- 
angehenden, auf beliebiges o bezüglichen und darum scheinbar allgemeineren 
sofort wieder ableiten können. Denn wenn der Schnitt eines der in Rede 








stehenden oo” "*"* R,;ı mit jeder der konfokalen Mannigfaltigkeiten in 
lineare Bestandteile zerfällt, so geschieht notwendig das gleiche mit dem 
Schnitte, den R,;, mit beliebig? vielen, gleichzeitig in Betracht gezogenen 
konfokalen Mannigfaltigkeiten gemein hat. Nun repräsentiert jeder durch 
(22), (23) definierte R,;ı, wie durch Vergleichung der Differentialglei- 


chungen (22), (26) hervorgeht, nur den einzelnen der 2°” linearen Be- 
standteile, die in dem hiermit bezeichneten Sinne durch Zusammenstellung 
eines geeigneten R,;ı mit den Mannigfaltigkeiten (23) definiert wird (wie 
denn auch die Zahl der R,.,ı und R,;ı beidemal dieselbe, nämlich ae, 
ist). Daher ist deutlich, daß der Schnitt des R,;ı mit beliebig zutreten- 
den weiteren konfokalen Mannigfaltigkeiten genau ebenso in lineare Be- 
standteile zerfallen muß, wie der Schnitt des R,;ı. Der auf beliebiges o 
bezügliche Satz ist also in der Tat ein spezieller Fall des zu (26) ge- 
hörigen, und wir werden den letzteren als den zusammenfassenden Aus- 
druck des durch unsere Überlegungen für den Raum von beliebig vielen 
Dimensionen abzuleitenden Resultates betrachten dürfen. 


214 Zur Liniengeometrie. 


Was den Beweis der somit formulierten Sätze betrifft, so führe ich 
ihn genau entsprechend zu den Überlegungen des 82. Es handelt sich vor 
allem darum, einzusehen, daß unsere M,;: linear sein müssen (also R,;ı 
sind). Im dieser Hinsicht gingen wir in $ 2 davon aus, daß eine Fläche 
nicht öfter als zweimal von geraden Linien überdeckt sein kann, ohne 
eben zu sein. In der Tat werden die geraden Linien, welche durch einen 
Flächenpunkt laufen, der Tangentialebene im Flächenpunkte und der im 
Punkte oskulierenden Fläche zweiten Grades gemeinsam sein, und ihre Zahl 
kann also nur dann > 2 sein, wenn die Tangentialebene ein Bestandteil 
der genannten Fläche zweiten Grades ist, was bei einer gekrümmten Fläche 
nur in einzelnen Punkten denkbar ist. Ich formuliere dementsprechend 
für mehr Dimensionen den folgenden Grundsatz: 

Eine M,;ı ist linear (also ein R,;ı), wenn von jedem Punkte der 
M,;ı mehr als zwei der M,.;ı angehörige Räume R, auslaufen”). 

Wir beachten jetzt, daß. der von uns zu beweisende Hauptsatz infolge 
der Theoreme des $ 4 jedenfalls für o = 0 richtig ist (die dort durch die 
Differentialgleichungen definierte M, ist ein R,). Wir werden also an- 
nehmen, derselbe sei überhaupt bereits für o = o’ bewiesen, und werden 
dann zeigen, daß er für o—=0’+-1 ebenfalls gilt. Dieser Beweis aber 
gelingt unmittelbar infolge des formulierten Grundsatzes (den wir hier als 
richtig akzeptieren, ohne ihn weiter zu begründen). Die M,;ı, die wir 
durch Integration von (22) erhalten, liegt den Formeln (23) entsprechend 

n— 2 


>|; durch jeden 


Punkt der M,+ı gehen also noch weitere (n — 1— 0-0) konfokale Man- 
nigfaltigkeiten, eine Zahl, die für n > 4 jedenfalls größer als 2 ist. Nun 
aber schneidet jede dieser weiteren konfokalen Mannigfaltigkeiten längs 
einer durch unseren Punkt hindurchlaufenden M,, die nach Voraussetzung 
linear ist. Unsere M,;ı hat also die Eigenschaft, daß von jedem ihrer 
Punkte aus mehr als zwei in ihr enthaltene R, auslaufen, und also ist 
sie nach unserem Grundsatze selbst linear (= R,;.), was zu beweisen war. 
Was die übrigen Punkte unserer Behauptung angeht, so erledigen wır 
sie ebenfalls nach dem Vorbilde der in $ 2 gegebenen Entwickelungen. 
Zunächst ist zu zeigen, daß die R,;ı, welche jede einzelne konfokale 
Mannigfaltigkeit, wie wir jetzt wissen, nach zwei R, schneiden, die Mannig- 
faltigkeiten (25) speziell nach solchen zwei R, treffen, die zusammenfallen. 
Wieder nehmen wir an, der Satz sei für kleinere Werte von o bewiesen 
(wie er es für o = 0 ja in der Tat ist). Dann haben also die sämtlichen R,, 
welche aus R,;ı durch die konfokalen Mannigfaltigkeiten ausgeschnitten 


auf o— o konfokalen Mannigfaltigkeiten, wo e<S | 








®) [In einem der nächsten Bände (Bd. 30 der Math. Ann. [1887]) hat Herr 
C. Segre einen sehr einfachen Beweis für diesen Grundsatz nachgetragen.] 


XIII. Zur geometrischen Deutung des Abelschen Theorems. 215 


werden (und die R,;ı, wie wir wissen, mehrfach überdecken), die Eigen- 
schaft, jene beiden R,, in denen R,;, einer Mannigfaltigkeit (25) begegnet, 
in einem Paare zusammenfallender R,;; zu trefien, woraus gewiß folgt, 
daß die beiden R,, welche aus R,;ı durch die einzelne Mannigfaltigkeit (25) 
ausgeschnitten werden, zusammenfallen. (Auf gleiche Weise zeigt man, 
daß die beiden R,, nach denen eine konfokale Mannigfaltigkeit, die nicht 
zu den (25) gehört, unserer R,;ı begegnet, allgemein zu reden nicht 
koinzidieren ). 

Wir behaupten ferner, daß es keine anderen R,;, derselben, uns nun 
bekannten geometrischen Definition gibt, als diejenigen, die aus unseren 
Differentialgleichungen entspringen. Auch diese Behauptung ist für o = 0 
(und zwar durch algebraische Abzählung) bewiesen, so daß wir abermals 
nur zu zeigen brauchen, daß sie für o=0’+.1 gilt, wenn sie für o = 0’ 
zutrifit. Wir denken uns irgendeinen R,,ı gegeben, der auf den konfo- 
kalen Mannigfaltigkeiten (23) gelegen, die übrigen konfokalen Mannigfaltig- 
keiten in der hier nicht noch einmal zu nennenden Weise durchsetzt. Der- 
selbe wird ein System linearer Differentialgleichungen befriedigen, das wir 
für einen Augenblick folgendermaßen schreiben wollen: 

n-1-o+o 
(27) 2 M.du.=0, +=0,1,...,(n-3-0). 
a=1 

Nun wird unser R,;, nach Voraussetzung von jeder zutretenden konfokalen 
Mannigfaltigkeit in zwei R, von kanonischer Definition durchsetzt, d.h. in 
zwei R,, welche den Differentialgleichungen genügen, die aus (22) hervor- 
gehen, wenn man bei der Summation einen der angegebenen Werte von « 
überspringt. Dies aber heißt nichts anderes, als daß aus (27) durch Null- 
setzen eines beliebigen der dA, immer dasselbe System linearer Differential- 
gleichungen entstehen soll, wie aus den mit den richtigen Vorzeichen ge- 
nommenen Formeln (22), was nicht anders möglich ist, als wenn für die 
gegebenen R,;ı die Gleichungen (27) bei geeigneter Wahl der Vorzeichen 
mit den Gleichungen (22) gleichbedeutend sind, was zu beweisen war. 


$ 6. 
Verifikation des gerade gegebenen Beweises. 


Der Beweis, den ich im vorigen Paragraphen erbrachte, dürfte bei 
manchem Leser vielleicht darum auf Schwierigkeiten stoßen, weil ich das 
von mir benutzte Theorem der mehrdimensionalen Geometrie ohne weitere 
Erläuterung hingestellt habe. Ich will also nicht unterlassen, meine Schlüsse, 
soweit sie geometrisch waren (also mit Ausnahme des letzten, wesentlich 
algebraischen) auch noch durch Rechnung zu verifizieren, wobei ich nur 


216 Zur Liniengeometrie. 


insofern an meinem bisherigen Entwicklungsgange festhalte, als ich mich 
nach wie vor auf die Theoreme des $ 4 stütze. 

Die Sache ist einfach folgende. Das allgemeine Integral der Glei- 
chungen (26) (die ich hier allein ins Auge fasse, da ihre Betrachtung ge- 
nügt, wie wir früher sahen) ist bekanntermaßen durch Nullsetzen einer Matrix 
von (n— 0o-+1) Vertikalreihen und (2n — 2) Horizontalreihen gegeben: 


oval 100 
era ar yo) % Voll)... Vo) 


n-l .n-2 
a . An—1 sie. . 








(28) : ; ; > oo. S oh 
a a Er 
n—1i | 
Un-1 - 
hier sind 4, #5. --, 4n-ı Integrationskonstanten. Es handelt sich jetzt 


darum, aus dieser Matrix die von uns aufgestellten Theoreme abzuleiten. 
Erstlich wollen wir zeigen, daß die durch diese Matrix dargestellte 

algebraische M,;ı im Raume der x linear ist. Wir wissen zunächst nur, 

nach $ 4, daß wenn wir 

(29) 2 Een SPUR PR 2 E JUDae Men 65 


setzen und selbstverständlich die dann in der Matrix vorkommenden Quadrat- 
wurzeln: 
(30) V9 (0), Ve (O3), -.-, VPe (Co) 
irgendwie fixieren, daß dann das Verschwinden der Matrix eine auf den 
Mannigfaltigkeiten gelegene lineare Mannigfaltigkeit von einer Dimension 
(einen R,) vorstellt. Aber eben hieraus können wir unseren Schluß machen. 
Zu den Gleichungen (29) können nämlich die Vorzeichen (30) im ganzen 
auf 2° Weisen hinzugewählt werden. Andererseits ist die M„-ı-., welche 
durch die Gleichungen (29) dargestellt wird, als Schnitt von o Mannig- 
faltigkeiten zweiter Ordnung selber von der Ordnung 2°. Die durch (28) 
vorgestellte M,;ı hat hiernach die Eigenschaft, eine M„-ı-., von der Ord- 
nung 2° nach 2° R, zu schneiden. Dies aber heißt nach dem Bezoutschen 
Theoreme, daß M,-+ı selber linear, — R,;ı ist. 

Ferner zeigen wir, daß der Schnitt des R,;ı mit einer heliebigen kon- 
fokalen Mannigfaltigkeit 

An-1 nel C, ’ 

aus zwei R, besteht. Es werden zwei getrennte Mannigfaltigkeiten, weil wir 
wieder in der Hand haben, für Vo (An-ı) in unsere Matrix + Vo, (C,) 


XIII. Zur geometrischen Deutung des Abelschen Theorems, 217 


oder — Yy,(C,). einzutragen, — und jede dieser Annahmen führt zu einer 
linearen Mannigfaltigkeit, d. h. zu einem R,, weil die Hinzunahme fester 
Werte von Ay-25...,An-. und der zu ihnen gehörigen Quadratwurzeln, wie 
soeben, je einen R, ergibt. 

Endlich, daß die beiden R,, in denen unsere R,;, eine der Mannig- 
faltigkeiten 
i=4, 
durchsetzt, zusammenfallen, folgt einfach daraus, daß 9, (a.) verschwindet 
und also in diesem Falle der Unterschied, der durch die Vorzeichenwahl 
von Vgy, eingeführt wird, verschwindet. 


8.7. 
Besondere Betrachtung der Verhältnisse auf der einzelnen Mn 


Im Interesse der liniengeometrischen Anwendungen, die ich beab- 
sichtige, erläutere ich hier noch besonders den Fall der im vorigen Para- 
graphen aufgestellten Sätze. in welchem o = og — 1 genommen ist und also 
eine elliptische Koordinate konstant gesetzt wird: 


(31) A.-ı —=(,. 


Y 


Wir haben dann die Differentialgleichungen: 


9: 
32 in el), = ß,1,..,n—-3— 
S 2 VPo (ka) \ e) 


und hierzu den Satz, den ich mit I benennen will: 

I. Auf der Mannigfaltigkeit (31) verlaufen durch jeden Punkt 2 
Räume R,, welche geometrisch dadurch definiert sind, daß sie alle anderen 
konfokalen Mannigfaltigkeiten nach Paaren von Räumen R,-, schneiden, 
welch letztere für die besonderen Mannigfaltigkeiten 


n—3 


i=a,d4=40,:..,ÄAÄ=-2-: 


zusammenfallen. Diese R, sind die Integrale der Differentialgleichungen (32). 
: Ich wünsche diesen Satz mit der allgemeinen Theorie der auf einer 
Ms enthaltenen linearen Räume) in Verbindung zu setzen. 


Erstlich machen wir eine gewisse Abzählung. Der genannten Theorie 


zufolge enthält eine M.”, Räume BR: für g=1,2;,..., ae 


5 und zwar 





10) Vgl. in dieser Hinsicht insbesondere Segre: Studio sulle quadriche in uno 
spazio lineare ad un numero qualunque di dimensioni, Atti di Torino, Memorie. 1884, 
sowie verschiedene Angaben und Bemerkungen in meiner oben (S. 201) zitierten Ab- 
handlung. |Zur Theorie der allgemeinen Gleichungen sechsten und siebenten Grades, 
vgl. Bd. II dieser Ausgabe.) 


218 Zur Liniengeometrie, 
von der einzelnen Art je EN Räume aller dieser Arten treten 
auch in Satz I auf. Ihre Anzahl berechnet sich dabei folgendermaßen. . 
Halten wir die (n — 20 — 2) Größen a, fest, so überdecken die zugehörigen 
R, die Mia) endlichfach, die Zahl der R, ist also o0”"”*. Denken wir 
uns jetzt auch noch die a, beweglich, so kommen wir auf ao”""?e-* BR. 
Diese Zahl stimmt nur dann mit der vorher angegebenen, wenn o—=1. 
Wir können hiernach folgendermaßen sagen: 

II. Durch die in I auftretenden R, werden sämtliche R,, die auf 
(31) vorhanden sind, erschöpft, keineswegs aber die sonstigen mehrfach 
ausgedehnten R. 


Wir beschränken uns jetzt auf den Fall eines geraden n und setzen 
B = o ®. Der Ausdruck ®. (4) enthält dann überhaupt keine willkürlichen 


Faktoren mehr, was diesem Falle sein besonderes Interesse verleiht. Anderer- 





seits weiß man, daß die R„_s, die (für gerades n) auf einer M,®, vor- 


| 2 | 

handen sind, in zwei gleichberechtigte Klassen zerfallen, so zwar, daß die 

R„-.2 der einzelnen Klasse sich kontinuierlich aneinander anschließen, nir- 
= ; 

gends aber einen Übergang zu den R„_> der anderen Klasse haben (das 

einfachste Beispiel geben die beiden Erzeugendensysteme eines Hyperboloids). 

Mit Rücksicht hierauf behaupte ich: 


III. Die 2"”” Räume R,_s, welche (für derades n und o +") 
2 


dem Satze I entsprechend von einem beliebigen Punkte der Mus; aus- 
laufen,. verteilen sich gleichförmig auf die beiden in Rede stehenden 
Klassen, so zwar, daß immer solche zwei Ru-2 zu verschiedenen Klassen 


2 
gehören, deren Differentialgleichungen (32) sich durch eine ungerade Zahl 
von Zeichenwechseln unterscheiden. Diejenigen dem Satze I genügenden 
R„-2, welche derselben Klasse angehören, bilden je ein irreduzibles Ganzes. 


Was den Beweis angeht, so wollen wir die übrigens bekannte Be- 
merkung vorausschicken, daß eine gerade Zahl von Zeichenwechseln der 
Koordinaten x, jede der beiden auf unserer Hrn (31) gelegenen Klassen 
von R„_s ungeändert läßt,- eine ungerade Zahl aber sie vertauscht. Wir 


2 
müssen jetzt ferner die Formeln heranziehen, welche die Koordinaten x, 








mit den elliptischen Koordinaten A,,...,4,_, verknüpfen. Dieselben lauten 

bekanntlich, unter o einen Proportionalitätsfaktor verstanden: 
(hk)ak)e mh) 

34 eye 

9a: ) 


XIII. Zur geometrischen Deutung des Abelschen Theorems. 919 


wo 


Pn-2(A) ar (A = k,) (A Bor k,) rs (A a k,): 


2 
oder besser, da wir die Quadratwurzeln aus den einzelnen Faktoren (A. — k;) 
sogleich unabhängig voneinander betrachten müssen: 


VA, en: Vkh- ki... VAn-ı k 


Pn-. (ki) 
u 








(348) o,— 


ı 


Hiermit stellen wir nun die Differentialgleichungen (32) für o = e. 


zusammen; wir wollen dieselben in der entsprechenden Form schreiben: 
n—2 v 
Ar ER \ 


(5) 3 = -—0, &=5,1,...r5°). 


Ve Va Van 





a=i 

Wir denken uns jetzt zunächst, indem wir die sämtlichen 4, festhalten, 

eine dieser Differentialgleichungen fixiert, etwa diejenige, die lauter Pluszeichen 
aufweist, und fragen, durch welche Vorzeichenänderungen der Quadrat- 


wurzeln VA, — k; wir von ihr zu den übrigen hingelangen. Da in (35) 
immer n der genannten Quadratwurzeln miteinander multipliziert sind, so 
kann dies in jedem Falle auf eine große Zahl verschiedener Weisen ge- 
schehen. Unabhängig von dieser Willkür finden wir aber offenbar, da n 
gerade ist, folgenden Satz: 

Die Anzahl der Vorzeichenwechsel, die wir an den VA. — kı anbringen 
müssen, ist gerade oder ungerade, je nachdem wir von der anfänglichen 
Differentialgleichung zu einer solchen mit einer geraden oder ungeraden 
Anzahl von. Minuszeichen übergehen wollen. 

Wie nun verhalten sich hierbei die Ausdrücke ox, (34a)? Ein jeder 


derselben enthält von den in Betracht kommenden Faktoren Vi. — k; 
(e=1,2,...,(n —2)) wieder eine gerade Zahl. Daher folgt (bei aller 
Unbestimmtheit im einzelnen): 

Die x, erfahren eine gerade otler ungerade Zahl von Zeichenwechseln, 
je nachdem wir bei der anfänglichen Differentialgleichung eine gerade 
oder ungerade Zahl zon Vorzeichenänderungen anbringen. 

Dies aber heißt in der Tat, nach der vorausgeschickten Bemerkung, 


daß die R„_s, welche zu verschiedenen Vorzeichenkombinationen in (35) 
u} 


gehören, dann und nur dann von derselben Klasse sind, wenn die Anzahl 
der Vorzeichenwechsel, die von dem einen Systeme von Differentialglei- 
chungen zum anderen hinüberführen, gerade ist, w.z. b. w. 

Wir prüfen jetzt unsere Angabe über die /rreduzibslität der von unseren 
R„-2 erzeugten Gebilde. Von einer bestimmten Anfangslage aus lassen 


290 Zur Liniengeometrie. 


- 


wir das Element x auf der Mannigfaltigkeit A,_, =(, (31) irgendwelchen 
Weg beschreiben, durch welchen es schließlich zu seiner Anfangslage zurück- 
kehrt, und sehen zu, wie sich dabei die verschiedenen Systeme von Difie- 
rentialgleichungen (35) permutiert haben mögen. Wir wollen dies in der 
Weise bewerkstelligen, daß wir A,,4,,...,4,_. als die eigentlichen Ver- 
änderlichen betrachten, die dann ihrerseits sich wegen (34b) so bewegen 
miissen, daß nicht nur sie selbst, sondern auch die Produkte: 


ee ee 


N 2 





(bis auf einen etwa bei allen simultan eintretenden und auf den Propor- 
tionalitätsfaktor o zu rechnenden Zeichenwechsel) zu ihren Anfangswerten 
zurückkehren. Wir fragen, welche Zeichenwechsel dabei in (35) auftreten 
mögen. Offenbar kann dies nur eine gerade Zahl von Zeichenwechseln sein, 
wir können aber auch jede vorgegebene Art von Zeichenwechseln, deren 
Anzahl gerade ist, wirklich erzielen. Hierin liegt, was über die Irreduzibilität 
gesagt wurde: 


8. 
Anwendung auf Liniengeometrie. 


Die Anwendung der vorhergehenden Überlegungen auf Liniengeometrie 
betrifft selbstverständlich, wie in der Einleitung in Aussicht genommen, 
die Theorie der „konfokalen‘“ Linienkomplexe zweiten Grades, welche in 
bekannter Weise durch das Gleichungssystem 

6 6 
(36) Et Da=o 
4 i=1 
dargestellt werden (wo sich die zweite Gleichung aus der ersten ergibt, 
indem man A= setzt). Wir haben hier für n=6, 0, =® ganz die 


Prämissen des vorigen Paragraphen: Die Elemente der ausgezeichneten M(4.. 
die durch A, = 0 gegeben ist, nennen wir gerade Linien, ihre R, Strahl- 
büschel, die beiden Arten der ihr angehörigen R, beziehungsweise Strahlen- 
bündel und Geradenfelder. Der einzelne durch (36) gegebene Komplex 
zweiten Grades hat mit einem Strahlbüschel, allgemein zu reden, zwei 
Strahlen gemein, mit einem Strahlenbündel einen Kegel zweiter Ordnung, 
mit einem Geradenfeld eine Kurve zweiter Klasse. 

Wir rekurrieren jetzt auf Satz I des vorigen Paragraphen und haben 
sofort, indem wir zunächst o=]1 setzen: 

U’. Jede Raumgerade gehört acht Strahlbüscheln an, die dadurch 
definiert sind, daß sie mit jedem von zwei vorgegebenen Komplexen 


A=4,, i=a, 


XIII. Zur geometrischen Deutung des Abelschen Theorems. 231 


zwei zusammenfallende Strahlen gemein haben. Diese Strahlbüschel sind 
die Integrale der Differentialgleichungen 
4 
+4.:d} 
37) HE I _=01,.3, 
m 2 v9 (da) 
wo 
6 2 
(= ]IG-%): aa). 
i=1 “=1 
Hierzu beachte man, daß, Satz II des vorigen Paragraphen zufolge, 
jedes Strahlbüschel von zwei der konfokalen Komplexe in dem erwähnten 
Sinne berührt wird, daß also, bei geeigneter Annahme von a,, a,, jedes 
Strahlbüschel des Raumes seine Darstellung durch (37) findet. 
Wir setzen ferner in Satz I des vorigen Paragraphen o—=2, ziehen 
gleichzeitig Satz III heran und erhalten das Theorem von der Gemeinsam- 


keit der Singularitätenfläche unserer Komplexe. In der Tat haben wir: 

I”. Jede Raumgerade gehört vier Strahlenbündeln und vier Geraden- 
feldern an, welche die Eigenschaft haben, mit jedem der konfokalen Kom- 
plexe einen in zwei Strahlbüschel zerfallenden Kegel zweiter Ordnung, 
bez. eine in zwei Strahlbüschel zerfallende Kurve zweiter Klasse gemein 
zu haben. Diese Bündel bez. Felder sind durch folgende Differential- 


gleichungen definiert: 
u 9 
(38) Er eidr We), 


wo 





gesetzt ist und sich die verschiedenen V orzeichenkombinationen auf die Bündel 
und Felder in der erläuterten Weise verteilen. Die Fläche der Bündelmittel- 
punkte und die von den Felderebenen umhüllte Fläche sind irreduzibel. 

Hier sind nun die Differentialgleichungen (38) keine anderen, als die 
von Herrn Rohn aufgestellten, auf die in der Einleitung Bezug genommen 
wurde. Der Unterschied unserer jetzigen Entwicklung gegenüber der von 
Herrn Rohn gegebenen oder auch gegenüber meiner eigenen [hier als 
XII. Aufsatz abgedruckten] Abhandlung (Über Konfigurationen usw.) ist 
dabei der, daß jetzt nicht, wie dort, die Existenz der gemeinsamen 
Singularitätenfläche unserer Komplexe bereits als bekannt angesehen und 
nur die Richtigkeit der Differentialgleichungen bewiesen wird, daß viel- 
mehr die Existenz der gemeinsamen Singularitätenfläche selbst aus den 
Differentialgleichungen erschlossen wird. Freilich bleibt bei unserem jetzigen 
Gedankengange ein wichtiger Punkt noch unerledigt, daß nämlich die Fläche 


222 Zur Liniengeometrie. 


der singulären Punkte mit der Fläche der singulären Ebenen identisch 
ist; ich werde im folgenden Paragraphen hierauf zurückkommen. — 

Haben wir so den Anschluß an die ersten Sätze erreicht, die zu Be- 
ginn dieser Mitteilung vorangestellt wurden, so gelingt jetzt ohne Schwierig- 
keit auch der Übergang zu dem eben dort genannten Theoreme des Herrn 
Domsch. Wir haben zu dem Zwecke an die Entwicklungen des $ 3 anzu- 
knüpfen, wobei wir uns aber darauf beschränken wollen, nur einen der 
Faktoren A — k,, nämlich A — k,, durch einen illkarliehen Faktor 1 —a, 
zu ersetzen und diese Änderung ı nur an den Differentialgleichungen (37 ) 
anzubringen. Wir erhalten so die Gleichungen: 


3 
dh, 
(39) —Q, = 0,1,2), 


ei Ay Ei: ITa-. 


deren geometrische Inlerersikinn a wird. Nach den Erläuterungen 
des $3 wird es sich jedenfalls darum handeln, daß die Raumgerade x eine 
einfach ausgedehnte quadratische Mannigfaltigkeit, d. h. eine Regelschar 
durchläuft, welche ungeändert bleibt, wenn man x, im Vorzeichen ändert. 
Letztere Eigenschaft aber läßt sich auf Grund bekannter liniengeometrischer 
Entwicklungen geometrisch kurz dahin ausdrücken, daß die Erzeugenden 
unserer Regelschar paarweise in bezug auf den Komplex x, =0 als kon- 
jugierte Polaren zusammengehören, oder auch, was dasselbe st, daß die 
konjugierte Regelschar, d. h. die zweite Erzeugung des von unserer Regel- 
schar überdeckten Hyperboloids, dem Komplexe x, = 0 angehört. Im übrigen 
wird, in Übereinstimmung mit $ 3, unsere Regelschar die drei Komplexe 
i=qa,4=aqa,, A=a, je zweimal berühren, d. h. mit jedem einzelnen 
derselben statt vier getrennter Strahlen zweimal zwei zusammenfallende 
Strahlen gemein haben. Wir finden das Theorem: 

II. Von jeder Raumgeraden aus erstrecken sich acht Regelscharen, 
welche die drei vorgegebenen Komplexe A=a,, A=a,, A=a, je zweimal 
berühren und dabei die Eigenschaft haben, daß die von ihnen überdeckten 
Hyperboloide vermöge ihrer zweiten Erzeugung dem Komplexe x, — 0 ange- 
hören. Diese Regelscharen sind analytisch durch die Differentialglei- 
chungen (39) definiert. 

Der hiermit gewonnene Satz steht dem von Herrn Domsch gegebenen 
sehr nahe, aber er ist mit ihm noch nicht identisch. Herr Domsch operiert 
überhaupt nicht, wie wir hier, mit beliebigen Raumgeraden, sondern immer 
nur mit den Geraden eines bestimmten der sechs linearen Fundamental- 
komplexe, sagen wir mit den Geraden von x, = 0. Dies hat zufolge, daß von 
den vier elliptischen Koordinaten der Raumgeraden eine (etwa A,) den kon- 
stanten Wert k, bekommt und aus der Reihe der Veränderlichen ausscheidet. 








XIII. Zur geometrischen Deutung des Abelschen Theorems. 223 


Ich will der besseren Übersicht halber die ganze Reihe der hier entstehenden 
Sätze anführen. Formel (37) findet ihr Analogon, indem wir schreiben: 


5 
+ -d}, 
(40) ——=(, 0%), 


"yi 1.—k,): (Au — 4) 


(wo neben fünf Faktoren (A — k,) jetzt ein willkürlicher, (A — a,), vor- 
handen ist), was uns von jeder geraden Linie des Komplexes x, — 0 aus- 
laufend vier diesem Komplexe angehörige Strahlbüschel ergibt, welche den 
beliebig angenommenen Komplex A=a, je einfach berühren. Formel (38) 
scheidet aus dem Vergleich aus, weil in (40) unter der Quadratwurzel über- 
haupt nur ein willkürlicher Faktor vorhanden ist und also nicht zwei weg- 
gelassen werden können, wie es der Fortschritt von (37) zu (38) verlangt. 

Das Gegenbild zu Formel (39) gewinnen wir, indem wir den in (40) 
auftretenden Faktor (A — k,) überall durch (A — a,) ersetzen, unter a, eine 
willkürliche Größe verstanden. Wir haben dann die Differentialgleichungen: 


>> 
re 
(41) =(, (v —0,1), 


“ aus -k)- Ta-. 


und finden ihnen entsprechend von jeder Linie des Komplexes x, — 0 
auslaufend vier dem Komplexe x, = 0 angehörige Regelscharen, welche 
die beliebig vorgegebenen Komplexe A=a, und A=a, je zweimal berühren 
und deren konjugierte Regelscharen dem Komplexe x, = (0 angehören. 
Dies aber ist der Domschsche Satz. 














89. 
Verallgemeinerung der Kummerschen Fläche. 


Als besten Gewinn der vorangehenden Erörterungen betrachte ich, 
daß sich eine naturgemäße Verallgemeinerung der Kummerschen Fläche 
für den Fall hyperelliptischer Funktionen höheren Geschlechtes darbietet. 
Die Kummersche Fläche erscheint im vorhergehenden als der Inbegriff 
der oo* Strahlenbündel, bez. 0? Geradenfelder, welche den hyperelliptischen 
Differentialgleichungen vom Geschlechte 2 genügen: 

SEZHLLE | 
(42) 2 mn 0, G=0,1), 
6 


wo p(4) das Produkt IK A— k;) bezeichnet. Ist nun » > 2 gegeben, so 


s=1I 


224 Zur Liniengeometrie. 


werden wir entsprechend n—=2p-+-2 wählen (so daB p = n—2 ist), zu- 


2 
nächst eine der elliptischen Koordinaten konstant setzen: 
(43) A... =E, 
und nun die Differentialgleichungen hinschreiben: 


2 Kuppe 


n—2 


+i,-di 
44 ee an RER | —1 r 
\ 2 VYo(lha) 2 ) 


wo o(i)= U (A—k,) zu nehmen ist. Die irreduzibelen Mannigfaltig- 
i=1 

keiten von zweimal o®R,; welehe die Mannigfaltigkeit (43) nach Satz II 
und III des 87 den Differentialgleichungen (44) entsprechend enthält, 
erscheinen uns als die Verallgemeinerungen der das eine. Mal von Punkten 
gebildeten und das andere Mal von Ebenen umhüllten Kummer schen 
Fläche. An die Stelle der Zahl 4, welche Ordnung und Klässe der 
Kummerschen Fläche angibt, tritt dabei die Zahl 2””*, — 

Hier nun wird es unabweisbar, zu diskutieren, warum die von den 
Punkten gebildete und die von den Ebenen umhüllte Kummersche Fläche 
identisch sind. Wir werden den Beweis hierfür liefern müssen, indem wir 
von den elliptischen Linienkoordinaten A und den Differentialgleichungen (42) 
ausgehen, und zusehen, was die Übertragung derselben Überlegung auf den 
Fall größerer Dimensionenzahl liefert. 

Der in Aussicht genommene Beweis gestaltet sich jedenfalls am ein- 
fachsten, indem wir aus (42) zeigen, daß alle Linien, für welche zwei A 
einander gleich werden (also etwa A, =4, ist), gleichzeitig die von den 
singulären Punkten gebildete Kummersche Fläche und die von den singu- 
lären Ebenen umhüllte Kummersche Fläche berühren. Dies aber gelingt 
folgendermaßen. Ich will, um unnötige Unbestimmtheiten zu vermeiden, 
mir die Differentialgleichungen (42) hier so geschrieben denken, daß die 
Terme mit dA, das Pluszeichen haben. Setzen wir dann, indem 4, = 4, 
genommen ist, @(4,)=P(4A,), so werden vier der acht zu unterscheiden- 
den Systeme von Differentialgleichungen lauten 
(dh +dh) My dich | dich _g, on, 

ve(h) Vve(A)  vPCh) 
vier andere aber folgendermaßen: 
BEIN DE a. ER 

v9 (4) = a Zu a 
Die vier Systeme der einen und der anderen Art verteilen sich dabeı 
gleichförmig auf die singulären Punkte und die singulären Ebenen, welche 
die Gerade A trägt: denn unter den Gleichungssystemen (45a) und (45b) 
sind gleichförmig zwei mit einer geraden und zwei mit einer ungeraden 


(458) 











(45b) 


XIII. Zur geometrischen Deutung des Abelschen Theorems». 225 


Zahl von Minuszeichen. Nun sage ich — und darin liegt unser Beweis — de ß von 
den Gleichungen (45b) immer diejenigen beiden, welche durchaus entgegenge- 
setzte Vorzeichen haben, in ihrer geometrischen Bedeutung zusammenfallen (so 
daß also die Gleichungen (45 b) nicht zwei auf der Geraden A befindliche Punkte 
und zwei durch sie hindurchgehende Ebenen vorstellen, sondern nur einen auf 
ihr befindlichen (doppeltzählenden ) Punkt und eine durch sie hindurchgehende 
(doppeltzählende) Ebene). — In der Tat, ob ich beispielsweise schreibe: 
_ ud | ER on) 

ve(h) v® (A) Ah) 

Nah) _ Ich 2, 2 

vr (4) ve() Veh) 
kommt geometrisch auf dasselbe hinaus. Denn die eine Gleichung geht 
aus der anderen hervor, wenn 4A, mit /, vertausche, und dies ist eine für 
die geometrische Deutung irrelevante Operation. — 

Wir wiederholen jetzt dieselbe Überlegung an den Differentialglei- 
chungen (44). Wieder spalten wir die 2””” Systeme von Differential- 
gleichungen, die in (44) eingeschlossen sind (und die sich auf 2””* Systeme 
der einen Art und 2””* der anderen Art nach der Zahl der Minuszeichen 





oder 








— ar 


verteilen), für A, =4, in 9”"* welche den Term _. und in 
YY\A 
ebensovieie, welche den Term a -/} enthalten. Von letzteren er- 
vP 


schließen wir dann, daß sie paarweise zu demselben doppeltzählenden R 
gehören. Wir haben also folgenden Satz, in welchem wir die gewünschte 
Verallgemeinerung erblicken, wenn er auch der Form nach von dem ur- 
sprünglich für die Kummersche Fläche aufgestellten Theoreme zunächst 
sehr verschieden erscheint: 

Während sich von einem beliebigen Punkt unserer Mannigfaltigkeit 
(43) aus 2""" getrennte R, der einen und ebenso viele R, der anderen Art 
erstrecken, die beziehungsweise den Differentialgleichungen (44) genügen, 
ker für solche Punkte von (43), für welche zwei A einander gleich sind, 

"der genannten R, der einen Art und ebenso viele der anderen Art 
war doppeltzählenden R,der einen, bez. der anderen Art zusammen. 

Ich unterlasse es, diesen Satz noch weiter zu verfolgen, insbesondere 
auch solche Punkte von (43) in Betracht zu ziehen, für welche mehrere A 
einander gleich werden, will aber den Wunsch nicht unterdrücken, daß 
dies von anderer Seite geschehen möge. Was den Fall n—=4 angeht, so 
findet man die betreffenden Verhältnisse in Bd. 5 der Math. Annalen, 
S. 295—296 [vgl. Abh. IX dieser Ausgabe, S. 145—147}, auseinandergesetzt. 


Göttingen, im Oktober 1886. 


Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 15 


XIV. Notiz, betreffend den Zusammenhang der Linien- 
geometrie mit der Mechanik starrer Körper. 


[Math. Annalen, Bd. 4 (1871).] 


Mit den Betrachtungen der Plückerschen Liniengeometrie stehen ge- 
wisse Probleme der Mechanik starrer Körper im engsten Zusammenhange, 
so namentlich die Aufgabe der Zusammensetzung beliebiger, auf einen 
starren Körper wirkender Kräfte, und die Untersuchung der von einem 
starren Körper ausgeführten unendlich kleinen Bewegungen. 

Von einem solchen Zusammenhange spricht Plücker bereits in der 
ersten größeren Mitteilung, die er über seine neuen geometrischen For- 
schungen machte); bald darauf widmet er dessen Auseinandersetzung einen 
besonderen Aufsatz”). Auf denselben Gegenstand beziehen sich einzelne 
Stellen seiner „Neuen Geometrie‘‘?), besonders die Nummern 25 und 39. 

Plücker beabsichtigte, wie aus wiederholten Andeutungen in der 
„Neuen Geometrie“ ersichtlich, die Anwendung seiner geometrischen Prin- 
zipien auf Mechanik in einem größeren zusammenhängenden Werke, das der 
„Neuen Geometrie‘ nachfolgen sollte, auseinanderzusetzen. Daß Plücker 
diese Absicht nicht mehr verwirklicht hat, ist um so mehr zu bedauern, 
als die vorgenannten wenigen Stellen, wo er sich über seine mechanischen 
Konzeptionen ausspricht, nur sehr kurz und schwer verständlich, häufig 
auch unbestimmt sind. Ich werde nun im nachstehenden zunächst in kurzem 
Referate den Zusammenhang der im Eingange genannten mechanischen 
Probleme mit der Liniengeometrie darlegen, sodann einige Punkte be- 
sprechen, die mir in der Plückerschen Darstellung nicht ganz deutlich 
erscheinen. Hieran anknüpfend, werde ich dann eine besondere Art physi- 
kalischen Zusammenhangs erörtern, welche sich zwischen Kräftesystemen 
und unendlich kleinen Bewegungen aufstellen läßt. 





1) On a New Geometry of Space. Phil. Trans. 1865, S. 725, vgl. Additional 38 
[Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1.] 

®) Fundamental Views regarding Mechanics. 1866. S. 361. [Gesammelte Ab- 
handlungen, Bd. 1.] 

3) Neue Geometrie des Raumes, gegründet auf die Betrachtung der geraden Linie 
als Raumelement. Leipzig, B. G. Teubner. 1868/69. 


XIV. Zusammenhang der Liniengeometrie mit der Mechanik starrer Körper. 227 


et 


Einiges über den Zusammenhang der Mechanik starrer Körper 
mit der Liniengeometrie. 


Daß in der Tat zwischen der Liniengeometrie und der Mechanik starrer 
Körper ein intimer Zusammenhang besteht, um dies zu sehen, braucht man 
nur die geometrischen Betrachtungen über die Mechanik starrer Körper 
durchzugehen, wie sie von Poinsot, Möbius, Chasles u. a. angestellt 
worden sind‘). Man hat bei diesen Untersuchungen fortwährend mit geo- 
metrischen Dingen zu tun, welche in der Liniengeometrie gleich anfangs und 
fundamental auftreten. Eine kurze Auseinandersetzung mag dies erläutern. 

Die fraglichen Betrachtungen beziehen sich wesentlich auf die bereits 
genannten zwei Aufgaben, deren eine die Zusammensetzung von Kräften 
behandelt, welche auf einen starren Körper wirken, während die andere 
die unendlich kleinen Bewegungen untersucht, die ein starrer Körper voll- 
führt. Beide Probleme sind gewissermaßen geometrisch identisch, insofern 
die Betrachtung unendlich kleiner Bewegungen eines starren Körpers auf 
die Zusammensetzung unendlich kleiner Rotationen eines solchen zurück- 
kommt und sich unendlich kleine Rotationen nach ganz derselben Regel 
wie Kräfte, nämlich nach der Regel vom Parallelogramm, zusammen- 
setzen. Dabei tritt also der Begriff der Kraft dem der unendlich kleinen 
Rotation als koordiniert?) gegenüber. Alle Betrachtungen, die man hin- 
sichtlich Kräften anstellt, welche auf einen. starren Körper wirken, können 
in ganz gleicher Form für unendlich kleine Rotationen angestellt werden, 
die ein solcher Körper ausführt, und umgekehrt, 

Irgendwie gegebene Kräfte, welche einen starren Körper angreifen, 
können nun immer durch zwei Kräfte*) ersetzt werden, deren eine man 
nach einer beliebig angenommenen Geraden wirken lassen kann; worauf 


4) Vgl. bes. Möbius: Lehrbuch der Statik. Leipzig 1837. Teil I. [Werke, Bd. III.] 
In großer Vollständigkeit finden sich die betreffenden Untersuchungen in Schells Theorie 
der Bewegung und der Kräfte. Leipzig 1870. [Vgl. hierzu, was die neuere Literatur 
anbhetrifft, den Artikel von Timerding in der Enzyklopädie der Math. Wiss., Bd. 4.) 

5) Diese Koordination von Kraft und Rotation ist nur eine mathematische, keine 
physikalische. Vgl. $ 4. 

®) Die Kräftepaare, welche in der Poinsotschen Theorie eine so wichtige Rolle 
spielen, sind dabei anzusehen als (unendlich kleine) Kräfte, welche nach einer un- 
endlich fernen Geraden wirken. In der Tat haben die beiden Kräfte eines Paares, 
wenn dieser Ausdruck gestattet ist, nach dem Hebelgesetze eine unendlich ferne (und 
dann unendlich kleine) Resultante. [So schon bei Culmann in der vierten Auflage 
seiner graphischen Statik (1864—1866 ).] 

Analogerweise sind in den Betrachtungen des Textes Translationen eines Körpers 
anzusehen als Rotationen um unendlich ferne Achsen. 

Kräftepaare und Translationen sind also in demselben Sinne koordiniert, wie 
Kräfte und Rotationen. 





15* 


228 Zur Liniengeometrie. 


denn die Gerade, nach der die andere Kraft wirkt, und die Intensität 
beider Kräfte gegeben sind. Ebenso läßt sich jedes System unendlich 
kleiner Rotationen, oder, kürzer gesagt, jede unendlich kleine Bewegung 
eines starren Körpers aus zwes unendlich kleinen Rotationen zusammen- 
setzen. Eine der Rotationsachsen kann dabei beliebig im Raume ange- 
nommen werden; dann ist die andere Achse und die Größe der um beide 
stattfindenden Rotation bestimmt. Durch ein Kräftesystem oder eine un- 
endlich kleine Bewegung werden sonach die Geraden des Raumes paar- 
weise konjugiert; bereits Möbius hat gezeigt‘), daß die gegenseitige Be- 
ziehung beider durch eine besondere Art dualer Verwandtschaft gegeben 
ist, derjenigen Art, die man nach v. Staudt als „Nullsystem‘“ bezeichnet 
und die dadurch gegenüber anderen dualen Verwandtschaften ausgezeichnet 
ist, daß jeder Punkt mit der ihm entsprechenden Ebene vereinigt liegt. 
Im Nullsysteme gibt es dreifach unendlich viele ‚Nullgerade“, das sind 
solche Linien, welche mit ihren konjugierten zusammenfallen. Alle Linien, 
welche durch einen beliebigen Punkt in dessen entsprechender Ebene ver- 
laufen, sind Nullgerade, und sind die Nullgeraden auch umgekehrt dadurch 
vollständig definiert, daß sie in der jedem ihrer Punkte entsprechenden 
Ebene liegen. — Will man eine der beiden Kräfte, in welche ein ge- 
gebenes Kräftesystem zerlegt werden soll, nach einer Nullgeraden des be- 
treffenden Nullsystems wirken lassen, so wirkt auch die zweite Kraft nach 
derselben Nullgeraden. Die Intensität beider Kräfte wird unendlich groß 
und die Kräfte erscheinen entgegengesetzt gerichtet. Man hat es dann 
also mit einem Grenzialle der allgemeinen Zerlegung des Kräftesystems in 
zwei Kräfte zu tun, der nur, insofern er Grenzfall ist, einen Sinn hat, 
Bei der Betrachtung unendlich kleiner Rotationen würde man ebenso, 
wenn man eine der beiden Rotationen, in die man das System zerlegen 
kann, um eine Nullgerade des zugehörigen Nullsystems geschehen läßt, zu 
einem für sich nicht verständlichen Grenzfalle gelangen. Die Nullgeraden 
haben in beiden Fällen auch noch eine weitere leicht angebbare Eigen- 
schaft. Im Falle des Kräftesystems sind die Nullgeraden diejenigen Linien 
des Raumes, um welche das Moment des Kräftesystems gleich Null ist; 
im Falle der unendlich kleinen Bewegung sind die Nullgeraden diejenigen 
Linien, welehe senkrecht zu sich selbst versetzt werden, d. h. ohne eine 
Verschiebung parallel mit ihrer Richtung zu erfahren?). 

Nun ist die dreifach unendliche Mannigfaltigkeit der Nullgeraden 
eines Nullsystems genau dasselbe, was Plücker als einen linearen Linien- 





”) Crelles Journal, Bd. 10. Über eine besondere Art dualer Verhältnisse zwischen 
Figuren im Raume. [Werke, Bd. I.] 

®) Möbius, Statik. I. $ 84 ff. [Werke, Bd. 3.) Chasles in den Comptes Rendus. 
1843. Sur les mouvements infiniment petits des corps. 


XIV. Zusammenhang der Liniengeometrie mit der Mechanik starrer Körper. 229 


komplex bezeichnet”, d.h. also wie diejenige dreifach unendliche Mannig- 
faltigkeit von Geraden, deren Koordinaten eine lineare Gleichung befriedigen. 

Ein beliebiges Kräftesystem, wie eine beliebige unendlich kleine Be- 
wegung ist sonach jedesmal mit einem bestimmten linearen Komplexe in 
Verbindung gesetzt. Die Linien des Komplexes sind diejenigen Raum- 
geraden, in bezug auf welche das Kräftesystem kein Drehmoment hat, resp. 
welche bei der unendlich kleinen Bewegung senkrecht gegen sich selbst 
versetzt werden. Die durch den Komplex paarweise zugeordneten Geraden — 
die konjugierten Polaren des Komplexes in der Plückerschen Termino- 
logie'P) — sind diejenigen Linienpaare, nach denen zwei Kräfte wirken 
können, welche dem gegebenen Kräftesystem äquivalent sind, bez. um 
welche zwei unendlich kleine Rotationen geschehen können, die die gegebene 
unendlich kleine Bewegung ersetzen. 

Das beliebige Kräftesystem, resp. die beliebige unendlich kleine Be- 
wegung kann für die geometrische Vorstellung geradezu durch den zuge- 
hörigen linearen Komplex ersetzt werden. Man muß dabei im Falle des 
Kräftesystems nur von der absoluten Größe der wirkenden Kräfte absehen 
und alle solchen Kräftesysteme als wesentlich identisch betrachten, die 
sich nur hinsichtlich ihrer Intensität unterscheiden. Bei unendlich kleinen 
Bewegungen wird dem Begriffe des Unendlich-Kleinen entsprechend von 
vornherein von der absoluten Größe abstrahiert, und es braucht eine solche 
Abstraktion also nicht hier noch ausdrücklich eingeführt zu werden. 

Ein linearer Komplex kann insbesondere ein spezieller Komplex werden ''), 
d. h. in die Gesanitheit aller Geraden übergehen, die eine feste Gerade schnei- 
den. Das mit dem linearen Komplexe gleichbedeutende Kräftesystem redu- 
ziert sich dementsprechend auf eine einzelne Kraft, die nach der festen 
Geraden wirkt; die mit dem linearen Komplexe gleichbedeutende unendlich 
kleine Bewegung auf eine Rotation, welche um die feste Gerade geschieht. 


82. 
Analytische Darstellung. Koordinaten von Kräften und (unendlich 
kleimen) Rotationen. Koordinaten von Kräftesystemen und (unendlich 
kleinen) Bewegungen. 


Man beweist die vorgetragenen Dinge am einfachsten, wenn man, nach 
dem Vorgange von Plücker'?), einer Kraft, resp. unendlich kleinen Rota- 
tion, geradezu Koordinaten erteilt, nämlich dieselben Koordinaten, welche 


®, Vgl. Plücker. Neue Geometrie, Nr. 29. 

10) Neue Geometrie, Nr. 28. 

1) Neue Geometrie, Nr. 45. Dem entspricht, daß die Determinante des betr. 
Nullsystems verschwindet. 

2) Vgl. Neue Geometrie, Nr. 25. 


230 Zur Liniengeometrie. 


die gerade Linie besitzt, nach welcher die Kraft wirkt, bez. um welche 
die Rotation geschieht. | 

Seien, unter Zugrundelegung eines rechtwinkligen Koordinatensystems, 
"x,y,z und x’, y’,z’ die Koordinaten zweier Punkte der zu bestimmenden 
Geraden, so erhält ihre Verbindungslinie bei Plücker als Koordinaten die 
relativen Werte der folgenden sechs Ausdrücke: 


oX=r—«, eY=y-—y, 02 =2- 8, 
oL=yz —yr, o0M=xz-—-aız', oN=ıy — xy: 
Dabei ist identisch: 
XL+YM-+ZN=0, 


wodurch die relativen Werte der sechs Größen X, Y, Z, L,M,N auf die 
zur Bestimmung einer Geraden notwendigen vier Konstanten zurückkommen. 

Auf dieselben sechs Koordinaten kommt man bekanntlich, wenn man 
die Gerade nicht, wie vorstehend, als Verbindungslinie zweier Punkte, als 
einen Strahl, wie Plücker sagt, sondern als Durchschnittslinie zweier 
Ebenen, als eine Achse, nach Plückers Ausdrucksweise, auffaßt. — Wäh- 
rend die mechanische Vorstellung der nach einer Geraden wirkenden Kraft 
mit der geometrischen der Geraden als Strahl verknüpft ist, ist es die 
mechanische der um eine Gerade geschehenden Rotation mit der geome- 
trischen der Geraden als Achse. 

Einer Kraft, die nach einer Geraden wirkt, bez. einer unendlich 


kleinen Rotation, die um. eine solche geschieht, erteilen wir nun geradezu 
die sechs Größen | 

2:3: 2 2, BIN 
als Koordinaten. 

Für Kräfte kommt diese Koordinatenbestimmung, sobald man noch 
die absoluten Werte der sechs Koordinaten der Intensität der Kraft pro- 
portional festlegt, auf die gewöhnliche Art und Weise heraus, wie man 
Kräfte in der Mechanik bezeichnet. X, Y, Z sind die Komponenten parallel 
zu den drei Koordinatehachsen, L, M, N die Drehungsmomente um die- 
selben Achsen. 

Eine solche Festlegung der absoluten Werte der Koordinaten hat bei 
einer unendlich kleinen Rotation so lange keinen Sinn, als man nicht eine 
(willkürlich gewählte) andere unendlich kleine Rotation als gleichzeitig mit 
ihr eintretend ansieht, der man dann die Intensität 1 erteilt. 

Kräfte und Rotationen, deren Koordinaten in dieser Weise absolute 
Werte bekommen haben, setzen sich nun zusammen, indem sich ihre 
Koordinaten addieren’). 





13) Battaglini hat die sich hier anknüpfenden Dinge in einer Reihe von Auf- 
sätzen in den Rendiconti und Atti der Akademie zu Neapel unter Zugrundelegung tetra- 


XIV. Zusammenhang der Liniengeometrie mit der Mechanik starrer Körper. 231 


Dieser Satz sagt zunächst aus, daß alle Systeme von Kräften, bez. 
alle Systeme von Rotationen, welche durch Addition der den einzelnen 
Kräften bez. Rotationen zugehörigen Koordinaten dieselben sechs Werte 
ergeben, äquivalent sind. 

Diese durch Addition erhaltenen sechs Werte, welche wir als Koor- 
dinaten des Kräftesystems bez. als Koordinaten der unendlich kleinen 
Bewegung ansprechen können, mögen heißen: 


= HM, ZAM.N, 
Es kann nun insbesondere sein: 
ZA-+-HM-+ZN=0. 


Dann kann das Kräftesystem durch eine einzelne Kraft, die unendlich 
kleine Bewegung durch eine Rotation ersetzt werden, deren Koordinaten 
geradezu sind: 


==, Y-Hh, 2-2, Zei, HM Zen, 
Ist aber die Bedingung 
ZA+HM-+-ZN=0 
nicht erfüllt, so kann man das Kräftesystem nur durch zwei Kräfte, die 


unendlich kleine Bewegung nur durch zwei Rotationen ersetzen. Sind die 
Koordinaten der beiden Kräfte, bezüglich der beiden Rotationen: 


PER WEN ui TE FF; Z, LM", N" 


so muß sein: 


’ 


X+X-3, IH I -H Z-+2 =Z, 
L+D’=N, M+M'=M, N+N=N. 
Gleichzeitig ist dann: 
ZL+YM+ZN=0, XL+YM'+Z’N’=0. 
Diese Gleichungen sagen nun aus, daß die geraden Linien X', Y', 
Z', L', M', N’ und X”, Y”, Z”, L”, M”, N” konjugierte Polaren sein 
sollen in bezug auf den linearen Komplex, dessen Gleichung ist 
AX+MY+NZ+=ZL+HM+ZN=0. 


Da sich in der „Neuen Geometrie“ nicht gerade eine Stelle findet, 
aus der man dieses ohne weiteres ersehen kann, folge hier der kurze Beweis. 


edrischer Koordinaten ausgeführt. (In den Rendiconti vom Februar, Mai, August 1869, 
Mai 1870 und in den Atti, Bd. 4, 1869.) 

Man vgl. auch Cayley: On the six Coordinates of a line. Cambridge Trans- 
actions. Bd. 9, 1868, bes. das Kapitel: Statical and Kinematical Applications, S. 25. 
[Coll. Papers, Bd. VII.) 


232 Zur Liniengeometrie. 


Die Bedingung, daß eine gerade Linie die feste Gerade X’, Y', Z. 
L', M', N’ schneide, ist: 


LUX+MY+NZ+XL+YM+ZN=0. 
Ebenso für die Gerade 5.0 Fr .2.E MM ee N”: 
L’X+M'Y+N’Z{X’L+Y’"M+Z’N=0. 
Durch Addition beider Gleichungen folgt: 
AX+-MY-+NZ+=ZL+HM-ZN=0. 
Das heißt: Alle Geraden, welche die beiden X’, Y', Z, L’, M', N’ und 
X",Y”,Z”, L”, M”’, N” schneiden, gehören dem fraglichen linearen Kom- 


plexe an. Das aber ist die charakteristische Eigenschaft!) der konjugierten 
Polaren, w. z. b. w. 
Die Koeffizienten 
EB ZA EN 
in der Gleichung des linearen Komplexes kann man geradezu als Koor- 
dinaten des linearen Komplexes'”) bezeichnen. Es ist das darum gestattet, 
weil, wenn die sechs Koeffizienten insbesondere die Gleichung befriedigen: 


ZA+HM--ZN=0, 


sie die Koordinaten desjenigen speziellen Komplexes sind, der dann durch 
die gegebene lineare Gleichung 


AX+-MY-+-NZ+- Z=SZL+HM+ZN=0 


dargestellt wird, d. h. die Koordinaten derjenigen geraden Linie, welche 
von allen der Gleichung genügenden Geraden geschnitten wird. Es muß 
ja in der Tat die vorstehende Gleichung bestehen, damit sich zwei Gerade 
mit den Koordinaten Z,H,Z,A,M,N und X, Y,Z,L, M, N schneiden. 

Gebrauchen wir nun diesen Ausdruck: Koordinaten eines linearen 
Komplexes, gleichgültig, ob der Komplex ein spezieller (eine gerade Linie) 
geworden ist oder nicht, so können wir, unabhängig davon, ob ein ge- 
gebenes Kräftesystem eine Resultante hat oder nicht, resp. ob eine ge- 
gebene unendlich kleine Bewegung sich auf eine Rotation reduziert oder 
nicht, den Satz aussprechen: 

Das geometrische Bild für ein Kräftesystem, bez. eine unendlich. 
kleine Bewegung mit den Koordinaten: 


EIHR ZB MEN 


ist ein linearer Komplex, der dieselben Koordinaten besitzt. 





14) Neue Geometrie, Nr. 28. 
15) Vgl.: „Die allgemeine lineare Transformation der Linienkoordinaten“. Math. 
Annalen, Bd. 2. [Siehe Abh. III dieser Ausgabe.) 


XIV. Zusammenhang der Liniengeometrie mit der Mechanik starrer Körper. 233 


83. 
Besprechung einiger besonderer Punkte. 


Es sind nun einige Dinge, wie bereits im Eingange erwähnt, die 
in der von Plücker gegebenen Darstellung des Zusammenhanges seiner 
Liniengeometrie mit der Mechanik starrer Körper, wie sie etwa in 
der 25. Nummer der ‚Neuen Geometrie“ vorliegt, nicht ganz klar zu sein 
scheinen. 

Kräftesysteme und unendlich kleine Bewegungen können, nach dem 
Vorstehenden, beide unter demselben geometrischen Bilde, dem linearen 
Komplexe, vorgestellt werden. Ein und derselbe Komplex ist also einmal 
Bild eines Kräftesystems, das andere Mal Bild einer unendlich kleinen Be- 
wegung: ganz in demselben Sinne, wie ein und dieselbe gerade Linie (ein 
spezieller Komplex) einmal eine nach ihr wirkende Kraft, das andere 
Mal eine um sie stattfindende Rotation versinnlichte. Zwischen dem Kräfte- 
system und der unendlich kleinen Bewegung, die sich auf denselben linearen 
Komplex beziehen, besteht ebensowenig ein ursächlicher physikalischer Zu- 
sammenhang, als zwischen der Kraft, welche nach einer Geraden wirkt, 
und der Rotation, die um dieselbe Gerade stattfindet. 

Aber in der Plückerschen Darstellung sieht es so aus, als wenn das 
Kräftesystem die Ursache der zugehörigen (auf denselben linearen Komplex 
bezüglichen) unendlich kleinen Bewegung sei. Dementsprechend wird denn 
auch beides, als wesentlich identisch, mit dem einheitlichen Namen ‚„Dyname“ 
bezeichnet. 

Daß ein Kräftesystem und eine unendlich kleine Bewegung bei diesen 
Betrachtungen überhaupt nicht in einen ursächlichen Zusammenhang gesetzt 
werden können, ist daraus ersichtlich, daß bei einem gegebenen Kräfte- 
system doch nur dann eine bestimmte Bewegung des starren Körpers er- 
folgt, wenn derselbe eine Masse, einen Schwerpunkt, ein Trägheitsellipsoid 
usw. besitzt. Durch einen bestimmten starren Körper, dessen Masse usw. 
ein für allemal gegeben ist, wird also allerdings jedem Kräftesystem eine 
bestimmte unendlich kleine Bewegung, die seine Wirkung ist, koordiniert ?®). 
Solange man aber nur schlechthin von einem starren Körper spricht, 
dessen Massenverteilung gar nicht in Betracht kommt, kann von einer 
ursächlichen Zuordnung überhaupt nicht die Rede sein. 

Es entsteht dabei die Frage, ob nicht eine andere Art physikalischen 





6) Da sowohl das Kräftesystem als dıe unendlich kleine Bewegung durch einen 
linearen Komplex ersetzt werden können, so begründet jeder starre Körper von ge- 
gegebener Massenverteilung eine besondere Art räumlicher Verwandtschaft, bei welcher 
jedem linearen Komplexe ein zweiter zugeordnet ist. Für Körper, deren Trägheits- 
ellipsoid eine Kugel ist, wird die Verwandtschaft geradezu die Polarreziprozität hin- 
sichtlich einer um den Schwerpunkt des Körpers herumgelegten Kugel. 


234 Zur Liniengeometrie. 


Zusammenhanges zwischen Kräftesystemen und unendlich kleinen Be- 
wegungen obwaltet, auf den die mathematische Koordination der beiden 
Dinge zurückzuführen wäre. Davon soll in den nächsten Paragraphen ge- 
handelt werden. 

Ein weiterer Punkt, der in der Plückerschen Darstellung nicht ganz 
deutlich scheint, ist der folgende, der übrigens mit dem erwähnten nahe 
zusammenhängt. 

Wenn wir von einer Kraft sprechen, so knüpft das an die geometrische 
Vorstellung der Geraden als einer Punktreihe, als eines Strahles, an. Da- 
gegen, wenn eine (unendlich kleine) Rotation um eine Gerade stattfindet, 
so fassen wir die Gerade als ein Ebenenbüschel, als eine Achse. An eine 
Achse die Vorstellung einer Kraft anzuknüpfen, d.h. also eine Kraft sich 
zu denken, welche einen frei beweglichen starren Körper um eine bestimmte 
Gerade drehen will, ist ebenso unmöglich, wie mit einem Strahl die Vor- 
stellung einer unendlich kleinen Bewegung zu verbinden, die dann den 
Körper nach einer einzelnen, bestimmten Geraden verschieben müßte. Eine 
Drehkraft, d.h. ein Kräftepaar, hat nicht eine Achse, sondern unendlich viele, 
deren Richtung allein gegeben ist; ebenso verschiebt eine Translation nicht 
einen einzelnen Strahl in sich, sondern gleichzeitig alle parallelen Strahlen. 
Man kann also auch nicht die geometrische Vorstellung einer Achse mit 
der mechanischen einer Drehkraft, die geometrische Vorstellung eines 
Strahles mit der mechanischen einer Translation verknüpfen. Es kann nur 
die Rede sein von Kräften, die nach geraden Linien wirken und von Be- 
wegungen, die um solche geschehen. Dies tritt bei Plücker nicht deutlich 
hervor; Plücker spricht meist von Kräften und Rotationen, dann aber 
auch wieder von Translationen und Drehkräften, und hat es an einzelnen 
Stellen den Anschein, als wäre jede Kraft mit einer Translation, jede 
Drehkraft mit einer Rotation ursächlich verknüpft. 

Daß man nur von Kräften sprechen kann, welche nach geraden Linien 
wirken, nur von Bewegungen, die um solche geschehen, kommt auf den 
undualistischen Charakter zurück, den überhaupt unsere Maßbestimmung 
besitzt. Dieselbe bezieht sich bekanntlich auf eine ebene Kurve zweiten 
Grades, den unendlich weit entfernten imaginären Kreis. Man kann nun 
aber nach dem Vorgange von Cayley‘) eine allgemeinere Maßbestimmung 
konzipieren, bei welcher eine allgemeine Fläche zweiten Grades dieselbe 
Rolle spielt, wie sonst die genannte ebene Kurve. Führt man eine solche 
Maßbestimmung ein und ersetzt gleichzeitig die sechsfach, unendlich vielen 
Bewegungen unseres Raumes durch ebenso viele lineare Transforınationen, 





7) Vgl. Cayley. A sixth Memoir upon Quanties. Phil. Trans. 1859. [Coll. Papers, 
Bd. II.) Sodann: Salmons Analytische Geometrie der Kegelschnitte. Kap. XXII (der 
Fiedlerschen Übersetzung). 


XIV. Zusammenhang der Liniengeometrie mit der Mechanik starrer Körper. 235 


welche die fundamentale Fläche zweiten Grades unverändert lassen!?): — 
so kann man gleichmäßig von Kräften sprechen, die nach Geraden und 
die um Gerade wirken, und von Bewegungen, die um Gerade und nach 
Geraden geschehen. Es würden aber beide Arten von Kräften und beide 
Arten von Bewegungen gleichbedeutend sein. Eine Drehung um eine Ge- 
rade ist dann dasselbe, wie eine Verschiebung nach der ihr in bezug auf 
die fundamentale Fläche zweiten Grades konjugierten Polare. Ebenso eine 
Kraft, die nach einer Geraden wirkt, dasselbe, wie eine Kraft, die um 
deren konjugierte Polare zu drehen bestrebt ist. 

Ein dritter Punkt, der bei Plücker wenigstens nicht ausdrücklich 
hervorgehoben ist, ist der, daß man nur unendlich kleine Rotationen, 
überhaupt unendlich kleine Bewegungen in Betracht ziehen darf Endliche 
Bewegungen setzen sich ja in anderer Weise zusammen, als unendlich kleine, 
es ist z. B. die Aufeinanderfolge bei der Zusammensetzung nicht gleich- 
gültig, während es bei unendlich kleinen Bewegungen, ebenso wie bei der 
Zusammensetzung von Kräften, auf die Reihenfolge nicht ankommt. 


SA. 


Über die Art des physikalischen Zusammenhanges zwischen Kräfte- 
systemen und unendlich kleinen Bewegungen. 


Es läßt sich nun in der Tat ein physikalischer Zusammenhang zwischen 
Kräftesystemen und unendlich kleinen Bewegungen angeben, welcher es 
erklärt, wieso die beiden Dinge mathematisch koordiniert auftreten. Diese 
Beziehung ist nicht von der Art, daß sie jedem Kräftesystem eine einzelne 
unendlich kleine Bewegung zuordnet, sondern sie ist anderer Art, sie ist 
eine dualistische. 

Es sei ein Kräftesystem mit den Koordinaten 


U ı U RT U Be 
und eine unendlich kleine Bewegung mit den Koordinaten 
=’, H’, v N, M’, N’ 





18) Eine Fläche zweiten Grades geht durch sechsfach unendlich viele lineare 
Transformationen in sich über. Aber dieselben sondern sich in zwei sechsfach un- 
endliche Mannigfaltigkeiten. Bei den Transformationen der einen Mannigfaltigkeit 
bleiben die beiden Systeme geradliniger Erzeugender der Fläche ungeändert, bei den Trans- 
formationen der zweiten Mannigfaltigkeit vertauschen sich die beiden Systeme gegenseitig. 
Die Transformationen der ersten Mannigfaltigkeit sind im Texte gemeint; sie gehen, 
wenn die F, allmählich in den unendlich weiten imaginären Kreis übergeht, allmählich 
in die sechsfach unendlich vielen Bewegungen des Raumes über. — Bei einer nächsten 
Gelegenheit denke ich zu zeigen, wie die im Texte erwähnte Cayleysche Maßbestim- 
mung unter Hinzunahme dieser sechsfach unendlich vielen Transformationen genau zu 
denselben geometrischen Vorstellungen hinleitet, wie sie von einem ganz anderen Aus- 
gangspunkte aus, Lobatchewsky und Bolyai entwickelt haben. 


236 Zur Liniengeometrie. 


gegeben, wobei man die Koordinaten in der in $ 2 besprochenen Weise 
absolut bestimmt haben mag. Dann repräsentiert, wie hier nicht weiter 
nachgewiesen werden soll, der Ausdruck 


NZ+MH+NZ+ZA+HM+ZN 
das Quantum von Arbeit, welche das gegebene Kräftesystem bei Eintritt 


der gegebenen unendlich kleinen Bewegung leistet. 
Ist insbesondere: 
N=Z+MH+NZHZEAHHMA+ZN=O0, 
so leistet das gegebene Kräftesystem bei Eintritt der gegebenen unendlich 
kleinen Bewegung keine Arbeit. 

Diese Gleichung nun repräsentiert uns, indem wir einmal Z,H, Z, A. 
M,N, das andere Mal = ,H,Z, N, M',N als veränderlich betrachten, 
den Zusammenhang zwischen Kräftesystemen und unendlich kleinen Be- 
wegungen. 

Betrachten wir =, H, Z, A,M,N als veränderlich, so sagt die 
Gleichung aus: Es gibt vierfach unendlich viele Kräftesysteme°®), welche 
bei einer gegebenen unendlich kleinen Bewegung keine Arbeit leisten. 
Ihre Koordinaten haben eine homogene lineare I zu befriedigen. 
Das kann man auch so aussprechen: 

Durch eine homogene lineare Gleichung zwischen den Koordinaten 
eines Kräftesystems wird eine unendlich kleine Bewegung dargestellt; 
ganz ın demselben Sinne, wie etwa in der analytischen Geometrie durch 
eine homogene lineare Gleichung zwischen Punktkoordinaten, welche aus- 
sagt, daß die Entfernung eines Punktes von einer gewissen Ebene gleich 
Null sein soll, diese gewisse Ebene ‚dargestellt wird. 

Betrachten wir dagegen 2’, H', Z’, A, M', N’ als veränderlich, so 
sagt unsere Gleichung aus: Es gibt Gesch rd viele unendlich kleine 
Bewegungen, bei deren Eintritt ein gegebenes Kraftsystem keine Arbeit 
leistet. Ihre Koordinaten genügen einer homogenen linearen Gleichung. 
Anders ausgedrückt: 





ı°), [Die Analogie zwischen Konfigurationen und unendlich kleinen Bewegungen 
wird schon von Rodrigues in seiner großen Abhandlung: Les lois geometriques qui 
regissent le deplacement d’un syst&me solide etc. (Liouvilles Journal, Bd. 5, 1840) 
in allgemeiner Gedankenwendung auf das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten 
zurückgeführt. Bei Cayley finden sich dann (in dem schon genannten Aufsatze 
über die sechs Koordinaten einer geraden Linie) ähnliche analytische Formeln, wie 
hier im Texte. Es fehlen nur die Ausführungen über die Geometrie der. linearen 
Komplexe. 

Siehe übrigens, was die Weiterführung der Betrachtungen angeht, den unten 
folgenden Aufsatz XXX.) 

20) Diejenigen als identisch betrachtet, die sich nur hinsichtlich des absoluten 
Wertes ihrer Koordinaten unterscheiden. 


XIV. Zusammenhang der Liniengeometrie mit der Mechanik starrer Körper. 237 


Durch eine homogene lineare Gleichung zwischen den Koordinaten 
einer unendlich kleinen Bewegung wird ein Kräftesystem dargestellt, 
ganz dem entsprechend, wie, wenn wir bei dem eben angezogenen Bei- 
spiele aus der analytischen Geometrie bleiben, durch eine lineare Gleichung 
zwischen Ebenenkoordinaten ein Punkt dargestellt wird. 


Das geometrische Substrat für die hiermit auseinandergesetzte Dualität 
zwischen Kräftesystemen und unendlich kleinen Bewegungen bildet die 
doppelte Art und Weise, wie sich in der Liniengeometrie alle Begriffe 
fassen lassen, wenn man vom linearen Komplexe als Raumelement aus- 
geht°t). Ein linearer Komplex ist dann gleichzeitig Raumelement, anderer- 
seits das durch eine lineare Gleichung dargestellte Gebilde. Die Gleichung: 

N=Z+MHANZA=EA+HMLZN=0, 

in der nunmehr Z,H,Z,A,M,N und &', H', Z’, A’, M', N’ die Koor- 
dinaten zweier linearer Komplexe bedeuten sollen, sagt eine zwischen den- 
selben geltende Beziehung aus, die ich als involutorische Lage derselben 
bezeichne®®). Was man unter der involutorischen Lage zweier linearer 
Komplexe geometrisch zu verstehen hat, ist vielleicht am einfachsten so 
auseinander zu setzen. Jedem Punkte des Raumes entspricht im ersten 
Komplexe eine Ebene, dieser Ebene im zweiten Komplexe ein Punkt. Auf 
denselben Punkt kommt man bei involutorischer Lage der beiden Kom- 
plexe, wenn man die Ebene betrachtet, die dem anfänglich gewählten 
Punkte im zweiten Komplexe entspricht und nun den Punkt sucht, der 
dieser Ebene im ersten Komplexe zugehört. Die mit den beiden Kom- 
plexen verknüpften dualen Umformungen des Raumes sind also ınitein- 
ander vertauschbar. — Ist einer der beiden Komplexe ein spezieller, d. h. 
eine Gerade, so tritt die involutorische Lage dann ein, wenn die Gerade 
dem anderen Komplexe angehört. Sind beide Komplexe Gerade, so ist 
die involutorische Lage mit dem Schneiden der beiden Geraden gleich- 
bedeutend. 

Ein linearer Komplex kann nach dem Gesagten entweder als Raum- 
element oder als die vierfach unendliche Mannigfaltigkeit der mit ihm in 
Involution liegenden Komplexe aufgefaßt werden. 

Geben wir dem linearen Komplexe die mechanische Bedeutung einer 
unendlich kleinen Bewegung, so repräsentieren die vierfach unendlich vielen 





21) Ich habe diese geometrischen Betrachtungen in dem bereits zitierten Auf- 
satze: „Die allgemeine lineare Transformation der Linienkoordinaten“. Math. Ann., 
Bd. 2 [siehe Abh. III dieser Ausgabe| des weiteren ausgeführt. 

®®) Auf die involutorische Lage zweier linearer Komplexe kommt auch Herr 
Battaglini in den genannten Aufsätzen; er bezeichnet sie als „harmonische Lage“ 
zweier Komplexe. Das Wort „Involution“ wird von ihm gebraucht, um Mannig- 
faltigkeiten zu bezeichnen, die von Parametern linear abhängen. 


238 Zur Liniengeometrie. 


mit ihm in Involution liegenden Komplexe diejenigen Kräftsysteme, welche 
bei Eintritt der unendlich kleinen Bewegung keine Arbeit leisten. Um- 
gekehrt: knüpfen wir an den linearen Komplex die mechanische Vorstellung 
eines Kräftesystems, so stellen die vierfach unendlich vielen mit ihm in 
Involution liegenden Komplexe diejenigen unendlich kleinen Bewegungen 
dar, bei denen das Kraftsystem keine Arbeit leistet. 

Unter den vierfach unendlich vielen mit einem linearen Komplexe 
in Involution liegenden Komplexen finden sich auch, wie bereits gesagt, 
die dreifach unendlich vielen ihm angehörigen geraden Linien. Für sie 
können wir insbesondere die vorstehenden beiden Sätze aussprechen. Die- 
selben werden dann gleichbedeutend mit den beiden in $ 1 genannten 
Sätzen, die so lauteten: Wenn ein linearer Komplex das Bild eines Kräfte- 
systems oder einer unendlich kleinen Bewegung ist, so sind die ihm an- 
gehörigen Geraden diejenigen Linien des Raumes, in bezug auf welche das 
Kräftesystem kein Drehmoment hat, resp. welche bei der unendlich kleinen 
Bewegung senkrecht gegen sich selbst versetzt werden. 


Göttingen, im Juni 1871. 





[Der Aufsatz XIV ist hier an den Schluß des liniengeometrischen Teils gestellt, 
weil er, in $ 3, meine erste Mitteilung über die Bedeutung der Cayleyschen Maß- 
bestimmung für die Nicht-Euklidische Geometrie enthält und damit einen natürlichen 
Übergang zu den Untersuchungen über die Grundlagen der Geometrie bildet. Die 
von mir im $ 3 angeregte Fragestellung ist bald darauf von Herrn Lindemann, 
der Herbst 1872 mit mir nach Erlangen ging, in seiner Dissertation (Über unendlich- 
kleine Bewegungen und über Kraftsysteme bei allgemeiner projektivischer Maß- 
bestimmung, Math. Ann. Bd. 7, 1873) ausführlich behandelt worden. K.] 


Zur Grundlegung der Geometrie. 








Vorbemerkungen zu den Arbeiten über die Grundlagen 
der Geometrie. 


Den autobiographischen Notizen von S. 50—52 habe ich hier vorweg noch nach 
zutragen, daß ich im September 1873 an der damals in Bradford stattfindenden 
Tagung der British Association for the Advancement of Science teilgenommen habe, 
Ich habe damals die wertvollsten persönlichen Beziehungen nicht nur zu Cayley und 
Sylvester, sondern namentlich auch zu R. Ball und W. K. Clifford gewonnen, 
Gleich am ersten Vormittag trug Ball über seine Theorie der Korreziprokalschrauben, 
Clifford über seine Fläche „vom Krümmungsmaße Null aber endlicher Ausdehnung“ 
vor. Ich erkannte natürlich sofort, daß es sich bei Ball um meine Theorie der 
Fundamentalkomplexe, bei Clifford um eine wesentliche Weiterführung meiner Ideen 
über elliptische Maßbestimmung handele. Eingehende persönliche Besprechungen 
stellten bald die Beziehung völlig klar und haben auf meine späteren Arbeiten einen 
nachhaltigen Einfluß geübt. Clifford hat damals nur den Titel seines Vortrags ver- 
öffentlicht und, was er später darüber publizierte, ist auch so kurz gefaßt, daß es 
kaum verständlich war und jedenfalls wirkungslos blieb. Um so lieber bin ich später, 
als ich eine zusammenfassende Vorlesung über Nicht-Euklidische Geometrie hielt (1889 
bis 90) und in dem daran anknüpfenden Aufsatz in Bd. 37 der Math. Annalen (1890) 
ausführlich darauf zurückgekommen. (Siehe unten Abh. XX1.) Auf die Ballsche 
Theorie bin ich erst 1901 genauer eingegangen, als Balls Theory of screws. in zweiter 
Auflage vorlag. (Man vgl. unten Abh. XXIX.) 

Im übrigen möge hier noch eine prinzipielle Bemerkung zur projektiven Grund- 
legung der Nicht-Euklidischen Geometrie Platz finden, 

Ich bemerkte bereits auf S. 52, daß ich den v. Staudtschen Aufbau der pro- 
jektivren Geometrie nur durch die fortgesetzten Unterhaltungen mit Stolz habe 
kennen lernen. Infolgedessen hat sich in meine bez. Darlegungen eine merkwürdige 
historische Ungenauigkeit eingeschlichen. In den $$ 19, 20, 21 des zweiten Heftes seiner 
„Beiträge zur Geometrie der Lage“ (1857) gibt v. Staudt bekanntlich Regeln, um 
zwei Würfe zu addieren und zu multiplizieren, bez. einen Wurf zu potenzieren. Diese 
Regeln stimmen formal mit den gleichbenannten, die sich auf Zahlen beziehen, voll- 
kommen überein. Danach war mir nicht. zweifelhaft — und es wird das heutzutage 
jedem modernen Mathematiker selbstverständlich erscheinen —, daß v. Staudt seinen 
Würfen unmittelbar Zahlenwerte zugeordnet habe. Aber dies ist merkwürdigerweise 
nicht richtig. Vielmehr vollzieht er die Zuordnung in $ 27 1. ec. nur durch Zwischen- 
schieben der gewöhnlichen Euklidischen Maßbestimmung (des Euklidischen Maßes anf 
der geraden Linie)! Die Angabe, welche ich im Text der Abh. XVI ($ 17) mache, 
daß sich bei v. Staudt „die nötigen Materialien finden, um ein Doppelverhältnis als eine 
reine Zahl zu definieren‘, ist richtig, der Hinweis auf $ 27 in der zugehörigen Fußnote 

Klein, Gesammelte matb. Abhandlungen. I. 16 


242 Zur Grundlegung der Geometrie. 


falsch'). Von hier aus sind hinsichtlich der Berechtigung und der Tragweite meiner anschlie- 
Benden Betrachtungen gewisse Mißverständnisse entstanden, die ich vorab aufklären will: 

1. Bei Cayley und bei Ball habe ich nie den Argwohn überwinden können, 
daß es sich bei meinen Darlegungen um einen Zirkelschluß handele (erst werden die 
Doppelverhältnisse metrisch eingeführt und dann auf sie die Metrik der projektiven 
Geometrie gegründet!). Ich habe die betreffenden Äußerungen in der Abh. XXI, S. 354, 
abgedruckt und bin eben zur Klarstellung dort (im dritten Abschnitt) auf die rein pro- 
jektive Einführung der Zahlenskala auf der geraden Linie eingegangen. Die rationalen 
Zahlen, welche bei der Anfertigung einer solchen Skala den jeweils durch die Konstruktion 
erreichten Punkten beigelegt werden, sind sozusagen Ordnungszahlen (keine Kardi- 


nalzahlen, wie beim gewöhnlichen Messen). Man kann zwar von einem Segment ab 
sprechen, aber nicht sagen, ob ein solches Segment „klein“ oder „groß“ sei. Ein 


zweites Segment cd kann nur dann > ab genannt werden, wenn es ab umfaßt, bez. 


in ab enthalten ist. 

2. Von anderer Seite ist die in Betracht kommende Einführung der Zahlen (bez. 
der Koordinaten) in die projektive Geometrie nicht beanstandet, sondern einfach 
nicht beachtet worden. Man spricht dann nicht von einer Neubegründung der Eukli- 
dischen oder Nicht-Euklidischen Metrik auf projektiver Grundlage, sondern von einer 
„Interpretation“ der Nicht-Euklidischen Geometrie mit Hilfe der Cayleyschen Maß- 
bestimmung (oder geradezu von einer Abbildung des Nicht-Euklidischen Raumes auf 
den Euklidischen). Ich muß hier gegen alle diese Ausdrucksweisen, die sich — nicht 
überall, aber doch immer wieder — in den Lehrbüchern finden, lebhafte Verwahrung 
einlegen. Eine Abbildung zunächst der Lobatschewskyschen Ebene auf die 
Cayleysche mit reeillem Fundamentalkegelschnitt (der speziell als gewöhnlicher Kreis 
angenommen wird) hat schon, ohne: freilich damals die Beziehung zu Cayley zu 
kennen, Beltrami in seinem „Saggio di interpretazione della geometria non euclidea“ 
in Bd. 6 des Giornale di Matematiche (1868), (Werke Bd. I, XXIV, S. 382) 
gegeben. In seiner bald darauf folgenden ‚Teoria fondamentale degli spazii di cur- 
vatura costante“ (Annali di Matematica (2), 2, 1863—69 = Werke Bd. I, XXV) dehnt 
er diese Abbildung sodann auf beliebige Nicht-Euklidische Räume aus. Wie fern ihm 
aber dabei die folgerichtige projektive Auffassung lag, geht daraus hervor, daß er 
eben dort an der Behauptung festgehalten hat, es könnte, im Falle positiven Krüm- 
mungsmaßes, die Verbindungsgerade zweier Punkte unter Umständen unbestimmt 
werden (sphärische Geometrie). Siehe Beltramis Werke Bd. I, S. 428. 

Ich erwähne schließlich die Stellung meiner ersten Nicht-Euklidischen Arbeiten 
zu einer damals unbekannten aber später oft zitierten, sehr knapp gefaßten Jugend- 
arbeit von Laguerre (Sur la theorie des foyers, Nouvelles Annales 1853; Werke Il, 
S.4—15). Der Abstand zweier Punkte und damit der Winkel zweier Geraden (in 
der Ebene) wird bei mir als der mit einer Konstanten multiplizierte Logarithmus 
eines Doppelverhältnisses definiert. Nun kommen auch bei Laguerre für die Winkel 
solche Logarithmen vor. Ich zitiere genau, was er darüber hat drucken lassen (S. 12, 
13 von Bd. II der Werke). Es sind nur die folgenden Zeilen: 


4. »Probleme. — Un systeme d’angles A, B, C,..., situes dans un plan, etant lies 
par une equation quelcongque F(A,B,C,...) = 0, trower la relation qui lie les 
angles correspondants A’, B', C’,..., quand on transjorme la figure homographiquement.« 





!) Die erste genauere Durchführung des richtigen abstrakten Gedankenganges 
scheint sich in Pasch, „Vorlesungen über Neuere Geometrie“ (1882, $ 21 daselbst) zu 
finden. Ich selbst habe in meiner Vorlesung von 1889—90 [siehe unten Abh. XXI] die ein- 
fachere Darstellung gewählt, daß ich nach beliebiger Annahme dreier Koordinatengrund- 
punkte auf der geraden Linie gleich die Werte der zugehörigen „Abszissen“ einführte 
— eine Darstellung, die allerdings mehr auf die Erläuterung dieser abstrakten Be- 
gründungsweise hinzielte, als auf eine genau gegliederte Durchführung derselben. 


Vorbemerkungen zur Grundlegung der Geometrie. 243 


»Solution. — Soient P, Q les deux points correspondants, sur la seconde figure, 
aux deux points qui, dans la premiere figure, sont situ&s respectivement sur la droite 
de l’infini et sur les deux droites y=xi, y=—xi.« 


»Les deux cötes de P’angles A’ dans la seconde figure et les droites A’P, 4’Q 
formeront un faisceau dont nous designerons le rapport anharmonique par a; designons 





de meme par b,c,d,... les rapports correspondants aux autres angles, la relation 
cherchee est x 
/loga logb loge 
(1) m. ee) 
2y—1 2y-12y-1l 


la caracteristique log designant le logarithme neperien.« 


Die hiermit reproduzierte Stelle von Laguerre bedeutet zweifellos einen großen 
Fortschritt in der Einordnung der gewöhnlichen metrischen Geometrie in die projektive. 
Aber eine neue Definition des (Euklidischen) Winkels zu geben, lag ihm augenschein- 
lich ganz fern. Man beachte nur, daß das zweite Heft der „Beiträge“ von Staudt’s 
welches die selbständige Begründung der projektiven Geometrie in die Wege leitete, 
erst 1857 erschienen ist. — 

Ein Wort noch über den Stetigkeitsbegriff in der gewöhnlichen projektiven Geo- 
metrie, an den in den folgenden Abhandlungen von verschiedenen Seiten heran- 
getreten wird. 

Die Stetigkeitseigenschaften, die man den Grundgebilden 1. Stufe beizulegen hat, 
sind von denjenigen des Inbegrifis der rationalen und irrationalen reellen Zahlen 
insofern verschieden, als der Wert 00 seine Sonderstellung verliert. Der Begriff der 
„Umgebung“ eines Elementes bleibt erhalten. Ist eine unendliche Menge von Elementen 
gegeben, so heißt O ein Grenzelement der Menge, wenn sich in jeder Umgebung von 
O immer wieder ein Element der Menge aufweisen läßt. %heißt eine stetige Funktion 
von x, wenn dem Grenzelement irgendeiner Menge &,,&%,,.... das Grenzelement der 
entsprechenden Elemente y,, %,,... entspricht. Der Begriff der gleichmäßigen Stetig- 
keit fällt daher fort, oder vielmehr er rückt in zweite Linie. Denn zwei Intervalle 
12 und 34 können, wie schon oben gesagt, zunächst nur insofern in der Beziehung 2 


stehen, als das eine ein Stück des andern ist. Die Vergleichbarkeit zweier auseinander 
liegender Intervalle hinsichtlich ihrer „Größe“ tritt erst ein, wenn man, was natürlich 
in jedem Augenblicke freisteht, auf dem Grundgebilde irgendwelche projektive Maß- 


bestimmung einführt, bei der die Intervalle 12 und 34 beide eine endliche Ausdehnung 
erhalten. K. 


XV. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. 


Vorgelegt von A. Clebsch. 


[Nachrichten von der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Nr. 17, 
(30. August 1871).) 


Die nachstehenden Erörterungen beziehen sich auf die sogenannte 
Nicht-Euklidische Geometrie von Gauß, Lobatschewsky, Bolyai und die 
verwandten Betrachtungen, welche von Riemann und von Helmholtz 
über die Grundlage unserer geometrischen Vorstellungen angestellt worden 
sind. Sie sollen indes nicht etwa die philosophischen Spekulationen 
weiterverfolgen, welche zu den genannten Arbeiten hingeleitet haben; 
vielmehr ist ihr Zweck, die mathematischen Resultate dieser Arbeiten, so 
weit sie sich auf Parallentheorie beziehen, in einer neuen, anschaulichen 
Weise darzulegen und einem allgemeinen deutlichen Verständnisse zugäng- 
lich zu machen. Der Weg hierzu führt durch die projektivische Geometrie, 
deren Unabhängigkeit von der Frage nach der Parallelentheorie dargetan 
wird. Nun kann man, nach dem Vorgange von Cayley, eine allgemeine 
projektivische Maßbestimmung konstruieren, welche sich auf eine beliebig 
anzunehmende Fläche zweiten Grades als sogenannte Fundamentalfläche 
bezieht. Diese projektivische Maßbestimmung ergibt, je nach der Art der 
dabei benutzten Fläche zweiten Grades, ein Bild für die verschiedenen in 
den vorgenannten Arbeiten aufgestellten Parallelentheorien. Aber sie ist 
nicht nur ein Bild für dieselben, sondern sie deckt geradezu deren inneres 
Wesen auf. — 


I. Die verschiedenen Parallelentheorien. 


Das elfte Axiom des Euklid ist, wie bekannt, mit dem Satze gleich- 
bedeutend, daß die Summe der Winkel im Dreiecke gleich zwei Rechten 
sei. Nun gelang es Legendre zu beweisen!), daß die Winkelsumme im 
Dreiecke nicht größer sein kann, als zwei Rechte; er zeigte ferner, daß, 





!) Dieser Beweis, so wie der sich auf den nämlichen Gegenstand beziehende Be- 
weis von Lobatschewsky setzt die unendliche Länge der Geraden voraus. Läßt man 
diese Annahme fallen (vgl. den weiteren Text), so fallen auch die Beweise, wie man 
daraus deutlich übersehen mag, daß dieselben sonst in gleicher eg für die Geo- 
metrie auf der Kugel gelten müßten, 


XV. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (Vorl. Mitteilung.) 245 


wenn in einem Dreiecke die Winkelsumme zwei Rechte beträgt, daß dann ein 
Gleiches bei jedem Dreieck der Fall ist. Aber er vermochte nicht zu zeigen, 
daß die Winkelsumme nieht möglicherweise kleiner ist, als zwei Rechte. 

Eine ähnliche Überlegung scheint den Ausgangspunkt von Gauß’ 
Untersuchungen über diesen Gegenstand gebildet zu haben. Gauß besaß 
die Auffassung, daß es in der Tat unmöglich sei, den Satz von der Gleich- 
heit der Winkelsumme mit zwei Rechten zu beweisen, daß man vielmehr 
eine in sich konsequente Geometrie konstruieren könne, in der die Winkel- 
summe kleiner ausfällt. Gauß bezeichnete diese Geometrie als Nicht- 
Euklidische?); er hat sich mit ihr viel beschäftigt, leider aber, von 
einigen Andeutungen abgesehen, nichts über dieselbe veröffentlicht. In 
dieser Nicht-Euklidischen Geometrie kommt eine gewisse, für die räumliche 
Maßbestimmung charakteristische, Konstante vor. Erteilt man derselben 
einen unendlichen Wert, so erhält man die gewöhnliche Kuklidische Geo- 
metrie. Hat aber die Konstante einen endlichen Wert, so hat man eine 
abweichende Geometrie, für die beispielweise folgende Gesetze gelten: Die 
Winkelsumme im Dreiecke ist kleiner als zwei Rechte, und zwar um so 
mehr, je größer die Fläche des Dreiecks ist. Für ein Dreieck, dessen 
Ecken unendlich weit entfernt sind, ist die Winkelsumme gleich Null. — 
Durch einen Punkt außerhalb einer Geraden kann man zwei Parallele zu 
der Geraden ziehen, d. h. Linien, welche die Gerade auf der einen oder 
anderen Seite in einem unendlich fernen Punkte schneiden. Die durch den 
Punkt gehenden Geraden, welche zwischen den beiden Parallelen verlaufen, 
schneiden die gegebene Gerade gar nicht. 

Auf eben diese Nicht-Euklidische Geometrie ist Lobatschewsky?), 
Professor der Mathematik an der Universität zu Kasan, und einige Jahre 
später, der ungarische Mathematiker J. Bolyai*) geführt worden, und 
haben. dieselben den Gegenstand in ausführlichen Veröffentlichungen be- 
handelt. Indes blieben diese Arbeiten ziemlich unbekannt, bis man 
durch die Herausgabe des Briefwechsels zwischen Gauß und Schumacher, 
die 1862 erfolgte, auf dieselben aufmerksam gemacht wurde. Seitdem ver- 
breitete sich die Auffassung, daß nunmehr die Parallelentheorie vollkommen 
erledigt, d. h. in ihrer realen Unbestimmtheit erkannt sei. 





2) Vgl. Sartorius v. Waltershausen, Gauß zum Gedächtnis. S. 81. Sodann 
einige Briefe in dem Briefwechsel von Gauß und Schumacher. 

®) Im Kasanschen Boten 1829. — Schriften der Universität Kasan 1836—38. — 
Crelles Journal, Bd. 17, 1837 (Geomeötrie imaginaire). — Geometrische Unter- 
suchungen zur Theorie der Parallellinien. Berlin 1840. — Pangeometrie. Kasan 1855 
(Die Pang&ometrie findet sich in italienischer Übersetzung im Bd. 5 des Giornale di 
Matematiche 1867); Ges. Werke, Bde. I, II. 

4) In einem Appendix zu W. Bolyais Werke: Tentamen juventutem ... Maros- 
Vasarhely, 1832, Eine italienische Übersetzung desselben in Bd. 6 des Giornale di 
Matematiche, 1868. 


246 Zur Grundlegung der Geometrie. 


Aber diese Auffassung muß wohl einer wesentlichen Modifikation unter- 
liegen, seit im Jahre 1867 nach Riemanns Tode dessen Habilitations- 
vorlesung von 1854: „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde 
liegen‘ erschienen ist, und bald darauf Helmholtz in diesen Nachrichten 
(1868) seine Untersuchungen: ‚Über die Tatsachen, welche der Geometrie 
zugrunde liegen‘ veröffentlichte. 

In Riemanns Schrift ist darauf hingewiesen, wie die Unbegrenztheit 
des Raumes, die als Erfahrungstatsache gegeben ist, nicht auch notwendig 
dessen Unendlichkeit mit sich führt. Es wäre vielmehr denkbar und würde 
unserer Anschauung, die sich immer nur auf einen endlichen Teil des 
Raumes bezieht, nicht widersprechen, daß der Raum endlich wäre und in 
sich zurückkehrte: die Geometrie unseres Raumes würde sich dann ge- 
stalten wie die Geometrie auf einer in einer Mannigfaltigkeit von vier 
Dimensionen gelegenen Kugel von drei Dimensionen. — Diese Vorstellung, 
die sich auch bei Helmholtz findet, würde mit sich bringen, daß die 
Winkelsumme im Dreiecke (wie beim gewöhnlichen sphärischen Dreiecke) 
größer?) ist, als zwei Rechte, und zwar in dem Maße größer, als das 
Dreieck einen größeren Inhalt hat. Die gerade Linie würde alsdann keine 
unendlich fernen Punkte haben, und man könnte durch einen gegebenen 
Punkt zu einer gegebenen Geraden überhaupt keine Parallele ziehen. 

Eine auf diese Vorstellungen gegründete Geometrie würde sich in 
ganz gleicher Weise neben die gewöhnliche Euklidische Geometrie stellen, 
wie die soeben erwähnte Geometrie von Gauß, Lobatschewsky, Bolyaı. 
Während letztere der Geraden zwei unendlich ferne Punkte erteilt, gibt 
diese der Geraden überhaupt keine (d.h. zwei imaginäre) unendlich ferne 
Punkte. Zwischen beiden steht die Euklidische Geometrie als Übergangsfall; 
sie legt der Geraden zwei zusammenfallende unendlich ferne Punkte bei. 

Einem in der neueren Geometrie gewöhnlichen Sprachgebrauche folgend, 
sollen diese drei Geometrien bezüglich als hyperbolische oder elliptische‘) 
oder parabolische Geometrie im nachstehenden bezeichnet werden, je nach- 
dem die beiden unendlich fernen Punkte der Geraden reell oder imaginär 
sınd oder zusammenfallen. 


1. Versinnlichung der dreierlei Geometrien durch die allgemeine 
Cayleysche Maßbestimmung. 


Das Bedürfnis, die sehr abstrakten Spekulationen, welche zur Auf- 
stellung der dreierlei Geometrien geführt haben, zu versinnlichen, hat 
dahingeführt, Beispiele von Maßbestimmungen aufzusuchen, die als Bilder 





?) Die entgegenstehenden Beweise von Legendre und Lobatschewsky setzen, 
wie bereits bemerkt, die Unendlichkeit des Raumes voraus. 
®) Die gewöhnliche Sphärik ist hiernach als eine „elliptische“ Geometrie zu bezeichnen. 


XV. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (Vorl. Mitteilung) 247 


der genannten Geometrien aufgefaßt werden könnten, und damit zugleich 
die innere Folgerichtigkeit jeder einzelnen in Evidenz setzten. 

Die parabolische Geometrie bedarf keiner solchen Versinnlichung, da 
sie mit der Euklidischen zusammenfällt und uns als solche geläufig ist. 

Man hat nun für die elliptische und die hyperbolische Geometrie 
Bilder angegeben, welche die Art dieser Geometrien an Objekten demon- 
strieren, die im Sinne der Euklidischen Maßbestimmung gemessen werden. 
Dieselben erläutern indessen nur den planimetrischen Teil der fraglichen 
Geometrien. Beltrami, dem man die betreffende Versinnlichung der 
hyperbolischen Geometrie verdankt‘), hat nachgewiesen, daß etwas Ana- 
loges für den Raum nicht möglich ist. Das Bild für den planimetrischen 
‚Teil der elliptischen Geometrie, ist, wie man ohne weiteres sieht, die Geo- 
metrie auf der Kugel®), überhaupt die Geometrie auf den Flächen von kon- 
stantem positiven Krümmungmaße. Die hyperbolische Geometrie dagegen 
findet ihre Interpretation auf den Flächen von konstantem negativen 
Krümmungsmaße. Diese letztere Interpretation bringt leider, wie es scheint, 
nie das gesamte Gebiet der Ebene zur Anschauung, indem die Flächen 
mit konstantem negativen Krümmungsmaße wohl immer durch Rückkehr- 
kurven usw. begrenzt werden’). 

Ich wıll nun hier zunächst für die dreierlei Geometrien sowohl in 
der Ebene als im Raume Bilder aufstellen, welche ihre Eigentümlichkeiten 
vollkommen übersehen lassen. Sodann werde ich zeigen, daß diese Bilder 
nicht nur Interpretationen der genannten Geometrien sind, sondern daß 
sie deren inneres Wesen darlegen und also ein deutliches Verständnis der- 
selben mit sich führen. 

Die fraglichen Bilder betrachten als Objekt der Maßbestimmung die 
Ebene resp. den Raum selbst und benutzen nur. eine andere Maßbestim- 
mung als die gewöhnliche, welche, im Sinne der projektivischen Geometrie, 
als eine Verallgemeinerung der gewöhnlichen Maßbestimmung erscheint. 
Es ist diese verallgemeinerte Maßbestimmung im wesentlichen von Cayley 
aufgestellt worden!®); bei ihm sind nur die leitenden Gesichtspunkte ganz _ 
anderer Art, als die hier vorliegenden. Cayley konstruiert diese Maßbe- 
stimmung, um zu zeigen, wie die’ (Euklidische) Geometrie des Maßes als 





?) Saggio di interpretazione della Geometria non-euclidea. Giornale di Matematiche 
Bd. 6, 1868. Werke, Bd.1, S. 374—406. 

®) [Hier ist zwischen der elliptischen Geometrie und der sphärischen Geometrie 
noch nicht scharf unterschieden, wie es in der folgenden Abh. XVI geschieht.) 

®, [Dies ist in der Tat durch einen späteren Satz von Hilbert bestätigt worden. 
Vgl. D. Hilbert, Grundlagen der Geometrie, 2. und folgende Auflagen, Anhang V.) 

10) Im Sixth Memoir upon Quantics. Phil. Trans. Bd. 149 [Coll. Papers, Bd. II, 
S. 583—592]. Vgl. die Fiedlersche Übersetzung von Salmons Kegelschnitten, 2. Aufl. 
(Leipzig 1860), oder auch Fiedler: Die Elemente der neueren Geometrie und der 
Algebra der binären Formen (Leipzig 1862). 


248 Zur Grundlegung der Geometrie. 


ein besonderer Teil der projektivischen Geometrie aufgefaßt werden kann. 
Er betrachtet dabei des näheren nur die Ebene. Er zeigt, wie man in 
der Ebene auf Grund der projektivischen Vorstellungen eine Maßbestim- 
mung treffen kann, die sich auf einen beliebig gegebenen Kegelschnitt als 
„absoluten“ Kegelschnitt bezieht. Degeneriert dieser Kegelschnitt in ein 
imaginäres Punktepaar, so hat man eine Maßbestimmung, wie die von uns 
(in der Euklidischen Geometrie) angewandte ist; man erhält geradezu die 
gewöhnliche Maßbestimmung, wenn man die beiden imaginären Funda- 
mentalpunkte mit zwei bestimmten Punkten der Ebene, nämlich den beiden 
Kreispunkten, zusammenfallen läßt. 

Diese allgemeine Cayleysche Maßbestimmung soll hier kurz auf den 
Raum übertragen werden, wobei ich mich, gegenüber der Cayleyschen 
Auseinandersetzung, einer mehr geometrischen Darstellungsweise bediene. 
Sei eine beliebig anzunehmende Fläche zweiten Grades als ‚fundamentale‘ 
Fläche gegeben. Zwei gegebene Raumpunkte bestimmen durch den Durch- 
schnitt ihrer Verbindungslinie mit der Fläche zwei Punkte der letzteren. 
Die beiden gegebenen Punkte haben zu diesen beiden ein gewisses Doppel- 
verhältnis, und der mit einer willkürlichen Konstanten!) c multiplizierte 
Logarithmus dieses Doppelverhältnisses soll die Entfernung der beiden 
gegebenen Punkte genannt werden. Analog, wenn zwei Ebenen gegeben 
sind, so lassen sich durch die Durchschnittslinie derselben zwei Tangential- 
ebenen an die Fundamentalfläche legen. Dieselben bestimmen mit den 
beiden gegebenen Ebenen ein gewisses Doppelverhältnis. Der mit einer 
willkürlich zu wählenden Konstanten c' multiplizierte Logarithmus dieses 
Doppelverhältnisses ist es, den wir als Winkel der beiden gegebenen Ebenen 
bezeichnen. 

Gemäß diesen Definitionen sind die Punkte der Fundamentalfläche 
von allen übrigen Punkten unendlich fern; die Fundamentalfläche ist also 
der Ort der unendlich fernen Punkte. Ebenso sind die Tangentialebenen 
der Fundamentalfläche solche Ebenen, welche mit einer beliebigen Ebene 
einen unendlich großen Winkel bilden. — Eine Entfernung gleich Null 
voneinander haben diejenigen Punkte, deren Verbindungslinie eine Tan- 
gente der Fläche ist. Einen Winkel gleich Null schließen miteinander solche 
Ebenen ein, deren Durchschnittslinie die Fläche berührt. — Unter einer 
Kugel ist eine Fläche zweiten Grades zu verstehen, welche die Fundamen- 
talfläche nach einer ebenen Kurve berührt. Das Zentrum der Kugel ist 
der Pol der Ebene. — An Stelle der sechsfach unendlich vielen Bewe- 


1) Cayley definiert die Entfernung zweier Punkte durch eine Formel, in der 
dieser Konstanten ein partikulärer Wert & v=1) beigelegt ist. Ebenso ist es mit 


der gleich zu nennenden Konstanten c!. 


XV. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (Vorl. Mitteilung.) 249 


gungen, welche die gewöhnliche Maßbestimmung ungeändert lassen, tritt 
jetzt ein Zyklus von ebenso vielen linearen Transformationen. Die Fun- 
damentalfläche geht nämlich, wie überhaupt eine Fläche zweiten Grades, 
durch sechsfach unendlich viele lineare Transformationen in sich über. 
Dieselben zerfallen in zwei, sechsfach unendliche Scharen, je nachdem sie 
die beiden Systeme gradliniger Erzeugender der Fläche vertauschen oder 
nicht. Die Transformationen der letzteren Art sind hier gemeint. Die 
Transformationen der ersteren Art lassen allerdings auch die Maßunter- 
schiede ungeändert, da sie, gleich den anderen, die Doppelverhältnisse nicht 
ändern, deren Logarithmen die Maßunterschiede sind. Sie entsprechen 
aber nicht den Bewegungen des Raumes, sondern denjenigen Transforma- 
tionen desselben, welche räumliche Figuren in beliebig gelegene symme- 
trisch kongruente Figuren umwandeln. 

Aus dieser allgemeinen Maßbestimmung ergibt sich durch einen Grenz- 
übergang eine Maßgeometrie, gleichartig der gewöhnlichen parabolischen, 
wenn die Fundamentalfläche zweiten Grades in einem imaginären Kegel- 
schnitt ausartet. Ist dieser Kegelschnitt insonderheit der unendlich ferne 
imaginäre Kreis, so erhält man geradezu die gewöhnliche Maßgeometrie. 

Aber die allgemeine projektivische Maßbestimmung ergibt bei passen- 
der Wahl der Fundamentalfläche auch eine Maßgeometrie, welche die Vor- 
stellungen der elliptischen, andererseits eine, welche die Vorstellungen der 
hyperbolischen Geometrie darlegt; und sind dies die Bilder für die ellip- 
tische und die hyperbolische Geometrie, von denen im vorstehenden die 
Rede war. i 

Zu einer Maßgeometrie entsprechend der elliptischen Geometrie ge- 
langt man, wenn man die Fundamentalfläche imaginär nimmt. Es hat 
dann ersichtlich keine gerade Linie reelle unendlich ferne Punkte, so daß 
die Gerade wie eine geschlossene Kurve von endlicher Länge ist. Des 
näheren wird man genau zu den (trigonometrischen) Formeln hingeleitet, 
wie sie die elliptische Geometrie anzunehmen hat. Es sind dies die Formeln 
der gewöhnlichen sphärischen Trigonometrie, in welche für den Radius der 





Kugel die Konstante — eintritt !?). 


— 


Zu einer Geometrie entsprechend der hyperbolischen wird man geführt, 
wenn man die Fundamentalfläche reell und nicht geradlinig nimmt und 
auf die Punkte in deren Innerem achtet. Diese Beschränkung auf das 
Innere der Fundamentalfläche ist naturgemäß. Denn gesetzt, man befände 
sich im Inneren der Fläche und man könne nur vermöge solcher linearer 
Raumtransformationen seinen Ort im Raume wechseln, die, bei der ge- 


'*) [Hierbei wird c zweckmäßigerweise als rein imaginäre Konstante angenommen. 
Vgl. die folgende Abh. XVI, $ 5.) 


250 Zur Grundlegung der Geometrie. 


troffenen Maßbestimmung, die Bewegungen des Raumes vorstellen. Dann 
würde man niemals aus dem Inneren der (für die Maßbestimmung) un- 
endlich fernen Fläche zweiten Grades hinausgelangen können. Jenseits der 
Fundamentalfläche befände sich dann noch ein Raumstück, von dessen 
Vorhandensein man nichts weiß, und daß sich nur dadurch bemerkbar 
macht, daß sich nicht je zwei in einer Ebene verlaufende Gerade schneiden, 
wenn man nicht ein solches Raumstück supponiert. — Beschränkt man 
sich nun auf Konstruktionen, die nicht aus dem Inneren der Fläche her- 
vortreten, so gelten für sie beim Gebrauche der betreffenden Maßbestim- 
mung ganz diejenigen Gesetze, welche die hyperbolische Geometrie für die 
Raumkonstruktionen überhaupt aufstellt. Jede Gerade hat z. B. zwei reelle 
unendlich ferne Punkte, denn jede durch das Innere der Fläche gehende 
Gerade schneidet die Fläche in zwei reellen Punkten. Durch einen Punkt 
kann man zu einer Geraden zwei Parallele ziehen: diejenigen beiden Linien, 
welche den Punkt mit den beiden Schnittpunkten der gegebenen Geraden 
und der Fundamentalfläche verbinden. Ein Dreieck mit unendlich fernen 
Ecken, d. h. ein Dreieck, dessen Eckpunkte auf der Fundamentalfläche 
liegen, hat die Winkelsumme Null. Denn je zwei Linien, weiche sich auf 
der Fundamentalfläche schneiden (je zwei Parallele) schließen einen Winkel 
gleich Null ein usw. Endlich repräsentiert die Konstante c, mit der der 
Logarithmus des betr. Doppelverhältnisses multipliziert werden muß, um 
die Entfernung zweier Punkte zu geben, die oben erwähnte in der hyper- 
bolischen Geometrie vorkommende charakteristische Konstante. 


IH. Unabhängigkeit der projektivischen Geometrie von der Parallelen- 
theorie. Begründung der dreierlei Maßgeometrien. 


Im vorstehenden sind für die elliptische und hyperbolische Maßgeo- 
metrie in der allgemeinen Cayleyschen Maßbestimmung adäquate Bilder 
gefunden, indem wir die Fundamentalfläche einmal imaginär, das andere 
Mal reell und nicht geradlinig nahmen. Ähnlicherweise hatten wir ein Bild 
für die gewöhnliche, parabolische Geometrie, wenn die Fundamentalfläche 
in einen imaginären Kegelschnitt degenerierte. Aber dieses Bild ging in 
den Gegenstand, den es versinnlichte, d.h. in die parabolische Geometrie, 
selbst über, wenn wir.den fundamentalen Kegelschnitt mit einem be- 
stimmten Kegelschnitte, dem unendlich fernen imaginären Kreise, zu- 
sarmmenfallen ließen. Ähnlich nun gehen die Maßgeometrien, welche wir 
resp. als Bilder der elliptischen und hyperbolischen Geometrien aufgestellt 
haben, in diese Geometrien selbst über, wenn man die fundamentale 
Fläche derselben mit einer bestimmten (der unendlich fernen) Fläche zweiten 
Grades [dieser Geometrien] koinzidieren läßt. 


XV. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (Vorl. Mitteilung.) 251 


Man gewinnt diese Überzeugung, indem man bemerkt, daß die pro- 
jektivische Geometrie unabhängig ist von der Frage nach der Parallelen- 
theorie!?). In der Tat, um die projektivische Geometrie zu entwickeln und 
ihre Geltung in einem beliebig gegebenen begrenzten Raume nachzuweisen, 
genügt es, in diesem Raume Konstruktionen zu machen, die nicht über 
den Raum hinausführen und nur sogenannte Lagenbeziehungen betreffen. 
Die Doppelverhältnisse (die einzig festen Elemente der projektivischen 
Geometrie) dürfen dabei natürlich nicht, wie dies gewöhnlich geschieht, 
als Streckenverhältnisse definiert werden, da dies die Kenntnis einer 
Maßbestimmung voraussetzen würde. In von Staudts Beiträgen zur Geo- 
metrie der Lage!‘) sind aber, die nötigen Materialien gegeben, um ein 
Doppelverhältnis als eine reine Zahl zu definieren. Von den Doppelver- 
hältnissen mögen wir sodann zu den homogenen Punkt- und Ebenen- 
koordinaten aufsteigen, die ja auch nichts anderes sind, als die relativen 
Werte gewisser Doppelverhältnisse, wie dies v. Staudt gezeigt!”) und noch 
neuerdings Herr Fiedler wieder aufgenommen hat!®). Unentschieden bleibt 
dabei, ob sich zu sämtlichen reellen Werten der Koordinaten auch ent- 
sprechende Raumelemente finden lassen. Ist dies nicht der Fall, so steht 
nichts im Wege, den betreffenden Koordinatenwerten entsprechend zu den 
wirklichen Raumelementen uneigentliche hinzuzufügen. Dies geschieht in 
der parabolischen Geometrie, wenn wir von der unendlich fernen Ebene 
reden. Unter Zugrundelegung der hyperbolischen Geometrie würde man 
ein ganzes Raumstück zu adjungieren haben. Dagegen würde bei der 
elliptischen Geometrie eine Adjunktion uneigentlicher Elemente nicht 
stattfinden. 

Ist so die projektivische Geometrie entwickelt, so wird man die all- 
gemeine Cayleysche Maßbestimmung aufstellen können. Dieselbe bleibt, 
wie vorhin geschildert, durch sechsfach unendlich viele lineare Transfor- 
mationen, die wir als Bewegungen des Raumes bezeichneten, ungeändert. 

Nunmehr wende man sich der Betrachtung der tatsächlichen Bewe- 
gungen des Raumes und der durch sie begründeten Maßbestimmung zu. 
Man übersieht, daß die sechsfach unendlich vielen Bewegungen ebenso 
viele lineare Transformationen sind. Dieselben lassen überdies eine Fläche, 
die Fläche der unendlich fernen Punkte ungeändert. Nun gibt es aber, 
wie sich leicht beweisen läßt, keine anderen Flächen, die durch sechsfach 





13) Es ist dies auch leicht hinterher zu verifizieren. Denn unter Zugrundelegung 
der elliptischen oder hyperbolischen Geometrie kann man in ganz ähnlicher Weise, 
wie man es bei der parabolischen Geometrie zu tun pflegt, die projektivische Geo- 
metrie aufbauen. 

14, $ 27, Nr. 393. 

15) Beiträge $ 29, Nr. 411. 

16, Vierteljahrsschrift der naturforsch. Gesellschaft in Zürich. XV. 2. (1871). 


252 Zur Grundlegung der Geometrie. 


unendlich viele lineare Transformationen in sich übergehen, als die Flächen 
zweiten Grades und ihre Ausartungen. Die unendlich fernen Punkte bilden 
also eine Fläche zweiten Grades, und die Bewegungen des Raumes sub- 
sumieren sich unter diejenigen sechsfach unendlichen Zyklen linearer 
Transformationen, welche eine Fläche zweiten Grades ungeändert lassen. 
Hiernach ist ersichtlich, wie sich die tatsächlich gegebene Maßbestimmung 
unter die allgemeine projektivische subsumiert. Während letztere eine be- 
liebig anzunehmende Fläche zweiten Grades benutzt, ist diese bei ersterer 
ein für allemal gegeben. 

Die Art dieser der tatsächlichen Maßbestimmung zugrunde liegenden 
Fläche zweiten Grades kann nun noch näher bestimmt werden, wenn man 
beachtet, daß eine Ebene durch fortgesetzte Drehung um eine beliebige 
in ihr im Endlichen gelegene Achse in die Anfangslage zurückkommt. Es 
sagt dies aus, daß die beiden Tangentialebenen, welche man durch eine ım 
Endlichen gelegene Gerade an die Fundamentalfläche legen kann, imaginär 
sind. Denn wären sie reell, so fänden sich in dem betr. Ebenenbüschel 
zwei reelle unendlich ferne Ebenen (d. h. Ebenen, welche mit allen anderen 
einen unendlich großen Winkel bilden) und dann könnte keine in einem 
Sinne fortgesetzte Rotation eine Ebene des Büschels in die Anfangslage 
zurückführen, 

Damit nun diese beiden Ebenen imaginär sind, oder, was dasselbe 
ist, damit der Tangentenkegel der Fundamentalfläche, der von einem 
Punkte des (uns durch die Bewegungen zugänglichen) Raumes ausgeht, 
imaginär sei, sind nur drei Fälle denkbar: 

1. Die Fundamentalfläche ist imaginär. Dies ergibt die elliptische 
(Geometrie. 

2. Die Fundamentalfläche ist reell, nicht geradlinig und umschließt 
uns. Die Annahme der hyperbolischen Geometrie. 

3. (Übergangsfall.) Die Fundamentalfläche ist in eine imaginäre 
Kurve ausgeartet. Die Voraussetzung der gewöhnlichen parabolischen 
(reometrie. | 

So sind wir denn gerade zu den dreierlei Geometrien hingeleitet, 
welche man, wie unter I. berichtet, von ganz anderen Betrachtungen aus- 
gehend aufgestellt hat. 





|Die Vorgeschichte der Nicht-Euklidischen Geometrie ist heutzutage dank ins- 
besondere der Arbeiten von Stäckel und Engel sehr viel mehr geklärt, als es 1871 
der Fall war, wo alles nur mehr gerüchtweise an uns herankam. Die ausgereifteste 
Darstellung findet sich in Stäckels letzter Schrift: C. F. Gauß als Geometer (1918 — 
Heft V der „Materialien für eine wissenschaftliche Biographie vom Gauß“, demnächst 
in Bd. 10 von Gauß’ Werken abzudrucken). Es wäre unmöglich und würde über- 
dies den ganzen Charakter meiner eigenen Darlegungen entstellen, wollte man alle die 
Einzelergebnisse, wie sie insbesondere die Benutzung des wissenschaftlichen Nachlasses 


XV. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (Vorl. Mitteilung.) 253 


der in erster Linie in Betracht kommenden Autoren gezeitigt hat, nun in den Text 
meiner Aufsätze einarbeiten. Vielmehr muß es an gegenwärtigem Platze bei den mehr 
summarischen Zitaten, wie sie sich in der ursprünglichen Fassung meiner Arbeiten 
fanden, sein Bewenden haben. 

Was andererseits die erkenntnistheoretische Wertung der Untersuchungen über 
Nicht-Euklidische Geometrie angeht, so würde ich heute gern die Unterscheidung der 
immanenten und der transienten Bedeutung der mathematischen Erkenntnis voran- 
stellen, mit der A. Voß seine bezüglichen Darlegungen in Heft E des mathematischen 
Bandes der Kultur der Gegenwart (B. G. Teubner, 1914) beginnt. Immanent berech- 
tigt ist, was in sich widerspruchsfrei ist, transient, was für unsere Erfassung der 
Außenwelt Bedeutung hat. Ich habe in meinen Arbeiten über Nicht-Euklidische Geo- 
metrie, soweit sie hier im Bd. I abgedruckt werden, wesentlich die immanente Seite 
betont, bez. zur Entwicklung gebracht, bin aber nie zu der vollen Gleichgültigkeit den 
transienten Fragen gegenüber durchgedrungen, die sich vielfach bei den modernen 
Axiomatikern geltend macht. Im übrigen möchte ich mich in beiderlei Hinsicht ge- 
rade auch betreffs der Nicht-Euklidischen Geometrie den allgemeinen Auffassungen 
anschließen, die A. Voß, |. c., S. 118 ff., entwickelt. 

Endlich will ıch betr. der Einzelheiten der heutigen Axiomatik der Geometrie 
hier gleich auf das zusammenfassende Referat von Enriques in IIl,, Heft 1, der 
mathematischen Enzyklopädie verweisen (deutsche Ausgabe 1907, französische Aus- 
gabe 1911). Wegen der Grundlagen insbesondere der projektiven Geometrie siehe auch 
das Referat von Schönflies in der Enzyklopädie III,, Heft 3 der deutschen Ausgabe 
(1909), bez. IIJ,, der französischen (1913, Bearbeiter Tresse). — 

Im übrigen sei noch bemerkt, daß vorstehender Aufsatz XV selbstverständlich 
vor der ausführlichen Abhandlung XVI niedergeschrieben ist. K.) 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie‘). 
[Math. Annalen, Bd. 4 (1871).) 


Die nachstehenden Erörterungen beziehen sich auf die sogenannte 
Nicht-Euklidische Geometrie von Gauß, Lobatschewsky, Bolyai und die 
verwandten Betrachtungen, welche Riemann und Helmholtz über die 
Grundlagen unserer geometrischen Vorstellungen angestellt haben. Sie 
sollen indes nicht etwa die philosophischen Spekulationen weiterverfolgen, 
welche zu den genannten Arbeiten hingeleitet haben, vielmehr ist ihr Zweck, 
die mathematischen Resultate dieser Arbeiten, soweit sie sich auf Par- 
allelentheorie beziehen, in einer neuen anschaulichen Weise darzulegen 
und einem allgemeinen deutlichen Verständnisse zugänglich zu machen. 

Der Weg hierzu führt durch die projektivische Geometrie. Man kann 
nämlich, nach dem Vorgange von Cayley?), eine projektivische Maß- 
bestimmung im Raume konstruieren, welche eine beliebig anzunehmende 
Fläche zweiten Grades als sogenannte fundamenta!e Fläche benutzt. Je 
nach der Art der von ihr benutzten Fläche zweiten Grades ist nun diese 
Maßbestimmung ein Bild für die verschiedenen in den vorgenannten 
Arbeiten aufgestellten Parallelentheorien. Aber sie ist nicht nur ein 
Bild für dieselben, sie deckt geradezu, wie sich zeigen wird, deren inneres 
Wesen auf. 

Ich beginne damit, die in Rede stehenden Parallelentheorien kurz aus- 
einander zu setzen ($ 1). Sodann wende ich mich der Cayleyschen Maß- 
bestimmung zu, die ich im Zusammenhange entwickele, so zwar, daß fort- 
während auf die verschiedenartigen Parallelentheorien Bezug genommen 
wird. Ich bin dabei um so lieber in ausführlichere Erörterungen ein- 
gegangen, als die bez. Cayleyschen Untersuchungen nicht hinlänglich be- 





1) Vgl. eine unter demselben Titel mitgeteilte Note in den Göttinger Nachrichten, 
1871, Nr. 17. |Siehe Abh. XV dieser Ausgabe. ] 

?) Im Sixth Memoir upon Quantics. Phil. Transactions, Bd. 149, 1859, Coll. Papers, 
Bd. II, 8. 583—592. Vgl. die Fiedlersche Übersetzung von Salmons Kegelschnitten. 
2. Aufl. (Leipzig 1866) oder auch Fiedler: Die Elemente der neueren Geometrie und 
der Algebra der binären Formen (Leipzig 1862). 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 255 


kannt geworden zu sein scheinen, dann aber auch bei ihnen der leitende 
Gesichtspunkt ein anderer ist, als der hier vorliegende. Bei Cayley handelt 
es sich darum, nachzuweisen, daß die gewöhnliche (Euklidische) Maßgeo- 
metrie als ein besonderer Teil der projektivischen Geometrie aufgefaßt 
werden kann. Zu diesem Zwecke stellt er die allgemeine projektivische 
Maßbestimmung auf und zeigt sodann, daß aus ihren Formeln die Formeln 
der gewöhnlichen Maßgeometrie hervorgehen, wenn die fundamentale Fläche 
in einen bestimmten Kegelschnitt, den unendlich fernen imaginären Kreis, 
degeneriert. Hier dagegen handelt es sich darum, den geometrischen Inhalt 
der allgemeinen Cayleyschen Maßbestimmung möglichst deutlich dar- 
zulegen und zu erkennen, nicht nur, wie sie durch eine geeignete Partı- 
kularisation die Euklidische Maßgeometrie ergibt, sondern wesentlich, daß 
sie in ganz derselben Beziehung zu den verschiedenen Maßgeometrien 
steht, die sich den genannten Parallelentheorien anschließen. 

Rei diesen Auseinandersetzungen ergeben sich einige neue Betrach- 
tungen. Ich rechne dahin, abgesehen von den Detailausführungen, nament- 
lich die Art und Weise, wie die Cayleysche Maßbestimmung durch Betrach- 
tung wiederholter räumlicher Transformationen begründet wird. Sodann 
hebe ich noch die Form hervor, unter welcher in $ 7 und $ 14 der Be- 
griff des Krümmungsmaßes auftritt. 

Es ist übrigens die Definition, welche ich für die projektivische Maß- 
bestimmung aufstelle, etwas allgemeiner, als die von Cayley selbst ge- 
gebene. Um die Entfernung zweier Punkte zu bestimmen, denke ich mir 
dieselben durch eine gerade Linie verbunden. Dieselbe schneidet die Fun- 
damentalfläche in zwei weiteren Punkten, welche mit den beiden gegebenen 
ein gewisses Doppelverhältnis besitzen. Den mit einer willkürlichen, aber 
fest gewählten Konstante c multiplizierten Logarithmus dieses Doppel- 
verhältnisses bezeichne ich als die Entfernung der beiden Punkte. Um 
den Winkel zweier Ebenen zu bestimmen, lege ich durch deren Durch- 
schnittslinie die beiden Tangentialebenen an die Fundamentalfläche. Die- 
selben bilden mit den beiden gegebenen Ebenen ein gewisses Doppelver- 
hältnıs. Als Winkel der beiden gegebenen Ebenen bezeichne ich sodann 
den mit einer anderen willkürlichen, aber fest gewählten Konstante c’ 
multiplizierten Logarithmus dieses Doppelverhältnisses. Die hiermit auf- 
gestellten geometrischen Definitionen stimmen mit den analytischen, von 
Cayley gegebenen überein, sobald man noch c und c’ partikuläre Werte 


erteilt, nämlich beide gleich as = setzt®). Es ist aber für das Folgende 





®) Gelegentlich bezeichnet Cayley auch den „Quadranten“ als Einheit. Dies 


ER 
kommt darauf hinaus, ce und c’ gleich m! zu nehmen. 


‘256 Zur Grundlegung der Geometrie. 


wesentlich, die Konstanten c und c’ beizubehalten, da z. B. c gerade der 
ın der Nicht-Euklidischen Geometrie vorkommenden charakteristischen Kon- 
stanten entspricht (vgl. auch $ 4). 


81. 
Die verschiedenen Parallelentheorien. 


Das elfte Axiom des Euklides ist, wie bekannt, mit dem Satze gleich- 
bedeutend, daß die Summe der Winkel im Dreiecke gleich zwei Rechten 
ist. Nun gelang es Legendre, zu beweisen‘), daß die Winkelsumme im 
Dreiecke nicht größer sein kann, als zwei Rechte; er zeigte ferner, daß, 
wenn in einem Dreiecke die Winkelsumme zwei Rechte beträgt, dann 
ein Gleiches bei jedem Dreiecke der Fall ist. Aber er vermochte nicht 
zu zeigen, daß die Winkelsumme nicht möglicherweise kleiner ist, als 
zwei Rechte. 

Eine ähnliche Überlegung scheint den Ausgangspunkt von Gauß’ 
Untersuchungen über diesen Gegenstand gebildet zu haben. Gauß war 
der Auffassung, daß es in der Tat unmöglich sei, den Satz von der Gleichheit 
der Winkelsumme mit zwei Rechten zu beweisen, daß man vielmehr auf 
Grund der vorangehenden Axiome eine in sich konsequente Geometrie 
konstruieren könne, bei der die Winkelsumme kleiner ausfällt. Gauß be- 
zeichnete diese Geometrie als Nicht-Euklidische?); er hat sich mit ihr 
viel beschäftigt, leider aber, von einigen Andeutungen abgesehen, nichts 
über dieselbe veröffentlicht. In dieser Nicht-Euklidischen Geometrie kommt 
eine gewisse, für die räumliche Maßbestimmung charakteristische Konstante 
vor. Erteilt man derselben einen unendlichen Wert, so erhält man die 
gewöhnliche Euklidische Geometrie. Hat aber die Konstante einen endlichen 
Wert, so hat man eine abweichende Geometrie, für welche u. a. folgende 
Gesetze gelten: 

Die Winkelsumme im Dreiecke ist kleiner als zwei Rechte, und zwar 
um so mehr, je größer die Fläche des Dreiecks ist. Für ein Dreieck, 
dessen Ecken unendlich weit entfernt sind, ist die Winkelsumme gleich 
Null. — Durch einen Punkt außerhalb einer Geraden kann man zwei 
Parallele zu der Geraden ziehen, d. h. Linien, welche die Gerade auf der 
einen oder anderen Seite in einen unendlich fernen Punkte schneiden, 





*) Dieser Beweis, sowie der sich auf den nämlichen Gegenstand beziehende Be- 
weis von Lobatschewsky setzt die unendliche Länge der (Geraden voraus. Läßt man 
diese Annahme fallen (vgl. den weiteren Text), so fallen auch die Beweise, wie man 
daraus deutlich übersehen mag, daß dieselben sonst in gleicher Weise für die Geo- 
metrie auf der Kugel gelten müßten. 

5) Vgl. Sartorius v. Waltershausen, Gauß zum Gedächtnis, S. 81. Sodann 
einige Briefe in dem Briefwechsel von Gauß und Schumacher. 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 257 


Die durch den Punkt gehenden Geraden, welche zwischen den beiden 
Parallelen verlaufen, schneiden die gegebene Gerade gar nicht. 

Auf eben diese Nicht-Euklidische Geometrie ist Lobatschewsky‘®), 
Professor der Mathematik an der Universität zu Kasan und, einige Jahre 
später, der ungarische Mathematiker J. Bolyaı’) geführt worden, und 
haben dieselben den Gegenstand in ausführlichen Veröffentlichungen be- 
handelt. Indes blieben diese Arbeiten ziemlich unbekannt, bis man durch 
die Herausgabe des Briefwechsels zwischen Gauß und Schumacher, die 
1862 erfolgte, auf dieselben aufmerksam gemacht wurde. Seitdem ver- 
breitete sich die Auffassung, daß nunmehr die Parallelentheorie in ihrer 
realen Unbestimmtheit erkannt sei. 

Aber diese Auffassung muß wohl einer wesentlichen Modifikation 
unterliegen, seit im Jahre 1867 nach Riemanns Tode dessen Habilitations- 
vorlesung: „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen“ 
erschienen ist und bald darauf Helmholtz in den Göttinger Nachrichten 
(1868, Nr. 6) seine Untersuchungen: „Über die Tatsachen, welche der Geo- 
metrie zugrunde liegen“, veröffentlichte. 

In Riemanns Schrift ist darauf hingewiesen, wie dre Unbegrenztheit 
des Raumes nicht auch notwendig dessen Unendlichkeit mit sich führt. 
Es wäre vielmehr denkbar und würde unserer Anschauung, die sich immer 
nur auf einen endlichen Teil des Raumes bezieht, nicht widersprechen, daß 
der Raum endlich wäre und in sich zurückkehrte: die Geometrie unseres 
Raumes würde sich dann gestalten, wie die Geometrie auf einer in einer 
Mannigfaltigkeit von vier Dimensionen gelegenen Kugel von drei Dimen- 
sionen. — Diese Vorstellung, die sich auch bei Helmholtz findet, würde 
mit sich bringen, daß die Winkelsumme im Dreiecke (wie beim gewöhn- 
lichen sphärischen Dreiecke) größer?) ist, als zwei Rechte, und zwar in 
dem Maße größer, als das Dreieck einen größeren Inhalt hat. Die gerade 
Linie würde alsdann keine unendlich fernen Punkte haben, und man könnte 
durch einen gegebenen Punkt zu einer gegebenen Geraden überhaupt keine 
Parallele ziehen. 

Eine auf diese Vorstellungen gegründete Geometrie würde sich in ganz 
gleicher Weise neben die gewöhnliche Euklidische Geometrie stellen, wie 





°) Im Kasanschen Boten 1829. — Schriften der Universität Kasan, 1835—38. 
— Crelles Journal, Bd. 17, 1837 (Geometrie imaginaire). — Geometrische Unter- 
suchungen zur Theorie der Parallellinien. Berlin 1840. — Pang&ometrie. Kasan 1855. 
(Die Pangeometrie findet sich in- italienischer Übersetzung im Bd. 5.des Giornale di 
Matematiche, 1867.) [Ges. geometr. Werke, Bde. I, II, Kasan, 1883, 1886.] 

”) In einem Appendix zu W. Bolyais Werke: Tentamen juventutem ... Maros- 
Vasarhely, 1832. Vgl. eine italienische Übersetzung desselben in Bd. 6 des Giornale 
di Matematiche, 1868. 

°) Die entgegenstehenden Beweise von Legendre und Lobatschewsky setzen, 
wie bereits bemerkt, die Unendlichkeit des Raumes voraus. 

Klein, Gesammelte math. Abhandlungen, 1. 17 


258 Zur Grundlegung der Geometrie. 


die soeben erwähnte Geometrie von Gauß, Lobatschewsky, Bolyai. 
Während letztere der Geraden zwei unendlich ferne Punkte erteilt, gibt 
diese der Geraden überhaupt keine (d. h. zwei imaginäre) unendlich ferne 
Punkte. Zwischen beiden steht die Euklidische Geometrie als Über- 
gangsfall; sie legt der Geraden zwei zusammenfallende unendlich ferne 
Punkte bei. 

Einem in der neueren Geometrie gewöhnlichen Sprachgebrauche?) 
folgend, sollen diese drei Geometrien bezüglich als hyperbolische, als 
elliptische und als parabolische Geometrie im nachstehenden bezeichnet 
werden, je nachdem die beiden unendlich fernen Punkte der Geraden reell 
oder imaginär sind oder zusammenfallen. 

Diese dreierlei Geometrien werden sich nun im folgenden als be- 
sondere Fälle der allgemeinen Cayleyschen Maßbestimmung erweisen. 
Zu der parabolischen (der gewöhnlichen) Geometrie wird man geführt, 
wenn man die Fundamentalfläche der Cayleyschen Maßbestimmung in 
einen imaginären Kegelschnitt degenerieren läßt. Nimmt man für die 
Fundamentalfläche eine eigentliche Fläche zweiten Grades, die aber ima- 
ginär ist, so erhält man die elliptische Geometrie. Die hyperbolische Geo- 
metrie endlich erhält man, wenn man für die Fundamentalfläche eine reelle, 
aber nicht geradlinige Fläche zweiten Grades nimmt nnd auf die Punkte 
in deren Innerem achtet. 

Ich wende mich jetzt zu der Aufstellung der allgemeinen Cayley- 
schen Maßbestimmung, zunächt für die Grundgebilde erster Stufe. Dabei 
erörtere ich jedesmal, wie sich unter die projektivischen Vorstellungen die 
Vorstellungen der elliptischen und hyperbolischen Geometrie subsumieren. 

Es mag hier übrigens noch des Zusammenhanges gedacht werden, in 
welchem sich die in Rede stehenden geometrischen Dinge mit den Betrach- 
tungen befinden, die sich auf Maßbestimmung in beliebig „ausgedehnten 
analytischen Mannigfaltigkeiten beziehen. 

Herr Beltrami hat zuerst gezeigt!®), wie der planimetrische Teil 
der hyperbolischen (Nicht-Euklidischen) Geometrie seine Interpretation in 
der gewöhnlichen Metrik der Flächen mit konstantem negativen Krümmungs- 
maße findet. In der hyperbolischen Geometrie ist also die Ebene wie 
eine Mannigfaltigkeit von zwei Dimensionen mit konstantem negativen 
Krümmungsmaße. Als darauf die bez. Riemannsche Arbeit erschien, in 





®) Man bezeichnet z. B. die Punkte einer Fläche als hyperbolische oder elliptische 
oder parabolische, je nachdem die Haupttangenten reell oder imaginär sind oder zu- 
sammenfallen. Steiner nennt die Involutionen hyperbolisch oder elliptisch oder 
parabolisch, je nachdem die Doppelelemente reell oder imaginär sind oder zusammen- 
fallen usf. 

10) Saggio di interpretazione della Geometria non-euclides.. Giornale di Ma- 
tematiche, 1868. Beltramis Werke, Bd. 1, 374—405. 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 259 


der zum ersten Male der Begriff des Krümmungsmaßes auch für höhere 
Mannigfaltigkeiten aufgestellt wurde, dehnte Beltrami seine Untersuchungen 
auf Räume mit beliebig vielen Dimensionen aus'!!). Insbesondere zeigte 
er, daß bei der hyperbolischen Geometrie dem gewöhnlichen Raume (von 
drei Dimensionen) auch wieder ein konstantes negatives Krümmungsmaß 
beigelegt wird, daß geradezu die Annahme eines konstanten negativen 
Krümmungsmaßes sich mit der Annahme der hyperbolischen Geometrie 
deckt. Die elliptische Geometrie dagegen, oder, wie er sie bezeichnet, 
die sphärische??) (denn die gewöhnliche sphärische Geometrie gehört hierher‘), 
würde dem Raume ein konstantes positives Krümmungsmaß beilegen. Bei 
der parabolischen Geometrie endlich würde das Krümmungsmaß auch kon- 
stant, aber gleich Null sein. 

Da nun wie im folgenden gezeigt werden soll, die allgemeine Cayley- 
sche Maßbestimmung im Raume von drei Dimensionen gerade die hyper- 
bolische, elliptische und parabolische Geometrie umfaßt, sich also mit der 
Annahme eines konstanten Krümmungsmaßes deckt, so wird man zu der 
Vermutung geleitet, daß auch bei beliebig vielen Dimensionen die all- 
gemeine Cayleysche Maßbestimmung und die Annahme eines konstanten 
Krümmungsmaßes übereinkommen. Dieses ist, wie indes nicht weiter ge- 
zeigt werden soll, in der Tat der Fall. Man wird also für die Räume 
mit konstantem Krümmungsmaße ohne weiteres die Formeln benutzen 
können, die im folgenden unter Annahme von zwei und drei Dimensionen 
aufgestellt werden. Es schließt dies ein, daß in solchen Räumen die kür- 
zesten Linien wie gerade Linien durch lineare Gleichungen dargestellt 
werden können!?); daß die unendlich fernen Elemente eine Fläche zweiten 
Grades bilden usw. Es sind dies Resultate, welche bereits Beltrami, 
von anderen Betrachtungen ausgehend, nachgewiesen hat'*); auch ist, um 
von den Formeln von Beltrami zu denen von Cayley zu gelangen, kaum 
noch ein Schritt zu tun. 

Zugleich mag hiermit der Zusammenhang angedeutet sein, der zwischen 
dem Nachstehenden und den allgemeinen Untersuchungen der Herren 
Christoffel?°) und Lipschitz!*) über Differentialausdrücke besteht. 





'ı) Teoria fundamentale degli spazii di curvatura costante. Annali di Matematica. 
Serie II, Bd. 2, 1868/69. Beltrami’s Werke, Bd. 1, 406—429. 

1?) Demgegenüber bezeichnet er die hyperbolische Geometrie als „pseudosphärische“. 

3) Insbesondere also wird für Räume mit konstanter Krümmung die projek- 
tivische Geometrie gelten. Vgl. $ 17 des Textes. 

14) Zunächst für Flächen von konstantem Krümmungsmaße in einem Aufsatze: 
Risolutione del problema di riportare i punti di una superficie usw. Annali di Ma- 
tematica. Serie I, Bd. 7, 1866. Werke, Bd. 1, 262—280. Sodann allgemein in der 
genannten Abhandlung: Teoria generale usw. 

»») Borchardts Journal. Bd. 70 (1869), 8. 46. 

1%) Borchardts Journal. Bd. 70 (1869), S. 71; Bd. 72 (1870), S. 1. 


1r 


260 Zur Grundlegung der Geometrie. 


8 2. 
Allgemeines über räumliche Maßbestimmung. 


Alle räumlichen Maßbestimmungen lassen sich bekanntlich auf zwei 
fundamentale Aufgaben zurückführen: auf die Bestimmung der Entfernung 
zweier Punkte und auf die Bestimmung der Neigung zweier sich schnei- 
dender Geraden; wie denn die Instrumente, mit denen der praktische Geo- 
meter arbeitet, im allgemeinen Strecken oder Winkel messen; alle übrigen 
zu bestimmenden Dinge können aus diesen berechnet werden. 


Im Sinne der projektivischen Geometrie wird man diese beiden Grund- 
aufgaben als das Problem der Maßbestimmung auf den Grundgebilden 
erster Stufe bezeichnen können. Das Messen der Entfernung zweier Punkte 
entspricht der Maßbestimmung auf der geraden Punktreihe; das Messen 
der Neigung zweier sich schneidender Geraden der Maßbestimmung im 
ebenen Strahlbüschel. Die Maßbestimmung im Ebenenbüschel endlich ist 
von der im ebenen Strahlbüschel nicht verschieden, da als Neigung zweier 
Ebenen die Neigung solcher zwei sich schneidender Linien anzusehen Ist, 
in welchen die beiden Ebenen durch eine auf ihrer Durchschnittslinie 
senkrechte Ebene geschnitten werden. Es bleiben sonach nur zu be- 
trachten die Maßbestimmung auf der geraden Punktreihe und die Maß- 
bestimmung im ebenen Strahlbüschel, und vor ihnen soll hier zunächst 
gehandelt werden. 

Sofern man die gerade Punktreihe und das ebene Strahlbüschel als 
in der Ebene gelegen betrachtet, sind sie durch das Prinzip der Dualität 
verknüpft. Nicht so die für dieselben geltenden Maßbestimmungen, die 
im Gegenteil wesentlich verschieden sind, z. B.: 


Die Entfernung zweier Punkte ist eine algebraische, der Winkel zweier 
Geraden eine transzendente (zyklometrische) Funktion der Koordinaten. 


Die Länge einer unbegrenzten geraden Punktreihe ist unendlich groß; 
dagegen ist die Summe der Winkel im Strahlbüschel endlich. 


Eine Strecke ist (bis aufs Vorzeichen) eindeutig bestimmt, ein Winkel 
nur bis auf Multipla einer Periode. Entsprechend kann die Strecke auf 
einfache. Weise in eine beliebige Anzahl gleicher Teile geteilt werden, 
nicht so der Winkel, bei dem im allgemeinen nur die Zweiteilung ge- 
lingt usw. 

Trotz dieser Unterschiede haben beide Arten von Maßbestimmungen 
etwas Gemeinsames, und dieser Umstand wird gestatten, beide als be- 
sondere Fälle unter eine allgemeinere Maßbestimmung zu subsumieren. 
Dieses Gemeinsame ist zweierlei Art. 

Erstens gilt für beide Maßbestimmungen das Gesetz, daß sich die 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 361 


Maßunterschiede addieren!”), d.h. daß der Maßunterschied 12, vermehrt 
um den Maßunterschied 23, gleich ist dem Maßunterschiede 13, in Zeichen 
12-+23—= 13. Diese Addierbarkeit der Maßunterschiede ist ein all- 
gemeines Gesetz, welches bei allen Maßbestimmungen in Mannigfaltigkeiten 
einer Dimension von vornherein gegeben ist!*). Dasselbe hat für die Be- 
stimmung derjenigen Funktion der Koordinaten, welche den Maßunterschied 
darstellen soll, den Wert einer Funktionalgleichung. — Mit dieser Addier- 
barkeit der Maßunterschiede können wir gleich die weitere Eigenschaft ver- 
knüpfen, die ebenfalls bei allen Maßbestimmungen in Mannigfaltigkeiten 
einer Dimension hervortritt, nämlich die, daß die Entfernung eines Ele- 
mentes von sich selbst gleich Null ist: 11-0. Hieraus und aus der eben 
genannten Eigenschaft folgt noch insbesondere: 12 — — 21. 

Zweitens haben die hier zu betrachtenden Maßbestimmungen noch eine 
zweite Eigenschaft, welche sie eben geeignet macht, zur Messung im Raume 
angewandt zu werden. Diese Eigenschaft ist die, durch eine Bewegung 
im Raume nicht geändert zu werden. Der Winkel zweier Geraden eines 
Büschels ändert sich insbesondere nicht, wenn man das Büschel in seiner 
Ebene um seinen Mittelpunkt eine Rotation ausführen läßt; ebensowenig 
die Entfernung zweier Punkte einer Geraden, wenn man die Gerade in 
sich verschiebt. 

Die genannten beiden Eigenschaften reichen hin, um beide Maß- 
bestimmungen zu charakterisieren; sie treten auch in deutlichster Weise 
hervor bei der Art, wie wirkliche Messungen ausgeführt werden. Man be- 
dient sich dazu, sowohl beim Winkei- als beim Streckenmessen, einer 
Skala äquidistanter Elemente, die man beliebig an den zu messenden 
Gegenstand anlegt'!”). Die Zahl der Skalenteile, welche zwischen den beiden 
Elementen liegen, deren Maßunterschied zu bestimmen ist, ergibt geradezu 
den gesuchten Maßunterschied. Dabei soll nicht weiter diskutiert werden, 
wie die Zahl dieser Skalenteile im allgemeinen keine ganze und nicht 
einmal eine rationale ist, wie man damit zusammenhängend auch den Maß- 
unterschied zweier Elemente nie genau, sondern nur innerhalb gewisser 
Fehlergrenzen wird bestimmen können. — Dagegen mögen wir des näheren 





) Bei der Winkelmessung gilt dies natürlich nur so weit, als man nicht, was 
man immer kann, den Winkeln 12 usw. unabhängig voneinander Multipla von x 
zufügt. 

1#) Dasselbe gilt z. B., wenn wir die Zeit oder Gewichte oder Intensitäten 
messen. 

“#) Beim Streckenmessen bedient man sich, in Übereinstimmung mit dem im 
Texte Gesagten, einer Skala äquidistanter, auf einer Geraden gelegener Punkte, eines 
Maßbstabs. Dagegen wendet man beim Winkelmessen nicht eine Winkelskala, sondern 
einen geteilten Kreis an, der eine Winkelskala vertritt. Im Texte soll aber an der 
Vorstellung einer Winkelskala festgehalten werden, weil ein Kreis nicht im Sinne der 
projektivischen Geometrie ein Grundgebilde ist. 


262 Zur Grundlegung der: Geometrie. 


betrachten, wie die genannten beiden Eigenschaften der Maßbestimmung 
in der hier mit geschilderten Operation des Messens zutage treten, Die 
erste Eigenschaft, die Addierbarkeit der Maßunterschiede, ist unmittelbar 
darin ausgesprochen, daß wir als Maßunterschied zweier Elemente schlecht- 
hin die Zahl der zwischen ihnen befindlichen Skalenteile nehmen. Die 
zweite Eigenschaft tritt namentlich darin hervor, daß wir für den Maß- 
unterschied dieselbe Zahl finden, unabhängig von der Art und Weise, wie 
wir die Skala an das zu Messende anlegen. Zu diesem Zwecke muß die 
Skala die Eigenschaft haben, sich selbst zu decken, wenn man sie an sich 
selbst beliebig anlegt. Oder, mit anderen Worten: Übt man auf die Skala 
eine Bewegung aus, bei der die gerade Punktreihe bez. das Strahlbüschel, 
welche ihre Träger sind, unverändert bleiben, bei der ferner ein Skalen- 
teil in den nächstfolgenden übergeht, so geht jeder Skalenteil in den 
nächstfolgenden über. 

Diese letztere Eigenschaft der Skala gestattet es, dieselbe durch eine 
wiederholte Bewegung anzufertigen [wie man dies in praxi tatsächlich tut]. 

Insbesondere, um eine Skala auf der geraden Punktreihe zu kon- 
struleren, nehme man zwei Punkte (1) und (2) als Grenzpunkte eines 
ersten Skalenteils an. Sodann verschiebe man die Gerade in sich, bis (1) 
in (2) fällt. So ist (2) in einen Punkt (3) gerückt, welcher der dritte 
Skalenteilpunkt sein soll. Verschiebt man noch einmal um ein gleiches 
Stück, so rückt wieder (1) in (2), (2) in (3), endlich (3) in einen neuen 
Skalenteilpunkt (4) usw. 

Ebenso, will man eine Skala auf dem ebenen Strahlbüschel kon- 
struieren, so nehme man zuvörderst zwei Strahlen (1) und (2) an als 
Grenzstrahlen eines ersten Skalenteils?®®). Eine Drehung des Büschels in 
seiner Ebene um seinen Mittelpunkt bringe (1) in die Lage von (2), 
so hat (2) eine Lage (3) angenommen, welches der dritte Teilstrahl ist usf. 

Verschiebung einer Punktreihe oder Drehung eines Strahlbüschels in 
sich fallen nun beide, vom Standpunkte der projektivischen Geometrie aus, 
unter den allgemeineren Begrifi einer linearen Transformation, welche 
das betreffende Grundgebilde in sich überführt. Hiernach wird man sofort 
eine allgemeinere Konstruktion einer Skala für die gerade Punktreihe oder 
das Strahlbüschel und damit eine allgemeinere Maßbestimmung auf diesen 
Grundgebilden konzipieren, die dann die wirklich angewandten Konstruk- 
tionen und Maßbestimmungen als besondere Fälle umfaßt. Man wird sich 
nämlich dadurch, sei es für die Punktreihe oder für das Strahlbüschel, 
eine Skala konstruieren, daß man auf ein Element des betreffenden Ge- 





20) In praxi wird man für den Skalenteil einen solchen Winkel nehmen, daß 
der rechte Winkel durch eine ganze Anzahl Skalenteile ausgedrückt wird, was hier 
nicht in Betracht kommt. 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 263 


bildes eine beliebig anzunehmende lineare Transformation, durch welche 
das Gebilde in sich übergeht, wiederholt anwendet. Das anfänglich ge- 
wählte Element erzeugt dabei eine Elementenreihe, welche eben die Skala 
ist. Als Maßunterschied zweier Elemente gılt die Zahl der zwischen den 
beiden Elementen befindlichen Skalenteile?*). Ist hiernach zunächt nur 
der Maßunterschied solcher Elemente definiert, welche genau um eine 
ganze Anzahl von Skalenteilen voneinander abstehen, so wird man durch 
fortgesetztes Unterabteilen der Skalenteile (vgl. den folgenden Paragraphen ) 
auch den Maßunterschied zweier Elemente festlegen können, die um eine 
rationale Zahl von Skalenteilen verschieden sind; man wird endlich, indem 
man den Begriff der irrationalen Grenze aufnimmt, von einem Maßunter- 
schiede zweier beliebiger Elemente reden können. 

Diese allgemeinere Art der Maßbestimmung auf den Grundgebilden 
erster Stufe soll in dem folgenden Paragraphen näher untersucht werden. 
Man wird dabei so viele wesentlich verschiedene Maßbestimmungen er- 
halten, als es wesentlich verschiedene lineare Transformationen im Grund- 
gebilde erster Stufe gibt. Nun gibt es aber solcher Transformationen nur 
zweierlei Arten: 

1. Solche, bei denen zwei (reelle oder imaginäre) Elemente des Grund- 
gebildes fest bleiben (allgemeiner Fall). 

2. Solche, bei denen nur ein (doppeltzählendes) Element des Grund- 
gebildes ungeändert bleibt (spezieller Fall). 

Entsprechend wird es auch nur zwei wesentlich verschiedene Arten 
projektivischer Maßbestimmung auf den Grundgebilden erster Stufe geben: 
eine allgemeine, welche Transformationen erster Art, eine spezielle, welche 
Transformationen zweiter Art benutzt. 

Die gewöhnliche Maßbestimmung im Strahlbüschel ist von der ersten 
Art. Denn bei einer Rotation des Büschels um seinen Mittelpunkt in 
seiner Ebene bleiben zwei getrennte Strahlen desselben, diejenigen, welche 
nach den unendlich fernen imaginären Kreispunkten hingehen, ungeändert. 

Dagegen ist die gewöhnliche Maßbestimmung auf der Geraden von der 
zweiten Art. Denn bei einer Verschiebung einer Geraden in sich selbst 
bleibt nach der Annahme der gewöhnlichen parabolischen Geometrie nur 
ein Punkt derselben, der unendlich ferne Punkt, ungeändert. — 

Hiermit ist denn bereits angedeutet, wie nach der Annahme der hyper- 
bolischen bez. der elliptischen Geometrie die Maßbestimmung auf der Ge- 





21) Hierdurch wird die Art der zu benutzenden linearen Transformation be- 
schränkt. In erster Linie muß die lineare Transformation eine reelle sein, welche 
ein reelles erstes Element in ein reelles zweites überführt: ‘Sodann ist auch noch 
erforderlich, daß die Skalenteilelemente in der Reihenfolge ihrer Entstehung auf- 
einander folgen, und nicht etwa das erste und zweite Element durch das dritte und 
vierte getrennt werden. Vgl. den weiteren Text. 


264 Zur Grundlegung der Geometrie. 


raden den speziellen Charakter verliert, den ihr die parabolische Geometrie 
beilegt. Die hyperbolische Geometrie erteilt der Geraden zwei reelle, die 
elliptische zwei imaginäre unendlich ferne Punkte. Sie hat dementsprechend 
eine Verschiebung einer Geraden in sich als eine allgemeine lineare Trans- 
formation aufzufassen, welche zwei getrennte Punkte, die beiden unendlich 
fernen Punkte, ungeändert läßt. Es wird dies im folgenden noch näher 
erörtert werden. 


83. 
Die allgemeine projektivische Maßbestimmung auf den Grundgebilden 
erster Stufe. 


Wir wollen hier zunächst nur den allgemeinen Fall der eben aufge- 
stellten projektivischen Maßbestimmung ins Auge fassen, daß nämlich zwei 
getrennte Elemente bei der die Skala erzeugenden linearen Transformation 
vorhanden sind. Dieselben mögen als die beiden Fundamentalelemente 
bezeichnet werden. In sie verlegen wir die beiden Grundelemente einer 
Koordinatenbestimmung, welche jedes weitere Element durch das Verhältnis 
zweier homogener Veränderlichen x, :x, festlegt. Den Wert dieses Ver- 
hältnisses mögen wir kurz durch z bezeichnen, so daß also z= 0 undz2 = x 
die beiden Fundamentalelemente vorstellt. Alsdann ist die lineare Trans- 
formation, von der wir bei der Konstruktion der Skala ausgehen wollen, 
durch eine Gleichung von der folgenden Form gegeben: 


=412z, 
wo 4 eine die Transformation bestimmende Konstante ist??). — Wenden 


wir nun diese Transformation wiederholt auf ein willkürlich angenommenes 
Element 2=, an, so erhalten wir eine Elementenreihe: 

BA AZ, a Kar 
und diese Elementenreihe ist unsere Skala. Dieselbe geht, wie a priori 
ersichtlich, durch die erzeugende Transformation in sich über. 

Bezeichnen wir nun den Skalenteil als Einheit der Entfernung, so 
wird die Entfernung der Elemente z,, A2,, Re, 12, ... von dem Ele- 
mente z,. bez. gleich 0,1,2,3,.... 

Jetzt werden wir, um auch die Entfernung anderer Elemente von dem 
Elemente z, messen zu können, die Skalenteile unterabteilen, etwa zunächst 





®2) Dieses A darf nach einer oben gemachten Bemerkung nicht ganz beliebig 
sein, weil wir bei der Konstruktion der Skala nur reelle Elemente des Grundgebildes 
ins Auge fassen. Es muß 4 zunächst der Beschränkung genügen, daß durch die 
Transformation 2’=4z reelle Elemente in reelle übergehen (unabhängig davon, ob 
die beiden Fundamentalelemente z=0, z=w reell oder imaginär sind). Sodann 
muß / (vgl. den weiteren Text) bei reellen Fundamentalelementen positiv sein. 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 265 


in n (gleiche) Teile. Man erreicht dies, indem man auf das eine Grenz- 
element eines Skalenteils diejenige lineare Transformation (n —1)mal an- 
wendet, welche nach n-maliger Wiederholung die Transformation 2’ — Az 


ergibt, d. h. also die Transformation: 
1 


2’ = Ar.2. 


Dabei wird man die n-te Wurzel des Näheren so wählen””), daß das 
1 


Element A” z zwischen die Elemente z und iz zu liegen kommt. 

Ist diese Unterabteilung ausgeführt, so kann man nunmehr die Ent- 
fernung aller Elemente von z, angeben, deren Koordinate z sich auf die 
folgende Form bringen läßt: , 

== e- n.2, y 


wo «, ß ganze Zahlen sind. Diese Entfernung wird geradezu gleich dem 
Exponenten «+ 2 : 

Indem man sich nun die Unterteilung der Skala unbegrenzt fortgesetzt 
denkt, ist ersichtlich, daß überhaupt als Entfernung eines Elementes z von 
dem Elemente 2, derjenige Exponent « anzusehen ist, zu welchem A er- 
hoben werden muß, damit A°z, =z ist. Es ist dabei « irgendeine rationale 
oder irrationale Zahl. 


Wir können dies, da offenbar « — log — :logA ist, auch so aussprechen: 
IR 
Die Entfernung eines Elementes z von dem Elemente z, ist gleich 


dem Logarithmus des Quotienten —, dividiert durch die Konstante log 4. 
1 


Das Element z, ist dabei nur zufällig als Anfangselement der Skala 
gewählt, aber nicht weiter ausgezeichnet gewesen; man kann dasselbe durch 
eine lineare Transformation, welche die beiden Fundamentalelemente und also 
die ganze Maßbestimmung nicht ändert, überall hinbringen. Man hat also: 

Die Entfernung zweier beliebiger Elemente z und z’ ist gleich 


log = :log A, 


wie man noch verifizieren mag, indem man die Entfernungen der beiden 





2) Warum gerade. diese Bestimmung, übersieht man am besten an dem Bei- 
spiele der Kreisteilung. Soll bei einem Kreise ein Skalenteil, etwa ein Grad, unter- 
geteilt werden, so ist das zunächst noch eine unbestimmte Aufgabe, weil der gegebene 
Skalenteil nur bis auf Multipla der Periode 2x gegeben ist. Diese Unbestimmtheit 
wird durch die Festsetzung im Texte aufgehoben. — Bei reellen Fundamentalelementen 


genügt es, A” einfach als die positive reelle n-te Wurzel von A zu definieren. Damit 
es aber eine solche gibt, muß / positiv sein, was schon oben angegeben wurde. Bei 
negativem Ä würde man für die Skala eine Elementenreihe erhalten, deren Elemente 
nicht in der Reihenfolge ihrer Entstehung aufeinander folgten. 


266 Zur Grundlegung der Geometrie. 


Elemente z und 2’ von z,, nämlich log: log A und log © : og A. von- 


einander subtrahiert. 


Statt der Konstanten _. wollen wir jetzt kürzer c schreiben**), eine 


Bezeichnung, die im folgenden immer angewendet werden soll. 
Dann ist also die Entfernung zweier beliebiger Elemente z und z’ 


gleich c- log — 
An diesem Ausdrucke für den Maßunterschied zweier Elemente veri- 


fiziert man leicht das Vorhandensein derjenigen Eigenschaften, durch deren 


Forderung wir ihn konstruiert haben. Zunächst findet die Addierbarkeit 
der Maßunterschiede statt: 


c log —n = clog—;.+ clog 


Es ıst ferner die Entfernung eines Elementes von sich selbst gleich Null: 


Endlich bleibt die Entfernung zweier Elemente: 
z 
clog Fr 


ungeändert, wenn man auf z und z’ gleichzeitig eine lineare Transformation 
anwendet, bei der die beiden Fundamentalelemente: 
2z=(, z=w 
ungeändert bleiben, also eine Transformation, welche 2 und 2’ gleichzeitig 
in Multipla ihrer selbst überführt. — 
Der hiermit für die Maßbestimmung gewonnene analytische Ausdruck 


läßt sich einfach geometrisch interpretieren. Der Quotient En hat, wie be- 


kannt, die Bedeutung des Doppelverhältnisses der Elemente z, z’ zu den 
beiden Fundamentalelementen z— 0, 2—= x. | 

Es wird also bei unserer Maßbestimmung die Entfernung zweier 
Elemente des Grundgebildes gleich dem mit einer gewissen Konstanten multi- 
plizierten Logarithmus des von denselben mit den beiden Fundamental- 
elementen gebildeten Doppelverhältnisses. 


Die fragliche Konstante c ist dabei unbestimmt ‘und willkürlich anzu- 
nehmen. 





*4) Entsprechend den Beschränkungen, die der Konstanten Ä aufgelegt waren, 
wird man Beschränkungen für die Konstante c erhalten. Dieselben gehen dahin, 
daß c reell oder rein imaginär sein muß, je nachdem die Fundamentalelemente reell 
oder ımaginär sind. Wählte man c anders, so würde man noch immer den hier ge- 
wonnenen analytischen Ausdruck als Maßunterschied bezeichnen können, aber der 
Maßunterschied zweier konsekutiver reeller Elemente wäre dann imaginär. 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 267 


84. 


Übergang zu komplexen Elementen. 
‚Verallgemeinerung der Koordinatenbestimmung. 


Wir haben bei der Konstruktion der Skala und also bei der Definition 
des Maßunterschiedes zweier Elemente seither nur reelle Elemente des 
Grundgebildes betrachtet. Nun wir aber den analytischen Ausdruck für 
den Maßunterschied zweier Elemente gewonnen haben: 


1 z 
c108 x 


so können wir auch unmittelbar von einem Maßunterschiede zweier kom- 
plexen Elemente des Grundgebildes sprechen. Dabei tritt dann in Allge- 
meinheit eine Erscheinung auf, die wir beim Winkel kennen, und die, wie 
im nächsten Paragraphen weiter erörtert werden soll, bei reellen Elementen 
immer dann in Evidenz tritt, wenn die Fundamentalelemente imaginär 
sind. Es ist dies, daß der Maßunterschied zweier Elemente keine ein- 
deutig bestimmte, vielmehr eine unendlich vielwertige Funktion mit einem 
Periodizitätsmodul ist. 

Dieser Periodizitätsmodul beträgt, da die Funktion Logarithmus die 
Periode 2ri hat, 2cni. 

Da ferner der Logarithmus unendlich groß wird, wenn sein Argu- 
ment 0 oder oo beträgt, so sind offenbar solche Elemente unendlich weit 


voneinander entfernt, für welche = —=() oder = oo wird. Dies tritt dann 


und nur dann ein, wenn eines der beiden Elemente mit einem der beiden 
Fundamentalelemente (2—= 0, 2—= 00) zusammenfällt. Also: 

Bei unserer Maßbestimmung erhält das Grundgebilde zwei (reelle oder 
imaginäre) unendlich ferne Elemente: die beiden Fundamentalelemente. 

Die Entfernung dieser Elemente von einem beliebigen anderen ist in 
derselben Weise unendlich groß, wie log0 oder log. 

Die beiden Fundamentalelemente sind logarithmisch unendlich weit. 

Wir mögen nun auch die beschränkende Annahme fallen lassen, welche 
wir seither hinsichtlich der Koordinatenbestimmung gemacht hatten. Die 
beiden Fundamentalelemente mögen nicht mehr mit den Grundelementen 
der Koordinatenbestimmung zusammenfallen, sondern sollen durch eine 
allgemeine Gleichung zweiten Grades gegeben sein: 


2=az?+2b2-+0=(, 
oder, homogen geschrieben: 

az +2bz,2,+c2?=0. 
Um den Maßunterschied zweier Elemente mit den homogenen Koordinaten 
%,, %, und %,, Y, anzugeben, hat man nur das Doppelverhältnis derselben 


268 Zur Grundlegung der Geometrie. 


zu den beiden Elementen 2 — 0 zu bilden. Dieses letztere wird aber nach 
bekannten Regeln: 





__ Rayt V Rev Re Dyv 
9.2905, 90.085 
wo 9,2 Ryy Rz, die folgenden Ausdrücke bedeuten. Es ist Q,,, Q,, 
dasjenige, was aus 0 entsteht, wenn man statt der Variabeln bez. x,, x, 
und %,, %, einsetzt, also: 
Q,.=ax; +2b2,2, +02}, 2, = ayı + 2byıya + cy- 
Sodann bedeutet Q2,, den Ausdruck: 


ER =axry + b(x,Ys + %,Yı) + 0%, Y. 
Bei Anwendung dieser Bezeichnung wird jetzt der Maßunterschied zweier 
Elemente gleich: 





E) 





2, + Vu 958, 
> 
Dry ge Y93,2 2. Rs 
und dies ist der allgemeine analytische Ausdruck für den Maßunterschied. 


Gelegentlich werden wir statt des Logarıthmus einen Arcus Cosinus 
einführen. Es ist bekanntlich: 





c-log 





: 1 
c loga = 2ic-arc cos Er 
2 Ya 


Also auch unser Maßunterschied: 


xy 











— 27C-arc cos — 
VRax'2yy 

Dies ist diejenige Form des analytischen Ausdrucks, welche bei Cayley 
vorkommt; Cayley hat nur, wie bereits erwähnt, der Konstanten c den 


partikulären Wert a. beigelegt, so daß bei ihm der Maßunterschied ge- 


radezu gleich wird dem betreffenden Arcus Cosinus. 


S 5. 
Besondere Betrachtung der reellen Elemente des Grundgebildes. 


Wir wollen nunmehr betrachten, wie sich die in den vorigen beiden 
Paragraphen entwickelte Maßbestimmung auf den Grundgebilden erster 
Stufe des näheren für die reellen Elemente des Gebildes gestaltet. Dabei 
werden die beiden Fälle zu unterscheiden sein, daß die Fundamentalelemente 
reell oder daß sie imaginär sind. Der bestimmteren Vorstellung wegen 
wollen wir dabei insbesondere die Maßbestimmung auf der geraden Punkt- 
reihe ins Auge fassen; für das Strahlbüschel gelten selbstverständlich die 
nämlichen Dinge. 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 269 


. Es mögen erstens auf der Geraden zwei reelle Fundamentalpunkte o, o’ 
gegeben sein. 

Sind dann x und y reelle Punkte der Geraden, so haben x, y zu o, o’ 
ein negatives oder positives Doppelverhältnis, je nachdem die Strecke xy 
von der Strecke 00’ getrennt wird oder nicht. Im ersten Falle ist also 
der Logarithmus des Doppelverhältnisses rein imaginär, im zweiten (bis 
auf imaginäre Perioden) reell. Stellen wir also die Forderung, daß die 
Entfernung zweier aufeinander folgender Punkte der Geraden reell sei, so 
müssen wir die den Logarithmus multiplizierende Konstante c ebenfalls 
reell nehmen. Dann gilt der Satz: 

Die Entfernung zweier Punkte x, y ist eine imaginäre oder eine reelle 
Größe, je nachdem die Strecke xy von der Sirecke 00’ getrennt wird oder nicht. 

Man könnte natürlich c (wie dies bei Cayley geschieht) einen rein 
imaginären Wert beilegen; dann würden sieh in dem vorstehenden Satze 
die Worte reell und imaginär vertauschen. Von vornherein ist dies gerade 
so zulässig, wie die andere Annahme. Nur würde dadurch die Maßbestim- 
mung einen ganz anderen Charakter für reelle Punkte bekommen, als die 
von uns gewöhnlich angewandte ist. Wollten wir z. B. eine Skala solcher 
Punkte konstruieren, 1,2,3,..., die jedesmal um die Einheit der Ent- 
fernung voneinander abstehen, so würde 2 von 1 und 3 durch 00’ getrennt 
sein und die Entfernung 13 nur insofern gleich zwei Einheiten sein, als 
man von 1 zuerst zu 2, von 2 sodann zu 3 geht, während 13 unmittelbar 
gemessen einen imaginären Wert ergibt usf. Deshalb soll die Annahme 
eines imaginären c hier ausgeschlossen sein. 

Bei reellem c haben wir zunächst den eben angegebenen Satz. Wir 
werden uns dementsprechend auf die Betrachtung der einen der beiden 
Strecken beschränken, in welche die Gerade durch die beiden Fundamental- 
punkte zerlegt wird. Jede dieser beiden Strecken ist unendlich lang, inso- 
fern ihre beiden Grenzpunkte, die Fundamentalpunkte, von allen anderen 
Punkten unendlich fern sind. 

Man stelle sich nun vor, daß man in einem Punkt der Strecke 00’, 
die wir gerade betrachten, gesetzt wäre und daß man sich nicht anders 
auf der Geraden fortbewegen könne, als vermöge solcher linearer Trans- 
formationen, welche die Punkte o, 0’ und also die Maßbestimmung unge- 
ändert lassen. Wir wollen dann auch von einer Geschwindigkeit der Be- 
wegung sprechen, indem wir darunter das Verhältnis des durchlaufenen 
Raumes (gemessen in unserer Maßbestimmung) zu der gebrauchten Zeit 
verstehen. Wenn man sich dann mit konstanter Geschwindigkeit in dem 
einen oder dem anderen Sinne auf der Geraden bewegt, so wird man sich 
dem Punkte o oder o’ beständig nähern, man wird ihn aber, da er un- 
endlich fern ist, nie erreichen. In die zweite Strecke o'o aber, auf der 


270 Zur Grundlegung der Geometrie. 


man sich gerade nicht befindet, wird man nie gelangen, so daß man sich 
von ihrem Vorhandensein nicht wird überzeugen können. 

Dies ist nun gerade diejenige Vorstellung, welche man sich in der 
hyperbolischen Geometrie von dem Messen auf der geraden Linie bildet. 
Die hyperbolische Geometrie erteilt der Geraden zwei unendlich ferne 
Punkte. Ob jenseits der beiden unendlich fernen Punkte noch ein Stück 
der Geraden existiert, welches das im Endlichen gelegene Stück zu einer 
geschlossenen Kurve ergänzt, ist nicht zu sagen, da uns unsere Bewegungen 
nie an die unendlich fernen Punkte hinan, geschweige denn über dieselben 
hinausführen. Jedenfalls wird man aber ein solches Stück als ein gedachtes, 
ideales der geraden Linie hinzufügen können. 

Wir wollen nun zweitens annehmen, die beiden der Maßbestimmung 
auf der Geraden zugrunde zu legenden Fundamentalpunkte seien (konjugiert) 
imaginär. Dann hat das Doppelverhältnis der beiden Fundamentalpunkte 
zu zwei beliebigen reellen Punkten x, y den absoluten Betrag 1, der Loga- 
rıthmus ist daher rein imaginär. Wir müssen also c einen rein imaginären 
Wert c,: erteilen, damit die Entfernung reeller Punkte reell sein kann. Dann 
aber ist zugleich die gegenseitige Entfernung aller reeller Punkte reell. Unend- 
lich ferne reelle Punkte gibt es nicht. Die Linie kehrt wie eine geschlossene 
Kurve in sich zurück. Die reelle Entfernung zweier Punkte ist nicht voll- 
ständig bestimmt, sondern nur bis auf Multipla einer reellen Periode, welche 
die Gesamtlänge der Geraden vorstellt. Dieselbe beträgt Zirc = — 2nc.. 
Die Maßbestimmung auf der Geraden ist dann ganz so, wie die gewöhn- 
liche Maßbestimmung auf einem Kreise mit dem Radius c.. 

Die hiermit geschilderte Maßbestimmung auf der Geraden ist gerade 
diejenige, welche die elliptische Geometrie anzunehmen hat. — 

Was wir jetzt für die gerade Punktreihe ausgeführt haben, können 
wir genau in derselben Weise für das Strahlbüschel aussprechen. 

Sind die beiden der Maßbestimmung im Strahlbüschel zugrunde liegen- 
den Fundamentalstrahlen reell, so hat das Büschel zwei reelle Strahlen, 
welche einen unendlich großen Winkel mit allen übrigen einschließen. Eine 
Rotation eines Strahles im Büschel — entsprechend definiert, wie eben 
die Bewegung eines Punktes auf der Geraden — führt den Strahl nie an 
diese beiden Grenzstrahlen hinan oder gar über dieselben hinaus. Eine 
solche Maßbestimmung liegt unserer gewöhnlichen Winkelbestimmung ge- 
wiß nicht zugrunde. da eine fortgesetzte Rotation eines Strahles um einen 
auf ihm gelegenen Punkt den Strahl nach endlicher Zeit in seine Anfangs- 
lage zurückführt. Vielmehr verlangt diese Tatsache imaginäre Fundamental- 
strahlen. Und in der Tat erkannten wir bereits in $ 2, daß die gewöhnliche 
Winkelbestimmung zwei imaginäre Fundamentalstrahlen benutzt, nämlich 
diejenigen beiden Strahlen des Büschels, welche durch die unendlich fernen 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 271 


imaginären Kreispunkte durchgehen. Bei der hyperbolischen und ellipti- 
schen Geometrie bleibt die Winkelbestimmung im Strahlbüschel ganz die 
gewöhnliche; die beiden Fundamentalstrahlen werden nur nicht mehr als 
diejenigen beiden Strahlen definiert, welche durch die Kreispunkte hindurch- 
gehen, sondern als diejenigen, welche einen bestimmten Kegelschnitt, den in 
diesen Geometrien vorkommenden unendlich fernen Kreis (vgl. $ 8) berühren. 

Die in der allgemeinen Formel des $ 4 unbestimmt bleibende Kon- 
stante c ist, damit dieselbe für die gewöhnliche Winkelbestimmung gilt, 


gleich + a zu setzen. Zunächst muß sie, nach den vorstehend bei der 


geraden Punktreihe ausgeführten Betrachtungen, rein imaginär — + c,% 
sein. Alsdann wird die Summe der Winkel im Strahlbüschel gleich 2zc,, 
und da dieselbe bei der gewöhnlichen Bestimmung gleich x gesetzt wird”), 
so ist c, —! zu nehmen. Unter dieser Annahme ergibt die Formel des 
$ 4 in der Tat die gewöhnlich bei der Winkelbestimmung benutzte Formel. 
Seien x und y rechtwinklige Koordinaten in der Ebene. Der Mittelpunkt 
des Strahlbüschels, welches wir betrachten, soll in den Koordinatenanfangs- 
punkt fallen. So sind die beiden nach den Kreispunkten gehenden Strahlen: 
+ y—=0. 
Mögen sodann zwei Strahlen durch die homogenen Koordinaten x, y und 
x’, y’ festgelegt sein. So wird, nach der Formel des $ 4, indem wir noch 


c =; setzen, ihr Winkel 
= za’ ryy’ 
— art C08 NIE 
und dieses ist ersichtlich die gewöhnliche Winkelbestimmung. 

Der Winkel zweier Geraden ist also im Sinne der projektivischen 
2: 
2 
jenigen Doppelverhältnisses, welches die beiden Geraden mit den von ihrem 
Schnittpunkte nach den beiden unendlich fernen imaginären Kreispunkten 

gehenden Linien bilden. 

Gerade Linien bilden miteinander insbesondere einen rechten Winkel, 
wenn dieses Doppelverhältnis ein harmonisches ist. Die Bezeichnung eines 
solchen Winkels (oder auch einer entsprechenden Strecke) als eines Rechten 
werden wir in der Folge gelegentlich auch bei der allgemeinen Maßbestim- 
mung anwenden. 








Geometrie zu definieren, als der mit multiplizierte Logarithmus des- 





25) Unter der Summe der Winkel im Strahlbüschel ist hier derjenige Winkel 
zu verstehen, den ein sich um einen seiner Punkte drehender Strahl durchlaufen muß, 
um zum ersten Male wieder mit seiner anfänglichen Lage zusammen zu fallen. Es 
ist dies die Hälfte desjenigen Winkels, den ein Punkt auf der Peripherie eines Kreises 
durchlaufen muß, um zur Anfangslage zurück zu gelangen. 


272 Zur Grundlegung der Geometrie. 


S 6. 
Die spezielle Maßbestimmung bei zusammenfallenden Grundelementen. 


Bisher hatten wir den besonderen Fall noch nicht in Betracht ge- 
zogen, der bei dem Zusammenfallen der beiden Fundamentalelemente der 
Maßbestimmung eintritt. Unsere allgemeine Formel 


®. Q 
a0 are 8 — 
x Dur 





ergibt dann, unabhängig von den Werten, die man x und y beilegen mag, 
als Entfernung der beiden Elemente Null. Aber eine Maßbestimmung 
bleibt nach wie vor möglich, da die Art, wie die Entfernungen verschie- 
dener Elemente beim Zusammenfallen der Fundamentalelemente Null werden, 
eine ganz bestimmte ist. Es ist offenbar: 


Rn NER 2 R (X Ya BET Yı%,) A, 


wo A die Diskriminante (ac — b”) der quadratischen Form Q ist. Deshalb 
können wir die allgemeine Formel für die Maßbestimmung auch so schreiben: 


(2, Ya — Yıka) yA 
Ya, 





Dic-arc sın 


Fallen jetzt die beiden Fundamentalelemente zusammen, so wird Q ein 
vollständiges Quadrat eines linearen Ausdruckes 9,2%, + P,%, = p, und A 
verschwindet. Wir können deshalb zunächst den are sin dem Sinus selbst 
gleich setzen, also die Entfernung schreiben: 


YcyAa.Ar_Yı® 


za yy 





9 


Q,, noch bez. p, und p, einführen: 


zz? "yy 
2icVA I Ya — YıFa Es 
(Pı%ı + Pa%;) (PıYı + P2Ye) 
Den verschwindenden Faktor YA vereinigen wir mit dem 2:c, dem wir 


einen beliebig großen Wert beilegen können, zu einer neuen Konstanten k&. 
So erhalten wir denn für den Maßunterschied die Formel”): 


oder, wenn wir für Q 





k- X Ya — Yıfa 
(Pı%ı + PaXe) (PıYı + PaYe) 
wo p?=( das doppeltzählende Fundamentalelement vorstellt. 
Daß dieser Ausdruck, den wir durch einen Grenzübergang gefunden 
haben, in der Tat den Forderungen genügt, die wir nach $ 2 an ihn zu 
stellen haben, ist leicht zu verifizieren. 








26, Cayley leitet diese Formel in ganz ähnlicher Weise ab. 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 273 


Wir wollen ihn zu dem Zwecke in der etwas anderen Form schreiben: 


ati _ IıYı tr YeYe 

PıkıtPpta  PıYıt Pate’ 
wo g,, 9, im übrigen beliebige Größen sind, welche die Bedingung be- 
friedigen: na 
An dieser Form tritt zuvörderst die Addierbarkeit der Maßunterschiede 
ohne weiteres in Evidenz. 

Sodann aber auch die Unveränderlichkeit derselben durch diejenigen 
speziellen linearen Transformationen, welche das Fundamentalelement p = 0 
doppeltzählend ungeändert lassen. Diese Transformationen führen p in ein 
Multiplum seiner selbst über; jeden anderen linearen Ausdruck, also auch g, 
in dasselbe Multiplum seiner selbst, vermehrt um ein Vielfaches von p: 


p'=oPp, 
’=ogq+top. 
Der Quotient = ändert sich dabei also um die Konstante o, und der Maß- 


unterschied zweier Elemente, der die Differenz zweier solcher Quotienten 
ist, bleibt völlig ungeändert, w. z. b. w. 
Geometrisch definiert sich die hiermit gefundene Maßbestimmung 


folgendermaßen. Der Quotient m stellt, wie bekannt, das Doppelverhältnis 
des Punktes x und desjenigen Punktes, für welchen z den Wert 1 an- 


nimmt, zu den beiden Punkten p=0, g=0 dar, also zu dem gegebenen 
doppeltzählenden Fundamentalelemente und einem beliebig gewählten hinzu- 
tretenden Elemente. Die Differenz der Werte dieses Doppelverhälinisses, 
gebildet für zwei Elemente, stellt den Maßunterschied der beiden Ele- 
mente dar. 

Diese Maßbestimmung, die sich als ein Grenzfall der allgemeinen ergab, 
soll der letzteren gegenüber. fortan als spezielle Maßbestimmung bezeichnet 
werden. Dieselbe besitzt im Gegensatze zu der allgemeinen besonders die 
folgenden beiden Eigenschaften: 

Sie ist nicht mehr mehrdeutig, sondern eindeutig definiert. 

Sie besitzt nicht zwei logarithmisch unendlich ferne Elemente, sondern 
nur ein algebraisch unendlich weites (das doppeltzählende Fundamental- 
element). 

Unter diese spezielle Maßbestimmung subsumiert sich insbesondere, 
wie bereits in $ 2 angedeutet, die gewöhnliche (euklidische, parabolische) 
Maßbestimmung auf der geraden Linie. Deshalb hat die Gerade bei der 
gewöhnlichen Anschauung auch nur einen unendlich fernen Punkt. Diesem 


Punkte kann man sich auf der einen oder der anderen Seite unausgesetzt 
Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 18 


274 Zur Grundlegung der Geometrie, 


nähern, ohne ihn allerdings zu erreichen. Die gerade Linie ist bei der 
parabolischen Geometrie, im Gegensatze zu der elliptischen, unendlich lang. 
Aber ein ideales Stück, wie bei der hyperbolischen Geometrie, besitzt sie 
nicht mehr; sie hängt im Unendlichen zusammen. 


87. 


Spezielle Maßbestimmung, welche eine allgemeine in einem Elemente 
berührt. Krümmung der letzteren. 


Wir wollen uns jetzt auf einem Grundgebilde erster Stufe zwei Maß- 
bestimmungen denken, eine allgemeine und eine spezielle. Dieselben sollen 
in einer besonderen gegenseitigen Beziehung stehen, die als Berührung der 
beiden Maßbestimmungen in einem Elemente bezeichnet werden wird. 
Welcher Art diese Beziehung ist, wird man am besten an einem Beispiele 
erkennen. | 

Auf einer geraden Linie sei eine gewöhnliche Maßbestimmung gegeben, 
die den unendlich fernen Punkt der Geraden als Doppelelement benutzt. 
Die Punkte der Geraden seien durch eine nicht homogene Koordinate z 
vorgestellt, wo 2 geradezu den Abstand vom Koordinatenanfangspunkte be- 
deuten mag. Ä 

Sodann konstruiere man auf der Geraden in der folgenden Weise eine 
allgemeine Maßbestimmung. In dem Abstande 1 von der gegebenen Ge- 
raden und auf der im Koordinatenanfangspunkte errichteten Senkrechten 
sei der Mittelpunkt eines Strahlbüschels gelegen. Für dieses Strahlbüschel 
sei wiederum die gewöhnliche Maßbestimmung, d. h. jetzt die für das Strahl- 
büschel gewöhnliche Winkelbestimmung, gegeben. Diese Maßbestimmung 
kann man auf die gegebene Gerade übertragen, indem man als Maßunter- 
schied zweier Punkte der Geraden den Winkel definiert, den die durch sie 
hindurchgehenden Strahlen des Büschels bilden. Sei 2 die Koordinate 
eines der Punkte, so ist der Winkel, den der hindurchgehende Strahl des 
Büschels mit dem durch den Koordinatenanfangspunkt gehenden bildet, 
gleich are tang z; überhaupt wird also bei dieser Maßbestimmung der Maß- 
unterschied zweier Elemente z und z’: 

— arc tang 2 — arc tang 2’. 
Die Fundamentalelemente dieser Maßbestimmung sind imaginär und des 
näheren bestimmt durch 2= +. 

Zwischen der angenommenen speziellen Maßbestimmung und der jetzt 
hinzutretenden allgemeinen besteht nun die Beziehung, daß sie für Werte 
von 2, die sehr wenig von z—= () abweichen, nahezu übereinstimmen, da 
ja für sehr kleine Winkel der Unterschied zwischen Winkel und trigono- 
metrischer Tangente verschwindet. 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 275 


Am deutlichsten tritt dies hervor, wenn wir für den arc tang z seine 
3 5 
Reihenentwicklung setzen: —=2 — = + r — —+.... Beide Maßbestim- 


mungen sind also in der Nähe von z=0 bis auf Größen dritter Ord- 
nung identisch. Diese Beziehung der beiden Maßbestimmungen ist es, 
welche als Berührung derselben bezeichnet sein soll. 


Wenn sich, wie im vorstehenden, eine allgemeine und eine spezielle 
Maßbestimmung berühren, so ist augenscheinlich der Berührungspunkt der 
vierte harmonische Punkt zu den beiden Fundamentalpunkten der allge- 
memen und dem doppeltzählenden Fundamentalpunkte der speziellen Maß- 
bestimmung. Will man also, wenn auf einem Grundgebilde eine allgemeine 
Maßbestimmung gegeben ist, eine spezielle Maßbestimmung konstruieren, 
welche die gegebene in einem bestimmten Elemente berührt, so suche man 
zuerst zu diesem und zu den beiden Fundamentalelementen der allgemeinen 
Maßbestimmung das vierte harmonische. Dieses ist als Doppelelement der ge- 
suchten Maßbestimmung zu benutzen. Es sind dann nur noch die absoluten 
Werte der in der letzteren vorkommenden Konstanten so zu bestimmen, 
daß in der Nähe des gegebenen. Elementes zwischen beiden Maßbestim- 
mungen Übereinstimmung stattfindet. Diese Übereinstimmung ist dann 
wegen der besonderen Lage des doppeltzählenden Fundamentalelementes 
sofort eine innigere, eine Berührung. 


Nun findet ein charakteristischer Unterschied statt zwischen der allge- 
meinen Maßbestimmung mit imaginären und der allgemeinen Maßbestim- 
mung mit reellen Fundamentalelementen. 

Sind die beiden Fundamentalelemente imaginär, so eilt die in einem 
Punkte berührende spezielle Maßbestimmung der allgemeinen voran. Das 
heißt, für das eben gebrauchte Beispiel, der Abstand eines Punktes z vom 
Nullpunkte, gemessen in der tangierenden speziellen Maßbestimmung, ist 
immer größer als der Abstand derselben beiden Elemente, gemessen in 
der gegebenen allgemeinen Maßbestimmung. Man übersieht dies deutlich, 
wenn man bedenkt, daß die ganze Linie, gemessen in der speziellen Maß- 
bestimmung, eine unendliche Länge hat, während sie in der gegebenen 
allgemeinen Maßbestimmung von endlicher Länge ist. Nur für Punkte, 
die unendlich nahe an dem Berührungspunkte (z = 0) gelegen sind, stimmen 
beide Maßbestimmungen überein. 

Sind dagegen die beiden Fundamentalelemente der gegebenen allge- 
meinen Maßbestimmung reell, so bleibt umgekehrt die in einem Punkte 
berührende spezielle Maßbestimmung hinter der gegebenen zurück. In der 
Tat, die von den beiden Fundamentalelementen begrenzte Strecke ist in 
der gegebenen allgemeinen Maßbestimmung bereits unendlich groß, während 


sie für die berührende Maßbestimmung noch endlich ist. 
18* 


276 Zur Grundlegung der Geometrie. 


Dieses Zurückbleiben resp. Voraneilen der allgemeinen Maßbestimmung, 
gegenüber der speziellen tangierenden, bezeichne ich als die Krümmung 
der allgemeinen Maßbestimmung, zunächst im Berührungselemente. Die 
Krümmung soll positiv heißen, wenn die Fundamentalelemente imaginär, 
negativ, wenn sie reell sind. Als Maß der Krümmung bezeichne ich, 
schlechthin ausgesprochen, die Größe des Zurückbleibens resp. Voraneilens. 
Dieses Krümmungsmaß erhält, wie ich jetzt zeigen will, für alle Elemente 


des Gebildes denselben Wert. Für diesen kann — = genommen werden, 


wo c die charakteristische Konstante der allgemeinen Maßbestimmung ist. 
Die beiden Fundamentalelemente der allgemeinen Maßbestimmung 
mögen, wie oben in dem Beispiele, harmonisch zu 2=0 und zu2—=w 
gelegen sein, und zwar seien sie durch: 
’=a 
bestimmt. Ist dann c, wie immer, die charakteristische Konstante der 
Maßbestimmung, so findet man für den Abstand eines Elementes 2 vom 
Koordinatenanfangselemente: 
2caretg =. 
a 
oder, in eine Reihe entwickelt: 
2ci 2ci 95 2ci _,5 
Me ne a Er 
rg oz Ar E 
Die im Elemente 2= 0 tangierende spezielle Maßbestimmung ist diejenige, 
welche als Entfernung des Elementes z vom Elemente 2= (0) das erste 
Glied der Reihenentwicklung, also den Ausdruck: 





an 

ya 
benutzt. Als Abweichung der allgemeinen Maßbestimmung von der tan- 
gierenden speziellen, oder als Krümmungsmaß der ersteren, kann man dann 
definieren: das negativ genommene zweite Glied der Reihenentwicklung, 
multipliziert mit 3, dividiert durch die dritte Potenz des ersten Gliedes. 


Dies aber ergibt den eben angegebenen Ausdruck — Ta 

Dieser Ausdruck für das Krümmungsmaß hat auch das oben fest- 
gesetzte Vorzeichen. Bei reellen Fundamentalelementen muß man ($4) c 
ein positives Vorzeichen erteilen, das Krümmungsmaß wird also negativ; 
bei imaginären Fundamentalelementen dagegen ist c rein imaginär zu 
nehmen, somit das Krümmungsmaß positiv. Das Krümmungsmaß einer 
speziellen Maßbestimmung wird Null. Denn wir mußten im vorigen Para- 
graphen, um durch einen Grenzübergang zu der speziellen Maßbestimmung 
zu gelangen, € einen unendlich großen Wert erteilen. 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 277 


Endlich ist auch die Krümmung in allen Elementen unseres Grund- 
gebildes dieselbe, insofern c für alle Elemente dieselbe Bedeutung hat. 

Das hiermit aufgestellte Krümmungsmaß einer allgemeinen Maßbestim- 
mung kann noch in der folgenden Weise definiert werden. 

In $ 5 wurde gezeigt, daß die Länge der ganzen Linie bei imaginären 
Fundamentalelementen und der Konstanten c,i gleich 2c,rn wird. Der mit 
r” multiplizierte reziproke Wert des Quadrats dieses Ausdruckes ist aber 
das Krümmungsmaß. Das Krümmungsmaß ist gleich der mit x multi- 
rlizierten Fläche eines gewöhnlichen Kreises, der einen Radius gleich dem 
reziproken Werte der scheinbaren Länge der ganzen Geraden hat. 

Bei reellen Fundamentalelementen kann man folgende Betrachtung 
machen. Der gegenseitige Abstand der beiden Fundamentalelemente 
z2—= + Va, gemessen in der tangierenden speziellen Maßbestimmung, ist 
gleich 4c. Das Krümmungsmaß wird also gleich dem mit — 4 multi- 
plizierten reziproken Quadrate des in der tangierenden speziellen Maß- 
bestimmung gemessenen Abstandes der beiden Fundamentalelemente. 

Zum Schlusse sei noch bemerkt, daß die dreierlei Maßbestimmungen, 
welche die elliptische, die hyperbolische und die parabolische Geometrie 
auf der geraden Linie annehmen, zueinander in dem Verhältnisse der Be- 
rührung stehen. Die Berührung findet jedesmal in demjenigen Punkte statt, 
den wir gerade ins Auge fassen, von dem aus wir im Sinne der hyper- 
bolischen oder der elliptischen oder der parabolischen Geometrie messen. 
Die Maßbestimmung der parabolischen Geometrie ist die spezielle Maß- 
bestimmung, welche die allgemeine Maßbestimmung der elliptischen bez. 
der hyperbolischen Geometrie tangiert. Sie kann deswegen die letzteren 
für alle Punkte ersetzen, welche von dem Punkte, den wir gerade be- 
trachten, wenig entfernt sind. 


88. 
Die allgemeine projektivische Maßbestimmung in der Ebene. 


Nachdem nunmehr die projektivische Maßbestimmung auf den Grund- 
gebilden erster Stufe auseinandergesetzt worden ist, können wir, fast un- 
mittelbar, zu den projektivischen Maßbestimmungen auf den Grundgebilden 
zweiter und sodann beliebiger Dimension übergehen. Wir finden sodann 
eine allgemeinere Maßbestimmung, welche die von uns bei diesen Grund- 
gebilden gewöhnlich in Anwendung gebrachten Maßbestimmungen, anderer- 
seits aber auch die Maßbestimmungen, welche die elliptische und die 
hyperbolische Geometrie für die betreffenden Gebilde aufstellt, als spezielle 
Fälle umfaßt. Es soll dieselbe hier zunächst für die Ebene auseinander- 
gesetzt werden. Für den Punkt (als Strahlen- und Ebenenbündel im 


278 Zur Grundlegung der Geometrie. 


Raume) gestaltet sich dieselbe ganz in gleicher Weise, wie in $ 10 noch 
näher erörtert werden soll. 

So wie man bei der projektivischen Maßbestimmung auf den Grund- 
gebilden erster Stufe zwei Elemente derselben als Fundamentalelemente 
benutzt, so legt man der projektivischen Maßbestimmung in der Ebene 
einen Kegelschnitt zugrunde, welcher der fundamentale Kegelschnitt heißen 
soll (bei Cayley „the absolute“). An diesen fundamentalen Kegelschnitt 
knüpft sich zunächst die Maßbestimmung auf allen Grundgebilden erster 
Stufe, welche der Ebene angehören, d.h. die Maßbestimmung auf den Ge- 
raden und in den Strahlbüscheln der Ebene. Jede gerade Linie schneidet 
den fundamentalen Kegelschnitt in zwei (reellen oder imaginären oder zu- 
sammenfallenden) Punkten. Diese sollen die Fundamentalpunkte für die 
auf ihr zu treffende Maßbestimmung sein. Unter den Linien jedes Büschels 
finden sich zwei (reelle oder imaginäre oder zusammenfallende) Tangenten 
des Kegelschnitts. Dieselben sollen als Fundamentalstrahlen für die Maß- 
bestimmung im Strahlbüschel genommen werden. — Sodann wollen wir 
noch eine Festsetzung hinsichtlich der Konstanten c machen, die in An- 
wendung zu bringen sind. Zur Maßbestimmung auf allen geraden Punkt- 
reihen wollen wir dieselbe, übrigens willkürlich gewählte Konstante c be- 
nutzen; ebenso zur Maßbestimmung in allen Strahlbüscheln ein und die- 
selbe, übrigens beliebig angenommene Konstante c’. 

Für die hiermit eingeführte Maßbestimmung wollen wir nunmehr den 
analytischen Ausdruck aufstellen. 

Die Gleichung des Fundamentalkegelschnittes in Punktkoordinaten 
mag sein: 


8-8. 
®. 


x) yy 
diejenigen Ausdrücke bezeichnet, welche entstehen, wenn man in 2 die 


Koordinaten x,, x,, x, eines Punktes (x), resp. die Koordinaten %,, %3, %; 
eines Punktes (y) einsetzt. Endlich bedeute: 


Q 


zy 
das Resultat der Einsetzung der Koordinaten y in die Polare von (x), oder, 
was dasselbe ist, der Koordinaten x in die Polare von (y). Dann ist das 
Doppelverhältnis der beiden Punkte (x) und (%y) zu den beiden Schnittpunkten 
ihrer Verbindungsgeraden mit dem fundamentalen Kegelschnitt durch den 
Quotienten der Wurzeln der folgenden in A quadratischen Gleichung gegeben: 


Q,,H+2AR,, + 20: 
Das Doppelverhältnis ist also gleich: 
Raut VRay- Rra ur 
Day Vu Raehyy 


Sodann seien durch: 











XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 379 
und die Entfernung der beiden Punkte wird: 
a TEE 
Day VREy-RazRyv 








— clog 





oder auch, was dasselbe ist: 


. Pr 
ie Be ——— 


VR,Ryy 

Es sind dies also, bei der hier gebrauchten Bezeichnung, genau dieselben 
Ausdrücke, welche bei den Grundgebilden erster Stufe auftraten. 

Auf ganz gleiche Weise ergibt sich der Winkel zweier Geraden mit 
den Koordinaten ,, %,, 4, und ®,, ®,, ®,, wenn: 

e—0 

die Gleichung des fundamentalen Kegelschnittes in Linienkoordinaten ist, 
durch die folgende Formel. Der Winkel der beiden Geraden ist: 


Put V, di Dun Pr 
Pur V+,- Puu®r» 








—=:C: og 








oder, was dasselbe ist: 
® 


— Yic’arc cos ——_.. 
9,9; 

Es entsteht nun zunächst die Frage: Wo liegen diejenigen Punkte (y), 
welche von einem Punkte (x) gleich weit abstehen? Da die Entfernung zy 
nur von: 





Mo 


VRV2yy’ 
"abhängt, so erhalten wir die Gleichung des geometrischen Ortes für (y), 


indem wir diesen Ausdruck gleich einer Konstanten k, oder, was dasselbe 
ist, wenn wir; 





ymk adyy 

setzen. Dies ist aber ein Kegelschnitt, welcher den fundamentalen Kegel- 
schnitt 2,,— 0 in den beiden Durchschnittspunkten mit Q,,— 0, der 
Polare von (x)in bezug auf den fundamentalen Kegelschnitt, berührt. 

Von dem Punkte (x) stehen alle diejenigen Punkte gleich weit ab, 
die demselben Kegelschnitte angehören, welcher den Fundamentalkegelschnitt 
in den beiden Durchschnitten mit der Polare des Punktes (x) berührt. 

Diese Kegelschnitte also sind es, die wir, gewöhnlichem Sprach- 
gebrauche folgend, bei unserer, Maßbestimmung als Kreise zu bezeichnen 
haben. Der Punkt (x) ist das gemeinsame Zentrum der Kreise. Unter 
dem Radius des Kreises haben wir die ‚Entfernung eines beliebigen seiner 
Punkte (y) vom Mittelpunkte (x), d.h. den Ausdruck: 


Dicarc cos k 
zu verstehen. 


280 Zur Grundlegung der Geometrie. 


Unter diesen um das Zentrum (x) beschriebenen Kreisen findet sich 
insbesondere, k — 0 und also einem Radius gleich nic entsprechend, die 
Polare des Punktes (x). Es findet sich ferner unter ihnen (fürk=1) ein 
Kreis mit dem Radius Null. Derselbe besteht aus dem Paare der von (x) 
an den Fundamentalkegelschnitt gelegten Tangenten. Der Abstand zweier 
auf einer solchen Tangente gelegenen Punkte ist in der Tat immer Null, 
weil sie mit den Durchschnittspunkten ihrer Verbindungslinie mit dem 
Fundamentalkegelschnitt das Doppelverhältnis + 1 bilden. Man müßte 
denn der Konstanten c einen unendlich großen Wert erteilen, was hier 
nicht angeht, da sonst die Entfernung aller nicht auf einer Tangente des 
Kegelschnitts gelegener Punkte unendlich groß würde. Es bleibt natürlich 
unbenommen, zur Maßbestimmung auf den Tangenten des Kegelschnitts 
dem c einen besonderen unendlich großen Wert beizulegen. Diese Maß- 
bestimmung ist dann aber nicht mehr mit der allgemeinen vergleichbar. 
— Es gibt endlich unter den in Rede stehenden konzentrischen Kreisen, 
k— oo entsprechend, einen mit unendlich großem Radius. Dies ist der 
fundamentale Kegelschnitt selbst; wie denn auf jeder durch (x) hindurch- 
gehenden Geraden die beiden Durchschnittspunkte mit dem fundamentalen 
Kegelschnitte die beiden unendlich fernen Punkte sind: Der Fundamental- 
kegelschnitt ist der Ort derjenigen Punkte, welche von einem beliebigen 
Punkte unendlich abstehen. 

Ganz entsprechende Betrachtungen, wie vorstehend für die Punkte 
der Ebene, kann man ohne weiteres für die Geraden derselben anstellen 

Diejenigen @eraden, welche mit einer festen Geraden (uw) den näm- 
lichen Winkel einschließen, umhüllen Kegelschnitte, welche den Funda- 
mentalkegelschnitt in den beiden Durchschnittspunkten mit (u) berühren, 
unter denen sich also insbesondere der Pol von (u) (als Strahlbüschel 
gedacht) befindet. — Diejenigen Geraden, welche durch einen der Durch- 
schnittspunkte des Fundamentalkegelschnitts mit (u) hindurchgehen, schließen 
mit (w) einen Winkel Null ein. — Die Tangenten des fundamentalen 
Kegelschnitts bilden mit (uw) einen unendlich großen Winkel. 

Diejenigen Kegelschnitte also, welche den Fundamentalkegelschnitt 
zweimal berühren, sind gleichzeitig Ort derjenigen Punkte, welche von 
einem festen Punkte, dem Pole der Berührungssehne, gleich weit abstehen, 
und werden umhüllt von denjenigen Geraden, welche eine feste Gerade, 
die Berührungssehne, unter konstantem Winkel schneiden. Man bemerke 
ferner noch dies. Als parallele Linien wird man solche Linien bezeichnen, 
die sich unendlich weit, d. h. auf dem Fundamentalkegelschnitte schneiden. 
Der Winkel zweier paralleler Linien ist gleich Null. Aber es steht nichts 
im Wege, für ein Büschel paralleler Linien, indem man c einen unend- 
lich großen Wert beilegt, eine spezielle Maßbestimmung einzuführen. Auf 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) >81 


die Einführung einer solchen speziellen Maßbestimmung kommt es hinaus, 
wenn wir in der gewöhnlichen, parabolischen Geometrie von einem Ab- 
stande?”) zweier Parallelen reden. 


8 9. 


Über diejenigen linearen Transformationen der Ebene, welche an Stelle 
der Bewegungen treten. 


Ein Kegelschnitt hat die Eigenschaft, durch dreifach unendlich viele 
lineare Transformationen der Ebene in sich überzugehen. Denn es gibt 
achtfach unendlich viele lineare Transformationen in der Ebene und nur 
fünffach unendlich viele Kegelschnitte, so daß jeder Kegelschnitt in jeden 
anderen, und also auch in sich selbst, durch dreifach unendlich viele 
lineare Transformationen übergeführt werden kann. 

Bei einer solchen linearen Transformation der Ebene vertauschen sich 
die Punkte des Kegelschnittes unter sich, gerade so, wie bei einer linearen 
Transformation eines Grundgebildes erster Stufe, dessen Elemente unter- 
einander vertauscht werden. Man wird hieraus schließen, daß bei jeder 
solchen linearen Transformation zwei Punkte des Kegelschnitts ungeändert 
bleiben. In der Tat, man betrachte die beiden Strahlbüschel 0 (p, , P,, ?3; - - -) 
und 0o(p/, P%, P3, ...), welche von einem festen Punkte o des Kegelschnitts 
nach beliebig gegebenen Punkten p,, ?;, ?3, -.. desselben und nach den- 
jenigen Punkten pl, p%, ?g, ... hingehen, die aus letzteren vermöge einer 
linearen Transformation der Ebene, die den Kegelschnitt ungeändert läßt, 
entspringen. Die beiden Büschel sind projektivisch, denn 0 (9, , P,, P3; - - -) 
ist projektivisch mit 0’(p1, P3, P3, -. -), wo o’ den Punkt bezeichnet, in 
welchen o bei der Transformation übergeht. Dieser Punkt o’ ist aber, wie o, 
ein Punkt des gegebenen Kegelschnittes, also ist 0’(P1, P3, P3%, ...) Pro- 
jektivisch zu o(pı, 93, P3, ...), und also letzteres auch zu 0(P,, Pa» Pg> - - -)» 
w.z.b. w. Sind aber die beiden Büschel 0 (p,,?,, P3,...) und o(Pı, Ps, P3,--) 
projektivisch, so haben sie zwei Strahlen or, und or, entsprechend gemein, 
mithin gibt es zwei Punkte z,,r, des Kegelschnittes, welche bei der Trans- 
formation ungeändert bleiben. 

Bleiben aber zwei Punkte des Fundamentalkegelschnitts ungeändert, 
so auch deren Verbindungslinie, die Tangenten in ihnen und deren Durch- 
schnitt, überhaupt also das von der Verbindungslinie und den Tangenten 
gebildete Dreieck. Unter Zugrundelegung dieses Dreiecks als Koordinaten- 
dreieck ist die Gleichung des Kegelschnittes von der Form: 


FR 
u ug —=I0. 





2”) Es ist dabei eine Besonderheit der parabolischenp Geometrie, wenn der Abstand 
zweier Parallelen gleich ist dem Minimalabstande zweier auf ihnen beweglicher Punkte. 


282 Zur Grundlegung der Geometrie. 


Die lineare Transformation, durch welche er in sich selbst übergeht, muß, 
da sie das Dreieck ungeändert läßt, von der Form sein: 


TG Tr 
Als Bedingung dafür, daß durch sie der Kegelschnitt ungeändert bleibt, 
kommt: N 
,,——0, 
und da dies nur eine Bedingung für die drei homogenen « ist, so gibt es 
einfach unendlich viele lineare Transformationen, die. das Dreieck und den 
Kegelschnitt ungeändert lassen. 


Durch diese Transformationen bleibt der Quotient = unabhängig von 
3 


seinem Werte ungeändert. Es gehen also durch die nämlichen Transfor- 
mationen alle Kegelschnitte von der Form: 
in sich über ®®). as 

Hier ist nun eine Unterscheidung zwischen reellen Kegelschnitten mit 
reellen Punkten und solcher ohne reelle Punkte zu machen. °®) 

Im ersteren Falle zerfallen die in Betracht kommenden linearen Trans- 
formationen der Ebene, die den Kegelschnitt in sich überführen, sofern 
sie reell sind, in zwei Scharen. Die Transformationen der ersten Schar 
können durch Wiederholung einer reellen, unendlich kleinen Transfor- 
mation derselben Art erzeugt werden und bilden daher eine Gruppe, die 
der zweiten nicht. 

Sind beispielsweise die beiden festbleibenden auf dem Kegelschnitt be- 
findlichen Punkte x, und r,, so hat man eine Transformation der ersten 





oder zweiten Gruppe, jenachdem a,—Va,c, oder = —Va,«a,. Im 
letzteren Falle wird die Strecke nr, von je zwei entsprechenden Punkten 
des Kegelschnitts getrennt, im ersteren nicht. 

Die Transformationen der ersten Schar, durch die der Fundamental- 
kegelschnitt ungeändert bleibt, sind es nun, welche im vorliegenden Falle 
als Bewegungen der Ebene bezeichnet sein sollen. Dieselben gehen näm- 
lich in den Zyklus der wirklichen Bewegungen der Ebene über, wenn 
wir den Fundamentalkegelschnitt in der Art passend partikularisieren, daß 
die auf ihn gegründete Maßbestimmung in die wirklich angewandte übergeht). 





28) Beiläufig bemerkt, sieht man hieraus: Nicht jede lineare Transformation führt 
einen Kegelschnitt in sich selbst über; steht aber die Transformation zu einem Kegel- 
schnitte in dieser Beziehung, so gleich zu unendlich vielen. 

2?) [Daß diese Unterscheidung hier notwendig ist, hat Herr Study in den Math. 
Ann., Bd. 39 (1891) bemerkt. Dementsprechend ist die Fassung der nächstfolgenden 
Absätze abgeändert worden.) 

30%) Die andere Klasse von Transformationen des Kegelschnittes in sich selbst 
liefert bei diesem Übergange diejenigen Transformationen der Ebene, welche aus 
ebenen Figuren beliebig gelegene, invers kongruente machen. 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 283 


Enthält aber der zugrunde zu legende, durch eine reelle Gleichung 
gegebene Kegelschnitt keine reellen Punkte, so werden sämtliche reelle 
lineare Transformationen, die den Kegelschnitt in sich überführen, als Be- 
wegungen zu bezeichnen sein.®*) 

Bei dieser Definition können wir den eben bewiesenen Satz, daß durch 
jede lineare Transformation, durch die der gegebene Kegelschnitt in sich 
übergeht, unendlich viel Kegelschnitte ungeändert bleiben, so aussprechen. 

Bei einer Bewegung der Ebene geht nicht nur der Fundamental- 
kegelschnitt, sondern jeder Kegelschnitt (jeder Kreis) in sich über, welcher 
ihn in den beiden fest bleibenden Punkten berührt. 

Unter diesen Kegelschnitten findet sich namentlich auch der Punkt 
x2,—=0, x2,= 0, der gemeinsames Zentrum der Kreise ist. Wir wollen 
die Bewegung als eine Rotation der Ebene um dieses Zentrum bezeichnen 

Dann haben wir den Satz: 

Jede Bewegung der Ebene besteht ın einer Rotation um einen Punkt. 
Alle anderen Punkte beschreiben um diesen Punkt als Zentrum herum- 
gelegte Kreise. 

Es braucht kaum hervorgehoben zu werden, daß bei der Bewegung 
die Polare des Rotationszentrums dualistisch dieselbe Rolle spielt wie das 
Zentrum, daß also bei unserer Maßbestimmung Bewegung ein in sich selbst 
dualistischer Begriff ist. Diese Dualität wird erst aufgehoben, wenn wir, 
um zur parabolischen Geometrie zu gelangen, den fundamentalen Kegel- 
schnitt undualistisch partikularisieren. 

Unter den Bewegungen der Ebene gibt es noch einen ausgezeichneten 
Fall, der dann eintritt, wenn das Zentrum der Rotation unendiich weit, 
d. h. auf den Fundamentalkegelschnitt rückt. 

Die Kreise, welche von den einzelnen Punkten der Ebene beschrieben 
werden, sind dann Kegelschnitte, die den fundamentalen Kegelschnitt im 
Zentrum vierpunktig berühren. Diejenige Art der Bewegung, welche dieser 
Annahme entspricht, bezeichnet man als T'’ransiation®?). 

Es ist nun ersichtlich, daß, wenn man Bewegungen der Ebene so de- 
finiert, wie vorstehend geschehen, dann der Satz gilt: 

Bei den Bewegungen der Ebene bleiben die Maßverhältnisse un- 
geändert. 

Denn da bei einer Bewegung der Fundamentalkegelschnitt in sich 
übergeht, so wird bei derselben das Doppelverhältnis zweier Punkte zu den 





»!) [Die Unterscheidung direkter und inverser Kongruenz fällt dabei weg, weil 
die unbegrenzte projektive und also auch die elliptischen Ebene eine einseitige Fläche 
vorstellt. Man vergleiche hierzu die Erörterungen des 2. Bandes dieser Ausgabe.] 

®) Eine durch die Partikularisation des Fundamentalkegelschnitts herbeigeführte 
Besonderheit ist es, wenn bei der parabolischen Geometrie die Translationen ein ge- 
schlossenes System bilden und je zwei Translationen vertauschbar sind. 


284 Zur Grundlegung der Geometrie. 


beiden Schnittpunkten ihrer Verbindungslinie mit dem Fundamentalkegel- 
schnitte erhalten. Also auch der mit einer Konstanten multiplizierte 
Logarithmus des Doppelverhältnisses, d.h. die Entfernung der beiden Punkte. 
Ähnlich ist es mit dem Winkel zweier Geraden. 

Es gilt dies nicht nur für die Bewegungen der Ebene, sondern auch, 
und aus demselben Grunde, bei den Transformationen zweiter Art, die den 
Fundamentalkegelschnitt in sich überführen [sofern ein solcher Unterschied 
besteht]. 

Es gilt ferner etwas Ähnliches bei denjenigen reziproken (dualistischen ) 
Transformationen, die den Fundamentalkegelschnitt in sich überführen, na- 
mentlich für die durch denselben begründete Polarreziprozität. Denn zwei 
Punkten und den Durchschnittspunkten ihrer Verbindungslinie mit dem 
Fundamentalkegelschnitt, die ein gewisses Doppelverhältnis besitzen, ent- 
sprechen bei diesen Transformationen zwei Linien und die beiden von deren 
Durchschnittspunkte an den Fundamentalkegelschnitt gehenden Tangenten, 
welche dasselbe Doppelverhältnis miteinander bilden. Nehmen wir also 
die beiden Konstanten c und c’ ($ 8) der beiden Maßbestimmungen gleich, 
so haben wir den Satz: 

Die Entfernung zweier Punkte ist gleich dem Winkel der ihnen ent- 
sprechenden Geraden, und umgekehrt; 
insbesondere: 

Die Entfernung zweier Punkte ist gleich dem Winkel ihrer Polaren. 

Wir werden hier diese Sätze nicht weiter benutzen, und nur noch im 
folgenden Paragraphen auf den letzten derselben zurückkommen. Unter 
ihn subsumiert sich nämlich der Satz aus der Geometrie der Kugel: daß 
sich die Seiten und Winkel eines sphärischen Dreiecks beim Übergange 
zum Polardreiecke vertauschen°?). 


Ss 10. 


Die allgemeine projektivische Maßbestimmung im Strahlen- 
und Ebenenbündel. 


In ganz ähnlicher Weise, wie in den beiden vorigen Paragraphen eine 
allgemeine projektivische Maßbestimmung für die Ebene aufgestellt wurde, 
wird man eine solche für das andere Grundgebilde zweiter Stufe, den Punkt 
(aufgefaßt als Ebenen- und Strahlenbündel), aufstellen können. Bei der- 
selben wird man statt des fundamentalen Kegelschnittes einen fundamen- 
talen Kegel zweiten Grades benutzen. Als Winkel zweier Geraden, die 
sich im Mittelpunkt des Kegels schneiden, ist der mit einer Konstanten c 
multiplizierte Logarithmus desjenigen Doppelverhältnisses anzusehen, welches 





3) Vgl. Cayley, l.c. 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 285 


die beiden Geraden mit den beiden Erzeugenden des Kegels bilden, die 
mit. ihnen in einer Ebene liegen; als Winkel zweier durch den Mittelpunkt 
gehenden Ebenen der mit einer (anderen) Konstanten c’ multiplizierte 
Logarithmus des Doppelverhältnisses der beiden Ebenen zu denjenigen 
beiden Tangentenebenen des fundamentalen Kegels, welche durch ihren 
Durchschnitt gehen. 

Der analytische Ausdruck dieser Maßbestimmung ist genau derselbe, 
wie derjenige, der oben für die Maßbestimmung in der Ebene aufgestellt 
wurde Man hat nur den Koordinaten (x), (y) bez. (uw), (v) in der 
Ebene die Bedeutung von Strahlen- und Ebenenkoordinaten im Punkte 
zu geben. Auch alle anderen für die Ebene ausgeführten Entwicklungen 
lassen sich ohne weiteres auf den Punkt übertragen, welche Andeutung 
hier genügen soll. 

Es ist nun leicht zu sehen, daß sich die gewöhnliche Maßbestimmung 
im Punkte®®), d.h. die gewöhnliche Art und Weise, Winkel von Geraden 
oder Ebenen, die durch einen Punkt gehen, zu messen, als spezieller Fall 
unter diese allgemeine Maßbestimmung subsumiert. Dieselbe benutzt als 
fundamentalen Kegel zweiten Grades den Kegel, der vom Punkte sich 
nach dem unendlich weit entfernten imaginären Kreise??) erstreckt; sie 


setzt überdies die beiden Konstanten c und c’ gleich Em, 


Denn auf ein rechtwinkliges Koordinatensystem bezogen, ist der Kegel, 
welcher von dem Punkte nach dem unendlich fernen imäginären Kreise 
hingeht, dargestellt durch: 

+ yY’rz=t0, 
oder in Ebenenkoordinaten durch: 

w“"+vV’+w—0. 
Für den Winkel, den zwei gerade Linien mit den Koordinaten (x, y, z), 
(x’,y’,z‘) bez. zwei Ebenen (v,v,w), (w, v’,w’) miteinander bilden, 





%) Man spricht gewöhnlich nicht von der Maßbestimmung im Punkte, sondern 
von der Maßbestimmung auf einer um ihn als Zentrum herumgelegten Kugel (vom 
Radius 1). Im Texte ist die erstere Ausdrucksweise vorzuziehen, da der Punkt das 
einfache Grundgebilde ist, mit dem die projektivische Geometrie operiert. Dabei ist ein 
Unterschied nicht zu übersehen, der auch schon auftritt, wenn man statt von der 
Maßbestimmung im Strahlbüschel von der Maßbestimmung auf dem Kreise spricht. 
Jeder durch den Punkt hindurchgehenden Geraden (jedem Strahle des Büschels) ent- 
sprechen zwei Punkte der Kugel (des Kreises). Dadurch wird für die Maßbestim- 
mung auf der Kugel (dem Kreise) noch ein Unterschied geschaffen, der hier nur un- 
nötigerweise komplizieren würde. 

#) Bei der elliptischen und hyperbolischen Geometrie muß statt dessen gesetzt 
werden: den Tangentenkegel, der sich von dem Punkte nach der unendlich fernen 
Fläche zweiten Grades erstreckt. 


) Dies ist diejenige Annahme der Konstanten, welche Cayley immer in An- 
wendung bringt. 


286 Zur Grundlegung der Geometrie. 

















erhalten wir also nach den Formeln des $8, indem wirnoche= ec’ = = 
setzen, bez.: : 
arc COS ER EIET 
vz?®+y°+ z?. Vera+y’°+ z'’2 
und 
ERTL I uu’+vv’+ww’ 
vu+ v2+w®- Yu’®+v’°+ w’? 
und dies ist die gewöhnliche Winkelbestimmung. — Die Polare einer 


durch den Punkt gehenden Ebene mit Bezug auf den fundamentalen Kegel 
ist deren Senkrechte. Der letzte Satz des vorigen Paragraphen geht also 
jetzt in den Satz über: Der Winkel zweier Ebenen ist gleich dem Winkel 
ihrer Normalen. Auf diesem Satze beruht das in der sphärischen Geo- 
metrie angewandte Prinzip, nach welchem in einem sphärischen Dreiecke 
und seinem Polardreiecke die Maßverhältnisse dualistisch dieselben sind, 
d. h. dieselben sind, wenn man die Seiten mit den Winkeln vertauscht. 


811: 


Die Maßbestimmung in der Ebene bei imaginärem Fundamental- 
kegelschnitte. Die elliptische Geometrie. 


Die gewöhnliche Maßbestimmung im Punkte ist ein Bild dafür, wie. 
sich überhaupt die projektivische Maßbestimmung in Punkt und Ebene 
stellt, wenn der fundamentale Kegel, resp. der fundamentale Kegelschnitt 
imaginär ist. Die einzige bei der gewöhnlichen Maßbestimmung im Punkte 
hiınzutretende Partikularisation ist, daß die beiden Konstanten c und c’ 


v1 


gleich . gesetzt werden. Hätten wir sie allgemeiner gleich ce, V— 1 


und c/ v4 gesetzt, so würden die Maßunterschiede nur um Faktoren 2c,, 
2c/ gewachsen sein: | 
zz’ +yy'+zz’ 
v2e?+y?+2°? } ve’? +y’?+z’°. 
uu’+vv’+ww’ 
Yu®+v?+ uw? 3 Vu? +v’?+w’? ’ 
Ausdrücke, an welche man ohne weiteres dieselben Entwicklungen an- 
knüpfen kann, wie an die ursprünglichen. 

Ist also in der Ebene ein imaginärer Fundamentalkegelschnitt gegeben, 
so ist die Länge jeder reellen Linie endlich, ebenso die Summe der Winkel 
im Strahlbüschel. Behalten wir die Bezeichnung c, und c/ für die durch 
dividierten Konstanten c und c’ bei?”), so ist die Länge der geraden Linie 
gleich 2c,r, die Summe der Winkel im Büschel gleich 2c/x. 








2cC,- arc cos 


und 





2c] » arccos 








3”) cund c’ sind inder Tat rein imaginär zu nehmen, aus demselben Grunde, aus dem 
in $5 die Konstante c bei imaginären Fundamentalelementen imaginär gesetzt wurde. 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 287 


Es gibt weder reelle unendlich ferne Punkte, noch reelle Linien, welche 
mit anderen unendlich große Winkel bilden. Sodann werden sich auch 
alle Relationen zwischen den Winkeln von Linien und von Ebenen, die 
durch einen Punkt gehen, auf die Abstände von Punkten und die Winkel 
von Geraden in der Ebene übertragen, wenn man nur vorher die Abstände 
durch 2c,, die Winkel durch 2c} dividiert. Die ebene Trigonometrie unter 
Zugrundelegung dieser Maßbestimmung wird also sein wie die sphärische 
Trigonometrie, nur mit dem Unterschiede, daß man statt der Seiten der 
Dreiecke und ihrer Winkel die durch 2c, dividierten Seiten in die durch 
2c/ dividierten Winkel in die Formeln einzuführen hat. 

Die hiermit geschilderte Maßbestimmung in der Ebene ist nun gerade 
diejenige, welche die elliptische Geometrie anzunehmen hat. Man wird 
bei ihr noch insbesondere, damit die Winkelsumme im Büschel gleich r 
ist, die Konstante c), wie bei der gewöhnlichen Maßbestimmung im 
Punkte, gleich 4 setzen. Die Winkelsumme im ebenen Dreiecke ist dann, 
wie beim sphärischen Dreiecke, größer als 2x, und wird nur gleich 2 
beim unendlich kleinen Dreiecke usf. 

Man hat hiernach ein Bild für den planimetrischen Teil der elliptischen 
Geometrie, wenn man sich in der Ebene einen imaginären Kegelschnitt 
willkürlich gegeben denkt und auf ihn eine projektivische Maßbestimmung 
gründet. Beispielsweise wähle man für den Kegelschnitt denjenigen, in 
welchem die Ebene von dem Kegel geschnitten wird, der von einem be- 
stimmten Punkte des Raumes nach dem unendlich fernen imaginären Kreise 


hingeht. Sodann setze man c und c’ gleich ve. So ist die Entfernung 


zweier Punkte oder der Winkel zweier Geraden .der Ebene gleich dem 
Winkel, unter welchem die beiden Punkte, bez. die beiden Geraden von 
dem gewählten Punkte aus erscheinen. — Andererseits: ist die uns tat- 
sächlich gegebene Maßgeometrie die elliptische, so bilden di® unendlich 
fernen Punkte der Ebene einen imaginären Kegelschnitt, und die elliptische 
Geometrie fällt mit der auf diesen Kegelschnitt gegründeten projektivischen 
Maßbestimmung zusammen. 


$ 12. 


Die Maßbestimmung in der Ebene bei reellem Fundamental- 
kegelsehnitt. Die hyperbolische Geometrie. 


Wir wollen uns jetzt in der Ebene einen reellen Fundamentalkegel- 
schnitt gegeben denken. Es wird dies zu einer Maßbestimmung führen, 
die für die Punkte innerhalb des Fundamentalkegelschnittes mit den Vor- 
stellungen der hyperbolischen Geometrie übereinkommt. 

Ist der fundamentale Kegelschnitt reell, so zerfallen die reellen Punkte 


288 Zur Grundlegung der Geometrie. 


und Geraden der Ebene, jede für sich, in zwei Klassen. Es gibt Punkte, 
von denen aus sich zwei reelle, und solche, von denen aus sich keine 
reellen Tangenten an den Kegelschnitt legen lassen. Die ersteren bezeichnet 
man als die Punkte außerhalb, die letzteren als die Punkte innerhalb des 
Kegelschnittes. Analog zerfallen die Geraden in zwei Gruppen, in solche, 
welche den Kegelschnitt in zwei reellen, und in solche, welche ihn in zwei 
imaginären Punkten schneiden. 

Des Zusammenhangs mit der hyperbolischen Geometrie wegen wollen 
wir uns auf die Betrachtung der Punkte innerhalb des Kegelschnittes und 
der durch sie hindurchgehenden Geraden beschränken. 

Keins der Strahlbüschel, deren Mittelpunkte in den von uns betrach- 
teten Raum fallen, hat reelle unendlich ferne Elemente. Deswegen soll 
die Konstante c’ rein imaginär, gleich c/ö, genommen werden. Die Winkel- 
summe in einem beliebigen Büschel, dessen Mittelpunkt innerhalb des fun- 
damentalen Kegelschnittes liegt, ist dann 2ci/x. 

Dagegen hat jede Gerade, welche das von uns betrachtete Gebiet 
durchsetzt, zwei reelle (logarithmisch) unendlich ferne Punkte: ihre Durch- 
schnittspunkte mit dem Fundamentalkegelsenitt. Deshalb werden wir der 
Konstanten c einen reellen Wert beilegen. 

Bei dieser Festsetzung der Konstanten c und c’ haben alle Punkte, 
welche innerhalb des Kegelschnittes liegen, einen reellen Abstand; ebenso 
bilden alle Geraden, die sich innerhalb des Kegelschnittes schneiden, mit- 
einander einen reellen Winkel. Aber der Abstand zweier Punkte, die durch 
den Fundamentalkegelschnitt getrennt werden, ist imaginär. Der Fun- 
damentalkegelschnitt ist der Ort der unendlich fernen Punkte. Zwei Ge- 
rade, die durch das Innere des Kegelschnittes verlaufen, aber sich außer- 
halb desselben schneiden, bilden einen imaginären Winkel. Zwischen 
ihnen und den Geraden, die sich innerhalb schneiden, bilden diejenigen den 
Übergang, deren Schnittpunkt auf den fundamentalen Kegelschnitt, also 
unendlich weit fällt, d.h. diejenigen Linien, welche parallel ($ 8) heißen. 
Ihr Winkel ist gleich Null. 

Wir wollen uns jetzt denken, daß wir uns an irgendeiner Stelle im 
Inneren des Fundamentalkegelschnittes befänden und daß wir uns auf der 
Ebene nur vermöge derjenigen linearen Transformationen bewegen könnten, 
die den fundamentalen Kegelschnitt ungeändert lassen (vgl. $5, $9). 
Wir werden uns dann, wie bei unserer gewöhnlichen Maßbestimmung, um 
uns selbst drehen können und nach endlicher Drehung in die Anfangslage 
zurückkommen, wir werden ebenfalls, wie bei der gewöhnlichen Maß- 
bestimmung, auf der geraden Linie nach der einen oder anderen Seite 
unausgesetzt fortschreiten können. Aber wir werden nie den fundamen- 
talen Kegelschnitt erreichen, geschweige denn überschreiten. Wir sind also 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 289 


in das Innere des Kegelschnittes festgebannt; der Kegelschnitt begrenzt 
für uns die Ebene; ob jenseits desselben noch ein Stück der Ebene vor- 
handen ist oder nicht, würden wir nicht sagen können. Ein Beobachter, 
der, mit der gewöhnlichen Maßbestimmung ausgerüstet, uns auf den fun- 
damentalen Kegelschnitt zuschreiten sähe, während wir die Bewegung ge- 
mäß der neuen Maßbestimmung mit konstanter Geschwindigkeit ausführen, 
würde bemerken, wie wir (von einer gewissen Stelle an) zusehends immer 
langsamer vorwärts kämen und die uns gegebene Grenze, den Fundamental- 
kegelschnitt, nie erreichten. 

Die hiermit geschilderte Maßgeometrie entspricht nun durchaus den 
Vorstellungen der hyperbolischen Geometrie, wenn wir noch die einst- 
weilen unbestimmt gebliebene Konstante c/ gleich 4 setzen, damit die 
Winkelsumme im Strahlbüschel gleich rm wird. Betrachten wir, um uns 
davon zu überzeugen, einige der Propositionen der hyperbolischen Geo- 
metrie etwas näher (dieselben sollen in Anführungszeichen aufgeführt werden). 

„Durch einen Punkt der Ebene gibt es zu einer gegebenen Geraden 
zwei Parallele, d. h. Linien, welche die gegebene Gerade in unendlich fernen 
Punkten schneiden,“ Es sind dies die beiden Verbindungslinien des Punktes 
mit den beiden Schnittpunkten der gegebenen Geraden und des Funda- 
mentalkegelschnittes. 

„Die Neigung der beiden Parallelen, die durch einen Punkt zu einer 
Geraden gezogen werden können, nimmt bei zunehmender Entfernung des 
Punktes von der Geraden zu. Rückt der Punkt unendlich weit, so wird 
dieselbe gleich z, d.h. in anderem Sinne gerechnet, die beiden Parallelen 
bilden einen Winkel gleich Null.“ In der Tat, wenn der Punkt auf den 
Fundamentalkegelschnitt rückt, so schließen die beiden Parallelen, wie 
überhaupt zwei Gerade, die sich auf dem Fundamentalkegelschnitt schneiden, 
einen Winkel gleich Null ein. Daher auch der Satz: „Der Winkel zwischen 
einer Geraden und jeder ihrer Parallelen ist gleich Null.“ — Daß auch 
für nicht unendlich ferne Punkte der ‚Winkel des Parallelismus‘“, den die 
hyperbolische Geometrie aufstellt, sich bei unserer projektivischen Maß- 
bestimmung wiederfindet, mag man daraus ersehen, daß, wie gleich gezeigt 
werden soll, überhaupt die trigonometrischen Formeln in beiden Fällen 
übereinstimmen. 

„Die Winkelsumme im Dreiecke ist kleiner als 2x; für ein Dreieck 
mit unendlich fernen Ecken ist die Winkelsumme gleich Null.“ Das letztere 
folgt daraus, daß diese Ecken des Dreiecks notwendig auf dem Funda- 
mentalkegelschnitt liegen, und je zwei Linien, die sich in einem Punkte 
des Fundamentalkegelschnittes schneiden, einen Winkel gleich Null ein- 
schließen. Die allgemeine Gültigkeit des ersteren Satzes, der dadurch 
wahrscheinlich gemacht wird, daß für unendlich große Dreiecke die Winkel- 


Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 19 


290 Zur Grundlegung der Geometrie. 


summe Null, für unendlich kleine gleich 2x ist, folgt aus den noch näher 
anzugebenden trigonometrischen Formeln. 

„Zwei Perpendikel, auf einer Geraden errichtet, schneiden sich nicht.“ 
Bei uns schneiden sie sich allerdings, nämlich in dem Pole der Geraden. 
Aber dieser liegt in dem Raume außerhalb des Kegelschnittes, von dessen 
Existenz wir durch unsere Bewegungen nichts wissen können. Einen solchen 
Raum können wir -uns aber — und das geschieht auch in der hyper- 
bolischen Geometrie — als einen idealen Raum?*) adjungieren, ganz in 
demselben Sinne, wie man in der parabolischen Geometrie den wirklich 
vorhandenen Elementen der Ebene eine (uneigentliche) unendlich ferne 
Gerade hinzufügt. Über die Existenz des idealen Raumstückes wird damit 
gar nichts ausgesagt; wir gebrauchen den Ausdruck nur als einen in sich 
nicht widersprechenden und bequemen Terminus. 

„Ein Kreis mit unendlich großem Radius ist von einer Geraden ver- 
schieden.“ Ein Kreis mit unendlich großem Radius bedeutet bei uns einen 
Kegeischnitt, der den Fundamentalkegelschnitt vierpunktig berührt. Da- 
gegen würde die Gerade, d. h. eine Gerade, die durch das von uns be- 
trachtete Innere des Kegelschnittes geht, ein Kreis sein, dessen Zentrum 
(der Pol der Geraden) in das ideale Gebiet der Ebene fällt, und dessen 
Radius einen imaginären Wert hat. — 

Wir wollen uns noch eine Vorstellung davon machen, wie sich die 
Ebene in sich transformiert, wenn sie um einen unendlich fernen oder einen 
idealen Drehpunkt rotiert ($ 9). Im ersteren Falle beschreiben alle Punkte 
Kegelschnitte, die sich in unendlicher Entfernung berühren. Im zweiten 
Falle beschreiben sie Kegelschnitte, welche den fundamentalen Kegelschnitt 
in zwei reellen Punkten berühren. Unter ihnen befindet sich eine im End- 
lichen gelegene Gerade, die Polare des idealen Drehpunktes. Diese Gerade 
verschiebt sich in sich; aber die übrigen Punkte beschreiben nicht etwa, 
entsprechend den Vorstellungen der parabolischen Geometrie, parallele 
Gerade, sondern (in der Nähe der Geraden flachgestreckte) Kegelschnitte, 
die den Fundamentalkegelschnitt in den beiden Durchschnittspurkten mit 
der ausgezeichneten Geraden berühren. 

Was nun endlich die trigonometrischen Formeln angeht, die bei unserer 
jetzigen Maßbestimmung gelten, so erhält man dieselben unmittelbar durch 
die folgende Überlegung. In $ 11 haben wir gesehen, daß, bei Zugrunde- 
legung eines imaginären Kegelschnittes in der Ebene und bei der Annahme 





/ 
F 2 —1 ... . . : ; 
der Konstanten c=ci, ! —=cli—=!\ 5 für die Ebene eine Trigonometrie 





3») Man vgl. hierzu namentlich die Auseinandersetzungen, welche Herr B attaglini 
gegeben hat: Sulla geometria imaginaria di Lobatchefsky. Giornale di Matematiche. 
Bd. 5 (1867). 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 291 


gilt, deren Formeln sich aus den Formeln der sphärischer Trigonometrie 
ergeben, wenn man statt der Seiten die Seiten, dividiert durch 2c,, einführt. 
Ein Gleiches wird nun auch gelten, wenn ein reeller Kegelschnitt zugrunde 
gelegt wird. Denn die Geltung der Formeln der sphärischen Trigono- 
metrie beruht doch auf analytischen Identitäten, die unabhängig sind von 
der Frage nach der Art des zugrunde gelegten fundamentalen Kegelschnittes. 
Der einzige Unterschied, der nun, gegenüber dem früheren Falle, eintritt, 


. c . TE ; 
ist, dB , = nunmehr imaginär geworden ist. 


Die trigonometrischen Formeln, welche bei unserer jetzigen Maß- 
bestimmung gelten, ergeben sich aus den Formeln der sphärischen Tri- 


gonometrie, wenn man statt der Seiten die Seiten, dividiert durch — . 
einführt. 

Das ist aber dieselbe Regel, nach welcher man in der hyperbolischen 
Geometrie die trigonometrischen Formeln aufstell. Die Konstante c ist 
die in der hyperbolischen Geometrie vorkommende charakteristische Kon- 
stante. Man kann sagen, daß die Planimetrie sich nach der Annahme der 
hyperbolischen Geometrie so gestaltet, wie die Geometrie auf einer Kugel 


. . E . c 
mit dem imaginären Radius —-.. 


Für die Vorstellungen der hyperbolischen Geometrie erhalten wir nach 
dem Vorstehenden sofort ein Bild, wenn wir einen beliebigen reellen Kegel- 
schnitt hinzeichnen und auf ihn eine projektivische Maßbestimmung gründen. 
Umgekehrt: ist die uns tatsächlich gegebene Maßbestimmung von der Art, 
wie sie sich die hyperbolische Geometrie vorstellt, so bilden die unendlich 
fernen Punkte der Ebene einen reellen uns umschließenden Kegelschnitt, 
und ist die hyperbolische Geometrie nichts anderes, als die auf diesen 
Kegelschnitt gegründete projektivische Maßbestimmung. 


$ 13. 
Die spezielle Maßbestimmung in der Ebene. Die parabolische Geometrie. 


Die Maßbestimmung der parabolischen Geometrie ist unter den jetzt 
betrachteten nicht mit enthalten, da sie keinen eigentlichen Kegelschnitt 
als fundamentales Gebilde benutzt. Vielmehr subsumiert sie sich unter 
einen Grenzfall der seither betrachteten allgemeinen Maßbestimmung, der 
dann entsteht, wenn der fundamentale Kegelschnitt sich in ein Punkte- 
paar auflöst. Dieses fundamentale Punktepaar ist bei der parabolischen 
Geometrie imaginär; es sind die beiden unendlich fernen imaginären 
Kreispunkte. 

Ein imaginäres Punktepaar kann, wie hier beiläufig auseinandergesetzt 

19* 


299 ‚Zur Grundlegung der Geometrie. 


werden mag, als Übergang eines reellen Kegelschnittes zu einem imagi- 
nären ängesehen werden, und stellt sich deswegen auch die parabolische 
Geometrie als Übergangsfall zwischen die hyperbolische und die elliptische. 
Sei beispielsweise eine Hyperbel gegeben, deren (imaginäre) Nebenachse 
einen festen Wert hat, während die Hauptachse von einer gegebenen Größe 
an allmählich gegen Null abnimmt und dann imaginär wird. An der 
Grenze Null fallen die beiden Äste der Hyperbel in eine doppeltzählende 
Gerade, die Nebenachse, zusammen. Diese Linie vertritt den Kegelschnitt, 
insofern er durch Punkte erzeugt war. Aber sofern er von Linien um- 
hüllt war, ist er in zwei konjugiert imaginäre Punkte ausgeartet, welche 
im Abstande der konstant gebliebenen Nebenachse auf der doppelt zählenden 
Geraden liegen. Alle Tangenten des Kegelschnittes: sind beim Grenzüber- 
gange imaginär geworden bis auf die eine Gerade, die jetzt den ganzen 
Kegelschnitt repräsentiert und die als Doppeltangente desselben aufzufassen 
ist. Wird sodann auch die Hauptachse imaginär, so enthält der Kegel- 
schnitt überhaupt keine reellen Elemente mehr. 

Doch wir wollen zunächst allgemein eine solche Maßbestimmung in 
der Ebene betrachten, die statt eines fundamentalen Kegelschnittes ein 
Punktepaar benutzt. Eine solche Maßbestimmung soll eine spezielle Maß- 
bestimmung heißen, im Gegensatz zu der bis jetzt betrachteten allgemeinen. 
Es versteit sich von selbst, daß man statt der Ausartung des Kegel- 
schnittes in ein Punktepaar auch die Ausartung desselben in ein Linien- 
paar betrachten könnte; wenn wir uns hier auf die erste beschränken und 
ihr einen besonderen Namen geben, so geschieht dies, weil sie es ist, die 
unter sich die parabolische Geometrie begreift. 

Wenn der fundamentale Kegelschnitt in ein Punktepaar ausartet, so 
bleibt die Bestimmung des Winkels ähnlich wie im allgemeinen Falle. 
Jedes Strahlbüschel, dessen Mittelpunkt nicht gerade auf der Verbindungs- 
geraden der beiden Fundamentalpunkte, d. h. auf den fundamentalen 
Kegelschnitt fällt, hat zwei getrennte Fundamentalstrahlen, diejenigen 
beiden, welche durch die Fundamentalpunkte durchgehen. Dagegen wird 
die Bestimmung des Abstandes zweier Punkte jetzt wesentlich anders als 
in dem allgemeinen Falle. Da der Fundamentalkegelschnitt jetzt aus einer 
doppeltzählenden Geraden besteht, so schneiden ihn alle Geraden in zu- 
sammenfallenden Punktepaaren. Die auf ihnen zu messende Distanz wird 
also, solange die Konstante c nicht einen unendlichen Wert bekommt, 
Null. Wir müssen, damit die Distanz endlich werde, c einen unendlich 
großen Wert erteilen. Dann wird die Distanz gleichzeitig eine algebraische 
Funktion der Koordinaten. Aber die Vergleichbarkeit von Strecken und 
Winkeln, die bisher bestanden hatte, fällt fort; richtiger ausgesprochen: 
die Strecken sind nur noch unendlich kleinen Winkeln vergleichbar. Auch 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 293 


wenn wir c einen unendlich großen Wert erteilen, bleibt die Entfernung 
solcher Punkte, deren Verbindungsgerade durch einen Fundamentalpunkt 
durchgeht, gleich Null. Denn diese Linien entsprechen den Tangenten des 
früheren Kegelschnittes. Einen Winkel gleich Null bilden solche Geraden, 
welche sich in einem Punkte der Verbindungsgeraden der beiden Funda- 
mentalpunkte schneiden. 

Als Kreise wird man diejenigen Kegelschnitte bezeichnen, welche durch 
die Fundamentalpunkte gehen; konzentrische Kreise sind solche, die sich 
in den beiden Fundamentalpunkten berühren. Unter jedem Systeme kon- 
zentrischer Kreise findet sich einer mit dem Radius oo. Er ist in die 
doppeltzählende Verbindungsgerade der beiden Fundamentalpunkte aus- 
geartet. Die unendlich fernen Punkte bilden also jetzt eine doppelt- 
zählende Gerade. Die Kreise haben nicht mehr, wie früher, eine sich 
selbst dualistische Bedeutung. Diejenigen Linien, welche eine gegebene 
Linie unter konstantem Winkel schneiden, umhüllen nicht mehr einen 
eigentlichen Kreis, sondern einen unendlich fern liegender? Punkt. Die 
Kreise mit unendlich fernem Zentrum, welche den Fundamentalkegelschnitt 
im Zentrum vierpunktig berührten, sind jetzt in die unendlich ferne Ge- 
rade und. eine weitere Gerade zerfallen usf. Alles das sind Dinge, die 
sich aus dem früher Aufgestellten durch Grenzübergang ohne weiteres 
ergeben. 

So wie wir nun unter Zugrundelegung eines Kegelschnittes eine drei- 
fach unendliche Schar linearer Transformationen der Ebene als Bewegungen 
bezeichnen konnten, so auch hier. Nur genügt es nicht mehr, die Be- 
wegungen als diejenigen linearen Transformationen (oder vielmehr als die 
eine Klasse derselben) zu definieren, welche das fundamentale Gebilde 
ungeändert lassen. Denn ein Punktepaar geht nicht nur durch dreifach 
unendlich viele, sondern durch vierfach unendlich viele lineare Transfor- 
mationen der Ebene in sich über. Unter ihnen aber sind dreifach un- 
endlich viele dadurch ausgezeichnet, daß jede einzelne unter ihnen die 
Kreise eines konzentrischen Büschels ungeändert läßt. Diese selbst zer- 
fallen wieder in zwei dreifach unendliche Scharen. Die eine Schar um- 
faßt die Bewegungen, die andere diejenigen Transformationen der Ebene, 
welche ebene Figuren in invers kongruente überführen. Die beiden Scharen 
sind einfach dadurch zu trennen, daß die Bewegungen jeden einzelnen der 
beiden Fundamentalpunkte ungeändert lassen, während die anderen Trans- 
formationen die beiden Fundamentalpunkte untereinander vertauschen. 
Jede Bewegung der Ebene besteht in einer Rotation um. einen Punkt. 
Wird die Bewegung eine Translation, d. h. rückt das Rotationszentrum 
unendlich weit, so beschreiben alle Punkte der Ebene parallele Gerade, 
d. h. Gerade, welche sich in demselben unendlich fernen Punkte schneiden. 


294 Zur Grundlegung der Geometrie. 


Es existiert jetzt der Begriff der Richtung; parallele Gerade haben gleiche 
Richtung. Die Bewegung hat den sich selbst dualistischen Charakter ver- 
loren, den sie im allgemeinen Falle besessen hatte. — Neben die Ver- 
wandtschaft der Kongruenz, welche durch jede der dreifach unendlich 
vielen Bewegungen, und der inversen Kongruenz, welche die dreifach un- 
endlich vielen Transformationen der zweiten Gruppe entstand, stellt sich 
jetzt, dem vierfach unendlichen Zyklus linearer Transformationen entsprechend, 
welche das Fundamentalgebilde zuläßt, die Verwandtschaft der direkten und 
der inversen Ähnlichkeit. Direkt ist die Ähnlichkeit, wenn beide Funda- 
mentalpunkte ungeändert bleiben, invers, wenn sich die beiden Punkte ver- 
tauschen. Bei der Ähnlichkeit bleiben alle Winkel ungeändert, während 
die Entfernungen in Multipla übergehen. Sei noch bemerkt, daß wir nun- 
mehr durch die Bewegungen zu allen Punkten der Ebene hingelangen 
können, bis auf die Punkte der unendlich fernen Geraden. Ein ideales 
Gebiet, wie im Falle eines reellen Fundamentalkegelschnittes, gibt es nicht 
mehr, oder, wenn man will, es hat sich auf seine deswegen doppeltzählende 
Begrenzung zusammengezogen. 

Die analytische Formel, welche jetzt die Entfernung zweier Punkte 
darstellt — und auf diese wollen wir uns beschränken —, nimmt folgende 
Gestalt an. Sei 9, = P,%, + PX, + P3X%, = 0 die Gleichung der unendlich 
fernen Geraden, sei ferner P,,— 0 die Bedingung unter welcher die Ver- 
bindungslinie von (x) und (y) durch einen der beiden Fundamentalpunkte 
geht. So wird die Entfernung der beiden Punkte 


He 
Da’ Dy 
Die Entfernung zweier Punkte wird also eine algebraische Funktion 
ihrer Koordinaten. 
In der Tat wird man durch Grenzübergang von dem allgemeinen Aus- 


drucke der Entfernung zu dieser Formel geleitet. Der allgemeine Aus- 
druck läßt sich so schreiben: 





2 | 
VE —R2,, 
VRrzRyy 


Zerfällt nun Q = 0 in ein Punktepaar, so wird Q,, — Qzz2y, identisch Null, 
doch in der Art, daß es einen verschwindenden konstanten Faktor (die Dis- 
kriminante von 2) erhält. Sondert man diesen ab, so bleibt von Q,,— Qz22yy 
gerade noch P,, stehen, d. h. der Ausdruck, der, gleich Null gesetzt, die 
Bedingung ausdrückt, daß die Verbindungsgerade von (x) und (y) eine 
Tangente nunmehr des ausgearteten Kegelschnittes sei. Aber wegen des 
verschwindenden Faktors können wir den Arcus Sinus dem Sinus selbst 
gleich setzen, und indem wir sodann den verschwindenden Faktor mit 2tc 


Dicarecsin 








XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 295 


zu einer neuen Konstante C' vereinigen, endlich noch statt Q,,, Q,, bez. 
p? und p} schreiben (da p*—0 die Gleichung des ausgearteten Kegel- 
schnittes in Punktkoordinaten ist), so kommt der vorstehend angegebene 
Ausdruck. 

Aus ihm ergibt sich der in der parabolischen Geometrie gewöhnliche 
Ausdruck der Entfernung zweier Punkte ohne weiteres, wenn man die 
beiden Fundamentalpunkte so bezeichnet, wie man gewöhnlich die beiden 
Kreispunkte darstellt. Die unendlich ferne Gerade hat bei der gewöhn- 
lichen Bezeichnung die Gleichung: Konstante = 0; es ist also p,—p, 
gleich einer Konstanten k. Die Kreispunkte auf ihr stellt man in recht- 
winkligen Koordinaten als ihre Durchschnitte mit dem Linienpaare 


+ yY=0 
dar. Die Bedingung, daß zwei Punkte (x, y) und (x’, y’) so liegen, daß 
ihre Verbindungsgerade durch einen Kreispunkt geht, ist dann: 


(- 2) +y-yN)=0. 
Folglich wird die Entfernung der beiden Punkte 
C ’ ’ 
- 4 Y@-e)+W- N)". 
Werden schließlich statt der x und y solche Multipla derselben gesetzt, daß 


die Entfernung zweier Punkte auf der x-Achse bez. der y-Achse geradezu 
durch die Differenz der betr. Koordinaten vorgestellt ist, so kommt: 


Kae) +)" 

der gewöhnliche Ausdruck für die Entfernung in rechtwinkligen Koordinaten. 

Wir wollen hier nicht weiter erörtern, wie sich die Vorstellungen der 
parabolischen Geometrie mit ihren imaginären Grundpunkten in die vor- 
hergegangenen allgemeinen Betrachtungen einordnen®®). Wir wollen nur 
hervorheben, daß bei imaginären Fundamentalpunkten die trigonometrischen 
Formeln in die betr. Formeln der parabolischen Geometrie übergehen, 
daß also die Winkelsumme im Dreiecke genau gleich 2x wird, während 
sie bei reellem Fundamentalkegelschnitt kleiner, bei imaginärem größer war. 








$ 14. 


Spezielle Maßbestimmung in der Ebene, welche eine allgemeine in einem 
Punkte berührt. Krümmung der letzteren. 


So wie wir in $ 7 eine spezielle Maßbestimmung auf der Geraden 
angeben konnten, welche mit einer gegebenen allgemeinen Maßbestimmung 
in einem Punkte und in dessen Nähe übereinstimmte, welche, wie wir uns 


®) Vgl. Cayley, l.c. 





296 Zur Grundlegung der Geometrie. 


ausdrückten, die gegebene Maßbestimmung in dem Punkte berührte, so 
werden wir auch in der Ebene von einer speziellen Maßbestimmung reden 
können, welche eine allgemeine gegebene in einem Punkte berührt. Die- 
selbe wird ($7) als unendlich ferne Gerade die Polare des gegebenen 
Punktes mit Bezug auf den Fundamentalkegelschnitt der allgemeinen Maß- 
bestimmung benutzen, als Fundamentalpunkte die beiden Berührungspunkte 
der an den Fundamentalkegelschnitt gelegten Tangenten. Dann stimmt 
für beide Maßbestimmungen bei gehöriger Bestimmung der Konstanten die 
Winkelbestimmung 'in dem gegebenen Punkte vollkommen überein, sowie, 
bis auf Größen höherer Ordnung, die Bestimmung des gegenseitigen Ab- 
standes aller von ihm unendlich wenig verschiedenen Punkte. Kreise, 
welche um den gegebenen Berührungspunkt in der allgemeinen Maß- 
bestimmung herumgelegt sind, d. h. also Kegelschnitte, welche den Fun- 
damentalkegelschnitt in den beiden Fundamentalpunkten der tangierenden 
speziellen Maßbestimmung berühren, sind auch Kreise mit Bezug auf 
letztere. Insbesondere wird der Fundamentalkegelschnitt selbst, der für 
die allgemeine Maßbestimmung der Kreis mit unendlich großem Radıus 
ist, für die tangierende spezielle Maßbestimmung ein Kreis sein, aber ein 
Kreis mit endlichem Radius. Für die Größe dieses Radius findet man die 
Konstante 2c. Denn auf jeder durch den gegebenen Berührungspunkt 
hindurchgehenden Geraden bestimmen die gegebene allgemeine und die 
tangierende spezielle Maßbestimmung zwei ebensolche Maßbestimmungen, 
die auch in dem Verhältnisse der Berührung stehen. Die Fundamental- 
punkte der auf der Geraden getroffenen allgemeinen Maßbestimmung sind 
aber die Durchschnitte der Geraden mit dem Fundamentalkegelschnitt. 
Deren Abstand, gemessen in der tangierenden speziellen Maßbestimmung 
($ 7), ist aber gleich 4c; deshalb der gesuchte Radius gleich 2c. 

Wir wolien nun insbesondere diejenigen beiden Fälle der allgemeinen 
Maßbestimmung ins Auge fassen, die in $11 und $ 12 betrachtet wurden 
und die Bilder für die elliptische und hyperbolische Geometrie ergeben, daß 
nämlich entweder der Fundamentalkegelschnitt imaginär ist oder daß er 
reell ist und uns umschließt. | 

Die in einem Punkte berührende spezielle Maßbestimmung hat in 
beiden Fällen imaginäre Fundamentalpunkte, da die Polare des Be- 
rührungspunktes den Fundamentalkegelschnitt nicht in reellen Punkten 
schneiden wird. Aber es findet dabei zwischen den beiden Arten allge- 
meiner Maßbestimmung ein Unterschied statt, analog demjenigen, der in 
87 bei den betreffenden Maßbestimmungen auf der geraden Linie eintrat. 
Ist der Fundamentalkegelschnitt imaginär, so eilt die spezielle Maßbestim- 
mung der allgemeinen.voran, d. h. die Entfernung eines Punktes vom Be- 
rührungspunkte, gemessen in der speziellen Maßbestimmung, ist: immer 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 297 


größer als die Entfernung, gemessen in der gegebenen allgemeinen. Um- 
gekehrt ist es bei reellem Fundamentalkegelschnitt‘®): die spezielle Maß- 
bestimmnng bleibt hinter der allgemeinen zurück. Dieses Voraneilen, 
resp. Zurückbleiben der speziellen Maßbestimmung soll als Krümmung 
der allgemeinen Maßbestimmung bezeichnet werden, und zwar soll die 
Krümmung im ersten Falle eine positive, im zweiten eine negative ge- 
nannt werden. Als Maß der Krümmung soll derselbe Ausdruck betrachtet 
werden, der nach $7 die Krümmung der allgemeinen Maßbestimmung auf 
einer durch den gegebenen Berührungspunkt laufenden Geraden angibt, 


nämlich _ Dieser Ausdruck ist unabhängig von dem Berührungs- 


punkte, den man ursprünglich gewählt hat, und von der Geraden, die man 
durch ihn hindurchgelegt hat. Wir haben also den Satz: 


Das Krümmungsmaß der allgemeinen Maßbestimmung vst in allen 


Punkten dasselbe, nämlich gleich — nn 
Dasselbe ist positiv bei imaginärem Fundamentalkegelschnitt (also 
bei der elliptischen Geometrie), es ist negativ bei reellem Fundamental- 
kegelschnitt (also bei der hyperbolischen Geometrie). 
Für den Übergangsfall, daß der Fundamentalkegelschnitt in ein ima- 
ginäres Punktepaar ausartet (insonderheit für die parabolische Geometrie), 


wird das Krümmungsmaß Null. 


Es soll nun jetzt gezeigt werden, daß die hier aufgestellte Definition 
des Krümmungsmaßes einer ebenen Maßbestimmung mit derjenigen über- 
einstimmt, welche Gauß für das Krümmungsmaß zweifach ausgedehnter 
Mannigfaltigkeiten aufgestellt hat. Es findet nur der Unterschied zwischen 
dem Begriffe des Krümmungsmaßes, wie er hier und wie er bei Gauß 
auftritt, statt, daß bei Gauß das Krümmungsmaß eine bleibende Eigen- 
schaft des betrefienden geometrischen Gebildes ist, während es hier nur 
eine Eigenschaft der in dem gegebenen Gebilde, der Ebene, zufällig ge- 
wählten Maßbestimmung ist. 


Das Gaußsche Krümmungsmaß berechnet sich bekanntlich aus dem 
Ausdrucke für das Quadrat des Bogenelementes: 


ds’—= Edu’+2Fdudv + Gdv?. 


Der betreffende Ausdruck ist hier zunächst aufzustellen. Sei Q = 0, wie 
immer, der Fundamentalkegelschnitt. Q,, habe die frühere Bedeutung. 
Q Raz,a, sollen die Ausdrücke bezeichnen, die aus Q, „und 2, durch 


x,dıx? 





40) Dies gilt natürlich nur für die Punkte innerhalb des Fundamentalkegel- 
schnittes; für die Punkte außerhalb findet sowohl ein Voraneilen als ein Zurück- 
bleiben statt, je nach der Richtung, in der man sich bewegt. 


298 Zur Grundlegung der Geometrie. 


Einführung von Differentialen dx an Stelle der y entstehen. Nun war die 
Entfernung zweier Punkte (x) und (y) | 





2 aryy Ray 


za ®yy 


Setzt man y„=x,+dzx,, so wird dies unter Vernachlässigung von Größen 
höherer Ordnung: 2 
v8, 2 rdz,d x 
Q 2 


E27 


— tcarcsın 











2 
Te 
D 


— dtcarcsin 





oder, indem wir statt des Arcus Sinus des kleinen Argumentes den Sinus 
selbst setzen: 
v8 





F} 
a2 tan.de Rz,dz 


5° 


T% 


— 2ic 





Das Quadrat des Bogenelementes wird also: 
—R, Pa? x,de 
Q: 


x 





Wir wollen diesen Ausdruck durch eine besondere Koordinatenannahme 
auf eine einfachere Form bringen. Da nämlich der Fundamentalkegel- 
schnitt für die berührende spezielle Maßbestimmung ein Kreis ist, da ferner 
in den hier betrachteten Fällen die Fundamentalpunkte der letzteren wie 
bei der gewöhnlichen parabolischen Maßbestimmung imaginär sind, so 
wollen wir die Gleichung des Fundamentalkegelschnittes in der gewöhn- 
lichen Form der Kreisgleichung schreiben: 


2°’ + y? = 4c?. | 
Diese Gleichung bezieht sich auf Koordinaten x, y, die in der tangieren- 
den speziellen Maßbestimmung gemessen werden, denn der Radius des 
Fundamentalkreises, gemessen in der tangierenden speziellen Maßbestimmung, 
ist, wie in der vorstehenden Gleichung angenommen, a 2C. 
Nunmehr wird: 
2. rer rtry—Ac, 9.0. der +tdy?, 9,0. 2dr + ydy. 
Also der Ausdruck für das Quadrat des Bogenelementes: 
ds? — 4... «4e+ydy)’— (et y?— cr) (da’+dy?) 
e («?+y?—4c?)? 
(yde—ı a 4c?(dx’+ ay’) 
(@?+ y?—4er)® 
Führt man jetzt neue Veränderliche ein (Polarkoordinaten der speziellen 
Maßbestimmung), indem man setzt: 





— 4c? 





z=r:0089, y=r-sinp, 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 299 


so wird: 





16c'dr? 4c?r?dy? 
de’ = age Eger 
ein Ausdruck, der in den gewöhnlichen Ausdruck des Bogenelementes in 
Polarkoordinaten übergeht, wenn c unendlich groß wird*'). Vergleicht man 
ihn mit der von Gauß zugrunde gelegten Formel: 


ds®—= Edu?+2Fdudv+ Gdv?, 
so verschwindet F, und E und @ hängen nur von der einen Veränder- 


lichen, etwa von u ab. Unter dieser Voraussetzung ist aber das Gauß- 
sche Krümmungsmaß K: 


2? 0@\° öE öG@G 0°G 
4E’G°.K=E() +0-.%. — 260 


ou?" 





Setzt man hier für E,@ ihre Werte: 





so kommt: 


also derselbe Wert, den wir vorhin aufgestellt hatten. 
Wir können jetzt, Krümmungsmaß im Gaußschen Sinne aufgefaßt, 
den Satz aussprechen: 


Je nachdem wir die elliptische, hyperbolische oder parabolische Geo- 





41) Setzt man r konstant, so kommt: 


euer. 


dern 





Es wird also die Peripherie eines Kreises mit dem Radius r gleich ———— > 
v4c’—r 
Aber dieses r bedeutet nur den Radius des Kreises, gemessen in der im Mittelpunkte 
tangierenden speziellen Maßbestimmung. Den in der allgemeinen Maßbestimmung 
gemessenen Radius o erhält man aus der Formel des Textes, indem man statt ds 
do schreibt, und dp gleich Null setzt, also: 


oder: 





Setzt man dies für r ein, so erhält man die Peripherie des Kreises mit dem Radius o 


gleich: 
ee A 
2ca (e8e € »e), 
eine Formel, welche Gauß in einem Briefe an Schumacher anführt. Die Kon- 


stante k, welche er dort benutzt, entspricht geradezu der hier gebrauchten Kon- 
stante c. 


300 Zur Grundlegung der Geometrie. 


metrie annehmen, ist die Ebene eine Fläche von konstantem positiven, 
von konstantem negativen, oder von verschwindendem Krümmungsmaße. 

Deshalb findet auch (wie in $1 erwähnt), unter Zugrundelegung der 
parabolischen Maßbestimmung, die elliptische Geometrie ihre Interpretation 
auf der Kugel oder den aus derselben durch Deformation entspringenden 
Flächen, die hyperbolische Geometrie auf den Flächen von konstantem 
negativen Krümmungsmaße. 


$ 15. 
Das. gegenseitige Verhältnis der elliptischen, hyperbolischen und para- 
bolischen Geometrie in der Ebene. 


In dem Vorstehenden haben wir gesehen, wie sowohl diejenige Maß- 
bestimmung, welche die parabolische, als diejenige, welche die elliptische 
oder hyperbolische Geometrie in der Ebene voraussetzt, in der allgemeinen 
projektivischen ebenen Maßbestimmung als spezielle Fälle enthalten sind. Die 
parabolische Geometrie benutzt als fundamentalen Kegelschnitt sin imagi- 
näres Punktepaar, die sogenannten unendlich weiten‘?) imaginären Kreis- 
punkte. Der Ort der unendlich fernen Punkte ist eine doppeltzählende 
Gerade. Die elliptische Geometrie bezieht sich auf einen eigentlichen Fun- 
damentalkegelschnitt, der aber imaginär ist. Die hyperbolische Geometrie 
endlich hat gleich der elliptischen einen eigentlichen Fundamentalkegel- 
schnitt, der aber reell ist (und uns umschließt). 

In der Nähe eines Punktes, den wir gerade betrachten, kommen alle 
drei Geometrien, mag nun die tatsächlich vorhandene Maßbestimmung 
parabolisch oder elliptisch oder hyperbolisch sein, miteinander überein. 
Sie berühren sich also in dem betreffenden Punkte; die parabolische Geo- 
metrie gibt die spezielle tangierende Maßbestimmung für die elliptische 
wie für die hyperbolische Geometrie. 

Ist uns also die parabolische Geometrie tatsächlich gegeben, so können 
wir ohne weiteres eine Geometrie konstruieren, die uns ein Bild für die 
Vorstellungen der hyperbolischen Geometrie ist, indem wir eine allgemeine 
Maßbestimmung mit reellem Fundamentalkegelschnitt konstruieren, welche 
die gegebene spezielle in dem Punkte, den wir betrachten, berührt. Wir 
erreichen dies, indem wir um den Punkt, den wir gerade ins Auge fassen, 
einen Kreis mit dem Radius 2c beschreiben und auf ihn eine projektivische 
Maßbestimmung mit der Konstanten c zur Bestimmung der Entfernung 


> 
zweier Punkte und der Konstanten c’ —= en zur Bestimmung des Winkels 





42) Diese Punkte unendlich weit zu nennen, ist eigentlich unberechtigt, da ihre 
Entfernung von einem beliebig im Endlichen gelegenen Punkte nicht unendlich, son- 
dern unbestimmt ist, weil ja alle um einen solchen Punkt herum gelegten Kreise 
dieselben enthalten. 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 301 


zweier Geraden gründen. Diese allgemeine Maßbestimmung schließt sich 
um so genauer an die gegebene parabolische an, je größer c ist; sie fällt 
mit ihr zusammen, wenn c unendlich wird. 

Auf ganz ähnliche Weise konstruieren wir eine Geometrie, die uns 
versinnlicht, wie sich die elliptische Geometrie des näheren gestalten 
würde. Zu dem Zwecke ist nur dem c, welches wir eben benutzten, ein 
rein imaginärer Wert gleich c,i beizulegen. Es kommt dies darauf hinaus, 
daß wir ın der Entfernung 2c, über dem vorgegebenen Berührungspunkte 
einen Punkt festlegen und als Entfernung zweier Punkte der Ebene den mit, 
multiplizierten Winkel betrachten, unter welchem die beiden Punkte von dem 
festen Punkt aus erscheinen. Der Winkel zweier Geraden der Ebene ist 
geradezu gleich dem Winkel zu nehmen, unter dem sie von dem festen 
Punkte aus gesehen werden. Die so entstehende Maßbestimmung schließt 
sich wieder um so genauer an die gegebene parabolische an, je größer c, 
ist, und geht, wenn c, unendlich wird, geradezu in die parabolische über. 

Aber auch, wenn die elliptische oder die hyperbolische Geometrie die 
tatsächlich gegebenen wären, würde man auf diese Weise sich ein Bild 
davon machen können, welche Vorstellungen die parabolische oder bezüg- 
lich die hyperbolische und elliptische Geometrie mit sich führen. 

Es bleibt. uns nur noch übrig, die bis jetzt allein für die Grund- 
gebilde erster und zweiter Stufe auseinander gesetzten Dinge auf den Raum 
zu übertragen, was noch in möglichster Kürze geschehen soll. 


8 16. 
Die projektivische Maßbestimmung im Raume. 


Der allgemeinen projektivischen Maßbestimmung im Raume wird 
man eine beliebig anzunehmende fundamentale Fläche zweiten Grades 
zugrunde legen. 

Um dann die Entfernung zweier Punkte zu bestimmen, verbinde man 
sie durch eine gerade Linie. Dieselbe trifft die fundamentale Fläche in zwei 
neuen Punkten, die mit den beiden gegebenen ein gewisses Doppelverhältnis 
bilden. Der mit einer willkürlichen Konstante c multiplizierte Logarith- 
mus dieses Doppelverhältnisses ist es, der als Entfernung der beiden ge- 
gebenen Punkte zu bezeichnen ist. 

Auf ähnliche Weise bestimmt man den Winkel zweier gegebenen 
Ebenen. Man lege durch die Durchschnittsgerade derselben die beiden 
Tangentialebenen an die Fundamentalfläche. Dieselben bestimmen mit den 
beiden gegebenen ein gewisses Doppelverhältnis. Der Winkel der beiden 
Ebenen ist gleich dem mit einer beliebig gewählten Konstanten c’ multi- 
plizierten Logarithmus dieses Doppelverhältnisses. 


302 Zur Grundlegung der Geometrie. 


Unter den Bewegungen des Raumes wird man einen Zyklus linearer 
Transformationen verstehen, welche die Fundamentalfläche ungeändert lassen. 
Eine Fläche zweiten Grades bleibt durch sechsfach unendlich viele lineare 
Transformationen ungeändert. Aber diese zerfallen in zwei Klassen, von 
denen die eine ein geschlossenes System, die andere kein solches umfaßt 
[ohne daß jetzt Unterscheidungen hinsichtlich der Realität der Flächen- 
punkte zu machen wären]. Die beiden Klassen lassen sich durch das Ver- 
halten der Erzeugenden der Fläche ihren Transformationen gegenüber charak- 
terisieren. Bei den Transformationen erster Klasse — und diese bezeichnen 
wir als Bewegungen‘?) des Raumes — bleiben die Systeme geradliniger 
Erzeugender als solche ungeändert; bei den Transformationen zweiter Klasse 
vertauschen sich dieselben unter sich. Es gibt sechsfach unendlich viele 
Bewegungen; dieselben lassen die Maßverhältnisse ungeändert. 


Unter Kugeln hat man solche Flächen zweiten Grades zu verstehen, 
welche die fundamentale Fläche nach einer ebenen Kurve berühren. Das 
Zentrum der Kugel ist der Pol der Ebene, welche die Berührungskurve 
enthält. Die Fundamentalfläche selbst ist als eine um ein beliebiges 
Zentrum herumgelegte Kugel mit dem Radius © anzusehen usw. 


Achtet man insbesondere auf die reellen Elemente des Raumes, so 
wird man unterscheiden, ob die Fundamentalfläche imaginär oder zeeil ist, 
und im letzteren Falle, ob sie geradlinig ist oder nicht. 


Ist die Fundamentalfläche imaginär, so haben alle geraden Linien eine 
endliche Länge, alle Ebenenbüschel eine endliche Winkelsumme. Unter 
diesen Fall subsumiert sich die Maßbestimmung der elliptischen Geometrie, 


pe ZUR T 
wenn noch die Konstante c’ der Winkelbestimmung gleich un gesetzt 


wird, .damit die Winkelsumme im Ebenenbüschel gleich x ist. 

Den Fall, daß die Fundamentalfläche reell und geradlinig ist, daß 
sie also ein einschaliges Hyperboloid ist, wollen wir hier nicht weiter 
betrachten, weil er zu den dreierlei Geometrien, die wir hier betrachten, 
der elliptischen, hyperbolischen, parabolischen, in keiner Beziehung steht. 

Ist endlich die Fundamentalfläche reell und nicht geradlinig, so werden 
wir für Punkte im Inneren eine Maßbestimmung erhalten, die unter sich 
die Maßbestimmung der m Geometrie begreift, wenn man die 


Konstante c’ wieder gleich =: "— setzt. 





4) Ich habe diese Verhältnisse bereits in einer früheren Arbeit: Über die Me- 
chanik starrer Körper, Math. Annalen, Bd. 4 [s. Abh. XIV dieser Ausgabe] aus- 
einandergesetzt. Hinzufügen muß ich, daß bereits Herr Schering in dem Aufsatze: 
Die Schwerkraft im Gaußschen Raume, Gött. Nachrichten 1870, Nr. 15 die Be- 
wegungen des Raumes im Sinne der hyperbolischen Geometrie betrachtet hat. 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 303 


Die parabolische Geometrie subsumiert sich unter einen speziellen 
Fall der allgemeinen Maßbestimmung, der eintritt, wenn die Fundamental- 
fläche sich in einen Kegelschnitt, insbesondere in einen imaginären Kegel- 
schnitt, partikularisiert. Der fundamentale Kegelschnitt der parabolischen 
Geometrie ist der sogenannte unendlich ferne, imaginäre Kreis. In dem 
undualistischen Charakter der Partikularisation, welche die Fundamental- 
fläche erfahren hat, haben die undualistischen Eigenschaften der parabo- 
lischen Maßbestimmung ihren Grund. 

Man kann nun wieder von Krümmung einer allgemeinen Maßbestim- 
mung usw. reden; doch sollen alle diese Dinge der Kürze wegen hier un- 
erörtert bleiben. 


S 17. 


Die Unabhängigkeit der projektivischen Geometrie von der Parallelen- 
theorie. 


Man könnte gegen das gesamte Vorhergehende einen Einwand machen, der 
bei der seither eingehaltenen Darstellungsweise nicht unbegründet ist, der 
aber sofort weggeräumt werden kann. 

Bei der Begründung der allgemeinen projektivischen Maßbestimmung 
sind wir einmal geometrisch verfahren, indem wir Distanz zweier Punkte 
usw. als Logarithmen gewisser Doppelverhältnisse definierten, sodann ana- 
lytisch, indem wir homogene Koordinaten in Anwendung brachten. Beide 
Dinge: die Doppelverhältnisse und die homogenen Koordinaten, setzen in 
ihrer gewöhnlichen Begründung die parabolische Maßbestimmung voraus, 
wo dann Doppelverhältnisse wie homogene Koordinaten als gewisse Strecken- 
verhältnisse definiert werden. Man würde also, wenn die tatsächlich ge- 
gebene Maßbestimmung nicht parabolisch ist, zunächst von diesen Dingen 
nicht reden können, und alle vorhergehenden Auseinandersetzungen würden 
ihre Geltung verlieren. 

Demgegenüber hat man sich zu überzeugen, daß die projektivische Geo- 
metrie unabhängig von der Frage nach der Art der Maßbestimmung gültig ist. 

Der Beweis dafür kann in der Art geführt werden, daß man die pro- 
jektivische Geometrie einmal unter Zugrundelegung der elliptischen, dann 
unter Zugrundelegung der hyperbolischen Maßgeometrie aufbaut. Es ist 
dies nicht schwer zu leisten, wie man daraus übersehen mag, daß für den 
Punkt, als Strahlen- und Ebenenbündel im Raume, für den doch auch in 
der parabolischen Geometrie eine elliptische Maßbestimmung angewandt 
wird, die projektivische Geometrie ungestört gilt. 

Aber wesentlicher ist es wohl, zu bemerken, daß die projektivische 
Geometrie überhaupt vor Erledigung der Frage nach der Maßbestimmung 
entwickelt werden kann. 


304 Zur Grundlegung der Geometrie. 


Denn um die Geltung der projektivischen Geometrie in einem beliebig 
gegebenen begrenzten Raume zu erweisen, genügt es, in diesem Raume 
Konstruktionen zu machen, die nur sogenannte Lagenbeziehungen betreffen 
und die nicht über den Raum hinausführen. Die Doppelverhältnisse dürfen 
dabei natürlich nicht als Streckenverhältnisse definiert werden, da dies die 
Kenntnis einer Maßbestimmung voraussetzen würde. In v. Staudt’s Bei- 
trägen zur Geometrie der Lage‘*) sind aber die nötigen Materialien ge- 
geben, um ein Doppelverhältnis als eine reine Zahl zu definieren. Von den 
Doppelverhältnissen mögen wir sodann zu den homogenen Punkt- und 
Ebenenkoordinaten aufsteigen, die ja auch nichts anderes sind, als die 
relativen Werte gewisser Doppelverhältnisse, wie dies v. Staudt ebenfalls 
gezeigt*?) und noch neuerdings Herr Fiedler **) wieder aufgenommen hat. — 
Unentschieden bleibt dabei, ob sich zu sämtlichen reellen Werten der Koor- 
dinaten auch entsprechende Raumelemente finden lassen. Ist dies nicht 
der Fall, so steht nichts im Wege, den betreffenden Koordinatenwerten 
entsprechend, zu den wirklichen Raumelementen uneigentliche hinzuzufügen. 
Dies geschieht in der parabolischen Geometrie, wenn wir von der unendlich 
fernen Ebene reden. Unter Zugrundelegung der hyperbolischen Geometrie 
würde man ein ganzes Raumstück zu adjungieren haben. Dagegen würde 
bei der elliptischen Geometrie eine Adjunktion uneigentlicher Elemente 
nicht nötig sein. | 


8 18. 


Ableitung der dreierlei Geometrien: der elliptischen, hyperbolischen und 
parabolischen aus der projektivischen. 


Hat man, wie vorstehend auseinandergesetzt, die projektivische Geo- 
metrie begründet, so wird man die allgemeine Cayleysche Maßbestimmung 
aufstellen können. Dieselbe bleibt durch sechsfach unendlich viele lineare 
Transformationen, die wir als Bewegungen des Raumes bezeichneten, unge- 
ändert, und kann als geradezu durch den Zyklus dieser linearen Trans- 
formationen erzeugt angesehen werden ($$ 2, 3). 

Nunmehr wende man sich der Betrachtung der tatsächlichen Bewe- 
gungen im Raume und der durch sie begründeten Maßbestimmung zu. 
Man übersieht, daß die sechsfach unendlich vielen Bewegungen ebenso viele 
lineare Transformationen sind. Dieselben lassen überdies eine Fläche, die 
Fläche der unendlich fernen Punkte, ungeändert. Es gibt aber, wie sich 
leicht beweisen läßt, keine anderen Flächen, welche durch sechsfach un- 





4) 8 27. Nr. 393. [Vgl. hierzu die Ausführungen in den Vorbemerkungen, S. 241.] 

45) Beiträge. $ 29. Nr. 411. 

46) Vierteljahrsschrift der naturforschenden Gesellschaft in Zürich. XV. 2. (1871). — 
Die darstellende Geometrie von Fiedler, Leipzig 1871. 


XVI. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (1. Aufsatz.) 305 


endlich viele lineare Transformationen in sich übergehen, als die Flächen 
zweiten Grades und ihre Ausartungen. Die unendlich fernen Punkte bilden 
also eine Fläche zweiten Grades, und die Bewegungen des Raumes sub- 
sumieren sich unter die vorgenannten sechsfach unendlichen Zyklen linearer 
Transformationen, welche eine Fläche zweiten Grades ungeändert lassen. 
Deshalb subsumiert sich auch die durch die Bewegungen gegebene (tat- 
sächliche) Maßbestimmung unter die allgemeine projektivische. Während 
letztere sich auf eine beliebig anzunehmende Fläche zweiten Grades be- 
zieht, ist diese Fläche bei ersterer ein für allemal gegeben. 

Die Art dieser der tatsächlichen Maßbestimmung zugrunde liegenden 
Fläche zweiten Grades kann nun noch näher bestimmt werden. Man be- 
achte, daß eine Ebene durch fortgesetzte Drehung um eine beliebig in ihr 
im Endlichen gelegene Achse in die Anfangslage zurückkommt. Es sagt 
dies aus, daß die beiden Tangentialebenen, welche man durch eine im 
Endlichen gelegene Gerade an die Fundamentalfläche legen kann, imaginär 
sind. Denn wären sie reell, so fänden sich in dem betreffenden Ebenen- 
büschel zwei reelle unendlich ferne Ebenen (d. h. Ebenen, welche mit allen 
anderen einen unendlich großen Winkel] bilden) und dann könnte keine in 
einem Sinne fortgesetzte Rotation eine Ebene des Büschels in die An- 
fangslage zurückführen. 

Damit nun diese beiden Ebenen imaginär sind, oder, was dasselbe ist, 
damit der Tangentenkegel der Fundamentalfläche, der von einem beliebigen 
Punkte des (uns durch die Bewegungen zugänglichen) Raumes ausgeht, 
imaginär sei, sind drei und nur drei Fälle denkbar: 

1. Die Fundamentalfläche ist imaginär. Dies ergibt die elliptische 
(reometrie. 

2. Die Fundamentalfläche ist reell, nicht geradlinig und umschließt 
uns. Die Annahme der hyperbolischen Geometrie. 

3. (Übergangsfall.) Die Fundamentalfläche ist in eine imaginäre 
ebene Kurve ausgeartet. Die Voraussetzung der gewöhnlichen parabolischen 
(reometrie. 

So sind wir denn gerade zu den dreierlei Geometrien hingeleitet, 
welche man, wie in $ 1 berichtet, von ganz anderen Betrachtungen aus- 
gehend, aufgestellt hat. 


Düsseldorf, 19. August 1871. 


Klein, Gesammelte math. Abhandlungen, I. 20 


XVII. Über einen Satz aus der Analysis situs. 


[Nachrichten von der Kgl. Gesellschaft der. Wissenschaften zu Göttingen, Nr. 14, 
(5. Juni 1872).] 


In v. Staudts Geometrie der Lage wird die projektivische Geometrie, 
wie bekannt, durch bloße Betrachtung des Ineinanderliegens von Ebene, 
Gerade und Punkt aufgebaut. Von Maßbestimmung ist dabei zunächst 
keine Rede; es wird aber das Parallelenaxiom vorausgesetzt, weil sonst 
z. B. zwischen einer geraden Punktreihe und einem Ebenenbüschel kein 
vollständiges Entsprechen stattzufinden brauchte, vielmehr ein ganzer Teil 
der Ebenen des Büschels von der geraden Punktreihe möglicherweise nicht 
getroffen wurde. Nun hat sich aber gezeigt, daß die Ebenen und Geraden 
der Nicht-Euklidischen Geometrie, in welcher das Parallelenaxiom nicht 
zugrunde gelegt ist, trotzdem die projektivischen Beziehungen besitzen. 
Es folgt dies aus den Arbeiten Beltramis!), der nachweist, daß in einem 
Raume von konstantem Krümmungsmaße die kürzesten Linien durch lineare 
Gleichungen dargestellt werden können. Insbesondere habe ich dann gezeigt?), 
daß die Maßbestimmung der Nicht-Euklidischen Geometrie mit der pro- 
jektivischen zusammenfällt, welche man nach Cayleys Vorgange auf eine 
Fläche zweiten Grades gründen kann. Es muß also möglich sein, die pro- 
jektivische Geometrie unabhängig von dem Parallelenaxiome aufzubauen, 
und wenn bei Staudt das letztere vorausgesetzt wird, so kann dasselbe 
der Sache nach keine wesentliche Rolle spielen, wenn auch möglicherweise 
die Form, unter welcher Staudt seine Betrachtungen vorträgt, davon 
abhängen kann. Um sich hierüber Klarheit zu verschaffen, mag man sich 
die Frage vorlegen, ob man nicht den von Staudt eingeschlagenen Gang 
Schritt für Schritt verfolgen kann, wenn man sich das Gesetz. auferlegt, 
mit den nötigen Konstruktionen aus einem gegebenen begrenzten Raume 
nicht hinauszutreten. Es seien also die Ebenen, Geraden und Punkte nach 
ihren gegenseitigen Lageverhältnissen in einem begrenzten Raume gegeben, 





!) Bes. Teoria fundamentale degli spazıi di curvatura costante. Annali di Mate- 
matica. Serie II, Bd. 2, 1868/69, Werke, Bd. 1, S. 406—429. 

2) Diese Nachrichten 1871. Math. Annalen, Bd. 4. „Über die sogenannte Nicht- 
Euklidische Geometrie“. [S. Abh. XVI dieser Ausgabe.) 


XVII. Ein Satz der Analysis situs. 307 


den man der Übersichtlichkeit wegen als einfach zusammenhängend und 
überall konvex begrenzt denken mag; ob außerhalb des Raumes die 
Ebenen und Geraden überhaupt existieren, bleibe unbestimmt, um so mehr 
also, welche Relationen sie zueinander im Unendlichen haben. Wird es 
dann noch möglich sein, im Anschlusse an den von Staudt eingeschla- 
genen Gang die projektivische Geometrie als innerhalb des gegebenen 
Raumes gültig zu erweisen? Diese Frage habe ich in der genannten Mit- 
teilung „Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie“ aufgeworfen 
und bejaht, allerdings ohne näher aut die Begründung der bejahenden 
Antwort einzugehen. Von verschiedenen Seiten her sind Zweifel an der 
Richtigkeit meiner Behauptung geltend gemacht worden. Indem ich des- 
halb neuerdings die Frage wieder aufnahm und eine ausführlichere Dar- 
legung derselben vorbereitete, bemerkte ich, daß bei der Staudtschen 
Betrachtung nicht nur das Parallelenaxiom unwesentlich ist, sondern auch 
die Forderung, daß man mit den wirklichen Ebenen und Geraden zu tun 
habe, daß man vielmehr dieselben Betrachtungen auf jedes System von 
Flächen und Kurven übertragen kann, welches eine ähnliche Anordnung 
wie das System der Ebenen und Geraden besitzt. Mit anderen Worten, man 
kann den folgenden Satz?) aufstellen, den ich als einen Satz der Analysis 
situs bezeichne, insofern die geometrischen Dinge, von denen in ihm gehandelt 
wird, alle bei einer stetigen Verzerrung des Raumes ungeändert bleiben. 

„In einem einfach zusammenhängenden Raume sei eine unendliche 
Schar einfach zusammenhängender, überall stetig gekrümmter, nur durch 
die Begrenzung des Raumes geendigter Flächen gegeben, welche die fol- 
gende Anordnung besitzen: 

1. Durch drei beliebig angenommene Punkte des gegebenen Raumes 
geht eine und nur eine Fläche des Systems; 

2. Zwei Flächen des Systems haben, wenn sie sich treffen, eine nur 
aus einem Zuge bestehende und bis an die Begrenzung des Raumes hinan- 
reichende Durchschnittskurve gemein; 

3. Jede Fläche des Systems, welche zwei Punkte einer solchen Durch- 
schnittskurve enthält, enthält dieselbe ganz.“ 

„Dann kann man im Anschlusse an Staudt‘) für dieses Fla:hen- 





®) Dem Satze sind einige Beschränkungen hinzugefügt hinsichtlich des Zusammen- 
hangs der vorkommenden Gebilde, die möglicherweise entfernt werden können. 

*) Dem Staudtschen Gange stellen sich einige Bedenken entgegen, welche nur 
durch besondere Axiome zu beseitigen zu sein scheinen, wie sie überhaupt immer nötig 
werden, wenn es sich darum handelt, den Raum als eine Zahlenmannigfaltigkeit auf- 
zufassen. Dieselben Bedenken finden sich bei dem geometrischen Beweise des im Text 
genannten Satzes wieder und mögen durch die entsprechenden Forderungen erledigt 
werden, die dann weniger Axiome sind als Bedingungen, welche die Flächensysteme 
charakterisieren, auf die der Satz Anwendung finden soll. 


20 * 


308 Zur Grundlegung der Geometrie. 


und Kurvensystem die Geltung der projektivischen Geometrie erweisen; 
anders ausgedrückt: dann kann man den Punkten des gegebenen Raumes 
in der Weise Koordinaten erteilen, daß die gegebenen Flächen durch 
lineare Gleichungen dargestellt werden.“ 


Daß es Flächensysteme der gemeinten Art überhaupt gibt, zeigt das 
Beispiel der Ebenen. Unbegrenzt viele solcher Flächensysteme erzeugt man, 
indem man sich die Ebenen in einem konvex begrenzten, einfach zusammen- 
hängenden Raumstück konstruiert denkt, und dann das Raumstück einer 
durch stetige Prozesse herbeiführbaren Deformation unterwirft. Und die in 
Rede stehende Behauptung kann geradezu dahin ausgesprochen werden: 
Jedes den Voraussetzungen des Satzes genügende Flächensystem kann auf 
diese Weise aus dem Systeme der Ebenen erzeugt werden. 


Was diesen Satz sehr merkwürdig macht, ist, daß ein analoger Satz, 
den man für die Ebene formulieren möchte, nicht existiert. Ist nämlich 
in einem begrenzten Teile der Ebene ein Kurvensystem von der Eigen- 
schaft gegeben, daß durch je zwei Punkte eine und nur eine Kurve hin- 
durchgeht, so bedarf es noch weiterer Bedingungen, ehe die Kurven durch 
lineare Gleichungen zwischen Punktkoordinaten dargestellt werden können. 
Diesen negativen Satz mag man, sofern ein Beweis überhaupt nötig scheint, 
aus einem Theoreme von Beltrami ableiten. Ein Kurvensystem der ge- 
meinten Art erhält man nämlich z. B., wenn man auf einer einfach zu- 
sammenhängenden begrenzten Fläche [hinreichend geringer Ausdehnung] die 
geodätischen Kurven zieht und dann die Fläche auf einen Teil der Ebene 
beliebig ausbreitet. Aber Beltrami zeigt’), daß nur den Flächen von 
konstantem Krümmungsmaße die Eigenschaft zukommt, sich so auf die 
Ebene übertragen zu lassen, daß sich alle geodätischen Kurven mit geraden 
Linien decken. 

Man darf es daher auch nicht, wie seither wohl geschehen, als einen 
Kunstgriff von Staudts auffassen, wenn er behufs Begründung der pro- 
jektivischen Geometrie auch der Ebene die stereometrischen Verhältnisse 
in Betracht zog; sondern es entspricht dieser Ausgangspunkt dem Wesen 
der Sache: es gilt für die geraden Linien der Ebene, falls man im An- 
schlusse an Staudt die Betrachtung der Maßverhältnisse ausschließt, nur 
deshalb die projektivische Geometrie, weil Ebene und Gerade als Glieder 
eines räumlichen Systems aufgefaßt werden können. — 


War der in Rede stehende Satz dem Bedürfnisse entsprechend, aus 
dem er entsprungen ist, vorstehend in rein geometrischer Form mitgeteilt, 
so ist das als zufällig anzusehen; man kann seinen Inhalt rein analytisch 
formulieren und dann auf Mannigfaltigkeiten von beliebig vielen Dimen- 





5) In den Annali di Matematica. Serie1, Bd.7 (1866), 8.185. Werke, Bd.1, S.262—280. 


XVII. Ein Satz der Analysis situs. 309 


sionen übertragen. Er gilt, solange die Zahl der Dimensionen nicht kleiner 
ist als drei; für zwei Dimensionen gilt er nicht mehr, für eine Dimension 
hat er keinen Inhalt. Weshalb der Satz in dieser Weise an die Zahl der 
Dimensionen geknüpft ist, mag man aus den folgenden Betrachtungen er- 
sehen, die man gleichzeitig als einen analytischen Beweis desselben auf- 
fassen kann. 

Es seien drei Mannigfaltigkeiten bez. von eins, zwei, drei Dimensionen 
gegeben, dieselben mögen, der Anschaulichkeit wegen, durch die Punkte 
eines Kurvenstückes, bez. eines einfach zusammenhängenden Flächen- oder 
Raumstücks vorgestellt sein, die man sich jetzt also irgendwie durch 
Koordinatenwerte bezeichnet zu denken hat. Für die Punkte der Kurve 
existiert, sofern man beliebige [stetige] Änderungen der Kurve in Betracht 
zieht, keine andere /geometrische) Beziehung, als daß konsekutive Punkte 
konsekutive Punkte bleiben. Bei den Punkten der Fläche gibt es bereits 
unendlich viele Fortschreitungsrichtungen zu benachbarten und für diese 
Fortschreitungsrichtungen bestehen dieselben projektivischen Beziehungen 
wie für die Geraden eines ebenen Strahlenbüschels. Das heißt, man kann 
von einem Doppelverhältnis von vier Fortschreitungsrichtungen usw. reden. 
Von den Punkten des Raumes aus endlich gibt es zweifach unendlich viele 
Fortschreitungsrichtungen, für welche dann die nämlichen projektivischen 
Beziehungen gelten, wie für die Geraden eines Strahlenbündels. Insbesondere 
also kann man die Fortschreitungsrichtungen in unendlich viele Büschel 
zusammenfassen und zu drei Elementen eines Büschels das vierte har- 
monische vermöge einer Konstruktion, die der gewöhnlichen Vierseits- 
konstruktion nachgebildet ist, auffinden. 

Auf der gegebenen Fläche sei jetzt ein Kurvensystem Ü' konstruiert, 
von der Art, daß durch je zwei Punkte der Fläche eine und nur eine © 
geht; andererseits in dem gegebenen Raume ein Flächensystem F', welches 
die in dem in Rede stehenden Satze vorausgesetzten Eigenschaften besitzt. 

Auf der gegebenen Fläche geht durch jeden Punkt ein Büschel von 
Kurven C; auf die C eines solchen Büschels überträgt sich die zwischen 
den vom Punkte ausgehenden Fortschreitungsrichtungen bestehende pro- 
jektivische Zuordnung. Man wähle unter den © des Büschels vier ©, die 
ein bestimmtes Doppelverhältnis miteinander bilden, aus, etwa vier har- 
monische C, und schneide sie mit einer nicht dem Büschel angehörigen 
Kurve C’. Zieht man durch diese Schnittpunkte und einen beliebig sonst 
in der Fläche angenommenen Punkt nun wieder vier Kurven C, so ist gar 
kein Grund vorhanden, weshalb dieselben für das zu dem neuen Punkte 
gehörige Büschel harmonisch gelegene Kurven sein sollen. 

Ganz anders aber ist es im Raume mit dem Flächensysteme F. Man 
betrachte zunächst das Flächenbündel, welches durch einen Punkt geht. 


310 Zur Grundlegung der Geometrie. 


Auf dasselbe überträgt sich in dualistischem Sinne die projektivische 
Geometrie, welche für die Fortschreitungsrichtungen vom Punkte aus 
galt, indem jede Fortschreitungsrichtung eine der den Flächen F des 
Bündels gemeinsame Durchschnittskurve bezeichnet. Man schneide jetzt 
das Bündel durch eine ihm nicht angehörige Fläche F’. So erhält man 
in F’ ein Kurvensystem der oben betrachteten Art, welches außerdem 
aber die Eigenschaft besitzt, daß man zu drei Punkten einer Kurve ver- 
möge der Vierseitskonstruktion einen bestimmten vierten sog. harmonischen 
Punkt finden kann. Denn die entsprechende Konstruktion gilt für das ur- 
sprünglich angenommene Bündel F, und die Konstruktion hat die Eigen- 
schaft, sich beim Schnitte zu übertragen. Laut Voraussetzung wird aber 
die Fläche F’ von jedem anderen Bündel von Flächen F in denselben 
Kurven geschnitten. Da sich auch rückwärts von F’ auf ein schneidendes 
Bündel die Vierseitskonstruktion überträgt, so werden also durch F’ vier 
harmonischen Elementen des ursprünglichen Bündels vier harmonische 
Elemente jedes anderen Bündels zugeordnet; mit anderen Worten: durch 
die F' sind alle Bündel von F aufeinander projektivisch bezogen, was 
denn unmittelbar zur Folge hat, daß man die F’, d.h. jede beliebige F, 
durch eine lineare Gleichung darstellen kann. 





[Zunächst eine historische Bemerkung: Daß man die grundlegenden Sätze über 
den harmonischen Schnitt gerader Linien in der Ebene aus den räumlichen Lage- 
beziehungen ohne weiteres ableiten kann, hat nicht erst v. Staudt, sondern bereits 
Desarguesbemerkt; sehr nachdrücklich betont es Moebius in II, 207 seines bary- 
zentrischen Kalkuls (1822). Werke, Bd. 1, S. 252 — 254. 

Im übrigen formuliere ich gern die Bedeutung der in meiner Note gegebenen 
Überlegungen in der Sprache der modernen Axiomatik, etwa dahingehend: daß es bei 
der Grundlegung der projektiven Geometrie (NB. im begrenzten Raumstück) keines- 
wegs auf die transiente Bedeutung der Worte „Ebene“ und ‚, Gerade“ ankommt, son- 
dern nur auf die für diese Elemente geltenden Sätze der Verknüpfung und Anordnung 
(bzw. die Postulate der Stetigkeit). Die Sätze der Anordnung werden bei mir aller- 
dings nicht ausdrücklich ausgesprochen. Dies ist erst von Pasch in seinen Vor- 
lesungen über neuere Geometrie (1882) geschehen. Sein Fortschritt ist ein metho- 
discher. Man hat vorher gemeint, die Aussagen über die Anordnung je von Fall zu 
Fall durch einen Blick auf die gerade vorliegende Figur ersetzen zu können. Pasch 
dagegen entnimmt der Anschauung ein für allemal gewisse Grundsätze der Anordnung 
und ist daraufhin in der Lage, alle weiteren Anordnungsfragen durch bloße Über- 
legungen beantworten zu können. 

Eine längere Kritik würde sodann. daran angeknüpft werden können, daß ich 
die vorkommenden Kurven und Flächen, bzw. Funktionen, dem damaligen naiven 
Denken entsprechend, ohne weiteres als stetig gekrümmt bzw. differentiierbar voraus- 
setze. Daß eine stetige Funktion noch nicht differentiierbar zu sein krauche, ver- 
breitete sich in jenen Jahren wie eine Art Geheimlehre. Ich selbst habe erst 1873, 
als ich von England zurückkam, in dem Aufsatz „Über den allgemeinen Funktions- 
begriff und seine Darstellung durch eine willkürliche Kurve“ dazu Stellung genommen. 

Diese Bemerkungen. sollen zugleich für Teil 2 der folgenden Abhandlung Be- 
deutung haben. K.] 


XVII. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. 


(Zweiter Aufsatz.) 
"Math. Annalen, Bd. 6 (1873).] 





Die nachstehenden Auseinandersetzungen schließen sich an einen früheren 
Aufsatz über denselben Gegenstand (Math. Annalen Bd. 4 [s. Abh. XVI dieser 
Ausgabe]) an und sind bestimmt, einige dort nur angedeutete Punkte weiter 
auszuführen. Es galt mir damals hauptsächlich, in möglichst anschaulicher 
Weise darzulegen, wie Cayleys projektivische Maßbestimmung in Ebene und 
Raum ein äquivalentes Bild für die Lehren der Nicht-Euklidischen Geometrie 
ergibt. Ich durfte hoffen, letztere dadurch einem allgemeinen Verständnisse 
zugänglicher gemacht, gleichzeitig aber auch Ausgangspunkte für weitere 
Untersuchungen gewonnen zu haben. In letzterem Betracht hatte ich nur 
angedeutet, wie die vorgetragenen geometrischen Überlegungen für Mannig- 
faitigkeiten von beliebig vielen Dimensionen zu verwerten seien. Ich hatte 
ferner die Ansicht entwickelt, daß man in ähnlicher Weise, wie v. Staudt, 
die projektivische Geometrie aufbauen könne, auch ohne über das Parallelen- 
axiom etwas festzusetzen. Es sind hauptsächlich diese beiden Punkte, 
welche im folgenden im Sinne des damaligen Aufsatzes, aber in der fort- 
entwickelten Form, die sie inzwischen bei mir gewonnen haben, dargelegt 
werden sollen. Wenn ich dabei oft weiter aushole und gelegentlich viel- 
leicht etwas weitläufig werde, so trieb mich dazu der Wunsch, möglichst 
verständlich zu schreiben und dadurch von vornherein Zweifel an der 
Richtigkeit der Betrachtung zu beseitigen, welche sich bei so abstrakten 
Gegenständen nur zu leicht aufdrängen. Zugleich mögen dann dadurch die 
Bedenken entfernt werden, welche mir von verschiedenen Seiten her hin- 
sichtlich meiner früheren Arbeit geäußert worden sind. 

Die nachstehenden Untersuchungen sind wie die damaligen rein mathe- 
matischen Inhaltes.. Es bleiben ihnen also durchaus die Fragen fern, 
welche Vorteile aus den bezüglichen mathematischen Resultaten für die 
Raumanschauung oder überhaupt die Naturerkenntnis gewonnen werden 
können. Aber es ist vielleicht nicht überflüssig, nach dieser Seite hin den 
Gegenstand hier zu präzisieren, da nur zu vielfach diese mathematischen 


312 Zur Grundlegung der Geometrie. 


Betrachtungen mit eventuellen Anwendungen derselben untermischt und 
verwechselt werden. 

Die Untersuchungen der Nicht-Euklidischen Geometrie haben durch- 
aus nicht den Zweck, über die Gültigkeit des Parallelenaxioms zu ent- 
scheiden, sondern es handelt sich in denselben nur um die Frage: ob das 
Parallelenaxiom eine mathematische Folge der übrigen bei Euklid auf- 
geführten Axiome ist; eine Frage, die durch die fraglichen Untersuchungen 
definitiv mit Nein beantwortet wird. Denn sie haben ergeben, daß man 
ein in sich konsequentes Lehrgebäude auf Grund allein der übrigen Axiome 
aufbauen kann, welches das Lehrgebäude der Euklidischen Geometrie nur 
als einen speziellen Fall umfaßt. 


Ähnliche Untersuchungen könnte man und sollte man mit Bezug auf 
alle anderen Voraussetzungen, die unseren geometrischen Vorstellungen zu- 
grunde liegen, anstellen. Es ist die Nicht-Euklidische Geometrie ein erster 
Schritt in einer Richtung, deren allgemeine Möglichkeit durch Riemanns 
Arbeit!) „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen‘ 
vorgezeichnet ist. Ein ähnlicher Schritt ist es, wenn man das Axiom von 
der unendlichen Länge der Geraden fallen läßt, wie ich dies in meinem 
vorigen Aufsatze im Anschlusse an die Arbeiten von Riemann und 
Helmholtz getan habe. Dann ist außer der Nicht-Euklidischen Geometrie 
im Sinne von Lobatschewsky, Bolyai, oder, wie ich sie nenne, der 
hyperbolischen Geometrie, noch eine zweite Geometrie, die elliptische, mög- 
lich; zwischen beiden bildet die gewöhnliche, parabolische Geometrie den 
Übergangsfall. 

Allerdings sind wohl nicht immer und nicht alle Bearbeiter der Nicht- 
Euklidischen Geometrie oder verwandter Gegenstände der hier entwickelten 
Ansicht gewesen. Man möchte dies wenigstens schließen, wenn z. B. Bolyai 
die Abhandlung, in der er das Parallelenaxiom fallen läßt, „über die ab- 
solut wahre Raumlehre“ betitelt. Auch in der neuesten Zeit scheint diese 
Auffassung noch nicht ganz verschwunden, so daß es wohl nicht überflüssig 
ist, hier ausdrücklich auf dieselbe als eine von der hier vorgetragenen ab- 
weichende aufmerksam zu machen. 


Man kann fragen, ob solche Untersuchungen, wie sie durch die Nicht- 
Euklidische Geometrie als Beispiel vertreten sind, noch außerhalb des 
speziellen Zweckes, um dessen willen sie entwickelt werden, anderweitigen 
Nutzen besitzen und in welcher Richtung derselbe zu suchen ist. Mir 
scheint ein zweifacher Nutzen zu resultieren, ein rein mathematischer und 





!) Bei Riemann ist die rein mathematische Betrachtung nicht überall von den 
Betrachtungen mehr spekulativen Charakters geschieden, die sich auf die Objektivität 
der Raumanschauung usw. beziehen. Auf diesen Umstand ist die vielfach über die 
bez. Dinge verbreitete Unklarheit wohl zum großen Teile zurückzuführen. 


XVIII. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (2. Aufsatz.) 313 


ein, wenn die Ausdrucksweise gestattet ist, physikalischer. In erster Linie 
erweitern die Untersuchungen den Kreis unserer mathematischen Begriffe. 
So haben die Betrachtungen über Parallelentheorie, ganz allgemein zu 
reden, einen wesentlich neuen Begriff geliefert, den Begriff einer beliebig 
ausgedehnten Mannigfaltigkeit von konstantem Krümmungsmaße. Dann 
aber — und das ist die physikalische Wichtigkeit solcher Forschungen — 
gewinnen wir durch dieselben Material, um die uns geläufigen geome- 
trischen Vorstellungen nach ihrer Notwendigkeit beurteilen und eine Ab- 
änderung derselben, falls eine solche wünschenswert scheinen sollte, zweck- 
mäßig treffen zu können. Ich kann in dieser Beziehung nur (in etwas 
freier Fassung) die Schlußworte der Riemannschen Arbeit zitieren: 

„Solche Untersuchungen, welche, wie die hier geführte, von all- 
gemeinen Begriffen ausgehen, können dazu dienen, daß die Umarbeitung 
der überkommenen räumlich-mechanischen Vorstellungen nicht durch die 
Beschränktheit der Begriffe gehindert und der Fortschritt im Erkennen 
des Zusammenhanges der Dinge nicht durch überlieferte Vorurteile ge- 
hemmt wird.“ 

Aber einseitig würde es sein, wollte man, wie dies gelegentlich von 
physikalischer oder philosophischer Seite geschieht, in einer solchen even- 
tuellen Verwendung der betreffenden Untersuchungen den einzigen Nutzen 
derselben erblicken; und es ist jedenfalls nur vorteilhaft, wenn man die 
Fragen trennt, und zunächst die rein mathematischen Betrachtungen, 
welche die Grundlagen für die sich anschließenden spekulativen sind, 
durcharbeitet. — 

Die folgenden Ausführungen zerfallen in zwei Abschnitte, die unter 
einander nur lose zusammenhängen und hier nur vereinigt sein mögen, 
weil sie sich beide an den früheren Aufsatz anlehnen. 

Der erste Abschnitt ist durch den Umstand hervorgerufen, daß in 
meiner früheren Arbeit die Frage nach dem Begriffe einer Mannigfaltigkeit 
von konstantem Krümmungsmaße, und die Frage, wie unsere räumlichen 
Anschauungen zu modifizieren wären, falls der Raum ein nicht verschwin- 
dendes Krümmungsmaß besäße, nicht voneinander getrennt behandelt sind. 
Es scheint dies bei dem Verständnisse der Arbeit eine Hauptschwierigkeit 
zu bilden, und deshalb sollen die dort mit Bezug auf die erste Frage 
gewonnenen Resultate hier ohne alle Verbindung mit der zweiten Frage 
noch einmal ausgesprochen und ihrem Sinne und ihrer Tragweite nach 
deutlich begrenzt werden. Ich stelle mich dabei auf den rein analytischen 
Standpunkt und handele sofort von Mannigfaltigkeiten von beliebig vielen 
Dimensionen: wenn ich dabei gelegentlich von geometrischen Dingen rede, 
so geschieht es nur, um abstrakte Begriffe an einem konkreten Bilde zu 
erläutern. Es wird dabei die gewöhnliche geometrische Anschauung mit 


314 Zur Grundlegung der Geometrie. 


‚ihrem Parallelen-Axiome zugrunde gelegt, was ja ein durchaus berechtigtes 
Hilfsmittel ist, auch wenn die objektive Gültigkeit des Parallelenaxioms 
(oder der anderen Axiome) als nicht feststehend betrachtet wird, da diese 
uns geläufige Anschauung in sich nicht widersprechend ist, also wirkliche 
mathematische Beziehungen in Evidenz setzt. Der begriffliche Unterschied 
zwischen einer Mannigfaltigkeit von konstantem Krümmungsmaße und 
dem, was ich eine projektivische Mannigfaltigkeit nenne — oder, was 
das geometrische Analogon ist: der Unterschied zwischen metrischer 
und projektivischer Geometrie wird dabei in möglichst bestimmter Form 
hervorgehoben, da so erst die Resultate einen durchsichtigen Inhalt er- 
halten. Ich glaube nicht, daß die Art und Weise, wie ich diesen Unter- 
schied einführe, wesentlich neu ist: vielmehr wird jeder, der darüber nach- 
gedacht hat, den Unterschied in ähnlicher Weise auffassen; es ist mir aber 
nicht bekannt, daß diese Auffassung irgendwo dargestellt wäre und ich 
möchte sie hier um so weniger unerörtert lassen, als sie nach meiner 
Meinung für mathematische Fragen überhaupt von fundamentaler Bedeutung 
ist. Dementsprechend haben diese Auseinandersetzungen eine Ausdehnung 
gewonnen, hinter welcher die Partien, die sich insbesondere auf das kon- 
stante Krümmungsmaß beziehen, verhältnismäßig zurücktreten. ?). 

In dem zweiten Abschnitte begründe ich denn eingehender die bereits 
genannte Behauptung: daß man in ähnlicher Weise, wie v. Staudt, die 
projektivische Geometrie entwickeln kann, auch wenn man das Parallen- 
axlom nicht zugibt. Zu dem Zwecke zeige ich, daß nicht nur für die 
Ebenen und Geraden des Raumes, sondern überhaupt für jedes Flächen- 
und Kurvensystem, daß in einem endlichen Raumstücke ähnliche Lagen- 
verhältnisse besitzt, wie man sie bei den Ebenen und Geraden voraussetzt, 
innerhalb des begrenzten Raumes die projektivische Geometrie gilt. Diese 
Untersuchung, die hier zum Beweise der genannten Behauptung geführt 
wird, scheint an und für sich von Interesse. Sie lehrt einmäl ein merk- 
würdiges Theorem der Analysis situs kennen, insofern. der oben angedeu- 
tete Satz?) nur von solchen räumlichen Dingen handelt, die bei einer 
stetigen Verzerrung des Raumes ungeändert bleiben, und kann also in diese 
noch wenig entwickelte geometrische Disziplin eingereiht werden; anderer- 





?) ’In diesem ersten Teil der nachstehenden Abhandlung handelt es sich schließ- 
lich um eine vorläufige Redaktion der Überlegungen, welche ich im Oktober desselben 
Jahres (1872) im meinem „Erlanger Programm“ dargelegt habe (siehe unten Abh. XXVII). 
Fertiggestellt im Juni, ist diese erste Redaktion doch erst lange nach dem Erlanger 
Programm ausgegeben worden (nach den Angaben im Generalregister zu Bd. 50 der 
Math. Annalen erst Mitte Juni 1873). Ursache der Verzögerung war der große Setzer- 
streik von 1872/3. — Über die Entstehung der in Betracht kommenden Ideen wird 
weiter unten im Zusammenhang zu berichten sein, S. 411—412. K.] 

3) Ich habe diesen Satz bereits in den Gött. Nachrichten 1872, 5. Juni mitgeteilt. 
[S. Abh. XVII dieser Ausgabe.) 


XVIII. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (2. Aufsatz.) 315 


seits kann man sie als einen Schritt in der oben angedeuteten Unter- 
suchungsrichtung der Axiome der Geometrie betrachten, insofern sie von 
weniger Annahmen ausgeht, als man den Ebenen und Geraden des Raumes 
gewöhnlich beilegt, und doch das Vorhandensein einer Reihe denselben 
sonst zukommender Eigenschaften nachweist. 





Erster Abschnitt. 


Die Mannigfaltigkeit von konstantem Krümmungsmaße, die 
projektivische Mannigfaltigkeit und ihr gegenseitiges Verhältnis. 


sl. 
Begriff einer Mannigfaltigkeit von beliebig vielen Dimensionen, wie er 
im folgenden zugrunde gelegt wird. 
Wenn n Veränderliche 

Be BETT & 
gegeben sind, so konstituieren die n-fach unendlich vielen Wertsysteme, 
die man erhält, wenn man die x unabhängig voneinander die reellen 
Werte von — oobis-+ oo durchlaufen läßt, dasjenige, was hier, in Über- 
einstimmung mit der gewöhnlichen Bezeichnungsweise, eine Mannigfaltig- 
keit von n Dimensionen genannt werden soll. Das einzelne Wertsystem 


| m.) 
werde als ein Element derselben bezeichnet. 

Für n—=3 kann man — und das ist der ursprüngliche Grundgedanke 
der analytischen Geometrie — die Elemente der bez. Mannigfaltigkeit 
durch die Punkte des Raumes, die Mannigfaltigkeit selbst also durch den 
als Punktaggregat gedachten Raum vorgestellt sein lassen. Wir werden 
hier und im folgenden diese anschauliche und uns geläufige Interpretation 
eines einzelnen Falles benutzen, um uns an ihr jedesmal diejenigen Ideen 
zu bilden, welche auf den allgemeinen Mannigfaltigkeitsbegriff übertragen 
werden sollen. Den Punktraum denken wir uns dabei, wie bereits in der 
Einleitung gesagt, mit den Eigenschaften ausgerüstet, die wir ihm gewöhn- 
lich, d. h. in der Euklidischen Geometrie beilegen. 

Im folgenden soll bei Betrachtung der Mannigfaltigkeiten gewöhnlich 
von algebraischen Gebilden und algebraischen Prozessen gehandelt werden. 
In solchen Fällen mögen wir, wie dies in der neueren Geometrie geschieht, 
zu den bisherigen Elementen der Mannigfaltigkeit neue, komplexe hinzu- 
fügen, indem wir den n Variabeln 


Ks Kg +++, T, 


fortan gestatten, beliebige komplexe Werte anzunehmen. Dabei wird es, 
wieder wie in der Geometrie, dennoch gestattet sein, der Ausdrucksweise 


316 Zur Grundlegung der Geometrie. 


nach an einer n-fach ausgedehnten Mannigfaltigkeit festzuhalten; der Ver- 
gleich mit der in der Geometrie üblichen Redeweise wird alle Schwierig- 
keiten in dieser Richtung fortheben. 


8 2. 
Transformationen und Transformationsgruppen. 


Als eine Transformation der Mannigfaltigkeit in sich selbst sei der 
Übergang verstanden, welcher von jedem Elemente zu einem (oder einigen) 
zugeordneten führt. Man mag die Transformation durch n Gleichungen be- 
stimmen, nach welchen das zugeordnete Element von dem jedesmaligen 
ursprünglichen abhängt. Die Art der Gleichungen und ihre gegenseitige 
Beziehung ist für den Begriff zunächst gleichgültig; im folgenden werden 
wir aber immer voraussetzen, daß sie umkehrbar sind. Die umgekehrten 
Gleichungen repräsentieren, was die umgekehrte Transformation heißen 
soll. Bezeichnet man, wie im folgenden geschehen soll, eine Transformation 
durch einen Buchstaben A, B,..., die Zusammensetzung zweier Trans- 
formationen A, B durch das Symbol (Produkt) AB, so wird die um- 
gekehrte Transformation von A durch A" darzustellen sein. 

"Wir bemerken ferner, daß die Transformationen, die weiterhin vor- 
kommen, wesentlich algebraische sind, und daß wir in solchen Fällen die 
Mannigfaltigkeit immer als eine komplexe Mannigfaltigkeit und die Trans- 
formation als gleichzeitig für die komplexen Elemente eintretend ansehen. 

Sei nun eine Reihe von Transformationen A,B,C... gegeben. 
Wenn diese Reihe die Eigenschaft besitzt, daß je zwei ihrer Trans- 
formationen zusammengesetzt eine Transformation ergeben, die selbst 
wieder der Reihe angehört, so soll sie eine Transformationsgruppe*) heißen. 

Beispiele für diesen Begriff mag man sich an der durch den Punkt- 
raum versinnlichten Mannigfaltigkeit von drei Dimensionen bilden. Eine 
jede Bewegung, eine jede Kollineation ist eine räumliche Transformation. 
Eine @ruppe bilden z. B. die Gesamtheit aller Bewegungen; denn zwei 
Bewegungen zusammengesetzt ergeben eine neue Bewegung. Eine Gruppe 
bilden ferner etwa die Gesamtheit aller Kollineationen, insbesondere die- 
jenigen Kollineationen, die ein bestimmtes Gebilde, z. B. eine Fläche 
zweiter Grades, in sich überführen. Es ist übrigens zum Begriffe der 





*) Name wie Definition sind herübergekommen von der analogen Begriffsbildung 
der Substitutionstheorie, die sich nur dadurch von der hier vorgetragenen unterscheidet, 
daß die in ihr betrachteten Mannigfaltigkeiten aus einer endlichen Zahl diskreter 
Elemente bestehen. In einem früheren Aufsatze (Math. Ann., Bd. 4 [s. Abh. XXVI dieser 
Ausgabe]) haben Lie und ich das, was hier Transformationsgruppe heißt, als ein 
„geschlossenes System von Transformationen“ bezeichnet. [Um die Auffassungsweise 
des Gruppenbegriffs hier und im Erlanger Programm korrekt zu formulieren, muß bei 
Gruppen ausdrücklich noch vorausgesetzt werden, (wie dies sehr bald von Lie bemerkt 
wurde), daß mit jeder Operation auch deren inverse in der Gruppe enthalten sei. K.! 


XVIII. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (2. Aufsatz.) 317 


Gruppe durchaus nicht wesentlich, daß die sie konstituierenden Trans- 
formationen, wie in den genannten Beispielen, an Zahl unendlich sind und 
sich kontinuierlich aneinander anschließen, obwohl dies der Charakter der- 
jenigen Gruppen sein wird, die im folgenden gebraucht werden. Vielmehr 
bilden z. B. die unendlich vielen ruckweise aufeinander folgenden Ver- 
schiebungen, welche eine Sinuslinie mit sich selbst zur Deckung bringen, 
eine Gruppe; ebenso die in endlicher Anzahl vorhandenen Bewegungen, 
welche einen Würfel mit sich selbst zur Deckung bringen’). Ähnliche 
Unterscheidungen finden bei den Transformationsgruppen in beliebigen 
Mannigfaltigkeiten ihre Stelle, doch mag die nähere Erörterung der sich 
anschließenden Fragen als für das Folgende unnötig hier unterbleiben. 

Zwei Transformationsgruppen heißen ähnlich®), wenn man die Trans- 
formationen der einen Gruppe so den Transformationen der anderen Gruppe 
zuordnen kann, daß die Zusammensetzung entsprechender Transformationen 
entsprechende Transformationen ergibt. Eine Transformationsgruppe, 
welche mit einer gegebenen ähnlich ist, erhält man z. B., wenn man mit 
allen Transformationen A der gegebenen Gruppe eine Transformation C 
und deren umgekehrte CO" in der Art verbindet, daß die Transformationen 
C’AC entstehen. Man kann dies so aussprechen. Die Transformationen 
4A führen die ursprünglichen Elemente der Mannigfaltigkeiten bez. in neue 
über. Auf die ursprünglichen und die neuen wende man gleichzeitig die 
Transformation C an. So drücken die Transformationen C "AC die Be- 
ziehung aus, welche zwischen den Elementen besteht, die durch C aus den 
früher zugeordneten hervorgehen. 

Man kann unter gewissen Einschränkungen beweisen, daß je zwei 
ähnliche Gruppen in diesem Sinne auseinander durch Anwendung einer 
Hilfstransformation C hervorgehen; für das Folgende haben wir die Be- 
gründung und die Begrenzung dieses Satzes nicht nötig, wir wollen viel- 
mehr unter zwei ähnlichen Transformationsgruppen schlechthin solche 
zwei verstehen, die durch Anwendung einer Transformation C aus ein- 
ander entstanden sind. Dabei braucht C noch durchaus keine eindeutige 
Transformation zu sein; sie kann recht wohl vieldeutig, selbst unendlich 
vieldeutig sein?). . 





°) In einem Aufsatze: Sur les groupes de mouvements [Annali di matematica. 
Ser 2, Bd. 2 (1869)] hat Camille Jordan alle Gruppen von Bewegungen aufgestellt. 

6%) Man vgl. immer die analoge Terminologie und Begriffsbildung der Sub- 
stitutionstheorie, 
’”) 2. B. sollen, für n=2, noch als ähnlich bezeichnet sein die Gruppen: 

= +0,9=%,+@ 
=b ’ = 2> 

weil sie durch die Substitution ERS ERRR Sr 


’ ’ 
x, = log y,, 2; = logy; 


und 


auseinander hervorgehen. 


318 Zur Grundlegung der Geometrie. 


S 38. 
Die Hauptgruppe der räumlichen Transformationen. 


Die Geometrie kann sich, unseren gewöhnlichen Vorstellungen nach‘), 
überhaupt nur mit solchen Eigenschaften der räumlichen Gebilde befassen, 
welche unabhängig sind von der Stelle im Raume, die von den Gebilden 
eingenommen wird, sowie von der absoluten Größe der Gebilde. Auch 
kann sie nicht (immer ohne Zuhilfenahme eines dritten Körpers) zwischen 
den Eigenschaften eines Körpers und denen seines Spiegelbildes unter- 
scheiden. Durch diese Sätze ist eine Gruppe räumlicher Transformationen 
charakterisiert — sie mag die Hauptgruppe genannt werden —, deren 
Transformationen die Gesamtheit der geometrischen Eigenschaften eines 
Gebildes unberührt lassen. Es setzt sich diese Gruppe zusammen aus den 
sechsfach unendlich vielen Bewegungen, aus den einfach unendlich vielen 
Ähnlichkeitstransformationen und aus der Transformation durch Spiegelung 
an einer Ebene. | | 

Hatten wir seither den Punktraum schlechthin als eine dreifach aus- 
gedehnte Mannigfaltigkeit aufgefaßt, so können wir jetzt eine nähere Be- 
stimmung hinzufügen, welche durch das Vorhandensein der Hauptgruppe 
räumlicher Transformationen bedingt wird: 

Der Punktraum ist eine Mannigfaltigkeit von drei Dimensionen, 
bei deren Behandlung man nur auf solche Eigenschaften auftretender 
Gebilde zu achten hat, die durch die Transformationen der Hauptgruppe 
ungeändert bleiben”). 

Man übersieht bereits hier, wie von einer bestimmten Behandlung 
einer Mannigfaltigkeit von n Dimensionen erst dann die Rede sein kann, 
wenn eine Transformationsgruppe gegeben ist. welche die Eigenschaften, 
auf welche man achten will, charakterisiert als die durch die Transforma- 
tionen der Gruppe unveränderlichen Relationen. Je umfangreicher die 
Gruppe ist, um so geringer wird die Zahl der bleibenden Eigenschaften 
und umgekehrt. Bestände die Gruppe aus der identischen Transformation, 
d. h. aus derjenigen, die jedes Element sich selbst zuordnet, so würde 
jedes Element der Mannigfaltigkeit bei deren Behandlung ein individuelles 
Interesse besitzen. 





®) In der Nicht-Euklidischen Geometrie ist dies insofern anders, als die Ver- 
wandtschaft der Ähnlichkeit nicht existiert. 

9%) Dem Raume an und für sich kann man bekanntlich, nach der Plückerschen 
Auffassung, beliebig viele Dimensionen zuerteilen, je nach dem Gebilde, welches man 
als Raumelement zugrunde legen will. Aber die Hauptgruppe der Transformationen, 
welche die geometrischen Eigenschaften ungeändert läßt, ist von der Wahl des Raum- 
elementes unabhängig. Der Raum erscheint also als das Bild einer beliebig aus- 
gedehnten Mannigfaltigkeit, bei der jedesmal eine Transformationsgruppe von 
demselben Charakter adjungiert ist. Vgl. den folgenden Text 


XVIH. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (2. Aufsatz.) 319 


84. 


Die verschiedenen Methoden der Geometrie sind durch eine zugehörige 
Transformationsgruppe charakterisiert. 


Wenn man von bloß formellen Unterschieden absieht — also etwa 
davon, ob die Art der Behandlungweise in fortwährender Verbindung mit 
der räumlichen Anschauung oder unter Zuhilfenahme eines rechnenden 
Algorithmus geschieht — so wird man den Unterschied der in der Geo- 
metrie üblichen Methoden in der Art der bei der Behandlung adjungierten 
Transformationsgruppe erblicken müssen. Für alle geometrischen Betrach- 
tungen ist, wie gesagt, von vornherein die Hauptgruppe der Transforma- 
tionen gegeben. Wollte man nur einen Teil ihrer Transformationen in 
Betracht ziehen, so erhielte man solche geometrische Kigenschaften der 
räumlichen Gebilde, welche sich auf fest gedachte gegebene Elemente be- 
ziehen, die unter sich natürlich die eigentlichen, nicht von der Annahme 
fester Elemente abhängigen geometrischen Beziehungen begreifen. Aber es 
bleibt unbenommen, der allgemeinen geometrischen Betrachtung statt der 
Hauptgruppe eine weitere, die Hauptgruppe umfassende Gruppe von Trans- 
formationen zugrunde zu legen. Und in der Einführung solcher allge- 
meinerer Gruppen an Stelle der Hauptgruppe besteht das Wesen der ver- 
schiedenen geometrischen Methoden, die sich in der Neuzeit entwickelt 
haben, insbesondere, worauf es uns hier ankommt, das Wesen der projek- 
tivischen Geometrie. Sie faßt an den räumlichen Dingen nur das auf, 
was durch kollineare .Umformungen nicht geändert wird, sie adjungiert 
sich also in dem eben erörterten Sinne die Gruppe aller kollinearen Um- 
formungen. Die Transformationen der Hauptgruppe sind dann'°) dadurch 
definiert, daß sie diejenigen reellen Kollineationen sind, welche ein indi- 
viduelles Gebilde, den sogenannten unendlich fernen imaginären Kreis un- 
geändert lassen. Die nicht projektivischen Eigenschaften räumlicher Ge- 
bilde erscheinen als kovariante Beziehungen der Gebilde zum imaginären 
Kreise. Ein anderes Beispiel, welches hier, um die Verschiedenartigkeit 
der möglichen Methoden hervorzuheben, erwähnt sein mag, gibt diejenige 
Behandlungsweise geometrischer Dinge, wie sie in der sog. Analysis situs 
gehandhabt wird. Hier besteht die Gruppe der adjungierten räumlichen 
Transformationen aus denjenigen Raumtransformationen, welche man Ver- 
zerrungen (Deformationen) des Raumes nennt und die dadurch definiert 
sind, daß sie sich aus unendlich kleinen reellen Raumtransformationen zu- 





10) Man muß bei der projektivischen Geometrie verschiedene Stadien der Ent- 
wicklung unterscheiden. Lange Zeit dachte man bei einer Kollineation immer an 
eine reelle Kollineation, und noch immer wohl ist die Anschauung, daß man in der 
projektivischen Geometrie alle vorkommenden Größen als unbedingt komplex ver- 
änderlich auffassen soll, nicht überall durchgedrungen. 


320 Zur Grundlegung der Geometrie. 


sammensetzen lassen. Indem bei ihr der Begriff des Reellen wesentlich, 
der Begriff der Algebraischen zunächst überhaupt nicht vorhanden ist, so 
ist bei ihr das Punktgebiet des Raumes nicht durch komplexe Punkte zu 
erweitern. 

Eine nähere Durchführung des hier entwickelten Gesichtspunktes zur 
Klassifizierung der verschiedenen geometrischen Methoden scheint sehr 
interessant, es würde eine solche aber hier außerhalb des eigentlichen 
Themas liegen, und es mag daher bei den genannten. Beispielen, die zur 
Illustration der allgemeinen Betrachtungen des folgenden Paragraphen aus- 
reichen, sein Bewenden haben'!). | 


85. 
Behandlungsweise der Mannigfaltigkeiten aus » Dimensionen. 


Aus den vorigen beiden Paragraphen ist ersichtlich, wie die Behand- 
lungsweise einer Mannigfaltigkeit von n Dimensionen durch die Trans- 
formationsgruppe charakterisiert wird, welche man adjungiert. Alle die- 
jenigen Behandlungsweisen stimmen dabei im Wesen überein und können 
durch passende Einführung neuer Variabeln auch in formelle Überein- 
stimmung gebracht werden, welche ähnliche Transformationsgruppen be- 
nutzen. Es ist das bei der in $ 3 entwickelten Definition von ähnlichen 
Gruppen selbstverständlich.. Denn eine einmalige Transformation der 
Mannigfaltigkeit in sich selbst (die wir dort mit dem Buchstaben (' be- 
zeichnet hatten) kann auch als eine Einführung neuer Variabeln zur Be- 
handlung der Mannigfaltigkeit, als eine Koordinatentransformation, an- 
gesehen werden, wobei denn die Gruppe der Änderungen, welche man als 
nicht in Betracht kommend ansieht, unberührt dieselbe bleibt. 

Als einfachste Transformationsgruppe erscheint die Gruppe aller 
linearen Transformationen, hierunter diejenigen verstanden, welche statt 
der ursprünglichen Variabeln gebrochene lineare Funktionen derselben mit 
gemeinsamem Nenner einführen. Die auf sie gegründete Behandlungsweise'?) 





1!) Ich habe seitdem versucht, diese Verhältnisse in einem Programme: Ver- 
gleichende Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen (Erlangen 1872. Bei 
A. Deichert) [s. Abh. XXVII dieser Ausgabe] allgemein zu entwickeln. 

12) Eine der frühesten Behandlungen des allgemeinen Mannigfaltigkeitsbegriffs 
findet sich in Graßmanns linealer Ausdehnungslehre von 1844. Seine Methode ist 
wenigstens in vielfacher Hinsicht eben die hier gemeinte projektivische; was hier 
Element der Mannigfaltigkeit heißt, heißt bei ihm extensive Größe. [Sehr merkwürdig 
ist und wieder nur als Ergebnis einseitiger Tradition zu verstehen, daß ich hier (wie 
auch im Erlanger Programm) zwischen der projektiven Geometrie und der gewöhn- 
lichen metrischen Geometrie nicht die „affine“ eingeschaltet habe (welche sich, bei 
Zugrundelegung nicht homogener Variabler, auf die Gruppe aller ganzen linearen Sub- 
stitutionen der Veränderlichen stützt). Ich habe dies ausführlicher erst 1895—96 in 
meinen (seitdem autographierten) Vorlesungen über Zahlentheorie getan und später 


XVII. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (2. Aufsatz.) 321 


der Mannigfaltigkeit — ich will sie die projektivische nennen — ist es, 
deren sich die neuere Algebra bedient (wobei es nur als ein Mittel zur 
übersichtlicheren Darstellung, allerdings als ein sehr wesentliches und der 
Natur der Sache durchaus entsprechendes Mittel erscheint, wenn man statt 
der n Veränderlichen, durch die ursprünglich das Element der Mannig- 
faltigkeit bestimmt wurde, (n+ 1) homogene einführt). Der Namen 
„Invariantentheorie‘, den man der neueren Algebra beilegt, bezeichnet 
recht gut das Wesen, welches nach der hier dargelegten Auffassung über- 
haupt jeder Behandlungsweise einer Mannigfaltigkeit zukommt; es handelt 
sich immer darum bei gegebenem Umfange der Änderungen, die invarranten 
Beziehungen zu entdecken. 

Zu einer anderen Behandlung der Mannigfaltigkeiten, die aber in der 
vorangeführten projektivischen Behandlung enthalten ist, insofern ihre 
Transformationsgruppe aus einem Teile der Gruppe aller linearen Trans- 
formationen besteht, wird man geführt, wenn man die Betrachtungen der 
gewöhnlichen metrischen Geometrie, bei denen die Hauptgruppe räum- 
licher Transformationen zugrunde gelegt ist, auf beliebig viele Veränder- 
liche verallgemeinert'?). Die bezüglichen Transformationen erscheinen vom 
Standpunkte der projektivischen Betrachtung als diejenigen reellen linearen 
Transformationen, welche ein individuelles Gebilde, das durch eine lineare 
und eine quadratische Gleichung vorgestellt wird, ungeändert lassen. Es 
mag die hier anknüpfende Behandlungsweise der Mannigfaltigkeit als die 
gewöhnliche metrische bezeichnet sein. 

Man könnte sich ferner eine Behandlungsweise denken, welche der 
Analysis situs entspräche usw. usw.. 

Besonders betont sei noch einmal, daß ähnliche Transformationsgruppen 
zu identischen Behandlungsweisen Anlaß geben. Projektivisch mag deshalb 
geradezu jede Behandlungsweise heißen, welche eine Gruppe adjungiert, die 
durch passende Einführung neuer Veränderlichen auf die Gesamtheit der 
linearen Transformationen umgeformt werden kann usw. 

Sodann sei noch auf einen Umstand aufmerksam gemacht, der zwar 
nicht im nächstfolgenden hervortritt, der aber für den zweiten Abschnitt 
dieses Aufsatzes von Bedeutung wird. Es ist, daß beliebige Transforma- 





immer wieder vorangestell. Erst so wird man den Arbeiten von Moebius und 
Graßmann wirklich gerecht, und auch erst hier findet: (wenn man noch den Koor- 
dinatenanfangspunkt festläßt, und die Determinante = 1 nimmt, d. h. sich auf ganze, 
homogene lineare Substitutionen des Veränderlichen beschränkt), die algebraische In- 
variantentheorie ihre volle geometrische Deutung. (In der projektiven Geometrie 
kann immer nur das Verschwinden der ‚relativen‘ Invarianten, nicht ihr numerischer 
Wert, geometrisch erfaßt werden, aber man hatte sich früher, unter dem Einfluß 
wohl namentlich der Salmonschen Lehrbücher, gewöhnt, damit zufrieden zu sein). K.] 

13) Hierher sind beispielsweise alle derartigen Betrachtungen zu rechnen, welche 
die gew. Krümmungstheorie auf n Dimensionen übertragen usw. 

Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 21 


322 Zur Grundlegung der Geometrie. 


tionen einer Mannigfaltigkeit, sofern sie die implizite immer vorausgesetzten 
Stetigkeitseigenschaften haben, für unendlich kleine Partien der Mannig- 
faltigkeit durch lineare Transformationen ersetzt werden können"*). Welcher 
Art also auch die Behandlungsweise ist, der man eine Mannigfaltigkeit von 
n Dimensionen unterwerfen mag, für die (n — 1)-fach ausgedehnte Mannig- 
faltigkeit, welche von den von einem Elemente aus möglichen Fort- 
schreitungsrichtungen zu benachbarten Elementen gebildet wird, ist sie in 
der projektivischen Behandlungsweise enthalten. 


$ 6. 


Die Mannigfaltigkeit von konstantem nicht verschwindendem 
Krümmungsmaße. 


Die vorhergehenden Paragraphen enthalten die notwendigen Ausein- 
andersetzungen, um nunmehr den Begriff einer Mannigfaltigkeit von kon- 
stantem Krümmungsmaße einführen und sein Verhältnis zu dem Begriffe 
der projektivischen Mannigfaltigkeit erörtern zu können. 

Wenn man einer Mannigfaltigkeit ein bestimmtes konstantes, nicht 
verschwindendes Krümmungsmaß beilegt'°); so hat man dem bloßen Be- 
griffe einer n-fach ausgedehnten Mannigfaltigkeit ganz so, wie in den im 
vorigen Paragraphen aufgeführten Beispielen, als nähere Bestimmung eine 
Transformationsgruppe zugefügt, die durch die Forderung freier Beweglich- 
keit starrer Körper in bekannter Weise konstruiert wird!®). Der Wert des 
dann notwendig konstanten Krümmungsmaßes kann noch durch bestimmte 
weitere Forderungen näher umgrenzt und endlich durch Einführung der 
Längeneinheit numerisch festgelegt werden (vgl. $ 7). 

Mann kann nun die Frage aufwerfen, ob die so eingeführte Behand- 
lungsweise zu der projektivischen Behandlung der Mannigfaltigkeit in einer 
ähnlichen Beziehung steht, wie nach der bez. Bemerkung des vorigen Para- 
graphen die gewöhrliche metrische Methode; anders ausgedrückt: Die bei der 
gewöhnlichen metrischen Methode zugrunde gelegte Gruppe war bei passender 
Koordinatenbestimmung in der Gruppe der linearen Transformationen, all- 
gemein zu reden also in einer mit dieser Gruppe ähnlichen Gruppe ent- 
halten: trifitt das bei der nun vorliegenden Behandlungsweise auch zu? 





14) [Im Sinne moderner Auffassungen würde man bei dem im folgenden ein- 
gehaltenen Gedankengange den die Transformationen definierenden Funktionen selbst- 
verständlicherweise die Differentiierbarkeit als Forderung auferlegen müssen. K.) 

15) Man vgl. hierzu außer der Riemannschen Schrift namentlich Beltrami: 
Teoria generale degli spazii di curvatura costante. (Annali di Matematica. Serie 3, 
Bd. 2, 1868/69, Werke, Bd. I, .406—429.) Dieselbe ist von Hoüel übersetzt im 
Journal: de l’Ecole Normale Sup£rieure, Bd. 4. 

16) Vgl. die Arbeiten von Riemann und Helmholtz, auf welche sich auch 
die im Texte gebrauchte geometrische Redeweise bezieht. 


XVIII. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (2. Aufsatz.) 323 


Die so gestellte Frage findet ihre Beantwortung in den Arbeiten 
Beltramis!”). Derselbe zeigt nämlich: daß man in einer Mannigfaltig- 
keit von konstantem Krümmungsmaße die Variabeln so wählen kann, 
daß die geodätischen Linien durch lineare Gleichungen dargestellt sind; 
daß ferner bei dieser Koordinatenbestimmung die Transformationen, 
welche die Maßverhältnisse ungeändert lassen, durch lineare Gleichungen 
dargestellt werden. Von dem hier vorliegenden Gesichtspunkte aus wird 
man das dahin aussprechen: daß die Transformationsgruppe, welche bei 
einer Mannigfaltigkeit adjungiert wird, wenn man ihr konstantes 
Krümmungsmaß beilegt, bei passender Koordinatenbestimmung in der 
Gruppe der linearen Transformationen enthalten ist, woraus man sofort 
schließen wird: daß die Behandlung einer Mannigfaltigkeit von konstantem 
Krümmungsmaße in der projektivischen Behandlung enthalten ist. 


Ich habe in meiner früheren Arbeit namentlich noch gezeigt, daß die 
Maßbestimmung, wie man sie unter Annahme eines konstanten Krümmungs- 
maßes erhält, mit der projektivischen zusammenfällt, welche man nach 
Cayleys Vorgange unter Zugrundelegung einer quadratischen Gleichung 
aufbauen kann, und dieses ist nach der analytischen Seite hin das wesent- 
liche Resultat meiner Arbeit. Ich hatte damals dem Resultate unter 
bloßem Hinweis auf die Theorie mehrfach ausgedehnter Mannigfaltigkeiten 
die geometrische Einkleıdung gegeben: daß die auf einen passenden Kegel- 
schnitt, bez. eine passende Fläche zweiten Grades gegründete Cayleysche 
Maßbestimmung ein äquivalentes Bild für die Maßbestimmung in Mannig- 
faltigkeiten 'konstanter Krümmung bez. von zwei und drei Dimensionen 
abgibt. Und im Zusammenhange mit dem Vorhergehenden wird man das 
Resultat so formulieren: Die Gruppe von Transformationen, welche die 
Maßbestimmung in einer Mannigfaltigkeit konstanter Krümmung un- 
geändert lassen, besteht bei passender Koordinatenbestimmung aus der 
Gruppe derjenigen linearen Transformationen, welche eine quadratische 
Gleichung in sich überführen. 


Ich muß hier einen Unterschied erwähnen, der zwischen der vom 
Beltrami eingeschlagenen Darstellungsweise und der meinigen statt hat. 
Bei Beltrami wird immer nur von reellen Werten der Veränderlichen ge- 
sprochen, wenigstens die komplexe Variabilität der Argumente nicht prin- 
zipiell eingeführt. In meiner vorigen Arbeit dagegen fasse ich, wie auch 
hier, zunächst die Veränderlichen als komplexe Veränderliche auf, und führe 
erst hinterher die Beschränkung auf das reelle Wertgebiet ein. Dadurch ist es 
möglich, den Aussagen, wie die vorstehenden sind, eine vollkommen allgemeine 
Form zu geben; achtet man nur auf reelle Werte der Variabeln, so treten 





7) Vgl. besonders wieder die Teoria generale usw. 
21* 


324 Zur Grundlegung der Geometrie. 


eine Reihe Beschränkungen hinzu, über welche man meinen früheren Aufsatz 
und die 8$ 8,9 dieses Abschnittes (8. 327—330) vergleichen mag. 
Sodann erscheint bei Beltrami die Mannigfaltigkeit konstanter 
Krümmung als durch eine quadratische Gleichung aus einer gewöhnlich 
metrischen Mannigfaltigkeit von einer Dimension mehr ausgeschieden; 
während in meiner früheren Arbeit und auch hier von einer solchen um- 
fassenderen Mannigfaltigkeit nicht die Rede ist. Hiermit hängt eine nach 
meiner Auffassung zu ändernde Behauptung bei Beltrami zusammen, auf 
die ich hier kurz eingehen will, um den Gegenstand wenigstens berührt 
zu haben, wenn er auch den Gang der allgemeinen Betrachtung unter- 
bricht. Es heißt dort: in der Mannigfaltigkeit von konstantem positiven 
Krümmungsmaße gelte nicht allgemein das Axiom von der Geraden, 
d. h. die Forderung, daß die geodätische Linie durch zwei ihrer Punkte 
vollkommen bestimmt sei. Beltramis Überlegung ist dabei etwa fol- 
gende: Man betrachte eine Kugel als Bild einer zweifach ausgedehnten 
Mannigfaltigkeit von konstantem positiven Krümmungsmaße; ihre größten 
Kreise repräsentieren die geodätischen Linien. Ein größter Kreis ist nun 
im allgemeinen durch zwei seiner Punkte bestimmt, nicht aber, wenn diese 
Punkte einander diametral gegenüberstehen. Ähnlich wird es, so schließt 
Beltrami, überhaupt bei Mannigfaltigkeiten auch von mehr Dimensionen 
sein, die positives Krümmungsmaß besitzen. — Aber die Kugel ist nach 
den Auseinandersetzungen meines vorigen Aufsatzes ($ 10) nicht das ein- 
 fachste Bild für eine Mannigfaltigkeit von positivem konstantem Krümmungs- 
maße, sondern dies wird durch die Strahlen eines Strahlenbündels vor- 
gestellt, wobei die von den Strahlen gebildeten Ebenen die geodätischen 
Kurven vertreten. Eine solche Ebene ist vollständig durch zwei der 
Strahlen bestimmt. Wenn es auf der Kugel nicht so ist, so liegt das dar- 
an, weil sie vermöge einer zweideutigen Verwandtschaft auf ihr zentrales 
Strahlenbündel bezogen ist. Wollte man ein Strahlenbündel auf eine be- 
liebig gelegene Fläche n-ten Grades in gleicher Weise beziehen, so daß als 
Abstand zweier Punkte der Fläche der Winkel erscheint, den ihre Ver- 
bindungsgeraden mit dem Zentrum des Bündels einschließen, so würden 
gelegentlich n Punkte nicht ausreichen, um eine geodätische Kurve ein- 
deutig zu bestimmen. Aber das würde in ganz ähnlicher Weise bei an- 
deren Maßbestimmungen, auch der Maßbestimmung von konstantem nega- 
tivem Krümmungsmaße der Fall sein können und hängt mit dem positiven 
konstanten Krümmungsmaße als solchem gar nicht zusammen'®). 





15) Wenn es im Raume vom Krümmungsmaße Null keine geschlossene Fläche 
gibt von konstantem positivem Krümmungsmaße, auf der sich die geodätischen Linien 
in weniger als zwei Punkten schneiden, so hat man darin vielmehr eine Eigenschaft 
der dem Raume beigelegten Maßbestimmung zu erblicken. 


XVIII. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (2. Aufsatz.) 325 


Endlich mag auch noch die folgende Bemerkung hier ihre Stelle 
finden, die bestimmt ist, die Fruchtbarkeit der Untersuchung von Mannig- 
faltigkeiten konstanten Krümmungsmaßes auch für andere Fragen, als die- 
jenigen, welche man gewöhnlich mit ihr in Verbindung bringt, hervor- 
zuheben, und die zugleich die Aussage, daß ähnliche Transformationsgruppen 
identische Behandlungsweise nach sich ziehen, illustriert. Jede Behand- 
lungsweise einer Mannigfaltigkeit, welche die linearen Transformationen in 
Betracht zieht, die eine quadratische Gleichung ungeändert lassen, muß- 
nach dieser Behauptung mit der Behandlung der Mannigfaltigkeit als einer 
solchen von konstanter Krümmung übereinstimmen. Nun aber habe ich bei 
einer früheren Gelegenheit gezeigt (Math. Ann., Bd. 5 [s. Abh. VIII dieser Aus- 
gabe]), daß die Theorie der binären Formen eine Transformationsgruppe be- 
nutzt, die mit der Gruppe der linearen Transformationen eines Kegelschnittes 
in sich selbst ähnlich ist, daß ein Gleiches ferner stattfindet mit den kolli- 
nearen und dualistischen Umformungen des Raumes und den linearen Trans- 
formationen einer quadratischen Gleichung zwischen fünf (sechs homogenen) 
Variabeln in sich selbst. Man muß zu diesem Zwecke als Element der geraden 
Linie nur das Punktepaar, als Element des Raumes den linearen Linien- 
komplex betrachten. Wir werden dieses Resultat jetzt so aussprechen können: 
Die Theorie der binären und quaternären. Formen ist bez. identisch mit 
der Theorie einer Mannigfaltigkeit konstanten Krümmungsmaßes von zwei 
und von fünf Dimensionen. Jede Eigenschaft binärer Formen also ist auch 
eine Eigenschaft der Nicht-Euklidischen Geometrie in der Ebene, und um- 
gekehrt. Die hiermit angedeutete interessante Analogie weiter auszuführen, 
ist hier nicht der Ort. Aber es sei noch einmal betont, daß so schlecht- 
hin ausgesprochen, wie vorstehend geschehen, die Analogie nur gilt, sowie 
von dem Unterschiede von Reell und Imaginär abstrahiert wird; auch sind, 
was nicht ausdrücklich erwähnt wurde, die vorkommenden quadratischen 
Gleichungen als allgemeine ihrer Art, d. h. als Gleichungen mit nicht ver- 
schwindender Determinante vorausgesetzt. 


s 7. 
Ableitung des Begriffs einer Mannigfaltigkeit von konstantem 
Krümmungsmaße aus demjenigen der projektivischen Mannigfaltigkeit. 


Die Auseinandersetzungen des vorigen Paragraphen begründen nun die 
folgende Methode, um zu der Vorstellung einer Mannigfaltigkeit von kon- 
stanter Krümmung zu gelangen: 

1. Man entwickele die projektivische Behandlungsweise einer Mannig- 
faltigkeit von beliebig vielen Dimensionen, im Anschluß daran den Begriff 
algebraischer Gebilde und komplexer Elemente. 


326 Zur Grundlegung der Geometrie. 


2. Man gründe auf ein Gebilde, welches durch eire quadratische 
Gleichung (von nicht verschwindender Determinante) zwischen den pro- 
jektivischen Koordinaten dargestellt wird, zunächst ohne auf den Unter- 
schied von Reell und Imaginär zu achten, die Cayleysche Maßbestimmung. 

3. Man beschränke sich auf die Betrachtung quadratischer Gleichungen 
mit reellen Koeffizienten, und untersuche, welche besonderen Eigenschaften 
die auf eine solche Gleichung gegründete Maßbestimmung für die reellen 
Elemente besitzt je nach der Art der gegebenen Gleichung. Unter der 
Einteilung der quadratischen Gleichungen mit reellen Koeffizienten in Arten 
ist dabei die Unterscheidung derselben nach ihrem Verhalten gegenüber 
reellen Umformungen in die Summe von Quadraten gemeint. Bei jeder 
solchen Umformung ist bekanntlich der Unterschied in der Zahl der resul- 
tierenden positiven und negativen Quadraten ein konstanter, und hierauf 
gründet sich die fragliche Einteilung. 

Hat die zugrunde gelegte und auf die Summe von Quadraten trans- 
formierte Gleichung lauter übereinstimmende Zeichen, so ergibt die auf sie 
gegründete Cayleysche Maßbestimmung die Vorstellung der Mannigfaltig- 
keit von konstanter positiver Krümmung. Die konstante negative 
Krümmung resultiert, wenn nur ein Zeichen von den übrigen verschieden 
vorausgesetzt wird. Die auf quadratische Gleichungen der übrigen Arten 
gegründeten Maßbestimmungen finden in der Theorie der Mannigfaltig- 
keiten von konstanter Krümmung, wie sie gewöhnlich vorgetragen wird, 
keine Stelle. Denn bei der letzteren setzt man von vornherein voraus, 
daß die Entfernung reeller konsekutiver Elemente reell sei, man nimmt 
entsprechend das Bogenelement als eine definite quadratische Form der 
Koordinaten-Differentiale an, und diese Annahme paßt nicht auf die noch 
übrigen Arten von quadratischen Gleichungen. Um diese Verhältr:isse deut- 
lich zu übersehen, denke man an die Cayleysche Maßbestimmung, die 
man im Raume auf eine Fläche zweiten Grades gründen kann. Ist die 
Fläche eine imaginäre, so hat man die positive Krümmung, ist sie ein 
Ellipsoid oder zweischaliges Hyperboloid, so herrscht im Innern die nega- 
tive Krümmung. Ist aber die Fläche ein einschaliges Hyperboloid, so 
gibt es keine Partie des Raumes, von deren Punkten aus nicht reelle Kegel 
an die Fläche gingen; diese Kegel bezeichnen Fortschreitungsrichtungen von 
der Länge Null; das Bogenelement wird nicht mehr durch eine definite 
Form der Differentiale dargestellt (vgl. hierzu die $$ 11, 12, 16, 18 meines 
ersten Aufsatzes). 

Auf diese Weise ist der Begriff einer Mannigfaltigkeit von konstantem 
Krümmungsmaße gewonnen. Man mag hinterher die Untersuchung durch- 
führen, welche Verhältnisse in einer Mannigfaltigkeit durch die bloße 
Forderung der freien Beweglichkeit starrer Körper definiert werden. Es 


XVIII. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (2. Aufsatz.) 327 


ist diese freie Beweglichkeit eine Eigenschaft der Cayleyschen Maßbe- 
stimmung; die Untersuchung zeigt, daß ihre Annahme auch notwendig zur 
Cayleyschen Maßbestimmung hinführt?!”). Dabei erhält man zunächst alle 
Fälle der Cayleyschen Maßbestimmung und die beiden, gewöhnlich allein 
betrachteten, erscheinen erst als die einzig möglichen, wenn man die 
Forderung hinzufügt, daß das Bogenelement durch eine definite Form der 
Differentiale dargestellt wird (oder eine äquivalente Forderung). 





In den nun folgenden beiden Paragraphen mögen einige Bemerkungen 
ihre Stelle finden, welche mit dem Vorhergehenden wenig zusammenhängen, 
die aber einmal als eine Ergänzung meines vorigen Aufsatzes in einzelnen 
Punkten zu betrachten sind, andererseits auch bei dem zweiten hier fol- 
genden Abschnitte vorausgesetzt werden müssen, 


$ 8. 


Ableitung der projektivischen Behandlungsweise einer Mannigfaltigkeit 
von konstanter Krümmung. 


Der vorhin skizzierte Weg, vermöge dessen man von den projek- 
tivischen Vorstellungen zu der Vorstellung eines konstanten Krümmungs- 
maßes gelangt, zeichnet vor, wie das Umgekehrte zu leisten ist, und es 
mag hier nur kurz die hauptsächliche dabei zu benutzende Formel hin- 
gestellt werden. Dabei sei es gestattet, den Ausdruck so zu wählen, daß 
er sich an das für zwei oder drei Dimensionen in meinem früheren Auf- 
satze in der Ebene und im Raume aufgestellte Bild anschließt. Wir denken 
uns also in der Ebene oder im Raume Maßverhältnisse gegeben, wie sie 
sich unter der Annahme konstanter Krümmung gestalten; die gerade Linie 
sei als kürzeste Linie zwischen zwei Punkten definiert. Wie bestimmt man 
diejenigen Koordinaten, in welchen die Gerade durch lineare Gleichungen 
ausgedrückt wird? Aus der projektivischen Geometrie ist bekannt, daß die 
bez. Koordinaten die relativen Werte gewisser Doppelverhältnisse vorstellen, 
und die Frage kommt also auf die folgende zurück: Welche Funktion der 
gegenseitigen Entfernungen von vier Punkten einer Geraden ist deren 
Doppelverhältnis ? 

Seien vier Punkte einer Geraden: x, y, 2, t gegeben. Auf der Geraden 
befinden sich gemäß der Cayleyschen Vorstellung zwei unendlich ferne 
Punkte 0, o’ und es ist die Entfernung etwa von x und y:: 


(z,y)=ec. log|z,y,o, o’], 





'%) Man kann aıesen Beweis sehr einfach stellen, worauf ich gelegentlich zurück- 
zukommen gedenke., 


328 Zur Grundlegung der Geometrie. 


wo c eine charakteristische Konstante?®) und [x, y, 0, 0’) das Doppelver- 
hältnıs von x, y zu 0, 0’ bedeutet. Hieraus: 
(zy) 

[2,9,0,0')=.6* 
Nun ist aber: 

[®; Y,0, o'] =1-— E2 0,%; o’]; 
ferner: 
2,0,2,0'1[9,0,8,0°) 
2,0,t,0'|[y,0,2,0’)‘ 


en Es 
.., | 


a ).(& 
€ —1 e 


c 





[2, 9,2, 81 | 
Also: 





\ 
ey 
und als diese Funktion der Entfernungen vier in gerader Linie befindlicher 
Punkte ist also das Doppelverhältnis zu definieren, — womit der Übergang 
zur projektivischen Geometrie vermittelt ist?!). Das heißt: hat man unter 
Voraussetzung konstanten Krümmungsmaßes irgendein Formelsystem, 
welches gestattet, die Entfernung zweier Punkte zu bestimmen, nennt dann 
die aus den Entfernungen von vier Punkten einer kürzesten Linie nach 
der vorstehenden Formel gebildete Funktion ein Doppelverhältnis, führt 
endlich eine auf derartige Doppelverhältnisse gegründete Koordinaten- 
bestimmung ein, so wird die Gleichung der kürzesten Linie linear, und die 
projektivische Behandlung kann beginnen. 


89. 


Besondere Betrachtung der reellen Elemente. Einführung idealer 
Elemente. 


Sei wieder in der Ebene, die uns die Mannigfaltigkeiten konstanter 
Krümmung überhaupt vertreten soll, eine auf einen Kegelschnitt gegrün- 
dete projektivische Maßbestimmung gegeben, so mögen wir zuerst eine 





1 
20\ _ . - 
) 108 ist das Krümmungsmaß. 


2?!) Man kann, da für vier in.gerader Linie liegende Punkte offenbar 


ww. 
€ 20 _ € 2cC 
“son 
€ 2c._ € 2c 

die Formel des Textes auch so schreiben: 


(2,2) re ; ( (v.®) u 


e°’‘_e 2c e —@ 


or 58) (%2 un) 
re de 


e?°o_e 2c 








XVIII. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (2. Aufsatz.) 329 


metrische Koordinatenbestimmung treffen, etwa indem wir den Punkt durch 
seine Abstände von zwei festen Geraden definieren, sodann eine zweite, 
projektivische Koordinatenbestimmung, nach Anleitung des vorigen Para- 
graphen. 

Ist das konstante Krümmungsmaß positiv, so werden den reellen 
Koordinatenwerten der einen Art immer reelle Koordinatenwerte der an- 
deren entsprechen, und zwar in der Weise, daß zu jedem Paare metrischer 
Koordinaten ein Paar projektivischer zugehört, umgekehrt aber zu jedem 
Paare projektivischer unendlich viele Paare metrischer, da der Abstand 
zweier Punkte eine reelle Periode hat, die man beliebig oft zufügen kann 
(vgl. $ 11 des ersten Aufsatzes). 


Ist dagegen das Krümmungsmaß negativ, so entsprechen reellen me- 
trischen Koordinaten immer auch reelle projektivische, nicht aber umgekehrt. 
Die Punkte nämlich, welche außerhalb des dann reellen Fundamental- 
Kegelschnittes liegen, bilden mit den Punkten innerhalb reelle Doppelver- 
hältnisse, haben aber von ihnen imaginäre Abstände. 

Unter rein analytischem Gesichtspunkte hat dieser Umstand durch- 
aus nichts Merkwürdiges; aber man kann die Frage etwas anders stellen, 
und dann verlangt sie eine besondere Erledigung, die denn hier gegeben 
werden soll, weil sie im folgenden Abschnitte benutzt wird. 

Gesetzt, man befände sich auf der Ebene von konstanter, negativer 
Krümmung und man könne sich auf derselben frei bewegen; wie wird man 
geometrisch die Punkte, welche reelle Doppelverhältnisse, aber imaginäre 
Abstände besitzen, definieren können? Oder in etwas anderer Form: Gibt 
es geometrische Eigenschaften des durch Bewegung zugänglichen Gebietes 
der Ebene, die man in übersichtlicher Weise ausdrückt, wenn man solche 
ideale Punkte — deren Zulässigkeit aus ihrer analytischen Definition er- 
hellt — adjungiert? 

Erinnern wir zum Zwecke der Beantwortung an die Art und Weise, 
wie in der gewöhnlichen (parabolischen) Geometrie die uneigentlichen Ele- 
mente, d. h. die unendlich fernen und die komplexen Elemente definiert 
werden. Der unendlich ferne Punkt ist nur der Repräsentant des durch 
ihn gehenden Parallelstrahlenbüschels: weil dieser Büschel alle wesent- 
lichen projektivischen Eigenschaften besitzt, die einem Büschel von Geraden 
zukommen, welche durch einen wirklichen Punkt gehen, ist die Ausdrucks- 
weise: „ein unendlich ferner Punkt‘‘ gestattet und brauchbar. Ganz ähn- 





und setzt man nun, wie bei der gewöhnlichen Winkelbestimmung (vgl. meinen früheren 


Aufsatz), c=\ . l so kommt die bekannte Formel: 





sin (x,z)-sin(y,£) 
sin (z,6)-sin (y,z) 





[x,9,2,8]= 


330 Zur Grundlegung der Geometrie. 


lich ist es mit den Ausdrucksweisen: unendlich ferne Gerade, komplexer 
Punkt, komplexe Gerade usw., wie ja hier wohl nicht weiter erörtert zu 
werden braucht. 

Durch einen Prozeß derselben Art kann man nun die in Rede stehen- 
den idealen Punkte, ideale Gerade usw. einführen. Durch den idealen 
Punkt geht ein Büschel wirklicher Geraden hindurch, allerdings kein ge- 
schlossenes, sondern ein begrenztes. Aber diesem Büschel kommen alle 
projektivischen Eigenschaften zu, welche einem begrenzten Teile eines 
wirklichen Büschels eigentümlich sind. Wenn man z.B. ein Vierseit kon- 
struiert, von welchem vier Ecken auf zwei festen Geraden des Büschels 
liegen, während sich die fünfte Ecke über eine dritte Gerade des Büschels 
bewegt, so findet mit der sechsten Ecke (falls diese überhaupt existiert, 
d. h. nicht schon in das ideale Gebiet fällt) dasselbe mit Bezug auf eine 
vierte Gerade des Büschels statt usw. Hier anknüpfend kann man rein 
geometrisch ideale Gerade, ideale Kurven usw. definieren, wobei nur Übung 
dazu gehört, um sich gerade so sicher in diesen idealen Gebilden wie in 
den gleichbenannten wirklichen Gebilden zurecht zu finden. 





Zweiter Abschnitt. 


Über die Möglichkeit, auch ohne Voraussetzung des Parallelenaxioms 
nach dem Vorgange v. Staudts die projektivische Geometrie 
aufzubauen. 


& 1, 
Formulierung des Problems. 


Der Aufbau der projektivischen Geometrie geschieht bei Staudt”??) wie 
bekannt, durch bloßes Betrachten des Ineinanderliegens von Ebenen, Ge- 
raden und Punkten. Es werden die verschiedenen Grundgebilde, mit denen 
die projektivische Geometrie operiert: die gerade Punktreihe, das Ebenen- 
büschel usw. aufgestellt; dieselben erscheinen vermöge ihres Ineinander- 
liegens aufeinander bezogen, und die Beziehung ist der Art, daß man 
ohne weiteres zu dem Begriffe der harmonischen Teilung, weiterhin des 
Doppelverhältnisses gelangt, womit alle Grundlagen zur Behandlung, 
namentlich auch zur analytischen??) Behandlung. der projektivischen Geo- 





22) Die Geometrie der Lage. 1847. Man vgl. auch Reyes Geometrie der Lage, 
in welcher die Staudtschen Betrachtungen in übersichtlicher Form reproduziert wird. 
23) Von analytischer Seite hat man die Staudtschen Untersuchungen nur zu 
wenig berücksichtigt, wozu die vielfach verbreitete Auffassung beigetragen haben mag, 


XVII. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (2. Aufsatz.) 331 


metrie gegeben sind. Bei allen diesen Entwicklungen wird von Maß- 
bestimmung nicht geredet, aber allerdings wird das Parallelenaxiom voraus- 
gesetzt, weil sonst z. B. zwischen einer geraden Punktreihe und einem 
Ebenenbüschel kein vollständiges Entsprechen stattzufinden brauchte, son- 
dern das Ebenenbüschel eine ganze Reihe von Ehenen enthalten könnte, 
welche der Punktreihe gar nicht begegnen. 


Nun hat sich aber ergeben, worüber man den voraufgehenden Ab- 
schnitt dieser Arbeit vergleichen mag, daß die projektivische Geometrie 
auch gilt, wenn man das Parallelenaxiom nicht zugibt, wenn man vielmehr 
den Raum als eine Punkt-Mannigfaltigkeit von konstantem nicht ver- 
schwindendem Krümmungsmaße betrachtet. Nimmt man das Krümmungs- 
maß positiv — die Annahme der elliptischen Geometrie — so gilt die 
projektivische Geometrie unbeschränkt, während in der gewöhnlichen para- 
bolischen Geometrie, die eine verschwindende Krümmung voraussetzt, zur 
vollen Geltung der projektivischen Beziehung die Adjunktion uneigent- 
licher Elemente, der unendlich fernen, notwendig wird. Ist das Krümmungs- 
maß negativ, so müssen außer den unendlich fernen Elementen noch 
weitere „ideale‘“ Elemente adjungiert werden, die aber, nach dem letzten 
Paragraphen des vorigen Abschnittes dieser Arbeit, eine vollkommen be- 
stimmte rein geometrische Bedeutung haben, so gut wie die unendlich 
fernen Elemente der parabolischen Geometrie. 


Ist in dem durch diese Bemerkungen beschränkten Sinne die pro- 
jektivische Geometrie unabhängig von dem Parallelenaxiome gültig, so muß 
es möglich sein, dieselbe ohne vorherige Entscheidung über dieses Axiom 
aufzubauen; und wenn bei v. Staudt das Axiom mit in die Prämissen 
aufgenommen wird, so kann dasselbe nur eine beiläufige, keine wesentliche 
Rolle spielen. Immerhin wäre es möglich, daß der durch Staudt ein- 
geschlagene Gang das Axiom wesentlich benutzte, aber es müßte sich dann 
der Gang so abändern lassen, daß das nicht mehr geschieht. Im nach- 
folgenden soll nun gezeigt werden, daß man bei Nichtannahme des 





als sei die synthetische Form, nicht die projektivische Auffassungsweise das Wesent- 
liche an der Staudtschen Geometrie. — 

Die Betrachtungen von Staudts haben eine Lücke, welche nur durch ein bez. 
Axiom zu überbrücken scheint, wie dies im Texte noch weiter auseinander gesetzt 
werden soll. Dieselbe Lücke findet sich bei der Ausdehnung der Staudtschen 
Methode, wie sie hier beabsichtigt wird, an der entsprechenden Stelle wieder; sie be- 
treffen aber nicht die Ausdehnung, sondern das zugrunde liegende Original. Geht 
man, wie im Texte zum Schlusse geschehen soll, von der rein räumlichen Auffassung 
ab und sucht den analytischen Inhalt der Staudtschen Betrachtungen, so ver- 
schwinden die Schwierigkeiten, und man kann dieselben hierdurch in der Forderung 
zusammenfassen: daß man den Punktraum unter dem Bilde einer dreifach ausgedehnten 
Zahlenmannigfaltigkeit soll auffassen können, eine Voraussetzung, die allen unseren 
räumlichen Spekulationen auch sonst zugrunde liegt. 


— 


332 Zur Grundlegung der Geometrie. 


Parallelenaxioms den von Staudt eingehaltenen Gang nicht wesentlich 
zu modifizieren braucht, eine Behauptung, die durch die vorhergehenden 
Auseinandersetzungen so wahrscheinlich gemacht wird, daß ich eine 
ausgeführte Begründung derselben für kaum nötig erachten würde, hätten 
sich nicht gerade dieser Behauptung gegenüber, die ich in meinem früheren 
Aufsatze aussprach ($ 17), von verschiedenen Seiten her Zweifel geltend 
gemacht. | | 

Ein Aufbau der projektivischen Geometrie vor Entscheidung über das 
Parallelenaxiom ist aber deshalb für die theoretische Spekulation von 
Wert, weil man dann beim Raume in ähnlicher Weise die Maßbestimmung, 
einführen könnte, wie dies in $ 7 des vorhergehenden Abschnittes für 
Zahlenmannigfaltigkeiten geschah: man würde den Raum zunächst als 
eine projektivische Mannigfaltigkeit, sodann erst als eine Mannigfaltigkeit 
von konstanter Krümmung bezeichnen, und endlich durch Einführung des 
Parallelenaxioms den Wert des Krümmungsmaßes auf Null festsetzen. 
Man vergleiche hierzu den letzten Paragraphen ($ 18) meines früheren 
Aufsatzes, wo ich diese Art, die Axiome der Geometrie einzuführen, 
etwas näher auseinandersetze; eine ausführlichere Darlegung werde ich 
vielleicht bei einer anderen Gelegenheit geben können. Ich will übrigens 
ausdrücklich bemerken, um Mißverständnissen vorzubeugen, daß dieser 
theoretisch mögliche Weg nach meiner Meinung durchaus nicht theo- 
retisch notwendig ist, daß er unter vielen möglichen Wegen eben nur 
einen konstituiert. 

Um mich zu überzeugen, daß Staudts Betrachtungen das Parallelen- 
axiom nicht wesentlich benutzen, wie ich vermutete, und zugleich, um 
allen Beschränkungen, die aus der Nicht-Annahme des Parallelenaxioms 
hervorgehen können (wie z. B. in der hyperbolischen Geometrie), aus dem 
Wege zu gehen, stellte ich mir die Frage, ob man nicht alles, was Staudt 
braucht, leisten kann, wenn man sich bei den erforderlichen Konstruktionen 
das Gesetz auferlegt, nicht aus einem gegebenen begrenzten Raume hinaus- 
zutreten. Man denke sich also innerhalb eines begrenzten Raumes die 
Punkte, Geraden und Ebenen in ihrer gegenseitigen Lagenbeziehung ge- 
geben. Ob außerhalb des gegebenen Raumstückes diese Gebilde überhaupt 
noch vorhanden sind, bleibe dahingestellt; um so mehr, welche Beziehungen 
sie eventuell zueinander haben. Wird es dann noch möglich sein, im An- 
schlusse an von Staudts Betrachtungsweisen innerhalb dieses Raumes die 
Geltung der projektivischen Beziehungen zu erschließen? 

In dieser Form, die ich bereits in $ 17 meiner vorigen Arbeit be- 
zeichnete, soll im folgenden die Frage über die Unabhängigkeit der pro- 
jektivischen Betrachtung von der Parallelentheorie untersucht werden. 


XVIII. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (2. Aufsatz.) 333 


8 2. 
Erweiterung des Problems. Aufstellung eines allgemeinen der Analysis 
situs angehörigen Satzes. 


Das im vorigen Paragraphen aufgestellte Problem mag vorerst noch 
verallgemeinert werden. Der Ausgangspunkt der Staudtschen Betrach- 
tung ist die Voraussetzung der Ebenen und Geraden, aber von deren 
Eigenschaften kommen, sofern man von dem hinzutretenden Parallelen- 
axiome absieht, wesentlich nur in Betracht, daß durch drei beliebig an- 
genommene Punkte eine und nur eine Ebene geht, und daß durch zwei 
Punkte ein Ebenenbüschel geht, dessen Ebenen alle dieselbe Durchschnitts- 
gerade besitzen. Ist dem so, so wird man, die Richtigkeit der im vorigen 
Paragraphen vorgetragenen Behauptung zugegeben, die Staudtschen Über- 
legungen auf jedes System von Flächen und Kurven übertragen können, 
welches, schlechthin ausgesprochen, dieselben Lagenbeziehungen in einem 
gegebenen begrenzten Raume besitzt; mit anderen Worten, man wird den 
folgenden Satz aufstellen können: 

„In einem begrenzten Raume sei eine unendliche Zahl überall stetig 
gekrümmter, nur durch die Begrenzung des Raumes geendigter Flächen ge- 
geben, welche die folgende Gruppierung besitzen: 

1. Durch drei beliebig angenommene Punkte des gegebenen Raumes 
geht eine und nur eine Fläche des Systems hindurch. 

2. Die Durchschnittskurve, welche zwei Flächen des Systems gemein 
haben können, gehört allen Flächen an, die zwei Punkte der Kurve enthalten.“ 


„Für ein solches System von Flächen und Kurven gilt die projek- 
tivische Geometrie in demselben Sinne wie gemäß den gewöhnlichen Vor- 
stellungen für das System der Ebenen und Geraden in einem beliebig be- 
grenzten Raume. Anders ausgesprochen: Man wird den Punkten des 
gegebenen Raumes in der Art Zahlen zuordnen (Koordinaten erteilen) 


können, daß die Flächen des Systems durch lineare Gleichungen dar- 
gestellt werden.“ 


Die hiermit formulierte Behauptung muß, falls sie richtig ist, vor 
allen Definitionen von Ebene, Gerade usw. bewiesen werden können, denn 
sie benutzt nur die Begriffe der stetig gekrümmten Fläche, der kontinuier- 
lich verlaufenden Kurve, die den Begriffen von Ebene und Gerade voraus- 
gehen. Bei dem Beweise, wie er in den nächsten Paragraphen vorgetragen 
werden soll, sind dann auch die Ebenen und Geraden des Raumes nicht 
vorausgesetzt. 

Daß es überhaupt Flächensysteme der hier gemeinten Art gibt, zeigt 
das Beispiel der Ebenen der gewöhnlichen Geometrie. Unbegrenzt viele 
solcher Flächensysteme erzeugt man, indem man sich die Ebenen in einem 


334 Zur Grundlegung der Geometrie. 


beliebig begrenzten Raume konstruiert denkt, und dann das Raumstück 
einer durch stetige Prozesse herbeiführbaren Deformation unterwirft. Und 
die vorgetragene Behauptung kann geradezu dahin ausgesprochen werden: 
daß jedes den Voraussetzungen des Satzes entsprechende Flächensystem 
aus dem Systeme der Ebenen in dieser Weise erzeugt werden kann. 

Was diesen Satz sehr merkwürdig macht, ist, daß ein analoger Satz, 
den man für die Ebene formulieren möchte, nicht existiert. Ist nämlich 
in einem begrenzten Teile der Ebene ein Kurvensystem von der Eigen- 
schaft gegeben, daß durch je zwei Punkte eine und nur eine Kurve hin- 
durchgeht, so bedarf es noch weiterer Bedingungen, ehe die Kurven durch 
lineare Gleichungen zwischen Punktkoordinaten dargestellt werden können. 
Diesen negativen Satz mag man aus einem Theoreme Beltramis ableiten. 
Ein Kurvensystem der gemeinten Art erhält man nämlich z. B., wenn man auf 
einer begrenzten [nicht zu ausgedehnten] einfach zusammenhängenden Fläche 
die geodätischen Kurven zieht und dann die Fläche auf einen Teil der Ebene 
beliebig ausbreitet. Aber Beltrami zeigt”‘), daß nur den Flächen von 
konstantem Krümmungsmaße die Eigenschaft zukommt, sich so auf die 
Ebene übertragen zu lassen, daß sich alle geodätischen Kurven mit ge- 
raden Linien decken. Man darf es daher auch nicht, wie seither wohl 
geschehen, als einen Kunstgriff v. Staudts auffassen, wenn er behufs 
Begründung der projektivischen Geometrie auch der Ebene die stereo- 
metrischen Verhältnisse in Betracht zog; es entspricht sein Ausgangspunkt 
durchaus dem Wesen der Sache: es gilt für die geraden Linien der Ebene, 
falls man im Anschluß an Staudt die Betrachtung der Maßverhältnisse 
ausschließt, nur deshalb die projektivische Geometrie, weil Ebene und 
Gerade als Glieder eines räumlichen Systems aufgefaßt werden können. 

Ich werde nun den aufgestellten Satz unter engstem Anschluß an die 
Staudtschen Betrachtungen rein geometrisch erweisen, wobei, wie bereits 
angedeutet, an einer Stelle ($ 5) eine Schwierigkeit auftritt, die sich auch 
bei Staudt findet und die nur aurch ein Axiom zu beseitigen zu sein scheint: 
durch das Axiom, daß man einen Punkt, der durch einen konvergenten 
unendlichen Prozeß erzeugt werden soll, als wirklich existierend annehmen 
darf. Sodann gebe ich in den letzten Paragrapben einen analytischen Beweis des 
in Rede stehenden Satzes, der diese Lücke nicht mehr hat, insofern bei ihm 
der Raum als von vornherein unter dem Bilde einer Zahlenmannigfaltigkeit 
gegeben erscheint. Dieser analytische Beweis deckt zugleich den Grund auf, 
weshalb der Satz für den Raum, das Gebilde von drei Dimensionen, gilt, 
nicht aber mehr für die Ebene, das Gebilde von zwei Dimensionen. 

Der Einfachheit wegen denke ich im folgenden den Raum, in welchem 





24) In den Annali di Matematica. Serie I, Bd. 7 (1866), S. 185, Werke, Bd. 1, 
Ss. 262— 280. 


XVIII. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (2. Aufsatz.) 335 


die Flächen gegeben sind, sowie die Flächen selbst als einfach zusammen- 
hängend; die Fälle, in denen ein mehrfacher Zusammenhang stattfindet, 
können auf diese Annahme zurückgeführt werden, indem man aus dem 
gegebenen Raume zunächst ein einfach zusammenhängendes Stück aus- 
schneidet, innerhalb dessen die gegebenen Flächen einfach zusammen- 
hängend sind. 

8 3. 


Die Grundgebilde. Beziehung derselben aufeinander. 


Das vorhin eingeführte Flächensystem heiße das System der Flächen F. 
Die Durchschnittskurve zweier F, falls eine solche existiert, heiße K. 

Aus den Punkten des gegebenen Raumes, den Kurven X und den 
Flächen F setzen sich eine Reihe von Grundgebilden zusammen. Grund- 
gebilde erster Stufe gibt es drei: die Kurve X, als Ort für Punkte auf- 
gefaßt; das Büschel der Kurven K, welche innerhalb einer F durch einen 
Punkt gehen; das Büschel der F, welche eine K enthalten. Man hat 
ferner vier Grundgebilde zweiter Stufe: die F, aufgefaßt als Punktgebilde 
oder als Aggregat von Kurven X, und die Gesamtheit der F, wie die Ge- 
samtheit der X, die durch einen Punkt gehen: Alles, wie in der gewöhn- 
lichen projektivischen Geometrie. 

Aber ein Unterschied tritt hinzu wegen der Begrenztheit des gegebenen 
Raumes. Unter: den Grundgebilden finden sich begrenzte und unbegrenzte. 
Begrenzt ist z. B. die Reihe der auf einer K befindlichen Punkte, un- 
begrenzt das Büschel von F, die durch eine K hindurchgehen. 

Zwei Grundgebilde heißen aufeinander bezogen, wenn das eine ein 
Schnitt des anderen ist, oder wenn beide auf ein anderes als Schnitte 
bezogen sind. Es heißt z. B. das Bündel der durch einen Punkt gehen- 
den K auf eine F als Punktgebilde bezogen, wenn man jedem Punkte 
der F diejenige K zuordnet, welche durch ihn hindurchgeht usw. Diese 
Beziehung ist außerdem, was man unvollständig nennen mag, insofern 
allerdings zu jedem Punkte der F eine K des Bündels gehört, nicht aber 
umgekehrt. Unmittelbar vollständig aufeinander bezogen sind nur das 
Büschel der durch eine K gehenden F und das Büschel der durch einen 
Punkt gehenden X, die in einer durch den Punkt hindurchgehenden, die 
feste K nicht enthaltenden, F verlaufen. 


S 4. 
Definition harmonischer Elemente. 


Zu drei Elementen A, B, © eines unbegrenzten Grundgebildes erster 
Stufe kann man vermöge einer Konstruktion, die der in der gewöhnlichen 
projektivischen Geometrie angewandten Vierseits-Konstruktion analog ist, 


336 Zur Grundlegung der Geometrie. 


ein bestimmtes viertes Element D konstruieren, welches das wierte har- 
monische zu A, B, © genannt werden soll. 

Um sich hiervon zu überzeugen, wollen wir den folgenden beschränk- 
teren Satz für die Punktreihe K beweisen, deren Anschauung uns ge- 
läufiger ist als die Anschauung der unbegrenzten Grundgebilde erster Stufe: 

Sind A, B,C Punkte einer K, welche in der alphabetischen Reihen- 
folge einander auf der K folgen, so führt die Vierseitskonstruktion zu einem 
bestimmten vierten Elemente D, welches zu A, B, © harmonisch heißt. Die 
Reihenfolge von A, B,C muß hier deswegen besonders festgesetzt werden, 
weil sonst der gesuchte Punkt D gelegentlich über die Begrenzung des ge- 
gebenen Raumes hinausfallen, d. h. gar nicht vorhanden sein könnte. Zum 
Zwecke des für unbegrenzte Grundgebilde aufgestellten Satzes genügt es aber 
auch, den nun vorliegenden Satz mit seiner Beschränkung zu beweisen; denn 
man überzeugt sich leicht: Wenn A, B,C drei Elemente eines F-Büschels 
sind, so kann man eine K immer so legen, daß die Schnittpunkte mit A, B,C 
beliebige Reihenfolge haben. Wenn drei Elemente A, B, © eines K -Büschels 
gegeben, so würde man dasselbe zunächst auf ein F-Büschel beziehen und 
dann dieses durch eine K in gehöriger Weise schneiden. 

Den nun mit Bezug auf die Punktreihe X autgestellten Satz beweist 
man genau im Anschlusse an das gewöhnliche Verfahren der Geometrie der 
Lage. Es darf an dasselbe hier kurz erinnert werder: 

Sind A, B, C Punkte einer Geraden, so lege man durch A eine neue 
Gerade. Durch zwei Punkte ß, y derselben und B und C lege man die 
beiden Geradenpaare $B, yC und C', yB, welche bezüglich die beiden 
Schnittpunkte « und ö besitzen. Dann schneidet die Verbindungsgerade 
«ö die ursprünglich gegebene Gerade in einem festen Punkte D, dem so- 
genannten vierten harmonischen Punkte zu A, B,C. 

Der Beweis, daß der Punkt D von den bei der Konstruktion will- 
kürlichen Elementen unabhängig ist, ist folgender. Konstruiert man aus 
A,B,C in einer anderen durch die gegebene Gerade hindurchgelegten 
Ebene ein neues Viereck «’, ß’,y’,ö', so werden die Verbindungsgeraden 
ac’, Bß',yy’, 6° sich in einem Punkte treffen; die beiden Vierecke müssen 
deshalb Schnitte des nämlichen Vierkants sein; es muß daher auch der 
Punkt D in beiden übereinstimmen. Wäre das zweite Viereck in derselben 
durch die gegebene Gerade hindurchgelegten Ebene konstruiert, wie das 
erste, so übertrage man es durch Projektion auf eine zweite durch die 
gegebene Gerade gehende Ebene??) und man hat den vorigen Fall. 





25) Statt dessen wird gelegentlich gesagt: so drehe man des Viereck samt seiner 
Ebene um die gegebene Gerade in eine neue Lage; aber diese Operation würde man 
bei dem Systeme der K und F nicht wiederholen können, da zunächst noch nicht 
bekannt ist (was allerdings später erschlossen wird. $ 7), daß dieses System Trans- 
formationen in sich selbst zuläßt. 


XVIII. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (2. Aufsatz.) 337 


Genau dieselben Betrachtungen können nun angestellt werden, wenn 
statt des Systems der Geraden und Ebenen das System der X und F ge- 
geben ist. Die Annahme über die Reihenfolge von A, B,C sichert die 
Möglichkeit, trotz der Begrenzung unseres Raumes, die nötige Konstruktion 


ausführen zu können. Hat man dann zwei Vierecke «, ß, y‚,öund«',ß'» 
y',ö' in verschiedenen durch K hindurchgehenden F', so ziehe man die K ««', 


Bß; vY, 66°. Dann folgt ohne weiteres: Schneiden sich zwei dieser K 
in einem Punkte, so gehen auch die anderen durch denselben. Aber der 
Schnittpunkt kann gelegentlich über den gegebenen begrenzten Raum 
hinausfallen, d. h. gar nicht vorhanden sein. In dem Falle wird man eins 
der beiden Vierecke durch Projektion auf eine neue durch K gehende F 
übertragen, und mit diesem Verfahren so lange fortfahren, bis die Ver- 
bindungskurven K der Ecken des ursprünglichen und des neu konstruierten 
Vierecks sich treffen. Es ist das ein Prozeß, der immer zu leisten ist, 
wie man sich sofort überzeugt, sowie man zwei Vierecke in den bewußten 
Lagenverhältnissen gezeichnet denkt. Eine ausgeführte Diskussion würde 
nur mit dem Begriffe des Größer oder Kleiner, nicht aber mit einem 
Maße eines solchen Unterschiedes zu tun haben. Von zwei Strecken AB, 
AC einer K heißt AB kleiner als AC', sofern man, um von A nach C 
zu gelangen, B überschreiten muß. 

Man beweist ferner, daß vier harmonischen Elementen eines Grund- 
gebildes bei einer vollständigen Beziehung wieder vier harmonische Elemente 
entsprechen. Bei einer unvollständigen Beziehung ist das Entsprechende 
wahr, sofern den vier Elementen des einen Gebildes wirklich vier Elemente 
des anderen zugeordnet sind. 


8 5. 
Projektivische Beziehungen. 


Zwei Grundgebilde heißen aufeinander projektivisch bezogen, wenn je 
vier harmonischen Elementen des einen, sofern überhaupt vier entsprechende 
Elemente im anderen Gebilde vorhanden sind, vier harmonische Elemente 
des letzteren entsprechen. 

Aus dieser Definition schließt man nun nach Staudt, daß das pro- 
jektivische Entsprechen zwischen zwei Grundgebilden erster Stufe durch 
drei einander entsprechende Elemente A, B, C und A’,B’, C’ festgelegt 
ist”®). Da dieser Schluß, wie bereits angedeutet wurde, in seinem Beweise 
eine Lücke hat, die nur durch ein Axiom zu überbrücken scheint, so möge 
es gestattet sein, hier etwas ausführlicher bei demselben zu verweilen. 





*) Geometrie der Lage. S.50. Vgl. S. 44 des Reyeschen Buches. 
Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. TI. 22 


338 7ur Grundlegung der Geometrie. 


Die bez. Auseinandersetzungen und Forderungen gelten gleichmäßig für 
das System der Ebenen und Geraden, wie für das System der F und K. 


Staudts Schlußweise ist etwa die folgende. Entsprechen einander 
A,B,C und A B',C’ so auch D und D’ die bez. vierten harmonischen 
Punkte zu A,B,C und A ,B', C'; ferner E und E’, die vierten harmo- 
nischen Punkte zu irgend drei der vier Punkte 4A, B,C,D bez. A’,B'; 
C',D’, usw. usw. _ Die Art der Zuordnung ist hiernach durch die Zuord- 


nung der drei Elemente A, B, C' und ae vollständig gegeben, so-- 
wie man zeigen kann, daß man zu jedem Punkte einer Geraden hin- 
gelangen kann, indem man zu drei gegebenen Punkten den vierten har- 
monischen aufsucht, zu irgend drei der so bestimmten vier Punkte wieder 
den vierten harmonischen usw. Es kann diese Behauptung nur den Sinn 
haben, daß man jedem Punkte der Geraden durch die wiederholte Kon- 
struktion des vierten harmonischen Punktes beliebig nahe kommen kann, 
d. h. daß man immer einen entsprechenden Punkt finden kann, der 
zwischen dem zu bestimmenden Punkte und einem beliebig von ihm ver- 
schieden angenommenen inne liegt. Staudt beweist dies, indem er die 
Absurdität der Annahme zeigt, ein gewisser Punkt sei der letzte, über den 
die Konstruktion nicht mehr hinausführe. Aber die Annahme, daß es 
‚einen letzten durch die Konstruktion erreichbaren Punkt gebe, ist noch 
willkürlich. Es wäre denkbar, daß der fortgesetzte Prozeß der Aufsuchung 
des vierten harmonischen Punktes über eine bestimmte Grenze nicht hinaus- 
führte, ohne doch eine letzte Lage für den Punkt zu erreichen. Über 
diese Möglichkeit hilft, soviel ich sehe, nur das Axiom hinweg, daß es ge- 
stattet sein soll, den Grenzpunkt, auch wenn er in dieser Weise durch 
einen unendlichen Prozeß definiert ist, als fertig vorhanden aufzufassen. 
Bei dieser Annahme tritt der Staudtsche Beweis wieder in Kraft und 
zeigt die Unmöglichkeit der Existenz von Grenzpunkten’”). 


Dieselben Erwägungen, die hier für die Gerade vorgetragen worden 
sind, übertragen sich auf die Grundgebilde erster Dimension aus dem 
Systeme der K und F, wobei man zunächst auf die unbegrenzten Grund- 
gebilde achten wird. Auch bei ihnen wird man ein dem vorhergehenden 
analoges Axiom hinzuzufügen haben, was dann als eine Forderung auf- 
gefaßt werden. kann, der das System der K und F genügen soll. Diese 
Forderung ist mit den dem Systeme sonst auferlegten verträglich — das 
zeigt das Beispiel der gewöhnlichen Geraden und Ebenen —, ob sie aus 
den früheren zum Teile folgt, bleibe dahingestellt. Die Definition der 
projektivischen Beziehung, die so für unbegrenzte Grundgebilde erster Stufe 





%7) [Näheres hierüber findet man in folgender Abhandlung XIX.] 


XVIII. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (2. Aufsatz.) 339 


aufgestellt ist, überträgt sich ohne weiteres auf begrenzte, indem man be- 
grenzte Gebilde projektivisch sein läßt, wenn sie Schnitte projektivischer 
unbegrenzter Gebilde sind. 


8 6. 


Die Geometrie im Grundgebilde zweiter Stufe und im Raume. 


Die aufgestellten Prinzipien genügen, um für die unbegrenzten Grund- 
gebilde zweiter Stufe, d. h. für das Bündel der durch einen Punkt gehen- 
den K und das Bündel der durch einen Punkt gehenden F die projek- 
tivische Geometrie aufzubauen. Man vergleiche hierzu nur etwa die Par- 
tien des Reyeschen Buches (S. 45 fl.), in denen für die als unbegrenztes 
Grundgebilde gedachte Ebene das Entsprechende durchgeführt wird. Es 
ist dies wohl der einzige Gedanke, der bei den hier vorgetragenen Dingen 
nicht ohne weiteres gegeben war, nämlich der Gedanke, darauf zu achten, 
daß, auch wenn der Punktraum, der gegeben ist, begrenzt ist, darum doch 
noch unbegrenzte Grundgebilde erster und zweiter Stufe vorhanden sind, 
und daß man für sie die Betrachtungen durchführen kann, die man sonst 
in bezug auf die unbegrenzt angenommene Ebene anstellt. 

Namentlich wird man für die unbegrenzten Grundgebilde zweiter 
Stufe nun auch das Gesetz der Dualität entwickeln können, welches jetzt 
dahin auszusprechen ist, daß man in allen Sätzen, die sich auf K und F 
beziehen, welche durch einen Punkt gehen, statt K und F auch F und K 
setzen kann. 

Durch Übertragung vom unbegrenzten Grundgebilde zweiter Stufe, 
dem Punkte (als Bündel von K und F gedacht), gewinnt man die Geo- 
metrie auf dem begrenzten Grundgebilde zweiter Stufe der (als Punkt- 
aggregat oder als Ort für Kurven K gedachten) F. Aber die projek- 
tivischen Beziehungen und die dualistischen gelten auf der F nur dann 
uneingeschränkt, wenn man der F ideale Punkte und Kurven K adjungiert, 
entsprechend denjenigen Kurven K und Flächen F des angenommenen 
Bündels, von dem aus man die projektivisch dualistischen Beziehungen 
auf die F überträgt, welche die F nicht treffen. Es ist ersichtlich, wie 
diese idealen Elemente der F, die ihrem Wesen nach durchaus mit den 
idealen Elementen übereinstimmen, von denen im letzten Paragraphen des 
vorigen Abschnittes die Rede war. unabhängig sind von dem Bündel, von 
dem man gerade ausging. Der Grund liegt darin, daß nach Voraussetzung 
die F von allen anderen F in denselben K, d. h. von jedem Bündel von 
F in demselben Kurvensystem K geschnitten wird. Der ideale Punkt 
der gegebenen F z. B. ist zunächst definiert durch eine irgend einem 
Bündel angehörige Kurve K, welche die F nicht trifft. Aber durch die 


K geht ein Büschel von F und ein begrenzter Teil des Büschels begegnet 
| Sr 


340 Zur Grundlegung der Geometrie. 


der gegebenen F. Auf der letzteren erhalten wir also eine Schar von 
Kurven K, welche dieselben Eigenschaften haben, besonders hinsichtlich 
der Konstruktion des vierten harmonischen Elementes, wie ein begrenzter 
Teil eines durch einen Punkt gehenden Büschels von Kurven K. Legt 
man jetzt durch irgendeinen Punkt und diese Kurven X die bezüglichen 
F, so werden diese sich nach einer K schneiden. Der ideale Punkt, den 
das erst angenommene Bündel lieferte, stimmt also mit dem idealen 
Punkte, den ein beliebiges anderes Bündel ergibt, überein. 


Es ist hiernach auch ersichtlich, wie der ideale Punkt der gegebenen 
F, der hierdurch definiert ist, nicht bloß als dieser F angehörig, sondern 
als idealer Raumpunkt gedacht werden muß. Damit ist dann alles 
Material gegeben, um die projektivische Geometrie auch des Raumes zu 
entwickeln, und es ist der Beweis des oben aufgestellten Hauptsatzes: 


daß für das bez. Flächen- und Kurvensystem die projektivische 
Geometrie gelt 
geleistet. 


8 7. 
Einführung der Doppelverhältnisse und homogenen Koordinaten. 


In diesem Paragraphen mag noch kurz angegeben werden, wie man 
an den bisher auseinandergesetzten synthetischen Aufbau der projektivischen 
Geometrie die analytische Behandlung derselben zu knüpfen hat. Es ent- 
hält dieser Paragraph also nichts mehr, was sich spezifisch auf das System 
der K und F bezieht; und er soll hier nur eine Stelle finden, weil die 
betreffenden Überlegungen, die man wesentlich alle den Staudtschen 
Beiträgen zur Geometrie der Lage entnehmen kann, nur zu wenig bekannt 
zu sein scheinen. 

Die Definition der Projektivität zweier Grundgebilde erster Stufe er- 
gibt, daß zwischen je vier Elementen eines solchen Gebildes eine konstante 
Beziehung obwaltet. Drei Elemente sind noch voneinander unabhängig; 
die Beziehung zwischen vier Elementen kann man daher unter dem Bilde 
einer reellen Zahl auffassen”®). Man bezeichne drei Elemente A, B, Cals 
Grundelemente des Gebildes, auf die übrigen Elemente D des unbegrenzt 
gedachten Gebildes verteile man nach einem willkürlichen Gesetze die 
reellen Zahlen von — oobis-+ oo, so ist jeder Kombination ABCD eine 
Zahl zugeordnet, welche sie charakterisiert; man hat einen Maßstab, um 
die Beziehung ABCD zu messen. Hat man bei einem Grundgebilde 
erster Stufe diese Bestimmung getroffen, so überträgt sie sich durch Pro- 
jektion auf alle anderen. 





28) Hier kehrt unter einer etwas anderen Form das Axiom des $ 5 wieder. 


XVII. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (2. Aufsatz.) 341 


Man wird darnach streben, diese willkürliche Skala durch eine ge- 
setzmäßig erzeugte zu ersetzen, und dies hat Staudt in den Paragraphen 
19, 20 seiner Beiträge zur Geometrie der Lage geleistet. Er ordnet dort 
den Beziehungen ABCD, oder, wie er sagt, den Würfen ABCD die- 
selben Zahlen zu, welche man ihnen in der auf metrischen Definitionen 
fußenden gewöhnlichen Behandlungsweise beilegt, wo sie als Doppelverhält- 
nisse aufgefaßt werden”). Es genügt zu diesem Zwecke, die Würfe ABCA, 
ABCB, ABCC bez. durch 0, 1, oo zu bezeichnen und dann eine Operation 
anzugeben, vermöge deren man zwei Würfe ABC D und ABCD’ addiert. 
Dabei wird der harmonische Wurf gleich — 1, und es finden Relationen 


statt, wie 
(ABCD)-(ADBC) = 1 usw. 

Von den Doppelverhältnissen steige man zu den homogenen Koordinaten 
auf, die nichts sind als die relativen Werte gewisser Doppelverhältnisse. 
Es handelt sich dann besonders darum, einzusehen, daß durch eine lineare 
Gleichung zwischen den homogenen Koordinaten in der Ebene eine Gerade, 
im Raume eine Ebene dargestellt wird. Diese Aufgabe hat Fiedler 
neuerdings in sehr einfacher und übersichtlicher Weise erledigt, indem er 
von vornherein neben den homogenen Punktkoordinaten auch die homo- 
genen Linienkoordinaten, bez. Ebenenkoordinaten einführte®®). Die lineo- 
lineare Gleichung zwischen den Koordinaten vereinigt gelegener Punkte und 
Geraden (Ebenen) ist nur der Ausdruck für gewisse Beziehungen, die 
zwischen den in der Figur (die durch Hinzufügen eines Koordinaten- 
Dreiecks bez. -Tetraeders entsteht) auftretenden Doppelverhältnissen 
stattfinden ®*). 

Die hiermit angedeuteten Überlegungen kann man alle, statt für das 
System der Geraden und Ebenen, für das System der K und F entwickeln, 
da für das letztere ebenso die projektivische Geometrie gilt. Und damit 
ist also die zweite Form erwiesen, welche wir in $2 unserem Satze er- 
teilt hatten, die wir noch einmal wiederholen: 

Man kann den Punkten des ursprünglich gegebenen begrenzten 
Raumes in der Weise Zahlen zuordnen, daß die Flächen F (die Kurven 
K) durch lineare Gleichungen dargestellt werden. 





2) Dasselbe kann man durch die von Möbius in seinem baryzentrischen Kalkul 
vorgetragene Theorie der geometrischen Netze erreichen. 

0) Vierteljahrsschrift der naturforschenden Gesellschaft in Zürich. XV, 2. (1871). 
— Die darstellende Geometrie. Leipzig. 1871. — Bei Fiedler sind die Würfe als 
Doppelverhältnisse definiert, es ist das aber für seine weiteren Auseinandersetzungen 
ohne prinzipielle Bedeutung, da er nur solche Relationen zwischen Würfen benutzt, 
. welche man, nach der im Texte gemachten Andeutung, auch bei Staudt begründet 
findet. 

1) Vgl. hierzu auch Hamiltons Elements of Quaternious. $. 24—32. 


342 Zur Grundlegung der Geometrie. 


Als Folgerungen, die sich von selbst aufdrängen, seien erwähnt, daß 
man nun in bezug auf die Flächen F von algebraischen Gebilden, von 


imaginären Elementen, von kollinearen und dualistischen Transformationen 
reden kann. 


88. 
Analytischer Beweis des Hauptsatzes. 


Es wurde bereits darauf hingewiesen, wie sich der in $ 2 aufgestellte 
Hauptsatz viel einfacher und ohne Zuhilfenahme besonderer Axiome be- 
weisen läßt, wenn man die Voraussetzune macht, daß es gestattet sei, den 
Punktraum unter dem Bilde einer dreifach ausgedehnten Zahlenmannig- 
Jaltigkeit aufzufassen. Ein an diese Voraussetzung anknüpfender Beweis 
enthält die Erweiterung unseres Satzes auf Zahlenmannigfaltigkeiten von 
beliebig vielen Dimensionen in sich; zugleich läßt er übersehen, warum 
für zwei Dimensionen, wie in $2 hervorgehoben wurde, ein entsprechen- 
der Satz noch nicht gilt. | 

Den Vorteil, den man durch die Annahme, man könne den Punkt- 
raum als eine Zahlenmannigfaltigkeit auffassen, in den Beweis des Satzes 
einführt, ist der, daß man nun über den Begriff des Unendlich-Kleinen 
verfügt. Für die Fortschreitungsrichtungen von einem Punkte aus gilt bei 
beliebiger Koordinatenbestimmung die projektivische Geometrie in dem- 
selben Sinne, wie für die Geraden eines Strahlenbündels®®). Hat man aber 
ein System von Flächen F und Kurven K, wie es in dem Satze des $ 2 
vorausgesetzt wird, so bezeichnet jede der von einem Punkte aus mög- 
lichen Fortschreitungsrichtungen eine der durch den Punkt hindurchgehen- 
den K. Für das Bündel der durch einen Punkt gehenden K, und, ver- 
möge dualistischer Übertragung, das Bündel der durch einen Punkt 
gehenden F gilt also ohne weiteres die projektivische Geometrie. Wir 
haben also von vornherein den Standpunkt gewonnen, der sich bei der 
rein geometrischen Untersuchung erst in $ 6 ergab, noch mehr: es ist auch 
von vornherein wenigstens für das Bündel von X und F die projektivische 
Koordinatenbestimmung gegeben, die bei rein geometrischer Betrachtung 
erst durch besondere Operationen in $ 7 entworfen werden mußte. 

Von der Geometrie im Bündel von F oder K steigt man ähnlich, wie 
in $6 geschildert wurde, zur Geometrie auf den F und zur Geometrie im 
Raume auf. Durch eine beliebige F, — sie heiße F' — werden je zwei 
Bündel von F aufeinander projektivisch bezogen. Denn die Bündel schnei- 
den die F’ laut Voraussetzung in dem nämlichen Kurvensysteme K. Da- 





32) [Bei der Durchführung dieser Andeutungen wären vor: allem die hier zur Ver- 
wendung kommenden Begriffe so zu präsizieren, daß der Forderung der Differenzier- 
barkeit, die implizite vorausgesetzt wird, Rechnung getragen wird.] 


XVII. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. (2. Aufsatz.) 343 


bei überträgt sich von dem einen Bündel so gut wie vom anderen auf die 
F’ die Vierseitskonstruktion; die beiden Bündel, und also überhaupt alle 
vorhandenen Bündel sind hiernach durch die F’ aufeinander projektivisch 
bezogen, w. z.b. Da aber projektivische Beziehung innerhalb eines Bündels 
bei Anwendung der projektivischen Koordinaten durch lineare Gleichungen 
bezeichnet wird, so ist ersichtlich, daß man die F " durch lineare Gleichungen 
zwischen den für zwei Bündel geltenden projektivischen Koordinaten dar- 
stellen kann usw. . 

Betrachtungen derselben Art kann man fü Mannigfaltigkeiten von 
beliebig vielen Dimensionen anstellen; ist aber die Zahl der Dimensionen 
auf 2 gesunken, so haben die Betrachtungen nicht mehr denselben Erfolg. 
Es sei eine Fläche und auf einem Teile derselben ein Kurvensystem K ge- 
geben, von der Eigenschaft, daß durch je zwei Punkte des Flächenteils 
eine und nur eine K geht. Die Fläche, oder vielmehr ihre Punkte sollen 
unter dem Bilde einer zweifach ausgedehnten Zahlenmannigfaltigkeit ge- 
faßt werden können. Dann gilt für die Fortschreitungsrichtungen von 
einem Punkte aus die projektivische Geometrie, d. h. vier Fortschreitungs- 
richtungen haben ein bestimmtes Doppelverhältnis, welches bei keiner 
stetigen Verzerrung der Fläche geändert wird. Es überträgt sich diese Be- 
ziehung auf das durch den Punkt gehende Büschel von Kurven K. Man 
schneide dasselbe durch eine ihm nicht angehörige Kurve K’ und ziehe 
nach den Schnittpunkten die einem zweiten Büschel angehörigen X. Jetzt 
sind die beiden Büschel durch die K’ auch eindeutig aufeinander bezogen, 
aber es ist gar kein Grund vorhanden, warum diese Beziehung eine projek- 
. tivische sein soll, warum z. B. vier harmonischen Kurven des einen 
Büschels vier harmonische des andern entsprechen sollen. Denn ein Ana- 
logon zu der Vierseitskonstruktion, die sich im Raume übertrug, existiert 
nicht mehr, weil eine Dimension zu wenig vorhanden ist. 


Göttingen, 8. Juni 1872. 


XIX. Nachtrag zu dem „zweiten Aufsatz über 
Nieht-Euklidische Geometrie“. 


(Math. Annalen, Bd. 7 (1874).] 


In dem in der Überschrift genannten Aufsatze behandelte ich neben 
anderen Fragen, zu denen die neueren Untersuchungen über Nicht-Euklidische 
_ Geometrie Anlaß geben, insbesondere auch die, ob v. Staudts nur auf die 
Betrachtung sogenannter Lagenverhältnisse gegründeter Aufbau der projek- 
tivischen Geometrie vom Parallelenaxiome unabhängig gemacht werden 
könne. Ich hatte dabei Gelegenheit (vgl. daselbst $5 des zweiten Teiles) 
eine (auch sonst bemerkte) Lücke in v. Staudts Betrachtungen zur Sprache 
zu bringen, die freilich keine nähere Beziehung zu der Frage nach dem 
Einflusse des Parallelenaxioms besitzt. Es ‘handelt sich nämlich um den 
Nachweis, daß eine projektivische Beziehung zweier Grundgebilde erster 
Stufe vollkommen festgelegt ist, sowie man drei Paare entsprechender 
Elemente kennt. Nach der bei v. Staudt- eingeführten Definition der pro- 
jektivischen Beziehung sind die unbegrenzt vielen Elemente, welche man 
auf den beiden Grundgebilden, bez. aus den drei gegebenen durch wieder- 
holte Konstruktion des vierten harmonischen Elementes ableiten kann, ohne 
weiteres als entsprechend gesetzt. Von Staudt unternimmt es daher zu 
zeigen, daß diese unendlich vielen Eiemente das Grundgebilde völlig über- 
decken und ihr Entsprechen deshalb das Entsprechen aller Elemente nach 
sich zieht. Dies Verfahren impliziert bereits eine Voraussetzung, die im 
folgenden ($ 3) noch weiter gekennzeichnet werden soll, nämlich die: daß 
es gestattet sel, aus dem Verhalten der jedenfalls diskreten Reihe der 
harmonischen Elemente auf das Verhalten des ganzen kontinuierlichen Ge- 
bietes zu schließen, dem sie angehören. Aber die Lücke in v. Staudts 
Beweisgang, von der in meinem Aufsatze gehandelt wurde, betrifft den 
ersten Teil des von ihm eingeschlagenen Weges. Um zu zeigen, daß die 
harmonischen Elemente das Grundgebilde völlig überdecken, d. h. daß in 
jedem gegebenen Segmente des Grundgebildes Elemente liegen, welche man, 
von drei beliebig gegebenen Elementen ausgehend, durch fortgesetzte Kon- 
struktion des vierten harmonischen Elementes wirklich erreichen kann, 


XIX. Nachtrag zum „zweiten Aufs. über Nicht-Euklidische Geometrie“. 345 


macht v. Staudt einfach darauf aufmerksam, daß die Reihe der harmo- 
nischen Elemente nicht plötzlich abbrechen kann. Aber es ist dadurch 
die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß diese Reihe, obgleich unbegrenzt, 
doch in gewisse Segmente des Grundgebildes nicht eindringt, und der Be- 
weis, der zu erbringen war, ist also noch unvollständig. 

Dem gegenüber glaubte ich in dem genannten „zweiten Aufsatze über 
Nicht-Euklidische Geometrie“!) ausdrücklich folgende zwei Voraussetzungen 
einführen zu sollen, die freilich dort, wo überhaupt die ganze Frage mehr 
beiläufig berührt wird, nicht mit der Bestimmtheit bezeichnet und aus- 
einandergehalten sind, wie es hier geschehen soll. Ich verlangte zunächst: 

Wenn auf einem Gebilde erster Stufe eine unendliche Reihe von 
Elementen gegeben ist, die in ein Segment des Gebildes nicht eindringt, 
so soll es gestattet sein, von einem Grenzelemente, dem die Reihe zustrebt, 
als einem völlig bestimmten Elemente zu sprechen. 

Sodann aber insonderheit mit Bezug auf die Reihe der harmonischen 
Elemente: i 

Sollten in der Reihe der harmonischen Elemente solche Grenzelemente 
auftreten?), so dürfen sie der Reihe zugezählt werden. 

Daß man unter Annahme dieser Voraussetzungen durch geeignete Fort- 
setzung der Reihe der harmonischen Elemente in jedes Segment hinein- 
gelangen kann, beweist man genau so, wie v. Staudt die Unmöglichkeit 
eines plötzlichen Abbrechens der Reihe zeigt. Es genügt nämlich, daran zu 
erinnern, daß das zu drei getrennten Elementen harmonische vierte Element 
mit keinem der drei Elemente zusammenfällt, und, je nach der Anordnung, 
die man den drei Elementen erteilen mag, einem jeden der drei Segmente 
angehört, in welche das Grundgebilde durch die drei Elemente geteilt wird. 

Aber andererseits ist auch die oben bezeichnete zweite Frage bereits 
erledigt, die sich darauf bezieht, ob man aus dem Entsprechen der harmo- 
nischen Elemente auf das Entsprechen der übrigen Elemente schließen 
kann. Man wird nämlich auf Grund unserer ersten Voraussetzung jedes 
Element als Grenzelement einer unendlichen Reihe harmonischer Elemente 





!) In ganz ähnlicher Weise berührte ich diese Frage bereits in einer Mitteilung 
an die Göttinger Societät, vgl. Göttinger Nachrichten, 1871. [S. Abh, XV dieser 
Ausgabe.) 

?) Ob,solche Elemente wirklich auftreten oder nicht, hängt von der Art und 
Weise ab, vermöge deren man die harmonischen Elemente fortsetzt, was auf sehr 
mannigfache Weise geschehen kann, weil immer drei beliebige Elemente unter den 
schon konstruierten zur weiteren Konstruktion verwandt werden können. Im Texte 
soll nicht gezeigt werden, daß solche Elemente überhaupt nicht auftreten, wenn man 
die Reihe der harmonischen Elemente in bestimmter Weise unendlich fortsetzt, sondern 
nur, daß sie jedesmal wieder überschritten werden können, wenn man die Art der 
Fortsetzung ändert, und daß sie also für die Gesamtheit der harmonischen Elemente 
keine Grenze konstituieren. 


346 Zur Grundlegung der Geometrie. 


auffassen können®), und, gemäß der zweiten Voraussetzung, demjenigen 
Elemente entsprechend setzen, welches auf dem anderen Grundgebilde durch 
den nämlichen Grenzprozeß definiert wird. 

Nach Veröffentlichung meines Aufsatzes erhielt ich eben mit Bezug 
auf diese Überlegungen Zuschriften von den Herren G. Cantor, Lüroth 
und Zeuthen, und ich verdanke es hauptsächlich der Korrespondenz mit 
diesen Herren, wenn ich in der gegenwärtigen Mitteilung in der Lage bin, 
den Gegenstand, um den es sich handelt, sehr viel deutlicher zu bezeichnen, 
als ich es damals getan hatte. Insbesondere haben mir die Herren Lüroth 
und Zeuthen unabhängig voneinander einen Beweis mitgeteilt, vermöge 
dessen es gelingt, auch ohne Einführung der zweiten oben genannten Voraus- 
setzung zu beweisen, daß man mit der Reihe der harmonischen Elemente 
in jedes Segment des Grundgebildes eindringen kann. Es benutzt dieser 
Beweis den (schon in der Fußnote ?) hervorgehobenen) Umstand, daß 
die Reihe der harmonischen Elemente, weil immer drei beliebige der be- 
reits konstruierten zur Konstruktion verwandt werden dürfen, in sehr 
mannigfacher Weise fortgesetzt werden kann. Ich werde weiter unten ($ 2) 
diesen Beweis, durch dessen Mitteilung der gegenwärtige Nachtrag zu meinem 
früheren Aufsatze wesentlich veranlaßt ist, in Herrn Zeuthens Dar- 
stellung‘) geben. Durch ihn wird also die zweite oben aufgestellte Voraus- 
setzung zunächst überflüssig; sie tritt erst wieder ein, wenn es sich darum 
handelt, aus dem Entsprechen der konstruierten harmonischen Elemente 
auf das Entsprechen aller Elemente zu schließen. Sie kann dann, worauf 
mich besonders Herr Lüroth aufmerksam gemacht hat, durch verschiedene 
äquivalente ersetzt werden. Der dritte Paragraph des Folgenden mag diesen 
Betrachtungen gewidmet sein. Ich wende mich zunächst dazu, die erste 
oben eingeführte Voraussetzung noch näher zu bezeichnen und ihren Zu- 
sammenhang mit ähnlichen Voraussetzungen, die in der gewöhnlichen 
(metrischen) Geometrie nötig sind, darzulegen. 


81. 
Von der Stetigkeit der Gebilde in der projektivischen Geometrie. 


Was man in der gewöhnlichen Geometrie meint, wenn man sagt, 
irgendein Gebilde erster Stufe, also etwa eine Punktreihe, sei stetig, ist 
neuerdings von verschiedenen Seiten her mit besonderer Schärfe auseinander 





3) Dies sollte eigentlich explizite bewiesen werden. Ich glaube die betrefienden Über- 
legungen hier aber um so mehr unterdrücken zu können, als das Operieren mit Würfen, das 
zu diesem Zwecke systematisch würde untersucht werden müssen, von Herrn Lüroth 
neuerdings eine gründliche Darstellung erfahren hat (Göttinger Nachrichten, Nov. 1873). 

4) Herr Lüroth hatte bei seinen Überlegungen im wesentlichen dieselben Mo- 
mente benutzt. 


XIX. Nachtrag zum „zweiten Aufsatz über Nicht-Euklidische Geometrie“. 347 


gesetzt worden®). Man legt durch die Forderung der Stetigkeit dem be- 
treffenden Gebilde eben dieselbe Eigenschaft bei, die durch unsere erste 
Voraussetzung (welche sich in ganz ähnlicher Form ın den Schriften von 
G. Cantor und Dedekind findet®) formuliert ist. Der Unterschied ist 
nur der, daß wir diese Voraussetzung ausdrücklich auch in die projek- 
tivische Geometrie einführen. Wir können also auch folgendermaßen sagen: 
Die in der gewöhnlichen Geometrie vorausgesetzte Stetigkeit der Gebilde 
erster Stufe soll auch in der projektivischen Geometrie zugrunde gelegt werden. 
Es bringt das mit sich oder ist geradezu gleichbedeutend damit, daß in der 
projektivischen Geometrie, wiein der gewöhnlichen, das analytische Gegenbild 
eines Gebildes erster Stufe die einfach unendliche Zahlenreihe ist. Auch in der 
projektivischen Geometrie können also Segmente eines Gebildes erster Stufe 
gemessen werden, nur daß nicht, wie in der gewöhnlichen Geometrie, eine Maß- 
bestimmung vor allen anderen als besonders naturgemäß ausgezeichnet wird. 
In dem letzteren Umstande liegt scheinbar eine gewisse Schwierigkeit hin- 
sichtlich der Einführung der Zahlen in die projektivische Geometrie, insofern 
man nämlich von vornherein nur dann von zwei Segmenten sagen kann: das eine 
sei kleiner als das andere, wenn das eine ganz in dem anderen enthalten ist. 
Aber bei der Feststellung des Grenzbegriffs kommen eben nur solche Segmente in 
Vergleich, die in dieser Relation stehen, daß das eine ein Stück des anderen ist. 
Eine entsprechende Voraussetzung der Stetigkeit, wie sie nunmehr für 
Gebilde erster Stufe eingeführt wurde, wird in der gewöhnlichen wie in 
der projektivischen Geometrie zu machen sein, wenn es sich um Gebilde 
höherer Stufe handelt. Doch braucht das hier wohl nicht näher entwickelt 
zu werden. Auch braucht hier nicht auf die Frage eingegangen zu werden, 
ob und wie weit wir zu diesen Voraussetzungen ‘) axiomatischen Charakters 
durch unsere räumliche Anschauung gezwungen sind. 


82. 
Der Lüroth-Zeuthensche Beweis. 


Ich erlaube mir weiterhin den Lüroth-Zeuthenschen Beweis mit 
Zeuthens Worten wiederzugeben, und bemerke hinsichtlich der beige- 
setzten Zeichnungen nur, daß dieselben allein die Aufeinanderfolge der in 





5) Vgl.Heine, Die Elemente der Funktionenlehre, Borchardts Journal, Bd.74 (1872); 
G. Cantor, über die Ausdehnung eines Satzes aus der Theorie der trigonometrischen 
Reihen, Math. Annalen, Bd. 5 (1842); sowie besonders Dedekind, Stetigkeit und irra- 
tionale Zahlen (Braunschweig 1872). 

®) Ich bin kurz vor dem Erscheinen dieser Schriften von Herrn Weierstraß 
auf diese Voraussetzung als eine in der gewöhnlichen Geometrie notwendige aufmerksam 
gemacht worden. 

”), Herr Cantor und Dedekind bezeichnen das Postulat der Stetigkeit der Ge- 
bilde erster Stufe auch ausdrücklich als ein Aziom. 


348 | Zur Grundlegung der Geometrie. 


Betracht kommenden Punkte veranschaulichen sollen. Es kommt in der 
Tat beim Beweise nur auf diese Aufeinanderfolge an, womit eine Verall- 
gemeinerung angedeutet sein mag, die man diesen Betrachtungen zuteil 
werden lassen kann. Herr Zeuthen schreibt: 

»Si AB harm. OD, cest & dire, si A et B divisent harmonique- 
ment CD, 


1 | 
| ! 


Ä | 
4.028 .D 

A et B restant fixes, C et D ne pourront se mouvoir que dans des sens 
inverses entre eux: mais si A et restent fixes, B et D ne pourront se 
mouveir que dans le möme sens. Il s’agit de demontrer qu’il n’existe 
pas dans une serie fondamentale compläte®) des segments ou des angles 
oü l’on ne puisse entrer par des constructions succesives du quatrieme 
point harmonique, les trois premiers Elöments etant donnes.« | 
»Considerons comme v. Staudt une droite complete (dont les deux 


> 


bouts sont lies ’un & lPautre par un point & P’infini) et designons par 
AB,COD,... les segments qui se trouvent & droite (par exemple) du 
premier point A,C,..., sans demander s’ils contiennent le point ä P’ınfini 
ou non. Essayons d’attribuer & la droite un segment FG, qui ne contienne 
aucun point du systeme determine par les constructions successives du 
quatrieme point harmonique, et supposons qu’on ait donne & ce segment 
extension la plus grande possible®). Alors, si F n’est pas lui-m&me un 
point du systeme, tout segment exterieur & F@ et limite par F, quelque 
petit qu/il soit, contiendra des points du systeme, et de möme pour le 


point @. 








AB BD DEE 
Soit A un point quelconque du systeme et soient H et J les points satis- 
faisant aux conditions 

(1) AH harm. FG, 


(2) AG harm. FJ. 


En designant par B un nouveau point du systeme place sur le segment AF 
convenablement pres de F, on peut obtenir que le point X determine par 


(3) AH harm. BK 


se trouve sur le segment @J sı pres de @ que le segment K.J contient 
un point du systeme. (Car au cas contraire ou pourrait, en laissant A 
et H rester fixes, rapprocher K de @ jusqu’ä ce que non seulement X a 





®) „Unbegrenztes Grundgebilde erster Stufe“, vgl. Math. Annalen, Bd. 6, S. 137. 
[S. Abh. XVIII dieser Ausgabe, S. 335.) 

®), Damit dies in allen Fällen möglich sei, wird man die in $ 1 besprochene Voraus- 
setzung der Stetigkeit voraufschicken müssen. 


XIX. Nachtrag zum „zweiten Aufsatz über Nicht-Euklidische Geometrie“. 349 


passe un point du systeme, mais aussi B, qui se meut dans le sens in- 
verse, a gagne de nouveau un point du syst&me.) Designons par C un 
point du systeme qui se trouve sur KJ. Alors, comme le point L de- 
termine par 


(4) AL harm. BJ 
se trouve sur le segment HG (voir (3) et (2)), le point D determine par 
(5) AD harm. BC, 


se trouvant sur le segment HL (voir (3) et (4)), se trouve aussi sur le 
segment FG. Or A, B,C e&tant des points du systeme, D en est aussi un. 
Done ete.... —« 

»Si F est un point du systeme on peut y placer le point B, et si 
en möme temps @ appartient au systeme (supposition de v. Staudt), on 
peut y placer le point C.« 


83. 
Von der Stetigkeit der projektivischen Zuordnung. 


Wenn es sich um eine systematische Darstellung der Grundlagen der 
projektivischen Geometrie handelt, wird man an die erste Voraussetzung des 
$ 1 zunächst den Lüroth-Zeuthenschen Beweis anschließen und erst dann 
die in der Einleitung an zweiter Stelle eingeführte Voraussetzung folgen 
lassen. Dieselbe ist übrigens auch dadureh mit der ersteren ungleich- 
wertig, daß sie keinen axiomatischen Charakter besitzt, vielmehr als ein 
Zusatz zu Staudts Definition der Projektivität aufgefaßt werden muß. °) 

Daß ein solcher Zusatz in der Tat notwendig ist, daß man also aus 
dem Entsprechen der harmonischen Elemente noch nicht auf das Ent- 
sprechen aller Elemente schließen darf, mag man sich an der folgenden, 
analog gebildeten Aufgabe überlegen, bei der, entsprechend ihrer rein ana- 
lytischen Fassung, eine Beurteilung leichter scheint: Eine Funktion sei für 
alle rationalen Werte ihres Argumentes gegeben, für die irrationalen aber 
nicht, welche Werte wird sie für die letzteren annehmen? Man kann diese 
Frage nicht nur nicht beantworten, wenn nichts weiteres über die Funktion 
bekannt ist, sondern man kann nicht einmal behaupten, daß die Funktion 
für irrationale Werte des Arguments existiert. 

Die Forderung, wie sie durch unsere zweite Voraussetzung ausge- 
sprochen worden ist, kann prägnanter als die Forderung der Stetigkeit der. 
projektivischen Beziehung bezeichnet werden. Sie verlangt, daß einem 
Elemente, das in einer kleinsten Strecke zwischen zwei Elementen liegt, 
deren entsprechende Elemente bekannt sind, ein Element zugeordnet sein 





10) (Vgl. jedoch die Erläuterungen in der folgenden Abhandlung XX.] 


350 Zur Grundlegung der Geometrie. 


soll, das eben zwischen diesen letzteren liegt. Mit Beziehung auf die 
Staudtsche Terminologie und unter besonderer Beachtung der projektivi- 
schen Beziehung kann man daher auch so sagen: Vier Elementen des 
einen @ebildes, die in einem Sinne liegen, sollen vier Elemente des anderen. 
entsprechen, die ebenfalls in einem Sinne liegen. 

Bei Gebilden mit mehr Dimensionen wird man bei Definition der 
projektivischen Beziehung in ganz entsprechender Weise die Stetigkeit dieser 
Beziehung zu verlangen haben, wie es hier für Gebilde erster Stufe geschah. 
Andererseits sei auch ausdrücklich hervorgehoben, daß in allen Fällen, in 
denen die projektivische Beziehung durch einmalige oder wiederholte Pro- 
jektion gewonnen wird, diese Stetigkeit der Beziehung von vornherein ge- 
geben ist. 


Erlangen, im Januar 1874. 


XX. Über die geometrische Definition der Projektivität auf 
den Grundgebilden erster Stufe. 


[Math. Annalen, Bd. 17 (1880).) 





In der nachstehenden Notiz komme ich auf einen Gegenstand zurück, 
den ich vor mehreren Jahren gelegentlich meiner Untersuchungen über 
Nicht-Euklidische Geometrie in Diskussion gezogen hatte; ich meine 
v. Staudts Definition der Projektivität auf Grundgebilden erster Stufe.) 
Ich hatte damals auf eine Lücke in v. Staudts Darstellung aufmerksam 
gemacht, die in der Tat vorhanden ist, hatte aber, um sie zu beseitigen, 
zu einer überflüssigen Ergänzung der Definition meine Zuflucht genommen. 
Eine Korrespondenz mit den Herren Lüroth und Zeuthen belehrte mich 
in der Tat bald, daß eine Beschrärikung meiner Zusätze möglich war. In- 
dem ich meine neue hierauf gegründete Anschauung in einer ausführlicheren 
Publikation?) darlegte, glaubte ich inzwischen doch noch immer in einem 
Punkte an einer Vervollständigung der v. Staudtschen Definition fest- 
halten zu sollen. Erst neuerdings bin ich durch Herrn Darboux®) dar- 
auf aufmerksam gemacht worden, daß auch noch diese Ergänzung über- 
flüssig ist. Ich bin Herrn Darboux hierfür um so mehr verpflichtet, als 
meine bez. Darstellung in einige neuere geometrische Publikationen un- 
geändert übergegangen ist und also allgemein verbreitet zu werden droht. 

Die Frage, um welche es sich handelt, kann folgendermaßen bezeich- 
net werden. Bekanntlich definiert v. Staudt zwei Grundgebilde erster 
Stufe als projektivisch, wenn sie derart aufeinander bezogen sind, daß je 
vier harmonischen Elementen des einen vier harmonische Elemente des 
anderen entsprechen. (Hiermit ist eo ipso ausgesprochen, wie ich schon 
hier ausdrücklich bemerken will, da später gerade auf diesen Umstand Ge- 
wicht zu legen ist: daß jedem Elemente des einen Gebildes ein Element 
des zweiten entspricht.) Es handelt sich nun um den Nachweis, daß die 
so erklärte Zuordnung völlig definirt ist, wenn man drei Paare zugeord- 
neter Elemente kennt. Zu dem Zwecke beweise man zunächst nach 
Lüroth und Zeuthen (im Anschlusse an v. Staudts ursprünglichen Ge- 
dankengang), daß man, von drei Elementen ausgehend, durch immer wieder- 
holte Konstruktion eines vierten harmonischen Elementes das ganze Ge- 
bilde in der Weise mit Elementen überdecken kann, daß in jedem noch 





1) Vgl. Math. Annalen Bd. 6, S. 132, Note. [S. Abh. XVIII dieser Ausgabe, S. 330.) 

2) Math. Annalen, Bd. 7, S. 531—537. [S. Abh. XIX dieser Ausgabe. 

®) Herr Darboux hatte inzwischen die Güte, mir eine ausführlichere Darlegung 
seiner Auffassung dieser Theorie zur Verfügung zu stellen, die ich hier nachfolgend 
[in den Math. Ann., Bd. 17) zum Abdruck bringe. Die doppelte Besprechung desselben 
Gegenstandes wird durch seine Wichtigkeit gerechtfertigt erscheinen. 


392 Zur Grundlegung der Geometrie. 


so kleinen vorgegebenen Segmente mindestens ein konstruiertes Element 
liegt. Ich will die Gesamtheit der so konstruierbaren Elemente die ratio- 
nalen nennen. Dann ist es an sich deutlich, daß den rationalen Elementen 
des einen Gebildes die rationalen Elemente des anderen unzweideutig ent- 
sprechen müssen (sofern man, wie vorausgesetzt wird, bei der beiderseitigen 
Konstruktion von drei zugeordneten Elementen ausging). Aber es fragt 
sich, ob durch das Entsprechen der rationalen Elemente das Entsprechen 
der srrationalen Elemente mit gesetzt ist. Das irrationale Element kann 
definiert werden durch eine unendliche (gesetzmäßige) Aufeinanderfolge 
rationaler Elemente, deren Grenze es ist. Und nun war mein Zusatz zu 
v. Staudts Definition, an welchem ich auch in meiner zweiten Dar- 
stellung festhielt, der, daß man aus dem Entsprechen der unendlich vielen 
Elemente zweier derartiger Reihen rationaler Elemente auf das Entsprechen 
der beiderseitigen Grenzelemente solle schließen dürfen. Ich hatte dem 
auch die andere Formulierung erteilt: daß vier Elementen des einen Ge- 
bildes, welche eine ‚‚Folge‘“ bilden, auch wenn irrationale Elemente in Be- 
tracht kommen, allemal solche vier Elemente des anderen Gebildes ent- 
sprechen sollen, welche wieder eine Folge bilden. — An dieser Stelle greift 
jetzt Herrn Darbouxs Bemerkung ein. Was ich ausdrücklich verlangte 
ist bereits eine notwendige Folge der v. Staudtschen Definition. Denn 
nehmen wir an, daß vier Elementen des ersten Gebildes, welche eine Folge 
bilden, auf dem anderen Gebilde solche vier Elemente entsprächen, die es 
nicht tun. Dann könnte man die ersten vier so in zwei Paare teilen, daß 
die beiden Paare ein gemeinsames harmonisches Paar besitzen, während 
die entsprechenden zwei Paare von Elementen des anderen Gebildes kein 
gemeinsames harmonisches Paar haben. Den beiden Elementen des „har- 
monischen“ Paares auf dem ersten Gebilde könnten also überhaupt keine 
Elemente auf dem zweiten Gebilde entsprechen. Und das widerstreitet 
v. Staudts ursprünglicher Definition, die, wie ich schon oben hervorhob, 
ausdrücklich voraussetzt, daß jedem Elemente des einen ein Element des 
anderen Gebildes entsprechen solle. Unsere Voraussetzung war also un- 
zulässig: was zu beweisen war. 

Man sieht zugleich den Punkt, in welchem ich irrte. Einseitig mit 
v. Staudts Erzeugung der projektivischen Beziehung beschäftigt, verlor 
ich den Wortlaut seiner Definition aus den Augen. Ich suchte das Element 
zu konstruieren, welches, auf dem zweiten Gebilde, einem irrationalen 
Elemente des ersten Gebildes entspricht, und ich vergaß, daß es sich zu- 
nächst nur um die eindeutige Bestimmtheit dieses Elementes handelt und 
daß es also genügt, indirekte Beweisgründe heranzuziehen. 


München, im April 1880. 


XXI. Zur Nieht-Euklidisechen Geometrie. 
[Math. Annalen, Bd. 37 (1890).) 





Eine Vorlesung über Nicht-Euklidische Geometrie, die ich die letzten 
beiden Semester hindurch gehalten habe, gab mir die willkommene Ge- 
legenheit, auf jene Gedankenreihen zurückzugreifen, denen ich in verschie- 
denen Arbeiten aus den Jahren 1871—73 Ausdruck gegeben habe!), 
Indem ich die neuere Literatur des Gegenstandes verglich, bemerkte ich, 
daß die fundamentalen Auffassungen, von denen ich damals ausging, immer 
nur erst teilweises Verständnis gefunden haben, und daß gewisse damit 
zusammenhängende Fragestellungen, über welche ich mir seit lange be- 
stimmte Ansichten gebildet habe, noch gar nicht behandelt sind. Mittler- 
weile erfahre ich, daß eine zusammenhängende Darstellung der Theorie, 
von einem Standpunkte aus, der von dem meinigen jedenfalls nicht sehr 
verschieden ist, demnächst von Herrn Lindemann in dem zweiten Bande 
von Clebschs Vorlesungen über Geometrie?) publiziert werden wird. Um 
so lieber kann ich mich nachstehend auf die Besprechung solcher Punkte 
beschränken, in denen ich Neues zu bieten habe, oder deren Darlegung 
in einer besonderen Form mir erwünscht erscheint. In I reproduziere 
ich zunächst gewisse Ideen, die Clifford im Jahre 1873 darlegte, die 
aber bisher nur wenig bekannt geworden sind, trotz des großen Interesses, 





') Es sind dies insbesondere: 

Zwei Arbeiten „über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie“ in den Bänden 
4 und 6 der Math. Annalen (1871, 1872) [Abh. XVI und XVIII dieser Ausgabe], 

meine Programmschrift „Vergleichende Betrachtungen über neuere geometrische 
Forschungen (Erlangen 1872, bei A. Deichert; dieselbe ist erst vor kurzem, mit Zu- 
sätzen und Verbesserungen von meiner Seite versehen, durch Herrn Gino Fano in 
Bd. 17 der Annali di Matematica (1890) in italienischer Übersetzung neu publiziert 
worden [s, Abh. XXVII dieser Ausgabe), 

ein Aufsatz: „Über den allgemeinen Funktionsbegriff und dessen Darstellung 
durch eine willkürliche Kurve“ in den Berichten der Erlanger physikalisch-medizini- 
schen Gesellschaft von 1873 (wiederabgedruckt in Bd. 22 der Math. Annalen). [S. Bd. 2 
dieser Ausgabe.) 

?) „Vorlesungen über Geometrie unter besonderer Benutzung der Vorträge won 
A. Clebsch, bearbeitet von F. Lindemann“, II, 1. Leipzig, B. G. Teubner, 1891. 
Siehe insbesondere die dritte Abteilung: Die Grundbegriffe der projektivischen und 
. metrischen . Geometrie. 


Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 23 


354 Zur Grundlegung der Geometrie. 


welches sich an dieselben knüpft?). Dieselben geben mir den Anlaß, in 
II die Frage der „Nicht-Euklidischen Raumformen“, über welche Herr 
Killing vor einigen Jahren ein eigenes Werk publizierte‘), aufs neue 
aufzunehmen: mein Resultat ist, daß eine Reihe solcher „Raumformen“ 
existiert, welche bisher noch nicht die verdiente Beachtung gefunden 
haben. Eben in diesem Nachweise, sowie in den. verschiedenartigen Be- 
merkungen, die ich mit demselben weiterhin verknüpfe, dürfte die Haupt- 
bedeutung meiner diesmaligen Darlegungen enthalten sein. In III ent- 
wickele ich eine besonders einfache Art, auf Grund rein projektiver Be- 
trachtungen die analytische Geometrie einzuführen. Im Prinzip kommt 
dieselbe selbstverständlich auf die betreffenden Ideen v. Staudts (oder 
auch von Moebius) zurück, aber sie ist wesentlich anschaulicher, als die 
mir sonst bekannten Darstellungen der Theorie, und dürfte also an ihrem 
Teile die Schwierigkeiten vermindern, die immer noch bei verschiedenen 
Mathematikern meinen früheren hierauf bezüglichen Ausführungen ent- 
gegenzustehen scheinen). In IV endlich diskutiere ich allgemeinere Fragen: 
ich erläutere die prinzipielle Bedeutung derjenigen Auffassungsweise der 
Nicht-Euklidischen Geometrie, die von der projektiven Geometrie beginnt, 
und nehme ausführlicher, als ich früher tat, Stellung zum Problem der 
geometrischen Axiome. 


E 
Über Cliffords Ideen von 1873. 


Gleich nach Veröffentlichung meiner ersten Abhandlung zur Nicht- 
Euklidischen Geometrie hat sich Clifford mit der ihm eigentümlichen 
Unmittelbarkeit geometrischer Intuition auf das eifrigste den damit ge- 





®) Bisher sind diese Fragen am ausführlichsten von Sir R. S. Ball behandelt. 
Vgl. insbesondere dessen neueste Abhandlung „On the theory of the Content“ in den 
Transactions der R. Irish Academy, Bd. 29 (1889), deren bezüglicher Inhalt in das 
Schlußkapitel von Gravelius’ „Theoretischer Mechanik starrer Systeme“ (Berlin 1889) 
aufgenommen ist. Über Cliffords bez, Originalmitteilungen vgl. weiter unten im Texte. 

*#, Leipzig, bei Teubner 1885. 

5) So äußert sich z. B. Herr Ball in der Einleitung zu seiner oben genannten 
Abhandlung: 

„In that theory (the Non-Euclidian Geometry) it seems as if we try to replace 
our ordinary notion of distance between two points by the logarithm of a certain 
anharmonic ratio. But this ratio itself involves the notion of distance measured 
in the ordinary way. How then can we supersede the old notion of distance by the 
Non-Euclidian notion, inasmuch as the very definition of the latter involves the former“? 

Und Cayley selbst äußert sich auf Seite 605 des zweiten Bandes seiner Collected 
Papers (Cambridge 1889), indem er v. Staudts Einführung der Zahlen bespricht: 

„It must however be admitted that, in applying this theory of v. Staudt’s to 
the theory of distance, there is at least the appearance of arguing in a circle“. 

[Vgl. hierzu das oben auf S.241 Gesagte. Wenn man sich an den äußeren Wort- 
laut der v. Staudtschen Darstellung hält, sind danach die Skrupel von Ball und 
Cayley wohl begreiflich. 


XXI Zur Nicht-Euklidischen Geometrie. 355 


gebenen Fragestellungen zugewandt. Durchdrungen von der besonderen 
Symmetrie und Eleganz der elliptischen Geometrie, suchte er deren Eigen- 
art nach geometrischer und mechanischer Seite hin in besonders einfacher 
Weise zu formulieren. Die Verhandlungen der Londoner Mathematischen 
Gesellschaft enthalten hierüber nur zwei vorläufige Mitteilungen; es 
sind dies: 

1. Preliminary sketch of biquaternions (Bd. 4, 1873), 

2. On the free motion under no forces of a rigid system in an 

n-fold homaloid (Bd. 7, 1876), 
die in Cliffords gesammelten Abhandlungen (Mathematical Papers, Lon- 
don, Macmillan 1882) unter Nr. XX und XXVI abgedruckt sind. Am 
letztgenannten Orte folgen dann aber noch unter Nr. XLI, XLII, XLIV 
drei weitere hierher gehörige Aufsätze: 

1. Motion of a solid in elliptic space (aus dem Jahre 1874), 

2. Further Note on Biquaternions (von 1876), 

3. On the Theory of screws in a space of constant positive curvature 

(ebenfalls von 1876). 

Ich kann auf die zahlreichen, interessanten Ideen, welche Clifford in 
diesen Arbeiten darlegt, hier leider nur sehr unvollständig eingehen. In 
der Tat möchte ich mich hier auf eine einzelne Stelle der „preliminary 
sketeh of biquaternions‘ beschränken, wo Clifford in einer neuen, so- 
gleich darzulegenden Weise parallele Linien des elliptischen Raumes de- 
finiert und daran folgende Bemerkung knüpft, die ich wörtlich reproduziere 
(vgl. Ges. Werke, 8. 193 oben): 

„Ihere are many points of analogy between the parallels here defined 
and those of parabolic geometry. Thus, if a line meets two parallel lines, 
it makes equal angles with them; and a series of parallel lines meeting 
a given line constitute a ruled surface of zero curvature. The geometry 
of that surface is the same as that of a finite parallelogramm whose 
opposite sides are regarded as identical.“ 

Eben die Verhältnisse auf der letztgenannten Fläche erschienen 
Clifford besonders bemerkenswert: auf der Versammlung der British 
Association for the Advancement of Science vom Jahre 1873, die in 
Bradford stattfand, hat er eigens über dieselbe vorgetragen und mir, wie 
Sir R. S. Ball und anderen Mathematikern, die damals anwesend waren, 
wiederholt deren Eigenschaften persönlich erläutert. In den bez. Reports 
ist nur der Titel des Cliffordschen Vortrags wiedergegeben®), um so 
wichtiger ist es mir, hier nachträglich einiges davon zur Geltung zu bringen. 
Ich beginne damit, einige zugehörige analytisch-geometrische Formeln in 





6) On a surface of zero curvature and finite extent. 
23 * 


356 Zur Grundlegung der Geometrie. 


derjenigen Weise zu entwickeln, die ich wiederholt in meinen Vorlesungen 
befolgte”): wie Clifford selbst die bez. Resultate abgeleitet hat, vermag 
ich im einzelnen nicht zu sagen. 

Wir betrachten zunächst die gewöhnliche Interpretation von z-+iy 
auf der Einheitskugel. Bei derselben haben bekanntlich zwei diametrale 
Punkte Argumente folgender Form: 


ES 5 
(1) er, ek 


(ich werde zwei solche Argumente späterhin kurzweg „diametral“ nennen). 
Wir betrachten ferner lineare Substitutionen von A=x + iy: 

», . @A+Pß 

= 48° 
bei denen zwei diametrale Elemente festbleiben, die sich also geometrisch 
als eine Drehung der Kugel um einen ihrer Durchmesser darstellen. Wie 
anderweitig bekannt und beispielsweise auf S. 33, 34 meiner „Vorlesungen 
über das Ikosaeder“ (Leipzig, 1883, B. G. Teubner) ausgeführt ist, kann 
man einer solchen Substitution folgende Gestalt geben: 

‚ _(d+iejA—(b-ia) 

(2) | rer yaarment 
unter a, b, c, d reelle Größen verstanden. Dabei ist, wenn En£ die 
rechtwinkligen Koordinaten eines beliebigen der zwei Kugelpunkte sind, 
welche bei der bez. Drehung festbleiben, wenn ferner @ den Winkel be- 
zeichnet, durch welchen um diesen Punkt gedreht wird: 


Y 
DE 





r 

9» 
unter o die Quadratwurzel Va’ +b"-c”-++d” verstanden. Aus Gründen, 
die ich 8. 35, 36 der genannten Vorlesungen auseinandersetzte, nenne ich 
Substitutionen von der Form (2) solche vom Quaternionentypus. 

Sei jetzt eine beliebige Fläche zweiten Grades gegeben. Wir betrachten 
diejenigen Kollineationen des Raumes, welche nicht nur die Fläche als solche 
in sich überführen, sondern auch jedes der beiden Systeme auf ihr ver- 
laufender gerader Linien, — diejenigen Kollineationen also, bei denen die 
Nicht-Euklidische Maßbestimmung unverändert bleibt, die man auf die F, 
gründen kann, und die man also als zugehörige Nicht-Euklidische Be- 
wegungen bezeichnen wird. Mögen wir die geradlinigen Erzeugenden 
erster Art der Fläche durch einen Parameter A, diejenigen zweiter Art 
durch einen Parameter «u in üblicher Weise festlegen. Die allgemeine 
Kollineation der in Rede stehenden Art wird dann bekanntlich in der 


c=ot-sin”, d=o-cos 


(3) a=ot-sn*, b=oy-sin : 


2 » 








?) Vgl. z.B. die Darlegungen in meiner Arbeit: „Über binäre Formen mit linearen 
Transformationen in sich“. Math. Annalen, Bd. 9, 1875 [Bd.2 dieser Ausgabe] (insbes. 
S. 188, 189 daselbst). 


XXI. Zur Nicht-Euklidischen Geometrie. 857 


Weise zu geben sein, daß man für 4 und u irgend zwei lineare Substi- 
tutionen anschreibt: 


erh ‚_eutß 

mereTL EN 
(vgl. z. B. Ikosaeder 8. 179ff.). Dabei treten dann von selbst diejenigen 
zwei Arten von Kollineationen der F, in sich besonders hervor, auf welche 
hier die Aufmerksamkeit gelenkt werden soll. Es sind dies erstens die- 


jenigen, bei denen « ungeändert bleibt: 


’ aiA+ß ’ 
(4) i= PR 1 
zweitens die anderen, bei denen A festgehalten wird: 
4° Zr Nu 
(4°) | BE 


Ich werde die durch (4) gegebenen Kollineationen Schiebungen der ersten 
Art nennen, die durch (4°) gegebenen Schiebungen- der zweiten Art 
(Clifford gebraucht statt „Schiebung‘‘ das Wort ‚„Vektorbewegung“ oder 
auch wohl nur Vektor‘). Bei einer Schiebung erster Art bleiben, allgemein 
zu reden, zwei Erzeugende erster Art der Fläche punktweise fest und es 
schreitet also jeder Raumpunkt auf derjenigen geraden Linie fort, die 
durch ihn so gelegt werden kann, daß sie diese beiden Erzeugenden erster 
Art trifft, d.h. also auf der durch ihn gehenden geraden Linie derjenigen 
linearen Kongruenz, deren Leitlinien eben jene zwei Erzeugenden sind. Bei 
einer Schiebung zweiter Art tritt natürlich entsprechendes Verhalten gegen- 
über zwei Linien der zweiten Art ein. Jede Schiebung der einen Art ist 
mit jeder Schiebung der anderen Art vertauschbar (keineswegs aber mit 
jeder Schiebung derselben Art). Die allgemeine uns interessierende Kol- 
lineation unserer F, in sich kann nur in einer Weise in die Aufeinander- 
folge einer Schiebung der ersten Art und einer Schiebung der zweiten Art 
aufgelöst werden. 

Wir spezialisieren jetzt unsere Fläche zweiten Grades dahin, daß sie 
eine „reelle, nullteilige‘“‘ Fläche sei, d.h. eine Fläche mit reeller Gleichung 
aber ohne reellen Punkt®). Die sämtlichen Erzeugenden einer solchen 
Fläche sind natürlich imaginär, aber es zeigt sich, daß das einzelne System 
dieser Erzeugenden reell ist, indem es zu jeder imaginären Linie, welche 
es umfaßt, die konjugiert imaginäre Linie hinzu enthält. Solche zwei 





®) Die hier im Texte gebrauchte Ausdrucksweise scheint mir bequem, insofern 
ich das Attribut „imaginär“ am liebsten nur einer Fläche beilege, deren Gleichung 
komplexe Koeffizienten besitzt. Um bei den „reellen“ Flächen zweiter Ordnung eine 
Bezeichnung zu haben, die von der Inbetrachtnahme der unendlich fernen Ebene un- 
abhängig ist, unterscheide ich neben den „nullteiligen“ reellen Flächen „ovale“ und 
„ringförmige“,. 


358 Zur Grundlegung der Geometrie. 


konjugiert imaginäre Linien wählen wir jetzt als Direktrizen einer zu- 
gehörigen Schiebung. Offenbar wird letztere reell, und wir finden so, zu 
unserer Fläche gehörig, dreifach unendlich viele reelle Schiebungen der 
einen wie der anderen Art, durch deren Kombination die Gesamtheit der 
zugehörigen reellen Nicht-Euklidischen Bewegungen entsteht. 

Wir wollen das Gesagte hier analytisch bestätigen und zugleich für die 
‚in Rede stehenden reellen Schiebungen explizite Formeln aufstellen. Der Be- 
quemlichkeit halber sei unsere Fläche durch folgende Gleichung gegeben: 


(5) nt tl=t0, 


die wir zwecks Darstellung der zugehörigen Erzeugenden in nachstehender 
Weise spalten: 


(2, +32,) (a — 1%) + +i2,) (8 —12,)=0. 


Wir schreiben dann etwa: 


In tim 0790 im 


und haben also z. B. für eine Erzeugende erster Art, indem wir noch 
re’? für A setzen, die beiden Gleichungen: 
(7) | (2, +1%,)= —- rer, + ii), 
re'?(z, — iX,) = (2, — i%,)- 
Indem wir hier < durch — i ersetzen, erhalten wir für die konjugiert ima- 
ginäre Gerade: 
(2, - i%,)= - rer, — 12,); 
re-'r(2, +i2%,)= (2, +12,)- 
Aber dieses’ Gleichungspaar können wir auch so ordnen: 
} ee 2 
(2, + i2,) = er (X +2,), 
= Leir(z, -1,)- (23 — i2,), 
und haben damit einen Spezialfall der Gleichungen (7) selbst, wo das 
re’? durch — Lein ersetzt ist. Die zu (7) konjugiert imaginäre Linie 
ist also in der Tat selbst eine Erzeugende der ersten Art. Aber zugleich 
erfahren wir: Konjugiert imaginäre Erzeugende erhalten bei uns 
diametrale Parameter. Hierauf und auf Formel (2) ruht jetzt die Dar- 
stellung der reellen Schiebungen. Die betreffende Rechnung verläuft 


folgendermaßen: 
Wir haben zunächst aus (6): 


8 2, +12,:%, — i%,:%, +12,:2, — 12, =4p:1:— u:A, 
$ 2 z 2 3 4 3 


XXL Zur Nicht-Euklidischen Geometrie. 359 


oder, wie wir unter Einführung eines Proportionalitätsfaktors o schreiben: 


ox, =4u-+l, 
,=i(-Au-+l), 
0%, = = RM; 
4, = «(4 + A); 
Hier tragen wir nun für A zunächst allgemein ein: 
- ai+ß 
 yA+6? 


während z unverändert bleiben soll. Wir bekommen dann nach gehöriger 
Modifikation des Proportionalitätsfaktors o: 


ox/= (aA+ß)a+ (yA+9), 

0’, = — ilaA+P)utilyi+ 2), 

= (aA+ß) — (YA+ö)m, 

= HlaA+P) +ilyitd)a. 
Ferner tragen wir jetzt für Au, A, a, 1 die ihnen proportionalen Werte aus 
(8) ein, wobei o’ in 0” übergehen mag. Wir erhalten so zur Darstellung 
der zu (5) gehörigen Schiebung erster Art: 


0"x, = (2, +3%)+ dl, -i)— Pla +i2,)+ 1 -%,); 

0", = —ielx, +iz,)+iöle, — iz,) + ißlz, +ir,) + iy(a, — ix), 

"= — Am +tim)+ Pl -i%)+ m +im,)+ al, — im), 

0", = iyla, +i2,)+ißle, — ir.) -idlR, +ir,) + iela, — ir,), 
oder, anders geordnet: 


"= (ta+ö).,+ila 5), + (-B+tYy)a -il+ßH+tY)a; 
(9) | 0 "=il-a+ö)n, + rare + +ß+Y)% + + (= PH 2) 
"= (rHh- ru -ihtY)u+ (taet+sd)y til—a+6)z,, 
either) tr Permtilte—8), + (+e+d)z,. 
Aber wir wünschen eine analytische Darstellung insbesondere der 
reellen Schiebungen der ersten Art. Wir substituieren daher aus den 
Formeln (2): 

e=d-+tic, B=—bdb+tia, y=b-+ia, d=d- ic. 

Gleichzeitig wollen wir den in (9) auftretenden Proportionalitätsfaktor 0” 


ebenso wie auf der rechten Seite den Faktor 2 der Einfachheit halber 
weglassen. Wir erhalten so die übersichtlichen Formeln: 


% 





a= da —-cen,+bx,+tax,, 

(10) Nm cz, +d2,—ar, +bx,, 
= —be, tax, +daı,+cx, 

y=-arn ba, — cn, +de, 





360 Zur Grundlegung der Geometrie. 


die wir auch so ordnen können: 
x, =ax2, +dı, — c2,+bz,, 
(2 mer, +de, —bz, +ar,. 


(11) B 





Hier liegt die Beziehung zur Quaternionentheorie auf der Hand. Wir 
sagen sofort: Bezeichnet q die Quaternion: 


g=d+ai+bj+ck, 
so ist unsere reelle Schiebung erster Art durch die Formel gegeben: 
(12) ti ty th) (u tin, ++ kx,). 
Genau so findet man für eine Schiebung zweiter Art: 
(13) (tin + +) (+ in, + + en). g”, 
unter g’ irgendeine Quaternion d’+ia’+5jb’-+kc’ verstanden. Für die 


allgemeine reelle lineare Transformation unserer F, in sich aber kommt 
die schöne Formel: 

(14) (tie +ja, + kay)=g- (8, tie, +j2, + ka,)-g'. 

Diese Formel (14), welche das Resultat unserer Überlegungen in knapper 
Form zusammenfaßt, ist schon vor langer Zeit von Cayley gegeben 
worden (vgl. Recherches ulterieures sur les determinants gauches, Crelles 
Journal, Bd. 50, 1855, oder auch Werke, Bd. II, S. 214), und stimmt 
natürlich mit den entsprechenden Formeln überein, welche von Clifford, 
bez. Sir Robert Ball entwickelt werden. 

Es handelt sich nunmehr um die geometrische Deutung der durch (12) 
dargestellten Schiebung der ersten Art. Zu dem Zwecke führen wir jetzt 
die zu (5) gehörige Nicht-Euklidische (elliptische) Maßbestimmung ein und 
wählen der Einfachheit halber die bei letzterer auftretende, noch willkür- 
liche multiplikative Konstante so, daß das Krümmangsmaß gleich 1 wird. 
Wir definieren dementsprechend als Nicht-Euklidische Entfernung zweier 
Punkte x, x’ den Ausdruck 

watt tn 
Vvartateste Vet tntt+ et 


und als Winkel zweier Ebenen «, w durchaus analog: 








(15) EZE=arccos 








(16) W =-arccos Ute FUatlg + ung + uud r 

Var tus tus tus yufrtuftugr tue 
Es ist wohl überflüssig, daß ich die Formeln (10) oder (12) auch noch 
für Ebenenkoordinaten anschreibe. Übrigens denken wir uns in alle diese 
Formeln jetzt für @,b,c, d die Werte (3) eingetragen. Wir haben dann 


XXI. Zur Nicht-Euklidischen Geometrie. 361 - 


sofort aus (15), (16): Bei einer Schiebung von der Amplitude p rückt 
jeder Punkt des Raumes auf der durch ihn hindurchgehenden Kongruenz- 


linie um das Stück z fort; ebenso dreht sich jede Ebene um die in ihr 
liegende Kongruenzlinie um den Winkel > . Die einzelne Schiebung ist 


also eine Schraubenbewegung des Raumes, bei welcher unendlich viele 
Schraubenachsen existieren: die Linien der zugehörigen linearen Kongruenz. 
Dabei unterscheiden sich, wie leicht zu sehen, die Schiebungen erster und 
zweiter Art durch den Sinn der jeweiligen Schraubenbewegung: bezeichnen 
wir irgendeine Schiebung erster Art als eine Schiebung rechts herum, so 
sind alle Schiebungen erster Art Schiebungen rechts herum, alle Schiebungen 
zweiter Art Schiebungen links herum. Die zugehörigen Kongruenzen sind 
eben selbst rechts herum gewunden, bez. links herum gewunden. 

Mit den so gegebenen Sätzen (die ich nicht weiter ins einzelne aus- 
führe) ist nun die Grundlage für Cliffords neue Parallelentheorie ge- 
geben. Was parallele Linien im parabolischen (Euklidischen) Raume sind, 
steht fest: bei der Definition paralleler Linien des Nicht-Euklidischen 
Raumes werden wir zunächst nur insoweit eingeschränkt sein, als wir dar- 
auf achten müssen, daß die ‚Definition in die gewöhnliche Euklidische über- 
geht, sobald der Nicht-Euklidische Raum in einen Euklidischen ausartet. 
Dieser Bedingung genügt man selbstverständlich durch die gewöhnliche 
Festsetzung, welche solche Linien des Nicht-Euklidischen Raumes parallel 
nennt, die sich in einem unendlich fernen Punkte (einem Punkte der 
Fundamentalfläche zweiten Grades) schneiden. Aber die so definierten 
Parallelen haben, wie Clifford hervorhebt, fast alle die eleganten Eigen- 
‚schaften verloren, die den Euklidischen Parallelen zukommen. Diese Eigen- 
schaften beruhen, nach Clifford, wesentlich darauf, daß Euklidische 
Parallelen vermöge derselben Raumbewegung in sich selbst verschoben 
werden können. Aber die gleiche Eigenschaft haben im Nicht-Euklidischen 
Raume, wie wir sahen, die Linien der gerade besprochenen Kongruenzen 
(der einen wie der anderen Art). Ein Bündel Euklidischer Parallelen kann 
geradezu als Ausartung einer derartigen Kongruenz angesehen werden. Da- 
her der Vorschlag: als Nicht-Euklidische Parallelen solche (windschiefe) 
gerade Linien zu bezeichnen, welche der gleichen Kongruenz (der einen 
oder anderen Art) angehören, d. h. welche dieselben beiden imaginären 
Erzeugenden der ersten oder zweiten Art unserer Fundamentalfläche 
treffen. Die so definierten (Cliffordschen) Parallelen sind imaginär, 
wenn die gewöhnlichen Nicht-Euklidischen Parallelen reell sind, nämlich 
im hyperbolischen Raume, dafür sind sie auf Grund der vorausgeschickten 
‚Entwicklungen reell gerade da, wo es die gewöhnlichen Parallelen nicht 
sind, nämlich im elliptischen Raume. Sie zerfallen dabei ersichtlich in 


362 Zur Grundlegung der Geometrie. 


Parallele der einen oder der anderen Art, d. h.in rechtsgewundene und in 
linksgewundene Parallelen.?) | 

Es ist hier nicht meine Absicht, noch ausführlich die Zweckmäßigkeit 
der Cliffordschen Definition darzutun. Vielmehr wende ich mich gleich 
zur Theorie der besonderen Flächen zweiten Grades, von denen im obigen 
Zitate die Rede war. Es handelt sich um die ringförmigen Flächen 
zweiten Grades (Regelflächen), welche mit der Fundamentalfläche (5) ein 
geradliniges Vierseit gemein haben. Die Erzeugenden erster Art dieser 
Fläche, ebenso wie ihre Erzeugenden zweiter Art, sind im Cliffordschen 
Sinne unter sich parallel; die einen rechts-parallel, die andern links-parallel. 
Infolgedessen kann die Fläche in unserem elliptischen Raume auf zwei 
Weisen in sich verschoben werden, einmal so, daß die Erzeugenden der 
einen Art die Bahnkurven abgeben, während die der zweiten Art unter- 
einander vertauscht werden, das andere Mal umgekehrt. Wir schließen, 
daß alle Erzeugenden erster Art mit den sie treffenden Erzeugenden zweiter 
Art je denselben Winkel einschließen (den wir # nennen wollen) und daß 
die Stücke, welche auf zwei Erzeugenden der einen Art von zwei Erzeu- 
genden der anderen Art ausgeschnitten werden, gleich lang sind. Offenbar 
können wir die Figur, welche auf der Fläche von solchen zweimal zwei 
Erzeugendenstücken umgrenzt wird, ein Parallelogramm nennen; denn sie 
hat, obgleich nicht eben, mit dem Parallelogramm der Euklidischen Ebene 
die wesentlichen Eigenschaften gemein. Gleichzeitig erkennen wir in der 
Fläche, eben wegen der Verschiebungen, die sie in sich zuläßt, eine Fläche 
konstanter Krümmung. Aber die zweierlei Schiebungen sind, wie wir 
wissen, miteinander vertauschbar. Hieraus allein folgt bereits, wie Clifford 
hervorhob, daß das Krümmungsmaß der Fläche gleich Null ist. 

Alles dieses sind besonders elegante Eigenschaften der betrachteten 
Fläche (die im elliptischen Raume in mancher Hinsicht dieselbe Rolle 
spielt wie im gewöhnlichen, parabolischen Raume die Ebene). Aus ihnen 
folgt, worauf Clifford vor allen Dingen die Aufmerksamkeit richten wollte: 
Die Gesamtfläche hat einen endlichen Flächeninhalt. In der Tat kann 
man sie ja in unendlich viele, unendlich kleine Parallelogramme von der 
Winkelöffnung # zerschnitten denken, deren Summation sofort gelingt, und 
als Gesamtinhalt der Fläche, indem die Gesamtlänge der Erzeugenden der 
einen wie der anderen Art = ist, n°-cos® ergibt. —- Dieses Resultat 
ist darum so bemerkenswert, weil es unseren gewöhnlichen Vorstellungen 
von den Eigenschaften einer unbegrenzten Mannigfaltigkeit verschwinden- 
den Krümmungsmaßes widerstreitet. Man glaubt (oder glaubte) allgemein, 
daß eine solche Mannigfaltigkeit, gleich der Euklidischen Ebene, unend- 


®) [Angaben späterer Untersuchungen findet man in den Artikeln der Math. Enz. 
von M. Zacharias (III. AB.9) und H. Rothe.(III. AB. 11).] 





XXI. Zur Nicht-Euklidischen Geometrie. 363 


liche Ausdehnung besitzen müsse; die Clıffordsche Fläche (so will ich die 
in Rede stehende Fläche zweiten Grades fortan nennen) belehrt uns, daß dies 
keineswegs notwendig der Fall zu sein braucht. Es hängt dies offenbar 
mit dem Umstande zusammen, daß die Cliffordsche Fläche als ring- 
förmige Fläche zweiten Grades mehrfachen Zusammenhang besitzt. So 
sehen wir denn jetzt ein allgemeines Problem vor Augen, mit dem wir 
uns bald ausführlich beschäftigen wollen, das Problem: alle Zusammen- 
hangsarten anzugeben, welche bei geschlossenen Mannigfaltigkeiten irgend- 
welchen konstanten Krümmungsmaßes überhaupt auftreten können.*”) 


II. 


Von den verschiedenen (Euklidischen oder Nicht-Euklidischen) 
Raumformen. 


Ehe ich das bezeichnete Problem in seiner Allgemeinheit in Angriff 
nehme, sei es mir gestattet, die Aufmerksamkeit auf einen besonderen 
dabei in Betracht kommenden Punkt zurückzulenken, der in meinen ersten 
Abhandlungen zur Nicht-Euklidischen Geometrie an zwei Stellen besprochen 
ist (Bd. 4 der Math. Annalen [Abh. XVI dieser Ausgabe, S. 285]; Bd. 6 
[Abh. XVIII dieser Ausgabe $. 324]). Indem ich damals die projektive 
Geometrie als Grundlage der Nicht-Euklidischen Geometrie voranstellte, 
verursachte die Einordnung des Euklidischen Raumes und des sogenannten 
Gaußschen Raumes (des allseitig unendlich ausgedehnten Raumes kon- 
stanter negativer Krümmung) keinerlei Schwierigkeit: dieselben entsprechen 
direkt den beiden Fällen der von mir so bezeichneten parabolischen, bez. 
hyperbolischen Geometrie. Anders beim Raume konstanter positiver 
Krümmung (dem sogenannten Riemannschen Raume). Wie Riemann 
selbst sich die hier in Betracht kommenden Verhältnisse innerhalb dieses 
Raumes gedacht hat, ist nach den kurzen Andeutungen, welche er hier- 
über gibt!!), nicht ganz klar; jedenfalls aber haben Beltrami und die 
sämtlichen an ihn anknüpfenden Mathematiker die Geometrie des genannten 
Raumes schlechtweg mit derjenigen der Kugel parallelisiert und daraus 





10) [Es ist mir gelegentlich die Frage gestellt worden, wie denn die Cliffordsche 
Fläche aussieht? Nicht anders, als jedes beliebige einschalige Hyperboloid. Nicht 
das „Aussehen“ der Fläche ist abgeändert, sondern nur eine besondere Verabredung 
getroffen, wie auf ihr gemessen werden soll (nämlich unter Zugrundelegung irgend- 
einer nullteiligen Fläche zweiten Grades, die mit dem vorgelegten Hyperboloid nur 
imaginäre Erzeugende gemein hat). K.| 

1) Vgl. „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“, insbeson- 
dere den Satz, der in den Ges. Werken [1. Auflage] auf S. 266 unten abgedruckt ist. 
— Ich halte es selbstverständlich für. wahrscheinlich, daß Riemann dort an den 
sphärischen Raum gedacht hat, aber seine Worte passen auch, ohne unrichtig zu sein, 
auf den elliptischen Raum. 


364 Zur Grundlegung der Geometrie. 


geschlossen, daß die Punkte eines solchen Raumes, gleich den Gegen- 
punkten der Kugel, paarweise zusammengehören, in der Art, daß alle 
geodätischen Linien, welche durch den einen der beiden Punkte hin- 
durchgehen, auch durch den anderen laufen. Ich hatte dem gegenüber 
darauf aufmerksam zu machen [Abh. XVI, 1. c.], daß die Kugel nicht 
der einfachste Typus einer zweidimensionalen, geschlossenen Mannigfaltig- 
keit konstanter positiver Krümmung ist, daß dieser vielmehr durch das 
vom Mittelpunkte der Kugel auslaufende Strahlenbündel geliefert wird 
(dessen Strahlen den Kugelpunkten ein-zweideutig entsprechen). Die ellip- 
tische Geometrie, wie ich sie verstehe, deckt sich also nicht mit der sonst 
diskutierten sphärischen Geometrie!?), sondern ist einfacher. In der ellıp- 
tischen Geometrie ist die Gruppierung der geraden Linien und Ebenen des 
Raumes genau dieselbe wie in der projektiven Geometrie: zwei Gerade 
schneiden sich, wenn überhaupt, nur einmal. Die komplizierteren Verhält- 
nisse des sphärischen Raumes entstehen erst, wenn man den linearen ellip- 
tischen Raum durch Projektion auf ein Gebilde zweiten Grades überträgt. — 

Es ist mir kein Zweifel, und ich habe mich darüber bereits in Bd. 6 der 
Math. Ann. [Abh. XVIII] l.c. mit aller Deutlichkeit geäußert, daß ich mit 
den so bezeichneten Auseinandersetzungen einen wirklichen Irrtum der früheren 
Darstellungen aufgedeckt habe. Meine Anschauungen vom elliptischen Raume 
sind dann später in anderer Weise unabhängig von Herrn Newcomb ent- 
wickelt worden*?). Indem ich mir vorbehalte, sogleich noch auf die ausführ- 
lichen hier anschließenden Untersuchungen des Herrn Killing einzugehen '?), 
möchte ich hier vorab die Frage aufwerfen, weshalb man zur klaren Erfassung 
des elliptischen Raumes erst so spät gekommen ist, und die dazu führenden 
Überlegungen selbst heute immer noch nicht allgemein bekannt scheinen ?°). 
Der Unterschied des sphärischen und des elliptischen Raumes ruht natür- 
lich wieder in deren Zusammenhangsverhältnissen, und der „Zusammen- 
hang“ des elliptischen Raumes hat etwas Ungewöhnliches. Bleiben wir 
der Einfachheit halber, weil die Sache da am kürzesten bezeichnet werden 
kann, bei zweidimensionalen Mannigfaltigkeiten. Es handelt sich da um 
den Unterschied der gewöhnlichen einfachen Flächen und der von Moebius 





12) Ich werde die beiden Namen „elliptisch‘“ und „sphärisch“ in dem hier hervor- 
tretenden Sinne auch in der Folge auseinanderhalten. 

13) Elementary theorems relating to the geometry of a space of three dimensions 
and of uniform positive curvature in the fourth dimension. Bd. 83 des Journals für 
Mathematik, 1877. 

14) Über zwei Raumformen mit konstanter positiver Krümmung, Journal, Bd. 86, 
1879, sowie in dem 1885 bei Teubner erschienenen Werke (auf welches schon oben 
Bezug genommen wurde): Die Nicht-Euklidischen Raumformen in analytischer Be- 
handlung. 

15) Vgl. z. B. Poincar& im Bulletin de la Societe Mathematique de France, 
Bd. 15 (1887), S. 203 ff. 


XXI. Zur Nicht-Euklidischen Geometrie. 365 


‚entdeckten Doppelflächen, bei denen man durch kontinuierliches Fort- 
schreiten über die Fläche hin von einer Seite auf die andere gelangen 
kann!*). Die Existenz dieser Doppelflächen widerstreitet unserer Gewöh- 
nung, welche einseitig von solchen Flächen abgezogen ist, die einen Körper 
begrenzen und eben darum notwendig einfach sind. Dies ist die ganze 
hier vorliegende Schwierigkeit. In der Tat: die elliptische Ebene verhält 
sich wie die Ebene der projektiven Geometrie und diese ist, wie ich schon 
vor langer Zeit an Bemerkungen von Schläfli anknüpfend auseinander- 
setzte!”), eine Doppelfläche. Die elliptische Geometrie ist einfach deshalb 
so lange unbeachtet geblieben, weil der Begriff der Doppelfläche den Geo- 
metern nicht geläufig war, oder, wenn sie ihn in der projektiven Geometrie 
gebrauchten, nicht als solcher zum Bewußtsein gekommen war. 


Nun einige Bemerkungen zu den Entwicklungen des Herrn Killing. 
Herr Killing hat nämlich den Gedanken verfolgt (dem gewiß beigestimmt 
werden kann), daß der sphärische Raum auch neben dem elliptischen 
Raume noch ein besonderes Interesse behält. Als einen wirklichen Fort- 
schritt betrachte ich den Killingschen Beweis, daß bei den von ihm 
festgehaltenen Hypothesen (welche ich übrigens sogleich noch einer näheren 
Kritik unterwerfen werde) als Raumformen konstanten positiven Krüm- 
mungsmaßes keine anderen möglich sind, als eben der elliptische und 
der sphärische Raum (Journal für Math., Bd. 89,1. c.). Clifford und ich 
sind an diesem Satze vorbeigeführt worden, weil wir unsere Aufmerksam- 
keit, unserer damaligen, wesentlich analytischen Auffassung entsprechend, 
von vornherein auch auf komplexe Werte der Koordinaten gerichtet hatten. 
Die Abbildung des elliptischen Strahlenbündels auf eine um seinen Mittel- 
punkt herumgelegte Kugel erschien mir daher (Math. Annalen, Bd. 4.[Abh. XVI 
dieser Ausgabe], l.c.) nur als spezieller Fall der n-deutigen Abbildung desselben 
auf irgendwelche Fläche n-ter Ordnung; Clifford stellt in seiner oben be- 
sprochenen Arbeit (Preliminary sketch of biquaternions, Werke, $. 189) dem 
„linearen“ elliptischen Raume ausdrücklich höhere „algebraische‘“ Räume ent- 
gegen. Diese algebraischen Räume werden natürlich „Verzweigungselemente“ 
enthalten, d. h. Punkte, welche mit den sonstigen Punkten des Raumes nicht 
gleichberechtigt sind (in meinem Beispiele sind dies diejenigen Punkte der 
F„, ın denen Strahlen des elliptischen Strahlenbündels berühren). Auch im 





‘) Vgl. die Mitteilungen von Herrn Reinhardt in Bd. 2 von Moebius’ gesam- 
melten Werken (Leipzig 1886), S.519ff. — Wegen der allgemeinen Theorie dieser 
Zusammenhangsfragen siehe Dyck in Bd. 32 der Math. Annalen, S. 472ff. (Beiträge 
zur Analysis situs). — Vgl. übrigens auch die durchaus zutreffenden Äußerungen von 
Herrn Newcomb in Nr. XII seiner zitierten Abhandlung [Wie Staeckel in den 
Math. Ann., Bd. 59, bemerkt hat, ist die Existenz von Doppelflächen zuerst von 
Listing 1858 veröffentlicht worden. ] 

‘") Math. Annalen, Bd. 7, S. 550 (1874). [Siehe Bd. 2 dieser Ausgabe. ] 


366 Zur Grundlegung der Geometrie. 


Falle des sphärischen Raumes sind Verzweigungselemente, algebraisch zu 
reden, vorhanden; nur sınd dieselben alle imaginär und man kann also 
von ihnen abstrahreren, indem man sich auf die Betrachtung reeller Ele- 
mente beschränkt. Und nun verstehe ich Herrn Killings Resultat dahin, 
daß es neben dem eigentlichen elliptischen Raume keinen anderen reellen 
algebraischen Raum konstanten, positiven Krümmungsmaßes gibt, der frei 
von Verzweigungselementen wäre, als eben den sphärischen Raum. Es ist 
dies im Sinne der Analysis situs zu verstehen, welche solche geometrische 
Gebilde als gleichwertig erachtet, welche durch stetige Deformation in- 
einander übergeführt werden können®). Wir sagen also vielleicht besser, daß 
ein reeller Raum konstanten positiven Krümmungsmaßes, der keine Ver- 
zweigungselemente enthält, eindeutig entweder auf den elliptischen Raum 
oder den sphärischen Raum muß bezogen werden können. — Erscheint so 
das Hauptresultat des Herrn Killing mit meinen Anschauungen sehr wohl ver- 
einbar, so kann ich demselben in einer anderen Hinsicht nicht zustimmen: 

Herr Killing bezeichnet den elliptischen Raum als Polarform des 
sphärischen (oder, wie er sagt, des Riemannschen Raumes). Anlaß dazu 
ist wohl gewesen, daß im elliptischen Raume, der oben mitgeteilten Formel 
(15) entsprechend, die Gesamtlänge einer geraden Linie ebenso gleich x 
ist, wie die Winkelsumme im Ebenenbüschel des sphärischen Raumes. 
Aber die Winkelsumme im Ebenenbüschel des elliptischen Raumes ist 
doch auch gleich z, und nicht etwa gleich 2x, wie es die Gesamtlänge 
der geraden Linie des sphärischen Raumes ist. Der elliptische Raum ist 
eben sich selbst durchaus dualistsch, er ist seine eigene Polarform. Herrn 
Killings Benennung ist also unzutrefiend. Nichts hindert, sich die wirkliche 
Polarform des Riemannschen Raumes auszudenken. Aber das wird so kom- 
pliziert und fremdartig, daß es keinen Zweck hat, hier näher darauf einzugehen. 

Beiläufig will ich noch auf einen anderen Unterschied des sphärischen 
und des elliptischen Raumes aufmerksam machen, der nicht ohne Interesse 
ist und noch nicht bemerkt zu sein scheint. Bekanntlich ist durch Herrn 
Schering die T'heorie des Potentials auf beliebige Nicht-Euklidische Räume 
ausgedehnt worden'®).. Setzen wir das Krümmungsmaß des sphärischen 





18) So erscheint also z. B. ein in sich geschlossener ovaler Flächenteil irgendeiner 
Fläche höherer Ordnung als gleichwertig mit der Kugel, und es ist mit dem Satze 
des Textes nicht im Widerspruch, wenn man gegebenenfalls einen solchen Flächenteil 
ebensowohl zwei-eindeutig den reellen Strahlen eines Strahlenbündels zuordnen kann, 
wie die Kugel selbst. 

19) Göttinger Nachrichten 1870, 8. 311—8321:' Die Schwerkraft im Gäußischen 
Raume, ebenda 1873, S. 149ff.: Die Schwerkraft in mehrfach ausgedehnten Gaußischen 
und Riemannschen Räumen. Vgl. hierzu auch Killing in Bd. 98 des Journals 
für Mathematik (1884): Die Mechanik in den Nicht-Euklidischen Raumformen (vgl. 
insbesondere S. 24—29 daselbst). — Der „Riemannsche Raum“ Scherings ist wieder: 
unser sphärischer Raum. 


XXI. Zur Nicht-Euklidischen Geometrie. 367 


Raumes, um mit unseren früheren Formeln in Übereinstimmung zu sein, 
gleich Eins, so wird ihm zufolge das Elementarpotential zweier Massen- 
punkte a, b, im Falle drei Dimensionen in Betracht kommen (eine An- 
nahme, auf die wir uns hier beschränken wollen): 


(17) F =obler,.;: 


Sei jetzt a’ der sphärische Gegenpunkt von a. Rückt b an a heran, so 
wird cotgr,, positiv unendlich, rückt es an a’, so negativ unendlich. 
Wir haben also eine Elementarwirkung, bei welcher jedesmal gleichzeitig 
mit einer anziehenden Masse in a eine ebenso stark abstoßende Masse in 
a’ gesetzt ist. Diese Mitwirkung des Gegenpunktes a’ läßt sich auch 
nicht entbehren. Man sieht dies am besten, wenn man das gesuchte Ele- 
mentarpotential V als Geschwindigkeitspotential einer Flüssigkeitsbewegung 
deutet: indem der sphärische Raum endlich ist, muß bei ihm, sobald eine 
Quelle gegeben ist, aus welcher Flüssigkeit ausströmt, notwendig eine 
andere Stelle gegeben sein, in der Flüssigkeit verschwindet. — Meine Be- 
merkung ist nun, daß die hiermit skizzierte Theorie notwendig an der 
Annahme des sphärischen Raumes haftet und im elliptischen Raume ihre 
Bedeutung verliert. In der Tat kann Formel (17) für den elliptischen Raum 
kein eigentliches Potential vorstellen. Denn da a und a’ im elliptischen Raume 
koinzidieren, ist die durch (17) vorgestellte Funktion des Punktes b im 
elliptischen Raume nur bis auf das Vorzeichen bestimmt: der Punkt 5 soll 
also nach Formel (17) seitens eines und desselben Punktes a gleichzeitig 
angezogen und abgestoßen werden, oder auch a soll gleichzeitig Quelle 
und Verschwindungstselle einer Flüssigkeitsbewegung sein. Eine solche 
Vieldeutigkeit ist augenscheinlich mit der Idee einer Elementarwirkung 
unverträglich ?°). | 





°) Ich würde im Texte auch noch gern auf die Betrachtungen eingegangen sein, 
welche Herr v. Helmholtz in seinem bekannten Vortrage: Über den Ursprung und 
die Bedeutung der geometrischen Axiome (1870, abgedruckt in Heft 3 der populären 
wissenschaftlichen Vorträge, Braunschweig 1876) über das Sehen in Nicht-Euklidischen 
Räumen entwickelt. Inzwischen finde ich es schwer, dieselben im einzelnen zu ver- 
stehen. Indem wir hier bei Aufstellung der hyperbolischen, der elliptischen, der para- 
bolischen Raumform gleichförmig von der projektiven Geometrie ausgehen, ist für 
uns von vornherein gegeben, daß allemal die Gesetze der Perspektive dieselben sein 
müssen. Ersetzen wir hinterher den elliptischen Raum durch den sphärischen, so 
kommt eine bestimmte Komplikation durch das Auftreten der Gegenpunkte hinzu. 
Von dieser Komplikation ist aber bei Herrn v. Helmholtz, trotzdem er sich übrigens 
genau an die Beltramischen Entwicklungen anschließt, nirgends die Rede; vielmehr 
paßt das, was a. a. O. S. 47 gesagt wird, ohne weiteres auf die Verhältnisse des ellip- 
tischen Raumes, ohne darum für den sphärischen Raum unrichtig zu sein. (Es 
heißt dort z. B.: Den seltsamsten Teil des Anblicks der sphärischen Welt würde 
aber unser eigener Hinterkopf bilden, in dem alle unsere Gesichtslinien wieder zu- 


sammenlaufen würden, soweit sie zwischen anderen Gegenständen frei durchgehen 
können, usw. —) 


368 Zur Grundlegung der Geometrie. 


Gehen wir nun zu der allgemeinen Fragestellung über, die wir zum 
Schlusse von Nr. I formulierten. Auch hier werde ich mit einer kritischen 
Bemerkung beginnen. In der Tat hat sich ja Herr Killing an den ge- 
nannten Orten dieselbe Aufgabe gestellt, die uns hier beschäftigen soll, 
nämlich die, alle Nicht-Euklidischen (oder auch Euklidischen) Raumformen 
aufzuzählen. Wir sahen bereits, daß in dieser Hinsicht der elliptische und 
der sphärische Raum bei ihm fortgesetzt nebeneinander betrachtet werden. 
Dagegen fehlt bei ihm die Raumform verschwindender Krümmung, die 
wir in Nr. I kennen lernten: die Cliffordsche Fläche. Auch hat, soviel ich 
weiß, bislang keiner der anderen zahlreichen Mathematiker, die über Räume 
verschwindender Krümmung geschrieben haben, der durch die Clifford- 
sche Fläche realisierten Möglichkeit gedacht. Es ist also, ohne daß man 
es merkte, immer eine willkürliche Voraussetzung eingeführt worden, die 
das Resultat der Überlegung unnötig einschränkte. Ich werde versuchen, 
diese Voraussetzung hier zu bezeichnen. Sei es dabei wieder, der größeren 
Bestimmtheit des Ausdrucks halber, gestattet, nur von zweidimensionalen 
Mannigfaltigkeiten zu reden. Hat eine solche Mannigfaltigkeit, wie wir 
voraussetzen, konstante Krümmung und ist sie zugleich unbegrenzt, so 
kann jeder einfach berandete, einfach zusammenhängende Teil derselben auf 
ihr auf dreifach unendlich viele Weisen verschoben werden (ohne je an 
eine Hemmung zu stoßen). Aber darum ist keineswegs nötig (was bei 
den Killingschen Raumformen zutrifft), daß sich die Mannigfaltigkeit 
als Ganzes auf dreifach unendlich viele Weisen in sich verschieben läßt. 
Man vergleiche in dieser Hinsicht die Eigenschaften der Cliffordschen 
Fläche. Dieselbe gestattet allerdings zweifach unendlich viele Bewegungen 
in sich selbst, entsprechend den einfach unendlich vielen Schiebungen der 
einen wie der anderen Art, durch welche sie in sich übergeht: bei diesen 
zweifach unendlich vielen Bewegungen bleibt kein Punkt der Fläche fest. 
Aber nun versuche man etwa, die Cliffordsche Fläche unter Festhaltung 
eines ihrer Punkte, gleich einer Euklidischen Ebene, um diesen Punkt in 
sich selbst zu drehen. So wird man sofort bemerken, daß dies nicht mög- 
lieh ist. In der Tat haben die von einem Punkte der Fläche unter ver- 
schiedenen Azimuthen auslaufenden geodätischen Linien derselben ganz ver- 
schiedene Länge: die beiden durch den Punkt hindurchgehenden geradlinigen 
Erzeugenden der Fläche haben, wie wir wissen, die Gesamtlänge z, aber 
in ihrer unmittelbaren Nähe können geodätische Linien der Fläche gefunden 
werden (wir werden dies sogleich noch explizit zeigen), die unbegrenzt 
oft über die Fläche hinlaufen, ohne sich zu schließen, und also unendliche 
Länge haben. Die hiermit formulierten Bemerkungen sind, denke ıch, 
entscheidend: Man hat, indem man das Problem der Raumformen be- 
handelte, bislang die berechtigte Forderung freier Beweglichkeit einfach 


XXI. Zur Nicht-Euklidischen Geometrie. 369 


zusammenhängender Raumstücke durch die weitergehende Annahme er- 
setzt, die Räume als Ganzes seien in sich frei beweglich. 

Clifford selbst hat bereits (an der oben zitierten Stelle) angedeutet, 
wie man sich am leichtesten Einsicht in die speziellen Zusammenhangs- 
verhältnisse seiner Fläche verschafft. Man denke sich nämlich die Fläche 
längs zweier von einem Punkte derselben anlaufender Erzeugender derselben 
aufgeschnitten, wodurch sie einfach berandet und einfach zusammenhängend 
wird. Die so geschnittene Fläche können wir dann offenbar unter Auf- 
rechterhaltung ihrer Maßverhältnisse auf ein Stück der Euklidischen Ebene 
abbilden (auf ein Stück der Euklidischen Ebene abwickeln, 
um diesen sonst in der Flächentheorie üblichen Ausdruck 
anwenden); nämlich auf einen Rhombus von der Winkel- 
Öffnung ® und der Seitenlänge n (Fig. 1), wobei die gegen- - 
überstehenden Seiten dieses Rhombus so zueinander gehören, Fig i. 
wie sie durch eine Parallelverschiebung der Ebene auseinander 
hervorgehen (was durch die Doppelpfeile der Figur angedeutet sein soll). An 
dieser Figur studieren wir nun mit Leichtigkeit die einzelnen Fragen, die 
uns interessieren; z. B. den Verlauf einer geodätischen Linie über die 
Cliffordsche Fläche hin. Noch bequemer wird dies übrigens, wenn wir 
Fig. 1 vermöge der zugehörigen Parallelverschiebungen (welche die einzelne 
Kante je in die gegenüberliegende überführen) vervielfältigen und uns so 
eine Zerlegung der Ebene in ein 








ein Bild davon, wie sich die 
Abwicklung unserer Euklidischen 


Rhombennetz verschaffen, wie es / / / »/ 
durch Figür 2 vorgestellt wird. 
Offenbar gibt uns diese neue Figur , 

ER 

’ J 








Ebene über die Cliffordsche en Z 
Fläche hin gestaltet: so wie in + — 
der Figur unendlich viele Rhomben / A / | 

ig. 2. 


nebeneinanderliegen, so wird die 
Cliffordsche Fläche bei der genannten Abwicklung mit unendlich vielen 
Blättern überdeckt, welche glatt ineinander übergehen,ohne irgendwelche Ver- 
zweigungspunkte darzubieten. — Wollen wir also den Verlauf einer geo- 
dätischen Linie auf der Fläche verfolgen, so häben wir nur zuzusehen, wie 
unser Rhombennetz von einer geraden Linie der Ebene durchzogen wird. Ich 
betrachte z. B. die gerade Linie AB der vorstehenden Figur, die von einem 
Eckpunkte (A) auslaufend vier Rhomben durchsetzt, ehe sie wieder in einen 
Eckpunkt (B) einmündet, von dem aus sie sich dann genau so weiter erstreckt, 
wie ursprünglich vom Punkte A aus. Offenbar ist es nur nötig, dieses 
begrenzte Stück A B auf die Cliffordsche Fläche zu übertragen. Und dies 


Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 24 


370 Zur Grundlegung der Geometrie. 


gelingt am leichtesten, indem wir die vier Stücke, mit denen AB die vier 
Rhomben durchsetzt, durch geeignete Parallelverschiebung sämtlich in den 
ursprünglichen Rhombus zurückverlegen. Es entsteht so ein gebrochener 


Linienzug: 3 gas 


dessen Übertragung auf die Cliffordsche Fläche uns keine Schwierigkeit 
mehr macht. — Insbesondere können wir so ohne weiteres eine geodätische 
Linie finden, welche unendlich oft über die Cliffordsche Fläche hinläuft, 
ohne sich zu schließen. Wir werden einfach in Figur 2 eine gerade Linie 
ziehen, welche von A auslaufend keinen weiteren Eckpunkt der Figur mehr 
trifft. — Wir gedenken endlich eines letzten Mittels, um die in Frage 
kommenden Beziehungen noch lebhafter zu erfassen. Dasselbe besteht 
darin, daß wir den Rhombus 1 zu einer Ringfläche zusammenbiegen, daß 
die zusammengehörigen Stellen gegenüberliegender Kanten zur Deckung 
kommen. Zu dem Zwecke müssen wir uns natürlich, da es sich um keine 
kongruente Abwickelung handelt, den Rhombus aus einer dehnbaren Mem- 
bran gebildet denken. Auf die so entstehende Ringfläche ist dann die 
Cliffordsche Fläche stetig eindeutig bezogen, und wir können an ihr in ein- 
fachster Weise die sämtlichen Zusammenhangsfragen, insbesondere den. Ver- 
lauf unserer geodätischen Linien verfolgen. — 

Ich habe die verschiedenen Abbildungen der Cliffordschen Fläche 
hier. so ausführlich besprochen, weil uns jetzt die dabei zugrunde liegende 
geometrische Denkweise zur allgemeinen Erledigung des vorgelegten Problems 
der Euklidischen und Nicht-Euklidischen Raumformen dienen soll. Ich be- 
schränke mich dabei vorab auf zwei Dimensionen. 

Was die zweidimensionalen Euklidischen Raumformen angeht, so ist 
sofort ersichtlich, daß uns eine solche gegeben sein wird, auch wenn wir 
nicht, wie in Figur 1, von einem Rhombus, sondern von einem beliebigen 
Parallelogramm der Euklidischen Ebene ausgehen, dessen Ränder wir durch 
geeignete Parallelverschiebung zusammengeordnet denken. Wir können 
dieses. Parallelogramm sogar zu einem Parallelstreif ausarten lassen: 


/ / 


Fig. 3. 








der dann, bei der Zusammenbiegung, nicht eine Ringfläche, sondern eine 
Zylinderfläche ergibt (auf die wir ihn sogar kongruent abgewickelt denken 
können). Wir haben so zwei neue zweidimensionale Euklidische Raum- 
formen, die übrigens gleich der Cliffordschen Mannigfaltigkeit (die sie 
als besonderen Fall einschließen) durch einseitige Flächen versinnlicht 


XXI. Zur Nicht-Euklidischen Geometrie. 371 


werden. Wir können noch eine dritte Raumform zufügen, die unter dem 
Bilde einer Doppelfläche?') erscheint. In der Tat habe ich an einem anderen 
Orte?) ausführlich gezeigt, daß man eine Ringfläche in der Art stetig de- 
formieren kann, daß sie schließlich eine Doppelfläche beiderseitig überzieht; 
indem wir bei diesem Deformationsprozesse die Ringfläche fortgesetzt in 
geeigneter Weise als Trägerin einer Euklidischen Maßbestimmung ansehen, 
wird schließlich die Doppelfläche zu einer solchen und repräsentiert dann, 
sobald wir zwischen ihren beiden Seiten nicht weiter unterscheiden, eine 
neue Euklidische Raumform. Hiermit aber haben wir, sage ich, die @e- 
samtheit der in Betracht kommenden zweidimensionalen Nicht-Euklidischen 
Raumformen erschöpft. 

Der Beweis ist nicht einfach und kann hier nur in allgemeinen Zügen 
angedeutet werden: 

Jedenfalls können wir uns zuvörderst auf die Aufzählung einseitiger 
Mannigfaltigkeiten der gewollten Art beschränken: denn etwaige Doppel- 
flächen können wir immer auf einseitige Flächen reduzieren, indem wir 
uns dieselben doppelt überdeckt denken und dadurch zwischen ihren beiden 
Flächenseiten unterscheiden®®). Ist erst die Aufzählung der einseitigen Flächen 
beendet, werden wir nachträglich überlegen, ob wir dieselben zu Doppel- 
flächen zusammenbiegen können, und auf wie viel verschiedene Weisen 
dies möglich sein mag. 

Sei also eine einseitige zweidimensionale Euklidische Mannigfaltigkeit 
zu suchen. Wir denken uns dieselbe durch stetig gekrümmte Schnitte, 
die vielleicht aus dem Unendlich-Weiten?*) kommen und sich im Endlichen 
jedenfalls nur in einem Punkte schneiden sollen, in einen einfach zusammen- 
hängenden Bereich verwandelt und diesen, wie wir es soeben im Beispiele 
taten, in die Euklidische Ebene abgewickelt. In letzterer entsteht dann 
ein Polygon, welches offenbar die doppelte Eigenschaft hat: 

daß seine Seiten paarweise miteinander durch Euklidische Be- 
wegungen zur Deckung gebracht werden können, 

und daß die Summe seiner im Endlichen gelegenen Winkel (welche 
zusammengenommen die Umgebung jener einen Stelle ausmachen, in welcher 
sich die auf der ursprünglichen Mannigfaltigkeit anzubringenden Schnitte 
eventuell kreuzen sollten) gleich 2x ist. 





2!) [In der heute zumeist gebräuchlichen Terminologie werden, wie zur Vermei- 
dung von Mißverständnissen bemerkt werden mag, die hier als einseitige bezeichneten 
Flächen als zweiseitige bezeichnet und Doppelflächen als einseitige.) 

22) In meiner Schrift: Über Riemanns Theorie der algebraischen Funktionen und 
ihrer Integrale (Leipzig 1882, S. 80 unten). 

22) Eben dadurch entsteht in einfachster Weise (um hier darauf zurückzugreifen) 
aus dem elliptischen der sphärische Raum. 

?#) D.h. aus dem Unendlich-Weiten der für die Fläche geltenden Maßbestimmung. 

24* 


372 Zur Grundlegung der Geometrie. 


Es wird darauf ankommen, alle solche Polygone der Euklidischen 
Ebene aufzuzählen. Und da zeigt sich denn, daß es keine anderen Poly- 
gone dieser Art gibt, als das Parallelogramm, bzw. den Parallelstreif, oder 
doch, daß alle anderen krummlirigen Polygone der gesuchten Art, die man 
konstruieren mag, durch geeignete Verschiebung der auf der anfänglichen 
Mannigfaltigkeit zu konstruierenden Schnittlinien auf Parallelogramm oder 
Parallelstreif zurückgebracht werden können. 


Endlich ist zu zeigen, daß man von den so gewonnenen einseitigen 
Euklidischen Mannigfaltigkeiten auf keine andere Weise zu Doppelmannig- 
faltigkeiten übergehen kann, als auf die soeben andeutungsweise erwähnte. — 


Wir haben jetzt die gleichen Untersuchungen für Mannigfaltigkeiten 
positiver, bzw. negativer konstanter Krümmung durchzuführen. Wir werden 
dies tun, indem wir auf der Kugel und in der hyperbolischen Ebene ge- 
eignete Polygone konstruieren, bei denen wir dann noch hinterher unter- 
suchen, ob wir sie etwa zu Doppelflächen zusammenbiegen können. Das 
Resultat ist im Falle der Kugel äußerst einfach, indem wir nämlich bei 
ihr überhaupt keine Polygone finden, die unseren Bedingungen genügen, 
was zur Folge hat, daß Kugel und elliptische Ebene die einzigen hier in 
Betracht kommenden Mannigfaltigkeiten positiver Krümmung bleiben. 
Ganz anders im Falle des negativen Krümmungsmaßes. Hier handelt es 
‚sich, was die Konstruktion geeigneter Polygone angeht, um eine ausgedehnte 
Theorie, welche aber — selbstverständlich unter anderen Gesichtspunkten 
und sogar mit einer Allgemeinheit, die wir nicht brauchen, — von anderer 
Seite, nämlich seitens der modernen Funktionentheorie [in der Theorie der 
automorphen Funktionen], fertig behandelt vorliegt. Ich denke hier zu- 
nächst an die Fundamentalpolygone, welche Herr Poincav& konstruiert, 
um die sämtlichen eindeutigen Funktionen einer komplexen Veränderlichen 
zu finden, die durch reelle lineare Transformationen in sich übergehen”?). 
Die größere Allgemeinheit der Poincar&schen Konstruktion liegt darin, daß 
bei ihr die Winkelbestimmung minder eng gefaßt ist als bei uns. Aber 
auch wenn wir unsere beschränktere Fassung einführen, erhalten wir immer 
noch für jedes Geschlecht p unendlich viele zugehörige Polygone. Alle 
diese Polygone definieren uns neue Raumformen konstanten negativen 
Krümmungsmaßes ohne singuläre Punkte. In meiner soeben zitierten Schrift 
über Riemanns Theorie usw. sind denn auch (S. 81 daselbst) hinreichende 
Andeutungen darüber gegeben, wie man die so erhaltenen einseitigen Raum- 
formen gegebenenfalls zu Doppelmannigfaltigkeiten zusammenbiegen kann. 


Dies also ist die Antwort, welche wir auf unsere Frage nach den 
verschiedenen Raumformen im Falle zweier Dimensionen zu erteilen haben. 





®5) Vgl. etwa Acta Mathematica I (1882): Memoire sur les groupes fuchsiens. 


XXI. Zur Nicht-Euklidischen Geometrie. 373 


Analoge Überlegungen werden wir für dreidimensionale Räume durchführen, 
indem wir geeignete Polyeder konstruieren. Wir werden da im paraboli- 
schen Raume das Parallelepiped usw. in Betracht zu ziehen haben, im 
hyperbolischen Falle aber die Polyeder, welche Herr Poincare& in Band 3 
der Acta Mathematica untersucht”®). Ich verzichte darauf, dies hier ins 
einzelne auszuführen, weil dies außerordentlich viel Raum erfordern würde ?”). 
Immer würde ich wünschen, daß die Fragestellung von anderer Seite auf- 
genommen wird. In der Tat ist dieselbe ja für die Raumlehre, sofern 
wir diese mit der Forderung freier Beweglichkeit starrer Körper beginnen 
wollen, fundamental. 


Letztere Forderung ist bekanntlich seinerzeit von Herrn v. Helm- 
holtz vorangestellt worden”). Um hier alle Bemerkungen zusammen zu 
haben, die ich über das solchergestalt zu gründende System der Geometrie 
zu machen habe, gedenke ich anhangsweise noch der Helmholtzschen 
Forderung der Monodromie des Raumes. Dieses neue Postulat verlangt 
zunächst, daß überhaupt volle Umdrehung um eine Achse möglich sein soll; 
es werden dadurch z. B. die Räume mit indefinitem Bogenelemente aus- 
geschlossen. Dieser Teil des Postulates ist gewiß gerechtfertigt und soll 
hier unerörtert bleiben. Aber Herr v. Helmholtz gibt seinem Postulate 
eine weitergehende Bedeutung, indem er der Möglichkeit gedenkt, daß bei 
voller Umdrehung des Raumes um eine Achse sich die Abstände der Punkte 
von der Achse vielleicht nicht ungeändert reproduzieren. In der Tat hat 
Herr v. Helmholtz für den Fall zweier Variabelen am Schlusse seiner 
Mitteilung in den Göttinger Nachrichten eine mit drei Parametern aus- 
gestattete Transformationsgruppe angegeben, welche übrigens alle Eigen- 
schaften einer (Euklidischen oder Nicht-Euklidischen) Bewegungsgruppe hat, 
aber die hiermit bezeichnete Möglichkeit realisiert. Wir sehen dies sofort, 


indem wir uns die Transformationen der Gruppe etwa folgendermaßen 
anschreiben: 


(2’ +iy’)= emtinr.(2+iy)+a-+ ib. 
Hier sind x, a, b die drei Parameter, m und n aber bedeuten zwei nicht 
verschwindende Konstante. Die Forderung der Monodromie läuft nun 
insbesondere auch darauf hinaus, derartige Gruppen auszuschließen. Dem- 





26) Memoire sur les groupes kleindens (1883). [Ausgeführt in Bd. I der Vorlesungen 
über die Theorie der automorphen Funktionen von Fricke-Klein.] 

””) Was den Begriff der Doppelmannigfaltigkeit im Falle dreier Dimensionen an- 
geht, so vgl. die bereits zitierte Abhandlung von Herrn Dyck in Bd. 32 der Math. 
Annalen. 

2) Über die tatsächlichen Grundlagen der Geometrie, Bd. 4 d. Verh. d. natur- 
historisch-medizinischen Vereins zu Heidelberg, 1886; Über die Tatsachen, die der Geo- 
metrie zu Grunde liegen, Göttinger Nachrichten 1868. [Helmholtz, Gesammelte Ab- 
handlungen, Bd. II, S. 610-618). 


374 Zur Grundlegung der Geometrie. 


gegenüber muß konstatiert werden, daß Gruppen der gewollien Eigenschaft 
überhaupt nur bei zwei Dimensionen existieren (so daß also für Räume 
von drei und mehr Dimensionen die Forderung der Monodromie in ihrem 
zweiten, hier allein in Diskussion stehenden Teile gegenstandslos ist‘). 
Einen ausführlichen Beweis hierfür gibt Herr Lie in den Leipziger Be- 
richten von 1886?®). Ich meinerseits möchte hier auf eine einfache Über- 
legung aufmerksam machen, aus welcher das Gleiche ohne alle Rechnung 
folgt. Die Sache ist, daß bei drei und mehr Dimensionen positive und 
negative Drehung um eine Achse notwendig gleichberechtigte Operationen 
sind. Denn man kann in einem solchen mehrdimensionalen Raume die 
Achse, um welche gedreht wird, unter Festhaltung eines ihrer Punkte selber 
drehen, bis sie in umgekehrter Richtung in ihre ursprüngliche Lage hinein- 
fällt: dann hat sich Drehung rechts herum von selbst in Drehung links 
herum verwandelt. Würden nun etwa bei Drehung rechts herum die Ab- 
stände der Raumpunkte von der Achse vergrößert, so müßte dies auch 
bei Drehung links herum, d.h. bei der inversen Operation, der Fall sein, 
was ein Widerspruch ist”). 





2%) Bemerkungen zu v. Helmholtz’ Arbeit über die Tatsachen, welche der 
Geometrie zugrunde liegen. 

0) 'Die Darlegungen des Textes bedürfen der Erläuterung, bzw. Berichtigung, wie 
ich sie ausführlich in meiner unter XXVIII besprochenen autographierten Vorlesung: 
Einleitung in die höhere Geometrie, II, ausgearbeitet von Fr. Schilling, 1893, auf 
S. 215—244 gegeben habe; siehe auch den hierauf bezüglichen Satz in genannter Be- 
sprechung S. 502 der vorliegenden Ausgabe, 

Der Gegensatz von Helmholtz und Lie und meine dementsprechende im Texte 
dargelegte Auffassungsweise kann nach meinem heutigen Standpunkt etwa folgender- 
maßen bezeichnet werden: 

Helmholtz geht bei seinen Untersuchungen von der erkenntnistheoretischen 
Frage aus, wie die Grundsätze der Geometrie tatsächlich zustande kommen. Indem 
er die freie Beweglichkeit starrer Figuren anschauungsmäßig an die Spitze stellte, kam 
ihm kein Zweifel, daß diese auch für die unmittelbare Umgebung des einzelnen Punktes 
gelten müsse. Dementsprechend schreibt er für die entsprechende Transformation der 
von einem Punkte auslaufenden Differentiale erster Ordnung von vornherein eine 
dreigliedrige lineare Gruppe vor. Hieran habe ich mich im Texte (bzw. in meiner Vor- 
lesung von 1889—90) angeschlossen. Helmholtz ist denn auch, als ich ihm gelegent- 
lich (1893) von meinen Überlegungen betr. die Überflüssigkeit des Monodromieaxioms 
erzählte, damit sehr zufrieden gewesen (siehe Königsbergers .‚Helmholtzbiographie, 
Bd. 3, 8. 81). 

Lie umgekehrt knüpft an den Wortlaut der Axiome an, wie ihn Helmholtz 
in einer im Texte genannten Note in den Göttinger Nachrichten formuliert hat, und 
hat sich dementsprechend mit der Möglichkeit auseinanderzusetzen, daß die 6gliedrige 
Gruppe der Bewegungen bei festgehaltenem Punkte vielleicht nur insofern dreigliedrig 
ist, als man die Transformationen der Differentiale höherer Ordnung mit in Betracht zieht. 

Selbstverständlich sind dies für die rein mathematische Fragestellung wesent- 
liche Untersuchungen, und es ist ein Fehler gewesen, daß ich in meiner Vorlesung 
von 1889—90, bzw. im vorliegenden Aufsatze darüber weggegangen bin. Zur Entschul- 
digung kann ich nur anführen, daß damals nur die vorläufigen Angaben von Lie 
in den sächsischen Berichten von 1886 vorlagen, nicht aber die Ausführungen eben- 


XXI. Zur Nicht-Euklidischen Geometrie. 375 


III. 
Von der rein projektiven Begründung der analytischen Geometrie. 


Meine Entwicklungen in Band 4 und 6 der Math. Annalen [Abh. XVI 
und XVIII dieser Ausgabe ], denen zufolge die projektive Geometrie auch in 
ihrer analytischen Form vor Entscheidung über die Frage des Parallelen- 
axioms soll aufgestellt werden können, ruhen wesentlich auf dem Nach- 
weise v. Staudts, daß man den Zahlbegriff in die Geometrie auf Grund 
bloßer projektiver Konstruktionen einführen kann, ohne irgend von Maß 
und Messen zu sprechen. Trotzdem hierüber in den letzten 20 Jahren 
vieles von verschiedenen Seiten geschrieben ist, scheinen doch noch immer 
besondere Schwierigkeiten dem Verständnisse entgegenzustehen, wie ich 
schon in der Einleitung bemerkte. Vielleicht liegt dies an der Unan- 
schaulichkeit des ursprünglichen v. Staudtschen Verfahrens, bei welchem 
abstrakte Definitionen vorangestellt werden und dem Leser selbst über- 
lassen bleibt, wie er eine Übersicht der schließlich nötig werdenden Ope- 
rationen gewinnen will. Diese Unanschaulichkeit liegt aber, hier wie in 
anderen Teilen der Geometrie, keineswegs im Wesen der Sache. Vielmehr 
gelingt es, wie ich hier zeigen möchte, an einer einzigen einfachen Figur 
gleichzeitig die Einführung der Zahlen und die Grundsätze, nach welchen 
mit denselben zu operieren ist, deutlich zu machen. 

Es wird gut sein, die so bezeichnete Aufgabe von vorneherein nach 
verschiedenen Seiten zu umgrenzen. Zielpunkt ist uns der allgemeine 
Nachweis, daß man durch bestimmte projektive Konstruktion auf jedem 
Grundgebilde erster Stufe (also, um uns auf die Ebene zu beschränken, 
auf jedem Strahlbüschel und auf jeder geraden Punktreihe der Ebene) 
eine Werteverteilung x derart angeben kann, daß zwischen den x, «x 
zweier Grundgebilde, die projektiv aufeinander bezogen sind, eine lineare 


Relation „'-% statt hat. Nun wird aber die beabsichtigte Skalen- 


konstruktion sich wegen ihres projektiven Charakters von einem ersten 
Grundgebilde sofort auf jedes andere, mit ihm projektiv verbundene über- 
tragen. Daher können wir den beabsichtigten Nachweis auf die Betrach- 
tung ‚eines einzigen Grundgebildes einschränken, in der Weise, daß wir 
zeigen: Wie immer wir auf einem solchen Grundgebilde zwei projektive 
Skalen x, x’ konstruieren mögen, immer stehen dieselben in linearer Ab- 
hängigkeit. Aber auch diesen Ansatz werden wir noch modifizieren. Ein 


dort von 1890. Das Merkwürdige dabei bleibt, daß ich Lie, wie er 1886 selbst an- 
gibt, meinerseits erst darauf aufmerksam gemacht habe, daß es sich bei Helmholtz im 
Grunde um eine gruppentheoretische Frage handele, die er behandeln müsse (wobei 


ich auch gleich die Vermutung ausgesprochen hatte, daß das Axiom betr. die Mono- 
dromie überflüssig sein dürfte). K. 





376 Zur Grundlegung der Geometrie. 


einfacher Überschlag wird uns lehren, daß bei der von uns auszuführenden 
Skalenkonstruktion drei willkürliche Konstante benutzt werden. Ebenso 
axc+ß 
yc+ö 
Wır können daher unsere Forderung umkehren und den Nachweis ver- 
langen, daß wir zu jeder Werteverteilung x, die wir auf einem festen 
Grundgebilde erster Stufe durch unsere projektive Konstruktion gewinnen 
mögen, durch Veränderung der Grundelemente unter Wiederholung unserer 
Konstruktion eine Werteverteilung x’ hinzu konstruieren können, die zu ihr 


viele wesentliche Konstante sind in der Formel = enthalten. 





in irgendwelcher vorgegebener linearer Abhängigkeit 0 steht. 


Dieser letzte Beweis soll nun wirklich erbracht werden, indem wir 
als festes Grundgebilde ein Strahlbüschel der Ebene nehmen (was den 
Vorteil bietet, daß uns unabhängig von der Ansicht, die wir uns vom 
Parallelenaxiom bilden mögen, alle seine Elemente zugänglich sind). 
Dabei wird es sich, was die Konstruktion irgendwelcher Skala x angeht, 
selbstverständlicherweise nur darum handeln können: jedem rationalen 
Werte von x ein Element unseres Grundgebildes zuzuweisen, wobei wir 
den Nachweis verlangen, daß die so entstehenden „rationalen‘‘ Elemente 
des Gebildes auf diesem nach der Größe des zugehörigen x geordnet sind 
und in ihrer Gesamtheit das Gebilde „überall dieht‘“ überdecken. Aber 


actß 
EZ stellten, werden 


wir entsprechend einschränken. Wir werden dieselbe nämlich ausschließ- 
lich unter der Voraussetzung behandeln, daß die «, ß, y, ö kommensurabel 
sind; wir geben dem Ausdruck, indem wir statt der allgemeinen Formel 
lieber gleich die folgende hinschreiben: 

‚ axc+b 


cz +d’ 

in welcher a, b, c, d ganze Zahlen bedeuten sollen. Die Determinante 
(ad — bc), die selbstverständlich nicht verschwinden soll, setzen wir 
weiterhin =9. — Die so umgrenzten Konstruktionen und Beweise werden 
dann so durchzuführen sein, daß wir immer wieder den v. Staudischen 
Satz von der Vierseitskonstruktion gebrauchen, durch den wir irgend 
drei in bestimmter Reihenfolge genommenen Elementen unseres Grund- 
gebildes jeweils ein viertes, welches wir das harmonische Element nennen, 
zuordnen können. 

Die Figur, die ich mir jetzt konstruiert denke, ist die projektive 
Verallgemeinerung des gewöhnlichen Parallelogramm-Netzes (Fig. 4). Die 
betreffende Verallgemeinerung bietet sich unmittelbar, sobald man bemerkt, 
daß von den in der Figur markierten Punkten 





auch die Forderung, die wir betreffs der Formel x’ — 


nn 


XXI. Zur Nicht-Euklidischen Geometrie. 377 


je drei aufeinanderfolgende zu dem unendlich fernen Elemente A, von 
den ebenfalls angegebenen Punkten 


a RE a Te Te 





























Fig. 4. 


je drei aufeinanderfolgende zu dem unendlich fernen Elemente B har- 
monisch sind. Statt längerer Erläuterung schalte ich hier das Beispiel 
einer so verallgemeinerten Figur ein: B 








Offenbar können wir bei ihrer Konstruktion vier Punkte, z. B. 0, a,,, 
b,,, c, beliebig annehmen; alle weiteren Punkte sind dann eindeutig 
bestimmt. Wir nennen jetzt den Punkt, in welchem sich die Strahlen 
Ba,„, Ab, kreuzen, den Punkt (m, n); m und n sind dabei irgend zwei 
(positive oder negative) ganze Zahlen. Man sieht dann in Fig. 4 durch 
elementargeometrische Überlegungen: 


378 Zur Grundlegung der Geometrie. 


Sind m, n; m’, n’; o irgendwelche ganze Zahlen, so liegen die 
Punkte (m, n), (m’, n’), (m+ o(m’— m), n+o(n’— n)) auf gerader 
Linie. 

Eben denselben Satz werden wir bei Figur 5 durch wiederholte An- 
wendung des Satzes vom Vierseit beweisen können. 


Hiermit haben wir nun alle Hilfsmittel, um für das von O0 aus- 
laufende Strahlbüschel der Fig. 5 alle von uns postulierten Entwick- 
lungen zu machen. Offenbar liegen je zwei Punkte (m, n) und 
(om, on) mit O0 auf gerader Linie. Eben dieser Linie als einem Ele- 
mente des von 0 auslaufenden Strahlbüschels legen wir jetzt den Zahlen- 
wert x —= M[|n bei. Wir erhalten so für jeden rationalen Wert von x einen 
Strahl, und daß diese „rationalen“ Strahlen im Büschel ebenso auf ein- 
ander folgen, wie die der Größe nach geordneten zugehörigen x, ferner 
daß sıe das Büschel „überall dicht‘ überdecken, dürfte durch den bloßen 
Anblick unserer Figur deutlich sein. Nicht minder ist auf Grund ein- 
facher projektiver Überlegungen klar, daß die so gewonnene Wertever- 
teilung x von drei willkürlichen Parametern abhängt, daß sie nämlich 
völlig festgelegt ist, wenn wir die drei Strahlen OA, OB, OC, die be- 
liebig ausgewählt werden dürfen, in bestimmter Weise angenommen haben. 
Wir können also gleich zum zweiten Teile unserer Entwicklung über- 
gehen. Wir verlangten zu zeigen, daß wir zur ersten Skala x für die 
Strahlen unseres Büschels, unter Festhaltung der einmal gewählten Kon- 
struktionsweise, eine neue Skala x’ hinzukonstruieren können, die mit ihr 


durch irgendwelche Formel x’ — Leu verbunden ist (unter a, b, c, d 
cx+d 


ganze Zahlen von nicht verschwindender Determinante verstanden, die wir 
gleich p setzten). 


Dieser Nachweis ist nun in speziellen Fällen, die ich hier vorab be- 
spreche, wenn nämlich eine der folgenden drei Formeln vorgelegt ist: 


Be = cH+1 


durch bloßen Anblick der Figur 5 zu erbringen (man orientiere sich viel- 
leicht vorab jedesmal an der Figur 4, die unseren Gewöhnungen besser 


entgegenkommt). Wollen wir z.B. x’ = rn konstruieren, werden wir Fig. 5 
als solche ganz unverändert lassen und nur die ihr beigesetzten Buch- 
stabenreihen a, 5b vertauschen. Wollen wir x’ = T haben, so werden wir 


die Punke 5b und die Linie Ab der Figur ungeändert lassen, dagegen von 
den Punkten a (und also den Linien Ba) nur diese beibehalten: 


.d_on aA_ O, Arp ALap . u 


p?’ 


XXI. Zur Nicht-Euklidischen Geometrie. 379 


’ ’ ’ 1; 
E22 baum 


und sie mit 
bezeichnen. Nicht minder konstruieren wir die Skala x’=x+-1 durch 
eine Figur der von uns betrachteten Art, deren Lage gegen Fig. 5 ohne 
weiteres ersichtlich sein dürfte. 

Und nun ist das Schöne, daß, aus arithmetischen Gründen, mit 
diesen speziellen Fällen der allgemeine von uns zu erbringende Nachweis 
bereits von selbst mit erledigt ist. In der Tat ist es ein bekanntes 
Theorem der Arithmetik (welches z. B. in der Theorie der Transforma- 
tion der elliptischen Funktionen immerzu benutzt wird®!), daß man jede 


Substitution: 





‚_ax+b 
exz+td 
aus den speziellen Substitutionen: 
1 u 
we = a 2 =c-+1 


durch eine endliche Zahl von Wiederholungen, bez. Kombinationen er- 
zeugen kann. Jeder einzelne dieser Schritte bedeutet aber die Ersetzung 


der ursprünglichen Figur 5 durch eine neue derselben Art; dieselbe Be- 
axz+b 
cx+d’ 

st) Vgl. z.B. Dedekind im 83. Bande des Journals für Mathematik, S. 287 fl. 

3) [Eine projektive Skala kann man nach den Grundsätzen der projektiven 
Geometrie insbesondere auch auf einem Kegelschnitt konstruieren. Bezeichnet man 
drei beliebige Punkte des Kegelschnitts mit 0, 1, 00, so werden die entsprechenden har- 
monischen Punkte 2, — 1, !/, in der Weise zu konstruieren sein, daß man den Kegel- 
schnitt mit den Geraden schneidet, welche 0, 1, oO beziehungsweise mit den Polen 
der Linien 100, 000, 01 verbinden. Übrigens 
treffen sich diese Verbindungsgeraden nach dem 
Satz von Brianchon in einem gemeinsamen 
Punkte. Und so weiter fort. — Dieses Verfahren 
gibt zu einer besonders plastischen Figur Anlaß, 
wenn man die genannten Geraden, soweit sie das 
Innere des Kegelschnitts durchsetzen, wirklich 
hinzeichnet. Im Inneren der Kegelschnitte findet 
sich dann eine Zahl aneinander grenzender Drei- 
ecksflächen und der unendliche Prozeß der immer 
wiederholten Konstruktion eines vierten harmo- ke | 
nischen Punktes findet ein übersichtliches Fort- ı 
führungsgesetz, indem man an die bereits ge- Fig. 6. 
wonnenen Dreiecksflächen immer wieder neue an- 
fügt. Man sehe die Figur 6 (die ich von 1877 an in Vorlesungen wiederholt zur 
Sprache brachte): 

Es ist dies dieselbe Figur, welche die eigentliche Grundlage der Theorie der 
elliptischen Modulfunktionen ist und für funktionentbeoretische wie zahlentheoretische 
Zwecke gleich unentbehrlich scheint. Man vergleiche meine von Fricke be- 
arbeiteten Vorlesungen über elliptische Modulfunktionen I, S. 239—242 oder auch 
unsere Vorlesungen über die Theorie der automorphen Funktionen I, S. 75, oder 
endlich die Ausführungen in meinen autographierten Vorlesungen über Zahlentheorie I, 


deutung hat also die allgemeine Formel x’ — was zu beweisen war.??) 











380 Zur Grundlegung der Geometrie. 


IV. 


Von der prinzipiellen Bedeutung der projektiven Geometrie, nebst all- 
gemeinen Bemerkungen über die geometrischen Axiome. 


In meinen Abhandlungen in Bd. 4 und 6 der Math. Ann. [Abh. XVI 
und XVIII dieser Ausgabe] habe ich nirgends die Frage berührt, in welchem 
Sinne es psychologisch berechtigt erscheint, die projektive Geometrie vor 
der Geometrie des Maßes zu entwerfen und geradezu als Grundlage der 
letzteren zu betrachten. Hierauf dürfte etwa folgendes zu antworten sein: 

Wir können zwischen mechanischen und optischen: Eigenschaften des 
Raumes unterscheiden. Erstere finden in der freien Beweglichkeit starrer 
Körper ıhren mathematischen Ausdruck, letztere in der Gruppierung der 
den Raum durchziehenden geraden Linien (der Lichtstrahlen, oder der 
vom Auge ausgehenden Visierlinien). Es handelt sich nun hier nicht um 
die Frage, wie überhaupt unsere Raumvorstellung entsteht (oder im Laufe 
der Generationen entstanden ist): Niemand wird wohl zweifeln, daß mecha- 
nische und optische Erfahrungen dabei zusammenwirken oder zusammen- 
gewirkt haben. Vielmehr handelt es sich darum, ob man beim metho- 
dischen Aufbau der Raumwissenschaft die Eigenschaften der einen oder 
der anderen Art voranstellen soll. Durch Herrn v. Helmholtz sind, wie 
wir ausführlich besprachen, die mechanischen Eigenschaften bevorzugt 
worden: meine Arbeiten zeigen, daß man ebensowohl mit den optischen 
Eigenschaften beginnen kann. Beiderlei Entwicklungen können neben- 
einander bestehen; eine jede von ihnen hat ihre besonderen Vorzüge. 
Wenn es für den Anfänger faßlicher sein mag, mit den starren Körpern 
und ihrer Kongruenz zu beginnen, so gibt uns die projektive Methode 
bessere Übersicht. Ich möchte, um dies zu belegen, geradezu auf die 
Entwickelungen der Nr. II zurückverweisen. Alle die Unterscheidungen, 
die ich dort bespreche: zwischen dem elliptischen und sphärischen Raume 
und den anderen Raumformen, ergeben sich bei Zugrundelegung der pro- 
jektiven Anschauung wie von selbst, während es eines hohen Maßes von 
Abstraktion bedürfen möchte, um auf dem anderen Wege zu denselben zu 
gelangen. — 

Zum Schlusse noch einige Worte über das Wesen der geometrischen 
Axiome überhaupt. In der mathematischen Literatur zum mindesten 





S. 134—237. In den elliptischen Modulfunktionen knüpfe ich an diese Figur ins- 
besondere folgende Bemerkung: „Im Herbst 1873 hatte ich mit dem verstorbenen 
Clifford eine lebhafte Unterhaltung darüber, daß man es als eine Aufgabe der 
modernen Mathematik bezeichnen müsse, die uns überkommenen, getrennt neben- 
einander stehenden mathematischen Disziplinen in lebendige Wechselwirkung zu 
setzen; wir kamen überein, daß dies für synthetische Geometrie und Zahlentheorie 
am schwierigsten sein möchte. Die vorstehende Figur stellt diese Verbindung her.“ K.] 


XXI Zur Nicht-Euklidischen Geometrie. 381 


scheint mir betreffs derselben fast allgemein eine Ansicht verbreitet®®), 
die von derjenigen abweicht, die ich für richtig halte, und von der ich 
in meinen früheren hierher gehörigen Arbeiten Gebrauch gemacht habe, 
ohne mir des Widerspruchs gegen andere Meinungen deutlich bewußt zu 
sein. Die betreffende Ansicht geht dahin, daß die Axiome die „Tat- 
sachen‘‘ der räumlichen Anschauung formulieren, und zwar so vollständig 
formulieren, daß es bei geometrischen Betrachtungen unnötig sein soll, 
auf die Anschauung als solche zu rekurrieren, es vielmehr genügt, sich 
auf die Axiome zu berufen. Ich möchte zunächst jedenfalls den zweiten 
Teil dieses Satzes bestreiten. Eine geometrische Betrachtung rein logisch 
zu führen, ohne mir die Figur, auf welche dieselbe Bezug nimmt, fortge- 
setzt vor Augen zu halten, ist jedenfalls mir unmöglich. Man verweist 
in dieser Hinsicht ja wohl auf das Verfahren der analytischen Geometrie. 
Aber eine bloß rechnende analytische Geometrie, die von den Figuren 
abstrahiert, kann ich ebensowenig als eigentliche Geometrie gelten lassen, 
wie gewisse Zweige der sogenannten synthetischen Geometrie, die sich nur 
dadurch von analytischer Geometrie unterscheiden, daß an Stelle der alge- 
braischen Formelsprache eine andere gesetzt ist. — Doch nun zum ersten 
Teile des Satzes! In meinem Aufsatze über den allgemeinen Funktions- 
begriff, den ich in der Einleitung zitierte, habe ich ausführlich auseinander- 
gesetzt (und hierin stimme ich mit Herrn Pasch überein), daß ich die 
räumliche Anschauung als etwas wesentlich Ungenaues ansehe, — mag 
nun von der abstrakten Anschauung die Rede sein, wie sie uns durch 
Gewöhnung geläufig geworden ist, oder von der konkreten Anschauung, 
die bei empirischen Beobachtungen zur Geltung kommt. Das Axiom ist 
mir nun die Forderung, vermöge deren ich in die ungenaue Anschauung 
genaue Aussagen hineinlege. Eine geometrische Betrachtung aber denke 
ich mir so, daß wir die Figur, um die es sich handelt, als solche unab- 
lässig vor Augen behalten, und uns dann in jedem Augenblicke, in dem 
es sich um scharfe Beweisführung handelt, auf die Axiome als festes 
logisches Substrat zurückbeziehen. — Der Inhalt der Axiome erscheint 
bei dieser Auffassung so weit willkürlich, als mit der Ungenauigkeit 
unserer Raumanschauung verträglich ist. Eben hierin, aber auch nur 





#) Ich möchte hier insbesondere auf die Vorlesungen über neuere Geometrie von 
M. Pasch verweisen (Leipzig, 1882), insofern die Grundanschauungen, von denen 
Herr Pasch ausgeht, mit meinen eigenen sehr gut übereinstimmen, abgesehen eben 
von der im Texte näher zu erläuternden Differenz hinsichtlich der Bedeutung der 
Axiome. [Diese Differenz ist keine prinzipielle. Pasch will ausdrücken, daß jeder 
vorliegende mathematische Beweis sich in eine Reihe nur auf die Axiome gestützter 
logischer Schlüsse zerlegen lassen muß. Ich dagegen denke an die Auffindung der 
Beweise, bez. der zu beweisenden Theoreme, also an die Arbeitsweise des schaffenden 
Mathematikers. In einem gewissen Maße auch des lernenden Mathematikers, denn 
das Erfassen der Theoreme und Beweise ist mehr oder minder ein Nachschaffen. K.] 


382 Zur Grundlegung der Geometrie. 


hierin, ruht für mich die Berechtigung der Nicht-Euklidischen Geometrie 
(unter Nicht-Euklidischer Geometrie die reale Disziplin und nicht bloß die 
abstrakten mathematischen Betrachtungen verstanden, zu denen dieselbe 
Anlaß gegeben hat). Übrigens ist es von diesem Standpunkte aus selbst- 
verständlich, daß wir unter gleichberechtigten Systemen von Axiomen 
jeweils das einfachste bevorzugen und eben darum zumeist mit der Eukli- 
dischen Geometrie operieren, welche für die gewöhnlichen Fragestellungen 
die einfacheren Aussagen liefert. — Was aber die Entstehung der Axiome 
angeht, so weiß ich darüber nichts weiter zu sagen, als daß wir die zu 
ihnen führende Abstraktion hier wie in anderen Gebieten unwillkürlich 
vollziehen. Das, was ın der Anschauung oder im Experimente nur 
approximativ gegeben ist, das formulieren wir in exakter Weise, weil wir 
anderenfalls damit nichts anzufangen wissen. — Hiermit ist denn auch 
die Stellung gegeben, die ich zur Theorie des Irrationalen einnehme. 
Sicher liegt die Veranlassung zur Bildung der Irrationalzahlen in der 
scheinbaren Stetigkeit der Raumanschauung. Ich kann aber, da ich der 
Raumanschauung keine Genauigkeit beilege, ihr auch nicht die Existenz 
des Irrationalen entnehmen wollen. Vielmehr ist mir die Theorie des 
Irrationalen etwas, was in rein arithmetischer Weise zu begründen oder 
zu umgrenzen ist, und was wir dann, dank den Axiomen, in die Geometrie 
hinemtragen, um auch in ıhr diejenige Schärfe der Distinktionen zu er- 
reichen, die die Vorbedingung der mathematischen Behandlung ist. 


Göttingen, den 20. August 1890. 





[Die Vorlesung von 1889—90, an die sich dieser Aufsatz wesentlich anschließt, _ 
ist seinerzeit in der Ausarbeitung von Fr. Schilling autographisch vervielfältigt 
worden und eröffnet damit die Reihe meiner Autographien über verschiedene Gegen- 
stände der höheren Mathematik (später im Kommissionsverlag bei B. G. Teubner). 
In einem ersten Referate über diese Autographien (Math. Amn., Bd.45, 1894) äußere 
ich mich hierzu zu Anfang folgendermaßen: 

„Es ist nun schon eine längere Reihe von Jahren, daß ich mir eine besondere 
Vorlesungspraxis ausgebildet habe. Von dem Wunsche ausgehend, meine wissenschaft- 
lichen Anschauungen möglichst allseitig auszugestalten, habe ich mit dem Gegenstande 
meiner Vorlesungen fast fortwährend gewechselt. Dies gab Schwierigkeiten fast noch 
mehr für meine Zuhörer als für mich selbst. Ich begann daher, meine jedesmaligen 
Vorträge ausarbeiten zu lassen und diese Ausarbeitungen den Studierenden im Lese- 
zimmer des Seminars zur Verfügung zu stellen. Diese Methode hat sich im Laufe 
der Jabre naturgemäß weiterentwickelt. Es erschien wünschenswert, daß die Studie- 
renden nicht zu viele Zeit auf das Nachschreiben der Vorlesungshefte verwenden 
sollten, während ich andererseits das Bedürfnis empfand, auch früheren Schülern oder 
befreundeten Gelehrten von dem Inhalte meiner jedesmaligen Vorlesungen Mitteilungen 
zu machen, Ich ging also dazu über, die Ausarbeitungen autographisch zu verviel- 
fältigen. Diese autcgraphierten Hefte haben gegen meinen ursprünglichen Wunsch 
allmählich immer mehr eine Verbreitung auch in weiteren Kreisen gefunden. In dem- 
selben Maße habe ich mehr und mehr danach gestrebt,. denselben einen allgemein 


XXI. Zur Nicht-Euklidischen Geometrie. 383 


gültigen Inhalt zu geben. Ich habe eine Zeitlang gehofft, ich werde Hilfskräfte 
finden, um die so entstehenden Darstellungen verschiedener Gebiete einer Über- 
arbeitung zu unterziehen und dann in Buchform zu veröffentlichen. Die Herausgabe 
meiner Vorlesungen über elliptische Modulfunktionen durch Herrn Fricke bot hierfür 
ein glänzendes Beispiel; ich kann in diesem Zusammenhange ferner das Werk 
von Pockels (Über die partielle Differentialgleichung Au+ku—=0, Leipzig 1891) 
sowie ein demnächst erscheinendes Buch von Böcher (Über die Reihenentwickelungen 
der Potentialtheorie) anführen. Aber eine solche Bearbeitung kostet außerordentlich 
viele Zeit und es geht dabei auch der Charakter der Unmittelbarkeit, den die Vor- 
lesungen besitzen, verloren, — ganz abgesehen davon, daß es kaum möglich sein 
dürfte, immer wieder einen geeigneten Bearbeiter zu finden. So sei denn der weitere 
Schritt gewagt, meine neueren autographierten Hefte, so wie sie sind, hier in den 
Annalen zu besprechen und dadurch dem allgemeinen mathematischen Publikum vor- 
zulegen. Meine Absicht ist geradezu die, dem gegenwärtigen ersten Artikel in Zu- 
kunft eine Reihe weiterer Mitteilungen folgen zu lassen, in dem Maße wie fernere 
Vorlesungshefte hinzukommen. 

Ich bin mir ja der Verantwortung dieses Schrittes sehr bewußt. Die auto- 
graphierten Hefte sind als Wiedergabe wirklich gehaltener Vorlesungen durch die 
mannigfachsten Zufälligkeiten bedingt: einzelnes ist breit ausgeführt, während anderes, 
gleich wichtige fehlt. Und mehr als das: sie enthalten der vorläufigen Formulierungen 
und Urteile eine Menge, die bei nochmaliger Durcharbeitung vermutlich nicht würden 
bestehen bleiben können. Ich mochte dieselben nicht einfach wegstreichen, weil ich 
glaube, daß die Wirkung meiner Darstellung gerade in ihrem subjektiven Charakter 
beruhen wird. Möge man die Versicherung hinnehmen, daß ich an solchen Stellen 
einzig um den Fortschritt der Wissenschaft bemüht bin und daß ich andererseits 
sehr bereit sein werde, Berichtigungen entgegenzunehmen und bei späterer Ge- 
legenheit zur Geltung zu bringen.“ K.) 


XXI. Gutachten, betreffend den dritten Band der Theorie 
der Transformationsgruppen von S. Lie anläßlich der 
ersten Verteilung des Lobatschewsky-Preises'). 


An die Physiko-mathematische Gesellschaft der Kaiserlichen 
Universität in Kasan. 


Geehrte Herren! 


Sie haben mir im Hinblick auf die demnächstige erste Vergebung des 
Lobatschewskyschen Preises die ehrenvolle Aufforderung zukommen 
lassen, ich solle mich über die Arbeiten von Sophus Lie betr. die 
Grundlagen der Geometrie, insbesondere über die im dritten Bande seiner 
Transformationsgruppen enthaltenen bezüglichen Entwicklungen gutacht- 
lich äußern und über dieselben im Zusammenhange mit dem gegenwärtigen 
Standpunkte der Raumfrage Bericht erstatten. Ich versuche im folgenden 
dieser Aufforderung zu entsprechen, so schwierig und verantwortungsvoll 
die Sache nach verschiedenen Richtungen erscheinen mag. 

Nach $ 5 der Statuten wird der Lobatschewsky-Preis für Werke 
über Geometrie, in erster Linie für solche über Nicht-Euklidische Geometrie 
verliehen. Der $ 6 stellt die weitere Bedingung, daß die Werke inner- 
halb der sechs der Verleihung des Preises vorangehenden Jahre gedruckt 
sein müssen. 

Äußerlich genommen liegt daraufhin die Sache sehr einfach; denn 
der von Prof. Lie eingesandte Band entspricht diesen Bedingungen nicht 
nur, sondern er ragt unter allen anderen Werken, die zum Vergleich 
kommen mögen, so unbedingt hervor, daß ein Zweifel über die Erteilung 
des Preises kaum möglich sein dürfte. Entscheidend für diese Beurteilung 
der Höhe der wissenschaftlichen Leistung ist nicht nur die außerordent- 
liche Gründlichkeit und Schärfe, mit welcher Lie im fünften Abschnitte seines 
Buches das von ihm so genannte Riemann-Helmholtzsche Raumproblem 





t) Abgedruckt nach dem von der physikalisch-mathematischen Gesellschaft der 
Universität Kasan publizierten Original. [Bulletin de la societ& physico-mathematique 
de Kasan (2) 8 (1898). Vgl. auch den Abdruck in den Math. Annalen, Bd. 50.] 


XXII. Gutachten zur ersten Verteilung des Lobatschewsky-Preises. 385 


behandelt, sondern insbesondere der Umstand, daß diese Behandlung so 
zu sagen als logische Folge der lang fortgesetzten schöpferischen Arbeiten 
Lies auf dem Gebiete der Geometrie, insbesondere seiner Theorie der 
kontinuierlichen Transformationsgruppen erscheint. Ich möchte sagen, daß 
der $ 5 der Statuten hier ebensosehr nach seinem speziellen wie nach 
seinem allgemeinen Inhalte entscheidet. . Die außerordentliche Bedeutung, 
welche die Arbeiten von Lie für die Allgemeinentwicklung der Geometrie 
besitzen, kann nicht wohl überschätzt werden; ich bin überzeugt, daß 
dieselbe in den nächsten Jahren zu noch viel allgemeinerer Geltung 
kommen wird, als bisher. 

Sehr viel schwieriger erscheint nun aber, Ihnen einen Bericht zu 
liefern, der ebensowohl der Wichtigkeit der Sache entspricht, als Ihrer 
Gesellschaft einigermaßen nützlich sein kann. Die sehr ausführliche und 
unmittelbar verständliche Darlegung von Lie hier im Auszuge reprodu- 
zieren zu wollen, hieße nur das, was klar und deutlich ist, unnötig zu ver- 
dunkeln und schwerer zugänglich zu machen; — mit dem Verfasser aber 
betrefis der kritischen Bemerkungen, die er anderen Autoren gegenüber 
macht, in dem einen oder anderen Punkte zu rechten, dürfte weder förder- 
lich noch der heutigen Gelegenheit entsprechend sein; ich darf beiläufig 
auch auf die Darstellung verweisen, die ich von den Lieschen Entwicke- 
lungen im zweiten Bande meiner (autographierten) Vorlesungen über höhere 
Geometrie, sowie in dem elften Vortrage meines Evanston Colloquiums®) 
gegeben habe. Vielmehr will ich versuchen, meine Aufgabe allgemeiner 
zu fassen, indem ich es unternehme, den heutigen Stand der Raumfrage 
oder doch eine Reihe dahin gehöriger Probleme, die in den letzten Jahren 
hervorgetreten sind, unter umfassenden Gesichtspunkten zu erläutern. 
Hierbei wird sich von selbst die Stelle ergeben, an der die in Frage 
stehenden Lieschen Untersuchungen so wie andere von Lie herrührende, 
in demselben Bande der Transformationsgruppen enthaltene Entwicklungen 
in Betracht kommen; zugleich finde ich Gelegenheit, auf weitere Frage- 
punkte aufmerksam zu machen, die mir wesentlich scheinen und denen 
die Kommission des Lobatschewsky-Preises vielleicht einmal in Zukunft 
ihre Aufmerksamkeit zuwenden wird. | 

Woher stammen die Axiome? Ein Mathematiker, der die nicht- 
euklidischen Theorien kennt, wird kaum noch die Meinung früherer Zeiten 
festhalten wollen, als seien die Axiome nach ihrem konkreten Inhalte Not- 
wendigkeiten der inneren Anschauung: was dem Laien als solche Not- 





?) „Ihe Evanston Colloquium“, Lectures on Mathematics delivered from 
Aug. 28 to Sept. 9, 1893 before members of the Congress of Mathematics hold in 
connection with the world’s fair in: Chicago at Northwestern University, Evanston 
Ill. Reported by Alexander Ziwet. Newyork, Macmillan & Co. 1894. 

Klein, Gesammelte math, Abhandlungen. I. 25 


386 Zur Grundlegung der Geometrie. _ 


wendigkeit erscheint, erweist sich bei längerer Beschäftigung mit den 
Nicht Euklidischen Problemen als Resultat sehr zusammengesetzter Pro- 
zesse, insbesondere auch der Erziehung und der Gewöhnung. Stammen 
die Axiome aus der Erfahrung? Helmholtz ist hierfür bekanntlich in 
nachdrücklichster Weise eingetreten. Aber seine Darlegungen erscheinen 
nach bestimmter Richtung unvollständig. Man wird, wenn man dieselben 
überdenkt, zwar gerne zugeben, daß die Erfahrung an dem Zustande- 
kommen der Axiome einen großen Anteil hat, man wird aber bemerken, 
daß gerade derjenige Punkt bei Helmholtz unerörtert bleibt, der dem 
Mathematiker vor anderen interessant ist. Es handelt sich um einen 
Prozeß, den wir in genau derselben Weise bei der theoretischen Behand- 
lung irgendwelcher empirischer Daten immerzu vollziehen und der eben- 
darum dem Naturforscher völlig selbstverständlich erscheinen mag. Ich 
werde mich in allgemeiner Fassung so ausdrücken: die Ergebnisse irgend- 
welcher Beobachtungen gelten immer nur innerhalb bestimmter Genaurg- 
keitsgrenzen und unter partikulären Bedingungen; indem wir die Axiome 
aufstellen, setzen wir an Stelle dieser Ergebnisse Aussagen von absoluter 
Präzision und Allgemeinheit. In dieser „Idealisierung‘“ der empirischen 
Daten liegt meines Erachtens das eigentliche Wesen der Axiome. Unser 
Ansatz ist dabei in seiner Willkür zunächst nur dadurch beschränkt, daß 
er sich den Erfahrungstatsachen anschmiegen muß und andererseits keine 
logischen Widersprüche einführen darf. Es tritt dann als Regulator noch 
dasjenige hinzu, was Mach die „Ökonomik des Denkens“ nennt. Nie- 
mand wird vernünftigerweise ein komplizierteres Axiomensystem fest- 
halten, sobald er einsieht, daß er mit einem einfacheren Systeme die zur 
Darstellung der empirischen Daten erforderliche Genauigkeit bereits voll- 
auf erreicht. Also, um es gleich an demjenigen Punkte zu erläutern, der 
für die Grundlegung der Geometrie in erster Linie in Betracht kommt: 
Jedermann wird für praktische Zwecke die Formeln der gewöhnlichen 
Euklidischen Geometrie und nicht etwa diejenigen der Lobatschewsky- 
schen Geometrie in Anwendung bringen. | 
Diese allgemeinen Bemerkungen habe ich vorausschicken wollen, 
damit über die Grundlage, von der die folgenden Entwickelungen aus- 
gehen, kein Zweifel bestehen soll. In der Tat soll es sich des weiteren 
nur um die wirkliche Geometrie unseres empirisch gegebenen Raumes 
und um deren mathematischen Aufbau handeln, — nicht um Verall- 
gemeinerungen, die man gebildet hat und die nach anderer Richtung 
mathematisch wertvoll sein mögen. Ich beginne mit einer Frage. welche 
die mathematischen Kreise in den letzten 25 Jahren in steigendem Maße 
beschäftigt hat, die aher immer noch nicht die allgemeine Beachtung ge- 
funden hat, welche sie verdient. Was ist eine willkürliche Kurve, eine 


XXII. Gutachten zur ersten Verteilung des Lobatschewsky-Preises.. 387 


willkürliche Fläche? Euklid stellt die Worte Kurve und Fläche an die 
Spitze eines Systems, ehe er zur Definition der geraden Linie und der 
Ebene schreitet. Und nicht nur die Schöpfer der Differential- und Inte- 
gralrechnung scheinen an der Deutlichkeit dieser Begriffe keinen Zweifel 
gehegt zu haben, auch noch die geometrischen Beweise, welche Gauß von 
dem Fundamentalsatze der Algebra gibt, ruhen auf der Voraussetzung, 
daß die Idee der (ebenen) Kurve etwas in sich evidentes sei. Aber unsere 
Sicherheit in dieser Hinsicht ist in der Zwischenzeit, wesentlich unter dem 
Einflusse von Weierstraß, völlig zerstört worden; man kann sagen, daß 
vom rein mathematischen Standpunkte aus heutzutage nichts dunkler und 
unbestimmter erscheint als die genannte Idee. Was wir in der empiri- 
schen Anschauung Kurve nennen, ist zunächst ein Streifen, d. h. ein 
Raumstück, dessen übrige Abmessungen gegen die Längendimension zu- 
rücktreten (wobei die genaue Begrenzung des Raumstücks unbestimmt 
bleibt). Jn dieser (primären) Form kommt die Idee der Kurve in zahl- 
reichen Gebieten der Anwendungen zur Geltung, und ich bin, mit Herrn 
Pasch, der Meinung, daß es gut ist, dieses mehr hervorzukehren, als ge- 
wöhnlich geschieht. Soll aber die Kurve Gegenstand der exakten mathe- 
matischen Betrachtung werden, so müssen wir sie idealisieren, genau so, 
wie dies zu Beginn der Geometrie allerorts mit dem Punkte geschieht. 
Und hier beginnen nun die Schwierigkeiten. Eine erste Bemerkung, die 
nicht unwichtig ist, ist die, daß alle Autoren, welche über die vorliegende 
Frage geschrieben haben, dabei die analytische Geometrie als Ausgangs- 
punkt benutzen. Man kann dann die ebene Kurve (um uns auf diese zu 
beschränken) entweder als Ort eines beweglichen Punktes durch Gleichun- 
gen <= gp(t), y=y/(t) definieren, unter 9, y stetige Funktionen ver- 
standen, oder als Grenze eines ebenen Gebietes. Tut man das letztere, 
so muß gleich zu Anfang die schwierige Frage erörtert werden, was alles 
unter „Gebiet‘‘ verstanden werden soll. Die beiden Definitionen stimmen 
zuvörderst keineswegs überein, und jedenfalls müssen ihnen beiden weit- 
gehende Beschränkungen zugesetzt werden, wenn man zu all’ den Eigen- 
schaften der Rektifizierbarkeit, der Differentiierbarkeit usw. gelangen will, 
die man einer Kurve gemeinhin beilegt.”) Es ist fast am besten, sich 
von vornherein auf analytische Kurven zu beschränken, d. h. @, y in 
den vorstehenden Gleichungen als analytische Funktionen vorauszusetzen. 
Die analytischen Kurven sind auch allgemein genug, um jede empirisch 
gegebene Kurve mit beliebiger Annäherung darzustellen. Weiter ist es 
eine sehr merkwürdige Tatsache, daß man die wichtigsten Eigenschaften 





®) [Vgl. hierzu den Enzyklopädieartikel von v. Mangoldt über die Begriffe der 
„Linie“ und „Fläche“. Math. Enzyklopädie, Bd. III, AB 2 (1907), (dazu dessen Be- 
arbeitung von Zoretti in der französischen Ausgabe).] 


25 * 


388 Zur Grundlegung der Geometrie. 


der analytischen Funktionen (insbesondere auch der algebraischen Funk- 
tionen) gefunden hat, indem man von der empirischen Auffassung der 
Kurven (und Flächen) Gebrauch machte. Trotzdem wird man sich kaum 
entschließen wollen anzunehmen, daß die empirische Auffassung vermöge 
irgendwelcher ihr innewohnender verborgener Qualitäten gerade notwendig 
und ausschließlich zu den analytischen Kurven hinleite. Es liegen hier 
offenbar noch die interessantesten Probleme erkenntnistheoretischer Natur 
vor. An gegenwärtiger Stelle müssen wir uns mit einer negativen Schluß- 
folgerung begnügen, daß nämlich die hier berührten Untersuchungen un- 
möglich an den Anfang der Geometrie gestellt werden können, daß man 
an dieselben erst herangehen kann, wenn auf Grund geeigneter Axiome 
und daran geknüpfter Folgerungen das Lehrgebäude der elementaren 
Geometrie bereits fest steht. Der vorherige Aufbau und die Verwendung 
der analytischen Geometrie aber erscheint uns nicht notwendig, sondern 
nur zweckmäßig. 

Wenden wir uns jetzt zu der Voraussetzung, welche Riemann an 
die Spitze seiner Betrachtungen über die „Hypothesen der Geometrie“ 
gestellt hat, der Punktraum dürfe als eine dreifach ausgedehnte, stetige 
Zahlenmannigfaltigkeit angesehen werden. In früherer Zeit mochte man 
diese Voraussetzung für eine selbstverständliche Folge der Stetigkeits- 
verhältnisse des Raumes bez. der in ihm liegenden Kurven und Flächen 
halten. Dies ist aber auf Grund der Entwicklung, welche die Kritik des 
Kurvenbegrifis in der Zwischenzeit genommen hat, offenbar nicht mehr 
zulässig. Die Berechtigung, den Punktraum als Zahlenkontinuum zu be- 
zeichnen, kann nach dem heutigen Standpunkte der Wissenschaft nur so 
abgeleitet werden, daß man vorab dasselbe tut, was wir eben als not- 
wendige Vorbereitung für die Definition des Kurvenbegriffs hinstellten, 
daß man nämlich die Elementargeometrie als solche entwickelt, — mag 
man nun dabei die Betrachtung der Kreise und Kugeln voranstellen 
(metrische Geometrie) oder diejenige der geraden Linien und Ebenen 
(projektive Geometrie), wie sogleich noch näher zu schildern ist. Von 
der Elementargeometrie aus ist nunmehr die elementare analytische Geo- 
metrie zu entwickeln. Da wird es sich zunächst darum handeln, die 
Punkte des einzelnen Kreises, oder der einzelnen geraden Linie, dem ein- 
dimensionalen Zahlenkontinuum zuzuordnen, worüber wir ebenfalls weiter 
unten noch Genaueres sagen werden. Nun erst, wenn dies alles geschehen 
ist, wird man zu den drei Raumkoordinaten aufsteigen, wo dann die Frage 
entsteht, wodurch sich ein mehrdimensiofales Kontinuum von dem ein- 
dimensionalen unterscheidet. Man sieht, wie kompliziert der Weg ist, auf 
dem die in Rede stehende Voraussetzung schließlich erreicht wird. Etwas 
Ähnliches wird man von der Forderung sagen müssen, welche Riemann 


XXII. Gutachten zur ersten Verteilung des Lobatschewsky-Preises. 389 


wieder stillschweigend benutzt und die Helmholtz dann ausdrücklich als 
Axiom einführt®): es sollen die Funktionen, durch welche die Maßverhält- 
nisse des Raumes innerhalb der renräsentierenden Zahlenmannigfaltigkeit 
festgelegt werden, differentiierbare Funktionen sein (eine Anzahl Differen- 
tiationen gestatten). Es folgt, daß alle Untersuchungen, welche mit den 
Begriffen Zahlenmannigfaltigkeit und differentiierbare Funktionen beginnen, 
wenn man sie direkt als Untersuchungen über die Grundlagen der Geo- 
metrie interpretieren wollte, einen Zirkel enthalten würden. Wir können 
sie nur als Hilfsmittel für solche Untersuchungen gelten lassen; sie ebenen 
sozusagen den Weg, auf welchem die rein geometrischen Untersuchungen 
vorzugehen haben. In ähnlichem Sinne äußert sich Lie auf 8. 535 — 537 
des dritten Bandes seiner Transformationsgruppen; er hebt dort noch 
hervor, daß, wenn man die Forderung der Zahlenmannigfaltigkeit und der 
Differentiierbarkeit mit den weiteren Axiomen zusammennimmt, die man 
bei der Durchführung der analytischen Untersuchungen als solcher ge- 
braucht, man dieses erreicht, ein vielleicht nicht zweckmäßiges, aber 
jedenfalls vollständiges System von Axiomen für die Grundlegung der 
Geometrie zu besitzen. 


Immer möchte ich hier zunächst an die Voraussetzung der Zahlen- 
mannigfaltigkeit und der Differentiierbarkeit anknüpfen. Man wird dann 
genau so, wie bei der rein geometrischen Betrachtungsweise, zwischen 
metrischer und projektiver Behandlung der weiteren Aufgabe unterscheiden 
können; — oder auch, man wird in Anlehnung an meine Entwicklungen 
von 1872°) die allgemeine Idee einer beliebigen innerhalb der Mannig- 
faltigkeit zu entwerfenden ‚Geometrie‘ auf Grund irgendwelcher für die 
Elemente der Mannigfaltigkeit geltenden Transformationsgruppe erfassen. 
Für jede derartige Geometrie kann man dann eine axiomatische Defini- 
tion verlangen, d. h. eine Definition, welche sie ohne explizite Formeln 
(oder sagen wir lieber: unabhängig von der innerhalb der Mannigfaltig- 
keit zufällig gegebenen Koordinatenbestimmung) durch begriffliche Eigen- 
schaften festlegt. Diese axiomatische Definition kann damit beginnen, die 
zugrunde liegende Gruppe als solche zu definieren, und das ist der Weg, 
den man in der metrischen Geometrie einschlägt, wenn man die Tatsache 
der freien Beweglichkeit starrer Körper (anders ausgedrückt: die „Kon- 
gruenzsätze‘“‘) an die. Spitze stellt. Man kann aber auch so vorgehen, 
daß man die Konfigurationen in Betracht zieht, welche sich aus irgend- 





*) Helmholtz bezeichnet die Annahme, der Raum dürfe als Zahlenmannig- 
faltigkeit angesehen werden, bereits ebenfalls ausdrücklich als Axiom. 

5) Erlanger Programm [Abh. XXVII dieser Ausgabe), oder auch Bd. 6 der 
Math. Annalen (Zweiter Aufsatz zur Nicht-Euklidischen Geometrie) [Abh. XVIII dieser 
Ausgabe). 


390 Zur Grundlegung der Geometrie. 


welchen im Sinne der Gruppe gleichwertigen Elementen bilden lassen. 
Dies geschieht beispielsweise, wenn man den Aufbau der projektiven Geo- 
metrie mit den Sätzen über das Ineinanderliegen von Bun geraden 
Linien und Ebenen beginnt. 

Wir haben nun genau die Stelle für dasjenige Problem, dessen 2: 
gültige Erledigung von Lie gegeben wird, das von Lie sogenannte Rie- 
mann-Helmholtzsche Raumproblem. Lie legt dabei, wie es im Sinne der 
_ weiter unten zu gebenden Erläuterungen allein zulässig scheint, zunächst 
ein begrenztes Raumstück der Betrachtung zugrunde (8. 441 seiner Dar- 
stellung). Man wird dann etwa so sagen: die Euklidische, die Lobat- 
schewskysche und die Riemannsche Geometrie setzen in gleicher Weise 
innerhalb des genannten Raumstücks freie Beweglichkeit der starren 
Körper voraus. Sie liefern auch übereinstimmend für das Quadrat des 
Bogenelementes eine quadratische Funktion der Differentiale der Koordi- 
naten, und zwar eine solche, für welche das sogenannte Krümmungsmaß 
konstant ist (Riemanns Ausgangspunkt); sie differieren nur hinsichtlich 
des Wertes dieser Größe, indem dieselbe in den drei Fällen beziehungs- 
weise Null, negativ und positiv ist. Die Aufgabe soll sein, die sechs- 
gliedrigen Bewegungsgruppen dieser drei Geometrien durch charakteristi- 
sche Merkmale von allen anderen kontinuierlichen Transformationsgruppen 
der dreifachen Zahlenmannigfaltigkeit zu unterscheiden. 

Lie gibt für diese Aufgabe im vorliegenden Bande zwei Lösungen, 
deren erste Voraussetzungen über das Verhalten der Gruppe im Infini- 
tesimalen macht, während sich die zweite auf die Betrachtung endlicher 
Dimensionen beschränkt. Was die erste Methode angeht, so sage man, 
„eine Gruppe besitze in einem reellen Punkte freie Beweglichkeit im 
Infinitesimalen“, wenn Folgendes statt hat: „Hält man den Punkt P und 
ein beliebiges hindurchgehendes reelles Linienelement fest, so soll stets 
noch kontinuierliche Bewegung möglich sein, hält man dagegen außer P 
und jenem Linienelemente noch ein beliebiges reelles Flächenelement fest, 
‘das durch beide geht, so soll keine kontinuierliche Bewegung möglich 
sein“. Unsere oben genannten Gruppen sind dann, wie Lie findet, 
dadurch vollkommen charakterisiert, daß sie in einem reellen Punkte all- 
gemeiner Lage freie Beweglichkeit im Infinitesimalen besitzen. — Bei der 
zweiten Methode wird vorausgesetzt: „Hält man einen beliebigen reellen 
Punkt y,°, y,°, y,° von allgemeiner Lage fest, so befriedigen alle reellen 
Punkte x,, x,, x,, in welche ein anderer reeller Punkt x,°, x,°, x,’ dann 
noch übergehen kann, eine reelle Gleichung von der Form: 


0. 0 0 0. PORN: 
W(yd, Ya Y95 2%, Rp 2; 85 2 0) 0, 
en ”. Bu 0 . .. . . . 
die für 2, = y,%, %, = y,P, %, = yy° nicht erfüllt ist und die eine reelle 


XXI. Gutachten zur ersten Verteilung des Lobatschewsky-Preises. 391 


durch den Punkt x,°, x,°, x,’ gehende Fläche darstellt. Um den Punkt 
Yı°, Yo’, Y3° läßt sich ein endlicher dreifach ausgedehnter Bereich derart 
abgrenzen, daß nach Festhaltung des Punktes y,°, y,°, y,’ jeder andere 
reelle Punkt x,°, x,°, x,’ des Bereiches noch kontinuierlich in jeden 
anderen dem Bereiche angehörigen reellen Punkt übergehen kann, der die 
Gleichung W = 0 befriedigt und der mit dem Punkte: x,°, x,°, x,’ durch 
eine irreduzible kontinuierliche Reihe von Punkten verbunden ist‘. 
Wiederum sind durch diese Voraussetzungen, wie Lie findet, die oben 
genannten drei Gruppen vollständig charakterisiert. — Diese zweite 
Methode leitet vermöge der Ähnlichkeit ihrer Voraussetzung zu Helm- 
holtz’ ursprünglichen Entwicklungen hin. Wenn man von der Genauig- 
keit der Formulierungen absieht (infolge deren die Lieschen Prämissen, 
die wir wörtlich anführten, etwas umständlich lauten), so wird bei Helm- 
holtz mehr verlangt als bei Lie, insbesondere noch das besondere Po- 
stulat der „„Monodromie des Raumes‘ aufgestellt, welches bei Lie weg- 
fällt. Des ferneren aber findet sich in Helmholtz’ Beweisgang eine 
wirkliche Unrichtigkeit, die darin besteht, daß Helmholtz seine auf end- 
liche Dimensionen bezüglichen Voraussetzungen stillschweigend auf das 
Infinitesimale überträgt. Genauer gesagt: er setzt als mathematisch 
selbstverständlich voraus, daß die dreifach unendliche Gruppe von Be- 
wegungen, welche einen Punkt P festläßt, die Verhältnisse der von P 
auslaufenden Differentiale der Koordinaten auf dreifach unendlich viele 
Weisen linear transformieren müsse. Hier ist übersehen (wie Lie hervor- 
hebt), daß sich unter den Transformationen der genannten Gruppe mög- 
licherweise auch solche befinden können, welche in der Umgebung des 
Punktes P unendlich klein von der zweiten Ordnung sind, welche also die 
in Rede stehenden Differentiale überhaupt ungeändert lassen. Vielleicht 
kann man sagen, daß bei Helmholtz an dieser Stelle der strenge Grenz- 
begriff der modernen Differentialrechnung durch die den Anwendungen 
entstammende Auffassung der Differentiale als sehr kleiner, aber nicht 
geradezu verschwindender Größen beeinträchtigt ist. — 

Soviel über das Riemann-Helmholtzsche Raumproblem. Ich 
habe mich dabei absichtlich. entsprechend der Begrenzung, welche in 
diesem Berichte festgehalten werden soll, auf den Fall der dreidimen- 
sionalen Mannigfaltigkeit beschränkt; die Entwickelungen von Riemann, 
Helmholtz und Lie selbst beziehen sich zum Teil auf eine beliebige 
Dimensionenzahl. Im übrigen wiederhole ich, was ich schon oben an- 
deutete, daß nämlich die bloße Mitteilung der Lieschen Resultate kein 
Äquivalent für die überzeugende Kraft der Lieschen Darstellung sein kann; 
um letztere zu würdigen, muß der Leser durchaus das Original selbst 
nachsehen. Ich gebe hier noch eine kurze Zusammenstellung weiterer 


392 Zur Grundlegung der Geometrie. 


Bemerkungen zur Grundlegung der Geometrie, die in dem Lieschen Werke 
eingestreut sind. In Abteilung IV untersucht Lie u. a. diejenigen Grup- 
pen des R,. welche eine quadratische Gleichung zwischen den Differentialen 


der Koordinaten: BR f;,dx,dx, = 0 Invariant lassen, wodurch er Anschluß 


an Riemanns ursprüngliche Entwickelungen nimmt. Auf 8. 524 (Ab- 
teilung V) kommt er beiläufig auf die Grundlegung der projektiven Geo- 
metrie zu sprechen und bemerkt, daß man die zugehörige Gruppe, d.h. 
die Gruppe der Kollineationen des R,, einfach durch die Angabe charak- 
terisieren kann, sie sei eine endliche kontinuierliche Gruppe von Punkt- 
transformationen, bei welcher n +2 Punkte keine Invariante haben. 
Endlich kommt hier aus Abteilung III die Bestimmung aller kontinuier- 
lichen Untergruppen der projektiven Gruppe des Raumes von drei Dimen- 
sionen in Betracht. Man nehme an, daß man von der sechsfach unend- 
lichen Bewegungsgruppe des genannten Raumes bereits wisse, daß sie aus 
lauter Kollineationen bestehe. Dann führt die von Lie gegebene Tabelle 
aller Untergruppen mit einem Schlage zu den obengenannten drei Mög- 
lichkeiten zurück, die sich nun in heute wohlbekannter Weise in die 
Cayleysche Maßbestimmung einordnen, bei welcher eine Fläche zweiten 
Grades fundamental ist. 


Ich knüpfe nunmehr erneut an dasjenige an, was oben über die Not- 
wendigkeit und Bedeutung der Axiome gesagt wurde. Unsere bisherigen 
Entwicklungen bezogen sich, wie wir ausdrücklich angaben, immer nur 
auf ein begrenztes Stück unserer Mannigfaltigkeit; es ist durchaus logisch, 
daß wir nun fragen, welche Verhältnisse eintreten mögen, wenn wir dieses 
Stück unbegrenzt erweitern. Die natürliche Festsetzung wird sein, daß 
sich der Raum in der Umgebung jeder seiner (durch endliche Bewegung 
zugänglichen) Stellen genau ebenso verhalten soll, wie in dem bisher unter- 
suchten begrenzten Stück. Damit ist ersichtlich nicht ausgeschlossen, daß 
der Raum (bzw. die Mannigfaltigkeit, die wir hier abkürzend als Raum 
bezeichnen) verschiedentlich in sich zurückläuft, daß er höheren ‚„‚Zusammen- | 
hang“ besitzt. Die Frage wird geradezu sein, welche Zusammenhangsver- 
hältnisse des Raumes mit den verschiedenen Bogenelementen konstanter 
Krümmung verträglich sein mögen. Diese Frage will mir genau ebenso 
wichtig erscheinen, wie irgendeine andere Frage auf axiomatischem 
Gebiete. Um so merkwürdiger ist es, daß dieselbe bisher nur wenig be- 
achtet wurde. 


Clifford hatte 1873 beiläufig auf eine in sich zurücklaufende Fläche 
des von mir so genannten elliptischen Raumes (des „einfachen“ Raumes 
konstanter positiver Krümmung) aufmerksam gemacht, welche überall das 
Krümmungsmaß Null besitzt, aber trotzdem nur endlichen Flächeninhalt hat. 


XXII. Gutachten zur ersten Verteilung des Lobatschewsky-Preises.. 393 


Hieran anknüpfend entwickelte ich im Bande 37 der Math. Annalen (1890) 
[Abh. XX1 dieser Ausgabe] die allgemeine Fragestellung und die Grundlinien 
der Theorie; die Untersuchungen sind dann bald hernach von Herrn Killing 
aufgenommen worden (Math. Annalen, Bd. 39, 1891, sowie Abschnitt 4 
in dem 1893 erschienenen ersten Bande des Lehrbuchs „Einführung in die 
Grundlagen der Geometrie“); es ist mir aber nicht bekannt, daß irgend 
jemand sonst seitdem auf diesen Gegenstand eingegangen wäre. Und doch 
sind die Resultate sehr merkwürdig. Es ergibt sich, daß wir je nach dem 
Werte des Krümmungsmaßes eine Reihe unterschiedener Möglichkeiten 
erhalten, also eine Serie topologisch unterschiedener Raumformen mit 
Euklidiecher, Lobatschewskyscher, Riemannscher Geometrie im begrenzten 
(einfach zusammenhängenden) Raumstück. Wir haben da erstlich selbst- 
verständlicherweise die drei Stammtypen, die sich in unmittelbarer An- 
lehnung an Cayleys projektive Maßbestimmung ergeben, den parabolischen, 
hyperbolischen und elliptischen Raum nach der von mir in Math. Annalen, 
Bd.4 (1871) [Abh. XVI dieser Ausgabe] eingeführten Ausdrucksweise. Weitere 
Typen ergeben sich, wenn wir innerhalb eines jeden dieser Räume solche dis- 
kontinuierliche Bewegungsgruppen aufsuchen, die keine im Endlichen gelegene 
Rotations- oder Schraubenachsen aufweisen: die Diskontinuitätsbereiche dieser 
Gruppen brauchen nur als geschlossene Mannigfaltigkeiten aufgefaßt zu werden, 
um ebenso viele Beispiele der von uns gewollten Raumformen abzugeben. 
Es ist hier nicht der Ort, dies näher auszuführen. Ich will nur bemerken, 
daß die Aufzählung der genannten Gruppen im hyperbolischen Falle (im 
Falle des negativen Krümmungsmaßes) unmittelbar mit der von Poincare 
und mir gegebenen Theorie der diskontinuierlichen Gruppen linearer Sub- 
stitutionen einer komplexen Veränderlichen zusammenhängt und daß letztere 
Theorie von Herrn Fricke neuerdings wesentlich weiterentwickelt und 
unter meiner Mitwirkung zur zusammenhängenden Darstellung gebracht 
worden ist®). Aber dies ist nicht alles. Es rubriziert hier auch (im Falle 
positiven Krümmungsmaßes) die Gegenüberstellung des einfachen ellipti- 
schen und des sphärischen Raumes, in welchem sich zwei geodätische 
Linien immer in zwei Punkten schneiden. Hei. illing hat zuerst den 
Satz aufgestellt, daß der sphärische Raum neben den Stammtypen (wie 
ich sie oben nannte) der einzige ist, der als Ganzes frei in sich bewegt 
werden kann. — Es wird interessant sein, zu untersuchen, wie die Axiome 
der Geometrie (NB. hier immer noch unter Zugrundelegung der Hypothesen 
von der Zahlenmannigfaltigkeit und Differentiierbarkeit) gefaßt werden 
müssen, um von vornherein auf eine bestimmte dieser unendlich vielen 
verschiedenen Raumformen zu kommen. Für die Untergruppen, die sich 


I Vorlesungen über die Theorie der automorphen Funktionen. Von R. Fricke 
und F. Klein. Bd. 1. Leipzig, Teubner 1897. 


SB Zur Grundlegung der Geometrie. 


aus den Diskontinuitätsbereichen der Bewegungsgruppen ergeben, gilt, daß 
die freie Beweglichkeit der Figuren nur so lange besteht, als die Dimen- 
sionen der Figuren eine gewisse Größe nicht überschreiten. Das Axiom 
von der Geraden (demzufolge zwei gerade Linien sich nur in einem Punkte 
schneiden können) erleidet die wesentlichsten Modifikationen; gibt es doch 
jetzt gerade Linien, welche sich in unendlich vielen Punkten treffen. Hier- 
durch wird die Beziehung zwischen den Punkten einer Geraden und den 
Strahlen eines perspektiven Büschels (sofern man eben den Raum als 
Ganzes nehmen will) unter Umständen ganz entstellt. Vollends aber ent- 
steht Verwirrung in der Theorie der Parallellinien. Es ist so bequem zu 
sagen, daß sich verschwindendes, negatives und positives Krümmungs- 
maß dadurch unterscheiden, daß durch einen Punkt außerhalb einer 
Geraden zu dieser Geraden 1, 2 und O0 Parallelen möglich sind. Jetzt 
‚haben wir Räume von verschwindendem und. negativem Krümmungs- 
maße, welche nur endlich ausgedehnt sind; wie will man in ihnen Pa- 
rallele definieren? In alledem liegt natürlich mehr eine formale als eine 
wirkliche Schwierigkeit (insofern die Erzeugung aller unserer Raumformen 
ganz klar ist); ich führe es nur an, um zur Untersuchung der neuen 
Raumformen anzureizen. | 

Ich werde nunmehr die Annahme der Zahlenmannigfaltigkeit (und 
der Differentiierbarkeit) verlassen und über die eigentlichen geometrischen 
Grundlagen der Theorie einiges sagen. Dabei will ich wieder nur solche 
Punkte berühren, welche in den letzten Jahren besonders hervorgetreten 
sind oder auf die ich die Aufmerksamkeit des Lesers besonders hinlenken 
möchte. Als Haupteinteilungsprinzip bietet sich wieder der Gegensatz von 
metrischer und projektiver Geometrie. Letztere ist dabei natürlich wieder 
nicht so zu verstehen, als ob sie die metrischen Fragen von der Betrach- 
tung schlechtweg ausschlösse; sie schiebt dieselben nur zurück, um sie erst 
aufzunehmen, nachdem die einfacheren projektiven Beziehungen entwickelt 
sind. Diese Zweiteilung wird dabei nicht als eine willkürliche oder nur 
durch die Natur der mathematischen Methoden indizierte anzusehen sein, 
sondern als eine solche, die dem tatsächlichen Zustandekommen unserer 
Raumanschauung entspricht, bei dem sich ja in der Tat mechanische Er- 
fahrungen (betr. die Bewegung starrer Körper) mit Erfahrungen des Seh- 
raumes (betr. die verschiedenartige Projektion angeschauter Gegenstände) 
kombinieren. | 

Die elementaren Grundlagen der metrischen Geometrie haben in den 
letzten Jahren wohl kaum eine Neubearbeitung gefunden, die hier zu 
nennen wäre. Interessant sind die Entwicklungen des Herrn Lindemann 
in dem 1891 erschienenen zweiten Bande von Clebschs Vorlesungen über 
Geometrie, der die Axiome, welche bei Euklid selbst auftreten, mit den 


XXII. Gutachten zur ersten Verteilung des Lobatschewsky-Preises.. 395 


modernen Betrachtungen über die Beweglichkeit der starren Körper in 
Vergleich bringt. 

Etwas ausführlicher möchte ich mich über die Einführung der Zahlen 
in die metrische Geometrie äußern. Der wesentliche Schritt ist, wie schon 
oben hervorgehoben wurde, daß wir den Punkten irgendwelcher gegebenen 
Kurve, sagen wir der Einfachheit halber einer geraden Linie, die Zahlen 
des eindimensionalen Kontinuums zuordnen. Wir werden damit beginnen, 
daß wir uns auf einer gezeichnet vorliegenden oder sonstwie materiell ge- 
gebenen geraden Linie tatsächlich eine Skala äquidistanter Punkte (einen 
Maßstab) konstruieren. Die Teile dieser Skala werden wir dann weiter 
unterabteilen, soweit dies praktisch ausführbar erscheint. Wir kommen so 
zu dem Resultate, daß innerhalb der empirischen Anschauung, d.h. soweit 
die Genauigkeit derselben reicht, tatsächlich jedem Punkte der geraden 
Linie eine bestimmte Zahl und jeder Zahl ein bestimmter Punkt zugeordnet 
werden kann. Und nun machen wir den charakteristischen Schritt über 
die empirische Anschauung hinaus zum Axiom: wer postulieren, daß das 
Entsprechen zwischen Punkt und Zahl nicht nur innerhalb der empiri- 
schen Genauigkeit, sondern im absoluten Sinne statthaben soll‘). Es wird 
sich diese Forderung des genaueren in drei Stücke zerlegen lassen. Wir 
ziehen erstlich nur rationale Zahlen in Betracht und verlangen, daß jeder 
rationalen Zahl ein Punkt der geraden Linie entsprechen soll. Schon 
dieses erscheint mir durchaus axiomatisch, denn rationale Zahlen mit hin- 
reichend großem Nenner können auf unserer Skala empirisch nicht mehr 
nachgewiesen werden. Wir wenden uns zweitens zu den irrationalen Zahlen 
(die wir mit Dedekind oder G. Cantor oder Weierstraß als Grenzen 
rationaler Zahlen definieren). Wieder haben wir ausdrücklich zu postu- 
lieren, daß jeder solchen irrationalen Zahl ein Punkt unserer Geraden 
entsprechen soll (vgl. G. Cantor im fünften Bande der Math. Annalen, 
1872). Drittens endlich ist zu verlangen, daß jedem Punkte unserer Ge- 
raden nun auch eine bestimmte Zahl zugewiesen sein soll. Es wird dies 
der Fall sein, sobald es kein noch so kleines Segment unserer geraden 
Linie gibt, in welches wir bei fortgesetzter Unterabteilung unserer Skala 
nicht eindringen können. Insofern deckt sich diese dritte Forderung mit 
dem [mehr projektiv gefaßten] sogenannten Axiom des Archimedes. Diese 
drei Axiome zusammen — ich werde sie kurz die Stetigkeitsaxiome 
nennen — sind die eigentliche Grundlage unserer gewöhnlichen analytischen 
(Geometrie. Man wird fragen können, ob diese Axiome notwendig sind, 
ob man dieselben nicht irgendwie modifizieren kann. In diesem Zusammen- 





?) Es ist interessant, hier die Erläuterungen zu vergleichen, welche Mach auf 
S. 71—77 seines neuen Buches über die Prinzipien der Wärmelehre (Leipzig, 1896) 
betrefis der physikalischen Bedeutung des Zahlenkontinuums gibt. 


396 Zur Grundlegung der Geometrie. 


hange habe ich zunächst die Tendenz zu nennen, welche in dem großen 
Buche von Veronese°) ihre ausführlichste Bearbeitung gefunden hat, näm- 
lich, das Axiom des Archimedes fallen zu lassen und neben den genannten 
(rationalen und irrationalen) Zahlen auf der geraden Linie noch andere 
Zahlen einzuführen, die dureh Addition von „aktual unendlich kleinen 
Zahlen‘ zu den gewöhnlichen ‚endlichen‘ Zahlen entstehen. Ich betrachte 
es hier nicht als meine Aufgabe, zu den verschiedenen Einwendungen 
Stellung zu nehmen, welche gegen die Veroneseschen Entwicklungen er- 
hoben worden sind; ich will nur beiläufig bemerken, daß greifbare geo- 
metrische Resultate als Folge des erwähnten Ansatzes bisher noch nicht 
gewonnen sein dürften. Umgekehrt tritt bei anderen Forschern neuer- 
dings vielfach die Tendenz hervor, nur die rationalen Punkte als wirkliche 
Punkte gelten zu lassen. Es liegt hier eine merkwürdige Umkehr des 
wissenschaftlichen Gedankens vor. Denn die irrationalen Zahlen sind in 
die Arithmetik überhaupt erst eingeführt worden, um der geometrischen 
Kontinuität gerecht zu werden, an deren Vorhandensein man nicht zweifelte; 
also nicht die Arithmetik, sondern die Geometrie hat den ersten Anstoß 
zu ihrer Inbetrachtnahme gegeben. 

Die hiermit gegebenen Erörterungen über die Einführung der Zahlen 
gingen von dem Umstande aus, daß die empirische Messung eine Grenze 
nach unten hin hat, jenseits deren sie versagt. Genau so dürfte bei der 
Heranziehung der topologisch unterschiedenen Raumformen, von denen wir 
oben nur erst in abstraktem Sinne handelten, hier, wo die Geometrie des 
tatsächlich gegebenen Raumes in Betracht kommt, keine Willkür, sondern 
nur eine innere Konsequenz vorliegen. Unsere empirische Messung hat 
ebensowohl eine Grenze nach oben hin, welche durch die Dimensionen der 
uns zugänglichen oder sonst in unsere Beobachtung fallenden Gegenstände 
gegeben ist. Was wissen wir über die Verhältnisse des Raumes im Un- 
meßbar-Großen? Von vornherein zweifellos gar nichts; wir sind durchaus 
darauf angewiesen, Postulate aufzustellen. Ich betrachte also alle die 
topologisch unterschiedenen Raumformen als mit der Erfahrung gleich ver- 
träglich. Daß wir bei unseren theoretischen Überlegungen einzelne dieser 
Raumformen bevorzugen (nämlich die Stammtypen, also die eigentliche 
parabolische, hyperbolische und elliptische Geometrie), um schließlich die 
parabolische Geometrie, d. h. die gewöhnliche Euklidische Geometrie end- 
gültig anzunehmen, geschieht einzig nach dem Grundsatze der Ökonomie. 

Indem ich mich jetzt zur projektiven Geometrie wende, wünsche ich 
zunächst einiges über ihre von allem Messen unabhängige Begründung zu 





8) Grundlagen der Geometrie von mehreren Dimensionen und mehreren Arten 
geradliniger Einheiten (übersetzt von Schepp), Leipzig 1894. Das italienische Original 
erschien 1891, Padova. 


XXII. Gutachten zur ersten Verteilung des Lobatschewsky-Preises. 397 


sagen. Dieselbe beruht bekanntlich auf dem Ineinanderliegen der Punkte, 
Geraden und Ebenen des Raumes, wie dies zuerst v. Staudt in seiner 
Geometrie der Lage 1847 entwickelt hat. Ich selbst habe dann in Bd. 4 
und 6 der Math. Annalen (1871—72) [Abh. XVI und XVIII dieser Ausgabe | 
gezeigt, daß diese Überlegungen, trotzdem v. Staudt es anders darstellt, tat- 
sächlich vom Parallelenaxiom unabhängig sind. Es beruht dies auf dem Um- 
stande, daß man sich auf solche Konstruktionen beschränken kann, die über 
ein vorgegebenes begrenztes Raumstück nicht hinausführen (wobei dann alle 
Punkte, welche die gewöhnliche projektive Geometrie außerhalb dieses Raum- 
stücks voraussetzt, nur als sogenannte ideale Punkte zur Geltung kommen). 
In besonders knapper und durchsichtiger Weise ist dies neuerdings (1891) 
von Herrn Schur im 39. Bande der Math. Annalen dargelegt worden. 
Vor allen Dingen aber muß ich hier auf die systematische Ableitung der 
ganzen Theorie aufmerksam machen, welche Herr Pasch in seinen Vor- 
lesungen über neuere Geometrie (Leipzig 1882) gegeben hat. Das Buch 
von Pasch ist um so bemerkenswerter, als er mit seinen streng logisch 
gegliederten Entwicklungen überall ausdrücklich an die empirisch gegebene 
Raumanschauung anknüpft, so daß diejenige Auffassung der Geometrie, 
welche im vorliegenden Berichte vertreten wird, hier im Zusammenhange 
zur konsequenten Darstellung gelangt. Die Axiome der abstrakten pro- 
jektiven Geometrie sind im Anschlusse an Pasch in den letzten Jahren 
von verschiedenen italienischen Geometern weiter zergliedert worden. Eine 
eigenartige Darstellung fanden dieselben in dem bereits genannten Buche 
von Veronese: der Verfasser formuliert seine Voraussetzungen so allgemein, 
daß er beim Übergange zur metrischen Geometrie neben dem einfachen 
elliptischen Raume von vornherein den sphärischen Raum mit erhält. Die 
Abstraktheit ist hier auf die Spitze getrieben, indem die Betrachtung 
immer mit den allgemeinsten Überlegungen anhebt; ich finde es äußerst 
schwer, dem Gedankengange des Verfassers auch nur ein Stück weit zu 
folgen. 

Zweitens wünsche ich über die Einführung der Zahlen in die pro- 
jektive Geometrie hier einiges zu sagen. Der Prozeß ist meines Erachtens 
im Prinzip genau derselbe wie im Falle der metrischen Geometrie, daß 
man nämlich zuerst eine Skala auf gegebener gerader Linie empirisch 
konstruiert, diese so weit als möglich unterabteilt und schließlich eben die- 
jenigen Stetigkeitsaxiome einführt, von denen oben die Rede war. Der 
äußere Unterschied besteht natürlich, daß man jetzt von drei Punkten der 
Geraden ausgehen muß, denen man (willkürlich) die Zahlen 0, 1, & zu- 
weist, — während die metrische Skala mit zwei beliebigen Punkten be- 
ginnt, welche 0 und 1 genannt werden. Dies hat aber mit der Plausi- 
bilität der Stetigkeitsaxiome, wie ich es nennen möchte, gar nichts zu tun; 


398 Zur Grundlegung der Geometrie. 


es genügt, sich wirklich einmal eine projektive Skala (empirisch) zu kon- 
struieren, um zu sehen, daß die Teilpunkte für das beobachtende Auge 
bald so eng zusammenrücken, daß sie nicht mehr unterschieden werden 
können”). Ich habe daher auch nie verstehen können, weshalb Pasch in 
seinem Buche, in dem er übrigens die projektive Einführung der Zahlen 
vollständig zur Durchführung bringt, vor Einführung der Stetigkeitsaxiome 
einen Abschnitt über Kongruenz der Figuren einschaltet und die genannten 
Axiome dann an die metrische Skala anschließt; man vergleiche hierzu 
die Erläuterungen, welche Herr Pasch später (1887) im 30. Bande der 
Math. Annalen über diesen Punkt gegeben hat. Die Herren Lindemann 
und Killing haben sich denn auch in ihren bereits genannten Lehrbüchern 
diesem Verfahren nicht angeschlossen. Übrigens soll nicht unerwähnt 
bleiben, daß der erste, welcher die projektive Einführung der Zahlen auf 
der geraden Linie in streng logisch gegliederter Weise zur Darstellung ge- 
bracht hat, de Paolis gewesen ist (Memorie della Accademia dei Lincei, 
ser. 3, vol. 9, 1880—81). 

Die so skizzierten Bemerkungen über die Einführung der Zahlen in 
die projektive Geometrie bedürfen natürlich, um mit dem Früheren in 
Übereinstimmung zu sein, der bestimmten Einschränkung, daß alle in Be- 
tracht kommenden Konstruktionen und Überlegungen zunächst nur im 
begrenzten Raumstück angestellt werden sollen. Dann ist die Bahn frei, 
um beim Übergang zur Metrik eine der drei möglichen Maßbestimmungen 
nach Belieben aufzustellen und überhaupt für den unbegrenzten Raum 
hinterher alle die topologischen Möglichkeiten zu diskutieren, die wir oben 
genauer bezeichneten. 

Nun noch ein paar lose Ausführungen, die mit diesen projektiven 
Theorien in Verbindung stehen. 

Die Herren Minkowski und Hilbert haben der Frage der mit der 
projektiven Geometrie verträglichen metrischen Geometrie letzthin eine 
sehr merkwürdige Wendung gegeben. Es seien x, y, z gewöhnliche Parallel- 
koordinaten. Minkowski ersetzt dann (vgl. seine Geometrie der Zahlen, 
Heft 1, Leipzig 1896) den üblichen Ausdruck für den Abstand zweier Punkte 
x, y, z und &,, Yo; 2, durch irgendeine homogene Funktion ersten Grades 
der beigesetzten Differenzen: 


22 — 29 — Ye: 2 7%): 
welche, gleich Konstans gesetzt, in x, y, z als laufenden Koordinaten eine 


nirgends konkave Fläche darstellt. Es gilt dann immer noch der Satz 
(wie Minkowski nachweist), daß die gerade Linie die kürzeste Linie 





%) In der Tat ist ja auch die gewöhnliche metrische Skala der Euklidischen 
Geometrie direkt ein Spezialfall der projektiven Skala. 


XXI. Gutachten zur ersten Verteilung des Lobatschewsky-Preises. 399 


zwischen zwei beliebigen ihrer Punkte ist. Bewegungen des Raumes aber 
gibt es, allgemein zu reden, nicht mehr, abgesehen von den dreifach un- 
endlich vielen Parallelverschiebungen. Man muß die Entwicklungen von 
Minkowski selbst nachlesen, um zu sehen, daß dieser allgemeine Ansatz 
zu sehr bemerkenswerten geometrischen Folgerungen hinführt. Herr Hilbert 
hat die Frage umgekehrt, indem er verlangt, die allgemeinste Maßbestim- 
mung anzugeben, bei welcher die gerade Linie uneingeschränkt kürzeste 
Linie ist. Er findet, daß man diese Maßbestimmung aus den Doppelver- 
hältnissen der projektiven Geometrie erhält, wenn man statt der Fläche 
zweiten Grades, welche Cayley benutzt, irgendeine nirgends konkave ge- 
schlossene Fläche als Fundamentalfläche zugrunde legt. Minkowskis 
Maßbestimmung ist hiervon ein Grenzfall. Im allgemeinen gibt es bei 
Hilbert überhaupt keine Bewegungen. 

Eine andere Frage, welche allgemein interessieren muß, ist, welche 
Stellung Helmholtz zur projektiven Begründung der Nicht-Euklidischen 
Geometrie eingenommen hat. Das typische projektive Denken (im Sinne 
v. Staudts) hat Helmholtz vermutlich ganz fern gelegen. Man muß 
sich vergegenwärtigen, daß man in jenen Jahren, in welche Helmholtz’ 
eigentliche mathematische Produktivität fällt, die projektive Geometrie 
noch durchgängig als eine Spezialität betrachtete; die Überzeugung von 
ihrer grundlegenden Bedeutung für alle geometrische Spekulation war noch 
keineswegs allgemein durchgedrungen. Es kann auch sein, daß Helm- 
holtz nach seiner naturwissenschaftlichen Gewöhnung, die Dinge immer 
in concreto zu sehen, der bei der projektiven Geometrie zugrunde liegen- 
den Abstraktion von vornherein abgeneigt war. In der Einleitung zu 
seiner Göttinger Note (1868) weist er eine Begründung der Geometrie, 
welche die Eigenschaften des Sehraumes voranstellt, geradezu zurück, „weil 
doch auch der Blinde richtige Raumvorstellungen gewinnen könne“. Hier- 
mit kontrastiert nun in interessanter Weise, daß Helmholtz durch seine 
ausgedehnten optischen Untersuchungen von selbst immerzu veranlaßt ist, 
projektive Fragen in Betracht zu ziehen, die er bald mit selbstgeschaf- 
fenen Hilfsmitteln löst, bald aber auch nur mit allgemeinem Räsonne- 
ment behandelt. 

Was insbesondere die projektive Erfassung der Lobatschewskyschen 
bzw. Riemannschen Geometrie angeht, so finden sich die ausführlichsten 
Äußerungen in dieser Richtung in seinem populären Vortrage über „Ur- 
sprung und Bedeutung der geometrischen Axiome“, der im dritten Hefte 
der bezüglichen Sammlung (Braunschweig, 1876) abgedruckt ist. Für den 
Raum konstanter negativer Krümmung benutzt er dort in der Tat mit 
Vorliebe Beltramis „Sphärisches Abbild“ (1868) (bei welchem der ge- 
nannte Raum nach seiner ganzen Erstreckung in das Innere einer Kugel 


400 Zur Grundlegung der Geometrie. 


des Euklidischen Raumes abgebildet wird, und zwar derart, daß seinen 
geraden Linien die geraden Linien des Euklidischen Raumes entsprechen). 
Bei dieser Abbildung verwandelt sich bekanntlich Lobatschewskys Geo- 
metrie in diejenige Cayleysche Maßbestimmung, welche die begrenzende 
Kugel als absolute Fläche benutzt; der Unterschied ist nur, daß im An- 
schluß an Cayley zum Fundament wird, was bei Beltrami ein bloßes 
Mittel der Veranschaulichung ist, womit zusammenhängt, daß nicht schon 
Beltrami zur Erfassung einer projektiven Begründung der Nicht-Euklidischen 
Geometrie gelangt ist. Von Cayley und den sich anschließenden Ent- 
wicklungen ist nun bei Helmholtz nirgends die Rede; er hat, wie es 
scheint, davon nie Notiz genommen. Trotzdem erfaßt er das „kugelförmige 
Abbild“ als etwas Wesentliches; ‘er sucht sich den Eindruck klarzumachen, 
den ein Beobachter gewinnen müßte, der, mit Euklidischem Augenmaße 
ausgestattet, die Nicht-Euklidischen Bewegungen starrer Körper innerhalb 
des genannten Abbildes betrachten würde. Diese Bewegungen erweisen 
sich dabei natürlich als Kollineationen, welche die fundamentale Kugel 
festlassen; die Kugel ist wie eine undurchdringliche, oder richtiger gesagt: 
unerreichbare Wand, an welche die Bewegungen zwar beliebig nahe heran- 
bringen, welche man aber nie wirklich berührt. Helmholtz versucht es, 
diese Sache zu veranschaulichen, ohne von dem Worte „Kollineation“ 
Gebrauch zu machen. Zu dem Zweck konstruiert er eine Analogie; er 
fingiert einen Beobachter, der, mit Euklidischem Augenmaß ausgestattet, 
den Euklidischen Raum und die in diesem stattfindenden Bewegungen 
durch eine Konkavlinse betrachtet. Die Sache ist dann in projektiver Aus- 
drucksweise folgende: der Euklidische Raum unterliegt vermöge der an 
der Linse stattfindenden Strahlenbrechung einer bestimmten Kollineation 
(einer „Reliefperspektive‘‘), vermöge deren die unendlich ferne Ebene auf 
den Beobachter zu ins Endliche gerückt erscheint; es ist also in der Tat 
dieser Vergleichspunkt vorhanden, daß das Gesichtsfeld nach vornehin 
durch eine Wand wie abgeschlossen erscheint. Darum bleibt aber doch, 
wie man leicht bemerkt, ein wesentlicher Unterschied bestehen. Die in 
Rede stehende Wand ist eben kein Stück einer Kugelfläche, sondern eine 
richtige Ebene, und in Übereinstimmung hiermit ist die abgeänderte Maß- 
bestimmung, welche unser Beobachter wahrnimmt, nach wie vor eine 
Euklidische, d. h. eine parabolische Maßbestimmung, welche einen in der 
ebenen Wand gelegenen imaginären Kegelschnitt als fundamentales Gebilde 
benutzt. — Noch interessanter gewissermaßen (als eine Mischung von 
wahr und falsch) ist, was Helmholtz über den Fall des positiven Krüm- 
mungsmaßes sagt. Er stattet zunächst den eben eingeführten Beobachter 
mit einer Konvexbrille aus, was allerdings weniger gut paßt, weil dadurch 
die in Rede stehende Wand (die Fluchtebene der Reliefperspektive) nicht 


XXII. Gutachten zur ersten Verteilung des Lobatschewsky-Preises.. 401 


weggeschafft wird, wie es eigentlich der Fall sein sollte, sondern nur 
hinter den Beobachter gelegt wird. Dann wieder bemerkt er mit über- 
raschender Deutlichkeit, daß der Hintergrund des Gesichtsfeldes im Falle 
positiven Krümmungsmaßes durch den eigenen Hinterkopf des Beobachters 
gegeben sein würde. Man kann die Verhältnisse, wie sie sich im (ein- 
fachen) elliptischen Raume gestalten, nicht überzeugender schildern, als 
durch diese Angabe geschieht. Die Sache stimmt allerdings auch im 
sphärischen Raume, aber doch nur in komplizierter Weise, indem näınlich 
die Visierlinien, welche vom Auge des Beobachters ausgehen, ehe sie er- 
neut, von hinten kommend, sich im Ausgangspunkte kreuzen, vorher alle 
im sphärischen Gegenpunkte des Beobachters zusammentreffen: das ist 
eine so wesentliche Sache, daß ein Naturforscher, der den Hergang schil- 
dert, sie unmöglich unerwähnt lassen kann. Helmholtz ist aber trotz- 
dem nicht zur Erfassung des einfachen elliptischen Raumes durchgedrungen; 
vielmehr reproduziert er 1. c. weiterhin ungeändert den alten (aber falschen) 
Satz, daß sich im Raume positiver Krümmung zwei geodätische Linien, wenn 
sie sich überhaupt schneiden, notwendig in zwei Punkten schneiden müssen! 

Fassen wir zusammen, so werden wir sagen dürfen, daß sich hier auf 
dem Gebiete der projektiven Geometrie ein ganz ähnliches Bild ergibt, 
wie bei den Untersuchungen über die Grundlagen der metrischen Geometrie, 
daß nämlich Helmholtz hier wie allerwärts in genialer Weise die rich- 
tigen allgemeinen Gesichtspunkte erfaßt, daß aber die Einzelausführung 
nur wenig befriedigt. Der große Namen von Helmholtz kann durch 
solche Bemerkungen nicht herabgemindert werden; die Wissenschaft aber 
hat Gewinn, wenn die historische Kritik versucht, auch in solchen außer- 
ordentlichen Fällen Licht und Schatten richtig zu verteilen. 


Göttingen, den 1. Oktober 1897. 





[Unnötig zu sagen, daß erst nach Abschluß des vorstehenden Berichts die volle 
Entwicklung der modernen Axiomatik einsetzte; man vergleiche, was diese weitere 
Entwicklung angeht, das Referat von Enriques in der Math. Enz., Bd. III, AB 1 
(1907) bzw. deren französischen Ausgabe. 

Ich selbst bin in meinen weiteren wissenschaftlichen Schriften nur noch einmal 
auf axiomatische Fragen zurückgekommen, nämlich in Bd. 2 meiner autographierten 
Vorlesungen über Elementarmathematik vom höheren Standpunkt aus (Geometrie, 
1. Aufl. 1905, 2. Aufl. 1914), in der ich eine Übersicht über die elementarsten Fragen 
der Axiomatik gebe. Was insbesondere die Parallelentheorie angeht, gebe ich dort in 
erster Linie eine Darstellung, die dem Axiomensystem von M&ray entspricht, indem 
ich nämlich von vornherein die Existenz von 00° (unter sich vertauschbaren) Trans- 
lationen voraussetze, womit natürlich die allgemeine projektive Maßbestimmung, und 
damit die eigentliche Nicht-Euklidische Geometrie ausgeschlossen sind. Erst in zweiter 
Linie gehe ich auf letztere ein. Ich erwähne diese Einzelheit hier, um hervortreten 
zu lassen, daß ich mir hinsichtlich Art und Aufeinanderfolge der Axiome je nach dem 
gerade vorliegenden Zweck alle Freiheit wahren möchte. — K.| 

Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 26 


XXIII. Zur Interpretation der komplexen Elemente in 
der Geometrie. 


[Nachrichten von der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu. Göttingen 
vom 14. August 1872; Math. Annalen, Bd. 22.) 


Wenn bei der analytischen Behandlung der Geometrie das Studium 
der algebraischen Gebilde notwendig zu. der Einführung komplexer Ele- 
mente hinleitet, so hat man lange Zeit darüber gestritten, ob und in 
wie weit den komplexen Elementen eine rein geometrische Bedeutung bei- 
zulegen sei. Die mehr oder minder unbestimmten Prinzipien, wie sie von 
Poncelet, Chasles u. a. .mit Bezug auf diese Frage formuliert wurden, 
konnten eine exakte Auifassung nicht befriedigen; sie erweisen sich nicht 
nur als unklar, sondern in vielen Fällen geradezu als ungenügend. Auch 
die in neuerer Zeit so vielfach angewandte und gewiß höchst fruchtbare 
Methode, die komplexen Gebilde als nur analytisch. definiert anzusehen, 
von ihnen aber Dinge auszusagen, welche die geometrische Anschauung: 
den reellen Gebilden beilegt, indem man darunter nur die auch für die 
komplexen Elemente bestehenden bez. analytischen Relationen versteht, 
kann nicht als die abschließende Behandlung des Gegenstandes erscheinen, 
obwohl sie in ihrer Richtung alles leistet. Denn wir wollen auch in der 
analytischen Geometrie uns nicht begnügen, geometrische Sätze an der 
Hand übrigens nicht gedeuteter analytischer Operationen als wahr zu er- 
kennen, sondern wir wollen den geometrischen Inhalt jeder einzelnen 
Operation verfolgen, so daß das Resultat als ein durch unsere räumliche 
Anschauung notwendig bedingtes mit Bewußtsein erkannt wird. In dieser 
Richtung liegt also bei den komplexen Elementen: die Frage vor, ob man 
nicht den Sätzen und Aufgaben, die sich analytisch auf komplexe Ele- 
mente beziehen, dadurch eine geometrische Bedeutung erteilen könne, daß 
man sie auf reale Gebilde überträgt, die zu den komplexen in einer 
wesentlichen Beziehung stehen. v. Staudts Verdienst ist es'), in seinen 





1) Vgl. hierzu die beiden neuen Aufsätze: Stolz, Die geometrische Bedeutung 
der komplexen Elemente in der analytischen Geometrie. Math. Ann., Bd. 4 (1871). — 
August, Untersuchungen über das Imaginäre in der Geometrie. (Programm der 
Friedrichs-Realschule in Berlin 1872.) 


XXIII. Komplexe Elemente in der Geometrie. 403 


Beiträgen zur Geometrie der Lage die Frage in der so präzisierten Form 
aufgestellt und in einer nun noch näher zu beleuchtenden Art beantwortet 
zu haben. 

Jeder komplexe Punkt — und es mag hier nur von komplexen 
Punkten gehandelt werden — liegt mit seinen konjugierten auf einer 
reellen Geraden und gibt mit ihm zusammen das Paar Grundpunkte für 
eine reelle auf der Geraden befindliche Involution ab. Diese Involution 
ist durch die beiden Punkte vollständig bestimmt; es findet auch das 
Umgekehrte statt; sie kann daher die beiden komplexen Punkte geo- 
metrisch vertreten, insofern für sie bestimmte Beziehungen gelten müssen, 
sobald irgendwelche Beziehungen für die komplexen Punkte festgesetzt 
werden. Aber es entsteht die Schwierigkeit, zu sondern, was auf den 
einen oder den anderen komplexen Punkt sich bezieht. Um dies zu er- 
reichen — und das ist der Kern seiner Methode — legt v. Staudt der 
geraden Linie, auf welcher sich die Involution befindet, einen bestimmten 
Sinn bei, in welchem sie durchlaufen werden soll; die Involntion vertritt 
den einen oder den anderen komplexen Punkt, je nachdem man den einen 
oder anderen Sinn auswählt. 

Diese Einführung und Unterscheidung des Sinnes scheint zunächst 
sehr willkürlich. Denn derselbe hängt mit der auf der Geraden befind- 
lichen Involution gar nicht zusammen, er gibt nur an, in welcher Reihen- 
folge wir die überdies durch die Involution paarweise zusammengeordneten 
Punkte der Geraden unserer Aufmerksamkeit vorführen sollen. Und es 
ist gar nicht zu sehen, weshalb die Unterscheidung des Sinnes mit der 
Trennung der beiden komplexen Punkte zusammenhängt. 

Demgegenüber sei es gestattet, hier eine andere Interpretation der 
komplexen Elemente vorzutragen, welche eine Einsicht in die aufgeworfenen 
Fragen gestattet, welche übrigens die v. Staudtsche Interpretation 
umfaßt und nur als eine Weiterbildung derselben angesehen werden will. 

In ihrer allgemeinsten Form kann die fragliche Interpretation fol- 
gendermaßen dargelegt werden. Die beiden auf einer Geraden befindlichen 
komplexen Punkte O, 0’ können als Grundpunkte für eine auf der Geraden 
zu trefiende projektivische Maßbestimmung betrachtet werden. Als Ent- 
fernung zweier Punkte a, b hat man dann den mit einer beliebig zu 
wählenden Konstanten c multiplizierten Logarithmus eines der beiden 
Doppelverhältnisse zu betrachten, welches die Punkte a, 5 mit den Punk- 
ten O, O’ bilden. Nachdem man über c nach Belieben verfügt, ist die 
Maßbestimmung bis auf das Vorzeichen festgelegt, in dieser Unbestimmt- 
heit repräsentiert sie die beiden komplexen Punkte O und 0’. Ein Wechsel 
des Vorzeichens kann mit einer Vertauschung der beiden Punkte O und O’ 


in Zusammenhang gebracht werden. Denn bei einer solchen Vertauschung 
26 * 


404 Zur Grundlegung der Geometrie. 


geht das bez. Doppelverhältnis in seinen reziproken Wert über, der Loga- 
rithmus des Doppelverhältnisses ändert sein Zeichen. Indem wir also der 
Maßbestimmung ein bestimmtes Vorzeichen beilegen, sondern wir zwischen 
den beiden komplexen Punkten, insofern Vorzeichenwechsel und Ver- 
tauschung der beiden Punkte einander entsprechen. 

Wir wollen jetzt von einem beliebigen Punkte a anfangend auf der 
gegebenen Geraden eine Skala mit Bezug auf die festgelegte Maßbestim- 
mung äquidistanter Punkte konstruieren, welche in positivem Sinne fort- 
schreitet, in dem wir von a aus eine positive Strecke « wiederholt an- 
tragen. Die so entstehende und in bestimmtem Sinne durchlaufene Punkt- 
reihe vertritt die Maßbestimmung vollständig, auch wenn sie sich nach 
n-maliger Wiederholung schließt, vorausgesetzt nur, daß n > 2. Sinkt n 
auf 2 herab, so hat die Reihe als solche keinen eigentümlichen Sinn mehr; 
sie hat auch zu wenig Konstante, um die beiden komplexen Punkte zu 
definieren. — Ist aber n > 2, so können wir die Punktreihe, die dann 
eine sogenannte zyklisch projektivische Reihe von n Punkten ist?), mit 
ihrem Sinne an Stelle der Maßbestimmung setzen; als Bild des einzelnen 
komplexen Punktes dient dann also die in bestimmtem Sinne durch- 
laufene zyklisch projektivische- Reihe. 

Statt der einen solchen Reihe mögen wir unendlich viele konstruieren, 
indem wir den Anfangspunkt a sich beliebig ändern lassen; wir mögen 
die unendlich vielen Reihen in der Weise aufeinander folgen lassen, wie 
es ihre Anfangspunkte entsprechend einer positiven Zunahme der Ent- 
fernung von a tun. Ist n, wie wir voraussetzten, > 2, so können alle 
diese Punktreihen in bestimmter Aufeinanderfolge aus einer einzigen der- 
selben durch Konstruktion abgeleitet werden?); die Einführung der un- 
endlich vielen Reihen hat nur den Zweck, daß sie den Wert beurteilen 
läßt, den die einzelne Reihe zur Darstellung der komplexen Grundpunkte 
besitzt; sie ist eben eine unter einfach unendlich vielen. 

Ist aber n—=2, haben wir also mit Punktepaaren zu tun, die dann 
eine Involution bilden, so wird das gleichzeitige Betrachten von minde- 
stens zwei Paaren notwendig, denen dann noch der Sinn, in welchem die 
Gerade durchlaufen werden soll, besonders hinzugefügt werden muß. Dann 
hat man eben die v. Staudtsche Interpretation. 

Nehmen wir aber, was am einfachsten scheint, na — 3. Man hat dann 





2) Eine solche wird auf einer beliebigen Geraden von den n Strahlen aus- 
geschnitten, die den Winkelraum um einen Punkt herum in n gleiche Teile teilen; 
man erhält dabei die allgemeinste zyklisch projektivische Reihe, jede einmal. 

%) Man erreicht dies am einfachsten, wenn man die erste Reihe durch n Strahlen 
eines Büschels bestimmt, die untereinander gleiche Winkel bilden; dreht man den 
Büschel um seinen Mittelpunkt, so schneiden die Strahlen alle weiteren Punkt- 
reihen aus. 


XXIll. Komplexe Elemente in der Geometrie. 405 


drei Punkte auf der Geraden, und zwar drei beliebige Punkte, da jedes 
System von drei Punkten zyklisch projektivisch ist. Die Grundpunkte des- 
selben werden durch die quadratische Kovariante A der durch die drei 
Punkte repräsentierten kubischen Form f vorgestellt. Drei Punkte sind 
auch gerade notwendig und hinreichend, um einen bestimmten Sinn auf 
den Geraden festzulegen. Wir repräsentieren also schließlich den kom- 
plexen Punkt durch drei beliebige in bestimmtem Sinne zu nehmende 
Punkte einer Geraden. — Der komplexe Punkt ist dann einer der beiden 
Punkte, die durch A = 0 vorgestellt werden. Daß sich die Unterscheidung 
des Sinnes auf der Geraden mit der Unterscheidung der Faktoren von A 
deckt, kommt darauf hinaus, daß die Festsetzung des Sinnes der Adjunk- 
tion der Quadratwurzel aus der Diskriminante von f äquivalent ist, 
letztere ist aber zugleich im wesentlichen die Diskriminante von A. 

Es mag hier nicht näher ausgeführt werden, wie sich die konstruk- 
tiven Aufgaben, welche man für komplexe Punkte stellen kann, unter 
Zugrundelegung dieser einfachsten Darstellung gestalten; dagegen mag noch 
kurz der Darstellung durch zyklisch projektivische Reihen von vier Punkten 
a, b, c, d gedacht werden. Dieselbe fällt nämlich ihrem Wesen nach mıt 
v. Staudts „harmonischer“ Darstellung der zur Definition der komplexen 
Punkte dienenden Involution zusammen, und nur die Auffassung ist hier 
etwas anders. Bei v. Staudt hat man in den vier Punkten a, b, c, d 
zwei Paare der bez. Involution vor sich, nämlich ac-und bd, und man 
schreibt die Punkte nur in der Reihenfolge a, 5, c, d, um zugleich den 
Sinn auf der Geraden zu fixieren. Hier dagegen gehen die Punkte a, b, 
c, d in ihrer Reihenfolge durch dieselbe Operation auseinander hervor, und 
der Sinn findet sich von selbst mitbestimmt. 


XXIV. Eine Übertragung des Pascalschen Satzes auf 
Raumgeometrie. 


[Sitzungsberichte der physikalisch-medizinischen Sozietät zu Erlangen 
vom 10. November 1873); Math. Annalen, Bd. 22.] 


Man erhält ein eigentümliches Prinzip zur Übertragung von Sätzen 
der Ebene auf den Raum, wenn man die Riemannsche Repräsentation 
einer komplexen Variabeln auf der Kugelfläche mit der projektivischen 
Betrachtung der Gebilde zweiten Grades verbindet. Dasselbe soll im fol- 
genden kurz bezeichnet und insbesondere auf den Pascalschen Satz an- 
gewendet werden. 

Hesse hat bekanntlich eine Methode gegeben (Borchardts Journal, 
Bd. 66 (1867)), um Sätze der Ebene auf die gerade Linie, — algebraisch 
ausgedrückt, auf das Wertgebiet einer einzelnen, im Sinne der linearen In- 
variantentheorie betrachteten, Variabeln — zu übertragen. Man lasse 
nämlich jeder geraden Linie der Ebene das Punktepaar entsprechen, in 
welchem sie einen festen Kegelschnitt schneidet, und beziehe den Kegel- 
schnitt durch stereographische Projektion von irgendeinem seiner Punkte 
aus auf eine feste Gerade. Die Punktepaare der Geraden werden so die Bilder 
der Linien der Ebene, und die ebene Geometrie ist mit der Geometrie der 
Geraden in Verbindung gesetzt, wenn man in ersterer die Linien, auf letzterer 
die Punktepaare als Elemente betrachtet. 

Man repräsentiere nun weiter das Wertgebiet der Variabeln, deren 
reelle Werte allein auf der festen Geraden veranschaulicht waren, in Rie- 
mannscher Weise auf einer Kugelfläche, oder, was eine leicht verständ- 
liche Verallgemeinerung ist, auf einer nicht geradlinigen reellen Fläche 
zweiten Grades?). Der geraden Linie der ursprünglichen Ebene, mochte 
sie reell oder komplex sein, entspricht eindeutig ein reelles Punktepaar 
der Fläche, und dieses Punktepaar ersetze man wieder durch seine Ver- 
bindungsgerade. So hat man schließlich eine Beziehung zwischen Ebene 
und Raum, vermöge deren jeder reellen oder komplexen Geraden der 
Ebene eine und im allgemeinen nur eine reelle Gerade des Raumes ent- 





!) Es ist dies diejenige Arbeit, auf welche Hr. Wedekind bei seiner Definition 
des komplexen Doppelverhältnisses von vier Punkten der Kugel Bezug nimmt, Bd. 9 
der Math. Annalen, S. 209ff. (1875). 

%) Man erhält diese Repräsentation, von der gewöhnlichen Darstellung der kom- 
plexen Variabeln in der Ebene ausgehend, indem man die Ebene parallel zu der 
Tangentialebene der Fläche in einem ihrer Nabelpunkte legt und durch stereogra- 
phische Projektion von diesem Nabelpunkte aus Fläche und Ebene aufeinander bezieht. 


XXIV. Übertragung des Pascalschen Satzes auf Raumgeometrie. 407 


spricht. Letztere ist in ihrer Lage dadurch beschränkt, daß sie gezwungen 
ist, eine nicht geradlinige reelle Fläche zweiten Grades zu treffen. 

Diese Beziehung hat namentlich folgende Eigentümlichkeit: Zwei 
Gerade der Ebene, die mit den Tangenten, welche man durch ihren Durch- 
schittspunkt an den bei Herstellung der Beziehung benutzten festen Kegel- 
schnitt legen kann, ein reelles Doppelverhältnis bilden, erhalten als Bilder 
zwei räumliche Gerade, die sich erstens schneiden und überdies innerhalb 
des somit durch sie bestimmten Büschels mit den an die feste Fläche ge- 
legten durch ihren Durchschnittspunkt gehenden Tangenten dasselbe reelle 
Doppelverhältnis bilden. Insbesondere also: Linien der Ebene, die in 
bezug auf den festen Kegelschnitt konjugiert sind, werden wieder kon- 
jugierte, sich überdies schneidende, Raumgeraden zu Bildern haben. Oder, 
wie man sich ausdrücken kann, indem man den Kegelschnitt in der Ebene, 
die Fläche imRaume nach Cayleys Vorgange als Fundamentalgebilde für 

eine projektivische Maßbestimmung betrachtet: Senkrechten Linien der 
Ebene entsprechen senkrechte, sich schneidende Linien des Raumes. 

Um das hiermit geschilderte Übertragungsprinzip auf den Pascal- 
schen Satz anzuwenden, mag man demselben folgende Form geben. Statt 
zu sagen, daß die drei Durchschnittspunkte der Gegenseiten eines in einen 
Kegelschnitt eingeschriebenen Sechsseits in einer Geraden liegen, kann 
man sich dahin ausdrücken, daß die Polaren dieser drei Punkte, d.h. die 
drei Geraden, welche bez. zu den zusammengehörigen Gegenseiten gleich- 
zeitig konjugiert sind, zu einer vierten Geraden konjugiert sind; oder end- 
lich, indem man nun den Kegelschnitt als Fundamentalgebilde einer pro- 
jektivischen Maßbestimmung wählt: daß die gemeinsamen Perpendikel der 
Gegenseiten eines in das Frundamentalgebilde eingeschriebenen Sechs- 
seits ein gemeinsames Perpendikel haben. 

Auf den Raum übertragen, behält der Satz vollständig seine Form; 
und das ist die Verallgemeinerung des Pascalschen Satzes, die hier ge- 
geben werden sollte. Unter „Fundamentalgebilde“ ist nur eine ovale 
Fläche zweiten Grades verstanden; das in sie eingeschriebene Sechsseit 
braucht nicht eben zu sein, sondern kann irgendwie angenommen werden; 
endlich erscheinen alle Konstruktionen auf das Innere der Fläche be- 
schränkt. Wollte man diese Beschränkung aufheben, wollte man ferner, 
was nahe liegt, zu weiterer Verallgemeinerung an Stelle der nicht gerad- 
linigen reellen Fläche zweiten Grades eine beliebige Fläche zweiten Grades 
setzen, so würde zunächst eine gewisse Unbestimmtheit zu beseitigen sein, 
die daraus entsteht, daß die Konstruktion des gemeinsamen Perpendikels 
zweier Raumgeraden in Cayleys Geometrie eine zweideutige ist und nur 
durch Beschränkung auf das Innere der nicht geradlinig vorausgesetzten 
reellen Fläche zu einer eindeutigen gemacht wird. 


408 Zur Grundlegung der Geometrie. 


[Die Figur, welche aus zwei die (@-+iy) Kugel schneidenden Raumgeraden und 
ihrem zugehörigen, innerhalb der Kugel verlaufenden Perpendikel besteht, scheint in 
vielfacher Hinsicht besonders interessant. Ich hatte in einer Vorlesung von 1890—91 
Anlaß, hierauf ausführlicher hinzuweisen, und im Anschluß daran hat damals Herr 
Fr. Schilling ein Resultat gefunden (s. Göttinger Nachrichten 1901, bez. Math. 
Annalen, Bd. 39), welches ich seiner besonderen Schönheit wegen hier gern erwähne: 

Man nehme irgend drei die (@-+iy)-Kugel schneidende Gerade a,b, c und die drei 
in unserem Sinne zugehörigen Perpendikel, welche in geeigneter Reihenfolge «,ß,’ 
heißen sollen. Die Beziehung zwischen den a,b,c und den «, ß,y ist ersichtlich eine 
gegenseitige. Man definiere nun Winkel und Entfernung hinsichtlich der («+iy)- 
Kugel als Logarithmen der in Betracht kommenden Doppelverhältnisse, multipliziert 
mit ©/,. Die Ebenen, welche man durch a und bez. £,y legen kann, mögen danach 
den Winkel !’ einschließen, ebenso die Strecke, welche auf a durch ß,y ausgeschnitten 
wird, die Länge il" besitzen. Die entsprechende Bedeutung sollen m’, m”, bez. n’, n’ 
für d,c haben. Analog definiere man bei den Geraden «,ß,y die Winkel 4’, u’, v’ 


und die Strecken $, iu”, iv’. Man setze endlich 


Tatra 
m=m’+ im”, u=u'+iu”, 
n=n'+in”, v=v’+iv”. 


Zwischen den sechs Gröben l,m,n,},u,»v bestehen dann genau dieselben Gleichungen, 
die man in der Elementargeometrie zwischen den Kantenwinkeln und den Seitenwinkeln 
eines gewöhnlichen Dreikants aufstellt. Die Gleichungen der sphärischen Trigunometrie 
finden also in unserer Figur auch für den Fall, daß alle in sie eingehenden Argu- 
mente komplexe Werte haben, ihre konkrete Interpretation.. 

Wegen des, übrigens ganz einfachen, Beweises wolle man meine autographierte 
Vorlesung über die hypergeometrische Funktion (von 1893—94) oder auch Fr. Schilling 
in Math. Annalen, Bd. 44 vergleichen. An gegenwärtiger Stelle sei nur bemerkt, daß 
unsere Figur, sobald sich a,b,c im Mittelpunkt der («+iy)-Kugel schneiden, in die 


Elementarfigur vom Dreikant und zugehörigem Polardreikant übergeht, wobei dann 


„ ” HH ,.R „ „ £ ’ ’ . . . 
!,m ,n ,A,a ,‚v verschwinden und!=!,m=m,..., die Bedeutung gewöhnlicher 


Winkel bekommen. Mit anderen Worten: man hat dann genau die Verhältnisse der 
elementaren sphärischen Trigonometrie vor sich. K.] 


Zum Erlanger Programm. 














Zur Entstehung der Abhandlungen XXV—XXXIM. 





In der nun noch folgenden dritten Abteilung des vorliegenden ersten Bandes 
meiner gesammelten Abhandlungen sind der Hauptsache nach diejenigen meiner 
Arbeiten zusammengefaßt, bei denen der Begriff der kontinuierlichen Transforma- 
tionsgruppe im Vordergrunde steht. | 

Den Anfang bilden, auch der Zeit nach, die gemeinsamen Veröffentlichungen 
von Lie und mir über W- Gebilde vom Sommer 1870, bzw. Frühjahr 1871, die hier 
als XXV und XXVI abgedruckt sind. Einige nähere Angaben über ihr Zustande- 
kommen sind an Ort und Stelle eingefügt (S. 415). 

Folgeweise hätte meine Arbeit VIII (Über Liniengeometrie und metrische 
Geometrie, vom Herbst 1871) ihre Stelle finden können, wenn es nicht doch, ihres 
besonderen Inhaltes wegen, zweckmäßiger erschienen wäre, sie schon in den ersten 
(liniengeometrischen) Teil des vorliegenden Bandes aufzunehmen. In der Tat kommen 
hier, wie in der großen Arbeit von Lie über Linien- und Kugelkomplexe, auf die 
dort fortwährend Bezug genommen wird, innerhalb der geometrischen Fragestellungen, 
die wir behandeln, neue Beispiele kontinuierlicher Transformationsgruppen zu spezi- 
fischer Geltung. 

In demselben Sinne muß ferner auf die beiden Nummern XVI und XVIII der 
zweiten Abteilung (meine beiden ersten Arbeiten über Nicht-Euklidische Geometrie) ver- 
wiesen werden. Ganz besonders gilt das von XVIII, die Anfang Juni 1872 abge- 
schlossen wurde. Auf S. 52 oben ist bereits erzählt, daß der Grundgedanke des 
Erlanger Programms (den ich im Spätherbst 1871 erfaßt hatte) ebendort seine erste 
Ausprägung gefunden hat. Der Stoff, welcher dabei umspannt wird, ist nicht so 
ausgedehnt, wie im Programm selbst, dafür aber die Darstellung im einzelnen viel- 
leicht noch überzeugender, weil ursprünglicher. 

Unter XXVII folgt nunmehr das Erlanger Programm selbst, dessen Entstehungs- 
zeit der Oktober 1872 ist. Zwei Umstände haben bei seinem Zustandekommen in 
erster Linie mitgewirkt, worüber ich hier ein paar Worte sagen muß. Zunächst, daß 
mich Lie vom 1. September beginnend für zwei Monate besuchte, dann, daß ich am 
1. Oktober nach Erlangen übersiedelte, wohin ich als Ordinarius berufen war. Lie, 
der mich dorthin begleitete, hatte inzwischen die Grundzüge seiner Theorie der 
partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung, wie insbesondere der Berührungs- 
transformationen, gewonnen, die bald unser tägliches Gespräch bildeten (wie denn 
die erste Note, welche Lie über seine neuen Auffassungen veröffentlichte, siehe die 
Göttinger Nachrichten vom 30. Okt. 1872, von mir redigiert war). Andererseits ging 
Lie nun mit größtem Eifer auf meine Ideen über die gruppentheoretische Klassi- 
fikation der verschiedenen Behandlungsweisen der Geometrie ein. Die äußere Ver- 
anlassung für die Entstehung meiner Schrift aber war, daß in Erlangen der neu- 
ernannte Professor neben einem Vortrage, mit dem er sich in den Kreis seiner 
Kollegen einführte, herkömmlicherweise ein gedrucktes Programm vorzulegen hatte. 
Ich halte diese Sitte, trotz aller Unbequemlichkeiten, die daraus für die Nächst- 
beteiligten erwachsen mögen, für etwas sehr Gutes, indem die inneren Gedanken- 
reihen, mit denen der Neuberufene sein Amt antritt, den Kollegen, mit denen er 


412 Zum Erlanger Programm. 


zusammenzuwirken hat, auf ganz andere Weise bekannt werden, als sonst möglich 
ist, auch der Neuling zu voller Abklärung seiner Ideen gezwungen ist. In meinem 
Falle fand der öffentliche Vortrag, bei welchem die Druckschrift an die Zuhörer ver- 
teilt wurde, am 7. Dezember statt; ich hatte, wie beiläufig bemerkt sei, als Thema für 
meinen Vortrag die pädagogischen Grundzüge der von mir anzustrebenden akade- 
mischen Tätigkeit gewählt [einiges Nähere darüber in Loreys Abhandlung über das 
Studium der Mathematik an den deutschen Universitäten seit Anfang des 19. Jahr- 
hunderts, Leipzig, B. G. Teubner, 1916')]. 

Bei der Ausarbeitung meines Programms habe ich selbstverständlich immer 
daran gedacht, was wohl mein verehrter Lehrer Clebsch (dem ich zweifellos auch die 
frühzeitige Berufung nach Erlangen zu verdanken hatte) zu meinen Darlegungen, die 
so vielfach. von seiner systematisch - projektivren Denkweise abwichen, sagen würde. 
Vergeblich! Denn Clebsch ist am 7. November 1872, im Alter von nur 39 Jahren, 
einem Anfall von Diphtberitis plötzlich erlegen. Es kam also nicht zu der Stellung- 
nahme, der ich mit einer Mischung von Hoffnung und Furcht entgegensah. Aber 
gleichzeitig erwuchsen mir, indem ich Clebschs wissenschaftliche Erbschaft zu ver- 
walten hatte, neue Aufgaben, die meine Tätigkeit in eine andere Richtung drängten. 
Ich hatte zunächst dafür zu sorgen, daß Lindemann, der bald nach Erlangen 
kam, die Ausarbeitung von Clebschs Vorlesungen über Geometrie übernehmen 
konnte, überhaupt aber andere Spezialschüler von Clebsch, die sich gleichfalls in 
Erlangen einfanden, in ihren Arbeiten gefördert wurden. Im Zusammenhang damit 
hielt ich mehrere Semester hindurch höhere Vorlesungen über die von Clebsch be- 
vorzugten Gegenstände, also Invariantentheorie, projektive Geometrie, Abelsche 
Funktionen usw. Auch die Tradition der noch jungen Mathematischen Annalen 
wollte aufrecht erhalten sein. Im übrigen wandte ich mich, indem ich meinen 
Bonner Arbeitsplan in erweitertem Sinne neu aufnahm, jetzt dazu, von den mir 
geläufigen Darstellungsweisen der algebraischen Geometrie zu Riemann und Galois 
vorzudringen. Hierüber wird im 2. und 3. Bande der vorliegenden Gesamtausgabe 
Näheres mitzuteilen sein; es war die Theorie der diskontinuierlichen Gruppen, die 
nun für mich in den Vordergrund trat. 

Jedenfalls wurde ich durch diese Inanspruchnahme von dem unmittelbaren 
Kontakt mit dem Lieschen Ideenkreise abgedrängt. Aber auch bei Lie selbst trat 
eine Änderung der Arbeitsrichtung ein, die durch einen Besuch, den er, bei der 
Rückreise von Erlangen nach Christiania, bei Adolf Mayer in Leipzig machte, ein- 
geleitet wurde: er begann, um für einen ausgedehnteren Kreis von Mathematikern 
verständlicher zu schreiben, die rein geometrischen (oder, wie er sagte, „synthe- 
tischen“) Betrachtungsweisen, die er sich ausgebildet hatte und die nach wie vor den 
eigentlichen Kern seines mathematischen Denkens bildeten, zu Gunsten der analy- 
tischen Darstellungart Jacobischer Tradition zurückzudrängen. Solcherweise ist das 
merkwürdige Ergebnis zustande gekommen, daß sich Lies und meine Gedankenkreise 
eben in dem Augenblicke, wo sie durch das Erlanger Programm auf das innigste 
verschmolzen waren, voneinander abtrennten. Wiederholtes längeres Zusammensein 
in den 70er und 80er Jahren hat an der hiermit geschilderten Sachlage nicht mehr 
viel ändern können. Ich war Ostern 1875 nach München, Herbst 1880 nach Leipzig 
gekommen. In beiderlei Stellungen war ich durch meine eigenen Untersuchungen 
und übrigens amtliche Verpflichtungen so sehr in Anspruch genommen, daß es ein- 
fach unmöglich war, auch noch den fortschreitenden Gedankenreihen meines nor- 
wegischen Freundes zu folgen. Das Gefühl innerer Zusammengehörigkeit ging darum 
nicht verloren, wie ich dann Ostern 1886, als ich wieder nach Göttingen übersiedelte, 
durchgesstzt habe, daß Lie als mein Nachfolger nach Leipzig berufen wurde und 





ı) Band III, Heft 9, der von mir im Auftrage der Internationalen Mathema- 
tischen Unterrichtskommission herausgegebenen Abhandlungen über den mathe- 
matischen Unterricht in Deutschland. 


Zur Entstehung der Abhandlungen XXV—XXXIII. 413 


dadurch die Möglichkeit erhielt, jüngere Forscher in größerer Zahl in seine Ideen 
einzuführen. 

Die ersten Jahre meines Göttinger Aufenthalts sind für mich eine Periode der 
Sammlung gewesen. Ich begann, das früher Erreichte zu ordnen und abzuschließen, 
insbesondere auch auf meine Jugendarbeiten in größeren Vorlesungen zurückzu- 
kommen. Aus einer solchen Vorlesung ist 1890 die Abhandlung „Zur Nicht - Eukli- 
dischen Geometrie“ entstanden, die vorstehend unter XXI abgedruckt ist. Zugleich ließ 
ich eine Ausarbeitung der Vorlesung autographisch vervielfältigen, und es beginnt da- 
mit die Reihe der Autographien, auf die schon in den Schlußbemerkungen zur Abh. XXI 
hingewiesen ist. Von den weiteren Autographien kommt hier nur erst diejenige in 
Betracht, die 1893 unter dem Titel „Einleitung in die höhere Geometrie“ in zwei 
Teilen erschienen ist. Auf sie bezieht sich das unter XXVIII folgende Selbstreferat 
von 1896. Es handelt sich bei ihr geradezu um die Kommentierung des Erlanger Pro- 
gramms unter Heranziehung der in der Zwischenzeit erzielten zugehörigen Fortschritte. — 

In den gleichen Jahren gelang es mir übrigens, was ich seit Beginn meiner 
mathematischen Studien angestrebt hatte, mit Mechanik und mathematischer Physik 
nähere Fühlung zu gewinnen. Einzelnes in dieser Hinsicht werden die folgenden 
Bände dieser Ausgabe bringen. Zu einer umfassenden Produktivität ist es dann 
freilich nicht mehr gekommen, weil ich mich sehr bald vor neue organisatorische 
Aufgaben gestellt sah, auch immer mehr für die Geltendmachung der Mathematik 
nach außen hin einzutreten hatte. Ich erwähne in dieser Hinsicht nur, daß im 
Herbst 1894 die Arbeiten an der Mathematischen Enzyklopädie begannen, die mich 
in der Folge sehr stark in Anspruch genommen haben. Die unten folgende Abhand- 
lung XXIX, in der ich den Geltungsbereich des Erlanger Programms auf elementare 
Mechanik ausdehne (1901), ist direkt diesem Beschäftigungskreise entwachsen. Einige 
Jahre darauf setzten die Untersuchungen der Physiker über die Relativitätstheorie 
ein, die sehr rasch die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Ich bemerkte 
natürlich sofort, daß sich auch diese aufs beste in die Klassifikationsgedanken von 
1872 einordnen, daß mit letzteren sogar die einfachste Art gegeben ist, die neueren 
physikalischen (oder auch, philosophischen) Gedanken mathematisch klarzustellen. 
Ich habe auf die Dauer dem Reiz nicht widerstehen können, hierauf genauer einzu- 
gehen. Nach einem ersten Vortrag über die Lorentzgruppe (von 1910), der weiter 
unten unter XXX abgedruckt ist, habe ich mich in den Jahren 1916—18 mit den 
einschlägigen Fragen in eigenen Vorlesungen beschäftigt. Von hier aus sind die Notizen 
zu XXX, die ich jetzt beifüge, sowie die Aufsätze XXXI—XXXIII mit den jetzt 
angeschlossenen Ausführungen entstanden, womit der gegenwärtige Band abschließt ?). 





?) Ich gebe hier noch einige Einzelheiten zur Entstehung dieser letzten Arbeiten. 

Hilbert (der 1895 nach Göttingen kam) hatte 1902 erreicht, daß noch ein 
drittes Ordinariat für reine Mathematik an der Universität errichtet und dieses seinem 
Jugendfreunde Minkowski übertragen wurde. Minkowski wandte sich damals 
bald — im Vollbesitz der von ihm entwickelten mathematischen Fähigkeiten — den 
Fragen der modernen theoretischen Physik zu; man wolle Hilberts Nachruf an Min- 
kowski vergleichen, welcher 1909 zuerst in den Göttinger Nachrichten erschien und 
dann als Einleitung in Bd. I von Minkowskis Gesammelten Werken (Leipzig 1911) 
abgedruckt ist. Poincar& und Einstein hatten 1905 die elektrodynamischen Fragen, 
die mit der Lorentzgruppe zusammenhängen und zur Aufstellung der sogenannten 
speziellen Relativitätstheorie führen sollten, in den Vordergrund des Interesses ge- 
bracht. In der Erkenntnis, daß hier für den Mathematiker der dankbarste Unter- 
suchungsgegenstand gegeben sei, setzte Minkowski sofort mit der V); eiterentwicklung 
der Gedankenreihen ein. Ich vermag keine Einzelheiten darüber anzugeben, aber er- 
zähle gern, daß er damals Hilbert und mir darüber auf unseren regelmäßigen 
wöchentlichen Spaziergängen immer wieder eindringliche Vorträge gehalten hat. 
Minkowski war sich dabei des Zusammenhanges mit den früheren Untersuchungen der 


414 Zum Erlanger Programm. 


Wenn ich jetzt, nach fast 50 Jahren, auf das Erlanger Programm zurückblicke, 
sind es besonders zwei Unvollkommenheiten, die mir entgegentreten. 

Die eine betrifft das schon auf S. 320—21 der gegenwärtigen Ausgabe getadelte 
Gleichsetzen von projektiver Geometrie und linearer Invariantentheorie (wo. doch 
erstere nur die Verhältnisse der homogenen Koordinaten, bzw. der in den vorgelegten 
Formen auftretenden Koeffizienten interpretieren kann). 

Die andere bezieht sich auf den unentwickelten und demehtsprechend nicht 
recht umgrenzten Funktionsbegriff. Das Erlanger Programm ist fast so geschrieben, 
als wenn es nur algebraische Funktionen gäbe. In späteren Jahren ist für mich der 
Begriff der analytischen Funktion mit einer gewissen Ausschließlichkeit in den 
Vordergrund getreten (siehe z. B. den Abdruck des Programms in Bd. 43 der 
Mathematischen Annalen, 1893). Heute würde ich vielfach nur von reellen, mehrfach 
differentiierbaren Funktionen reeller Veränderlicher reden (an die übrigens die Aus- 
einandersetzungen des Programms auch verschiedentlich anstreifen). 

Beide Arten der Unvollkommenheit sind ein Reflex der mathematischen Auf- 
fassungen, in denen ich aufgewachsen war. Jedenfalls habe ich sie jetzt nicht ändern 
wollen, weil sonst der ganze Text einer Umgestaltung hätte unterzogen werden 
müssen, was doch dem Zwecke des gegenwärtigen Wiederabdrucks zuwiderlaufen 
würde. Ebensowenig kann ich systematisch auf Weiterbildungen des Programms 
oder zugehörige Weiterausführungen eingehen, wie sie die Folgezeit nach verschiedenen 
Richtungen gebracht hat. Manches Hierhergehörige wird man in den einschlä- 
gigen Enzyklopädieartikeln finden. Von den bisher erschienenen Referaten kommt 
insbesondere dasjenige von G. Fano in Betracht (III,, Heft 2, 1907), das den Stand- 
punkt der algebraischen Geometrie hervorkehrt. K. 





Geometer wohl bewußt. Man wolle die folgenden Sätze aus seinem, weiter unten 
(S. 551) genauer zu nennenden Vortrag vom 5. Nov. 1907 vergleichen (welche zugleich 
Minkowskis unvergleichliche Darstellungskraft charakterisieren): 

„Überhaupt würden die neuen Ansätze, falls sie tatsächlich die Erscheinungen 
richtig wiedergeben, fast den größten Triumph bedeuten, den die Anwendung der 
Mathematik gezeitigt hat. Es handelt sich, so kurz wie möglich ausgedrückt, darum, 
daß die Welt in Raum und Zeit in gewissem Sinne eine vierdimensionale nicht- 
euklidische Mannigfaltigkeit ist. Es würde zum Ruhme der Mathematiker, zum grenzen- 
losen Erstaunen der übrigen Menschheit offenbar werden, daß die Mathematiker rein 
in ihrer Phantasie ein großes Gebiet geschaffen haben, dem, obne daß dieses je in 
der Absicht dieser so idealen Gesellen gelegen hätte, eines Tages die vollendetste 
reale Existenz zukommen sollte.“ 

1908 erschien dann Minkowskis große Abhandlung über die elektromagnetischen 
Vorgänge in bewegten Körpern (Göttinger Nachrichten) und bald darauf sein Vortrag 
über „Raum und Zeit“ vor der Kölner Naturforscherversammlung (Sonderabdrucke 
bei B. G. Teubner, 1909 und anderwärts): man vgl. Bd. II. seiner Gesammelten Ab- 
handlungen (1911). 

Es bedarf wohl keiner Begründung, daß ich danach die nächste Gelegenheit 
ergriff, die sich mir bei meiner Vorlesungstätigkeit bot, um die Beziehungen der 
Lorentzgruppe zu den mir geläufigen Betrachtungen über projektive Maßbestimmung 
darzulegen. So ist der hier unter XXX abgedruckte Vortrag entstanden. 

Minkowski ist durch seinen frühen Tod (12. Januar 1909) verhindert worden, 
den weiteren Fortschritten des physikalischen Gedankens, wie sie zumal durch 
Einsteins tiefschürfende Überlegungen geschaffen wurden, zu folgen. Aber nun setzte 
Hilbert ein, selbige nach den verschiedensten Richtungen mathematisch zu durch- 
dringen. So ist insbesondere, als Einstein mit seinen Untersuchungen über all- 
gemeine Relativität. begonnen hatte, als Seitenstück dazu Hilberts erste Note über 
die Grundlagen der Physik zustande gekommen (Göttinger Nachrichten, Sitzung vom 
20. November 1915). An sie haben dann die Vorlesungen und Aufsätze, die unter 
XXXI—XXXII abgedruckt sind, in erster Linie angeknüpft. 


XXV. Deux notes sur une eertaine famille de eourbes et 
de surfaces. 


Par 
MM. F. Klein et S. Lie. 


[Comptes Rendus hebdomadaires de l!’Academie de sciences de Paris, t. 70 (1870). 
Presentees par M. Chasles). 


[Den unmittelbaren Anlaß zu den nachfolgenden mit Lie zusammen verfaßten 
Noten haben die merkwürdigen Untersuchungen geboten, welche Lie unter dem 
Titel „Über die Reziprozitäts-Verhältnisse des Reye schen Komplexes“ in Nr. 2 der 
Göttinger Nachrichten von 1870 veröffentlicht hat. T,ie hatte mir, während er daran 
arbeitete, nicht nur fortwährend Mitteilungen gemacht, sondern auch, wie er in jener 
Zeit pflegte, die Darstellung seiner Ideen überlassen. Lie ging davon aus — man 
vergleiche das Original — den Komplex, oder vielmehr die mit ihm verknüpfte par- 
tielle Differentialgleichung der ersten Ordnung, zu erzeugen, indem er auf eine be- 
liebige Komplexkurve (d. h. eine von den Geraden des Komplexes umhüllte Kurve) 
die dreifach unendlich vielen Kollineationen anwandte, die ein festes Tetraeder in 
sich überführen. lch bemerkte gleich nach Abschluß der Lieschen Note, daß dabei 
die stillschweigende Annahme vorlag, daß besagte Kurve nicht selbst durch eine 
kontinuierliche Schar solcher Kollineationen in sich überging, also, im Sinne unserer 
späteren Ausdrucksweise, eine „W-Kurve“ war. Diese W-Kurven erwiesen sich 
darauf selbst als das dankbarste Objekt der Lieschen Betrachtungsweise. Meine 
eigene Teilnahme an den bezüglichen Untersuchungen ist mehr auf schärfere Sonde- 
rung der Einzelheiten, auf den Zusammenhang mit der gewöhnlichen (algebraischen) 
Invariantentheorie und die Herausarbeitung der metrisch interessanten Fälle (loga- 
rithmische Spirale, Loxodrome auf der Kugel) gerichtet gewesen. Lie selbst gehört 
alles an, was auf das mehr gefühlsmäßige Operieren mit kontinuierlichen Gruppen 
Bezug hat, insbesondere auch, was die Integration gewöhnlicher ader partieller 
Differentialgleichungen betrifft. Alle die Gedanken, welche er später in seiner Theorie 
der kontinuierlichen Transformationsgruppen zur Entwicklung brachte, waren da- 
mals bei ihm bereits keimhaft vorhanden, aber freilich noch so wenig durchgebildet, 
daß ich ihm manche Einzelheiten, z. B. zu Anfang sogar die Existenz der W-Kurven, 
in langen Unterhaitungen abringen mußte. Ich erwähne diese ganze Sachlage, weil 
sie mir immer als eine für alle mathematische Produktion bedeutungsvolle Tatsache 
erschien, hinter der die Gewinnung der Einzelresultate, so wichtig sie sein mögen, 
zurücktritt. Das Geheimnis ausyreifender mathematischer Produktion liegt im Unbe- 
wußten, in der durchaus individuellen, von vornherein gesetzten psychischen Konstitution 
der heranreifenden Persönlichkeit. 

Was die allgemeine Bedeutung der W-Kurven angeht (die in der Literatur bei 
den verschiedensten Anlässen immer wieder auftreten), so sei gleich hier auf die zu- 
samimenfassende Darstellung verwiesen, welche ihr G. Scheffers in den Nrn. 13— 20 


m 


416 Zum Erlanger Programm. 


und 34 seines Enzyklopädieartikels über besondere transzendente Kurven gewidmet 
hat (Enzyklopädie der Math. Wiss. III, D, 4, 1903). 

Die Ausführung der Comptes-Rendus-Noten in Bd. 4 der Math. Annalen bezieht 
sich nur auf die W-Kurven der Ebene; die Durcharbeitung der viel mannigfaltigeren 
Verhältnisse, welche bei drei Dimensionen auftreten, ist damals leider unterblieben und 
bedarf auch, wie weiter unten bemerkt wird, einiger Ergänzungen. K.) 


Note A. 


Dans la Note que nous avons l’honneur de communiquer ä& l’Acade- 
mie, nous nous proposons d’etablir un theoreme general concernant cer- 
taines courbes et surfaces. Notre Note se composera de deux parties. 
Dans la premiere partie nous definirons les courbes et les surfaces dont 
nous voulons parler; dans la seconde, nous donnerons l’explication et la 
demonstration de notre th&or&me. 


I. 


1. Les courbes que nous allons considerer sont celles qui se trans- 
forment en elles--mömes par une infinite de transformations lineaires, 
permettant d’amener en general chaque point de la courbe en chaque 
autre. 

Parmi ces transformations lineaires on trouvera necessairement une 
transformation infinitesimale; et reciproquement, si une courbe se trans-- 
forme en elle-m&me par une transformation lineaire infinitesimale, elle se 
transformera en elle-m&me d’une infinit& de manieres. Ainsi nos courbes 
sont les integrales generales du systeme d’equations- differentielles 

dpr:dg:dr di = il: re, 
ou 92,9, 1,8; p’,q’,r’,s’ designent des fonctions lineaires des coordonnees?). 

De la transformation bien connue de ce systeme d’equations A une 
forme canonique, on conclut qu’on peut determiner toujours un tetraedre, 
qui reste invariable, par un nombre simplement infini des transformations 
lineaires appartenant & la courbe. Si ces transformations ne dependent 
que d’un seul parametre arbitraire, ce tetra&dre sera unique; dans le cas 
contraire?), il pourra &tre choisi parmi une infinite d’autres. Nous ajou- 
tons que ce tetra&dre n’est pas necessairement un tetra&dre proprement 
dit, mais qu’un nombre quelconque de ses faces peuvent coincider [ou 
devenir indetermine]. 

Dans ce qui va suivre, nous supposerons un tetra&dre donn£, et: nous 
considerons les courbes appartenant & ce tetraedre. Pour plus de brie- 
vete, nous les designerons par un symbole, la lettre V. 





') (Vgl. die Bemerkung über das Operieren mit homogenen Koordinaten, wie 
sie weiter unten (S. 433) für den Fall des ebenen Problems gegeben wird.) 

?) La seule courbe gauche qui correspond & ce cas est la courbe du troisi&me 
ordre. 


XXV. Une famille de courbes et de surfaces. 417 


2. On sait que les transformations lineaires qui laissent invariable 
un tetraedre sont &changeables entre elles. 


Consequemment, les surfaces engendrees par des courbes V,, qui se 
transforment en elles-m&mes par les m&mes transformations lineaires et 
qui coupent une autre courbe V,, appartenant au m&me tetra&dre, contien- 
dront un nombre doublement infini de courbes V. Elles se transformeront 
donc en elles-m&mes par un nombre doublement infini de transformations 
lineaires appartenant au tetra&dre. Ces transformations permettent d’ame- 
ner en general chaque point de la surface en chaque autre. Ces surfaces 
sont celles dont nous allons nous occuper; nous les designerons, de m&me 
que les courbes, par la lettre 7°). 


3. On obtient les &quations de ces surfaces de la maniere suivante: 

On peut former trois expressions des coordonnees, qui, par les trans- 
formations lineaires appartenant au tetra&dre donne, ne se changent que 
par une constante additive.e Dans le cas d’un tetra&dre proprement dit, 
ces expressions sont les logarithmes des quotients de trois des fonctions 
lineaires qui representent les faces du tetra&dre par la quatrieme. Dans 
les autres cas, il faut remplacer les logarithmes en partie par des ex- 
pressions algebriques. 


Or les surfaces V sont representees par les &quations lineaires entre 
ces expressions. 


4. Nous allons &numerer quelques-unes des courbes V et des surfa- 
ces V, qui ont et& etudiees sous d’autres points de vue. 


Parmi les courbes V planes, on remarque surtout les paraboles et les 
spirales logarithmiques: aussi un grand nombre des proprietes de ces 
courbes ne sont que des cas particuliers du theor&me general que nous 
voulons demontrer. 


Parmi les courbes V gauches, appartenant a un tetraedre proprement 
dit, on doit distinguer les courbes du quatri&me ordre avec un point de 
rebroussement et les courbes transformees lineaires de la loxodromie sur la 
sphere. Il est bon d’ajouter que ces dernieres courbes contiennent un 
nombre infini de courbes algebriques; les plus simples sont la cubique 
gauche et une courbe du quatrieme ordre, possedant deux tangentes sta- 
tionnaires*). 

Parmi les surfaces V, appartenant & un tetraedre proprement dit, 





®) La surface developpable d’une cubique gauche, qui n’est pas une surface V, 
se transforme aussi en elle--möme par des transformations lineaires, permettant 
d’amener en general chacun de ses points en chaque autre. 

*) M. Cayley a signal& cette espe&ce [Quart. Journ., Bd. 7 (1866), Coll. Papers, 
Bad. 5, S. 517). 


Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. 1. 27 


418 Zum Erlanger Programm. 


on doit remarquer une particularisation homographique: les surfaces don- 
nees par l’&quation 

x* yd 2° = const,, 
pour lesquelles M. J.-A. Serret a determine les lignes de courbure (Jour- 
nal de M. Liouville, t. 12 (1847)). 

Si deux faces du tetra&dre coincident, les courbes V contiennent 
P’helice, les surfaces V l’'heligoide gauche. 

Enfin, si toutes les faces du tetra&dre coincident, les courbes V sont 
des cubiques gauches, et les surfaces V des surfaces regl&es du troisieme 
ordre de cette espece particuliere dont les deux directrices coincident. 

Nous ajoutons encore que, dans un travail sur bes formes ternaires 
(Math. Ann., t. 1 (1868)), MM. Clebsch et Gordan ont considere inci- 
demment les courbes planes, lieu d’un point, qui est transpos&e successive- 
ment par la möme transformation lineaire. 


I}: 


Pour &tablir notre theor&me sur les courbes V et les surfaces V, 
nous allons faire une transformation de l’espace donne, qui n’est pas 
necessaire pour notre but, mais qui est tres commode. Cette transfor- 
mation rapporte l’espace donne (A) & un autre espace (B), dont les 
coordonnees X, y, z sont €gales aux trois expressions qui, pour les trans- 
formations lineaires appartenant au tetra&dre donne, ne se changent que 
par une constante additive. Alors ces transformations lineaires devien- 
dront les translations de l’espace B, et les courbes V ses droites, les 
surfaces V ses plans. 

Maintenant nous d&velopperons quelques notions par rapport & l’es- 
pace B. 

1. Si l’on transpose une courbe ou une surface par toutes les trans- 
lations, elle formera un systeme de courbes ou de surfaces. 

Un systeme contient, en general, un nombre triplement infini d’ele- 
ments. 

Le nombre des droites, formant un systeme, n’est que doublement 
infini. 

Le nombre des plans, formant un systeme, n’est que» simplement 
infini. 

Nous disons aussi des points de l’espace qu’ils forment un systeme. 

2. Les elements de deux systemes quelconques, qui contiennent un 
nombre triplement infini d’elements, pourront &tre coordonnes des deux 
manieres suivantes. 

En choisissant & volont& deux elements des deux systemes, on fera 
correspondre tous les el&ments que l’on obtient de ces deux, soit par des 


XXV. Une famille de courbes et de surfaces, 419 


translations identiques, soit par des translations opposees. La premiere 
sorte de correspondance sera nommee cogrediente, la deuxieme contragre- 
diente?). 

Les deux elements choisis pour etablir ces correspondances ne se 
distinguent pas parmi les autres. 

Soient a, b deux systemes coordonnes par une correspondance con- 
tragrediente. Alors les elements a, enveloppant b,, correspondront aux 
elements b, enveloppant q,. 


On conclut de la que les elöments a, correspondant aux el&ments b, 
qui enveloppent un el&ment c,, et les elements b, correspondant aux ele- 
ments a, qui enveloppent le m&me &el&ment c,, envelopperont un m&me 
element d,. 

3. Apres avoir etabli une correspondance entre deux systemes a, b, 
on peut en deduire une correspondance entre tous les systemes, dont les 
el&ements sont enveloppes par des a et des b. Pour cela, il suffit de coor- 
donner tous les elements, qui sont enveloppes par des a, b correspondants,. 

Cette correspondance sera cogrediente, si la correspondance entre a, b 
est cogrediente; si la derniere est contragrediente, la correspondance 
etablie sera de m&me contragrediente, d’apres les th&oremes que nous 
venons d’enoncer. 

Il faut distinguer ici surtout le cas oü a, b sont des courbes dont les 
tangentes -sont paralleles aux ar&tes d’un m&me cöne. Dans ce cas on ob- 


tient une correspondance entre toutes les courbes dont les tangentes ont 
ces directions. 


4. Sı I’on transforme, par une des correspondances que nous venons 
d’etablir, des droites ou des plans, on obtiendra des droites ou des plans 
du m&me systeme. 


De lä on conclut, comme corollaire, que les droites et les plans se 
transforment en eux-mömes, si l’on coordonne un &l&ment a, qui les en- 
veloppe, ä un &l&ment 5b, qui les enveloppe aussi. 


5. Revenons maintenant ä l’espace A. Tout ce que nous venons de dire 
sur les differentes correspondances, que l’on peut etablir dans l’espace B, 
subsiste encore lä, si l’on remplace les translations par les transformations 
linsaires appartenant au tetra&dre donne. Ainsi, en faisant usage de la ter- 


°) [Man kann diese beiden Transformationsarten unbeschadet des Endresultats 
noch erweitern, indem man das eine Element jede Translation, welche das andere 
erfährt, je eine bestimmte Anzahl von Malen, sagen wir m-mal, in gleichem oder 
entgegengesetztem Sinne ausführen läßt. Es kommt dies darauf hinaus, die im Texte 
betrachteten Transformationen noch mit der Ähnlichkeitstransformation x’= me, 
y’=my, z’=mz zu kombinieren. Die größere hierdurch erreichte Allgemeinheit des 
Ansatzes ist in den folgenden Annalenaufsatz stillschweigend gleich mit eingearbeitet. K.) 

27° 


420 Zum Erlanger Programm. 


minologie employ6e pour l’espace B, nous aurons le thöor&me suivant, que 
nous nous proposions d’etablır: | 

Si Von transforme des courbes V ou des surfaces V par une corre- 
spondance appartenant au tetratdre donne, on obtient des courbes V ou 
des surfaces V du meme systeme); 
et ensuite ce corollaire: 

Les courbes V et les surfaces V se transforment en elles-memes, si 
l’on coordonne un elöment a, qui les enveloppe, & un element b, qui les 
enveloppe aussi. 


(6. juin 1870.) 


Note B. 


Dans une Note que nous avons communiquee recemment & l’Aca- 
demie, nous avons &tabli un theor&me general concernant des courbes et 
des surfaces que nous avons appelees courbes et surfaces V. Aujourd’hui 
nous nous proposons de donner quelques details, qui sont, il est vrai, des 
consequences immediates de nos considerations, mais qui serviront peut- 
etre & les eclaircir davantage. 

Dans notre Communication precedente nous avons suppose& un tetra&dre 
donne et nous avons defini ce que nous avons appele les correspondances 
(cogredientes ou contragredientes) appartenant & ce tetra&dre. Nous ne con- 





6, [Das Theorem bedarf der Präzisierung. Geht man der Einfachheit halber in 
den Raum B (den Translationsraum) zurück und ordnet dort den Punkten des Raumes 
in kogredienter oder kontragredienter Weise Kurven oder Flächen eines dreifach un- 
endlichen Systems zu, so erzeugen (oder umhüllen) bei der Bewegung des Punktes 
längs einer geraden Linie die entsprechenden Kurven (oder Flächen) ersichtlich im 
allgemeinen einen Zylinder, der nicht etwa eine W-Fläche sein wird, da er nur ein- 
fach unendlich viele Transformationen in sich zuläßt. Bezeichnet man die solchen 
Zylindern entsprechenden Flächen des Raumes A als W,-Flächen, die eigentlichen 
W-Flächen des Textes aber als W,-Flächen, so lautet der korrekte Satz: 


Bei einer zum gegebenen Tetraeder gehörenden Transformation gehen Kurven W, 
wie auch Flächen W,, je nachdem in Kurven W oder auch Flächen W, über, Flächen 
W, aber in Flächen W,. 

Diese Dinge werden erst durchsichtig, wenn man die zur Zeit der Abfassung 
des Textes noch nicht klar ausgearbeiteten Lieschen Begriffe: „Flächenelement, Element- 
verein, Berührungstransformation“ heranzieht. Punkte, Kurven und Flächen fallen dann 
gleichmäßig unter den Begriff des zweifach ausgedehnten Elementvereins. Man wird 
unter diesen Vereinen diejenigen (Kurven oder Flächen) unterscheiden, welche eine 
eingliedrige Gruppe der zum Tetraeder gehörigen Kollineationen zulassen (W,-Gebilde), 
und die W,-Gebilde (Flächen), welche eine zweigliedrige Gruppe gestatten. Der Satz 
lautet dann einfach: 

Bei einer zum gegebenen Tetraeder gehörenden Transformation gehen W,- Gebilde 
wieder in W,-Gebilde, W,-Gebilde in W,-Gebilde über. 


Alle diese Transformationen fallen dabei unter den Lieschen Begriff der Be- 
rührungstransformation. K.] 


XXV. Une famille de courbes et de surfaces. 421 


siderons ici que le cas d’un tetra&dre proprement dit, et les correspon- 
dances qui coordonnent les points, les plans, les lignes droites. 

Ces correspondances contiennent un grand nombre de correspon- 
dances &tudiees anterieurement; nous allons en donner une courte &Enu- 
meration: 

1. Une correspondance cogrediente entre les points et les points, ou 
entre les plans et les plans, est une correspondance homographique, laissant 
invariable le tetra&dre donne. 

Une correspondance contragrediente entre les points et les points fait 
correspondre & un plan une surface du troisieme ordre avec quatre points 
doubles dans les sommets du tetraedre. 

Par une correspondance contragrediente entre les plans et les plans un 
point se change dans une surface Steinerienne, ayant les quatre faces du 
tstra&dre pour plans tangents doubles. 

Parmi les correspondances cogredientes entre les points et les plans on 
retrouve d’une part la correspondance, &tudiee par Plücker, sous le nom 
de polaritE par rapport a un tetraedre, d’autre part une correspondance, 
consideree par M. Cremona dans ses recherches sur les courbes du qua- 
tritme ordre avec un point de rebroussement (Comptes rendus, t. 64, 
p. 1079—1081, 1867). Dans le dernier cas, le plan passe toujours par 
son point correspondant. 

Une correspondance contragrediente entre les points et les plans est 
equivalente & la polarite reciproque par rapport & une surface du deuxieme 
degre, conjuguee au tetra&dre donne. 

Les correspondances cogredientes ou contragredientes entre les points 
ou les pians et des lignes droites font correspondre les points ou les plans 
aux droites d’un certain complexe du deuxieme degr@”’), engendre par 
une droite qui est transposee par toutes les transformations lineaires appar- 
tenant au tetra&dre donne. On peut definir ce complexe d’une autre ma- 
niere en disant que ses lignes determinent, avec les faces du tetraedre, 
un rapport anharmonique donne. 

M. Reye a etudie ce complexe dans la seconde partie de sa @e&ometrie 
de situation (1868)*). Il considere entre autres une correspondance entre 
les droites du complexe et les points, qu’il obtient en coordonnant ä 
chaque point l’intersection de ses plans polaires par rapport & deux sur- 





’) De la on peut tirer une theorie des congruences et des surfaces gauches 
appartenant au complexe. 

*) Nous ajoutons que ce complexe a &t& rencontr& dejä anterieurement par plu- 
sieurs g&omötres, et surtout par M. Chasles, qui, dans son Apercu historique, a appel& 
expressement l’attention des g&omötres sur cet assemblage de droites. [Weitere Zitate 
in dem auf $. 4 angeführten Enzyklopädieartikel von Zindler.| 


422 Zum Erlanger Programm. 


faces du deuxitme degre. Cette correspondance est identique avec la cor- 
respondance contragrediente entre les points et les droites. 

Parmi les correspondances cogredientes, on doit remarquer le cas oü 
la droite passe par le point correspondant. Une correspondance de cette 
sorte a ete signalee par M. Chasles, dans ses Recherches sur le mouvement 
infinement petit d’un corps (1843). M.Chaslesn’a eu & considerer qu’un cas 
special, qui, dans nos recherches, correspond & un tetrae&dre dont deux 
faces coincident. | | 

Enfin un cas particulier de la correspondance contragrediente entre 
les plans et les droites a &t& consider par MM. Chasles et Plücker: 
la correspondance entre les normales d’un systeme de surfaces du second 
degr& homofocales et leurs plans tangents. 

2. Revenons maintenant & notre theor&me fondamental. 

Pour les elements a, b, que l’on coordonne, on pourra choisir des 
points, des plans, des lignes droites en combinaison quelcongue, et l’on 
pourra enoncer le th&oreme de manieres differentes pour ces divers cas 
particuliers. Par exemple, que l’on considere la correspondance contragre- 
diente entre les points et les plans, on aura le th&or&me, que les courbes V 
et les surfaces V sont leurs propres polaires reciproques par rapport & 
chaque surface du second ordre, qui est conjuguee au tetra&dre donn& et 
qui a un point et son plan tangent de commun avec elles. 

On peut deduire de notre theor&me un grand nombre d’autres, & l’aide 
de la remarque suivante. Soit donnee une courbe Y ou une surface V: 
une courbe ou une surface quelconque qui possede avec elle un rapport 
invariable par des transformations qui transforment la courbe ou la sur- 
face V en elle-m&me, se transformera par ces transformations dans une 
courbe ou une surface possedant le m&me rapport avec la courbe ou la 
surface V. 

Nous allons @noncer quelques th&oremes que l’on obtient de cette 
maniere. 

3. Une courbe V ne possede de singularites que dans des sommets du 
tetraedre. 

Toutes les courbes covariantes d’une courbe V, par exemple les 
courbes doubles de leurs surfaces developpables, sont les courbes Y du 
meme systeme. 

Les courbes V d’un möme systeme ne se coupent que dans des som- 
mets du tetraedre. 

Le point de contact d’une tangente d’une courbe V et ses points 
d’intersection avec les quatre faces du tetra&dre ont un rapport anharmo- 
nique constant. 

Ce rapport ne depend que du systöme auquel la courbe appartient. 


XXV. Une famille de courbes et de surfaces. 423 


Le plan osculateur d’une courbe V et les plans passant par la tan- 
gente et les quatre sommets du tetra&dre ont le m&me rapport anharmo- 
nique constant. | 

Quand on determine, sur toutes les generatrices d’une surface deve- 
loppable appartenant & une courbe V, le point ayant un rapport anhar- 
monique constant avec les points de rencontre de la droite et les faces 
du tetra£dre, ce point se trouve sur une courbe V du m&me systeme. 

Dans les quatre derniers theor&mes on peut remplacer le tetra&dre par 
une surface V quelconque contenant des courbes V du syst&me de la courbe 
donnee. 

Les plans osculateurs d’une courbe Y dans ses n points d’intersection 
avec un plan quelconque rencontrent la courbe en n (n — 3) points, situes 
an sur (n—3) plans. 

Les courbes V qui se trouvent sur une surface du deuxi&me degre 
contenant quatre aretes du tetraedre appartiennent & un complexe du 
premier degre contenant les m&mes aretes, et reciproquement. 

Une surface Y ne contient de singularites que dans des aretes du t£- 
traedre. 


Toutes les surfaces covariantes d’une surface V sont des surfaces V 
du m&me systeme. 


L’intersection de deux surfaces V consiste dans des courbes V d’un 
meme systeme. 


Les surfaces V d’un m&me systeme ne se coupent que dans des arötes 
du tetra&dre donne. 


Les lignes asymptotiques d’une surface V sont des courbes V. Elles 
appartiennent & deux syst&mes difierents. 

Les courbes V touchant une courbe dont toutes les tangentes coupent 
les faces du tetraedre en quatre points ayant un rapport anharmonique 
donn& sont des lignes asymptotiques de la surface engendree par elles”). 

Les surfaces developpables de toutes les courbes 7 d’un möme 
systeme tracees sur une surface V enveloppent une autre surface V, en la 
touchant suivant des courbes du m&me systeme. 

L’ordre et la classe de la congruence form&e par les tangentes de ces 
courbes sont les m&ömes; ils s’accordent avec l’ordre et la classe de la sur- 


face V. 


(13. juin 1870.) 





9) Dieser Satz rührt insbesondere von Lie her und ist hernach (Math.Ann., Bd.5, 1871) 
von ihm dahingehend verallgemeinert worden, daß die Charakteristiken der „Integral- 
flächen“ beliebiger Linienkomplexe allemal Asymptotenkurven dieser Flächen sind. 


XXVI. Über diejenigen ebenen Kurven, welche dureh ein 
geschlossenes System von einfach unendlich vielen‘) ver- 
tauschbaren linearen Transformationen in sich übergehen. 


[Math. Annalen, Bd. 4 (1871).] 
Von 
Felix Klein und Sophus Lie. 


In dem nachstehenden Aufsatze wird eine geometrische Schlußweise 
mit Konsequenz angewandt werden, die wir, obwohl sie durchaus nicht 
neu ist, gleich hier beim Eingange unserer Arbeit mit Bestimmtheit be- 
zeichnen wollen. 

Dieselbe findet bei der Untersuchung aller solcher geometrischer Ge- 
bilde ihre Stelle, bei welchen man Transformationen kennt, durch die sie 
in sich selbst übergeführt werden. 

Sie läßt sich in dem allgemeinen Satze zusammenfassen: daß ein be- 
liebiges anderes @ebilde, welches zu dem ursprünglichen in irgendeiner 
durch die zugehörigen Transformationen unzerstörbaren Beziehung steht, 
durch diese Transformationen in solche Gebilde übergeht, welche dieselbe 
Beziehung zu dem ursprünglichen haben’). 

Zum Beweise wende man auf beide Gebilde gleichzeitig diese Trans- 
formationen an; ihre gegenseitige Beziehung bleibt dabei, nach Voraus- 
setzung, unverändert dieselbe. Ob man aber auf beide Gebilde oder nur 
auf das hinzutretende die Transformationen anwendet, macht keinen Unter- 
schied, weil ja das ursprüngliche durch dieselben in sich übergeht. Unser 
allgemeiner Satz ist also bewiesen. 

Wir betrachten nun diesen Satz in den einzelnen Fällen, auf die er 
Anwendung’ findet, und geben ihm, wenn dies angeht, eine den speziellen 
Voraussetzungen entsprechende Form. | 





1) Unter „einfach unendlich viel“ sei hier, wie auch immer im folgenden, eine 
kontinuierliche Mannigfaltigkeit von einer Dimension verstanden. 

2) Diese Schlußweise ist seither wohl besonders bei kinematischen Untersuchungen 
angewandt worden, vgl. Schell, Theorie der Bewegung und der Kräfte. Teil I, Kap. II. 


XXVI. Ebene Kurven mit Transformationen in sich. 425 


Um dies völlig klar zu stellen, folge hier ein möglichst einfach ge- 
wähltes Beispiel. 

Betrachten wir eine Schraubenlinie A. Dieselbe geht durch eine kon- 
tinuierliche Bewegung (die zugehörige Schraubenbewegung) in sich über. 
Hieraus schließt man, daß der Ort der Mittelpunkte der Schmiegungs- 
kugeln eine Schraubenlinie ist, die mit A die Achse und die Höhe der 
Schraubengänge gemein hat. Man konstruiere nämlich in einem beliebigen 
Punkte von A die zugehörige Schmiegungskugel und deren Mittelpunkt. 
Wenn man auf das so gebildete System die zu A gehörigen Bewegungen 
anwendet, so bleibt A selbst unverändert, während die Schmiegungskugel 
in die Schmiegungskugel in einem anderen Punkte von A, ihr Mittelpunkt 
in den Mittelpunkt dieser Kugel übergegangen ist: da Berührungs- und 
metrische Relationen bei der Bewegung unverändert bleiben. Man erhält 
also die Mittelpunkte aller Schmiegungskugeln, wenn man einen auswählt 
und auf ihn die zu A gehörige Schraubenbewegung anwendet, was der zu 
beweisende Satz ist. 

Die hiermit dargelegte Schlußweise erscheint um so fruchtbarer, je 
einfacher die Transformationen, durch welche das ursprüngliche Gebilde 
in sich übergeht, an sich und in ihrer gegenseitigen Beziehung sind, so 
wie, je größer ihre Zahl ist. 

Zwei Arbeiten, in denen wir von dieser Schlußweise als Hilfsmittel 
Gebrauch machten, waren geeignet, uns ihre Fruchtbarkeit in solchen 
Fällen zu zeigen. 

In der einen Arbeit”) behandelte der eine von uns (Lie) den Linien- 
komplex, dessen Linien ein festes Tetraeder nach konstantem Doppelver- 
hältnisse schneiden. Ein derartiger Komplex geht durch die dreifach 
unendlich vielen linearen Transformationen, welche sein festes Tetraeder 
unverändert lassen, in sich selbst über. Von dieser fundamentalen Eigen- 
schaft ausgehend ließen sich nun eine Reihe weiterer Eigentümlichkeiten 
desselben unmittelbar ableiten. Übrigens werden wir eine aus dieser 
Arbeit entstandene gemeinsame ausführlichere Arbeit bei einer nächsten 
Gelegenheit in dieser Zeitschrift veröffentlichen | was leider nie geschehen ist |. 

In der anderen Arbeit *) betrachtete der andere von uns (Klein) in- 
sonderheit die Kummersche Fläche vierten Grades mit 16 Knotenpunkten. 
Die Untersuchungsmethode ging davon aus, daß diese Fläche durch 
16 lineare und 16 reziproke Transformationen, welche untereinander ver- 
tauschbar sind, in sich selbst übergeht. Diese Transformationen lassen 





3) Über die Reziprozitätsverhältnisse des Reyeschen Komplexes. Gött. Nach- 
richten 1870, 2. 

*) Zur Theorie der Komplexe des ersten und zweiten Grades. Math. Annalen, 
Bd. 2 (1870) [s. Abhandlung II dieser Ausgabe]. 


426 Zum Erlanger Programm. 


sich — was übrigens hier nicht in Betracht kommt — durch den Über- 
gang von Punkt- und Ebenenkoordinaten zu Linienkoordinaten im Raume 
in sehr einfacher Weise untersuchen; ist das geschehen, so erhält man, 
gemäß der auseinandergesetzten Schlußweise, eine Reihe weiterer, Eigen- 
schaften der Kummerschen Fläche. 

Hiernach lag es uns nahe, überhaupt solche geometrische Gebilde auf- 
zusuchen, welche durch möglichst einfache und möglichst viele Trans- 
formationen in sich übergehen, und nachzusehen, welche Eigenschaften 
solche Gebilde gemäß der in Rede stehenden Schlußweise besitzen. 

Anknüpfend an die genannte Arbeit über den Linienkomplex, dessen 
Gerade ein festes Tetraeder nach konstantem Doppelverhältnisse schnei- 
den, wandten wir unsere Aufmerksamkeit solchen Kurven und Flächen 
zu, welche durch geschlossene Systeme von einfach bzw. zweifach unend- 
lich vielen unter sich vertauschbaren linearen Transformationen in sich 
übergehen. So entstand ein gemeinsamer Aufsatz, der unter dem Titel: 
Sur une certaine famille de courbes et de surfaces in den Comptes Rendus 
des vergangenen Jahres [6. und 13. Juni 1870 (s. Abhandlung XXV dieser 
Ausgabe)] erschienen ist. 

In der gegenwärtigen Abhandlung wollen wir nun den Inhalt dieser 
Arbeit, soweit er sich auf ebene Kurven bezieht, ausführlicher darlegen. 
Indem wir uns auf die Betrachtung ebener Kurven beschränken, wird es 
möglich sein, der Darstellung eine abgerundetere Form zu geben, als dies 
bei Zuziehung der betreffenden räumlichen Gebilde bei deren großer Mannig- 
faltigkeit gelingen will, ohne daß wir deswegen auf die Auseinandersetzung 
der allgemeinen Gesichtspunkte zu verzichten brauchten, welche bei der 
Untersuchung solcher Gebilde in Betracht kommen. 

Nur einen Punkt der allgemeinen Theorie, zu dessen Diskussion man 
bei der Untersuchung der genannten ebenen Kurven keine rechte Ver- 
anlassung hat, wollen wir, abgetrennt von dem Übrigen, in einem beson- 
deren Paragraphen ($ 7) behandeln. Derselbe betrifft die Integration 
solcher Differentialgleichungen erster Ordnung mit zwei Variabeln, die durch 
unendlich viele Transformationen in sich übergehen. Man kann dieselbe 
immer auf die Integration einer anderen Differentialgleichung zurückführen, 
die einzig von der Art der unendlich vielen Transformationen abhängt. 

Die Darstellung der in den Kreis unserer Betrachtung fallenden räum- 
lichen Verhältnisse haben wir aus genannten Gründen hier ausgeschlossen; 
wir hoffen indessen, bei einer nächsten Gelegenheit eine solche geben zu 
können. Dabei würde es sich weniger um die Erledigung prinzipieller 
Fragen handeln, als vielmehr darum, die Fruchtbarkeit der in dem gegen- 
wärtigen Aufsatze entwickelten Gesichtspunkte aus dem reicheren Material, 
welches die Raumgeometrie bietet, darzulegen. 


XXVI. Ebene Kurven mit Transformationen in sich. 427 


Gegenstand der nachstehenden Untersuchung sind also diejenigen 
ebenen Kurven, welche durch ein geschlossenes System von einfach un- 
endlich vielen unter sich vertauschbaren linearen Transformationen in 
sich übergehen’). Wir werden für diese Kurven eine beliebig zu erwei- 
ternde Reihe von Eigenschaften ableiten; insbesondere werden wir zeigen, 
daß dieselben durch unendlich viele geometrische Verwandtschaften in sich 
übergehen. Wir legen übrigens auf diese Entwicklungen nur insofern Wert, 
als wir zu denselben einzig und allein vermöge Raisonnements gelangen 
und nicht nur die Richtigkeit der Resultate, sondern die innere Not- 
wendigkeit derselben einsehen. 

Wir beginnen damit, daß wir die verschiedenen in den Kreis unserer 
Betrachtung fallenden Kurven aufzählen. Unter diesen Kurven findet sich 
insbesondere, wie hier gleich angeführt sein soll, die logarithmische Spirale. 
Die bekannte merkwürdige Eigenschaft dieser Kurve: daß sie durch eine 
Anzahl einfacher Operationen in eine Kurve derselben Art übergeführt 
wird ®), subsumiert sich unter allgemeinere Eigenschaften der von uns be- 
trachteten Kurven. Gleichzeitig ergeben sich eine Reihe bis jetzt, wie es 
scheint, nicht bemerkter Eigenschaften der logarithmischen Spirale. Man 
kann wohl durch die von uns angewandte Schlußweise die Theorie der 
logarithmischen Spirale auf ihren einfachsten Ausdruck zurückführen. 

Es mag ferner noch die folgende Bemerkung hier ihre Stelle finden. 

Die Betrachtungen über geschlossene Systeme vertauschbarer linearer 
Transformationen, wie sie im folgenden vorkommen werden, haben eine 
intime Beziehung zu Untersuchungen, welche in der Theorie der Sub- 
stitutionen und damit zusammenhängend in der Theorie der algebraischen 
Gleichungen auftreten’). Indes findet ein durchgreifender Unterschied statt 
zwischen der Form, unter der diese Probleme in den genannten Disziplinen 
und unter der sie hier auftreten, nämlich der, daß in jenen immer von 
diskret veränderlichen, hier von kontinuierlich veränderlichen Größen die 
Rede ist. Dadurch vereinfachen sich im vorliegenden Falle die zu lösen- 
den Fragen in hohem Grade. Vielleicht ist es für die Durchführung der 





5) Die hier gegebene und auch in der Überschrift zugrunde gelegte Definition 
der in Betracht kommenden Kurven ist mit der scheinbar weiteren gleichbedeutend: 
Kurven, welche durch einfach unendlich viele lineare Transformationen in sich über- 
gehen. Es liegt dies daran, daß Kurven Mannigfaltigkeiten von einer Dimension vor- 
stellen (vgl. $ 1, Nr. 4, Note). Wir haben vorgezogen, die Definition in der gewählten 
Form zu geben, weil sie in derselben auf-die unseren Kurven analogen Mannigfaltig- 
keiten von mehr Dimensionen ausgedehnt werden kann. 

®) Vgl. hierzu insbesondere den Artikel „Spirale“ in Klügels mathematischem 
Wörterbuch. — [Was Jakob Bernoulli von seiner Spirale rühmt: „Iterum renata 
resurgo “ könnte als Motto vor die gesamten Entwicklungen des Textes gesetzt werden. K.) 

?) Vgl. Serret, Trait& d’Algebre Sup£rieure und Camille Jordan, Trait& des 
Substitutions et des Equations Algebriques (1870). 


428 Zum Erlanger Programm. 


komplizierteren Betrachtungen, welche bei diskreten Variabeln nötig werden, 
richtig, dieselben zuerst, in einer ähnlichen Weise, wie dies nachstehend 
geschieht, für kontinuierliche Veränderliche zu behandeln und erst hinter- 
her die Variabilität der Veränderlichen zu beschränken. 


$1. 
Einfach unendliche, geschlossene Systeme von vertauschbaren linearen 
Transformationen. W-Kurven. 


1. Von linearen Transformationen in der Ebene gibt es bekanntlich 
fünf Klassen. 

Bei Transformationen der ersten Klasse bleiben die drei Ecken und 
die drei Seiten eines bestimmten Dreiecks (des Fundamentaldreiecks) un- 
verändert, die übrigen Punkte und Geraden der Ebene verändern ihre 
Lage. Eine Seite des Dreiecks mag unendlich weit rücken, die anderen 
sollen bzw. mit der X- und Y-Achse zusammenfallen®. Dann ist eine 
solche Transformation dargestellt durch: 


gar, 
1) ; 
y=by, 


wobei a und b zwei verschiedene Konstante bedeuten. - 

Die Transformationen der zweiten und dritten Klasse lassen sich als 
Grenzfall der Transformationen erster Klasse ansehen. Die Transforma- 
tionen zweiter Klasse sind dadurch charakterisiert, daß für sie zwei der 
Ecken und zwei der Seiten des Fundamentaldreiecks bzw. zusammenfallen ; 
bei denen dritter Klasse fallen sämtliche Seiten und bzw. sämtliche Ecken 
des Fundamentaldreiecks zusammen. Diejenige gerade Linie, in welche 
für die Transformationen zweiter Klasse zwei Seiten des Fundamental- 
dreiecks zusammenfallen, mag unendlich weit rücken; die dritte Seite des 
Dreiecks werde zur X-Achse gewählt. Die Y-Achse sei eine beliebige 
Gerade, welche durch den isolierten dritten Eckpunkt des Dreiecks geht. 
So ist die Transformation durch die Formel gegeben: 


ar, 
(2) 
it Su 


Bei den Transformationen dritter Klasse soll die Gerade, in welche die 





8) Wenn wir von einer besonderen Lage des Fundamentaldreiecks und von nicht 
homogenen Koordinaten Gebrauch machen, so geschieht dies, weil sich dann die geo- 
metrischen Beziehungen, welche wir betrachten müssen, besser bezeichnen und die 
Formeln, welche vorkommen, kürzer schreiben lassen. Wir verstehen diese Ausdrucks- 
weise immer allgemein: d. h. nicht nur in Beziehung auf die besondere, sondern in 
Beziehung auf eine beliebige Annahme des Fundamentaldreiecks und der Koordinaten. 


XXVI. Ebene Kurven mit Transformationen in : h. 429 


drei Seiten des Fundamentaldreiecks zusammenfallen, unendlich weit rücken. 
Die X-Achse enthalte den Punkt, in welchen die drei Eckpunkte des 
Dreiecks zusammengerückt sind; die Y-Achse sei eine beliebige Gerade. 
Dann hat die Transformation die Form: 


x =xc-+a, 
(3) . 
y=y-+taı-+b. 

Die Transformationen der vierten Klasse sind die sogenannten 
perspektivischen. Bei ihnen bleibt ein isolierter Punkt (Zentrum der 
Perspektivität) und eine Punktreihe (Achse der Perspektivität) und 
infolgedessen eine isolierte gerade Linie (die Achse) und ein Büschel 
gerader Linien (diejenigen, die durch das Zentrum gehen) unverändert. 
Solche Transformationen werden durch (1) dargestellt, wenn entweder 
a--b, oder eine der beiden Größen gleich 1. Unter Zugrundelegung 
der ersten Annahme haben wir also für Transformationen der vierten 
Klasse: 


(4) 


x’ =ar, 

y'=ay. 
Die Transformationen der fünften Klasse sind als ein Grenzfall derer 
vierter Klasse anzusehen. Sie entstehen aus diesen, indem das Zentrum 
der Perspektivität auf die Achse derselben rückt. Nehmen wir die Achse 
unendlich weit, die X- und Y-Achse beliebig, so hat man für diese Trans- 
formationen die Formel: 


(5), 


ev =xc-+a, 
Yyrb: 


Bei der gewählten Koordinatenbestimmung kommt die Transformation auf 
eine Translation der Ebene hinaus. 


Wegen seiner ausgezeichneten metrischen Eigenschaften mag hier noch 
ein besonderer Fall der Transformationen erster Klasse hervorgehoben sein. 
Derselbe entspricht der Annahme, daß zwei der Ecken des Fundamental- 
dreieeks mit den unendlich weit entfernten imaginären Kreispunkten zu- 
sammenfallen. Alsdann besteht die Transformation in einer Rotation der 
Ebene um den dritten Eckpunkt des Fundamentaldreiecks und einer ihrer 
Länge proportionalen Vergrößerung (oder Verkleinerung) der von diesem 
Eckpunkte ausgehenden Radiusvektoren. 


2. Man wende nun eine jede der Transformationen (1)... (5) A-mal 
hintereinander an. So erhält man eine Transformation, welche dieselben 
Elemente der Ebene unverändert läßt, wie die ursprüngliche. Dieselbe 
ist in den fünf Fällen bzw. durch die nachstehenden fünf Gleichungen 
gegeben: 


430 Zum Erlanger Programm. 





' x’ =atz, 1 z—gtr, ve =xc-+al, 
y'—=b’y, y=y+biA, : y=y-+alz-+bi 
3, erseftrich, 
2 , 
IV x’ =atr, v x’ =x-+al, 
y'=a’y, y-y+bi. 


Nun fasse man 4 nicht mehr als eine gegebene Zahl, sondern als 
einen kontinuierlich veränderlichen Parameter auf. Dann stellen die 
Gleichungen I... V Systeme von einfach unendlich vielen linearen Trans- 
formationen dar, welche die folgenden Eigenschaften haben: 

Zwei beliebige Transformationen des Systems geben, hintereinander 
angewandt, unabhängig von ihrer Reihenfolge, dieselbe neue Transformation. 

Diese neue Transformation ist selbst eine Transformation des Systems. 

Mit Rücksicht auf die erste Eigenschaft heißen die Transformationen 
des Systems vertauschbar, mit Bezug auf die zweite”) heißt das System 
geschlossen '°). 

3. Unter den Transformationen der Systeme I... V findet sich jedes- 
mal eine, welche wir als die unendlich kleine Transformation des Systems 
bezeichnen, insofern sie x, y in solche x’, y’ überführt, die sich von den 
x,y nur um unendlich kleine Größen unterscheiden. Man erhält diese 
unendlich kleinen Transformationen, wenn man in L...V A unendlich 
klein, also etwa gleich dA, nimmt. Beispielsweise findet man für I: 
xz’=x+loga:-di-x, 

(6) A 
y=y-+logb-di.y, 
und für V: 
7) 2 g x ji a:di, 
yzy-b-di. 
Man kann sich die Systeme I... V durch unendlich-malige Wiederholung 
der betreffenden unendlich kleinen Transformation entstanden denken. 

Es ist nun auch umgekehrt klar, daß es keine weiteren Systeme ein- 
fach unendlich vieler linearer Transformationen geben kann, die die in 
Nr. 2 genannten beiden Eigenschaften besitzen, als die aufgestellten I... V. 





%, Im vorliegenden Falle ist die .erste Eigenschaft notwendig vorhanden, wenn 
die zweite erfüllt ist. Es ist dies aber nur dem Umstande zuzuschreiben, daß wir 
Systeme mit nur einfach unendlich vielen linearen Transformationen betrachten. 
Beispielsweise bilden die dreifach unendlich vielen linearen Transformationen, die 
einen Kegelschnitt unverändert lassen, auch ein geschlossenes System; aber ver- 
tauschbar sind die Transformationen dieses Systems nicht. 

10) Der Ausdruck „ein geschlossenes System von Transformationen “ entspricht 
also ganz dem, was man in der Theorie der Substitutionen als „eine Gruppe von 
Substitutionen *“ zu bezeichnen pflegt. 


XXVI. Ebene Kurven mit Transformationen in sich. 431 


Denn ein derartiges System muß alle Transformationen enthalten, welche 
sich aus einer beliebigen Transformation desselben durch Wiederholung 
ergeben. Man wähle nun die in dem Systeme enthaltene unendlich kleine 
Transformation. Dieselbe gehört entweder der Klasse (1) oder (2)... 
oder (5) an und führt bei unendlich oft wiederholter Anwendung zu einem 
der Systeme I oder II... oder V mit Notwendigkeit hin. 

4. Wir fragen nun nach solchen Kurven, welche durch die Trans- 
formationen der Systeme I... V in sich übergehen. 

Zuvörderst ist klar, daß es solche Kurven gibt. Man transponiere 
nämlich einen in der Ebene beliebig angenommenen Punkt p durch alle 
Transformationen eines der Systeme. Dann beschreibt er eine Kurve, 
welche, mit Bezug auf dieses System, die verlangte Eigenschaft hat. Zum 
Beweise sei g ein beliebiger Punkt der Kurve. Man wende auf ihn irgend 
eine Transformation des Systems an. So geht er in einen Punkt über, 
in den p übergeht, wenn man p zunächst durch eine passende Trans- 
formation des Systems in g überführt und alsdann auf p die betreffende 
Transformation anwendet. Zwei Transformationen des Systems hinter- 
einander angewandt geben aber eine neue Transformation des Systems; 
p geht also, und mithin auch g, in einen Punkt der Kurve über. Bei 
einer beliebigen Transformation des Systems geht also die Gesamtheit der 
Punkte der Kurve in die Gesamtheit derselben Punkte, mit anderen Worten, 
die Kurve in sich selbst über, w.z.b. w. 

Die hiermit definierten Kurven werden wir im folgenden, der Kürze 
wegen, mit einem Buchstaben, als Kurven W bezeichnen'!). 

W-Kurven, welche durch dieselben Transformationen in sich über- 
gehen, nennen wir W-Kurven eines Systems. Von W-Kurven eines 
Systems gibt es einfach unendlich viele. Wendet man nämlich auf alle 
(zweifach unendlich vielen) Punkte der Ebene die Transformationen eines 
Systems an, so beschreibt jeder eine demselben angehörige W-Kurve; 
aber von diesen Kurven sind, nach der vorstehenden Auseinandersetzung, 
jedesmal einfach unendlich viele identisch, nämlich alle diejenigen, die 
aus Punkten einer demselben System angehörigen W-Kurve hervorgehen. 





1!) Wenn überhaupt ein geometrisches Gebilde durch eine Transformation in 
sich übergeht, so geht es selbstverständlicherweise auch in sich über durch jede 
Transformation, welche aus der einen durch Wiederholung entsteht. Gesetzt nun, 
eine Kurve gehe durch unendlich viele lineare Transformationen in sich über. 
Unter denselben findet sich eine unendlich kleine. Durch unendlichmalige Wieder- 
holung derselben entsteht eins der Systeme I...V. Durch alle Transformationen 
des Systems geht die Kurve in sich selbst über; mit anderen Worten, sie ist eine 
von den im Texte betrachteten Kurven. Hieraus folgt, was schon in der Einlei- 
tung gesagt wurde: daß für diese Kurven auch die scheinbar weitere Definition 
gilt: diejenigen Kurven, welche durch einfach unendlich viele lineare Transfor- 
mationen in sich übergehen. 


432 Zum Erlanger Programm. 


Es sei hier gleich angeführt, daß die Herren Clebsch und Gordan in 
einem gemeinsamen Aufsatze in den Mathematischen Annalen (Zur Theorie 
der ternären Formen mit kontragredienten Variabeln Bd. 1, (1869)) eben die 
hier zu untersuchenden W-Kurven betrachtet haben, nur unter anderen 
Gesichtspunkten, als die sind, von denen wir hier ausgehen. Bei ihnen 
tritt die Kurve nur beiläufig auf, als geometrischer Ort für einen Punkt, 
der durch wiederholte Anwendung derselben linearen Transformation 
transponiert wird, und die Untersuchung dreht sich darum, welche 
speziellen Eigenschaften die so erzeugte Punktreihe für besondere An- 
nahmen der Konstanten (Invarianten) der betrefienden linearen Trans- 
formation hat. 


5. Für die W-Kurven erhalten wir, dem entsprechend, daß man sich 
die Transformationen des zugehörigen Systems durch Wiederholung einer 
unendlich kleinen entstanden denken kann, noch eine zweite Definition. 
Wir wollen dabei von der Betrachtung des Systems I ausgehen. Die in 
demselben enthaltene unendlich kleine Transformation (6) führt einen 
Punkt x, y in einen benachbarten Punkt x-+dx, y+dy über, wobei 
offenbar: 

de=loga-di-x, 
dy=logb-di:y. 
Hieraus folgt: 


dz _ dy 
(9) log a-x logb-y’ 





und dieses ist eine Differentialgleichung, als deren Integrale die W-Kurven 
des Systems erscheinen. 


Auf ganz ähnliche Weise wird man zu Differentialgleichungen für die 
W-Kurven der Systeme II...V geführt. Dieselben haben die Gestalt: 
dx:dy=p:q, wo p, q zwei ganze lineare Funktionen von x und %y be- 
zeichnen. Würde man in diese Differentialgleichung statt x und y irgend 
drei homogene Koordinaten &, n,{ einführen, welche sich auf ein beliebig 
gewähltes Koordinatendreieck beziehen, so würde sie die allgemeinere 
Form annehmen: d&:dn:d£ =p:gq:r, wo p,g,r jetzt homogene lineare 
Funktionen von £&, n, & sind. 

Andererseits ist klar, daß jede solche Differentialgleichung die 
W-Kurven eines Systems zu Integralen hat. Eine solche Differential- 
gleichung sagt nämlich aus, daß gewisse gesuchte Kurven durch eine 
gegebene unendlich kleine lineare Transformation in sich übergehen'?). 
Eine Kurve, die dies tut, geht aber auch durch alle Transformationen 





15) [Hierdurch ist eigentlich eine Kurve im drei-dimensionalen Raum &,n,5 
definiert, die erst von O aus projiziert, die ebene W-Kurve liefert. K.] 


XXVI. Ebene Kurven mit Transformationen in sich. 433 


des Systems, welches durch Wiederholung der unendlich kleinen Trans- 
formation entstehen, in sich über. Also: 

Die W-Kurven lassen sich auch definieren als die Integrale der 
linearen Differentialgleichungen erster Ordnung: 

(10) deE:dn:di=p:g:r, 

wo p, q, r homogene lineare Funktionen von &, n, © sind, und zwar 
sind die W-Kurven eines Systems die Integrale desselben Systems von 
Differentialgleichungen'?). Ä 

Die bekannte Umformung der Differentialgleichungen (10) auf eine kano- 
nische Form ist gleichbedeutend mit der Umformung der durch dieselbe ausge- 
sprochenen unendlich kleinen linearen Transformation aufihrekanonische Form. 

6. Wir wenden uns dazu, die Gleichungen der W-Kurven aufzustellen, 
insbesondere diejenigen sonst bekannten Kurven aufzuzählen, welche unter 
denselben enthalten sind. 

Allgemein erhalten wir die Gleichung der W-Kurven, wenn wir aus 
der Gleichung des zugehörigen Transformationen-Systems I oder II... 
oder V den Parameter A eliminieren und x, y als Anfangswerte, x’, y’ als 
veränderliche Größen betrachten. 

Um diese Elimination nach gleichförmiger Methode durchführen zu 
können, bemerken wir, daß sich die Systeme I, II, III, IV in der folgen- 
den Weise schreiben lassen, die der Form entspricht, welche das System V 
von vornherein hat: 


logx’ = logxe + AA I logx’ = logx + AA 


logy’ = logy + BA y"’= y+Bi 
Im 2 — + AA IV logx’ = loge + A 
(2 —2y’)= (a —2y)+ Bi  Jogy’=logy+ AA. 





13) [Um den Zusammenhang mit anderen Untersuchungen herzustellen, ist es 
zweckmäßig, die Formel (10) etwas anders zu schreiben. Da es nur auf die Ver- 
hältnisse der &:n7:{ ankommt, bleibt der Punkt (£, », £) ungeändert, wenn man die 
&,n,{ um solche Inkremente vermehrt, welche den &, n, £ selbst proportional sind. 


Formel (10) besagt also, ihrer geometrischen Bedeutung nach, nichts anderes als die 
Determinantengleichung: 
de dn dd 


& N 14 
p q r 
Bezeichnet man jetzt mit u, v, w die zu &,n,{ kontragredienten Linienkoordinaten, 
so erweisen sich, nach der Terminologie von Clebsch, unsere W-Kurven als die 
„Hauptkoinzidenzkurven“ des „Konnexes“ 
pu+giv+rw=t0. 
Andererseits dürfen wir in (10°), unbeschadet der Al'gemeinheit, eine der homogenen 
Koordinaten, z. B. /, gleich Eins nehmen, was dl =0 bedingt. Wir haben dann 
pdn—qdi+r(ndS-Edn)=0, 
d. h. die bekannte Differentialgleichung, welche Jacobi im 24. Bd. von Crelles Journal 
(1842), = Werke IV, S. 257—262, integrierte. K.] 
Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 28 


(10°) —0. 








434 Zum Erlanger Programm. 


Für die vorkommenden Konstanten haben wir kurz A, B geschrieben, da es 
auf die Ausdrücke derselben in den früheren Konstanten a, b nicht ankommt. 
Fügen wir noch die ursprüngliche Gleiehung des Systems V. hinzu, 

indem wir in derselben statt a, b auch A, B schreiben, also: 

x =r2c-+4Ai 

y=y-+BA. 
Eliminiert man nun zwischen den beiden Gleichungen jedes Systems A, 
so erhält man die Gleichungen der betreffenden W-Kurven. Dieselben 
werden, indem man noch statt x, y bzw. x,, y, schreibt und bei x’, y’ 
die Akzente fortläßt: 
[ LI B(logx— logx,) = A(logy — logy,); 
I. B(lege—lgx,)=A(l y- y%,): 
(1) + HE Bi z=- z,)=4lle® 29) (2, 2y,)]: 
IV. lege — logx, = logy--logy,; 
we Be ee Bea Tg 


Statt I und IV mögen wir noch schreiben: 


00 a Yy A 
a 
VW. = = 2 
%o Yo 
7. Wir nennen kurz einige in den Gleichungen (11), (12) enthaltene 
bekanntere Kurven. 

Zunächst die Gleichung (11, V.) stellt gerade Linien dar, und zwar 
bei festem A: B gerade Linien derselben Richtung. Man sieht an diesem 
einfachsten Beispiel deutlich, wie die Kurven W eines Systems durch die 
zugehörigen linearen Transformationen in sich übergehen. Die zugehörigen 
linearen Transformationen bestehen im vorliegenden Falle in gleichgerichteten 
Translationen der Ebene, dabei verschieben sich die parallelen Geraden, 
welche dieselbe Richtung haben, in sich selbst. 

Übrigens geht aus dieser geometrischen Vorstellung hervor, daß man 
nicht nur diese Linien, sondern auch die unendlich weit liegenden Punkte 
als W-Kurven des Systems V anzusehen hat. Denn dieselben gehen 
durch die Transformationen des Systems auch in sich selbst über. An 
und für sich sind dieselben den Transformationen des Systems V gegen- 
über mit den geraden Linien, die durch dieselben unverändert bleiben, 
ganz gleichberechtigt. Sie entgehen nur der hier gewählten analytischen 
Darstellung; hätten wir statt Punkt-Koordinaten Linien-Koordinaten ge- 
braucht, so würden wir zunächst nur die Punkte und erst hinterher, durch 
Überlegung, die geraden Linien gefunden haben. Diese Bemerkung wird 
uns später wiederholt entgegentreten (vgl. Nr. 15). 





(12) 


XXVI. Ebene Kurven mit Transformationen in sich. 435 


Die Gleichung (11, IV.) stellt gerade Linien dar, welche durch den 
Koordinaten-Anfangspunkt (das Zentrum der Perspektivität) gehen. Als 
W-Kurven des Systems müssen wir außer diesen geraden Linien auch 
noch die Punkte zählen, welche unendlich weit liegen, d. h. der Achse der 
Perspektivität angehören. | 

Gleichung (11, III.) stellt Parabeln dar, deren Durchmesser zur 
X-Achse parallel sind. Diejenigen Parabeln, welche denselben Werten 
von A, B zugehören, d. h. also W-Kurven desselben Systems sind, be- 
rühren sich in unendlicher Entfernung auf der X-Achse vierpunktig. Als 
W-Kurven des Systems III erhält man also, allgemein zu reden, sich vier- 
punktig berührende Kegelschnitte. 


Die Gleichung (11, II.) stellt transzendente Kurven dar von der 
Art der logarithmischen Linie: y = log. 


Gleichung (11, I.) endlich umfaßt zunächst alle sogenannten Parabeln. 
Unter denselben finden sich, entsprechend einem rationalen Verhältnisse 
von A: B unendlich viele algebraische Kurven. 


Setzt man insbesondere A=1, B=—1 oder A=1, B=2 oder 
A=2, B=1, so hat man Kegelschnitte. Dieselben gehen durch zwei 
Eckpunkte des Fundamentaldreiecks hindurch, indem sie in jedem die be- 
züglich dem anderen gegenüberliegende Dreieckseite berühren '‘). 


Weiterhin findet man Kurven dritter Ordnung mit Spitze usw. 


Bei beliebiger Annahme von A und B finden sich unter den 
W-Kurven des zugehörigen Systems die drei Seiten des Fundamental- 
dreiecks, und auch, in dem eben auseinandergesetzten Sinne, dessen drei 
Eckpunkte. 


Zu den W-Kurven (11, I.) gehört namentlich auch die schon im 
Eingange erwähnte logarithmische Spirale. Man wird auf dieselbe ge- 
führt, wenn man, wie dies schon in Nr. 1 geschah, das Fundamentaldreieck 
so partikularisiert, daß zwei seiner Eckpunkte in die beiden unendlich 
weit entfernten imaginären Kreispunkte hineinfallen. Diejenigen loga- 
rithmischen Spiralen, welche mit den Radiusvektoren vom Pole gleiche 
Winkel bilden, sind W-Kurven desselben Systems. Bei den linearen 
Transformationen, durch welche die logarithmische Spirale in sich selbst 


übergeht, bleiben die Winkel unverändert, alle ebenen Figuren sich selbst 
ähnlich. 





‘) Man hat hiernach den Satz: Kegelschnitte, welche sich in zwei Punkten 
berühren, gehen durch dieselben einfach unendlich vielen linearen Transfor- 
mationen in sich über. Rücken die beiden Berührungspunkte unendlich nahe, 
so ergibt sich der im Texte unter III. genannte Fall der vierpunktig berührenden 
Kegelschnitte. 


28* 


436 Zum Erlanger Programm. 


s2. 
Einige Eigenschaften der W-Kurven. 


8. Wir werden uns in diesem Paragraphen, in welchem wir be- 
absichtigen, die Anwendung der im Eingange erwähnten Schlußweise auf 
die W-Kurven als solche darzulegen, auf die Betrachtung der W-Kurven 
des Systems I. beschränken. Die analogen Betrachtungen für die W-Kurven 
der anderen Systeme wird man ohne weiteres dem hier Vorgetragenen 
nachbilden können. 

Wir beginnen mit zwei Beispielen. 

1. Beispiel. Denken wir uns mehrere demselben Systeme I. an- 
gehörige W-Kurven gegeben und an eine derselben eine Tangente gezogen. 
Bei Anwendung der zugehörigen linearen Transformationen bleiben die 
Kurven W selbst unverändert, während die Tangente nach und nach die 
Lage jeder anderen Tangente derselben Kurve einnimmt. Dabei gehen 
der Berührungspunkt mit der einen W-Kurve und die Schnittpunkte mit 
den anderen bzw. in den Bertihrungspunkt und die Schnittpunkte der neuen 
Tangente mit derselben Kurve über. Hieraus der Satz: daß die Schnitt- 
punkte mit dem Berührungspunkte eine Punktreihe bilden, die, für be- 
liebige Lagen der Tangente, derselben Punktreihe projektivisch ist. — Da 
die drei Seiten des Fundamentaldreiecks immer auch als W-Kurven des ge- 
gebenen Systems zu betrachten sind, so folgt das Korollar: Das Doppel- 
verhältnis des Berührungspunktes einer Tangente einer W- Kurve und ihrer 
drei Durchschnittspunkte mit den Seiten des F'undamentaldrevecks ist 
konstant"? ). 

2. Beispiel. Sei eine Kurve W gegeben. Man schneide dieselbe 
durch irgendeine gerade Linie « und konstruiere in beliebigen n ihrer 
Schnittpunkte die Tangenten. Von den weiteren Schnittpunkten dieser 
n-Tangenten mit der Kurve liegen jedesmal n wieder auf einer geraden 
Linie. 

Zum Beweise heiße einer der Schnittpunkte der Linie « mit der 
gegebenen Kurve o, und einer der weiteren Schnittpunkte seiner Tangente 
mit der Kurve p. Sei 0’ ein zweiter Schnittpunkt von @ mit der Kurve. 
Bei der Transformation des Systems, welche o in o’ überführt, geht die 
Tangente in o in die Tangente in o’, der Schnittpunkt 9 in einen Schnitt- 





15) Für die Kurven des Systems II erschließt man auf gleiche Weise die Kon- 
stanz der Subtangente, was ja auch ein bekannter Satz über die logarithmische 
Linie ist. — [Indem Lie für Doppelverhältnisse in unseren ursprünglichen Unterhaltungen 
den v. Staudtschen Ausdruck „Wurf“ benutzte, ist aus dem im Text angeführten 
Theorem die Bezeichnung „W-Kurve“ entstanden. Daraus wieder sind die „courbes V* 
der Comptes Rendus-Noten hervorgegangen. Es ist also sozusagen eine freie Über- 
setzung unserer. Terminologie, wenn Halphen später von „courbes anharmoniques“ 
sprach. K.] 


XXVI. Ebene Kurven mit Transformationen in sich. 437 


punkt p’ der neuen Tangente über. Hiernach sind die Transformationen 
0o— 0’, p— p’ dieselben. Man setze nun beide Transformationen mit der 
Transformation 0’ — p zusammen. So entsteht aus der ersten die Trans- 
formation 0 — p, aus der zweiten aber, indem man, was bei der Vertausch- 
barkeit der Transformationen gestattet ist, zuerst 0’ — p und dann p— p’ 
anwendet, die Transformation 0’ — p’. Das heißt also: p geht aus o durch 
dieselbe Transformation des Systems hervor, durch welche p’ aus o’ her- 
vorgeht. Zu den weiteren Schnittpunkten von a mit der Kurve: 0”,.... 
findet man auf dieselbe Weise Punkte p”,.... und dabei ist die Trans- 
formation o — p = 0’ — p’ immer gleich der Transformation 0” — p”,.... 
Man wende nun auf a, welches die Punkte o, 0’, 0”... . enthält, diese 
Transformation an. So geht a in eine neue gerade Linie über, welche 
», p', p”.... enthält. Damit ist unser Satz bewiesen. 


9. Die vorstehenden Sätze finden ihren Beweis beide in der von 
uns im Eingange auseinandergesetzten Schlußweise. Außerdem benutzt der 
zweite Satz die Vertauschbarkeit der Transformationen unter sich. 


Um die beiden Sätze zu verallgemeinern, wollen wir hier die Art 
der Beziehungen, welche bei den zugehörigen Transformationen unver- 
ändert bleiben, näher definieren. Es sind dies alle im Sinne der neueren 
Algebra kovarianten Beziehungen zu dem von der W-Kurve und dem 
Fundamentaldreiecke gebildeten Systeme. 


Von dieser Definition ausgehend können wir in den beiden aufge- 
stellten Sätzen beispielsweise an Stelle der Tangente beliebige solche 
gerade Linien setzen, welche mit den drei Verbindungslinien mit den Ecken 
des Fundamentaldreiecks ein konstantes Doppelverhältnis bestimmen '*). 
Wir können statt ihrer 2, 3, 4, 5punktig berührende Kegelschnitte setzen, 
welche bzw. 3, 2, 1, 0 der Eckpunkte des Fundamentaldreiecks ent- 
halten?”) oder 3, 2, 1, 0 der Seiten des Dreiecks berühren, usw. 


In dem zweiten Satze können wir die schneidende gerade Linie 
a durch eine beliebige Kurve ersetzen; die Schnittpunkte p, p’, p”, .... 
liegen dann auf einer Kurve, die aus dieser durch eine dem Systeme 
angehörige lineare Transformation entsteht, usf. 

Es wird dies genügen, um das Schlußprinzip völlig klarzustellen; 
man sieht, wie man ohne weitere Betrachtungen eine unbegrenzte Reihe 
von Eigenschaften der W-Kurven ableiten kann, und die einzige Frage, 





1%, In dem Falle der logarithmischen Spirale sind dies die unter konstantem 
Winkel schneidenden Geraden. — Daß dieselben logarithmische Spiralen derselben 
Art umhüllen (caustica, diacaustica, evoluta), ist nach unserer Schlußweise selbstver- 
ständlich und subsumiert sich unter den letzten Satz der Nr. 10 des Textes. 

'”) Für die logarithmische Spirale gehören hierher die Berührungskreise, welche 
den Pol enthalten, und die Krümmungskreise. 


438 Zum Erlanger Programm. 


die man in dieser Richtung nur noch stellen kann, ist die: Welche dieser 
Eigenschaften sind besonders bemerkenswert? 

10. Wir heben aus der Reihe solcher Eigenschaften zunächst nur die 
folgenden heraus: 

Kurven W eines Systems (und zu diesen gehören immer die Seiten 
des Fundamentaldreiecks) können sich nur in Eckpunkten des Fundamental- 
dreiecks schneiden. (Wenn also W-Kurven transzendent sind, sind sie 
es nicht in der Art, daß sie einen Teil der Ebene mit einem Netzwerk 
bedecken.) 

Kurven W besitzen in keinem ihrer Punkte, außer etwa in den Eck- 
punkten des Fundamentaldreiecks, die sie enthalten, irgendeine Singu- 
larität?9). 

Jede im Sinne der neueren Algebra kovariante Kurve einer Kurve W 
(Hessesche Kurve usw.) ist eine Kurve W desselben Systems. 

Wenn man auf eine beliebige Kurve, die nur nicht selbst eine zu 
dem Fundamentaldreiecke gehörige Kurve W sein soll, die zu einem 
W-Kurvensysteme gehörigen linearen Transformationen anwendet, so be- 
steht die Umhüllungskurve der dadurch erzeugten Kurvenreihe aus lauter 
Kurven W des gegebenen Systems. 

— Besonders auf den letzten Satz machen wir aufmerksam, da wir 
ihn in der Folge benutzen werden. — | 


83. 
Aufstellung solcher geschlossener Systeme vertauschbarer linearer Trans- 
formationen, welche die bisher behandelten umfassen. 


11. Wir legen uns jetzt die Frage vor, ob die einfach unendlichen 
geschlossenen Systeme von Transformationen I, II,...V noch in um- 
fassenderen (mindestens zweifach unendlichen) Systemen enthalten sind, 





18) [Von den hier möglichen Singularitäten handelt u. a. Liebmann in III. D38 
der math. Enzyklopädie (Geometrische Theorie der Differentialgleichungen, $. 508). 
Es sind dieselben, welche Poincare& später in seinen bekannten Untersuchungen über 
den gestaltlichen Verlauf der Integralkurven von Differentialgleichungen erster Ordnung 
als „noued“, „col“, „centre“ und „foyer“ bezeichnet hat. Die unendlich ferne Gerade 
in ihrer Beziehung zur logarithmischen Spirale ist für den Projektiviker das einfachste 
Beispiel eines Poincar&schen „Grenzzyklus“. Dabei ist sie, wie aus den Entwick- 
lungen des Textes hervorgeht, das dualistische Gegenstück zu dem „foyer“, den die 
Spirale in unendlich vielen immer enger werdenden Windungen umkreist. — Übrigens 
hat Lie seinerzeit jedes Eingehen auf diese gestaltlichen Verhältnisse abgelehnt. 
Ganz erfüllt von dem Interesse für die allgemeinen Eigenschaften, welche die W-Kurve 
infolge der kontinuierlichen Schar von Kollineationen, die sie in sich überführen, 
besitzt, tat er den charakteristischen Ausspruch: „Die Kurve weiß selbst am besten, 
wie sie sich in singulären Punkten zu verhalten hat.“ An dem Wortlaut des Textes, 
den ich für diese Abhandlung in Göttingen hergestellt habe, hat er dann nichts mehr 
geändert. K.] 


XXVI. Ebene Kurven mit Transformationen in sich. 439 


die, gleich ihnen, die beiden Eigenschaften der Nr. 2 besitzen: daß die 
ihnen angehörigen Transformationen untereinander vertauschbar sind und 
miteinander kombiniert eine wieder dem Systeme angehörige Transformation 
ergeben. Insonderheit fragen wir nach den umfassendsten solchen Systemen, 
d. h. denjenigen, die nicht noch in weiteren Systemen gleicher Beschaffen- 
heit enthalten sind. In unserem Falle, in welchem nur zwei Variable 
vorkommen, ergibt sich, daß die umfassendsten Systeme der gesuchten 
Beschaffenheit immer nur zweifach unendlich sind’), so daß es also 
zwischen den seither betrachteten einfach unendlichen und diesen um- 
fassendsten keine Mittelstufe mehr gibt. 

12. Zum Zwecke der Aufstellung der hier in Rede stehenden Sy- 
steme betrachten wir zunächst zwei beliebige lineare Transformationen, 
A und B. 

Damit dieselben vertauschbar sind, müssen die Elemente der Ebene, 
welche bei der einen‘ fest bleiben, auch für die andere fest sein oder durch 
dieselbe unter sich vertauscht werden. 

Sei nämlich o ein festes Element von A; durch die Transformation 
B gehe es in p über. Wenden wir also auf o zuerst A, dann B an, 
so erhalten wir p. Wenden wir hingegen zuerst B, dann A an, so 
erhalten wir dasjenige Element, in welches p durch A übergeht. Dies 
aber muß p selbst sein, weil die Art der Aufeinanderfolge von A und 
B gleichgültig sein sol! p also bleibt bei der Transformation A unver- 
ändert, w.z. b. w. 

Die Transformationen der hier gesuchten Systeme sollen nun nicht 
nur miteinander vertauschbar sein, sondern kontinuierlich sich aneinander 
anschließen. Damit ist die Möglichkeit aufgehoben, daß die festen Ele- 
mente einer einem solchen Systeme angehörigen Transformation — wofern 
dieselben nicht in kontinuierlicher, sondern nur in diskreter Aufeinander- 
folge vorhanden sind — durch irgendeine andere ihm angehörige Trans- 
formation unter sich vertauscht werden; vielmehr müssen dieselben un- 
verändert bleiben. 

13. Dieser Satz erlaubt nun sofort alle geschlossenen Systeme ver- 
tauschbarer linearer Transformationen der Ebene, die nicht noch in um- 
fassenderen enthalten sind, aufzustellen. 





”») Daß die Zahl der in diesen Systemen vorkommenden Transformationen, 
nämlich 00°, mit der Zahl der Variabeln stimmt, ist eine besondere Eigenschaft der 
Zahl 2. Für drei Variable gibt es z. B. neben einer größeren Zahl dreifach un- 
endlicher Systeme ein vierfach unendliches. Dasselbe stellt sich etwa in der folgen- 
den Form dar: 


440 Zum Erlanger Programm. 


Findet sich unter den Transformationen des Systems eine, welche 
der ersten Klasse angehört, so muß für alle Transformationen des Systems 
das betreffende Fundamentaldreieck ungeändert bleiben. Ein solches 
System kann also höchstens diejenigen Transformationen umfassen, welche 
diese Eigenschaft besitzen, nicht aber noch andere. Diese Transforma- 
tionen sind nun durch (1) dargestellt, 

2’ =ax, 

y'—=by, 
wenn man a, b nicht mehr die Bedeutung von Konstanten, sondern von 
Parametern gibt. Die Kombination irgend zweier solcher Transforma- 
tionen mit den Parametern a, b und a’, b’ ergibt aber, wie man un- 
mittelbar verifiziert, eine neue Transformation des Systems, nämlich die- 
jenige mit den Parametern aa’, bb’, und zwar unabhängig von der Reihen- 
folge der beiden Transformationen dieselbe. 

Die zweifach unendlich vielen Transformationen: 

2.=az, 

208 
bilden also ein geschlossenes System vertauschbarer linearer Transfor- 
mationen, das nicht noch in einem umfassenderen enthalten ist. 

In diesem Systeme sind alle einfach unendlichen Systeme I. enthalten. 
Andererseits sind die Systeme I. in keinem anderen geschlossenen Systeme 
vertauschbarer linearer Transformationen enthalten als eben in diesem. 

Denn nach der vorstehenden Nummer müßte ein solches System in 
A. enthalten sein, also eine Zwischenstufe zwischen Systemen I. und A. 
bilden. Eine solche Zwischenstufe gibt es aber nicht, da A. nur zweifach 
unendlich viele Transformationen enthält, während I. bereits einfach un- 
endlich viele enthält. 

Wie man von den Transformationen erster Klasse zur Aufstellung 
des Systems A. gelangt, kommt man von den Transformationen zweiter 
und dritter Klasse zu den folgenden beiden: 


2 =ax, 
Y=y+tb; 

x =xc-+a, 
y=y+tax-+b. 


Die Beziehung von B. und F. zu den einfach unendlichen Systemen II., 
III. ist ganz dieselbe, wie die von A. zu den Systemen I., so daß wir 
dieselbe hier nicht weiter auseinandersetzen. 

14. Bei den Transformationen vierter und fünfter Klasse wird eine 
besondere Untersuchung nötig, weil bei ihnen feste Elemente in konti- 
nuierlicher Aufeinanderfolge vorhanden sind. 


XXVI. Ebene Kurven mit Transformationen in sich. 441 


Transformationen der vierten Klasse können, nach dem Satze der 
12. Nummer, nur vertauschbar sein, wenn entweder beide dasselbe Zen- 
trum und dieselbe Achse der Perspektivität besitzen, oder wenn das 
Zentrum der einen bzw. auf der Achse der anderen liegt. In beiden 
Fällen sind die beiden Transformationen auch wirklich vertauschbar, wie 
man leicht verifiziert. Aber man wird dabei zu nichts Neuem geführt. 
In dem ersten Falle kommt man überhaupt nur zu dem einfach unend- 
lichen Systeme IV.; in dem zweiten wird man zu dem Systeme A. ge- 
führt, welches man offenbar aus den beiden perspektivischen Transfor- 


mationen: 
[4 ’ 
2 == 6% j 2 —— , 


y=y, y'—by 
zusammensetzen kann. 

Ebensowenig gelingt es durch Kombination von Transformationen der 
vierten und fünften Klasse neue geschlossene Systeme vertauschbarer 
Transformationen zusammenzusetzen. Nach dem Satze der 12. Nummer 
wird man, wenn man dies versucht, zu dem Systeme B. zurückgeführt, 
welches man als aus der Kombination der perspektivischen Transformation: 


2’ =az, 
; : y= Y; 
mit der Translation: 
ce =z, 
ud, 


entstanden ansehen kann. 

Dagegen lassen sich aus Transformationen fünfter Klasse zwei neue, 
auch wieder zweifach unendliche Systeme der gesuchten Art bilden. 

Zwei Transformationen fünfter Klasse können nämlich nach Nr. 12 
vertauschbar sein, sowohl wenn die feste Punktreihe, als auch wenn das 
feste Strahlbüschel für beide identisch ist. Man verifiziert unmittelbar, 
daß sie unter einer dieser Voraussetzungen auch wirklich vertauschbar 
sind und miteinander kombiniert eine neue Transformation gleicher Art 
erzeugen. Wir haben also zwei neue, wiederum zweifach unendliche Sy- 
steme der gesuchten Art. 

Das eine umfaßt alle Transformationen der fünften Klasse, bei welchen 
dieselbe Punktreihe fest bleibt. Es mag diese Punktreihe mit der unend- 
lich weit entfernten geraden Linie zusammenfallen. Dann sind die Trans- 
formationen des Systems dargestellt durch: 


z’=xc-+a, 
wmyrD. 
Ein Beispiel gibt die Gesamtheit der Translationen der Ebene. 
Das andere umfaßt alle Transformationen derselben Klasse, bei denen 


A. 


442 Zum Erlanger Programm. 


das feste Strahlbüschel dasselbe ist. Wählt man für das letztere die zur 
Y-Achse parallelen Geraden, so sind die Transformationen des Systems 
gegeben durch: 


ı=w, 
y'=y+tax-+b. 
15. Wenn wir zusammenfassen, sind wir zu dem folgenden Resultate 


gelangt: 

Es gibt in der Ebene fünf verschiedene zweifach unendliche ge- 
schlossene Systeme von unter sich vertauschbaren linearen Transforma- 
Ren: A. B. 1.8 E£, 
| Dieselben sind nicht noch in umfassenderen Systemen derselben Be- 
schaffenheit enthalten. 

Transformationen erster, zweiter und. dritter Klasse sowie die aus 
ihnen gebildeten einfach unendlichen Systeme I., II., III. finden sich 
nur bezüglich in den Systemen A., B., T. 

Transformationen vierter Klasse und die aus solchen gebildeten ein- 
fach unendlichen Systeme IV. finden sich in A. und B.; Transformationen. 
fünfter Klasse und die aus ihnen gebildeten einfach unendlichen Systeme 
V. finden sich in B., T., A., E. 

Wir werden nun im folgenden die W-Kurven betrachten nicht mit 


Bezug auf das einfach unendliche System I.,... V., durch dessen Trans- 
formationen sie in sich übergehen, sondern mit Bezug auf das zweifach 
unendliche A.,..., E., welchem das betreffende einfach unendliche an- 


gehört: wir werden uns ein solches zweifach unendliches System gegeben 
denken und diejenigen W-Kurven in Untersuchung ziehen, deren zu- 
gehörige einfach unendliche Systeme in diesem enthalten sind. 

Solcher W-Kurven gibt es für jedes der Systeme A.,B.,..., E. zwei- 
fach unendlich viele. 

Für A.,B.,f., A. sind dieselben durch die Gleichungen Nr.1., II., 
III., IV. dargestellt, wenn man den in denselben vorkommenden Kon- 
stanten beliebige Werte beilegt. Nicht eingeschlossen in diese Darstellung 
sind für die vier Systeme jedesmal einfach unendlich viele W-Kurven, näm- 
lich (vgl. Nr. 7) diejenigen Punkte, welche durch unendlich viele Trans- 
formationen des Systems unverändert bleiben. Es sind dies für A.,B.,T. 
die auf den Seiten der bzw. Fundamentaldreiecke gelegenen Punkte, für 
A. die Punkte der bei allen, A. angehörigen, Transformationen festen 
Punktreihe. Diese Punkte lassen sich nicht durch eine Gleichung dar- 
stellen, weil wir von Punkt-Koordinaten Gebrauch machen. Würden wir 
dagegen Linien-Koordinaten anwenden, so hätte man sofort die Dar- 
stellung dieser Punkte durch eine Gleichung: es würde aber unmöglich, die- 
jenigen W-Kurven, welche etwa gerade Linien sind, entsprechend darzu- 


XXVI. Ebene Kurven mit Transformationen in sich. 443 


stellen. Insbesondere für das System A., dessen zweifach unendlich viele 
W-Kurven — bis. auf die eben genannten Punkte — die geraden Linien 
der Ebene sind, würde man die W-Kurven im allgemeinen gar nicht, sondern 
nur diese einfach unendlich vielen Punkte darstellen können. Das ist nun 
gerade, was bei dem System E., das dem Systeme A. dualistisch gegen- 
übersteht, bei dem Gebrauche von Punktkoordinaten stattfindet. Man 
findet ohne weiteres einfach unendlich viele gerade Linien, welche 
W-Kurven sind, nämlich die geraden Linien des festen Büschels: 
z=%- 

Aber außerdem gibt es zweifach unendlich viele W-Kurven, die sich der 
Darstellung durch eine Gleichung entziehen: das sind sämtliche Punkte 
der Ebene. Das System E. hat darum den anderen gegenüber keine 
Sonderstellung; daß es hier eine solche zu besitzen scheint, beruht auf 
dem (zufälligen) Gebrauche von Punktkoordinaten. 

In. den folgenden Betrachtungen wird von dem Systeme A. ausge- 
gangen werden; indes übertragen sich dieselben ohne weiteres auf die 
übrigen Systeme. Nur muß man dabei berücksichtigen, daß in dem 
Falle A. die geraden Linien, im Falle E. die Punkte der Ebene die 
W-Kurven sind, und man daher nicht, wie bei A., B., T. im ersten Falle 
die geraden Linien, im zweiten die Punkte als Beispiele für beliebige 
Kurven betrachten darf. Es ist übrigens so einfach, die Betrachtungen, 
welche wir für das System A. machen werden, auf B.,F., A.,E. zu über- 
tragen, daß wir diese letzteren Systeme fortan ganz beiseite lassen werden. 


S 4. 
Die W-Kurven gehen durch eine unendliche Reihe von Transforma- 
tionen (geometrischen Verwandtschaften) in W-Kurven desselben 
Systems über. 


16. Die Gleichung der W-Kurven, die zu dem zweifach unendlichen 
Systeme A gehören, ist von der folgenden Form (vgl. Nr. 6): 
Ei) Axt= By!, 
wo A,B,k,1 irgendwelche Konstanten bedeuten. Diejenigen W-Kurven, 
welche dasselbe k, Z besitzen, gehen durch dieselben einfach unendlich 
vielen linearen Transformationen in sich über. Wir bezeichrieten früher 
solche W-Kurven als W-Kurven eines Systems und wir wollen hier diese 
Bezeichnung beibehalten, da ja wohl keine Verwechselung mit dem zwei- 
fach unendlichen Systeme A., dem alle W-Kurven, die wir hier betrachten, 
angehören, möglich ist. 

Aus der Form der Gleichung (13) ersieht man nun unmittelbar: 
daß die W-Kurven durch eine Anzahl von Transformationen, die noch 


444 Zum Erlanger Programm. 


jedesmal zwei willkürliche Konstanten einschließen, in W- Kurven desselben 
Systems, bzw. bei passender Bestimmung der beiden Konstanten unend- 
lich oft in sich selbst übergeführt werden. 

Dies ist zunächst der Fall für die linearen Transformationen von A.: 


x’ =ax, 
Y =b Y; 
es ist allgemeiner der Fall für die Transformationen: 
| 2 —aE", 
y By”, 


wo m irgendeine Zahl ist. 

Es ist ferner so hinsichtlich der Umformung durch reziproke Polaren 
mit Bezug auf einen Kegelschnitt, der das Fundamentaldreieck von A. 
zum Polardreieck hat. Damit nämlich eine gerade Linie: 


issuy+1=0, 
Tangente der Kurve (13) sei, erhält man die Bedingung (Tangential- 
gleichung der Kurve): 
Ar Bu, 
wo A,B aus A, B, kl zusammengesetzt sind. Eine solche Gleichung 
entsteht aus (13), indem man setzt: 
x=at, 
Bu, 
und diese Transformation stellt die Umformung durch reziproke Polaren 
hinsichtlich des Kegelschnittes dar: | 
+ +1-0 
a b g 
der ein beliebiger Kegelschnitt ist, für welchen das Fundamentaldreieck 
Polardreieck ist. | 
Ferner haben die W-Kurven dieselbe Eigenschaft hinsichtlich der- 
jenigen Transformationen, die sich aus den genannten zusammensetzen 
lassen usf. | 
Wir werden nun im nachstehenden, anknüpfend an die Erzeugung 
der W-Kurven, auf geometrischem Wege den Grund dieses Verhaltens 
suchen. Dabei werden wir zur Aufstellung einer unbegrenzten Reihe von 
Transformationen, oder, wie wir, weil bei ihnen ein Wechsel des Raum- 
elementes eintritt, lieber sagen wollen, geometrischen Verwandtschaften 
gelangen, durch die jedesmal die W-Kurven in W-Kurven desselben 
Systems, bzw. bei passender Wahl der in denselben vorkommenden zwei 
willkürlichen Konstanten einfach unendlich oft in sich selbst übergehen. 
Diese Verwandtschaften umfassen eine große Zahl sonst angewandter 


XXVI. Ebene Kurven mit Transformationen in sich. 445 


Verwandtschaften; abgesehen von ihrer Beziehung zu den W-Kurven, 
die hier in den Vordergrund tritt, scheinen dieselben auch darum Inter- 
esse zu besitzen, weil durch ihre Aufstellung diese spezielleren Verwandt- 
schaften auf einen einheitlichen Algorithmus zurückgeführt werden. Das 
Wesentliche bei diesen Verwandtschaften ist, daß sie nach einer festen 
Regel erzeugt werden, indem wir von den zu dem Fundamentaldreiecke 
gehörigen linearen Transformationen als Grundoperationen ausgehen. In 
ähnlicher Weise kann man an jedes geschlossene System vertauschbarer 
Transformationen bei beliebig viel Veränderlichen einen Verwandtschafts- 
zyklus anknüpfen. Die hiermit angedeutete Theorie scheint an und für 
sich beachtenswert zu sein. 
17. Wir betrachten zunächst die Transformationen: 


x’ = ax" 
14 . : 
Sn y =by"”. 
Die Punkte der X Y-Ebene, sowie die der X "Y'-Ebene, kann man sich 
— und diese Vorstellungsweise ist hier für uns fundamental — in der 


Art und Weise entstehend denken, daß man von einem Punkte x,, %9 
bzw. x/, y, als gegeben ausgeht und auf denselben alle zu dem Funda- 
mer 'Idreiecke von A. gehörigen linearen Transformationen anwendet. 

W&emäß dieser Anschauung kann man nun in der folgenden Weise eine 
Beziehung (Verwandtschaft) zwischen den beiden Ebenen feststellen. 

Die Punkte x,, y, und x&,, Y%, betrachte man als entsprechend. Man 
betrachte ferner als entsprechend jedesmal diejenigen Punkte x, y und 
x’, y’, welche aus den gegebenen durch dieselbe zu dem Fundamental- 
dreieck von A. gehörige lineare Transformation hervorgehen. Ist also 
etwa 2=ax,, y=by, 80 ist 2 =ax,, y’=by,. Die in dieser Weise 
festgelegte Beziehung zwischen den beiden Ebenen ist keine andere, als 
die durch eine lineare Transformation, welche zu dem Fundamentaldreieck 
gehört, ausgedrückte Verwandtschaft. In der Tat, bei dem angegebenen 
Verfahren ist immer 2 ; Z-% und diese Formeln stellen eben eine 
solche lineare Transformation dar. Worauf es aber hier ankommt, ist, 
daß man bei dieser Auffassung der linearen Verwandtschaft ohne weiteres 
einsieht, daß W-Kurven durch dieselbe in W-Kurven desselben Systems 
übergeführt werden. Transformiert man nämlich den Punkt x,, y%, durch 
solche zu dem Fundamentaldreiecke gehörige lineare Transformationen, 
daß er auf einer W-Kurve fortrückt, so bewegt sich der entsprechende 
Punkt x), y, notwendig auf einer W-Kurve desselben Systems, da er 
durch ganz dieselben linearen Transformationen versetzt wird. Zugleich 
aber sieht man ein, daß, wenn x,, Y, und 2;, %, von vornherein auf 
derselben in Betracht kommenden W-Kurve liegen, daß dann diese W- 


446 Zum Erlanger Programm. 


Kurve und auch alle W-Kurven desselben Systems in sich selbst über- 
geführt werden. — Wir machen noch darauf aufmerksam, was auch für 
alle im folgenden aufzustellenden Verwandtschaften gilt, daß die Art der 
Beziehung unverändert dieselbe bleibt, wenn wir, statt von x,, %, und 
%, Y, als gegebenen entsprechenden Punkten auszugehen, von irgend- 
einem anderen Punktepaare ausgegangen wären, das aus x,,y, und x/, Yy 
durch dieselbe zu dem Fundamentaldreiecke gehörige lineare Transforma- 
tion hervorgeht. 


Wir wollen wieder von %,, Y, und x), Y, als gegebenen, einander 
entsprechenden Punkten ausgehen. Dem Punkte x, y, der aus x,, %, 
durch eine gewisse zu dem Fundamentaldreieck gehörige Operation hervor- 
geht, wollen wir denjenigen Punkt x’, y’ zuordnen, der sich aus x), yo 
nicht durch dieselbe Transformation, sondern durch m-malige Wieder- 
holung derselben Transformation ergibt. Sei z—=ax,, y—by,, so wird 
x’—= a”xı, y =b"y,. Eliminiert man hieraus a und b, so erhält man: 


ac gem y’ yr 


u am yo yar' 
Die so festgelegte Verwandtschaft ist also gerade von der unter (14) 
dargestellten Art. 

Nun wende man auf den Punkt x,, 4, solche zu dem Fundamental- 
dreieck gehörige lineare Transformationen an, daß er eine bestimmte 
W-Kurve durchläuft. Dann wird x/, y, eine W-Kurve desselben Systems 
durchlaufen. Denn die Reihe der Transformationen, durch welche die 
W-Kurven eines Systems in sich übergehen: #— A’x,, y= B’y,, und 
die Reihe der Transformationen, die durch m-malige Wiederholung der- 
selben entstehen: x — A’”x,, y= B’”y,, sind in ihrer Gesamtheit nicht 
voneinander verschieden, und können es auch nicht sein, da ja überhaupt 
die Reihe dieser Transformationen durch fortwährende Wiederholung einer 
(unendlich kleinen) Transformation entsteht. Der Punkt x), y, wird also 
eine W-Kurve desselben Systems durchlaufen, wie der Punkt x,, %,, Mur, 
um uns so auszudrücken, m-mal so schnell. 


Es ist also bewiesen, daß W-Kurven durch eine Transformation 
(14) in W-Kurven desselben Systems übergehen. 

Wählt man insbesondere die Punkte x,, %, und x), y, auf der 
W-Kurve, die man betrachtet, so geht dieselbe durch die Transformation 
in sich über. 

18. Die allgemeineren Verwandtschaften, in welchen die in der letzten 
Nummer betrachteten als eine besondere Gattung enthalten sind, erhält 
man in ganz ähnlicher Weise, wie diese letzteren, indem man gleichzeitig 
an Stelle des Punktes ein anderes Gebilde als Element der Ebene einführt. 


XXVI. Ebene Kurven mit Transformationen in sich. 447 


Wir wollen nämlich als Elemente der Ebene die zweifach unendlich 
vielen Kurven, betrachten, die aus einer beliebig”’) gewählten: 


p(ay)=0, 
durch die zu dem Fundamentaldreiecke gehörigen linearen Transforma- 
tionen hervorgehen. 
Die Gleichung dieses Kurvensystems wird sein, unter «, ö Parameter 


verstanden: 
p(az, By)=0. 


Die Parameter «, ö# mag man geradezu als Koordinaten der Kurven be- 
trachten. | 
Eine Gleichung zwischen «, ß stellt, sagen wir, diejenige Kurve dar, 
die von solchen Kurven 9 umhüllt wird, deren «, # der Gleichung genügen. 
Die allgemeineren Verwandtschaften bestehen nun darin, daß man 
einem Punkte x’, y’ eine Kurve @ entsprechen läßt, wo: 
(15) 2’ = ua, y’—=bp". 
In Worten ausgesprochen: Man ordne einem willkürlich gewählten 
Anfangspunkte x,, y, eine bestimmte Kurve p, zu. Eine jede andere 
Kurve p geht aus 9, durch eine bestimmte zu dem Fundamentaldrevecke 
gehörige lineare Transformation hervor. Man lasse ihr denjenigen Punkt 
x’, y’ entsprechen, der aus x,, y, durch m-malige Wiederholung der- 
selben Transformation entsteht. 

Den Beweis, daß durch eine solche Transformation W-Kurven in 
W-Kurven desselben Systems übergeführt werden, mag man dadurch in 
zwei Schritte zerlegen, daß man die Gleichungen (15) durch die Aufein- 
anderfolge der beiden Gleichungen ersetzt: 

(16) x =ax”, y'’ = by", 

(17) 2=«, y=Pß. 

Durch (16) gehen die W-Kurven in W-Kurven desselben Systems über, 
wie in der vorstehenden Nummer gezeigt ist. Es ist also nur noch von 
(17) zu zeigen. In Worten: es ist zu zeigen, daß eine beliebige Kurve 
eine W-Kurve, und zwar eine W-Kurve desselben Systems umhüllt, 
wenn man auf sie diejenigen zu dem Fundamentaldreiecke gehörigen 
linearen Transformationen anwendet, vermöge deren ein Punkt &, y 
eine bestimmte W-Kurve durchläuft. Das aber ist der letzte Satz der 
10. Nummer. 

Wählt man den Anfangspunkt x,, y, und die Kurve y, so, daß der 
erstere auf der W-Kurve liegt, die man betrachtet, die zweite eben diese 





?0) Ausgeschlossen bleibt dabei die Annahme, daß die Kurve g=(0 eine zu 
dem Fundamentaldreiecke gehörige W-Kurve sei. In diesem Falle würde man nur 
einfach unendlich viele Kurven 9 erhalten. 


448 Zum Erlanger Programm. 


Kurve berührt, so geht die W-Kurve durch die Verwandtschaft (15) in 
sich selbst über. Es muß dabei nur eine Bemerkung hinzugefügt werden. 
Die den Punkten der W-Kurve entsprechenden @ umhüllen die W-Kurve, 
aber sie können recht wohl noch weitere Umhüllungskurven haben. Diese 
weiteren Umhüllungskurven sind dann aber immer W-Kurven desselben 
Systems. | 

19. Wir wollen den Satz: daß W-Kurven durch die Verwandtschaften 
(15) in W-Kurven desselben Systems übergehen, auch noch analytisch 
beweisen. 

Eine solche Verwandtschaft ist analytisch durch eine sogenannte 
aequatio directrix”!) dargestellt. Man erhält dieselbe, wenn man die Werte 
für « und £ aus (15) in die Gleichung der Kurve: 


p(ex, By)= 
einträgt. So entsteht: 
si 1 


(8) ol)", s(wr|=0. 


Betrachtet man in dieser Gleichung x’, y’ als fest, so stellt sie das dem 
Punkte x’, y’ entsprechende » dar. Umgekehrt, hält man x, y fest, so 
stellt sie diejenige Kurve dar, deren Punkten solche Kurven 0%) ner schan: 
welche durch x, y genen | 

Einem bestimmten Punkte x’, y’ oder x, y wird durch eine aequatio 
directrix erst dann ein bestimmter Punkt x, y oder x’, y’ zugeordnet, 


[4 
dy oder a kennt. Und zwar bestimmt sich, wenn man 


wenn man —— 
| dx’ dz 


x, 9%; = Y kennt, &, y,; rn und umgekehrt. Es ist dies geometrisch 


evident. Denn dem Punkte x, y entspricht zunächst eine ganze Kurve 
von Punkten x’, y’. Dadurch, daß man von x, y zu einem benachbarten. 
Punkte übergeht, dem seinerseits eine benachbarte Kurve entspricht, 
fixiert man auf dieser Kurve, als Durchschnittspunkte mit der benach- 
barten, eine diskrete Mannigfaltigkeit von Punkten x’, y’. Aber gleich- 





[2 


zeitig ist für diese Punkte die Fortschreitungsrichtung, d. h. _ ge- 


geben. Sie fällt nämlich bzw. in die Tangenten der beiden benachbarten 
Kurven in ihren Durchschnittspunkten. Analytisch stellt sich dies so. Sei 


o=0 


die aequatio directrix. Betrachtet man x, y als veränderlich, so kommt: 


dat .dy=0. 





1) Vgl. Plücker: Analytisch-geometrische Entwicklungen. Band 2, S. 265 (1831). 


XXVI. Ebene Kurven mit Transformationen in sich. 449 


Sieht man dagegen x’, y’ als veränderlich an, so hat man: 

















p ‚ 09 Ka 
FU -dx + dy’ dy —=(. 
5 ; d 
Aus den vorstehenden drei Gleichungen kann man entweder x, y, T 
‚ ’ dy’ n ’ dy' dy = 
durch x’, y’, er oder x’, y’, 7, durch x, y, = bestimmen. 
In unserem Falle hat man nun offenbar: 
R E 
nn er or BB er RL 
0x \a | | öy \b | | 
e’\m ’: 
o|= (5) lv 
und 
888 RN 
0p _1zx’m 0% op _ 1 yy’m op 
EEE WR | | RE | IT 
am I bm 2 





ee a ee 
Nun aber ist die Differentialgleichung der W-Kurven (Nr. 5): 
“0. w 
Dieselbe bleibt also bei der Umformung umgeändert. 

Mit anderen Worten: durch die Umformung gehen W-Kurven in 
W-Kurven desselben Systems über, w.z.b. w. 

20. Auf dieselbe Art, wie wir in Nr. 18 zwei Punkte, in Nr. 19 einen 
Punkt und eine Kurve einander zugeordnet haben, kann man auch zwei 
Kurven einander entsprechen lassen. Sei die eine Kurve: 

P (x s y) =(, 
die andere: 
y 2 Yy) —=0. 
Dann würde man die zweifach unendlich vielen Kurven, die aus = 0 
durch die zu dem Fundamentaldreiecke gehörigen linearen Transformationen 
hervorgehen, nämlich: 
p (« x, Py)=V0 
den zweifach unendlich vielen, die sich auf gleiche Weise aus y—=0 er- 
geben, nämlich: 
yv(ax, Py)=0 
entsprechend der Gleichung (15) in der folgenden Art zuordnen: 
a—=aum, B=bp" . 
Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 29 


450 Zum Erlanger Programm. 


und dadurch eine Verwandschaft begründen. Durch eine solche Verwandt- 
schaft würden dann wieder W-Kurven in W-Kurven desselben Systems 
übergehen. 

Allein diese Verwandtschaften, die begrifilich die in Nr. 18 und 
Nr. 19 aufgestellten Verwandtschaften umfassen, insofern man den Punkt 
als eine Kurve spezieller Art ansehen kann, sind von den bisher behan- 
delten nicht verschieden. Den unendlich vielen Kurven y nämlich, 
welche durch einen Punkt gehen, entsprechen unendlich viele Kurven 9 
und diese haben eine Umhüllungskurve ® = 0 (die in besonderen Fällen 
auch ein Punkt sein kann). Die Beziehung der Punkte der Ebene zu 
den ihnen zugehörigen ® ist dabei offenbar ganz von der in der Nr. 19 
betrachteten Art. Weiter ist aber auch klar, daß man die Verwandt- 
schaft, welche durch den Übergang von den y zu den & definiert war, 
ebenso gut durch den Übergang von den Punkten zu den entsprechenden 
® definieren kann. Es folgt das aus dem nachstehenden Räsonnement, 
das übrigens in ganz gleicher Weise bei allen Verwandtschaften seine 
Stelle findet, welche zweifach unendlich viele Kurven der Ebene zweifach 
unendlich vielen anderen Kurven entsprechen lassen. 

Den Kurven », welche irgendeine Kurve C berühren, mögen y ent- 
sprechen, die eine andere Kurve C’ berühren. Durch einen Punkt von 
C gehen zwei konsekutive y, denen zwei konsekutive @ entsprechen, 
welche ©’ berühren. Dieselben müssen aber auch das dem Punkte 
zugehörige ® berühren, da ja das ® die Enveloppe aller @ ist, die solchen 
y entsprechen, die durch den Punkt gehen. Mithin wird C’ auch von ® 
berührt. Mit anderen Worten: Wenn der Punkt die Kurve C durchläuft, 
so umhüllt die Kurve ® die Kurve C’- Die Verwandtschaft zwischen 
den y und den ist also dieselbe, wie die zwischen den Punkten und 
den ®, w.z.b.w. 


85. 
Aufzählung einiger unter den allgemeinen Verwandtschaften enthaltenen 
besonderen Fälle. 


21. Wir wollen hier einige unter den eben aufgestellten Verwandt- 
schaften enthaltene besondere Fälle herausheben, die besonderes Interesse 
zu haben scheinen. 

Zunächst mögen wir bemerken, daß wir in der im Eingange er- 
wähnten Arbeit in den Comptes Rendus die beiden Fälle, welche den 
Werten m = +1 und m = — I entsprechen, unter dem Namen der ko- 
gredienten und kontragredienten Verwandtschaften behandelt haben. Die 
kontragredienten Verwandtschaften haben zunächst das größere Interesse. 
Für sie gilt nämlich der Satz: daß sie zweimal hintereinander angewandt 


XXVI. Ebene Kurven mit Transformationen in sich. 451 


zur Identität führen, daß also bei ihnen die Beziehung zwischen dem 
ursprünglichen und dem verwandten Gebilde eine gegenseitige ist. 

Für die betreffende Verwandtschaft der Nr. 18 überzeugt man sich 
davon unmittelbar aus der Gleichung (14). Setzt man in derselben 

= — 1, so kommt: : 
zu =, yy—=b. 
Eine Vertauschung von x, y mit x’, y’ läßt diese Formeln ungeändert. 
Wird man also durch sie von x, y zu x’, y’ geführt, so gelangt man bei 
Wiederholung derselben von x’, y’ zu x, y zurück. 

Dasselbe gilt für die betreffenden Verwandtschaften der Nr. 19. Für 

m =1 wird die aequatio directrix (18): 

= 
und ist also wieder mit Bezug auf x und x’, y und y’ symmetrisch, was 
denselben Schluß wie im vorhergehenden Falle begründet °?). 

22. Die allgemeinen, in Nr. 18 auseinandergesetzten Verwandtschaften 
sind vielfach Gegenstand geometrischer Untersuchung gewesen. Wir ver- 
weisen insbesondere auf Salmons Treatise on the Higher Plane Curves, 
wo 8. 238 bis 242 eine Zusammenstellung derartiger Forschungen ge- 
geben ist. 

Für m=--1 sind diese Verwandtschaften, wie schon gesagt, von der 
kollinearen Verwandtschaft nicht verschieden. 

Für m=—1 geben sie die bekannte Verwandtschaft, welche eine 
gerade Linie in einen durch die drei Ecken des Fundamentaldreiecks gehen- 
den Kegelschnitt verwandelt. Ä 

Besonderes Interesse haben diese Transformationen in dem Falle, 
daß zwei Ecken des Fundamentaldreiecks in die beiden Kreispunkte fallen. 
Dieselben lassen dann die Winkel?®) der Ebene unverändert, ein Um- 
stand, den Herr M. Roberts zur Ableitung einer Reihe schöner Sätze 
benutzt hat. Ist in diesem Falle insbesondere m = —1 und setzt man 











°®) In unserer Arbeit in den Comptes Rendus haben wir diesen Satz auf geo- 
metrische Weise begründet, indem wir das System A. aller Translationen zu Hilfe 
nahmen. In diesem Falle wird nämlich der Satz des Textes identisch mit dem Satze 
über relative Verschiebung: Wenn zwei Körper gegeneinander verschoben werden, 
so ist es gleichgültig, ob der eine ruht und der andere sich bewegt, oder ob der 
andere ruht und der erste sich im umgekehrten Sinne bewegt. 

®?) Es ist dies eine Folge davon, daß durch die Transformation die W-Kurven, 
d. h. in diesem Falle die logarithmischen Spiralen, in W-Kurven desselben Systems 
übergeführt werden. Die logarithmischen Spiralen zweier Systeme schneiden sich 
nämlich unter konstantem Winkel; bleiben bei der Transformation nun die Systeme 
ungeändert, so müssen es auch die Winkel tun. Es gilt diese Bemerkung auch für 
die in der folgenden Nummer betrachteten Verwandtschaften, soweit sie sich auf das 
Fundamentaldreieck der logarithmischen Spirale beziehen. — Die betreffende Arbeit 
von Herrn M. Roberts findet sich: Liouvilles Journal, Bd. 13 (1848). 


29 * 


452 Zum Erlanger Programm. 


gleichzeitig statt x (— x), so hat man die Transformation der reziproken 
Radien. Im übrigen vergleiche man Salmon, die angeführte Stelle. 

23. Unter den Verwandtschaften der Nr. 19 sind diejenigen besonders 
bemerkenswert, welche man erhält, wenn man für die Kurven 9=0 
gerade Linien nimmt. Dann entsprechen den Punkten der Ebene die 
geraden Linien derselben. Die Parameter «, f, welche wir als Koordi- 
naten der Kurven @ auffaßten, sind dabei die reziproken Werte der ge- 
wöhnlichen Linienkoordinaten Z und x. 


A. Betrachten wir zunächst den Fall m =— 1, d.h. 
at=z, 
19 
a) bu=y. 


Diese Formeln stellen die Verwandtschaft der reziproken Polaren hinsicht- 
lich des Kegelschnittes: 


x? y° Sr 
are 


dar, d. h. also hinsichtlich eines Kegelschnittes, welcher das Fundamen- 
taldreieck zum Polardreieck hat. Wir haben also den folgenden Satz, 
den wir, unmittelbar aus der Gleichung bewiesen, bereits in Nr. 19 an- 
führten: 

Die reziproke Polare einer W-Kurve hinsichtlich eines Kegelschnittes, 
der das Fundamentaldreieck zum Polardreieck hat, ist eine W- Kurve 
desselben Systems. 

Hieran knüpft sich noch das folgende Korollar: 

Die W-Kurve ist ihre eigene reziproke Polare hinsichtlich eines 
solchen Kegelschnitts, wenn sie von dem Kegelschnitte berührt wird”). 

Denn bei der durch einen solchen Kegelschnitt vermittelten Zuord- 
nung von Punkt und gerader Linie entspricht einem Punkte der W-Kurve 
— nämlich dem Berührungspunkte mit dem Kegelschnitt — eine Tan- 
gente derselben Kurve — nämlich die Tangente im Berührungspunkte, 
und also (Nr. 18) allen Punkten der W-Kurve eine Tangente derselben 
Kurve. 

Durch Übertragung früher aufgestellter Eigenschaften der W-Kurven 
vermöge der Theorie der reziproken Polaren finden wir unter anderen, 
was man übrigens vermöge der von uns immer gebrauchten Schlußweise 
ohne weiteres einsehen kann: Das Doppelverhältnis der Tangente einer 
W-Kurve zu den drei geraden Linien, welche ihren Berührungspunkt 
mit den Ecken des Fundamentaldreiecks verbinden, ist konstant. Wir 





**) Für die logarithmische Spirale sagt dieser Satz aus: Die logarithmische 
Spirale ist ihre eigene reziproke Polare in bezug auf jede gleichseitige Hyperbel, 
deren Mittelpunkt in ihren Pol fällt, und welche sie berührt. 


XXVI. Ebene Kurven mit Transformationen in sich. 453 


führen diesen Satz hier an, weil er für die logarithmische Spirale die- 
jenige Eigenschaft ausspricht, die man gewöhnlich als Definition derselben 
gibt: daß nämlich für sie die Radiivektores vom Pole aus mit der Kurve 
gleiche Winkel bilden. — Man schließt ferner noch, daß dieses Doppel- 
verhältnis dasselbe ist, welches der Berührungspunkt und die drei Durch- 
schnittspunkte der Tangente mit den Seiten des Fundamentaldreiecks 
miteinander bilden, wie dies auch aus bekannten Eigenschaften des Drei- 
ecks ersichtlich ist. 


B. Sei zweitens m =-+1. So sind die Formeln für die Verwandt- 
schaft: 
(20) st=a0, yu=b. 


Man kann diese aus den Formeln 


DE a, Un 5, 
und 
a y-u 
zusammensetzen; die hier betrachtete Verwandtschaft entsteht also, wenn 
man die Verwandschaft 
za =, 'yy—b 


mit der der reziproken Polaren verbindet. 

Die Transformation (20), wie überhaupt jede Transformation, die 
nicht reziprok ist, kann in doppeltem Sinne aufgefaßt werden, je nachdem 
man von den x, y der ersten Ebene zu den £, « der zweiten, oder von 
den t, « der ersten zu den x, y der zweiten übergeht. 

In dem ersten Falle läßt sie dem Punkte eine gerade Linie, der 
geraden Linie einen Kegelschnitt entsprechen, welcher die drei Seiten des 
Fundamentaldreiecks berührt. — In dem zweiten Falle entspricht der 
geraden Linie ein Punkt, dem Punkte ein Kegelschnitt, der durch die drei 
Ecken geht. 

Es ist dabei ein besonderer Fall bemerkenswert. Derselbe entspricht 
der Annahme a+5b+1=0, also: 


iz+uy+1=0. 


Alsdann liegen Punkt und entsprechende gerade Linie (unter beiden 
Annahmen) jedesmal vereinigt. 

Unter diesen Fall gehört namentlich auch die Beziehung der Punkte 
der W-Kurven eines Systems zu deren Tangenten, wie man dies an der 
Gleichung der W-Kurven unmittelbar verifiziert. Die vorstehend ausge- 
sprochenen Eigenschaften der Transformation (20) ergeben für diesen be- 
sonderen Fall die beiden Sätze: 

Die Tangenten in den Schnittpunkten einer geraden Linie mit einer 


454 Zum Erlanger Programm. 


W-Kurve berühren einen dem Fundamentaldreiecke eingeschriebenen 
Kegelschnitt”? ). : Ä 

Die Berührungspunkte der von einem Punkte aus an eine W- Kurve 
gelegten Tangenten liegen auf einem durch die drei Ecken des Funda- 
mentaldreiecks gehenden Kegelschnitt”°). 

Noch mag als ein besonderer Fall der durch (20) dargestellten Ver- 
wandtschaft die Beziehung angesehen werden, die Plücker in seinem 
„Systeme der analytischen Geometrie‘ (1835) 8. 10 als Polarität hinsichtlich 
eines Dreiecks?”) bezeichnet. Dieselbe entsteht aus (20), wenn man 
a=b=1 nimmt. [Geometrisch ist diese Beziehung in folgender Weise 
definiert. Man verbinde einen Punkt der Ebene mit den drei Ecken des 
Fundamentaldreiecks durch drei gerade Linien. Auf jeder Dreiecksseite wird 
durch eine von den Verbindungslinien ein neuer Punkt ausgeschnitten. Man 
bilde den zu diesem Punkt in bezug auf die beiden in der betreffenden 
Seite liegenden Ecken harmonischen Punkt. So erhält man drei Punkte, 
auf jeder Dreiecksseite einen, die auf einer geraden Linie liegen. Diese 
Gerade ist die Plückersche Polare des gegebenen Punktes. ] 


S 6. 
Allgemeine Probleme, die sich an das Vorige anknüpfen. 


24. Mit der im vorstehenden Paragraphen gegebenen Aufzählung 
spezieller Verwandtschaften schließen wir unsere Auseinandersetzungen 
über die W-Kurven. Es soll hier nur noch kurz angedeutet werden, zu 
welchen allgemeineren Problemen dieselben hinführen. 

Indem wir auf einen Punkt alle Transformationen eines einfach un- 
endlichen geschlossenen Systems vertauschbarer linearer Transformationen 
anwandten, erhielten wir die W-Kurven. 

Aber statt des Punktes können wir eine beliebige Kurve wählen. 
Indem wir auf sie die nämlichen Transformationen anwenden, erhalten 
wir eine Kurvenreihe, deren Umhüllungskurve, wie schon gesagt, aus W- 
Kurven desselben Systems besteht. Diese Kurvenreihe nun können wir 
statt der Punktreihe, die wir seither betrachteten, in die Untersuchung 
einführen. 

Wir können weiter gehen. Auf eine beliebig angenommene Kurve 
wende man die Transformationen eines geschlossenen zweifach unendlichen 





25) Für die logarithmische Spirale ist dies eine Parabel, deren Brennpunkt in 
den Pol fällt. 

2#) Für die logarithmische Spirale ein durch den Pol gehender Kreis. Der 
Satz kommt darauf hinaus, daß im Kreise Peripheriewinkel auf gleichen Bogen kon- 
stant sind. 

?”) Man kann ein Dreieck als eine Kurve dritter Ordnung betrachten. Die dem 
Punkte zugeordnete Linie ist seine gerade Polare mit bezug auf diese Kurve. 


XXVI. Ebene Kurven mit Transformationen in sich. 455 


Systems vertauschbarer linearer Transformationen an. Dann erhält man 
ein zweifach unendliches System von Kurven, und nach dessen Eigen- 
schaften kann man fragen. Auf dasselbe wird ebenso wie auf die vor- 
stehend genannten Kurvenreihen unsere Schlußweise Anwendung finden. 
Wenn wir seither nicht zur Betrachtung solcher Systeme als selbständiger 
geometrischer Gebilde geführt wurden, so liegt das daran, weil wir vom 
Punkte als Element der Ebene ausgingen. Ein System von zweifach un- 
endlich vielen Punkten fällt nämlich mit der Gesamtheit der Punkte der 
Ebene zusammen und erscheint deswegen nicht als ein in der Ebrne ent- 
haltenes besonderes geometrisches Gebilde. 


Implizite haben wir übrigens wiederholt von solchen Kurvensystemen 
gehandelt. Einmal betrachteten wir solche Systeme in Nr. 19 und Nr. 20 
bei der Begründung der allgemeinen Verwandtsehaften. Andererseits ist 
das, was wir ein System von W-Kurven genannt haben, eben ein solches 
System. Dasselbe umfaßt, im Gegensatze zu den allgemeinen Systemen 
dieser Art, nur einfach unendlich viele Kurven, weil seine Konstituenten, 
die W-Kurven, selbst durch einfach unendlich viele Transformastionen in 
sich übergehen. Die W-Kurven eines Systems wurden durch die aufge- 
stellten Verwandtschaften immer in W-Kurven desselben Systems über- 
geführt. Wir können das so aussprechen: 


Die W-Kurvensysteme, als selbständige Gebilde aufgefaßt, bleiben 
bei den aufgestellten Verwandischaften ungeändert. 


Insofern die hier definierten Kurvensysteme durch ein geschlossenes 
System von zweifach unendlich vielen vertauschbaren linearen Transfor- 
mationen in sich übergehen, schließt sich ihre Untersuchung unmittelbar 
an das Studium der W-Kurven an, d. h. derjenigen Mannigfaltigkeiten, 
welche durch ein geschlossenes System von nur einfach unendlich vielen 
vertauschbaren linearen Transformationen in sich übergehen. Hiermit ist 
zugleich das allgemeinste Problem angedeutet, unter welches sich die 
Untersuchung der W-Kurven als einfachster Fall subsumiert. Dasselbe 
lautet: 


Man soll nach der im Eingange auseinandergesetzten Schlußweise 
die Eigenschaften solcher geometrischer Gebilde entwickeln, die aus einem 
willkürlich gewählten durch Anwendung geschlossener Systeme beliebig 
unendlich vieler unter sich vertauschbarer linearer Transformationen her- 
vorgehen. 


Es ist hier nicht unsere Absicht, auf diese Frage einzugehen; wir 


haben nur das allgemeine Problem bezeichnen wollen, unter welches die 
hier gegebenen speziellen Betrachtungen fallen. 


456 Zum Erlanger Programm. 
8 7. 


Über die Integration gewisser Differentialgleichungen’° s), 

25. In diesem letzten Paragraphen wollen wir einige Betrachtungen 
anstellen, die mit der Transformierbarkeit geometrischer Gebilde in sich 
selbst nahe zusammenhängen. Dieselben betreffen die Integration solcher 
Differentialgleichungen erster Ordnung mit zwei Variabeln, welche durch 
unendlich viele Transformationen in sich übergeführt werden. 

Bekanntlich kann man die Veränderlichen in den sogenannten homo- 


genen: Differentialgleichungen: 


ay y 
(e ee) 
ohne en separieren. Denn man setze -- i, so wird y=xt und 
4y 


tr a, ne ae sich die Gleichung in die folgende: 
dt dx 


fa =f(t), oder Are ar. 
in welcher die an separiert sind. 

Wir wollen den inneren Grund für diese Eigenschaft der Gleichungen («) 
suchen. 

Es mögen x, y Punktkoordinaten in der Ebene sein. Dann bestimmt 
die Gleichung («) für jeden Punkt der Ebene eine Fortschreitungsrichtung. 
Diese Fortschreitungsrichtung ist nun für alle Punkte dieselbe, welche auf 
einer durch den Koordinatenanfangspunkt gehenden Geraden liegen. Denn 
(«) bleibt unverändert, wenn man statt x, y Multipla derselben, etwa 
ax, ay, setzt. Statt nun die Punkte der Ebene durch die Parallelen 
zur X- und Y-Achse zu bestimmen, kann man sie durch die Parallelen 
zur X-Achse und das vom Koordinatenanfangspunkte ausgehende Strahl- 
büschel festlegen. Dies ist gerade der Sinn der Substitution y=xt; 
i ıst dabei ein Parameter für die Geraden des genannten Strahlbüschels. 
Durch Einführung von t an Stelle von.y geht ee («) in eine neue 
Gleichung über: | 

t 


(£) 7, rer 8). 


Von dieser en weiß man nun: sie ändert sich nicht, wenn 
man. statt x ein Multiplum ax setzt und i konstant läßt. Dadurch geht 


aber “= in me 
dx a dz 


tution sich um einen Faktor : ändern. Man hat’ somit: 


über. Es muß also auch » (x, t) bei dieser Substi- 





2°) [Dieser Paragraph geht inhaltlich ausschließlich auf Liesche Überlegungen 
zurück. K.] 


XXVI. Ebene Kurven mit Transformationen in sich. 457 
Setzt man x gleich 1 und sodann a gleich x, so kommt: 


1 1 
(2, 1)=;p(l,t)= vl). 
p(x, t) ist also notwendig von der Form ru . In der Gleichung 


(#) sind mithin, wie dies ja auch die wirkliche Ausrechnung zeigt, die 
Veränderlichen separiert. 

26. Der allgemeine in dem vorstehenden Räsonnement enthaltene 
Gedankengang ist der folgende. 

Es sei eine Differentialgleichung gegeben: 


(r) flv) 
und man wisse von derselben, daß sie durch einfach unendlich viele 
Transformationen in sich übergeht. 

So führe man statt der Veränderlichen y, x zwei neue Veränder- 
liche n, & ein, welche die folgende geometrische Bedeutung haben. 7 —=x 
ist die Gleichung aller soleher Kurven, welche durch dieselben unendlich 
vielen Transformationen in sich übergehen, durch welche die vorgelegte 
Differentialgleichung unverändert bleibt. &=4 ist die Gleichung desjenigen 
Kurvensystems, das aus einer beliebig angenommenen Kurve &=4, durch 
Anwendung der betreffenden unendlich vielen Transformationen entsteht. 

Durch Einführung der Variabelen €, n geht die gegebene Differential- 
gleichung in eine neue über, in welcher die Veränderlichen separiert sind. 

Ehe wir dies beweisen, werde gezeigt, daß die Separation der Ver- 
änderlichen in der homogenen Differentialgleichung («@) in der hiermit 
ausgesprochenen allgemeinen Regel als etwas Spezielles enthalten ist. Die 
Kurven „=x sind dort die durch den Anfangspunkt gehenden Geraden 
t = Konst., da diese bei den Transformationen z’—= ax, y’= ay, durch 
die («) unverändert bleibt, ebenfalls unverändert bleiben. Weiter an Stelle 
der Kurven &=4 sind die Geraden x = Konst. gewählt, die in der Tat 
der für die Kurven & aufgestellten Bedingung genügen: daß alle aus einer 
durch die zu der Differentialgleichung gehörigen Transformationen hervorgehen. 

27. Der Beweis dafür, daß bei der Einführung von n, & in die 
Gleichung (y) allgemein Separation der Veränderlichen stattfindet, ist der 
folgende. 

Die Differentialgleichung (y) geht durch Einführung der n, & in eine 
andere über, die die folgende sein mag: 


(8) 2 = em 2). 

Von dieser Differentialgleichung weiß man nun, daß sie unverändert bleibt, 
wenn man, ohne n irgendwie zu ändern, & gewissen einfach unendlich 
vielen Transformationen unterwirft. Dies ist nicht anders möglich, als 


458 Zum Erlanger Programm. 


wenn @ (n, &) in zwei Faktoren zerfällt, von denen der eine nur n, der 
andere nur & enthält. 

Um dies deutlich einzusehen, führe man statt &£ eine Funktion £ von 
& als Veränderliche ein, die dadurch bestimmt ist, daß sie durch die 
einfach unendlich vielen Transformationen, denen man & unterwirft, in 
Multipla ihrer selbst übergeht. Durch Einführung dieses £ an Stelle von £ 
wird die Differentialgleichung (6) die folgende: 


d 
1 (n, ©). 


Dieselbe bleibt ungeändert, wenn man, bei konstantem n, statt £ ein 
Multiplum setzt. Man schließt also ganz nach der Methode, die in Nr. 25 
für die homogene Gleichung angewandt wurde, daß y (n, £) zerfällt in 
eine Funktion von n, dividiert durch &. Die Veränderlichen in der Glei- 
chung sind also separiert. Setzt man nun statt £ wieder rückwärts £, so 
kommt man zu der Gleichung (ö) zurück, und in dieser sind also auch 
die Veränderlichen separiert, wie behauptet wurde. 

28. Die Bestimmung der Kurven „=x, welche durch die einfach 
unendlich vielen gegebenen Transformationen in sich übergehen, wird im 
allgemeinen die Integration einer neuen Differentialgleichung verlangen, 
nämlich derjenigen Differentialgleichung, welche aussagt, daß eine Kurve 
durch die unter den einfach unendlich vielen Transformationen enthaltene 
unendlich kleine Transformation in sich übergeht (vgl. Nr. 3). Ist die 
Integration dieser Gleichung, die nur noch von der Art der Transforma- 
tionen, welche (y) zuläßt, abhängt, geleistet, so verlangt die Integration 
von (y) nur noch Quadraturen. 

Sind nun die Transformationen, durch welche (y) in sich selbst über- 
geht, insbesondere linear, wie dies in dem Beispiele der Gleichung («) 
war, so lassen sich die Kurven „—=x ohne weiteres bestimmen. Es sind 
nämlich diejenigen W-Kurven, welche durch die betreffenden unendlich 
vielen linearen Transformationen in sich übergehen. Man hat also den 
Satz: Differentialgleichungen (y), welche durch unendlich viele lineare 
Transformationen in sich übergehen, verlangen zu ihrer Integration nur 
Quadraturen. 

29. Von diesem Satze wollen wir eine Anwendung geben, die sich 
auf Raumgeometrie bezieht. 

Nach den Auseinandersetzungen des $ 1, Nr. 3 wird es deutlich sein, 
was man unter einer unendlich kleinen linearen Transformation nicht nur 
der Ebene, sondern auch des Raumes zu verstehen hat. Wendet man 
eine solche unendlich oft auf einen Punkt an, so durchläuft er eine 
räumliche W-Kurve. Die W-Kurven, welche gleichzeitig von den verschie- 
denen Punkten des Raumes erzeugt werden, heißen W-Kurven eines Systems. 


XXVI. Ebene Kurven mit Transformationen in sich. 459 


Man betrachte nun die Fläche, welche erzeugt wird von den W-Kurven 
eines Systems, die eine beliebige feste Kurve schneiden. Auf dieser Fläche 
lassen sich die Haupttangentenkurven durch Quadratur bestimmen. 

Die Fläche geht nämlich offenbar durch dieselben unendlich vielen 
linearen Transformationen in sich über, durch welche die W-Kurven des 
Systems unverändert bleiben. Dieselben Transformationen werden auch 
die Haupttangentenkurven der Fläche in Haupttangentenkurven der Fläche 
überführen, da bei linearer Transformation Haupttangenten Haupttangenten 
bleiben. Die Differentialgleichung der Haupttangentenkurven wird also 
bei den bez. linearen Transformationen ungeändert bleiben. Sie wird 
also, nach unserem Satze, quadrierbar, wenn man, auf der Fläche, die 
folgende Koordinatenbestimmung macht. Man bestimme jeden Punkt 
derselben als den Durchschnitt zweier Kurven: n„=x,,E=4,won=x 
die auf der Fläche liegenden W-Kurven darstellt, &=4 ein Kurven- 
system ist, das sich aus einer auf der Fläche beliebig gezogenen Kurve durch 
Anwendung der zugehörigen unendlich vielen linearen Transformationen ergibt. 

Wir wollen noch zwei besondere Fälle dieses Satzes hervorheben. 

Unter den verschiedenen W-Systemen, welche es im Raume gibt, 
finden sich insonderheit die geraden Linien, welche zwei feste Geraden 
schneiden. Man kann nun nach unserem Satze die Haupttangentenkurven 
durch Quadratur bestimmen auf jeder aus solchen Linien gebildeten Fläche, 
d.h. also auf jeder Linienfläche, deren Erzeugende zwei feste Geraden 
schneiden?”). 

Ein zweiter besonderer Fall ist der folgende. Gleichgewundene 
Schraubenlinien von gleicher Achse und gleicher Ganghöhe bilden eben- 
falls ein W-Kurvensystem. Die zugehörigen linearen Transformationen, 
durch welche dieselben in sich übergehen, sind die betreffenden Schrauben- 
bewegungen um die gemeinsame Achse. Bei einer Bewegung bleiben 
nun nicht nur die projektivischen Beziehungen, sondern auch die metri- 
schen ungeändert. Man wird also auf einer von solchen Schraubenlinien gebil- 
deten Fläche nicht nur die Haupttangentenkurven, sondern auch die Krüm- 
mungskurven durch Quadratur bestimmen können. Wir haben also den Satz: 

Wenn man auf irgendeine Kurve eine beliebige Schraubenbewegung 
anwendet, so beschreibt sie eine Fläche, auf der man die Haupttangenten- 
kurven und Krümmungskurven durch Quadratur bestimmen kann. 


Göttingen und Christiania, im März 1871. 





29) Dieser Satz ist in umfassenderen Sätzen mit enthalten, die von Herrn 
Clebsch [Crelles Journal, Bd. 68, S. 151 (1868)] und von Herrn Gremona [Amnali di 
Matematica. 1869, (2)1] über die Haupttangentenkurven von Linienflächen aufge- 
stellt worden sind. 


XXVII. Vergleichende Betrachtungen über neuere 
geometrische Forschungen. 


[Programm zum Eintritt in die philosophische Fakultät und den Senat der 
k. Friedrich -Alexanders-Universität zu Erlangen. Erlangen, A. Deichert. 1872.').] 





Unter den Leistungen der letzten fünfzig Jahre auf dem Gebiete der 
Geometrie nimmt die Ausbildung der projektivischen Geometrie die erste 
Stelle ein. Wenn es anfänglich schien, als sollten die sogenannten metri- 
schen Beziehungen ihrer Behandlung nicht zugänglich sein, da sie beim 
Projizieren nicht ungeändert bleiben, so hat man in neuerer Zeit gelernt, 
auch sie vom projektivischen Standpunkte aufzufassen, so daß nun die 
projektivische Methode die gesamte Geometrie umspannt. Die metrischen 
Eigenschaften erscheinen in ihr nur nicht mehr als Eigenschaften der räum- 
lichen Dinge an sich, sondern als Beziehungen derselben zu einem Funda- 
mentalgebilde, dem unendlich fernen Kugelkreise?). 

Vergleicht man mit der so allmählich gewonnenen Auffassungsweise 
der räumlichen Dinge die Vorstellungen der gewöhnlichen (elementaren) 
Geometrie, so entsteht die Frage nach einem allgemeinen Prinzipe, nach 
welchem die beiden Methoden sich ausbilden konnten. Diese Frage er- 
scheint um so wichtiger, als sich neben die elementare und die projek- 
tivische Geometrie, ob auch minder entwickelt, eine Reihe anderer Methoden 
stellt, denen man dasselbe Recht selbständiger Existenz zugestehen muß. 
Dahin gehören die Geometrie der reziproken Radien, die Geometrie der 
rationalen Umformungen usw., wie sie in der Folge noch erwähnt und 
dargestellt werden sollen. 

Wenn wir es im nachstehenden unternehmen, ein solches Prinzip auf- 
zustellen, so entwickeln wir wohl keinen eigentlich neuen Gedanken, sondern 
umgrenzen nur klar und deutlich, was mehr oder minder bestimmt von 
manchem gedacht worden ist. Aber es schien um so berechtigter, derartige 





ı) [Das Erlanger Programm wurde von mir im Jahre 1893 im Bd.43 der Math. 
Annalen abgedruckt und damals von mir mit einer Reihe von Bemerkungen versehen, 
die ich im folgenden der Mehrzahl nach ungeändert übernehme. Sie sind gleich den 
anderen, nun erst hinzugefügten in eckige Klammern eingeschlossen, denen aber zur 
Unterscheidung immer die Jahreszahl 1893 hinzugefügt ist. K.] 

2) Vgl. Note I des Anhangs. 


XXVII. Das Erlanger Programm. 461 


zusammenfassende Betrachtungen zu publizieren, als die Geometrie, die 
doch ihrem Stoffe nach einheitlich ist, bei der raschen Entwicklung, die 
sie in der letzten Zeit genommen hat, nur zu sehr in eine Reihe von 
beinahe getrennten Disziplinen zerfallen ist”), die sich ziemlich unabhängig 
voneinander weiter bilden. Es lag dabei aber auch noch die besondere 
Absicht vor, Methoden und Gesichtspunkte darzulegen, welche von Lie 
und mir in neueren Arbeiten entwickelt wurden. Es haben unsere beider- 
seitigen Arbeiten, auf wie verschiedenartige Gegenstände sie sich auch be- 
zogen, übereinstimmend auf die hier dargelegte allgemeine Auffassungsweise 
hingedrängt, so daß es eine Art von Notwendigkeit war, auch einmal diese 
zu erörtern und von ihr aus die betreffenden Arbeiten nach Inhalt und 
Tendenz zu charakterisieren. 

War bisher nur von geometrischen Forschungen die Rede, so sollen 
darunter mit verstanden sein die Untersuchungen über beliebig ausgedehnte 
Mannigfaltigkeiten, die sich, unter Abstreifung des für die rein mathe- 
matische Betrachtung unwesentlichen räumlichen Bildes‘), aus der Geometrie 
entwickelt haben®). Es gibt bei der Untersuchung von Mannigfaltigkeiten 
ebensolche verschiedene Typen wie in der Geometrie, und es gilt, wie bei 
der Geometrie, das Gemeinsame und das Unterscheidende unabhängig von- 
einander unternommener Forschungen hervorzuheben. Abstrakt genommen 
wäre es im folgenden nur nötig, schlechthin von mehrfach ausgedehnten 
Mannigfaltigkeiten zu reden; aber durch Anknüpfung an die geläufigeren 
räumlichen Vorstellungen wird die Auseinandersetz ng einfacher und ver- 
ständlicher. Indem wir von der Betrachtung der geometrischen Dinge aus- 
gehen und an ihnen als einem Beispiele die allgemeinen Gedanken ent- 
wickeln, verfolgen wir den Gang, den die Wissenschaft in ihrer Ausbildung 
genommen hat, und den bei der Darstellung zugrunde zu legen gewöhnlich 
das Vorteilhafteste ist. 

Eine vorläufige Exposition des im folgenden besprochenen Inhaltes 
ist hier wohl nicht möglich, da sich derselbe kaum in eine knappere 
Form®) fügen will; die Überschriften der Paragraphen werden den all- 
gemeinen Fortschritt des Gedankens angeben. Ich habe zum Schlusse eine 
Reihe von Noten zugefügt, in welchen ich entweder, wo es im Interesse 
der allgemeinen Auseinandersetzung des Textes nützlich schien, besondere 





3) Vgl. Note II. 

*) Vgl. Note III. 

5) Vgl. Note IV. 

®) Diese knappe Form ist ein Mangel der im folgenden gegebenen Darstellung, 
der das Verständnis, wie ich fürchte, wesentlich erschweren wird. Aber dem hätte 
wohl nur durch eine sehr viel weitere Auseinandersetzung abgeholfen werden können, 


in der die Einzeltheorien, die hier nur berührt werden, ausführlich entwickelt worden 
wären. 


462 Zum Erlanger Programm. 


Punkte weiterentwickelt habe, oder in denen ich bemüht war, den abstrakt 
mathematischen Standpunkt, der für die Betrachtungen des Textes maß- 
gebend ist, gegen verwandte abzugrenzen. 


8.2; 
Gruppen von räumlichen Transformationen. Hauptgruppe. Aufstellung 
eines allgemeinen Problems. 


Der wesentlichste Begriff, der bei den folgenden Auseinandersetzungen 
notwendig ist, ist der einer Gruppe von räumlichen Änderungen. 

Beliebig viele Transformationen eines Raumes’) ergeben zusammen- 
gesetzt immer wieder eine Transformation. Hat nun eine gegebene Reihe 
von Transformationen die Eigenschaft, daß jede Änderung, die aus den ihr 
angehörigen durch Zusammensetzung hervorgeht, ihr selbst wieder angehört, 
so soll die Reihe eine Transformationsgruppe?) genannt werden. 

Ein Beispiel für eine Transformationsgruppe bildet die Gesamtheit 
der Bewegungen (jede Bewegung als eine auf den ganzen Raum ausgeführte 
Operation betrachtet). Eine in ihr enthaltene Gruppe bilden etwa die 
Rotationen um einen Punkt?). Eine Gruppe, welche umgekehrt die Gruppe 
der Bewegungen umfaßt, wird durch die Gesamtheit der Kollineationen 
vorgestellt. Die Gesamtheit der dualistischen Umformungen bildet dagegen 
keine Gruppe — denn zwei dualistische Umformungen ergeben zusammen 
wieder eine Kollineation —, wohl aber wird wieder eine Gruppe erzeugt, 
wenn man die Gesamtheit der dualistischen mit der Gesamtheit der 
kollinearen zusammenfügt!). 





”) Wir denken von den Transformationen immer die Gesamtheit der räumlichen 
Gebilde gleichzeitig betroffen und reden deshalb schlechthin von Transformationen 
des Raumes. Die Transformationen können, wie z. B. die dualistischen, statt der 
Punkte andere Elemente einführen; es wird dies im Texte nicht unterschieden. 

8) Begriffsbildung wie Bezeichnung sind herübergenommen von der Substitutions- 
theorie, in der nur an Stelle der Transformationen eines kontinuierlichen Gebietes 
die Vertauschungen einer endlichen Zahl diskreter Größen auftreten. [Diese Definition 
bedarf noch der Ergänzung. Bei den Gruppen des Textes wird nämlich stillschweigend 
vorausgesetzt, daß dieselben neben jeder Operation, die sie enthalten mögen, immer 
auch deren inverse enthalten; dies ist aber, wie wohl zuerst Lie hervorhob, bei un- 
endlicher Zahl der Operationen keineswegs eine Folge des Gruppenbegriffs als solchen; 
unsere Voraussetzung sollte also der im Texte gegebenen Definition dieses Begrifis 
ausdrücklich zugefügt werden. 1893. ] 

®) Camille Jordan hat alle Gruppen aufgestellt, die überhaupt in der Gruppe 
der Bewegungen enthalten sind: Sur les groupes de mouvements. Annali di Matematica. 
Bd. 2 (1869). 

10), Die Transformationen einer Gruppe brauchen übrigens durchaus nicht, wie 
das bei den im Texte zu nennenden Gruppen allerdings immer der Fall sein wird, in 
stetiger Aufeinanderfolge vorhanden zu sein. Eine Gruppe bildet z. B. auch die end- 
liche Reihe von Bewegungen, die einen regelmäßigen Körper mit sich selbst zur Deckung 
bringen, oder die unendliche, aber diskrete Reihe, welche eine Sinuslinie sich selber 
superponiert. 


XXVIH. Das Erlanger Programm. 463 


Es gibt nun räumliche Transformationen, welche die geometrischen 
Eigenschaften räumlicher Gebilde überhaupt ungeändert lassen. Geo- 
metrische Eigenschaften sind nämlich ihrem Begriffe nach unabhängig von 
der Lage, die das zu untersuchende Gebilde im Raume einnimmt, von 
seiner absoluten Größe, endlich auch von dem Sinne'!), in welchem seine 
Teile geordnet sind. Die Eigenschaften eines räumlichen Gebildes. bleiben 
also ungeändert durch alle Bewegungen des Raumes, durch seine Ähnlich- 
keitstransformationen, durch den Prozeß der Spiegelung, sowie durch alle 
Transformationen, die sich aus diesen zusammensetzen. Den Inbegriff aller 
dieser Transformationen bezeichnen wir als die Hauptgruppe'”) räumlicher 
Änderungen; geometrische Eigenschaften werden durch die Transformationen 
der Hauptgruppe nicht geändert. Auch umgekehrt kann man sagen: Geo- 
metrische Eigenschaften sind durch ihre Unveränderlichkeit gegenüber den 
Transformationen der Hauptgruppe charakterisiert. Betrachtet man näm- 
lich den Raum einen Augenblick als unbeweglich usw., als eine starre 
Mannigfaltigkeit, so hat jede Figur ein individuelles Interesse; von den 
Eigerischaften, die sie als Individuum hat, sind es nur die eigentlich geo- 
metrischen, welche bei den Änderungen der Hauptgruppe erhalten bleiben. 
Dieser hier etwas unbestimmt formulierte Gedanke wird im weiteren Ver- 
laufe der Auseinandersetzung deutlicher erscheinen. 


Streifen wir jetzt das mathematisch unwesentliche sinnliche Bild ab, 
und erblicken im Raume nur eine mehrfach ausgedehnte Mannigfaltigkeit, 
also, indem wir an der gewohnten Vorstellung des Punktes als Raumelement 
festhalten, eine dreifach ausgedehnte. Nach Analogie mit den räumlichen 
Transformationen reden wir von Transformationen der Mannigfaltigkeit; 
auch sie bilden Gruppen. Nur ist nicht mehr, wie im Raume, eine Gruppe 
vor den übrigen durch ihre Bedeutung ausgezeichnet; jede Gruppe ist mit 
jeder anderen gleichberechtigt. Als Verallgemeinerung der Geometrie ent- 
steht so das folgende umfassende Problem: 


Es ist eine Mannigfaltigkeit und in derselben eine Transformations- 
gruppe gegeben; man soll die der Mannigfaltigkeit angehörigen Gebilde 
hinsichtlich solcher Eigenschaften untersuchen, die durch die Trans- 
formationen der Gruppe nicht geändert werden. 

In Anlehnung an die moderne Ausdrucksweise, die man freilich nur 
auf eine bestimmte Gruppe, die Gruppe aller linearen Umformungen, zu 
beziehen pflegt, mag man auch so sagen: 





1!) Unter dem Sinne verstehe ich hier die Eigenschaft der Anordnung, welche 
den Unterschied von der symmetrischen Figur (dem Spiegelbilde) begründet. Ihrem 
Sinne nach unterschieden sind also z. B. eine rechts- und eine linksgewundene 
Schraubenlinie. 

12) Daß diese Transformationen eine Gruppe bilden, ist begrifflich notwendig. 


464 Zum Erlanger Programm. 


Es ist eine Mannigfaltigkeit und in derselben eine Transformations- 
gruppe gegeben. Man entwickle die auf die Gruppe bezügliche Invarianten- 
theorie"?). | 

Dies ist das allgemeine Problem, welches die gewöhnliche Geometrie 
nicht nur, sondern namentlich auch die hier zu nennenden neueren geo- 
metrischen Methoden und die verschiedenen Behandlungsweisen beliebig 
ausgedehnter Mannigfaltigkeiten unter sich begreift. Was besonders betont 
sein mag, ist die Willkürlichkeit, die hinsichtlich der Wahl der zu adjun- 
gierenden Transformationsgruppe besteht, und die daraus fließende und in 
diesem Sinne zu verstehende gleiche Berechtigung aller sich unter die all- 
gemeine Forderung subsumierenden Betrachtungsweisen. 


8 2. | 
Transformationsgruppen, von denen die eine die andere umfaßt, 
werden nacheinander adjungiert. Die verschiedenen Typen geometrischer 
Forschung und ihr gegenseitiges Verhältnis. 


Da die geometrischen Eigenschaften räumlicher Dinge durch alle Trans- 
formationen der Hauptgruppe ungeändert bleiben, so ist es an und für sich 
absurd, nach solchen Eigenschaften derselben zu fragen, bei denen dies nur 
gegenüber einem Teile dieser Transformationen der Fall ist. Diese Frage- 
stellung wird indes berechtigt, ob auch nur formal, wenn wir die räum- 
lichen Gebilde in ihrer Beziehung zu fest gedachten Elementen untersuchen. 
Betrachten wir z. B., wie in der sphärischen Trigonometrie, die räumlichen 
Dinge unter Auszeichnung eines Punktes. Dann ist zunächst die Forderung: 
die unter Adjunktion der Hauptgruppe invarianten Eigenschaften nicht mehr 
der räumlichen Dinge an sich, sondern des von ihnen mit dem gegebenen 
Punkte gebildeten Systems zu entwickeln. Aber dieser Forderung können 
wir die andere Form erteilen: Man untersuche die räumlichen Gebilde an 
sich hinsichtlich solcher Eigenschaften, welche ungeändert bleiben durch 
diejenigen Transformationen der Hauptgruppe, welche noch stattfinden 
können, wenn wir den Punkt festhalten. Mit anderen Worten: Es ist 





13) [Bei diesem Term ist hier und in der Folge keineswegs an die Frage der 
jeweiligen rationalen ganzen Invarianten irgendwelcher vorgelegter Formen bzw. der 
zwischen ihnen bestehenden rationalen, ganzen Syzygien gedacht. Diese Frage war 
mir 1872, entsprechend meinem Verkehr mit Clebsch (der erst 1871 seine Theorie 
der binären Formen herausgegeben hatte) selbstverständlich durchaus geläufig. Trotz- 
dem fühlte ich mich an sie keineswegs gebunden. Ich verstand unter der Invarianten- 
theorie einer Gruppe schlechtweg die Lehre von den bei der Gruppe unverändert 
bleibenden Beziehungen irgendwelcher vorgelegter Gebilde. Man vergleiche auch die 
ausdrückliche Erklärung in $ 5 meiner zweiten Abhandlung über Nicht-Euklidische 
Geometrie, Abb. XVIII der vorliegenden Ausgabe. Zur Invariantentheorie der Elementar- 
geometrie gehören in diesem Sinne beispielsweise die gesamte ebene und sphärische 
Trigonometrie, die doch gewiß mit dem genannten Schema nicht erschöpft sind. K.] 


XXVII. Das Erlanger Programm. 465 


dasselbe, ob wir die räumlichen Gebilde im Sinne der Hauptgruppe untersuchen 
und ihnen den gegebenen Punkt hinzufügen, oder ob wir, ohne ihnen irgendein 
Gegebenes hinzuzufügen, die Hauptgruppe durch die in ihr enthaltene Gruppe 
ersetzen, deren Transformationen den bez. Punkt ungeändert lassen. 

Es ist dies ein in der Folge häufig angewandtes Prinzip, das wir deshalb 
gleich hier allgemein formulieren wollen; etwa in der folgenden Weise: 

Es sei eine Mannigfaltigkeit und zu ihrer Behandlung eine auf sie 
bezügliche Transformationsgruppe gegeben. Es werde das Problem vor- 
gelegt, die in der Mannigfaltigkeit enthaltenen Gebilde hinsichtlich eines 
gegebenen Gebildes zu untersuchen. So kann man entweder dem Systeme 
der Gebilde das gegebene hinzufügen, und es fragt sich dann nach den 
Eigenschaften des erweiterten Systems im Sinne der gegebenen Gruppe — 
oder, man lasse das System unerweitert, beschränke aber die Trans- 
formationen, die man bei der Behandlung zugrunde legt, auf diejenigen 
in der gegebenen Gruppe enthaltenen, welche das gegebene Gebilde un- 
geändert lassen (und die notwendig wieder eine Gruppe bilden). 

Im Gegensatze zu der zu Anfang des Paragraphen aufgeworfenen 
Frage beschäftige uns nun die umgekehrte, die von vornherein ver- 
ständlich ist. Wir fragen nach denjenigen Eigenschaften räumlicher 
Dinge, welche bei einer Transformationsgruppe erhalten bleiben, die die 
Hauptgruppe als einen Teil umfaßt. Jede Eigenschaft, die wir bei einer 
solchen Untersuchung finden, ist eine geometrische Eigenschaft des Dings 
an sich, aber das Umgekehrte gilt nicht. Bei der Umkehr tritt vielmehr 
das eben vorgetragene Prinzip in Kraft, wobei die Hauptgruppe nun die 
kleinere Gruppe ist. Wir erhalten so: 

Ersetzt man die Hauptgruppe durch eine umfassendere Gruppe, so 
bleibt nur ein Teil der geometrischen Eigenschaften erhalten. Die übrigen 
erscheinen nicht mehr als Eigenschaften der räumlichen Dinge an sich, 
sondern als Eigenschaften des Systems, welches hervorgeht, wenn man 
denselben ein ausgezeichnetes Gebilde hinzufügt. Dieses ausgezeichnete 
Gebilde ist (soweit es überhaupt ein bestimmtes'*) ist) dadurch definiert, 
daß es, fest gedacht, dem Raume unter den Transformationen der ge- 
gebenen Gruppe nur noch die Transformationen der Hauptgruppe gestattet. 





14) Man erzeugt ein solches Gebilde beispielsweise, indem man auf ein beliebiges 
Anfangselement, das durch keine Transformation der gegebenen Gruppe in sich selbst 
überzuführen ist, die Transformätionen der Hauptgruppe anwendet. [Der Satz des 
Textes bildet ohne Zweifel den Mittelpunkt aller Überlegungen meines Programms 
und ist dementsprechend von neueren Autoren mit dem besonderen Namen des 
„Adjunktionssatzes“ belegt worden. Aber er wird in dem in der vorigen Fußnote an- 
gedeuteten Sinne vielfach mißverstanden, Indem man nur an rationale ganze In- 
varianten bzw. Syzygien denkt, nennt man den Satz eine bloße Vermutung, oder 
konstruiert auch Fälle, wo er sich, in falscher Weise interpretiert, nicht bewährt. 
Man sucht in dem Satze eben viel mehr, als gemeint ist. Ich meine genau das, was 

Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. T. 30 


466 Zum Erlanger Programm. 


In diesem Satze beruht die Eigenart der hier zu besprechenden 
neueren geometrischen Richtungen und ihr Verhältnis zur elementaren 
Methode. Sie sind dadurch eben zu charakterisieren, daß sie an Stelle der 
Hauptgruppe eine erweiterte Gruppe räumlicher Umformungen der Be- 
trachtung zugrunde legen. Ihr gegenseitiges Verhältnis ist, sofern sich 
ihre Gruppen einschließen, durch einen entsprechenden Satz bestimmt, 
Dasselbe gilt von den verschiedenen hier zu betrachtenden Behandlungs- 
weisen mehrfach ausgedehnter Mannigfaltigkeiten. Es soll dies nun an den 
einzelnen Methoden gezeigt werden, wobei denn die Sätze, die in diesem 
und dem vorigen Paragraphen allgemein hingestellt wurden, ihre Er- 
läuterung an konkreten Gegenständen finden. 


8 93. 
Die projektivische Geometrie. 

Jede räumliche Umformung, die nicht gerade der Hauptgruppe an- 
gehört, kann dazu benutzt werden, um Eigenschaften bekannter Gebilde 
auf neue Gebilde zu übertragen. So verwerten wir die Geometrie der 
Ebene für die Geometrie der Flächen, die sich auf die Ebene abbilden 





Cayley im Sixth Memoir upon Quantics 1859 (Phil.Trans. 1859, Coll.Pap., Bd. II,S.560 ff., 
insbesondere die Schlußbemerkung S. 592) für den besonderen Fall der projektiven 
Geometrie und der elementaren metrischen Geometrie entwickelt hat und was übrigens 
bereits Laguerre 1853 in seinen oben S. 242—243 abgedruckten Sätzen in mehr parti- 
kulärer Fassung zum Ausdruck brachte. Cayley prägt am Schluß seiner Abhand- 
lung den Satz: „Metrical geometry is a part of descriptive geometry and descriptive 
geometry is all geometry and reciprocally“. Ich will das von mir aus hier in einer 
Fassung ausdrücken, die in ihrer prosaischen Form jedes Mißverständnis ausschließen 
dürfte: Jede Tatsache der elementaren Geometrie läßt sich durch Beziehungen zwischen 
Tetraederkoordinaten beschreiben, sofern man nur hinzunimmt, wie sich in den gerade 
gewählten Koordinaten der Kugelkreis darstellt. 

Vielleicht ist es gut, noch folgendes hinzuzufügen: Der Kugelkreis ist mit einem 
beliebigen nicht zerfallenden Kegelschnitt projektiv, das Koordinatensystem läßt sich 
daher so wählen, daß er in seiner Ebene durch Nullsetzen einer beliebigen ternären qua- 
dratischen Form von nicht verschwindender Determinante dargestellt wird. Wir mögen 
nun etwa statt seiner, als Beispiel, eine in der unendlich fernen Ebene gelegene C, 
mit Spitze nehmen (welche eine W-Kurve ist, d.h. durch eine kontinuierliche Gruppe 
von Kollineationen mit einem Parameter in sich übergeht). Die sämtlichen Punkte 
der unendlich fernen Ebene bleiben bei der @, fest, die durch folgende Formeln ge- 
geben ist: 
st=Iicta, yYlaiyrb, 2=IzFte 
Halten wir nun die C, nur als Ganzes fest, so haben wir eine @, von Kolli- 
neationen und können uns eine zugehörige Geometrie entworfen denken. Will man 
hernach diese Geometrie in die allgemeine projektive Geometrie einordnen, so darf 
man natürlich nicht eine in der unendlich fernen Ebene gelegene beliebige C, ad- 
jungieren (wie sie durch Nullsetzen einer allgemeinen ternären kubischen Form ge- 
geben ist). Vielmehr wird man besagte Form gleich so spezialisiert einführen müssen, 
daß sie, gleich Null gesetzt, eben eine C', mit Spitze vorstellt. Letztere Bedingung 
genügt aber auch, weil alle ©, mit Spitze untereinander projektiv verwandt sind. Und 
so ähnlich in allen weiteren Fällen, die man ersinnen mag. K.] 


XXVII. Das Erlanger Programm. 467 


lassen; so schloß man schon lange vor dem Entstehen einer eigentlichen 
projektivischen Geometrie von den Eigenschaften einer gegebenen Figur 
auf Eigenschaften anderer, die durch Projektion aus ihr hervorgingen. 
Aber die projektivische Geometrie erwuchs erst, als man sich gewöhnte, 
die ursprüngliche Figur mit allen aus ihr projektivisch ableitbaren als 
wesentlich identisch zu erachten und die Eigenschaften, welche sich beim 
Projizieren übertragen, so auszusprechen, daß ihre Unabhängigkeit von der 
mit dem Projizieren verknüpften Änderung in Evidenz tritt. Hiermit war 
denn der Behandlung im Sinne von $ 1 die Gruppe aller projektivischen 
Umformungen zugrunde gelegt und dadurch eben der Gegensatz zwischen 
projektivischer und gewöhnlicher Geometrie geschaffen. 

Ein ähnlicher Entwicklungsgang, wie der hier geschilderte, kann bei 
jeder Art von räumlicher Transformation als möglich gedacht werden; wir 
werden noch öfter darauf zurückkommen. Er hat sich innerhalb der pro- 
jektivischen Geometrie selbst noch nach zwei Seiten vollzogen. Die eine 
Weiterbildung der Auffassung geschah durch Aufnahme der dualistischen 
Umformungen in die Gruppe der zugrunde gelegten Änderungen. Für 
den heutigen Standpunkt sind zwei einander dualistisch entgegenstehende 
Figuren nicht mehr als zwei unterschiedene, sondern als wesentlich die- 
selben Figuren anzusehen. Ein anderer Schritt bestand in der Erweiterung 
der zugrunde gelegten Gruppe kollinearer und dualistischer Umformungen 
durch Aufnahme der bez. imaginären Transformationen. Dieser Schritt 
bedingt, daß man vorher den Kreis der eigentlichen Raumelemente durch 
Hinzunahme der imaginären erweitert habe — ganz dem entsprechend, wie 
die Aufnahme der dualistischen Umformungen in die zugrunde gelegte 
Gruppe die gleichzeitige Einführung von Punkt und Ebene als Raum- 
element nach sich zieht. Es ist hier nicht der Ort, auf die Zweckmäßig- 
keit der Einführung imaginärer Elemente zu verweisen, durch welche allein 
der genaue Anschluß der Raumlehre an das einmal gewählte Gebiet alge- 
braischer Operationen erreicht wird. Dagegen muß betont werden, daß 
der Grund für die Einführung eben in der Betrachtung algebraischer 
Operationen, nicht aber in der Gruppe der projektivischen und dualistischen 
Umformungen liegt. So gut wir uns bei den letzteren auf reelle Trans- 
formationen beschränken können, da schon die reellen Kollineationen und 
dualistischen Transformationen eine Gruppe bilden, — so gut können wir 
imaginäre Raumelemente einführen, auch wenn wir nicht auf projek- 
tivischem Standpunkte stehen, und sollen es, sofern wir prinzipiell alge- 
braische Gebilde untersuchen. 

Wie man vom projektivischen Standpunkte aus die metrischen Eigen- 
schaften aufztifassen hat, bestimmt sich nach dem allgemeinen Satze des 
vorangehenden Paragraphen. Die metrischen Eigenschaften sind als pro- 

30 * 


468 Zum Erlanger Programm. 


jektivische Beziehungen zu einem Fundamentalgebilde, dem unendlich 
fernen Kugelkreise!?), zu betrachten, einem Gebilde, das die Eigenschaft 
hat, nur durch diejenigen Transformationen der projektivischen Gruppe, 
die eben auch Transformationen der Hauptgruppe sind, in sich überzugehen. 
Der so schlechthin ausgesprochene Satz bedarf noch einer wesentlichen Er- 
gänzung, die der Beschränkung der gewöhnlichen Anschauungsweise auf 
reelle Raumelemente (und reelle Transformationen) entspricht. Man muß 
dem Kugelkreise, um diesem Standpunkte gerecht zu werden, noch das 
System der reellen Raumelemente (Punkte) ausdrücklich hinzufügen; Eigen- 
schaften im Sinne der elementaren Geometrie sind projektivisch entweder 
Eigenschaften der Dinge an sich oder Beziehungen zu diesem Systeme der 
reellen Elemente, oder zum Kugelkreise, oder endlich zu beiden. 

Es mag hier noch der Art gedacht werden, wie v. Staudt in seiner 
Geometrie der Lage (1847) die projektivische Geometrie aufbaut — d.h. 
diejenige projektivische Geometrie, welche sich auf Zugrundelegung der 
Gruppe aller reeller projektivisch-dualistischer Umformungen beschränkt ®). 

Es ist bekannt, wie er dabei aus dem gewöhnlichen Anschauungs- 
material nur solche Momente herausgreift, die auch bei projektivischen 
Umformungen erhalten bleiben. Wollte man weiterhin zur Betrachtung 
auch metrischer Eigenschaften übergehen, so hätte man die letzteren ge- 
radezu als Beziehungen zum Kugelkreise einzuführen. Der so vervoll- 
ständigte Gedankengang ist für die hier vorliegenden Betrachtungen insofern 
von großer Bedeutung, als ein entsprechender Aufbau der Geometrie im 
Sinne jeder einzelnen der noch anzuführenden Methoden möglich ist. 


4 
_ Übertragung durch Abbildung. 


Ehe wir in der Besprechung der geometrischen Methoden, die sich 
neben die elementare und die projektivische Geometrie stellen, weiter- 
gehen, mögen allgemein einige Betrachtungen entwickelt werden, die im 
folgenden immer wieder vorkommen und zu denen die bisher berührten 
Dinge bereits hinreichend viele Beispiele liefern. Auf diese Erörterungen 
bezieht sich der gegenwärtige und der nächstfolgende Paragraph. 

Gesetzt, man habe eine Mannigfaltigkeit A unter Zugrundelegung 
einer Gruppe B untersucht. Führt man sodann A durch irgendwelche 
Transformation in eine andere Mannigfaltigkeit A’ über, so wird aus der 





15) Diese Anschauungsweise ist als eine der schönsten Leistungen der franzö- 
sischen Schule zu betrachten; durch sie erst gewinnt die Einteilung in Eigenschaften‘ 
der Lage und Eigenschaften des Maßes, wie man sie gern an die Spitze der projek- 
tivischen Geometrie stellt, einen präzisen Inhalt. 

1) Den erweiterten Kreis, der auch imaginäre Umformungen umspannt, hat 
v. Staudt erst in den „Beiträgen zur Geometrie der Lage“ (1856) zugrunde gelegt. 


XXVII. Das Erlanger Programm. 469 


Gruppe B von Änderungen, die A in sich transformierten, nunmehr eine 


Gruppe B’, deren Transformationen sich auf A’ beziehen. Dann ist es 
ein selbstverständliches Prinzip, daß die Behandlungsweise von A unter 


Zugrundelegung von B die Behandlungswerse von A’ unter Zugrunde- 


legung von B’ ergibt, d. h. jede Eigenschaft, welche ein in A enthaltenes 
Gebilde mit Bezug auf die Gruppe B hat, ergibt eine Eigenschaft des ent- 


sprechenden Gebildes in A’ mit Bezug auf die Gruppe B'. 

Lassen wir z. B. A eine gerade Linie, B die dreifach unendlich vielen 
linearen Transformationen bedeuten, welche dieselbe in sich überführen. 
Die Behandlungsweise von A ist dann eben diejenige, welche die neuere 
Algebra als Theorie der binären Formen bezeichnet. Nun kann man die 


gerade Linie auf einen Kegelschnitt A' der Ebene durch Projektion von 
einem Punkte des letzteren aus beziehen. Aus den linearen Transforma- 
tionen B der Geraden in sich selbst werden dann die linearen Trans- 


formationen B’ des Kegelschnittes in sich selbst, wie man leicht zeigt, 
d. h. diejenigen Änderungen des Kegelschnittes, welche mit den linearen 
Transformationen der Ebene, die den Kegelschnitt in sich überführen, ver- 
knüpft sind. 

Es ist nun aber nach dem Prinzip des zweiten Paragraphen'!’) das- 
selbe: nach der Geometrie auf einem Kegelschnitte zu fragen, wenn man 
sich den Kegelschnitt als fest denkt und nur auf diejenigen linearen 
Transformationen der Ebene achtet, welche ihn in sich überführen, oder 
die Geometrie auf dem Kegelschnitte zu studieren, indem man überhaupt 
die linearen Transformationen der Ebene betrachtet und sich den Kegel- 
schnitt mit ändern läßt. Die Eigenschaften, welche wir an den Punkt- 
systemen auf dem Kegelschnitte auffaßten, sind mithin im gewöhnlichen 
Sinne projektivische. Die Verknüpfung der letzten Überlegung mit dem 
eben abgeleiteten Resultate gibt also: 

Binäre Formentheorie und projektivische Geometrie der Punktsysteme 
auf einem Kegelschnitte ist dasselbe, d.h. jedem binären Satze entspricht 
ein Satz über derartige Punktsysteme und umgekehrt '*). 

Ein anderes Beispiel, welches geeignet ist, diese Art von Betrach- 
tungen zu veranschaulichen, ist das folgende: Wenn man eine Fläche 
zweiten Grades mit einer Ebene durch stereographische Projektion in Ver- 
bindung setzt, so tritt auf der Fläche ein Fundamentalpunkt auf: der 
Projektionspunkt, in der Ebene sind es zwei: die Bilder der durch den 





‘) Wenn man will, ist hier das Prinzip unter etwas erweiterter Form angewendet. 

18, Statt des Kegelschnittes in der Ebene kann man mit gleichem Erfolge eine 
Raumkurve dritter Ordnung einführen, überhaupt bei n Dimensionen etwas Ent- 
sprechendes aufstellen. 


- 


470 Zum Erlanger Programm. 


Projektionspunkt gehenden Erzeugenden. Man zeigt nun ohne weiteres: 
Die linearen Transformationen der Ebene, welche die beiden Fundamental- 
punkte derselben ungeändert lassen, gehen durch die Abbildung in lineare 
Transformationen der Fläche zweiten Grades in sich selbst über, aber nur 
in diejenigen, welche den Projektionspunkt ungeändert lassen. Unter 
linearen Transformationen der Fläche in sich selbst sind dabei diejenigen 
Änderungen verstanden, welche die Fläche erfährt, wenn man lineare 
Raumtransformationen ausführt, welche die Fläche mit sich selbst zur 
Deckung bringen. Hiernach wird also die projektivische Untersuchung 
einer Ebene unter Zugrundelegung zweier Punkte und die projektivische 
Untersuchung einer Fläche zweiten Grades unter Zugrundelegung eines 
Punktes identisch. Die erstere ist nun — sofern man imaginäre Elemente 
mit in Betracht zieht — nichts anderes, als die Untersuchung der Ebene 
im Sinne der elementaren Geometrie. Denn die Hauptgruppe der ebenen 
Transformationen besteht eben in den linearen Umformungen, welche ein 
Punktepaar (die unendlich fernen Kreispunkte) ungeändert lassen. Wir er- 
halten also schließlich: 

Die elementare Geometrie der Ebene und die projektivische Unier- 
suchung einer Fläche zweiten Grades unter Hinzunahme eines ihrer 
Punkte sind dasselbe. 

Diese Beispiele ließen sich beliebig vervielfachen??); die beiden hier 
entwickelten sind gewählt worden, da wir in der Folge noch Gelegenheit 
haben werden, auf dieselben zurückzukommen. 


85. 


Von der Willkürlichkeit in der Wahl des Raumelements. 
Das Hessesche Übertragungsprinzip. Die Liniengeometrie. 


Als Element der geraden Linie, der Ebene, des Raumes, überhaupt 
einer zu untersuchenden Mannigfaltigkeit kann statt des Punktes jedes 
in der Mannigfaltigkeit enthaltene Gebilde: die Punktgruppe, event. die 
Kurve, die Fläche usw. verwandt werden?°). Indem über die Zahl will- 
kürlicher Parameter, von denen man diese Gebilde abhängig setzen will, 
von vornherein gar nichts feststeht, erscheinen Linie, Ebene, Raum usw. 
je nach der Wahl des Elementes mit beliebig vielen Dimensionen behaftet. 
Aber solange wir der geometrischen Untersuchung dieselbe Gruppe von 





19) Bez. anderer Beispiele, sowie namentlich der Erweiterungen auf mehr Dimen- 
sionen, deren die angeführten fähig sind, verweise ich auf bez. Auseinandersetzungen 
in einem Aufsatze von mir: Über Liniengeometrie und metrische Geometrie. Math. 
Annalen, Bd. 5 [s. Abh. VIII dieser Ausgabe], sowie auf die sogleich noch zu nennen- 
den Lieschen Arbeiten. 

20) Vgl. Note III. 


XXVII. Das Erlanger Programm. 471 


Änderungen zugrunde legen, bleibt der Inhalt der Geometrie unverändert, 
das heißt, jeder Satz, der bei einer Annahme des Raumelements sich er- 
gab, ist auch ein Satz bei beliebiger anderer Annahme, nur die Anord- 
nung und Verknüpfung der Sätze ist geändert. 

Das Wesentliche ist also die Transformationsgruppe; die Zahl der 
Dimensionen, die wir einer Mannigfaltigkeit beilegen wollen, erscheint als 
etwas Sekundäres. Ä 

Diese Verknüpfung dieser Bemerkung mit dem Prinzip des vorigen 
Paragraphen ergibt eine Reihe schöner Anwendungen, von denen hier 
einige entwickelt werden mögen, da diese Beispiele mehr als alle langen 
Auseinandersetzungen geeignet scheinen, den Sinn der allgemeinen Be- 
trachtung darzulegen. 

Die projektivische Geometrie auf der Geraden (die Theorie der binären 
Formen) ist nach dem vorigen Paragraphen mit der projektivischen Geo- 
metrie auf dem Kegelschnitte gleichbedeutend. Auf letzterem mögen wir 
jetzt statt des Punktes das Punktepaar als Element betrachten. Die Ge- 
samtheit der Punktepaare des Kegelschnitts läßt sich aber auf die Gesamt- 
heit der Geraden der Ebene beziehen, indem man jede Gerade dem Punkte- 
paare zuordnet, in welchem sie den Kegelschnitt trifit. Bei dieser Ab- 
bildung gehen die linearen Transformationen des Kegelschnitts in sich selbst 
in die linearen Transformationen der (aus Geraden bestehend gedachten) 
Ebene über, welche den Kegelschnitt ungeändert lassen. Ob wir aber die 
aus den letzteren bestehende Gruppe betrachten, oder die Gesamtheit der 
linearen Transformationen der Ebene zugrunde legen und den zu unter- 
suchenden Gebilden der Ebene den Kegelschnitt allemal hinzufügen, ist nach 
$ 2 gleichbedeutend. Indem wir alle diese Überlegungen zusammennehmen, 
haben wir: 

Die Theorie der binären Formen und die projektivische Geometrie 
der Ebene unter Zugrundelegung eines Kegelschnittes sind gleichbedeutend. 

Da endlich projektivische Geometrie der Ebene unter Zugrundelegung 
eines Kegelschnittes wegen der Gleichheit der Gruppe mit der projektivischen 
Maßgeometrie koinzidiert, die man in der Ebene auf einen Kegelschnitt 
gründen kann°!), so mögen wir auch so sagen: 

Die Theorie der binären Formen und die allgemeine projektivische 
Maßgeometrie in der Ebene sind dasselbe. 

Statt des Kegelschnitts in der Ebene können wir in der vorstehenden 
Betrachtung die Kurve dritter Ordnung im Raume setzen usw., doch mag 
dies unausgeführt bleiben. Der hier dargelegte Zusammenhang zwischen 
der Geometrie der Ebene, weiterhin des Raumes oder einer beliebig aus- 





0) Vgl. Note V. 


472 Zum Erlanger Programm. 


gedehnten Mannigfaltigkeit deckt sich im wesentlichen mit dem von Hesse 
vorgeschlagenen Übertragungsprinzipe (Borchardts Journal, Bd. 66 (1866)). 

Ein Beispiel ganz ähnlicher Art ergibt die projektivische Geometrie 
des Raumes, oder, anders ausgedrückt, die Theorie der quaternären Formen. 
Faßt man die gerade Linie als Raumelement und erteilt ihr, wie in der 
Liniengeometrie geschieht, sechs homogene Koordinaten, zwischen denen 
eine Bedingungsgleichung vom zweiten Grade stattfindet, so erscheinen die 
linearen und dualistischen Transformationen des Raumes als diejenigen 
linearen Transformationen der unabhängig gedachten sechs Veränderlichen, 
welche die Bedingungsgleichung in sich überführen. Durch eine Ver- 
knüpfung ähnlicher Überlegungen, wie sie soeben entwickelt wurden, erhält 
man hieraus den Satz: 

Die Theorie der quaternären Formen deckt sich mit der projektivischen 
Maßbestimmung in einer durch sechs homogene Veränderliche erzeugten 
Mannigfaltigkeit. 

Wegen der näheren Ausführung dieser Auffassung verweise ich auf einen 
demnächst in den Math. Annalen, Bd. 6 [s. Abh. XVIII dieser Ausgabe] er- 
scheinenden Aufsatz: „Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie“ 
zweite Abhandlung), sowie auf eine Note am Schlusse dieser Mitteilung??). 

Ich knüpfe an die vorstehenden Auseinandersetzungen noch zwei Be- 
merkungen, von denen die erste zwar schon implizite in dem Bisherigen 
enthalten ist, aber ausgeführt werden soll, weil der Gegenstand, auf den 
sie sich bezieht, zu leicht Mißverständnissen ausgesetzt ist. 


Wenn wir beliebige Gebilde als Raumelemente einführen, so erhält der 
Raum beliebig viele Dimensionen. Wenn wir dann aber an der uns ge- 
läufigen (elementaren oder projektivischen) Anschauungsweise festhalten, 
so ist die Gruppe, welche wir für die mehrfach ausgedehnte Mannigfaltigkeit 
zugrunde zu legen haben, von vornherein gegeben; es ist eben die Haupt- 
gruppe bez. die Gruppe der projektivischen Umformungen. Wollten wir 
eine andere Gruppe zugrunde legen, so müßten wir von der gewöhnlichen 
bez. der projektivischen Anschauung abgehen. So richtig es also ist, daß 
bei geschickter Wahl der Raumelemente der Raum Mannigfaltigkeiten von 
beliebig vielen Ausdehnungen repräsentiert, so wichtig ist es, hinzuzufügen, 
daß bei dieser Repräsentation entweder von vornherein eine bestimmte 
Gruppe der Behandlung der Mannigfaltigkeiten zugrunde zu legen ist, 
oder daß wir, wollen wir über die Gruppe verfügen, unsere geometrische 
Auffassung entsprechend auszubilden haben. — Es könnte, ohne diese 
Bemerkung, z. B. eine Repräsentation der Liniengeometrie in der folgen- 
den Weise gesucht werden. Die Gerade erhält in der Liniengeometrie 





22) Vgl. Note VI. 


XXVI. Das Erlanger Programm. 473 


sechs Koordinaten, ebensoviele Koeffizienten besitzt der Kegelschnitt in der 
Ebene. Das Bild der Liniengeometrie würde also die Geometrie in einem 
Kegelschnittsysteme sein, das aus der Gesamtheit der Kegelschnitte durch 
eine quadratische Gleichung zwischen den Koeffizienten ausgesondert wird. 
Das ist richtig, sowie wir als Gruppe der ebenen Geometrie die Gesamt- 
heit der Transformationen zugrunde legen, die durch lineare Umformungen 
der Kegelschnittskoeffizienten repräsentiert werden, welche die quadratische 
Bedingungsgleichung in sich überführen. Halten wir aber an der elemen- 
taren bez. der projektivischen Auffassung der ebenen Geometrie fest, so 
haben wir eben kein Bild. 

Die zweite Bemerkung bezieht sich auf folgende Begrifisbildung. Sei 
im Raume irgendeine Gruppe, etwa die Hauptgruppe gegeben. So wähle 
man ein einzelnes räumliches Gebilde, etwa einen Punkt, oder eine Gerade, 
oder auch ein Ellipsoid usw. aus und wende auf dasselbe alle Trans- 
formationen der Hauptgruppe an. Man erhält dann eine mehrfach unend- 
liche Mannigfaltigkeit mit einer Anzahl von Dimensionen, die im all- 
gemeinen gleich der Zahl der in der Gruppe enthaltenen willkürlichen 
Parameter ist, die in besonderen Fällen herabsinkt, wenn nämlich das 
ursprünglich gewählte Gebilde die Eigenschaften besitzt, durch unendlich 
viele Transformationen der Gruppe in sich übergeführt zu werden. Jede 
so erzeugte Mannigfaltigkeit heiße mit Bezug auf die erzeugende Gruppe 
ein Körper”). Wollen wir nun den Raum im Sinne der Gruppe unter- 
suchen und dabei bestimmte Gebilde als Raumelemente auszeichnen, und 
wollen wir nicht, daß Gleichberechtigtes ungleichartig dargestellt werde, 
so müssen wir die Raumelemente ersichtlich so wählen, daß ihre Mannig- 
faltigkeit entweder selbst einen Körper bildet oder in Körper zerlegt 
werden kann”*). Von dieser evidenten Bemerkung soll später ($ 9) eine 
Anwendung gemacht werden. Der Körperbegriff selbst wird im Schluß- 


 paragraphen in Verbindung mit verwandten Begriffen noch einmal zur 


Sprache kommen. 





“2) Ich wähle den Namen nach dem Vorgange von Dedekind, der in der 
Zahlentheorie ein Zahlengebiet als Körper bezeichnet, wenn es aus gegebenen Ele- 
menten durch gegebene Operationen entstanden ist. (Zweite Auflage von Dirichlets 
Vorlesungen über Zahlentheorie.) 

4) [Im Texte ist nieht hinreichend beachtet, daß die vorgelegte Gruppe so- 
genannte ausgezeichnete Untergruppen enthalten kann. Bleibt ein geometrisches Ge- 


bilde bei den Operationen einer ausgezeichneten Untergruppe ungeändert, so gilt das 


Gleiche für alle Gebilde, die aus ihm durch die Operationen der Gesamtgruppe hervor- 
gehen, d. h. für alle Gebilde des aus ihm entspringenden Körpers. Ein so be- 
schaffener Körper würde aber zur Darstellung der Operationen der Gruppe durchaus 
ungeeignet sein. Es sind also im Texte nur solche Körper zuzulassen, die aus Raum- 
elementen entstehen, welche bei keiner einzigen ausgezeichneten Untergruppe der vor- 
gelegten Gruppe ungeändert bleiben. (1893). ] 


474 Zum Erlanger Programm. 


S 6. 
Die Geometrie der reziproken Radien. Die Interpretation von © + iy. 


Wir kehren mit diesem Paragraphen zur Besprechung der verschiedenen 
Richtungen der geometrischen Forschung zurück, wie sie in $8$ 2,3 be- 
gonnen wurde. 


Als ein Seitenstück zu den Betrachtungsweisen der projektivischen 
Geometrie kann man in vielfacher Hinsicht eine Klasse geometrischer Über- 
legungen betrachten, bei denen von der Umformung durch reziproke Radien 
fortlaufender Gebrauch gemacht wird. Es gehören hierher die Untersuchungen 
über die sog. Zykliden und anallagmatischen Flächen, über die allgemeine 
Theorie der Orthogonalsysteme, ferner Untersuchungen über das Potential usw. 
Wenn man die in denselben enthaltenen Betrachtungen noch nicht gleich 
den projektivischen zu einer besonderen Geometrie zusammengefaßt hat, 
die dann als Gruppe die Gesamtheit derjenigen Umformungen zugrunde 
zu legen hätte, welche durch Verbindung der Hauptgruppe mit der Trans- 
formation durch reziproke Radien entstehen, so ist das wohl dem zufälligen 
Umstande zuzuschreiben, daß die genannten Theorien seither nicht im Zu- 
sammenhange dargestellt worden sind; den einzelnen Autoren, die in dieser 
Richtung arbeiteten, wird eine solche methodische Auffassung nicht fern 
gelegen haben. 


Die Parallele zwischen dieser Geometrie der reziproken Radien und 
der projektivischen ergibt sich, sowie einmal die Frage nach einem Ver- 
gleiche vorhanden ist, von selbst, und es mag daher nur ganz im allgemeinen 
auf die folgenden Punkte aufmerksam gemacht werden: 


In der projektivischen Geometrie sind Punkt, Gerade, Ebene die 
Elementarbegriffe. Kreis und Kugel sind nur spezielle Fälle von Kegel- 
schnitt und Fläche zweiten Grades. Das unendlich Ferne der elementaren 
Geometrie erscheint als Ebene; das Fundamentalgebilde, auf welches sich 
die elementare Geometrie bezieht, ist ein unendlich ferner, imaginärer 
Kegelschnitt. 


In der Geometrie der reziproken Radien sind Punkt, Kreis und Kugel 
die Elementarbegriffe. Gerade und Ebene sind spezielle Fälle der letzteren, 
dadurch charakterisiert, daß sie einen, im Sinne der Methode übrigens nicht 
weiter ausgezeichneten Punkt, den unendlich fernen Punkt, enthalten. Die 
elementare Geometrie erwächst, sowie man diesen Punkt fest denkt. 


Die Geometrie der reziproken Radien ist einer Einkleidung fähig, 
welche sie neben die Theorie der binären Formen und die Liniengeometrie 
stellt, falls man die letzteren in der Weise behandelt, wie das im vorigen 
Paragraphen angedeutet wurde. Wir mögen zu diesem Zwecke die Be- 


XXVII. Das Erlanger Programm. 475 


trachtung zunächst auf ebene Geometrie und also auf Geometrie der rezi- 
proken Radien in der Ebene?”) beschränken. 

Es wurde bereits des Zusammenhangs gedacht, der zwischen der ele- 
mentaren Geometrie der Ebene und der projektivischen Geometrie der mit 
einem ausgezeichneten Punkte versehenen Fläche zweiten Grades besteht 
($4). Sieht man von dem ausgezeichneten Punkte ab und betrachtet also 
die projektivische Geometrie auf der Fläche an sich, so hat man ein Bild 
der Geometrie der reziproken Radien in der Ebene. Denn man überzeugt 
sich leicht?®), daß der Transformationsgruppe der reziproken Radien in der 
Ebene vermöge der Abbildung der Fläche zweiten Grades die Gesamtheit 
der linearen Transformationen der letzteren in sich selbst entspricht. Man 
hat also: 

Geometrie der reziproken Radien in der Ebene und projektivische 
Geometrie auf einer Fläche zweiten Grades ist dasselbe, 
und ganz entsprechend: 

Geometrie der reziproken Radien im Raume ist mit der projektivischen 
Behandlung einer Mannigfaltigkeit gleichbedeutend, die durch eine quadra- 
tische Gleichung zwischen fünf homogenen Veränderlichen dargestellt wird. 

Die Raumgeometrie ist also durch die Geometrie der reziproken Radien 
in ganz dieselbe Verbindung mit einer Mannigfaltigkeit von vier Dimen- 
sionen gesetzt, wie vermöge der Liniengeometrie mit einer Mannigfaltig- 
keit von fünf Ausdehnungen. 

Die Geometrie der reziproken Radien in der Ebene gestattet, sofern 
man nur auf reelle Transformationen achten will, noch nach einer anderen 
Seite eine interessante Darstellung resp. Verwendung. Breitet man nämlich 
eine komplexe Variable x -+y in gewöhnlicher Weise in der Ebene aus, 
so entspricht ihren linearen Transformationen die Gruppe der reziproken 
Radien, mit der erwähnten Beschränkung auf das Reelle?”). Die Unter- 
suchung der Funktionen einer komplexen Veränderlichen, die beliebigen 





25) Geometrie der reziproken Radien auf der Geraden ist mit der projektivischen 
Untersuchung der Geraden gleichbedeutend, da die bez. Umformungen die nämlichen 
sind. Man kann daher auch in der Geometrie der reziproken Radien von einem Doppel- 
verhältnisse von vier Punkten einer Geraden und weiterhin eines Kreises reden. 

26) Vgl. die bereits genannte Arbeit: Über Liniengeometrie und metrische Geo- 
metrie. Math. Annalen, Bd. 5 [s. Abh. VIII dieser Ausgabe |. 

2”) [Die Ausdrucksweise des Textes ist ungenau. Den linearen Transformationen 
= ni (wo z’=x’+iy’, z=x-+iy) entsprechen nur diejenigen Operationen aus 
der Gruppe der reziproken Radien, bei denen keine Umlegung der Winkel stattfindet 
(bei denen die beiden Kreispunkte der Ebene nicht miteinander vertauscht werden). 
Will man die Gesamtgruppe der reziproken Radien umspannen, so hat man den ge- 
nannten Transformationen noch die anderen (nicht minder wichtigen) hinzuzufügen: 
„Et B 


re wo z’ wieder =x’+iy’, z aber =x—iy. (1898).) 


476 | Zum Erlanger Programm. 


linearen Transformationen unterworfen gedacht ist, ist aber nichts anderes, 
als was bei einer etwas abgeänderten Darstellungsweise Theorie der binären 
Formen genannt wird. Also: 

Die Theorie der binären Formen findet ihre Darstellung durch die 
Geometrie der reziproken Radien in der reellen Ebene, so zwar, daß auch 
die komplexen Werte der Variabeln repräsentiert werden. 

Von der Ebene mögen wir, um in den gewohnteren Vorstellungskreis 
der projektivischen Umformungen zu gelangen, zur Fläche zweiten Grades 
aufsteigen. Da wir nur reelle Elemente der Ebene betrachteten, ist es nicht 
mehr gleichgültig, wie man die Fläche wählt; sie ist ersichtlich nicht 
geradlinig zu nehmen. Insbesondere können wir uns dieselbe — wie man 
das zur Interpretation einer komplexen Veränderlichen auch sonst tut — 
als Kugelfläche denken und erhalten so den Satz: 

Die Theorie der binären Formen komplexer Variabeln findet ihre 
Repräsentation in der projektivischen Geometrie der reellen Kugelfläche. 

Ich habe mir nicht versagen mögen, in einer Note?®) noch ausein- 
anderzusetzen, wie schön dieses Bild die Theorie der binären kubischen 
und biquadratischen Formen erläutert. 


8 7. 
Erweiterungen des Vorangehenden. Lies Kugelgeometrie. 


An die Theorie der binären Formen, die Geometrie der reziproken 
Radien und die Liniengeometrie, welche im vorstehenden koordiniert und 
nur durch die Zahl der Veränderlichen unterschieden scheinen, lassen sich 
gewisse Erweiterungen knüpfen, die nun auseinandergesetzt werden mögen. 
Dieselben sollen einmal dazu beitragen, den Gedanken, daß die Gruppe, 
welche die Behandlungsweise gegebener Gebiete bestimmt, beliebig erweitert 
werden kann, an neuen Beispielen zu erläutern; dann aber ist namentlich 
die Absicht gewesen, Betrachtungen, welche Lie in einer neueren Abhand- 
lung niedergelegt hat?®), in ihrer Beziehung zu den hier vorgetragenen 
Überlegungen darzulegen. Der Weg, auf welchem wir zu Lies Kugel- 
geometrie gelangen, weicht insofern von dem von Lie eingeschlagenen ab, 
als Lie an liniengeometrische Vorstellungen anknüpft, während wir, um 
uns mehr der gewöhnlichen geometrischen Anschauung anzuschließen und im 
Zusammenhang mit dem Vorhergehenden zu bleiben, bei den bez. Aus- 
einandersetzungen eine geringere Zahl von Veränderlichen voraussetzen. 
Die Betrachtungen sind, wie bereits Lie selbst hervorgehoben hat (Göttinger 
Nachrichten 1871, Nr. 7, 22) von der Zahl der Variabeln unabhängig. Sie 





28) Vgl. Note VII. 
29) Partielle Differentialgleichungen und Komplexe. Math. Annalen, Bd. 5 (1870). 


XXVII. Das Erlanger Programm. 477 


gehören dem großen Kreise von Untersuchungen an, welche sich mit der 
projektivischen Untersuchung quadratischer Gleichungen zwischen beliebig 
vielen Veränderlichen beschäftigen, Untersuchungen, die wir bereits öfter 
berührt haben und die uns noch wiederholt begegnen werden (vgl.$10 u.a.). 

Ich knüpfe an den Zusammenhang an, der zwischen der reellen Ebene 
und der Kugelfläche durch stereographische Projektion hergestellt wird. 
Wir setzten bereits in $ 5 die Geometrie der Ebene mit der Geometrie 
auf einem Kegelschnitte in Verbindung, indem wir der Geraden der Ebene 
das Punktepaar zuordneten, in welchem sie den Kegelschnitt trifft. Ent- 
sprechend können wir einen Zusammenhang zwischen der Raumgeometrie 
und der Geometrie auf der Kugel aufstellen, indem wir jeder Ebene des 
Raumes den Kreis zuordnen, in welchem sie die Kugel schneidet. Über- 
tragen wir dann durch stereographische Projektion die Geometrie auf der 
Kugel von derselben auf die Ebene, wobei jeder Kreis in einen Kreis 
übergeht, so entsprechen einander also: 

die Raumgeometrie, welche als Element die Ebene, als Gruppe diejenigen 
linearen Transformationen benutzt, welche eine Kugel in sich überführen; 

die ebene Geometrie, deren Element der Kreis, deren Gruppe die 
Gruppe der reziproken Radien ist. 

. Die erstere Geometrie wollen wir nun nach zwei Seiten verallgemeinern, 
indem wir statt ihrer Gruppe eine umfassendere setzen. Die resultierende 
Erweiterung überträgt sich dann durch die Abbildung ohne weiteres auf 
ebene Geometrie. 

Statt der linearen Transformationen des aus Ebenen bestehenden 
Raumes, welche die Kugel in sich überführen, liegt es nahe, entweder die 
Gesamtheit der linearen Transformationen des Raumes, oder die Gesamtheit 
der Ebenentransformationen des Raumes zu wählen, welche [in einem noch 
erst anzugebenden Sinne] die Kugel ungeändert lassen, indem wir das 
eine Mal von der Kugel, das andere Mal von dem linearen Charakter der 
enzuwendenden Transformationen absehen. Die erste Verallgemeinerung 
ist ohne weiteres verständlich und wir mögen sie also zuerst betrachten 
und in ihrer Bedeutung für ebene Geometrie verfolgen; auf die zweite 
kommen wir hernach zurück, wobei es sich denn zunächst darum handelt, 
die allgemeinste betreffende Transformation zu bestimmen. 

Die linearen Transformationen des Raumes haben die Eigenschaft 
gemein, Ebenenbüschel und Ebenenbündel wieder in solche überzuführen, 
Aber auf die Kugel übertragen ergibt das Ebenenbüschel ein Kreisbüschel, 
d. h. eine einfach unendliche Reihe von Kreisen mit gemeinsamen Schnitt- 
punkten; das Ebenenbündel ergibt ein Kreisbündel, d. h. eine zweifach 
unendliche Schar von Kreisen, die auf einem festen Kreise senkrecht 
stehen (dem Kreise, dessen Ebene die Polarebene des den Ebenen des 


478 Zum Erlanger Programm. 


gegebenen Bündels gemeinsamen Punktes ist). Den linearen Transforma- 
tionen des Raumes entsprechen also auf der Kugel und weiterhin in der 
Ebene Kreistransformationen von der charakteristischen Eigenschaft, Kreis- 
büschel und Kreisbündel in ebensolche überzuführen®®). Die ebene Geo- 
metrie, welche die Gruppe der so gewonnenen Transformationen benutzt, 
ist das Bild der gewöhnlichen projektivischen Raumgeometrie. Als Ele- 
ment der Ebene wird man in dieser Geometrie nicht den Punkt benutzen 
können, da die Punkte für die gewählte Transformationsgruppe keinen 
Körper bilden ($ 5), sondern man wird die Kreise als Elemente wählen. 

Bei der zweiten Erweiterung, die wir nannten, gilt es zunächst die 
Frage nach der Art der bezüglichen Transformationsgruppe zu erledigen. Es 
handelt sich darum, Ebenentransformationen zu finden, die aus jedem 
[Ebenenbüschel, dessen Achse die Kugel berührt, wieder ein solches 
Büschel] machen. Wir mögen der kürzeren Ausdrucksweise wegen zu- 
nächst die Frage dualistisch umkehren und überdies einen Schritt in der 
Zahl der Dimensionen hinabgehen; wir wollen also nach Punkttransfor- 
mationen der Ebene fragen, welche aus jeder Tangente eines gegebenen 
Kegelschnittes wiederum eine Tangente erzeugen. Zu dem Zwecke be- 
trachten wir die Ebene mit ihrem Kegelschnitte als Bild einer Fläche 
zweiten Grades, die man von einem nicht auf ihr befindlichen Raum- 
punkte aus so auf die Ebene projiziert hat, daß der bezeichnete Kegel- 
schnitt die Übergangskurve vorstellt. Den Tangenten des Kegelschnitts 
entsprechen die Erzeugenden der Fläche, und die Frage ist auf die andere 
zurückgeführt nach der Gesamtheit der Punkttransformationen der Fläche 
in sich selbst, bei denen die Erzeugenden Erzeugende bleiben. 

Solcher Transformationen gibt es nun zwar beliebig unendlich viele: 
denn man braucht nur den Punkt der. Fläche als Durchschnitt der Er- 
zeugenden zweierlei Art zu betrachten und jedes der Geradensysteme 
beliebig in sich zu transformieren. Aber unter den Transformationen sind 
insbesondere die linearen. Nur auf diese wollen wir achten. Hätten wir 
nämlich nicht mit einer Fläche, sondern mit einer mehrfach ausgedehnten Man- 
nigfaltigkeit zu tun, die durch eine quadratische Gleichung repräsentiert wird, 
so blieben nur die linearen Transformationen, die anderen kämen in Wegfall??). 

Diese linearen Transformationen der Fläche in sich selbst ergeben, 
durch (nicht stereographische) Projektion auf die Ebene übertragen, zwei- 





30%) Diese Transformationen werden gelegentlich in Graßmanns Ausdehnungs- 
lehre betrachtet (in der Auflage von 1862, S. 278). 

31) Projiziert man die Mannigfaltigkeit stereographisch, so erhält man den be- 
kannten Satz: In mehrfach ausgedehnten Gebieten (schon im Raume) gibt es außer 
den Transformationen, die sich in der Gruppe der reziproken Radien befinden, keine 
konformen Punkttransformationen. In der Ebene gibt es dagegen beliebig viele andere. 
Vgl. auch die zitierten Arbeiten von Lie. 


XXVII. Das Erlanger Programm. 479 


deutige Punkttransformationen, vermöge deren aus jeder Tangente des 
Kegelschnittes, der die Übergangskurve bildet, allerdings wieder eine 
Tangente wird, aus jeder anderen Geraden aber im allgemeinen ein Kegel- 
schnitt, der die Übergangskurve doppelt berührt. Es läßt sich diese 
Transformationsgruppe passend charakterisieren, wenn man auf den Kegel- 
schnitt, der die Übergangskurve bildet, eine projektivische Maßbestimmung 
gründet. Die Transformationen haben dann die Eigenschaft, Punkte, 
welche im Sinne der Maßbestimmung voneinander eine Entfernung gleich 
Null haben, sowie Punkte, welche von einem anderen Punkte eine kon- 
stante Entfernung haben, wieder in solche Punkte zu verwandeln. 

Alle diese Betrachtungen lassen sich auf beliebig viele Variabeln 
übertragen, insbesondere also für die ursprüngliche Fragestellung, die sich 
auf die Kugel und die Ebene als Element bezog, verwerten. Man kann 
dem Resultate dabei eine besonders anschauliche Form geben, weil der 
Winkel, den zwei Ebenen im Sinne der auf eine Kugel gegründeten pro- 
jektivischen Maßbestimmung miteinander bilden, mit dem Winkel gleich 
ist, den ihre Durchschnittskreise mit der Kugel im gewöhnlichen Sinne 
miteinander bilden. 

Wir erhalten also auf der Kugel und weiterhin auf der Ebene eine 
Gruppe von Kreistransformationen, welche die Eigenschaft haben, Kreise 

. die einander berühren (einen Winkel gleich Null einschließen), sowie 
Kreise, die einen anderen Kreis unter demselben Winkel schneiden, in 
ebensolche Kreise überzuführen. In der Gruppe dieser Transformationen 
sind auf der Kugel die bez. linearen, in der Ebene die Transformationen 
der Gruppe der reziproken Radien enthalten ®?). 





#2) [Die Betrachtungen des Textes dürften durch Zufügung einiger weniger ana- 
lytischer Formeln wesentlich klarer werden. Sei die Gleichung der Kugel, die wir 
stereographisch auf unsere Ebene beziehen, in gewöhnlichen Tetraederkoordinaten: 

ze’ tree rare tel; 
die an diese Bedingungsgleichung gebundenen x erhalten dann bei uns die Bedeutung 
ebener tetrazyklischer Punktkoordinaten, 
u FW Ur, +ur, =0 
wird die allgemeine Kreisgleichung der Ebene. Berechnet man den Radius des solcher- 
weise dargestellten Kreises, so kommt man dabei auf die Quadratwurzel 
vr ++ u 
die wir mit «u, bezeichnen mögen. Wir können jetzt die Kreise als Elemente der 
Ebene betrachten. Die Gruppe der reziproken Radien stellt sich dann durch die 
Gesamtheit der homogenen linearen Umsetzungen der u, üsu,u, dar, bei denen 
ur + “° + us + “ 
in ein Multiplum seiner selbst übergeht. Die erweiterte Gruppe aber derjenigen Kreis- 
geometrie, welche der Lieschen Kugelgeometrie entspricht, besteht aus den homogenen 
linearen Umsetzungen der fünf Variabelen u, w,u,u,u,, welche 
ut tu ++ U 





in ein Multiplum seiner selbst verwandeln (1893).] 


480 Zum Erlanger Programm. 


Die auf diese Gruppe zu gründende Kreisgeometrie ist nın das Analogon 
zu der Kugelgeometrie, wie sie Lie für den Raum entworfen hat, und wie sie 
bei Untersuchungen über Krümmung der Flächen von ausgezeichneter Be- 
deutung scheint. Sie schließt die Geometrie der reziproken Radien in dem- 
selben Sinne in sich, wie letztere wieder die elementare Geometrie. — 

Die nunmehr gewonnenen Kreis- (Kugel-)Transformationen haben ins- 
besondere die Eigenschaft, sich berührende Kreise (Kugeln) in ebensolche 
überzuführen. Betrachtet man alle Kurven (Flächen) als Umhüllungs- 
gebilde von Kreisen (Kugeln), so werden infolgedessen Kurven (Flächen), 
die sich berühren, immer wieder in solche übergehen. Die fraglichen 
Transformationen gehören also in die Klasse der später allgemein zu be- 
trachtenden Berührungstransformationen, d.h. soleher Umformungen, bei 
denen Berührung von Punktgebilden eine invariante Beziehung ist. Die 
im vorliegenden Paragraphen zuerst erwähnten Graßmannschen Kreistrans- 
formationen, denen man analoge Kugeltransformationen an die Seite stellen 
kann, sind keine Berührungstransformationen. — 

Wurden vorstehend die zweierlei Erweiterungen nur an die Geometrie 
der reziproken Radien angeknüpft, so gelten dieselben in entsprechender 
Weise für Liniengeometrie, überhaupt für die projektivische Untersuchung 
einer durch eine quadratische Gleichung ausgeschiedenen Mannigfaltigkeit, 
wie bereits angedeutet wurde, hier aber nicht weiter ausgeführt werden soll. 


8 8. 


Aufzählung weiterer Methoden, denen eine Gruppe von Punkttrans- 
formationen zugrunde liegt. 


Elementare Geometrie, Geometrie der reziproken Radien und auch 
projektivische Geometrie, sofern man von den mit Wechsel des Raum- 
elements verknüpften dualistischen Umformungen absieht, subsumieren 
‚sich als einzelne Glieder unter die große Menge von denkbaren Betrach- 
tungsweisen, welche überhaupt Gruppen von Punkttransformationen zu- 
grunde legen. Wir mögen hier nur die folgenden drei Methoden, die hierin 
mit den genannten übereinstimmen, hervorheben. Sind diese Methoden 
auch lange nicht in dem Maße, wie die projektivische Geometrie, zu selb- 
ständigen Disziplinen entwickelt, so treten sie doch deutlich erkennbar in 
den neueren Untersuchungen auf??). 





#) [Während es sich bei den bis jetzt behandelten Beispielen um Gruppen mit 
endlicher Parameterzahl handelte, kommen nunmehr im Texte sogenannte. unendliche 
Gruppen in Betracht (1893).]| [Zur Vermeidung von Mißverständnissen ist aber zu 
bemerken, daß in den späteren Untersuchungen von Lie der Begriff der unendlichen 
Gruppen viel enger gefaßt, nämlich auf solche Gruppen eingeschränkt wurde, die sich 
durch Differentialgleichungen definieren lassen. K.) 


XXVII. Das Erlanger Programm. 481 


1. Die Gruppe der rationalen Umformungen. 

Bei rationalen Umformungen muß wohl unterschieden werden, ob 
dieselben für alle Punkte des Gebietes, in welchem man operiert, also 
des Raumes oder der Ebene usw., rational sind, oder nur für die Punkte 
einer in dem Gebiete enthaltenen Mannigfaltigkeit, einer Fläche, einer 
Kurve. Nur die ersteren sind zu verwenden, wenn es gilt, im bisherigen 
Sinne eine Geometrie des Raumes, der Ebene zu entwerfen; die letzteren 
gewinnen von dem hier gegebenen Standpunkte aus erst Bedeutung, wenn 
(Geometrie auf einer gegebenen Fläche, Kurve studiert werden soll. Die- 
selbe Unterscheidung gilt bei der sogleich anzuführenden Analysis situs. 

Die seitherigen Untersuchungen, hier wie dort, haben sich aber 
wesentlich mit Transformationen der zweiten Art beschäftigt. Insofern 
dabei nicht die Frage nach der Geometrie auf der Fläche, der Kurve 
war, es sich vielmehr darum handelte, Kriterien zu finden, damit zwei 
Flächen, Kurven ineinander transformiert werden können, treten diese 
Untersuchungen aus dem Kreise der hier zu betrachtenden heraus®‘). Der 
hier aufgestellte allgemeine Schematismus umspannt eben nicht die Gesamt- 
heit mathematischer Forschung überhaupt, sondern er bringt nur gewisse 
Richtungen unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt. 

Für eine Geometrie der rationalen Umformungen, wie sie sich unter 
Zugrundelegung der Transformationen der ersten Art ergeben muß, sind 
bis jetzt erst die Anfänge vorhanden. Im Gebiete erster Stufe, auf der 
geraden Linie, sind die rationalen Umformungen mit den linearen identisch 
und liefern also nichts Neues. In der Ebene kennt man freilich die Ge- 
samtheit der rationalen Umformungen (der Cremonaschen Transforma- 
tionen), man weiß, daß sie sich durch Zusammensetzung quadratischer er- 
zeugen lassen. Man kennt auch invariante Charaktere der ebenen Kurven: 
ihr Geschlecht, die Existenz der Moduln; aber eigentlich zu einer Geo- 





%#) [Von einer anderen Seite ordnen sie sich wieder, was mir 1872 noch nicht 
bekannt war, aufs beste in die Betrachtungen des Textes ein. Ist irgendein alge- 
braisches Gebilde (Kurve, oder Fläche, ...) vorgelegt, so übertrage man dasselbe in 
einen höheren Raum, indem man die Verhältnisse 

2 Ur ı Kae / 
der zugehörigen Integranden erster Gattung als homogene Koordinaten einführt. In 
diesem Raume hat man dann einfach der weiteren Betrachtung die Gruppe der homo- 
genen linearen Umsetzungen der p zugrunde zu legen. Vgl. verschiedene Arbeiten 
der Herren Brill, Nöther und Weber, sowie z. B. meine eigene Abhandlung: 
„Zur Theorie der Abelschen Funktionen“ in Bd. 36 der Math. Annalen /s. Bd. III 
dieser Ausgabe] (1893)]. [Auch bei den in den vorangehenden Paragraphen behan- 
delten Beispielen konnte die jeweils in Betracht kommende Gruppe bei Übergang 
zu einem zweckmäßig gewählten höheren Raum durch eine Gruppe linearer Trans- 
formationen ersetzt werden. Die Untersuchung kann daraufhin immer projektiv ge- 
wandt werden. Die naheliegende Frage, wie weit sich hieraus ein allgemeines Prinzip 
machen läßt, scheint immer noch nicht erledigt zu sein. K.) 
Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 31 


482 | Zum Erlanger Programm. 


metrie der Ebene in dem hier gemeinten Sinne entwickelt sind diese Be- 
trachtungen noch nicht. Im Raume ist die ganze Theorie noch erst im 
Entstehen begriffen. Von den rationalen Umformungen kennt man bis 
jetzt nur wenige und benutzt dieselben, um bekannte Flächen mit un- 
bekannten durch Abbildung in Verbindung zu setzen. — 

2. Die Analysis situs. 

In der sogenannten Analysis situs sucht man das Bleibende gegen- 
über solchen Umformungen, die aus unendlich kleinen Verzerrungen durch 
Zusammensetzung entstehen. Auch hier muß man, wie bereits gesagt, 
unterscheiden, ob das ganze Gebiet, also etwa der Raum, als Objekt der 
Transformationen gedacht werden soll, oder nur eine aus ihm ausgesonderte 
Mannigfaltigkeit, eine Fläche. Die Transformationen der ersten Art sind 
es, die man einer Raumgeometrie würde zugrunde legen können. Ihre 
Gruppe wäre wesentlich anders konstituiert, als die bisher betrachteten es 
waren. Indem sie alle Transformationen umfaßt, die sich aus reell ge- 
dachten unendlich kleinen Punkttransformationen zusammensetzen, trägt 
sie die prinzipielle Beschränkung auf reelle Raumelemente in sich, und 
bewegt sich auf dem Gebiete der willkürlichen Funktion. Man kann 
diese Transformationsgruppe nicht ungeschickt erweitern, indem man sie 
noch mit den reellen Kollineationen, die auch das unendlich Ferne modi- 
fizieren, verbindet. — 

3. Die Gruppe aller Punkttransformationen. 

Wenn gegenüber dieser Gruppe keine Fläche mehr individuelle Eigen- 
schaften besitzt, da jede in jede andere durch Transformationen der Gruppe 
übergeführt werden kann, so sind es höhere Gebilde, bei deren Unter- 
suchung die Gruppe mit Vorteil Anwendung findet. Bei der Auffassung 
der Geometrie, wie sie hier zugrunde gelegt ist, kann es gleichgültig sein, 
wenn diese Gebilde seither nicht sowohl als geometrische, sondern nur als 
analytische betrachtet wurden, die gelegentlich geometrische Anwendung 
fanden, und wenn man bei ihrer Untersuchung Prozesse anwandte (wie 
eben beliebige Punkttransformationen), die man erst in neuerer Zeit be- 
wußt als geometrische Umformungen aufzufassen begonnen hat. Unter 
diese analytischen Gebilde gehören vor allen die homogenen Differential- 
ausdrücke, sodann auch die partiellen Differentialgleichungen. Bei der 
allgemeinen Diskussion der letzteren scheint aber, wie in dem folgenden 
Paragraphen ausgeführt wird, die umfassendere Gruppe aller Berührungs- 
transformationen noch vorteilhafter. 

Der Hauptsatz, der in der Geometrie, welche die Gruppe aller Punkt- 
transformationen zugrunde legt, in Geltung ist, ist der, daß eine Punkt- 
transformation für eine unendlich kleine Partie des Raumes immer den 
Wert einer linearen Transformation hat. Die Entwicklungen der pro- 


XXVII. Das Erlanger Programm. 483 


jektivischen Geometrie haben also nun ihren Wert für das Unendlichkleine, 
und hierin liegt, mag sonst die Wahl der Gruppe bei Behandlung von 
Mannigfaltigkeiten willkürlich sein — hierin liegt ein auszeichnender Cha- 
rakter für die projektivische Anschauungsweise. 

Nachdem nun schon lange von dem Verhältnisse der Betrachtungs- 
weisen, die einander einschließende Gruppen zugrunde legen, nicht mehr die 
Rede war, mag hier noch einmal ein Beispiel für die allgemeine Theorie des 
$2 gegeben werden. Wir mögen uns die Frage vorlegen, wie denn vom Stand- 
punkte „aller Punkttransformationen“ die gewöhnlichen projektivischen 
Eigenschaften aufzufassen sind, wobei von den dualistischen Umformungen, 
die eigentlich mit zur Gruppe der projektivischen Geometrie gehören, ab- 
gesehen werden mag. Die Frage deckt sich dann mit der andern: durch 
welche Bedingung aus der Gesamtheit der Punkttransformationen die 
Gruppe der linearen ausgeschieden wird. Das Charakteristische der letzteren 
ist, daß sie jeder Ebene eine Ebene zuordnen: sie sind diejenigen Punkt- 
transformationen, vermöge deren die Mannigfaltigkeit der Ebenen (oder, 
was auf dasselbe hinauskommt, der geraden Linien) erhalten bleibt. Die 
projektivische Geometrie ist aus der Geometrie aller Punkttransformationen 
ebenso durch Adjunktion der Mannigfaltigkeit der Ebenen zu gewinnen, 
wie die elementare Geometrie aus der projektivischen durch Adjunktion 
des unendlich fernen Kugelkreises. Insbesondere haben wir z. B. vom 
Standpunkte aller Punkttransformationen die Bezeichnung einer Fläche als 
einer algebraischen von einer gewissen Ordnung als eine invariante Be- 
ziehung zur Mannigfaltigkeit der Ebenen aufzufassen. Es wird dies recht 
deutlich, wenn man, mit Graßmann, die Erzeugung der algebraischen 
Gebilde an ihre lineale Konstruktion knüpft. 


89. 
Von der Gruppe aller Berührungstransformationen. 


Berührungstransformationen sind zwar in einzelnen Fällen schon lange 
betrachtet; auch hat Jacobi bei analytischen Untersuchungen bereits von 
den allgemeinsten Berührungstransformationen Gebrauch gemacht; aber in 
die lebendige geometrische Anschauung wurden sie erst durch neuere Ar- 
beiten von Lie eingeführt”). Es ist daher wohl nicht überflüssig, hier 
ausdrücklich auseinanderzusetzen, was eine Berührungstransformation ist, 





») Vgl. besonders die bereits zitierte Arbeit: Über partielle Differentialgleichungen 
und Komplexe. Math. Ann., Bd.5. Die im Texte gegebenen Ausführungen betr. partielle 
Differentialgleichungen habe ich wesentlich mündlichen Mitteilungen von Lie ent- 
nommen; vgl. dessen Note: Zur Theorie partieller Differentialgleichungen. Göttinger 
Nachrichten. Okt. 1872. 


3l* 


484 Zum Erlanger Programm. 


wobei wir uns, wie immer, auf den Punktraum mit seinen drei Dimensionen 
beschränken. 
Unter einer Berührungstransformation hat man, analytisch zu reden, 
jede Substitution zu verstehen, welche die Variabelwerte x, y,2 und ihre 
’ i € i dz dz 
partiellen Differentialquotienten „ = p, 8 durch neue x’, y’, 2’, p’, q’ 


ausdrückt. Dabei gehen, wie ersichtlich, sich berührende Flächen im all- 
gemeinen wieder in sich berührende Flächen über, was den Namen Be- 
rührungstransformation begründet. Die Berührungstransformationen zer- 
fallen, wenn man vom Punkte als Raumelement ausgeht, in drei Klassen: 
solche, die den dreifach unendlich vielen Punkten wieder Punkte zuordnen 
— das sind die eben betrachteten Punkttransformationen —, solche, die 
sie in Kurven, endlich solche, die sie in Flächen überführen. Diese Ein- 
teilung hat man insofern nicht als eine wesentliche zu betrachten, als bei 
Benutzung anderer dreifach unendlich vieler Raumelemente, etwa der 
Ebenen, allerdings wieder eine Teilung in drei Gruppen eintritt, die aber 
mit der Teilung, die unter Zugrundelegung der Punkte stattfand, nicht 
koinzidiert. 

Wenden wir auf einen Punkt alle Berührungstransfermationen an, so 
geht er in die Gesamtheit aller Punkte, Kurven und Flächen über. In 
ihrer Gesamtheit erst bilden also Punkte, Kurven und Flächen einen X Örper 
unserer Gruppe. Man mag daraus die allgemeine Regel abnehmen, daß 
die formale Behandlung eines Problems im Sinne aller Berührungstrans- 
formationen (also etwa die sogleich vorzutragende Theorie der partiellen 
Differentialgleichungen) eine unvollkommene werden muß, sowie man mit 
Punkt- (oder Ebenen-) Koordinaten operiert, da die zugrunde gelegten 
Raumelemente eben keinen Körper bilden. 


Alle in dem genannten Körper enthaltenen Individuen als Raum- 
elemente einzuführen, geht aber, will man in Verbindung mit den gewöhn- 
lichen Methoden bleiben, nicht an, da deren Zahl unendlichfach unendlich 
ist. Hierin liegt die Notwendigkeit, bei diesen Betrachtungen nicht den 
Punkt, nicht die Kurve oder die Fläche, sondern das Flächenelement, 
d.h. das Wertsystem x, y, z, p, q als Raumelement einzuführen. Bei 
jeder Berührungstransformation wird aus jedem Flächenelemente ein neues; 
die fünffach unendlich vielen Flächenelemente bilden also einen Körper. 


Bei diesem Standpunkte muß man Punkt, Kurve, Fläche gleichmäßig 
als Aggregate von Flächenelementen auffassen, und zwar von zweifach 
unendlich vielen. Denn die Fläche wird von oo* Elementen bedeckt, die 
Kurve von ebenso vielen berührt, durch den Punkt gehen 0° hindurch. 
Aber diese zweifach unendlichen Aggregate von Elementen haben noch 
eine charakteristische Eigenschaft gemein. Man bezeichne als vereinigte 


XXVII. Das Erlanger Programm. 485 


Lage zweier konsekutiven Flächenelemente x, y,2,9,g und x-+dz, 
y+dy, 2+dz, p+dp, q+.dg die Beziehung, welche durch 


dz— pdx — qdy = 0 


dargestellt wird. So sind Punkt, Kurve, Fläche übereinstimmend zweifach 
unendliche Mannigfaltigkeiten von Elementen, deren jedes mit den 'ein- 
fach unendlich vielen ihm benachbarten vereinigt liegt. Dadurch sind 
Punkt, Kurve, Fläche gemeinsam charakterisiert, und so müssen sie auch, 
wenn man die Gruppe der Berührungstransformationen zugrunde legen 
will, analytisch repräsentiert werden. 

Die vereinigte Lage konsekutiver Elemente ist eine bri beliebiger 
Berührungstransformation invariante Beziehung. Aber auch umgekehrt 
können die Berührungstransformationen definiert werden als diejenigen 
Substitutionen der fünf Veränderlichen x, y, 2, P, q, vermöge deren die 
Relation dz — pdx — gdy = in sich selbst übergeführt wird. Der Raum 
ist also bei diesen Untersuchungen als eine Mannigfaltigkeit von fünf 
Dimensionen anzusehen, und diese Mannigfaltigkeit hat man zu behandeln, 
indem man als Gruppe die Gesamtheit aller Transformationen der Variablen 
zugrunde legt, welche eine bestimmte Relation zwischen den Differentialen 
ungeändert lassen. 

Gegenstand der Untersuchung werden in erster Linie diejenigen Mannig- 
faltigkeiten, welche durch eine oder mehrere Gleichungen zwischen den 
Variabeln dargestellt werden, d.h. die partiellen Differentialgleichungen 
erster Ordnung und ihre Systeme. Eine Hauptfrage wird, wie sich aus 
den Mannigfaltigkeiten von Elementen, die gegebenen Gleichungen genügen, 
einfach, zweifach unendliche Reihen von Elementen ausscheiden lassen, 
deren jedes mit jedem benachbarten vereinigt liegt. Auf eine solche Frage 
läuft z. B. die Aufgabe der Lösung einer partiellen Differentialgleichung 
erster Ordnung hinaus. Man soll — so kann man sie formulieren — aus 
den vierfach unendlich vielen Elementen, die der Gleichung genügen, alle 
zweifach unendlichen Mannigfaltigkeiten der bewußten Art ausscheiden. 
Insbesondere die Aufgabe der vollständigen Lösung nimmt jetzt die prä- 
zise Form an: man soll die vierfach unendlich vielen Elemente, die der 
Gleichung genügen, auf irgendeine Weise in zweifach unendlich viele 
derartige Mannigfaltigkeiten zerlegen. 


Ein Verfolg dieser Betrachtung über partielle Differentialgleichungen 
kann hier nicht in der Absicht liegen; ich verweise in bezug hierauf auf 
die zitierten Lieschen Arbeiten. Es sei nur noch hervorgehoben, daß für 
den Standpunkt der Berührungstransformationen eine partielle Differential- 
gleichung erster Ordnung keine Invariante hat, daß jede in jede andere 
übergeführt werden kann, daß also namentlich die linearen Gleichungen 


486 Zum Erlanger Programm. 


nicht weiter ausgezeichnet sind. Unterscheidungen treten erst ein, wenn 
man zu dem Standpunkte der Punkttransformationen zurückgeht. 

Die Gruppen der Berührungstransformationen, der Punkttransforma- 
tionen, endlich der projektivischen Umformungen lassen sich in einer ein- 
heitlichen Weise charakterisieren, die ich nicht unterdrücken mag?®). Be- 
rührungstransformationen wurden bereits definiert als diejenigen Um- 
formungen, bei denen die vereinigte Lage konsekutiver Flächenelemente 
erhalten bleibt. Die Punkttransformationen haben dagegen die charak- 
teristische Eigenschaft, vereinigt gelegene konsekutive Linienelemente in 
ebensolche zu verwandeln: die linearen und dualistischen Transformationen 
endlich bewahren die vereinigte Lage konsekutiver Konnexelemente. Unter 
einem Konnexelemente verstehe ich die Vereinigung eines Flächenelementes 
mit einem in ihm enthältenen Linienelemente; konsekutive Konnexelemente 
heißen vereinigt gelegen, wenn nicht nur der Punkt, sondern auch das 
Linienelement des einen in dem Flächenelemente des anderen enthalten 
ist. Die (übrigens vorläufige) Bezeichnung Konnexelement bezieht sich 
auf die von Clebsch neuerdings?) in die Geometrie eingeführten Gebilde, 
welche durch eine Gleichung dargestellt werden, die gleichzeitig eine Reihe 
Punkt-, eine Reihe Ebenen- und eine Reihe Linienkoordinaten enthalten, 
und deren Analoga in der Ebene Clebsch als Konnexe bezeichnet. 


810. 
Über beliebig ausgedehnte Mannigfaltigkeiten. 


Es wurde bereits wiederholt hervorgehoben, wie bei der Anknüpfung 
der bisherigen Auseinandersetzungen an die räumliche Vorstellung nur. der 
Wunsch maßgebend war, die abstrakten Begriffe durch Anlehnung an an- 
schauliche Beispiele leichter entwickeln zu können. An und für sich sind 
diese Betrachtungen von dem sinnlichen Bilde unabhängig und gehören 
dem allgemeinen Gebiete mathematischer Forschung an, das man als die 
Lehre von den ausgedehnten Mannigfaltigkeiten oder (nach Graßmann) 
kurz als Ausdehnungslehre bezeichnet. Wie man die Übertragung des 
Vorhergehenden vom Raume auf den bloßen Mannigfaltigkeitsbegriff zu 
bewerkstelligen hat, ist ersichtlich. Es sei dabei nur noch einmal bemerkt, 
daß wir bei der abstrakten Untersuchung, der Geometrie gegenüber, den 
Vorteil haben, die Gruppe von. Transformationen, welche wir zugrunde 





3) Ich verdanke diese Definitionen einer Bemerkung von Lie. [Lie scheint 
auf diese doch gewiß interessanten Definitionen in seinen späteren Arbeiten nie zurück- 
gekommen zu sein. K.] 

3”) Gött. Abhandlungen, 1872, Bd. 17: Über eine Fundamentalaufgabe der In- 
variantentheorie, sowie namentlich Gött. Nachrichten, 1872, Nr. 22: Über ein neues 
Grundgebilde der analytischen Geometrie der Ebene. 


XXVI. Das Erlanger Programm. 487 


legen wollen, ganz willkürlich wählen zu können, während in der Geo- 
metrie eine kleinste Gruppe, die Hauptgruppe, von vornherein gegeben war. 

Wir mögen hier nur die folgenden drei Behandlungsweisen, und auch 
diese ganz kurz, berühren. 


1. Die projektivische Behandlungsweise oder die moderne Algebra 
(Invariantentheorie). 

Ihre Gruppe besteht in der Gesamtheit der linearen und dualistischen 
Transformationen der zur Darstellung des Einzelnen in der Mannigfaltig- 
keit verwendeten Veränderlichen,; sie ist die Verallgemeinerung der pro- 
jektivischen Geometrie. Es wurde bereits hervorgehoben, wie diese Be- 
handlungsweise bei der Diskussion des unendlich Kleinen in einer um eine 
Dimension mehr ausgedehnten Mannigfaltigkeit zur Verwendung kommt. 
Sie schließt die beiden noch zu nennenden Behandlungsweisen in dem 
Sinne ein, als ihre Gruppe die bei jenen zugrunde zu legende Gruppe 
umfaßt. 


2. Die Mannigfaltigkeit von konstantem Krümmungsmaße. 


Die Vorstellung einer solchen erwuchs bei Riemann aus der all- 
gemeineren einer Mannigfaltigkeit, in der ein Differentialausdruck der Ver- 
änderlichen gegeben ist. Die Gruppe besteht bei ihm aus der Gesamtheit 
der Transformationen der Variabeln, welche den gegebenen Ausdruck un- 
geändert lassen. Von einer anderen Seite kommt man zur Vorstellung 
einer Mannigfaltigkeit von konstanter Krümmung, wenn man im pro- 
jektivischen Sinne auf eine zwischen den Veränderlichen gegebene qua- 
' dratische Gleichung eine Maßbestimmung gründet. Bei dieser Weise tritt 
gegenüber der Riemannschen die Erweiterung ein, daß die Variabeln 
als komplex gedacht werden; man mag hinterher die Veränderlichkeit auf 
das reelle Gebiet beschränken. Hierher gehören die große Reihe von 
Untersuchungen, die wir in $$ 5, 6, 7 berührt haben. 


3. Die ebene Munnigfaltigkeit. 


Als ebene Mannigfaltigkeit bezeichnet Riemann die Mannigfaltigkeit 
von konstantem verschwindenden Krümmungsmaße. Ihre Theorie ist die 
unmittelbare Verallgemeinerung der elementaren Geometrie. Ihre Gruppe 
kann — wie die Hauptgruppe der Geometrie — aus der Gruppe der pro- 
jektivischen dadurch ausgeschieden werden, daß man ein Gebilde fest hält, 
welches durch zwei Gleichungen, eine lineare und eine quadratische, dar- 
gestellt wird. .Dabei hat man zwischen Reellem und Imaginärem zu 
unterscheiden, wenn man sich der Form, unter der die Theorie gewöhnlich 
dargestellt wird, anschließen will. Hierher zu rechnen sind vor allem die 
elementare Geometrie selbst, dann z. B. die in neuerer Zeit entwickelten 
Verallgemeinerungen der gewöhnlichen Krümmungstheorie usw. 


488 Zum Erlanger Programm. 


Schlußbemerkungen. 


Zum Schlusse mögen noch zwei Bemerkungen ihre Stelle finden, die 
mit dem bisher Vorgetragenen in enger Beziehung stehen; die eine betrifft 
den Formalismus, durch welchen man die begrifilichen Entwicklungen des 
Vorangehenden repräsentieren will, die andere soll einige Probleme kenn- 
zeichnen, deren Inangriffnahme nach den hier gegebenen Auseinander- 
setzungen als wichtig und lohnend erscheint. 


Man hat der analytischen Geometrie häufig den Vorwurf gemacht, 
durch Einführung des Koordinatensystems willkürliche Elemente zu bevor- 
zugen, und dieser Vorwurf trifft gleichmäßig jede Behandlungsweise aus- 
gedehnter Mannigfaltigkeiten, welche das einzelne durch die Werte von 
Veränderlichen charakterisiert. War dieser Vorwurf bei der mangelhaften 
Art, mit der man namentlich früher die Koordinatenmethode handhabte, 
nur zu oft gerechtfertigt, so verschwindet er bei einer rationellen Behand- 
lung der Methode. Die analytischen Ausdrücke, welche bei der Unter- 
suchung einer Mannigfaltigkeit im Sinne einer Gruppe entstehen können, 
müssen, ihrer Bedeutung nach, von dem Koordinatensysteme, insofern es 
zufällig gewählt ist, unabhängig sein, und es gilt nun, diese Unabhängig- 
keit auch formal in Evidenz zu setzen. Daß dies möglich ist und wie 
es zu geschehen hat, zeigt die moderne Algebra, in der der formale In- 
varıantenbegrifi, um den es sich hier handelt, am deutlichsten ausgeprägt 
ist. Sie besitzt ein allgemeines und erschöpfendes Bildungsgesetz für 
invariante Ausdrücke und operiert prinzipiell nur mit solchen. Die gleiche 
Forderung soll man an die formale Behandlung stellen, auch wenn andere 
Gruppen, als die projektivische, zugrunde gelegt sind®®). Denn der For- 
malismus soll sich doch mit der Begriffsbildung decken, mag man nun 
den Formalismus nur als präzisen und durchsichtigen Ausdruck der Be- 
grifisbildung verwerten, oder will man ihn benutzen, um an seiner Hand 
in noch unerforschte Gebiete einzudringen. — 





»##) | Beispielsweise stellen für die Gruppe der Drehungen des dreidimensionalen 
Raumes um einen festen Punkt die Quaternionen einen solchen Formalismus dar (1893). 

[Aber ‘ich habe späterhin die Forderung des Textes meinerseits nur wenig be- 
folgt. Maßgebend hierfür war mir die Erfahrung, die ich an mir selbst und insbe- 
sondere im Unterricht machte, daß das Erlernen immer wieder neuer Arten sym- 
bolischer Schreibweise im allgemeinen mehr Zeit kostet, als durch deren Anwendung 
gewonnen wird. Hiermit dürfte die Tatsache zusammenhängen, daß immer nur ganz 
wenige Mathematiker sich die von ihrem jeweiligen Schöpfer lebhaft empfohlene Art 
der Symbolik aneignen (während umgekehrt sehr viele Mathematiker es bequem 
finden, ihre Gedanken in irgendwelcher, von ihnen selbst geschaffenen, neuen Symbolik 
zur Darstellung zu bringen). Wir haben auf Grund des hiermit beschriebenen Verhaltens 
zurzeit in der Mathematik bereits eine weitgehende Sprachverwirrung, als deren bedenk- 
liches, wenn auch nicht gewolltes Endziel die Selbstsperrung alles mathematischen 
Fortschritts erscheint. K.] 


XXVII. Das Erlanger Programm. 489 


Die Problemstellung, deren wir noch erwähnen wollten, erwächst 
durch einen Vergleich der vorgetragenen Anschauungen mit der sogenannten 
Galoisschen Theorie der Gleichungen. 

In der Galoisschen Theorie, wie hier, konzentriert sich das Interesse 
auf Gruppen von Änderungen. Die Objekte, auf welche sich die Ände- 
rungen beziehen, sind allerdings verschieden; man hat es dort mit einer 
endlichen Zahl diskreter Elemente, hier mit der unendlichen Zahl von 
Elementen einer stetigen Mannigfaltigkeit zu tun. Aber der Vergleich 
läßt sich bei der Identität des Gruppenbegriffes doch weiter verfolgen°®?), 
und es mag dies hier um so lieber angedeutet werden, als dadurch die 
Stellung charakterisiert wird, die man gewissen von Lie und mir be- 
gonnenen Untersuchungen‘) im Sinne der hier entwickelten Anschauungen 
zuzuweisen hat. 

In der Galoisschen Theorie, wie sie z. B. in Serrets Traite d’Algebre 
superieure oder in C. Jordans Traite des substitutions dargestellt wird, ist 
der eigentliche Untersuchungsgegenstand die Gruppen- oder Substitutions- 
theorie selbst, die Gleichungstheorie fließt aus ihr als eine Anwendung. 
Entsprechend verlangen wir eine T’ransformationstheorie, eine Lehre von 
den Gruppen, welche von Transformationen gegebener Beschaffenheit er- 
zeugt werden können. Die Begriffe der Vertauschbarkeit, der Ähnlichkeit 
usw. kommen, wie in der Substitutionstheorie, zur Verwendung. Als eine 
Anwendung der Transformationstheorie erscheint die aus der Zugrunde- 
legung der Transformationsgruppen fließende Behandlung der Mannig- 
faltigkeit. 

In der Gleichungstheorie sind es zunächst die symmetrischen Funk- 
tionen der Koeffizienten, die das Interesse auf sich ziehen, sodann aber 
diejenigen Ausdrücke, welche, wenn nicht bei allen, so durch eine größere 
Reihe von Vertauschungen der Wurzeln ungeändert bleiben. Bei der Be- 
handlung einer Mannigfaltigkeit unter Zugrundelegung einer Gruppe fragen 
wir entsprechend zunächst nach den Körpern ($ 5), nach den Gebilden, 
die durch alle Transformationen der Gruppe ungeändert bleiben. Aber es 
gibt Gebilde, welche nicht alle aber einige Transformationen der Gruppe 
zulassen, und diese sind dann im Sinne der auf die Gruppe gegründeten 
Behandlung besonders interessant, sie haben ausgezeichnete Eigenschaften. 
Es kommt das also darauf hinaus, im Sinne der gewöhnlichen Geometrie 
symmetrische, reguläre Körper, Rotations- und Schraubenflächen auszu- 





39) Ich erinnere hier daran, daß Graßmann bereits in der Einleitung zur ersten 
Auflage seiner Ausdehnungslehre (1844) die Kombinatorik und die Ausdehnungslehre 
parallelisiert. 

“) Vgl. den gemeinsamen Aufsatz: Über diejenigen ebenen Kurven, welche durch 
ein geschlossenes System von einfach unendlich vielen vertauschbaren linearen Trans- 
formationen in sich übergehen. Math. Annalen, Bd.4 !s. Abh. XXVI dieser Ausgabe 


490 Zum Erlanger Programm. 


zeichnen. Stellt man sich auf den Standpunkt der projektivischen Geo- 
metrie und verlangt insbesondere, daß die Transformationen, durch welche 
die Gebilde in sich übergehen, vertauschbar sein sollen, so kommt man 
auf die von Lie und mir in dem zitierten Aufsatze betrachteten Gebilde 
und auf das in $6 desselben gestellte allgemeine Problem. Die dort in 
$$ 1, 3 gegebene Bestimmung aller Gruppen unendlich vieler vertausch- 
barer linearer Transformationen in der Ebene gehört als ein Teil in die 
soeben genannte allgemeine Transformationstheorie *). 


Noten. 


I. Über den Gegensatz der synihetischen und analytischen Richtung 
in der neueren Geometrie. 

Den Unterschied zwischen neuerer Synthese und neuerer analytischer 
Geometrie hat man zurzeit nicht mehr als einen wesentlichen zu be- 
trachten, da der gedankliche Inhalt sowohl als die Schlußweise sich auf 
beiden Seiten allmählich ganz ähnlich gestaltet haben. Daher wählen wir 
im Texte zur gemeinsamen Bezeichnung beider das Wort „projektivische 
Geometrie“. Wenn die synthetische Methode mehr mit räumlicher An- 
schauung arbeitet und ihren ersten, einfachen Entwicklungen dadurch einen 
ungemeinen Reiz erteilt, so ist das Gebiet räumlicher Anschauung der 
analytischen Methode nicht verschlossen, und man kann die Formeln der 
analytischen Geometrie als einen präzisen und durchsichtigen Ausdruck 
der geometrischen Beziehungen auffassen, Man hat auf der anderen Seite 
den Vorteil nicht zu unterschätzen, den ein gut angelegter Formalismus 
der Weiterforschung dadurch leistet, daß er gewissermaßen dem Gedanken 
vorauseilt. Es ist zwar immer an der Forderung festzuhalten, daß man 
einen mathematischen Gegenstand noch nicht als erledigt betrachten soll, 





41) Ich muß mir versagen, im Texte auf die Fruchtbarkeit hinzuweisen, welche 
die Betrachtung unendlich kleiner Transformationen in der Theorie der Differential- 
gleichungen hat. In $ 7 der zitierten Arbeit haben Lie und ich gezeigt: Gewöhnliche 
Differentialgleichungen, welche gleiche unendlich kleine Transformationen zulassen, 
bieten gleiche Integrationsschwierigkeiten. Wie die Betrachtungen für partielle Diffe- 
rentialgleichungen zu verwerten seien, hat Lie an verschiedenen Orten, so besonders 
in dem früher genannten Aufsatze (Math. Annalen, Bd. 5), an verschiedenen Beispielen 
auseinandergesetzt (vgl. namentlich auch Mitteilungen der Akademie zu Christiania, 
3. Mai 1872). 

[Durch die Auffassungsweise des Textes ordnen sich insbesondere auch meine 
späteren Untersuchungen über algebraische Gleichungen, wie diejenigen über tran- 
szendente automorphe Funktionen (die in den folgenden beiden Bänden dieser Ge- 
samtausgabe abgedruckt werden sollen) mit den Darlegüngen des Erlanger Pro- 
gramms zusammen. Vgl. hierzu die Vorrede zu meinen „Vorlesungen über das 
Ikosaeder“ (Leipzig, Teubner, 1883) wo ich auf den Parallelismus meiner einschlägigen 
Arbeiten zu den gleichzeitigen Untersuchungen Lies über kontinuierliche Transfor- 
mationsgruppen ausdrücklich hinwies. K.] 


XXVII. Das Erlanger Programm. 491 


solange er nicht begrifflich evident geworden ist, und es ist das Vor- 
dringen an der Hand des Formalismus eben nur ein erster aber schon 
sehr wichtiger Schritt. 

II. Trennung der heutigen Geometrie in Disziplinen. 

Wenn man z.B. beachtet, wie der mathematische Physiker sich durch- 
gängig der Vorteile entschlägt, die ihm eine nur einigermaßen ausgebildete 
projektivische Anschauung in vielen Fällen gewähren kann, wie auf der 
anderen Seite der Projektiviker die reiche Fundgrube mathematischer 
Wahrheiten unberührt läßt, welche die Theorie der Krümmung der Flächen 
aufgedeckt hat, so muß man den gegenwärtigen Zustand des geometrischen 
Wissens als recht unvollkommen und als hoffentlich vorübergehend be- 
trachten. 


III. Über den Wert räumlicher Anschauung. 

Wenn wir im Texte die räumliche Anschauung als etwas Beiläufiges 
bezeichnen, so ist dies mit Bezug auf den rein mathematischen Inhalt der 
zu formulierenden Betrachtungen gemeint. Die Anschauung hat für ihn 
nur den Wert der Veranschaulichung, der allerdings in pädagogischer Be- 
ziehung sehr hoch anzuschlagen ist. Ein geometrisches Modell z. B. ist 
auf diesem Standpunkte sehr lehrreich und interessant. 


Ganz anders stellt sich aber die Frage nach dem Werte der räum- 
lichen Anschauung überhaupt. Ich stelle denselben als etwas Selb- 
ständiges hin. Es gibt eine eigentliche Geometrie, die nicht, wie die im 
Texte besprochenen Untersuchungen, nur eine veranschaulichte Form ab- 
strakter Untersuchungen sein will. In ihr gilt es, die räumlichen Figuren 
nach ihrer vollen gestaltlichen Wirklichkeit aufzufassen, und (was die 
mathematische Seite ist) die für sie geltenden Beziehungen als evidente 
Folgen der Grundsätze räumlicher Anschauung zu verstehen. Ein Modell 
— mag es nun ausgeführt und angeschaut oder nur lebhaft vorgestellt sein 
— ist für diese Geometrie nicht ein Mittel zum Zwecke, sondern die 
Sache selbst. 

Wenn wir so, neben und unabhängig von der reinen Mathematik, 
Geometrie als etwas Selbständiges hinstellen, so ist das an und für sich gewiß 
nichts Neues. Es ist aber wünschenswert, diesen Gesichtspunkt ausdrück- 
lich einmal wieder hervorzuheben, da die neuere Forschung ihn fast ganz 
übergeht. Hiermit hängt zusammen, daß umgekehrt die neuere Forschung 
selten dazu verwendet wurde, wenn es galt, gestaltliche Verhältnisse 
räumlicher Erzeugnisse zu beherrschen, und doch scheint sie gerade in 
dieser Richtung sehr fruchtbar‘?). 





#2) [Meine Arbeiten über die Gestalten insbesondere der algebraischen Kurven 
und Flächen sollen in Bd. II dieser Gesamtausgabe ihre Stelle finden. K.) 


492 Zum Erlanger Programm. 


IV. Über Mannigfaltigkeiten von beliebig vielen Dimensionen. 

Daß der Raum, als Ort für Punkte aufgefaßt, nur drei Dimensionen 
hat, braucht vom mathematischen Standpunkte aus nicht diskutiert zu 
werden; ebensowenig kann man aber vom mathematischen Standpunkte 
aus jemanden hindern, zu behaupten, der Raum habe eigentlich vier, oder 
unbegrenzt viele Dimensionen, wir seien aber nur imstande, drei wahrzu-. 
nehmen. Die Theorie der mehrfach ausgedehnten Mannigfaltigkeiten, wie 
sie je länger je mehr in den Vordergrund neuerer mathematischer For- 
schung tritt, ist, ihrem Wesen nach, von einer solchen Behauptung voll- 
kommen unabhängig. Es hat sich in ihr aber eine Redeweise eingebür- 
gert, die allerdings dieser Vorstellung entflossen ist. Man spricht, statt 
von den Individuen einer Mannigfaltigkeit, von den Punkten eines höheren 
Raumes usw. An und für sich hat diese Redeweise manches Gute, inso- 
fern sie durch Erinnern an die geometrischen Anschauungen das Verständnis 
erleichtert. Sie hat aber die nachteilige Folge gehabt, daß in ausgedehnten 
Kreisen die Untersuchungen über Mannigfaltigkeiten mit beliebig vielen 
Dimensionen als solidarisch erachtet werden mit der erwähnten Vorstellung 
von der Beschaffenheit des Raumes. Nichts ist grundloser als diese Auf- 
fassung. Die betrefienden mathematischen Untersuchungen würden aller- 
dings soforu geometrische Verwendung finden, wenn die Vorstellung richtig 
wäre, — aber ihr Wert und ihre Absicht ruht, gänzlich unabhängig von 
dieser Vorstellung, in ihrem eigenen mathematischen Inhalte. 

Etwas ganz anderes ist es, wenn Plücker gelehrt hat, den wirklichen 
Raum als eine Mannigfaltigkeit von beliebig vielen Dimensionen aufzu- 
fassen, indem man als Element des Raumes ein von beliebig vielen Para- 
metern abhängendes Gebilde (Kurve, Fläche usw.) einführt (vgl. $5 des Textes). 

Die Vorstellungsweise, welche das Element der beliebig ausgedehnten 
Mannigfaltigkeit als ein Analogon zum Punkte des Raumes betrachtet, ist 
wohl zuerst von Graßmann in seiner Ausdehnungslehre (1844) entwickelt 
worden. Bei ihm ist der Gedanke völlig frei von der erwähnten Vor- 
stellung von der Natur des Raumes; letztere geht auf gelegentliche Be- 
merkungen von Gauß zurück und wurde durch Riemanns Untersuchungen 
über mehrfach ausgedehnte Mannigfaltigkeiten, in welche sie mit einge- 
flochten ist, in weiteren Kreisen bekannt. 

Beide Auffassungsweisen — die Graßmannsche wie die Plückersche 
— haben ihre eigentümlichen Vorzüge; man verwendet sie beide, zwischen 
ihnen abwechselnd, mit Vorteil*?). | 





42) [Unnötig zu bemerken, welche Entwicklung das mehrdimensionale Denken in 
den letzten Jahrzehnten genommen hat. Ich verweise, was speziell die Graßmannsche 
Auffassung und die ihr entsprechende Behandlung algebraischer Gebilde angeht, auf 
Segres.Referat in III,, Heft 7, der Mathematischen Enzyklopädie, 1918. K.] 


XXVII Das Erlanger Programm. 493 


V. Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie. 

Die im Texte gemeinte projektivische Maßgeometrie koinzidiert, wie 
neuere Untersuchungen gelehrt haben, dem Wesen nach mit der Maßgeo- 
metrie, welche unter Nichtannahme des Parallelenaxioms entworfen werden 
kann und die zurzeit unter dem Namen der Nicht-Euklidischen Geometrie 
vielfach besprochen und diskutiert wir. Wenn wir im Texte diesen 
Namen überhaupt nicht berührt haben, so geschah es aus einem Grunde, 
der mit den in der vorstehenden Note gegebenen Auseinandersetzungen 
verwandt ist. Man verknüpt mit dem Namen Nicht-Euklidische Geometrie 
eine Menge unmathematischer Vorstellungen, die auf der einen Seite mit 
ebenso viel Eifer gepflegt als auf der anderen perhorresziert werden, mit 
denen aber unsere rein mathematischen Betrachtungen gar nichts zu 
schaffen haben. Der Wunsch, in dieser Richtung etwas zur Klärung der 
Begriffe beizutragen, mag die folgenden Auseinandersetzungen motivieren. 

Die gemeinten Untersuchungen über Parallelentheorie haben mit ihren 
Weiterbildungen mathematisch nach zwei Seiten einen bestimmten Wert. 

Sie zeigen einmal — und dieses ihr Geschäft kann man als ein 
einmaliges, abgeschlossenes betrachten —, daß das Parallelenaxiom keine 
mathematische Folge der gewöhnlich vorangestellten Axiome ist, sondern 
daß ein wesentlich neues Anschauungselement, welches in den vorher- 
gehenden Untersuchungen nicht berührt wurde, in ihm zum Ausdruck ge- 
langt. Ähnliche Untersuchungen könnte man und sollte man mit Bezug 
auf jedes Axiom nicht nur der Geometrie durchführen; man würde da- 
durch an Einsicht in die gegenseitige Stellung der Axiome gewinnen. 

Dann aber haben uns diese Untersuchungen mit einem wertvollen 
mathematischen Begriffe beschenkt: dem Begriffe einer Mannigfaltigkeit 
von konstanter Krümmung. Er hängt, wie bereits bemerkt und wie in 
$ 10 des Textes noch weiter ausgeführt ist, mit der unabhängig von aller 
Parallelentheorie erwachsenen projektivischen Maßbestimmung auf das 
innigste zusammen. Wenn das Studium dieser Maßbestimmung an und 
für sich hohes mathematisches Interesse bietet und zahlreiche Anwen- 
dungen gestattet, so kommt hinzu, daß sie die in der Geometrie gegebene 
Maßbestimmung als speziellen Fall (Grenzfall) umfaßt und uns lehrt, die- 
selbe von einem erhöhten Standpunkte aufzufassen. 

Völlig unabhängig von den entwickelten Gesichtspunkten steht die 
Frage, welche Gründe das Parallelenaxiom stützen, ob wir dasselbe als 
absolut gegeben — wie die einen wollen — oder als durch Erfahrung 
nur approximativ erwiesen — wie die anderen sagen — betrachten wollen. 
Sollten Gründe sein, das .letztere anzunehmen, so geben uns die fraglichen 
mathematischen Untersuchungen an die Hand, wie man dann eine exaktere 
Geometrie zu konstruieren habe. Aber die Fragestellung ist offenbar eine 


494 Zum Erlanger Programm. 


philosophische, welche die allgemeinsten Grundlagen unserer Erkenntnis 
betrifit. Den Mathematiker als solchen interessiert die Fragestellung nicht, 
und er wünscht, daß seine Untersuchungen nicht als abhängig betrachtet 
werden von der Antwort, die man von der einen oder der anderen Seite 
auf die Frage geben mag. 


VI. Liniengeometrie als Untersuchung einer Mannigfaltigkeit von 
konstantem Krümmungsmaße. 


Wenn wir Liniengeometrie mit der projektivischen Maßbestimmung 
in einer fünffach ausgedehnten Mannigfaltigkeit in Verbindung setzen, 
müssen wir beachten, daß wir in den geraden Linien nur die (im Sinne 
der Maßbestimmung) unendlich fernen Elemente der Mannigfaltigkeit vor 
uns haben. Es wird daher nötig, zu überlegen, welchen Wert eine pro- 
jektivische Maßbestimmung für ihre unendlich fernen Elemente hat, und 
das mag hier etwas auseinandergesetzt werden, um Schwierigkeiten, die 
sich sonst der Auffassung der Liniengeometrie als einer Maßgeometrie 
entgegenstellen, zu entfernen. Wir knüpfen diese Auseinandersetzungen 
an das anschauliche Beispiel, welches die auf eine Fläche zweiten Grades 
gegründete projektivische Maßbestimmung ergibt. 


Zwei beliebig angenommene Punkte des Raumes haben in bezug auf 
die Fläche eine absolute Invariante: ihr Doppelverhältnis zu den beiden 
Durchschnittspunkten ihrer Verbindungsgeraden mit der Fläche. Rücken 
aber die beiden Punkte auf die Fläche, so wird dies Doppelverhältnis 
unabhängig von der Lage der Punkte gleich Null, außer in dem Falle, 
daß die beiden Punkte auf eine Erzeugende zu liegen kommen, wo es 
unbestimmt wird. Dies ist die einzige Partikularisation, die in ihrer Be- 
ziehung eintreten kann, wenn sie nicht zusammenfallen, und wir haben 
also den Satz: 

Die projektivische Maßbestimmung, welche man im Raume auf eine 
Fläche zweiten Grades gründen kann, ergibt für die Geometrie auf der 
Fläche noch keine Maßbestimmung. 

Hiermit hängt zusammen, daß man durch lineare Transformationen 
der Fläche in sich selbst drei beliebige Punkte derselben mit drei anderen 
zusammenfallen lassen kann *%). | 

Will man auf der Fläche selbst eine Maßbestimmung haben, so muß 
man die Gruppe der Transformationen beschränken, und dies erreicht man, 





4) Diese Verhältnisse ändern sich bei der gew. Maßgeometrie; zwei unendlich 
ferne Punkte haben für sie freilich eine absolute Invariante. Der Widerspruch, den 
man in der Abzählung der linearen Transformationen der unendlich fernen Fläche in 
sich selbst hiermit finden könnte, erledigt sich dadurch, daß die unter ihnen befind- 
lichen Translationen und Ähnlichkeitstransformationen das Unendlichferne überhaupt 
nicht ändern. 


XXVII. Das Erlanger Programm. 495 


indem man einen beliebigen Raumpunkt (oder seine Polarebene) festhält. 
Der Raumpunkt sei zunächst nicht auf der Fläche gelegen. So projizıere 
man die Fläche von dem Punkte auf eine Ebene, wobei ein Kegelschnitt 
als Übergangskurve auftritt. Auf diesen Kegelschnitt gründe man in der 
Ebene eine projektivische Maßbestimmung, die man dann rückwärts auf 
die Fläche überträgt’). Dies ist eine eigentliche Maßbestimmung von 
konstanter Krümmung, und man hat also den Satz: 


Auf der Fläche erhält man eine solche Maßbestimmung, sowie man 
einen außerhalb der Fläche gelegenen Punkt festhält. 


Entsprechend findet man*“): 


Eine Maßbestimmung von verschwindender Krümmung erhält man 
auf der Fläche, wenn man für den festen Punkt einen Punkt der Fläche 
selbst wählt. 


Für alle diese Maßbestimmungen auf der Fläche sind die Erzeugen- 
den der Fläche Linien von verschwindender Länge. Der Ausdruck für 
das Bogenelement auf der Fläche ist also für die verschiedenen Bestim- 
mungen nur um einen Faktor verschieden. Ein absolutes Bogenelement 
auf der Fläche gibt es nicht. Wohl aber kann man von dem Winkel 
sprechen, den Fortschreitungsrichtungen auf der Fläche miteinander bilden. — 


Alle diese Sätze und Betrachtungen können nun ohne weiteres für 
Liniengeometrie benutzt werden. Für den Linienraum selbst existiert zu- 
nächst keine eigentliche Maßbestimmung. Eine solche erwächst erst, wenn 
wir einen linearen Komplex festhalten, und zwar erhält sie konstante oder 
verschwindende Krümmung, je nachdem der Komplex ein allgemeiner oder 
in spezieller (eine Gerade) ist. An die Auszeichnung eines Komplexes 
ist namentlich auch die Geltung eines absoluten Bogenelements geknüpft 
Unabhängig davon sind die Fortschreitungsrichtungen zu benachbarten 
Geraden, welche die gegebene schneiden, von der Länge Null, und auch 
kann man von einem Winkel reden, den zwei beliebige Fortschreitungs- 
richtungen miteinander bilden”). 


VII. Zur Interpretation der binären Formen. 

Es mag hier der übersichtlichen Gestalt gedacht werden, welche, unter 
Zugrundelegung der Interpretation von &+ iy auf der Kugelfläche, dem 
Formensysteme der kubischen und der biquadratischen binären Form er- 
teilt werden kann. 

Eine kubische binäre Form f hat eine kubische Kovariante Q, eine 





45) Vgl.$ 5 des Textes S. 472. 

#) Vgl. $ 4 des Textes S. 470. 

47) Vgl. den Aufsatz: Über Liniengeometrie und metrische Geometrie. Math. 
Annalen, Bd. 5 [s Abh. VIII dieser Ausgabe]. 


496 Zum Erlanger Programm. 


quadratische A, und eine Invariante R‘). Aus f und @ setzt sich eine 
ganze Reihe von Kovarianten sechsten Grades 


QU+a.Rf 
zusammen, unter denen auch A? enthalten ist. Man kann zeigen‘?), daß 
jede Kovariante der kubischen Form in solche Gruppen von sechs Punkten 
zerfallen muß. Insofern A komplexe Werte annehmen kann, gibt es zwei- 
fach unendlich viele derselben. 

Das ganze so umgrenzte Formensystem kann auf der Kugel nun 
folgendermaßen repräsentiert werden°®). Durch geeignete lineare Trans- 
formation der Kugel in sich selbst bringe man die drei Punkte, welche f 
repräsentieren, in drei äquidistante Punkte eines größten Kreises. Der- 
selbe mag als Äquator bezeichnet sein; auf ihm haben die drei Punkte f 
die geographische Länge 0°, 120°, 240°. So wird @ durch die Punkte 
des Äquators mit der Länge 60°, 180°, 300°, A durch die beiden Pole 
vorgestellt. Jede Form Q’-+ARf" ist durch sechs Punkte repräsentiert, 
deren geographische Breite und Länge, unter @ und ß beliebige Zahlen 
verstanden, in dem folgenden Schema enthalten ist: 


104 & | & —’& 


ß\ 120+P | 240 + | —PB ar RER 240 — ß #7: 

Verfolgt man diese Punktsysteme auf der Kugel, so ist es interessant, zu 
sehen, wie f und @ doppelt, A dreifach zählend aus denselben entsteht. 

Eine biquadratische Form f hat eine ebensolche Kovariante H, eine 
Kovariante sechsten Grades 7, zwei Invarianten % und j. Besonders zu 
bemerken ist die Schar biquadratischer Formen <H + Ajf, die alle zu dem 
nämlichen 7’ gehören, und unter denen die drei quadratischen Faktoren, 
in welche man 7 zerlegen kann, doppelt zählend enthalten sind. 

Man lege jetzt durch den Mittelpunkt der Kugel drei zueinander 
rechtwinklige Achsen OX,OY,0Z. Ihre sechs Durchstoßpunkte mit der 
Kugel bilden die Form 7. Die vier Punkte eines Quadrupels «4 + Ajf 
sind, unter x, y, z Koordination eines beliebigen Kugelpunktes verstanden, 
durch das Schema 











%, Y, 2, 
Pre Sun 2° 
—%, Y, 1 
rm Tl, 2 





43) Vgl. hierzu die betr. Abschnitte vonClebsch: Theorie der binären Formen( 1871). 

#%) Durch Betrachtung der linearen Transformationen von f in sich selbst, vgl. 
Math. Annalen, Bd.4, 8.352. [Über eine geometrische Repräsentation der Resolventen 
algebraischer Gleichungen. Siehe Bd. II dieser Ausgabe. ) 

5°) [Man vgl. auch Beltrami, Ricerche sulla geometria delle forme binarie 
cubiche, Accademia di Bologna, Memorie, 1870 (1893). [Beltramis Werke, Bd. 11.) 


XXVII. Das Erlanger Programm. 497 


vorgestellt. Die vier Punkte bilden jedesmal die Ecken eines symmetri- 
schen Tetraeders, dessen gegenüberstehende Seiten von den Achsen des 
Koordinatensystems halbiert werden, wodurch die Rolle, welche 7’ in der 
Theorie der biquadratischen Gleichungen als Resolvente von <H + Ajf spielt, 
gekennzeichnet ist? ). 


Erlangen, im Oktober 1872. 





51) [An die Andeutungen des Textes schließen sich als unmittelbare Ausführung 
meine im Band II dieser Ausgabe abzudruckenden Arbeiten über „Binäre Formen 
mit linearen Transformationen in sich“ an (siehe insbesondere Math. Annalen, Bd. 9, 
1875). 

u übrigen verweise ich gern noch, indem ich diesen Wiederabdruck des Erlanger 
Programms abschließe, auf die Arbeiten von Moebius (die ich selbst erst nach 
ihrem inneren Zusammenhang erfaßte, nachdem ich bei der von der sächsischen Ge- 
sellschaft der Wissenschaften in den Jahren 1885—1887 veranstalteten Gesamtausgabe 
seiner Werke mitwirken durfte). Moebius hat den allgemeinen Gruppenbegriff und 
auch viele der geometrischen Trarsformationen, die zu seiner Illustration im Erlanger 
Programm herangezogen werden, noch nicht gekannt, aber er hat, von einem sicheren 
Gefühl geleitet, seine aufeinanderfolgenden geometrischen Arbeiten genau so eingerichtet, 
wie es dem Grundgedanken des Programms entspricht. Schon im Mittelabschnitt seines 
Baryzentrischen Kalkuls (1827) ordnet er die „geometrischen Aufgaben“ nach den 
„Verwandtschaften“ der „Gleichheit“ (Kongruenz), „Ähnlichkeit“, „Affinität“ und 
„Kollineation“. Von 1853 an beginnen seine Veröffentlichungen über „Kreisverwandt- 
schaft“ (= Geometrie der reziproken Radien in der Ebene). Schon vorher (1849) 
liegen seine ersten Mitteilungen über die Symmetrie der Kristalle. 1863 aber, im 
Alter von 73 Jahren, setzt er mit Mitteilungen über „Elementarverwandtschaft“ ein 
(d.h. über dasjenige Gebiet der Geometrie, welches wir heute Analysis situs nennen). 
Mit diesen Angaben wolle man die interessanten Ausführungen vergleichen, welche 
Herr Curt Reinhardt in Bd. II und Bd. IV von Moebius’ Gesammelten Werken 
über die Entstehung und den Zusammenhang der einzelnen Arbeiten gemäß dem 
reichen Inhalt des handschriftlichen Nachlasses hat geben können. K.) 


Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 32 


XXVII. Autographierte Vorlesungshefte. 
[Math. Annalen, Bd. 45 (1894).] 


Höhere Geometrie!). 
(Doppelvorlesung 1892— 93.) 


Wenn wir die Untersuchungen über die Prinzipien der Geometrie bei- 
seite lassen (also die Nicht-Euklidische Geometrie im engeren Sinne des 
Wortes, die Inbetrachtnahme nicht analytischer Kurven usw.), so grup- 
pieren sich die Arbeiten der neueren Geometer oder auch die Geometer 
selbst in der Hauptsache um zwei Mittelpunkte. Wir haben auf der einen 
Seite die Differentialgeometrie, auf der anderen Seite die Geometrie der 
algebraischen Gebilde (bei der selbst wieder eine Scheidung nach analy- 
tischer und synthetischer Methode vorliegt). Und. doch stehen die Materialien 
zu einer einheitlichen Auffassung des ganzen Gebietes seit lange bereit. 
Ich hatte zu dem Zwecke nur an die Arbeiten anzuknüpfen, welche von 
Lie und mir selbst in den Jahren 1869— 1872 veröffentlicht worden sind, 
und dann den weitern Fortschritten der Lieschen Arbeiten sowie der 
geometrischen Funktionentheorie zu folgen. Natürlich bin ich nach keiner 
Seite in Einzelheiten gegangen. 

Meine erste Einteilung ist, wie dies nicht anders sein kann, funktionen- 
theoretischer Natur, nämlich die Unterscheidung zwischen analytischen und 
algebraischen Funktionen. Erstere sind, allgemein zu reden, nur in einem 
begrenzten Raumstücke definiert; es ist unmöglich (solange man nicht 
spezifizieren will) über ihr Verhalten bei weiterer „analytischer Fortsetzung“ 
eine bestimmte Aussage zu machen. Letztere dagegen sind von vornherein 
im Gesamtraum gegeben. Dabei ist uns beidemal anheimgestellt, ob wir 
komplexe Wertsysteme mit in Betracht ziehen wollen oder nicht. 





!) [Aus meinem ersten Referate über autographierte Vorlesungshefte. Die Ein- 
leitung wurde bereits auf S. 382—383 abgedruckt. Im übrigen ist über Vorlesungen funk- 
tionentheoretischen Inhaltes referiert, worauf im Band III dieser Ausgabe zurück- 
zukommen sein wird. ]. 


XXVIII. Vorlesung über höhere Geometrie. 499 


Des weiteren aber gruppiere ich den Stoff, ohne mich gerade ängstlich 
an die Einteilung zu binden, um drei Grundbegrifie: Koordinatensystem, 


Transformation, Gruppe. 


1. Koordinatensystem. 


Hier machen die verschiedenen Arten der Punktkoordinaten natürlich 
den Anfang, die geradlinigen wie die krummlinigen, deren Bedeutung ins- 
besondere auch für die Anwendungen dargelegt wird. So erörtere ich bei 
den elliptischen Koordinaten die Staudesche Fadenkonstruktion des 
Ellipsoids, Henriecis bewegliches Hyperboloid. Darbouxs pentasphärische 
Koordinaten geben den Anlaß zu einer Besprechung von Peaucelliers 
Inversor. 

Aber statt des Punktes kann ebensowohl jedes andere Gebilde als „‚Raum- 
element‘‘ der Koordinatenbestimmung zugrunde gelegt werden (Plücker). 

Ich verweile ganz besonders bei der Kugelgeometrie und ihrer von 
Lie entdeckten Beziehung zur Liniengeometrie; man vergleiche Lies Ab- 
handlung über Komplexe in Bd. 5 der Math. Ann., die überhaupt für meine 
folgenden Entwicklungen fundamental ist. Wir haben zweierlei Kugel- 
geometrie zu unterscheiden: die elementare und die höhere (die Liesche). 
In der elementaren Kugelgeometrie kommt nur das Quadrat des Kugel- 
radius in Betracht, in der höheren Kugelgeometrie aber der Radius selbst, 
d. h. der mit bestimmtem Vorzeichen genommene Radius. Liniengeometrie 
des R, ist soviel wie Punktgeometrie auf einer Fläche zweiten Grades 
des R,. Projizieren wir diese Fläche stereographisch von einem ihrer 
Punkte aus auf den R,, so erhalten wir hier die Punktgeometrie der reziproken 
Radien, d. h. diejenige Art der metrischen Geometrie, welche nur Be- 
ziehungen gelten läßt, die bei beliebiger Inversion invariant sind. Dies ist, 
was in meiner Arbeit über Liniengeometrie und metrische Geometrie aus- 
einandergesetzt wird [ebenfalls in Bd. 5 der Math. Annalen (s. Abh. VIII 
dieser Ausgabe). Wie man von hier zur Kugelgeometrie kommt, wurde 
von Lie in den Göttinger Nachrichten von 1871 entwickelt. Es handelt 
sich um ein Verfahren, welches ich als Minimaiprojektion bezeichne, d.h. 
man zieht durch den Punkt des R, alle Minimalgeraden (alle Geraden von 
der Länge Null) und schneidet diese mit dem R,. 

Wichtig ist auch, daß man sich hinsichtlich der Gebilde, die durch 
Gleichungen zwischen den Koordinaten dargestellt werden sollen, bez. hin- 
sichtlich dieser Gleichungen selbst keine zu weitgehende Beschränkung auf- 
' erlegt. Ich betone von vornherein, daß wir Gleichungen betrachten dürfen, 
welche mehrere Reihen von Koordinaten nebeneinander enthalten, daß ins- 
besondere die Differentialgleichungen als solche Objekt der geometrischen 


Betrachtung sind. 
32* 


500 Zum Erlanger Programm. 


2. Transformation. 


Schon die Transformation der Punktkoordinaten gibt zu längeren Er- 
örterungen Anlaß. 

Ich bespreche zunächst die Entwicklung der projektiven Geometrie, 
die Kurven mit unendlich vielen linearen Transformationen in sich, die 
Theorie der projektiven Differentialinvarianten. Immerzu betone ich, daß 
die projektive Geometrie nur eines der möglichen geometrischen Abbilder 
der linearen Invariantentheorie ist, daß also letztere weiter reicht als erstere. 


Ich bespreche ferner die Imaginärtransformation, d. h. die Methode, 
imaginäre Punkte genau so in die Betrachtungen einzuführen, als ob sie 
reell wären. Lies Theorie der Minimalflächen gibt ein neues vorzügliches 
Beispiel für die Wirksamkeit dieser Methode. 


Dann weiter die Projektionen aus höheren Räumen. Hier finden 
Maxwells und Cremonas Untersuchungen zur graphischen Statik ihre 
gebührende Stellung. | 

Höhere Punkttransformationen der allgemeinsten Art kommen bei 
der Klassifikation der Differentialausdrücke zur Geltung. Ich verweise 
auf die Differentialparameter Beltramis und die Theorie der Biegungs- 
invarianten. | 

Birationale Punkttransformationen insbesondere sind für das Studium 
der algebraischen Gebilde fundamental. Clebsch stellte die Aufgabe, die 
genannten Transformationen im Gebiete der algebraischen Differential- 
gleichungen zur Geltung zu bringen. In dieser Richtung ist nur erst wenig 
gearbeitet, doch haben neuerdings die französischen Geometer eine Reihe 
bemerkenswerter Ansätze gefunden. 

Sehr viel erweitert sich der Gesichtskreis, sobald Transformationen 
mit Wechsel des Raumelements in Betracht gezogen werden. 

Hier ist die Stelle, wo ich die Lieschen ‚„Flächenelemente‘“ einführe, 
um dann gleich zum allgemeinen Begriff der „Berührungstransformation“ 
überzugehen. Die dualistischen Transformationen, die Transformationen 
der Kugelgeometrie usw. werden mit gebührender Ausführlichkeit be- 
sprochen. Daneben ziehe ich Beispiele heran, welche in scheinbar sehr 
heterogene Teile der Mathematik eingreifen: die astronomische Methode 
der Variation der Konstanten und die kinematische Aufgabe der Konstruktion 
von Zahnrädern. — 

Ich möchte hier eine Bemerkung einfügen, welche in der Vorlesung 
nur angedeutet wurde. Man kann sich die Aufgabe stellen, alle in der 
Analysis vorkommenden Transformationen auf ihren geometrischen Gehalt 
zu prüfen. Man nehme folgende Formeln aus der Theorie der Fourier- 
schen Integrale: 


XXVIII. Vorlesung über höhere Geometrie. | 501 


p(x) = V2| re) .cosax:de, 


— 2 . . 
f(x) -y2 [v(e) cosax: de. 
0 
Was bedeutet die so zwischen f und p festgelegte Reziprozitätsbeziehung 
geometrisch? Man denke sich die beiden Kurven y=o(x) und Y=f(x); 
welche geometrische Abhängigkeit findet zwischen ihnen statt? — 


3. Gruppe. 


Bei den Gruppen der Geometrie spielt die Unterscheidung der kon- 
tinuierlichen Gruppen und der diskontinuierlichen selbstverständlich eine 
Hauptrolle. Die letzteren trennt man wieder in eigentliche diskontinuier- 
liche (bei denen die äquivalenten Elemente durch endliche Intervalle ge- 
trennt sind) und uneigentlich diskontinuierliche (bei denen die äquivalenten 
Elemente „überall dicht“ liegen). Es scheint fast, als würden die uneigentlich 
diskontinuierlichen Gruppen nicht überall richtig verstanden oder doch nicht 
nach ihrer Wichtigkeit richtig gewürdigt. Jede uneigentlich diskontinuier- 
liche Gruppe wird eigentlich diskontinuierlich, ‚wenn „man in einen 
zweckmäßig gewählten höheren Raum aufsteigt. Dieses Prinzip ist vielleicht 
noch nicht so explizite formuliert worden, wie mit den vorstehenden Worten 
. geschieht, aber kommt tatsächlich in den verschiedensten Teilen der 
Mathematik seit lange zur Geltung. Man nehme die unimodularen ganz- 
zahligen Kollineationen der Ebene. Dieselben bilden eine diskontinuier- 
liche Gruppe, welche sofort eigentlich diskontinuierlich wird, wenn man 
die nullteiligen Kegelschnitte der Ebene als Elemente einführt. Hiervon 
wissen die Zahlentheoretiker ihren Vorteil zu ziehen. Oder man betrachte 
die Umkehr der Abelschen Integrale. Was ist der Kern des Jacobischen 
Umkehrproblems? Die vielfache Periodizität, welche das Integral besitzt, 
ergibt bei der Umkehr des einzelnen Integrals eine uneigentlich diskonti- 
nuierliche Gruppe, die aber eigentlich diskontinuierlich wird, sobald man 
eine hinreichend große Zahl zusammengehöriger Integrale nebeneinander 
betrachtet. 

Das weiteren bespreche ich in meiner Vorlesung die Systematik, 
welche sich für die Geometrie bei Zugrundelegung des Gruppenbegriffs 
ergibt. Ich brauche hierauf an gegenwärtiger Stelle um so weniger ein- 
zugehen, als ich mein Programm von 1872, in welchem ich diesen Grund- 
gedanken entwickelte, in Bd. 43 der Math. Annalen neuerdings habe ab- 
drucken lassen [s. Abh. XXVII dieser Ausgabe ]. 

Es folgt eine kurze Einleitung in die Liesche T'heorie der kontinuier- 


502 Zum Erlanger Programm. 


lichen Transformationsgruppen, bei der ich bemüht war, überall die geo- 
metrische Auffassung zur Geltung zu bringen. Ich nehme dabei insbesondere 
Gelegenheit, die neuen Untersuchungen von Lie über das Helmholtzsche 
Raumproblem darzulegen. Ich bin hierauf um so ausführlicher eingegangen, 
als mir daran lag, die bez. Entwicklungen meiner autographierten Vor- 
lesung über die Nicht-Euklidische Geometrie zu berichtigen, bez. zu ver- 
vollständigen. Ich erkläre auch ausführlich meine Bemerkungen über die 
Monodromie des Raumes in Bd. 37 der Math. Annalen, S. 565 [Abh. XXI 
dieser Ausgabe, S. 373— 374]. „Ich sehe diese meine Betrachtungen nur mehr 
als ein Apergu an, durch welches deutlich wird, daß hier zwischen zwei und 
drei Dimensionen ein Unterschied besteht; durch welches aber die eingehenden 
Lieschen Untersuchungen keineswegs überflüssig gemacht werden.“ 

Dann weiter die diskontinuierlichen Gruppen. Sei hier nur angegeben, 
daß ich den Gegenstand möglichst vielseitig zu fassen suche, indem bei 
spielsweise ebensowohl auf die Untersuchungen der Krystallographen 
Rücksicht genommen wird wie auf die hierher gehörigen Untersuchungen 
der Arithmetiker und Funktionentheoretiker. 

Noch eine besondere Fragestellung habe ich berührt, welche in die 
Theorie der kontinuierlichen wie der diskontinuierlichen Gruppen gleich- 
förmig eingreift, Ich meine die Klassifikation der linearen Differential- 
gleichungen nach den Prinzipien der Herren Picard und Vessiot. Indem 
ich die große Wichtigkeit der Sache hervorhebe, kritisiere ich gleichzeitig 
die Darstellung von Vessiot, die in einem wesentlichen Punkte unzu- 
reichend scheint. — 

Ich schließe meine Vorlesung mit dem Plückerschen Zitate (1830, 
Vorrede zum zweiten Bande der analytisch-geometrischen Entwicklungen): 
„Man kann das Verhältnis der Geometrie zur Analysis aus verschiedenen 
Gesichtspunkten betrachten. Ich möchte mich zu der Ansicht bekennen, 
daß die Analysıs eine Wissenschaft ist, die unabhängig von jeder Anwen- 
dung selbständig für sich allein dasteht, und die Geometrie, wie von einer 
anderen Seite die Mechanik, bloß als bildliche Darstellung gewisser Be- 
ziehungen aus dem großen erhabenen Ganzen erscheint.“ 


Göttingen, im März 1894. 


XXIX. Zur Sehraubentheorie von Sir Robert Ball. 


[Zeitschrift f. Math. u. Physik Bd. 47 (1902); mit einem Zusatz wieder abgedruckt in 
den Math. Annalen, Bd. 62 (1906).] 


Sir Robert Ball hat seine langjährigen Untersuchungen über Schrauben- 
theorie im vorigen Jahre in einem stattlichen Bande zusammengefaßt?), 
der nicht verfehlen kann, dieser geometrischen Weiterbildung der Mechanik 
starrer Körper erneut das allgemeine Interesse zuzuwenden. Zwei Vorzüge 
sind es insbesondere, die dem Ballschen Werke von vornherein einen 
zahlreichen Leserkreis sichern dürften, nämlich die Anschaulichkeit und 
der elementare Charakter seiner grundlegenden Entwicklungen. Ich wünsche 
diese Vorzüge lebhaft anzuerkennen, will aber andererseits hervorheben, 
daß dieselben von einem gewissen Verzicht auf die Darlegung der im 
weiteren Verfolg der Theorie notwendig in Betracht kommenden tiefer 
greifenden Fragen begleitet werden (wie dies übrigens der Verfasser selbst 
an verschiedenen Stellen seines Buches deutlich hervorhebt?) ). 

Jedenfalls möchte ich im folgenden einige Ergänzungen zum Ball- 
schen Werke geben, die manchem Leser willkommen sein dürften. Diese 
Ergänzungen betreffen erstlich die allgemeine Systematik des Gebietes im 
Sinne moderner invariantentheoretischer (oder. gruppentheoretischer) Prin- 
zipien, zweitens aber die Verwendung der Schraubentheorie in der Lehre 
von den endlichen Bewegungen starrer Körper (wo ich übrigens in der 
Hauptsache nur systematisch zusammenstelle, was zerstreut in der Lite- 
ratur vorliegt). Ich darf vielleicht hinzufügen, daß ich die betreffenden 
Überlegungen seit Jahren in Vorlesungen und gelegentlichen Vorträgen 
wiederholt zur Geltung gebracht habe; speziell knüpfe ich mit den Dar- 





!) A Treatise on the Theory of Screws, Cambridge 1900. 

2) Man vgl. z.B. die amüsante Auseinandersetzung, die der Verf. 1887 über die 
Ziele seiner Untersuchungen vor der British Association in Manchester gab und die 
nun aus den bez. Reports auf S. 496—509 des vorliegenden Buches wieder abgedruckt 
ist. Eine Kommission ist niedergesetzt, um die Bewegungen eines starren Körpers 
zu untersuchen. „Let it suffice for us“, sagt der Präsident der Kommission gleich 
zu Anfang, „to experiment upon the dynamics of this body so long it remains in or 
near the position it now occupies. We may leave to some more ambitious committee 
the task of following the body in all conceivable gyrations through the universe.“ 


904 Zum Erlanger Programm. 


legungen der nächstfolgenden Paragraphen an meine eigenen Beiträge zur 
Liniengeometrie und Schraubentheorie aus den Jahren 1869 und 1871?) 
sowie an die Auseinandersetzung meines Erlanger Programmes von 1872%) 
an. Es hat seinen guten Sinn, daß ich mich dabei von vornherein der 
Methoden der analytischen Geometrie bediene; in der Tat meine ich, da- 
durch die in Betracht kommenden Beziehungen kürzer und präziser be- 
zeichnen zu können, als dies auf andere Weise möglich wäre. 


$1. 
Von der rationellen Klassifikation geometrischer und mechanischer 
Größen. 


Als Hauptgruppe räumlicher Änderungen bezeichne ich in meinem 
Erlanger Programme den Inbegriff der Bewegungen des Raumes und seiner 
Ähnlichkeitstransformationen. Es möge ein rechtwinkliges Koordinaten- 
system zugrunde gelegt werden; ich deute an, wie die Operationen der 
Hauptgruppe auf die zugehörigen Punktkoordinaten wirken. Wir haben 
erstlich für Drehungen um den Anfangspunkt Formeln folgender Bauart: 


ea db y+c2, 





(1) y=adzc+b’y+cz, 
2, =a"z+b"y+.c”z; 
dabei hat man zwischen den a, b, c,.... die bekannten Relationen, und 
insbesondere ist jede dieser Größen gleich der ihr in der Determinante 
a 
| ae ee a 





| a” h” er 
zugehörigen Unterdeterminante. Wir haben ferner für Parallelverschiebungen 
des Raumes Formeln, die ich so bezeichne: 
(2) x, =2c+4, y=y-+B, 2, =2-+0), 
endlich für diejenigen Ähnlichkeitstransformationen, die den Koordinaten- 
anfangspunkt festlassen: 


(3) x, =is, Y, —iy, 2, = 42; 
unter ihnen mögen wir die /Inversionen 
(4) Tail.) Ar + Sprglsäik Ze de 





3) Math. Annalen, Bd. 2 und 4 /Ahh. II und XIV dieser Ausgabe]. Vgl. ins- 
besondere ‘die „Notiz, betreffend den Zusammenhang der Liniengeometrie mit der 
Mechanik starrer Körper“ in Bd. 4 daselbst. [Siehe Abh. X1V dieser Ausgabe.) 

*, „Vergleichende Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen“ (Er- 
langen 1872), abgedruckt in Bd. 43 der Math. Annalen und anderwärts. [Siehe 


Abh. XXVII dieser Ausgabe.) 


XXIX. Schraubentheorie von Sir Robert Ball. 505 


besonders hervorheben. Die Formeln für beliebige Transformationen der 
Hauptgruppe ergeben sich aus (1), (2), (3) durch Kombination; wir 
mögen dementsprechend die (1), (2), (3) als erzeugende Substitutionen 
der Hauptgruppe bezeichnen. Es handelt sich dabei zunächst um Raum- 
transformationen bei festem Koordinatensystem. Es steht aber nichts im 
Wege, die Formeln auch so zu interpretieren, daß sie bei festgehaltenem 
Raume den Übergang je zu einem neuen rechtwinkligen Koordinaten- 
systeme vorstellen (so daß es sich bei den Operationen der Hauptgruppe 
überhaupt um die allgemeinste Transformation der rechtwinkligen Koordi- 
naten handelt). Wir werden in der Folge diese Auffassung, die zumal .bei 
den Verallgemeinerungen eine Kleinigkeit bequemer erscheint, bevorzugen. 
Die Formeln (1) und (2) ergeben dann zusammengenommen die allgemeinste 
Abänderung des rechtwinkligen Koordinatensystems durch Bewegung, 
Formel (4) den Übergang zu einem inversen Koordinatensystem, Formel (3) 
für die allein nur noch in Betracht kommenden positiven Werte von 4 
die allgemeinste Abänderung, welche aus geänderter Wahl der Längen- 
einheit resultiert. | 

Wir legen nunmehr nicht bloß Punkte, sondern beliebige andere geo- 
metrische Gebilde hinsichtlich unseres Koordinatensystems durch ‚„Ko- 
ordinaten‘“ fest, wobei wir uns diese Gebilde in geeigneter Weise durch 
Punkte definiert denken, so daß ihre „Koordinaten‘ Verbindungen ver- 
schiedener Reihen von Punktkoordinaten sind. Den Inbegriff der solcher- 
weise zur Festlegung eines geometrischen Gebildes dienenden Koordinaten 
mögen wir jeweils als ‚‚geometrische Größe‘‘ bezeichnen. Und nun ruht 
die rationelle Klassifikation geometrischer Größen, von der im folgenden 
ausgegangen werden soll, einfach darauf, daß wir zusehen, wie sich die 
in Betracht kommenden Koordinaten bei den Operationen (1), (2), (3) 
bez. (4) (und also überhaupt bei den Operationen der Hauptgruppe) ver- 
halten. Wir werden alle diejenigen und nur diejenigen geometrischen 
Größen als gleichartig ansehen, deren Koordinaten bei den Operationen 
der Hauptgruppe die gleichen Änderungen erleiden. Erleiden aber die 
Koordinaten zweier Gebilde verschiedene Änderungen, so ergibt sich die 
. geometrische Beziehung der beiden Arten geometrischer Größen zueinander 
unmittelbar und in erschöpfender Weise durch den Vergleich der beiderlei 
Änderungen. 

Ausführungen zu diesem Prinzip enthält u. a. der neuerdings er- 
schienene Artikel von Abraham über die geometrischen Grundbegriffe 
in der Mechanik der deformierbaren Körper, Bd. IV der Math. Enzy- 
klopädie, Art. 14 (1901)°). In der Sache hat man selbstverständlich immer 





5) [Vgl. auch den Artikel von H. E. Timerding, Geometrische Grundlegung der 
Mechanik eines starren Körpers. Bd. IV der Math. Enzyklopädie, Art. 2 (1902)]. 


904 Zum Erlanger Programm. 


legungen der nächstfolgenden Paragraphen an meine eigenen Beiträge zur 
Liniengeometrie und Schraubentheorie aus den Jahren 1869 und 1871?) 
sowie an die Auseinandersetzung meines Erlanger Programmes von 1872%) 
an. Es hat seinen guten Sinn, daß ich mich dabei von vornherein der 
Methoden der analytischen Geometrie bediene; in der Tat meine ich, da- 
durch die in Betracht kommenden Beziehungen kürzer und präziser be- 
zeichnen zu können, als dies auf andere Weise möglich wäre. 


81. 


Von der rationellen Klassifikation geometrischer und mechanischer 
Größen. 


Als Hauptgruppe räumlicher Änderungen bezeichne ich in meinem 
Erlanger Programme den Inbegriff der Bewegungen des Raumes und seiner 
Ähnlichkeitstransformationen. Es möge ein rechtwinkliges Koordinaten- 
system zugrunde gelegt werden; ich deute an, wie die Operationen der 
Hauptgruppe auf die zugehörigen Punktkoordinaten wirken. Wir haben 
erstlich für Drehungen um den Anfangspunkt Formeln folgender Bauart: 


2, =ac-+b y+c2, 


(1) y=dz+b’y+cz, 
2, =a"cz+b"y+c”2; 
dabei hat man zwischen den a,b, c,.... die bekannten Relationen, und 
insbesondere ist jede dieser Größen gleich der ihr in der Determinante 
Ne Bere 








| af bh” ec” 
zugehörigen Unterdeterminante. Wir haben ferner für Parallelverschiebungen 
des Raumes Formeln, die ich so bezeichne: 
(2) x, =c+A, y=y-+B, .,=2+(, 
endlich für diejenigen Ähnlichkeitstransformationen, die den Koordinaten- 
anfangspunkt festlassen: | 


(3) Aa, y-ıy, 2, —Äiz; 
unter ihnen mögen wir die Inversionen 
(4) came nd Mi : Basgeaigieh 4 ah, Sr 





3) Math. Annalen, Bd. 2 und 4 /Ahh. II und XIV dieser Ausgabe]. Vgl. ins- 
besondere die „Notiz, betreffend den Zusammenhang der Liniengeometrie mit der 
Mechanik starrer Körper“ in Bd. 4 daselbst. [Siehe Abh. XIV dieser Ausgabe.) 

#) „Vergleichende Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen“ (Er- 
langen 1872), abgedruckt in Bd. 43 der Math. Annalen und anderwärts. [Siehe 


Abh. XXVII dieser Ausgabe.] 


XXIX. Schraubentheorie von Sir Robert Ball. 505 


besonders hervorheben. Die Formeln für beliebige Transformationen der 
Hauptgruppe ergeben sich aus (1), (2), (3) durch Kombination; wir 
mögen dementsprechend die (1), (2), (3) als erzeugende Substitutionen 
der Hauptgruppe bezeichnen. Es handelt sich dabei zunächst um Raum- 
transformationen bei festem Koordinatensystem. Es steht aber nichts im 
Wege, die Formeln auch so zu interpretieren, daß sie bei festgehaltenem 
Raume den Übergang je zu einem neuen rechtwinkligen Koordinaten- 
systeme vorstellen (so daß es sich bei den Operationen der Hauptgruppe 
überhaupt um die allgemeinste Transformation der rechtwinkligen Koordi- 
naten handelt). Wir werden in der Folge diese Auffassung, die zumal .bei 
den Verallgemeinerungen eine Kleinigkeit bequemer erscheint, bevorzugen. 
Die Formeln (1) und (2) ergeben dann zusammengenommen die allgemeinste 
Abänderung des rechtwinkligen Koordinatensystems durch Bewegung, 
Formel (4) den Übergang zu einem inversen Koordinatensystem, Formel (3) 
für die allein nur noch in Betracht kommenden positiven Werte von 4 
die allgemeinste Abänderung, welche aus geänderter Wahl der Längen- 
einheit resultiert. | 

Wir legen nunmehr nicht bloß Punkte, sondern beliebige andere geo- 
metrische Gebilde hinsichtlich unseres Koordinatensystems durch „Ko- 
ordinaten“ fest, wobei wir uns diese Gebilde in geeigneter Weise durch 
Punkte definiert denken, so daß ihre „Koordinaten“ Verbindungen ver- 
schiedener Reihen von Punktkoordinaten sind. Den Inbegriff der solcher- 
weise zur Festlegung eines geometrischen Gebildes dienenden Koordinaten 
mögen wir jeweils als ‚‚geometrische Größe‘‘ bezeichnen. Und nun ruht 
die rationelle Klassifikation geometrischer Größen, von der im folgenden 
ausgegangen werden soll, einfach darauf, daß wir zusehen, wie sich die 
in Betracht kommenden Koordinaten bei den Operationen (1), (2), (3) 
bez. (4) (und also überhaupt bei den Operationen der Hauptgruppe) ver- 
halten. Wir werden alle diejenigen und nur diejenigen geometrischen 
Größen als gleichartig ansehen, deren Koordinaten bei den Operationen 
der Hauptgruppe die gleichen Änderungen erleiden. Erleiden aber die 
Koordinaten zweier Gebilde verschiedene Änderungen, so ergibt sich die 
. geometrische Beziehung der beiden Arten geometrischer Größen zueinander 
unmittelbar und in erschöpfender Weise durch den Vergleich der beiderlei 
Änderungen. 

Ausführungen zu diesem Prinzip enthält u. a. der neuerdings er- 
schienene Artikel von Abraham über die geometrischen Grundbegriffe 
in der Mechanik der deformierbaren Körper, Bd. IV der Math. Enzy- 
klopädie, Art. 14 (1901)°). In der Sache hat man selbstverständlich immer 





5) [Vgl. auch den Artikel von H. E. Timerding, Geometrische Grundlegung der 
Mechanik eines starren Körpers. Bd. IV der Math. Enzyklopädie, Art. 2 (1902)]. 


806 Zum Erlanger Programm. 


dem Prinzip entsprechend verfahren. Insbesondere ist die in der Mechanik 
(und Physik) übliche Unterscheidung der geometrischen Größen nach ihrer 
Dimension nichts anderes als eine Inbetrachtnahme der Substitutionen (3) 
im Sinne unseres Prinzips (wobei man sich stillschweigend auf positive 
Werte von A beschränkt). In dieser Bemerkung liegt zugleich, wie unser 
Prinzip auf allgemeine, mechanische oder physikalische Größen auszudehnen 
ist. Es ist weiterhin bequem, neben der Längeneinheit und Zeiteinheit 
nicht, wie sonst üblich, eine Masseneinheit, sondern eine Krafteinheit ein- 
geführt zu denken. Man wird daraufhin den Formeln (3) noch diejenigen 
zur Seite stellen, die sich auf die Änderung der Zeiteinheit bez. die 
Änderung der Krafteinheit beziehen: 


(5) L=et, (6) ie 

man wird dann sagen, daß die Formeln (1) bis (6) zusammen die Haupt- 
gruppe der Mechanik (bez. der Physik) definieren, und ferner die mecha- 
nischen (bez. die physikalischen) Größen nach dem Verhalten einteilen, 
welches ihre Koordinaten bei den Operationen dieser Hauptgruppe zeigen. 
Übrigens werden wir auf diese erweiterten Festsetzungen nur bei Gelegen- 


heit zurückkommen; für die laufenden Entwicklungen genügt uns die In- 
betrachtnahme der räumlichen Hauptgruppe. 


2 
Koordinaten für die unendlich kleine Bewegung eines starren Körpers 
sowie für die an ihm angreifenden Kraftsysteme. 
Eine unendlich kleine Bewegung mag durch folgende Formeln vor- 

gestellt sein: | 
de=(—ry+gz + u)dt 

(7) dy=(— pz+rx + v)di, 
d2e=(—ge+py+w)dt. 

"Wir bezeichnen die Größen 


(8) 2,9,7,U,v, Ww 
als die Koordinaten der instantanen Geschwindigkeit, en die Größen 
(9) pdt, gdt, rdt, udt, vdt, wdt 


als die Koordinaten der unendlich kleinen Bewegung selbst. 

Kräfte am starren Körper stellen wir in üblicher Weise durch Strecken 
dar, welche auf bestimmte gerade Linien aufgetragen und längs dieser 
geraden Linien verschiebbar sind. Dabei werden wir die Länge dieser 
Strecken je der Größe der Kräfte gleich setzen; es ist gleichgültig, ob 
wir uns dabei die Kräfte sämtlich als Stoßkräfte oder als kontinuierlich 


.,, 
TE 


XXIX. Schraubentheorie von Sir Robert Ball. 507 


wirkende Kräfte denken®). Es seien x, y,2 bzw. x’, y’,z’ Anfangs- und 
Endpunkt einer ‚linienflüchtigen“ Strecke. Dann hat man in üblicher 
Weise als Koordinaten derselben: 


«2, y—-y, 2'—2, ye—yz, 20-22, zy—a'y; 
dieselben sechs Größen werden als Koordinaten der Kraft gelten, sofern 
man die Länge I der Strecke gleich der Zahl P gewählt hat, welche die 
Größe der Kraft mißt. Wollen wir die Abhängigkeit von der Wahl der 
Krafteinheit und der Längeneinheit deutlicher hervorkehren, so wird es 


zweckmäßiger sein, als Koordinaten der Kraft folgende sechs Größen zu 
bezeichnen: 


T(@'-2), SW. (2’— 2), 


(zy’— x’y). 


SS | 


—(yz’— y2), — (22 — z'’x), 


Als Kräftesystem bezeichnen wir den Inbegriff beliebig vieler auf 
den starren Körper wirkender Einzelkräfte und wählen als Koordinaten 
desselben die Summen der zusammengehörigen Koordinaten dieser Einzel- 
kräfte. Solcherweise erhalten wir als Koordinaten eines Kräftesystems 
die sechs Größen: 


‚ P 
{= ma) ‚= (u-y Yı); Z= 2 ‘ 


, (2) 


P7 ‚ ‚ 
L= - (Ka — Yi%), M= N (4% — 2%)» N-2, (ayi -ziy). 


Es wird nunmehr darauf ankommen, zuzusehen, wie sich die Koordi- 
naten 9, q, r, u, v, w (8) und die jetzt eingeführten X, Y,Z, L,M,N 
bei den Operationen (1) bis (6) der Hauptgruppe verhalten. Ich stelle 
hier die Resultate einfach zusammen: 


1. Drehung um den Koordinatenanfangspunkt (Formel (1)). 

Die Koordinaten p, g, r und die u, v, w, andererseits die X, Y, Z 
und die Z, M,N erleiden je für sich genau dieselbe Substitution wie die 
Punktkoordinaten x, y, z. (Dies Resultat ruht wesentlich auf dem oben 
hervorgehobenen Umstande, daß die Substitutionskoeffizienten a,b, c,... 
ihren bez. Unterdeterminanten gleich sind.) 

2. Verschiebung (Formel (2)). 


Die p, g, r, andererseits die X, Y, Z bleiben era Dagegen 
erleiden die u, v, w die folgende een. 





6) Die Unterscheidung tritt erst ein, wenn wir zur Kinetik schreiten, wo dann 
die Verabredung sein wird, daß die Einheit der Stoßkraft an irgendeinem Massen- 
punkte instantan dieselbe Geschwindigkeitsänderung hervorbringt, wie die Einheit 
der kontinuierlichen Kraft während der Zeiteinheit. 


508 Zum Erlanger Programm. 


u=u—-Üg-+Br, 
(11) =v—Ar+(p, 
w=w-— Bp+4g, 
und genau entsprechende Formeln ergeben sich für Z,M,N: 
L=L-(CY +BZ, 
(11’) M,=M-AZ-+UCX, 
N,=N— BX-+HAY. 
3.. Ähnlichkeitstransformation (Formel (3) bez. (4)). 
Ist A positiv, so werden | 
(12) Pı> > fı> U: d,, w, bez. gleich p,g, r, Au, Av, Aw 
und genau so 


42) 2, 1.32, 2; 3,3 eu u IT ZEILE AM AN. 
Dagegen tritt bei negativem A ein Unterschied ein, der sich am ein- 
fachsten darin ausprägt, daß bei Inversion 
(13) 2:9: 7:4: 9%;%, gleich »2,9,r, -u, —v, —w, 
dagegen 
13) X,7,2,2:,M, N, gäih -X,-7T, =-2Z,L.M,N 
werden. (Dieser Unterschied kommt dadurch hervor, daß die in den 
Formeln (10) auftretenden Längen 2, absolute Beträge sind, welche als 
solche ihr Vorzeichen bei Inversion nicht wechseln.) 
4. Änderung der Zeiteinheit (Formel (5)). 


* . > yf U ® WW 
14 re Be ar 98, 
( ) P; > Qı> Fı> %, > %,, W, g RU RI T 


die Koordinaten des Kräftesystems hleiben ungeändert. 
5. Änderung der Krafteinheit (Formel (6)), 
Die p,g,r, u, v, w bleiben ungeändert, dagegen werden 
(15) X,Y7,2,72,M,,N, bzw. gleich oX,0Y,0Z2,0oL,oM,oN. 
Indem wir uns der Kürze halber auf die Hauptgruppe räumlicher 
Änderungen beschränken, werden wir zusammenfassend sagen können: 
Bei bloßer Bewegung des Koordinatensystems, ebenso auch bei Ähn- 
lichkeitstransformation von positivem Ahnlichkeitsmodul, transformieren 
sich die Kraftkoordinaten 
a, DB REDEN 
genau wie die Geschwindigkeitskoordinaten 
2. re | 
Dagegen tmitt bei Inversion des Koordinatensystems ein abweichendes 
Verhalten ein; während die 
P,9,r,Uu,vV,w in 2,9, -Uu, —v, -—w 
übergehen, verwandeln sich die 
X,Y,Z,L,M,N be.n —X,—-Y, -Z,L,M,N. 


XXIX. Schraubentheorie von Sir Robert Ball. 509 


8 3. 


Die Analogie der unendlich kleinen Bewegungen und der Kräftesysteme 
(beim starren Körper). Sehraubengrößen der ersten und zweiten Art. 
Ballsche Schrauben. 


Durch die Formeln des vorigen Paragraphen. ist die Analogie von un- 
endlich kleinen Bewegungen und Kräftesystemen, welche die ganze Mechanik 
der starren Körper und insbesondere die Ballsche Schraubentheorie durch- 
zieht, auf das klarste begründet und gleichzeitig umgrenzt. 

Bemerken wir vorab, daß das Größensystem 


pdt, qdt, rdt, udt, vdt, wdi 


vermöge der Formeln (7) ohne weiteres eine (unendlich kleine) Schraubung 
des Raumes der x, y, z (von bestimmter Achse, Ganghöhe und Amplitude) 
bedeutet, das Größensystem der 


De BER er 


dementsprechend eine Schraubungsgeschwindigkeit. Ich will in diesem 
Sinne den Inbegriff der p, g, r, u, v, w fortan als eine Schraubengröße 
bezeichnen, genauer, wenn es darauf ankommt, als eine Schraubengröße 
erster Art. 

Nunmehr wolle man den Inbegriff der Koordinaten eines Kräfte- 
systems, also die in (10) definierten 


Eee FRE ; Peine ey FR: 
zum Vergleich heranziehen. Wir wollen insbesondere ein Kräftesystem 
und eine Schraubengröße erster Art in Zusammenhang bringen, indem 
wir setzen: 


X=p, Y=g, Z=r, L=u, M=v, N=w, 


und uns fragen, wie weit diese Zusammenordnung eine vom Koordinaten- 
system unabhängige Bedeutung hat (also gegenüber den Operationen der 
Hauptgruppe invariant ist). Zunächst ergeben die Formeln (14), (15) des 
vorigen Paragraphen, daß die Zuordnung von der Wahl der Zeiteinheit 
und der Krafteinheit abhängig ist. Ferner aber ergeben die Formeln für 
Drehung, Parallelverschiebung und Ähnlichkeitstransformation mit positivem 
Ähnlichkeitsmodul, daß die Zuordnung von allen in diese Worte ein- 
begriffenen Änderungen des räumlichen Koordinatensystems unabhängig ist. 
Endlich die Formeln (13), (13'), daß sich die Zuordnung bei ‚Inversion 
in ihr Gegenteil verkehrt: 


(17) %=- 9, ,=9 4,=-1, L=—-u, M=-v, N=-w. 


Die geometrische Überlegung bestätigt das so formulierte Resultat 
natürlich Schritt für Schritt. Ich will, um dies im Detail auszuführen, 


510 Zum Erlanger Programm. 


angeben, daß die Achse der Schraubengeschwindigkeit p,g,r,u,v,w die 
Linienkoordinaten hat: 





(18) p:q:r:u—kp:v— kq:w— kr, 
wo der „Parameter“ 

’ u+gv+ 
(18 ) nt: 


und daß die Drehgeschwindigkeit um diese Achse die Komponenten p,g,r, 
die Translationsgeschwindigkeit längs der Achse die Komponenten kp, kg, kr 
besitzt. Genau entsprechend kann man bei einem Kräftesystem X, Y.Z, 
L, M,N eine Zentralachse finden, deren Linienkoordinaten durch 





(19) X:Y:Z:L—-kX:M—-kY:N-—kz 

gegeben sind, unter k die Größe 

(19') _ÄL+YM+ZN 
X’+Y’+2z° 


verstanden, und das Kräftesystem läßt sich dann auf eine Einzelkraft mit 
den Komponenten X, Y, Z entlang dieser Achse und ein Paar mit den 
Komponenten kX, kY, kZ in einer zur Achse senkrechten Ebene redu- 
zieren. Die Zusammenordnung verlangt, der Drehgeschwindigkeit um die 
Achse die längs der Achse wirkende Einzelkraft und der in Richtung der 
Achse liegenden Translationsgeschwindigkeit ein Paar in einer zur Achse 
senkrechten Ebene gleich zu setzen. Hierzu ist selbstverständlich eine vor- 
herige Verständigung über die Zeiteinheit und die Krafteinheit notwendig. 
Erst wenn dies geschehen, kann man sagen, daß die Intensität eines Kräfte- 


systems (gemessen durch A Z”) gleich der durch Vp? - g? + r? 
gemessenen Intensität einer Geschwindigkeit sei. Darüber hinaus aber 
brauchen wir eine Verabredung, welchen Sinn um die Achse man einem 
entlang der Achse weisenden Sinne zuweisen will: — ob denjenigen Sinn 
um die Achse, der beim Entlangblicken längs der Achse in der vorge- 
gebenen Richtung durch die Bewegung des Uhrzeigers gegeben ist, oder 
den entgegengesetzten. Erst durch diese Verabredung wird die Zusammen- 
ordnung von Kräftesystem und Geschwindigkeit eindeutig. Jede solche 
Verabredung verwandelt sich aber bei Inversion der Figur bekanntlich in 
ihr Gegenteil, und dies ist, was durch Formel (17) ausgedrückt wird. 

Der Inbegriff der (XYZLMN) steht also zwar dem Inbegriff der 
(pqruvw), d.h. der Schraubengröße erster Art sehr nahe, ist aber nicht 
selbst eine Schraubengröße erster Art. Wir werden ihn als Schraubengröße 
zweiter Art bezeichnen. Die Zusammenordnung der beiderlei Größenarten 
aber werden wir so in Worte fassen, daß wir sagen: 

Nachdem Zeiteinheit und Krafteinheit festgelegt sind, gehören zu einer 
Schraubengröße zweiter Art immer noch zwei (entgegengesetzt gleiche) 








XXIX. Schraubentheorie von Sir Robert Ball. 511 


Schraubengrößen erster Art, und umgekehrt; die Zusammengehörigkeit wird 
erst eine eindeutige, wenn man im angegebenen Sinne eine Verabredung 
über rechts und links hinzufügt. 

Neben die so besprochenen Schraubengrößen erster ıınd zweiter Art 
treten dann drittens als engverwandte geometrische Gebilde die Ballschen 
Schrauben selbst. Die Ballsche Schraube ist der Inbegriff der um eine 
Achse herumgelegten Schraubenlinien von gegebenem Windungssinn, die 
eine bestimmte Ganghöhe haben, oder, wie Ball sagt, der Inbegriff von 
Zentralachse und Parameter (pitch). Die so definierte Ballsche Schraube 
ist mit dem Nullsystem, das jedem Punkte die Normalebene der durch 
ihn gehenden Schraubenlinien zuordnet, oder auch mit dem linearen Linien- 
komplex, der von den Normalen der sämtlichen Schraubenlinien gebildet wird, 
eineindeutig zusammengeordnet; ob ich von der Ballschen Schraube, dem 
Nullsystem oder dem linearen Komplex spreche, ist für den hier ver- 
tretenen Standpunkt dasselbe. Jedes dieser Gebilde wird durch die Verhält- 
nisse X:Y:Z:L: M:N der Koordinaten einer Schraubengröße zweiter 
Art, oder auch durch die Verhältnisse p:q:r:u:v:w der Koordinaten 
oder Schraubengröße erster Art festgelegt. In der Tat verschwindet, wenn 
man sich auf die Betrachtung dieser ‚Verhältnisse“ beschränkt, der Unter- 
schied der beiden Arten von Schraubengrößen. Entsprechend gibt es nur 
eine Art Ballscher Schrauben. Zu jeder Ballschen Schraube gehoren un- 
endlich viele Schraubengrößen erster wie zweiter Art, die sich untereinander 
durch Intensität und Sinn unterscheiden. | 


Hiermit dürfte der Zusammenhang der verschiedenen in Betracht 
kommenden Gebilde so vollständig dargelegt sein, als man wünschen mag. 
Die einzelne „Schraube“ ist Trägerin von unendlich vielen ‚Schrauben- 
größen erster und zweiter Art“. Indem wir die letzteren sprachlich 
unterscheiden, dürfte zugleich dem immer wiederkehrenden Mißver- 
ständnisse, als handele es sich bei der Zusammenordnung der zweierlei 
Schraubengrößen um einen kausalen Zusammenhang, nach Möglichkeit 
vorgebeugt sein”). 





”) Vgl. die Erörterungen in meiner oben genannten Notiz, Math. Annalen, Bd. 4. 
[Siehe Abhandlung XIV dieser Ausgabe.] Die Hartnäckigkeit des Mißverständnisses 
hat offenbar eine psychologische Wurzel. Wir sind durch unsere tägliche Be- 
schäftigung gewöhnt, wenn wir eine Einzelkraft auf einen Körper wirken lassen, 
diese auf den Schwerpunkt des Körpers zu richten, worauf sie natürlich Translation 
des Körpers erzeugt. Von hier aus hat sich zwischen den beiden Dingen (Einzelkraft 
und Translation) eine Assoziation gebildet, die sich in unseren Überlegungen unwill- 
kürlich immer wieder geltend maeht. wenn man sie nicht durch eine immer wieder- 
holte Erklärung und eine möglichst unzweideutige Spreehweise ausdrücklich ab- 
schneidet. 


914 - Zum Erlanger Programm. 


1. Man interpretiere die X, Y, Z,... als die Koordinaten eines 
Systems kontinuierlich wirkender Kräfte. Dann bedeutet der Ausdruck (23) 
multipliziert mit dt, also das Produkt: 

(24) (Xu+Yv+Zw+Lp+ Mg+Nr)dt 

die Arbeit, welche das Kräftesystem bei Eintritt der unendlich kleinen 
Bewegung udt, vdt, wdt,... leistet, und ist eben darum ein Skalar 
erster Art. | ] 

2. Dagegen haben die Ausdrücke (22) vermöge ihrer geometrischen 
Bedeutung von vornherein den Charakter von Skalaren zweiter Art. Es 
genügt, dies hier an dem Beispiele zweier Kräftesysteme nachzuweisen, 
die sich auf Einzelkräfte reduzieren lassen. Wir setzen dementsprechend 


35 ’ P, ! 
%,=- 7 mm) Y,= Mu: 


und analog 


i 


Hierdurch verwandelt sich X, Z,+ Y,M, + Z,N,+%,1+Y,M,+Z;N, 


PP; 


L, 


P } 2 ‚ 
%,=- 7 (m 9) r,=- 7 My). 


in das Produkt von in die Determinante: 





% Yı 2% 1 
u u a 1 
% Ya a 1| 
zu Y% 2% 1 








die einen sechsfachen Tetraederinhalt vorstellt und gewiß ein Skalar zweiter 
Art ist. 

3. Aus der Nebeneinanderstellung von 1. und 2. ergibt sich nun sofort 
der Satz III, der das zu beweisende Resultat in präziser Form ausspricht. 


$ 5. 


Gruppentheoretische Charakterisierung der verschiedenen Arten 
von Schraubentheorien. 


Bisher haben wir die Substitutionen, welche die Schraubenkoordi- 
naten 9,9, r,u,v, w (um nur von diesen zu reden) bei den Bewegungen 
und Umlegungen erfuhren, nur erst durch das Verhalten der p,g,... bei 
den erzeugenden Operationen (1), (2), (4) definiert. Es ist von Interesse, 
den Inbegriff dieser Substitutionen von den Invarianten 


»+qg’+r? und pu+gv-—+rw 
aus zu charakterisieren. In dieser Hinsicht stelle ich folgenden Satz auf: 
Die p, q, r erleiden alle ternären linearen Substitutionen von der 
Determinante + 1, welche p® +g°-+-r? ungeändert lassen, die P, 9; ?; 


XXIX. Schraubentheorie von Sir Robert Ball. 515 


u, v, w zusammen aber alle senären linearen Substitutionen von 
der Determinante +1, [bei denen p, g, r nur unter sich transfor- 
miert werden, und die p®+qg°-+ r” ungeändert lassen und außerdem ] 
pu+gv+rw beziehungsweise in + (pu +qv-+ rw) überführen. 

Der erste Teil dieses Satzes (der sich auf die ternären Substitutionen 
der p, q, r bezieht) braucht nach den Angaben, die wir über das Ver- 
halten der p, g, r bei den erzeugenden Operationen machten, nicht weiter 
erläutert zu werden; er bringt nur die bekannte Beziehung der Drehungen 
um den Koordinatenanfangspunkt O zu den ternären orthogonalen Sub- 
stitutionen zum Ausdruck. Sei nun irgendeine. ternäre orthogonale Sub- 
stitution der 9, g, r von der Determinante + 1 als Teil einer senären Sub- 
stitution der 9, g, r, u, v, w von der Determinante + 1 vorgelegt, welche 
(pu-+gv--rw) bez. int (puw+gv-+ rw) verwandelt. Wir kombinieren 
sie mit einer Drehung um O, welche die p, g, r zu ihren Anfangswerten 
zurückführt (und übrigens für die v, v, w nach den Angaben von $ 2 
genau dieselbe ternäre Substitution von der Determinante +1 ergibt, wie 
für die 2, g, r selbst, so daß der Wert von pu+ pv-+ rw und der Wert 
der senären Substitutionsdeterminante dabei ungeändert bleibt). Wir 
ziehen ferner nötigenfalls eine Inversion heran, um zu erreichen, daß 
pu + qv-+ rw seinem ursprünglichen Werte direkt gleich wird; dabei er- 
hält die senäre Substitutionsdeterminante von selbst den Wert +1. Die 
so vereinfachte Substitution hat jetzt (weil pu+gv-+ rw in sich selbst 
übergehen soll) notwendig die Form 


9=2D W=u— Üg+Br, 
774, u, =v— Ar+Cp, 
r=r, w=w-— Bp+4g, 


wo einzig die A, B, © noch willkürlich sind. Eine solche Substitution 
stellt aber nach (11), $2, eine Translation dar. Also unsere anfängliche 
Substitution ergibt eine Translation, wenn wir sie mit einer geeigneten 
Rotation und eventuell einer Inversion verbinden, — sie stellt daher von 
Hause aus entweder eine Bewegung oder eine Umlegung dar, was zu 
beweisen war. 

So viel über die Substitutionen der p, g, r, u, v, w. Die Substitu- 
tionen der X, Y, Z, L, M, N ergeben sich von da aus sofort, wenn wir 
nur festhalten, daß sie zu den %, v, w, ?, g, r kontragredient sind. 

Mit dieser Festlegung der beiderlei Substitutionsgruppen ist nach den 
Grundsätzen meines Erlanger Programms die zugehörige Schraubentheorie 
vollkommen charakterisiert. 

Wir schreiten nach dem oben Gesagten zur Ballschen Schrauben- 
theorie im engeren Sinne, indem wir nur die Verkälinisse p:q:r:u:v:w 

33* 


516 Zum Erlanger Programm. 


beziehungsweise X:Y:Z:L:M:N in Betracht ziehen (wobei der Unter- 
schied zwischen den Schraubengrößen der beiden Arten wegfällt). Die 
p:gq:r:w:v:w (um nur von diesen zu sprechen) erleiden solche (und 
alle solchen) linearen Substitutionen, bei denen die Gleichungen 


pP +’ +r=0 und pu+gv+rw=0 
pu+guv+rw 
p°’+ gq® +r? 
ungeändert bleibt oder doch nur sein Zeichen wechselt. Wollen wir 
neben Bewegungen und Umlegungen auch noch Ähnlichkeitstransforma- 


in sich übergehen, der Parameter 





aber entweder überhaupt 





tionen in Betracht ziehen, so wird sich 2 _ um einen beliebigen 


Faktor ändern können; die auf den Parameter bezügliche Einschränkung 
der Substitution kommt dann in Wegfall. 


Die so umgrenzte Ballsche Schraubentheorie ist mit derjenigen Linien- 
geometrie, welche das Nullsystem (oder, was dasselbe ist, den linearen 
Linienkomplex) als Raumelement benutzt, nach dem Klassifikationsprinzip 
des $1 im Wesen identisch. Aber natürlich ist, wenn wir uns so aus- 
drücken, diejenige Liniengeometrie gemeint, welche die Hauptgruppe räum- 
licher Änderungen zu grunde legt; ich möchte sie die konkrete Linien- 
geometrie nennen. Statt dessen ist in meinen eigenen alten Arbeiten (wie 
auch in der Mehrzahl der seitdem erschienenen deutschen und italienischen 
Arbeiten) die Liniengeometrie in mehr abstrakter Form behandelt worden, 
nämlich unter Zugrundelegung der 15-gliedrigen Gruppe, welche einerseits 
alle projektiven Umformungen unseres Raumes, andererseits aber die 
dualistischen Umformungen enthält. Für diese abstrakte Liniengeometrie 
(wie ich sie hier des Gegensatzes halber nennen möchte) gilt dann der 
Satz, den ich in Bd. 4 der Math. Annalen, S8. 356 [ Über eine geometrische. 
Repräsentation der Resolventen algebraischer Gleichungen, siehe Bd. II 
dieser Ausgabe], aufstellte, daß bei ihr die Gruppe aller derjenigen linearen 
Substitutionen der p:gq:r:u:v:w zugrunde liegt, welche die Gleichung 
pv+qu-+rw=( in sich überführen. Die Bezugnahme auf die quadra- 
tische Form p°? —+g?”-+-r? ist einfach weggefallen. | 

Mit der so gegebenen Entgegenstellung der zugehörigen Gruppe 
dürfte die Beziehung meiner eigenen alten Arbeiten und beispielsweise 
des Werkes von Sturm über Liniengeometrie®) zu denjenigen von Ball 
mit aller Schärfe gegeben sein. Auf Einzelheiten einzugehen ist hier 
nicht der Ort. 





°), Die Gebilde ersten und zweiten Grades der Liniengeometrie in synthetischer 
Behandlung, 3 Teile, Leipzig 1892—1896. 


XXIX. Schraubentheorie von Sir Robert Ball. 517 


8 6. 


Lineare Sehraubensysteme. 


Nachdem solcherweise die Grundlagen der Schraubentheorie festgelegt 
sind, mögen wir mit Ball dazu übergehen, die linearen Systeme von 
Schrauben zu studieren, d. h. die Mannigfaltigkeiten solcher Schrauben, 
deren Koordinaten sich aus den Koordinaten von 2, 3, 4, 5 Schrauben 
mit Hilfe einer entsprechenden Zahl veränderlicher Parameter homogen 
linear zusammensetzen lassen. Bei der bezüglichen Diskussion beschränkt 
sich Ball im wesentlichen auf die Besprechung der allgemeinen Fälle oder 
zieht doch nur Beispiele von Spezialfällen heran. Es scheint aber er- 
wünscht, die Diskussion systematisch durchzuführen !P). 

Ich will dies hier für die zweigliedrige Schar skizzieren, beschränke 
mich aber dabei der Kürze halber darauf, nur die Verhältnisse der sechs 
Koordinaten in Betracht zu ziehen. Sei dementsprechend. 


(25) ep=Amthp, gehts: oew=Ä4w + hu,, 
unter o einen Proportionalitätsfaktor verstanden. Es erleichtert die Aus- 


koordinaten in einem Raume von fünf Dimensionen bezeichnen. Die 
Formeln (25) repräsentieren dann in diesem Raume eine gerade Linie, und 
es wird sich darum handeln, die sämtlichen Geraden, die es in unserem 
fünfdimensionalen Raume gibt, nach ihrer Beziehung zu den beiden qua- 
dratischen Mannigfaltigkeiten 9 +9? + r?=0 und pu+gv+rw—0 zu 
studieren, resp. zu klassifizieren. Dabei wird sich unsere Aufmerksamkeit 
in erster Linie auf die Schnittpunkte richten, welche unsere Gerade mit 
diesen Mannigfaltigkeiten gemein hat. Die Schnittpunkte mit jeder der 
beiden Mannigfaltigkeiten können getrennt sein, zusammenfallen oder un- 
bestimmt werden. Außerdem können die Schnittpunkte, welche die gerade 
Linie mit der einen Mannigfaltigkeit gemein hat, mit denen, die sie mit 
der anderen Manmnigfaltigkeit gemein hat, teilweise oder ganz koinzidieren. 
Des weiteren möge man Realitätsunterschiede heranziehen. Hiernach er- 
gibt sich eine von vornherein übersehbare Reihe von Fallunterscheidungen, 
die nicht nur mit leichter Mühe aufgezählt, sondern ebensowohl nach 
ihrer schraubentheoretischen Bedeutung diskutiert werden können. Jeder 
Geometer, der mit algebraischen Betrachtungen in mehrdimensionalen 
Räumen einigermaßen vertraut ist, wird dies ohne weiteres ausführen; es 
scheint unnötig, hierbei noch länger zu verweilen. 





‘) In ähnlichem Sinne äußert sich Hr. Study auf $. 226—228 der (bis jetzt 
allein erschienenen) ersten Lieferung seiner Geometrie der Dynamen (Leipzig, 1901) 
und stellt für die demnächst erscheinende zweite Lieferung weitergehende Entwick- 
lungen in Aussicht. 


918 Zum Erlanger Programm. 


Immerhin wird es gut sein, einen Unterschied hervorzuheben, den 
der geschilderte Ansatz den Ballschen Entwicklungen gegenüber zeigt. 
Ball berücksichtigt prinzipiell nur die reellen Vorkommnisse, hier dagegen 
wird reell und imaginär zunächst als gleichwertig betrachtet und die Frage 
nach den Realitätsverhältnissen erst zum Schlusse eingeführt. Um an 
einem Beispiel den Vorteil zu zeigen, den das letztere Verfahren haben 
kann, betrachten wir die Regelfläche, welche von den Achsen der Schrau- 
ben (25) gebildet wird, das sogenannte Zylindroid. Nach Ball ist das- 
selbe im allgemeinen von der dritten Ordnung; wenn aber die komponie- 
renden Schrauben 9,, 9; ?,, - .. und 9,, 9 Ta, . .. Sich auf zwei Rota- 
tionen reduzieren, deren Achsen sich schneiden, so artet es in dasjenige 
ebene Strahlbüschel aus, dem die Achsen angehören. Statt der Fläche 
von der dritten Ordnung haben wir dann also eine von der ersten. Wie 
kommt diese Ausartung zustande? Wenn wir das Imaginäre mitnehmen, 
finden wir zunächst, daß es Rotationen mit unbestimmter Achse gibt (es 
sind diejenigen Schraubenbewegungen, bei denen der durch Formel (19°) 


gegebene Parameter den Wert n erhält). Dieselben lassen nämlich alle 


Minimallinien fest, welche durch einen festen Punkt des Kugelkreises in 
einer festen Tangentenebene desselben verlaufen, also ihrerseits ein Strahl- 
büschel bilden. Solcher Rotationen treten nun im vorliegenden Spezial- 
falle unter der Schar (25) zwei auf, entsprechend den beiden Minimal- 
linien, die unter den Strahlen des Ballschen Strahlbüschels enthalten sind. 
Die Folge ist, daß sich von dem Zylindroid zwei imaginäre Ebenen ab- 
trennen, nämlich die beiden Ebenen, welche sich durch die Normale zum 
Ballschen Strahlbüschel und die beiden Minimallinien desselben legen 
lassen. Der Rest, eben das Ballsche Strahlbüschel, ist dann natürlich 
von der ersten Ordnung. Der Leser muß entscheiden, ob der Gewinn an 
Einsicht, der hier und in ähnlichen Fällen resultiert, ein Äquivalent für 
die weitläufigere Vorbereitung ist, die erforderlich scheint, wenn man in der 
Geometrie mit imaginären Elementen bequem und sicher operieren will. 


Übrigens möchte ich nicht minder eine Ausgestaltung der Theorie 
der linearen Schraubensysteme nach der eigentlich mechanischen Seite hin 
in Anregung bringen. Die Diskussion der linearen Schraubensysteme, von 
der ich gerade sprach, versieht uns mit einer endlichen Zahl unterschie- 
dener Fälle der Beweglichkeit eines starren Körpers im Unendlich-Kleinen; 
es kann sich dabei der Reihe nach um 2, 3, 4, 5 Grade der Freiheit 
handeln. Nun findet man in der Natural Philosophy von Thomson und 
Tait (2. Ausg., Bd. I, S. 155 (Nr. 201)) einen einfachen Mechanismus be- 
schrieben, vermöge dessen man einem starren Körper fünf Grade der Be- 
weglichkeit im Unendlich-Kleinen in allgemeinster Weise erteilen kann: 


XXIX. Schraubentheorie von Sir Robert Ball. 519 


der Körper ist um eine Schraubenspindel drehbar, die mit Hilfe zweier 
aneinander geketteter Hookescher Schlüssel an ein Postament befestigt 
ist. Ich stelle die Aufgabe, die sämtlichen gemäß unserer Diskussion zu 
unterscheidenden reellen Fälle infinitesimaler Beweglichkeit eines starren 
Körpers durch möglichst einfache Mechanismen zu realisieren. 

Eine letzte Bemerkung zur Theorie der linearen Schraubensysteme 
möge wieder nach Seite der Gruppentheorie liegen. Camille Jordan 
hat bekanntlich zuerst alle kontinuierlichen und diskontinuierlichen Gruppen 
aufgestellt, die sich aus den reellen Bewegungen des Raumes bilden 
lassen!!, Unter diesen interessieren uns hier nur die kontinuierlichen 
Gruppen. Man findet dieselben bei Study im 39. Bande der Math. An- 
nalen, S. 486—487 (1891), übersichtlich zusammengestellt und geometrisch 
charakterisiert; eine Tabelle der zugehörigen unendlich kleinen Bewegungen 
gibt Lie in Bd. 3 seiner Theorie der Transformationsgruppen (Leipzig, 
1893), 8.385. Ich nenne hier von diesen Gruppen nur die einfachsten, nämlich: 
a) die Gesamtheit aller oo? Translationen, 

b) die Gesamtheit aller oo* Bewegungen, die einen unendlich fernen Punkt 

(oder, was auf dasselbe hinauskommt, eine unendlich ferne Gerade) 

fest lassen, a 
c) die Gesamtheit aller 0° Bewegungen, welche einen im Endlichen ge- 

legenen Punkt fest lassen, 

d) dıe Gesamtheit aller ©0® Bewegungen, welche eine im Endlichen ge- 
legene Ebene fest lassen. 
Offenbar empfiehlt es sich, die Mechanik solcher starrer Körper, welche 
die Beweglichkeit einer dieser Untergruppen haben, gesondert zu be- 
arbeiten (wie dies für den Körper mit im Endlichen gelegenem festem 
Punkt von jeher geschehen ist). Die unendlich kleinen Bewegungen jeder 
solchen Untergruppe bilden aber ein lineares Schraubensystem, und die 
so entstehenden linearen Schraubensysteme heben sich also vor anderen 
durch ihre Wichtigkeit für die Mechanik “hervor; ich werde sie lineare 
Schraubensysteme von selbständiger gruppentheoretischer Bedeutung nennen. 
Indem ich das Koordinatensystem in geeigneter Weise wähle, bekomme 
ich in den Fällen a) bis d) für die Koordinaten 
DE u 
der betreffenden Schrauben folgende Werte: 
a Pe Fee Ra iR 
BE A 2, 
SHE AS, 6,0 
3 u es a0 rer ep 


"!) Annali di Matematica, Ser. 2, Bd. 2 (1869). 





920 Zum Erlanger Programm. 


Hier sind die A,, A,,..., wie in (25), beliebig veränderliche Parameter. 
Man sollte jedes einzelne der so gewonnenen linearen Schraubensysteme 
genau so für die Mechanik der ihm zugehörigen endlichen Bewegungen 
benutzen, wie dies sofort mit dem System c) für die Drehung eines 
Körpers um einen festen Punkt und hernach mit der Gesamtheit aller 
Schrauben für den in allgemeinster Weise beweglichen starren Körper 
geschehen wird. 


Bar, 
Übergang zur Kinetik. Unterscheidung holonomer und nicht 
holonomer Differentialausdrücke bez. Differentialbedingungen. 


Daß für n> 2 nicht jeder Differentialausdruck 
(26) plz... »2,)dz; 


ein exaktes Differential dF einer Funktion von x,,...,x, ist, und daß 
für n>3 nicht jede Differentialbedingung 


(26°) Ly.de; —0 

mit einer Gleichung dF = 0 gleichbedeutend ist, ist bekannt genug; die 
Klassifikation der verschiedenen in dieser Hinsicht vorliegenden Möglich- 
keiten wird in der Theorie des ‚„Pfaffschen Problems‘ entwickelt. Wir 
sprechen nach der Ausdrucksweise von Hertz in allen den Fällen, wo 
der Differentialausdruck oder die Differentialbedingung nicht durch ein 
einfaches d F ersetzt werden kann, von einem nicht holonomen Differential- 
ausdruck, bez. einer nicht holonomen Difterentialbedingung. 

In der Mechanik liegt die Sache, allgemein zu reden, nun merk- 
würdigerweise so, daß man zwar von je Anlaß hatte, nicht holonome 
Differentialausdrücke und -bedingungen in Betracht zu ziehen, daß man 
aber erst in den letzten Jahren angefangen hat, diesem Umstande be- 
sondere Aufmerksamkeit zuzuwenden'?). 

Was zunächst nicht holonome Differentialausdrücke angeht, so treten 
dieselben in unsere jetzige Betrachtung dadurch ein, daß bereits die Ko- 
ordinaten pdt, gdt, rdt einer unendlich kleinen Drehung um O, und um 
so mehr die Schraubenkoordinaten pdt, qdt,..., wdt einer beliebigen un- 
endlich kleinen Verrückung eines starren Körpers nicht holonome Ver- 
bindungen der Differentiale der drei oder sechs endlichen Parameter sind, 
durch welche man die Lage des Körpers in den beiden Fällen festlegen 
mag; wir werden hierfür sogleich noch explizite Formeln geben. 

Was aber nicht holonome Bedingungsgleichungen betrifit, so bilden 





12) Vgl. verschiedene Stellen in Voß, Die Prinzipien der rationellen Mechanik 
(Enzyklopädie der Math. Wiss. IV, 1 (1901)), insbesondere Nr..38 daselbst. 


XXIX. Schraubentheorie von Sir Robert Ball. 521 


dieselben nicht etwa einen Ausnahmefall, sondern treten bei den mechani- 
schen Vorgängen, die wir täglich beobachten, außerordentlich häufig auf. 
So macht Hertz in seinem Werke über die Prinzipien der Mechanik?) 
darauf aufmerksam, daß eine Kugel, die auf einer Ebene rollt, das Bei- 
spiel eines mechanischen Systems von fünf Freiheitsgraden abgıbt, das an 
eine nicht holonome Bedingungsgleichung gebunden ist. Noch einfacher 
ist vielleicht das Beispiel eines auf horizontaler Ebene beweglichen Wagens 
oder Schlittens, der (wegen der Reibung an der Unterlage) immer nur 
in Richtung seiner Achse fortschreiten kann; wir haben hier die nicht 
holonome Bedingungsgleichung dy — tangd-dz—=0, unter d das Azimut 
der Achse verstanden. Wir schließen, daß die Betrachtung nicht holonomer 
Bedingungsgleichungen in der Mechanik nichts Künstliches ıst, sondern 
von vornherein mit in Betracht gezogen werden muß, wenn anders wir 
die Bewegungsvorgänge der uns umgebenden Wirklichkeit verstehen wollen. 

Wir werden daher die nicht holonomen Bedingungsgleichungen im 
folgenden immer mit erwähnen. Bei Ball geschieht dies nicht und braucht 
nicht zu geschehen, da Ball seine Betrachtungen von vornherein in der 
Weise auf unendlich kleine Ortsänderungen einschränkt, daß er nur die 
ersten Potenzen der Differentiale beibehält. Infolgedessen kann Ball auch 
den starren Körper, der irgend %& Differentialbeziehungen vom Typus (26) 
unterworfen ist, kurzweg als ein mechanisches System von (6— k) Frei- 
heitsgraden bezeichnen. Dies würde im Falle endlicher Bewegungen nicht 
richtig sein: die rollende Kugel vermag trotz der nicht holonomen Be- 
dingung, der ihre infinitesimalen Bewegungen unterworfen sind, o0° Lagen 
anzunehmen, ebenso der auf der (x, y)-Ebene bewegliche Wagen sämt- 
liche oo® Lagen (x, y,®). 


8 8. 


Über die Verwendung der Geschwindigkeitskoordinaten 9, g, r 
in der Kinetik des starren Körpers mit festem Punkt. 


Ehe wir zur Verwendung der Schraubenkoordinaten 2, g, r, u, v, w 
in der Kinetik beliebiger starrer Körper schreiten, mögen wir die Verwen- 
dung der p, g, r in der Kinetik des starren Körpers mit festem Punkt 
betrachten. Es handelt sich dabei zwar im Prinzip um lauter bekannte 
Dinge, aber man findet dieselben nicht überall in der einfachen und prä- 
zisen Form beisammen, die wir ihnen hier geben wollen, und die sich 
hernach unmittelbar auf die Schraubenkoordinaten p, g, r, u, v, w über- 
trägt. Den einzelnen Angaben Beweise hinzuzufügen, wird kaum nötig 
sein; ich verweise wegen der etwaigen Ableitung der Resultate, sofern 





18) Einleitung, S. 23. 


522 . Zum Erlanger Programm. 


deutsche Literatur in Betracht gezogen werden soll, am liebsten auf die 
von Sommerfeld und mir herausgegebenen Vorlesungen über die T’heorie 
des Kreisels (Teil I, Leipzig 1897); insbesondere geschieht dort (8. 138 ff.) 
die Herleitung der Eulerschen Bewegungsgleichungen (im Anschluß an 
die ursprüngliche Entwicklung von Hayward'*) genau so, wie es im 
folgenden skizziert wird. 

1. Zusammenhang der p, q, r mit den Geschwindigkeitskoordinaten 
By. 

Wir nehmen ein im Körper festes Koordinatensystem X YZ und ein 
im Raume festes xyz (mit gemeinsamem Anfangspunkt), deren gegenseitige 
Beziehung wir durch irgend drei Parameter, für welche wir hier wegen 
ihres elementaren Charakters die Eulerschen Winkel , y, 9% nehmen 
wollen, festlegen (Kreisel, 8.19). Der Übergang von der Lage p, y, ® 
zur Lage + o’dt, w-+ w’dt, + 9’dt sei äquivalent mit einer Drehung 
durch pdt, gdt, rdt um die Achsen des XYZ-Systems in seiner den 
Parameterwerten o, y, # entsprechenden Lage. Die Nebeneinanderstellung 
der bezüglichen Formeln ergibt dann folgenden Zusammenhang zwischen 
den ?, g, r und den o, y, 9, bzw. @’, w’, 9’ (Kreisel, 8. 45): 

p=%»'cosp-+ y’sindsingp, 
(27) | g= —-dsinp-+ y'sindcosp, 

r=o'+y'cos®. 
Man erkennt, daß die p, g, r nicht holonome Verbindungen der o', y, 9 
sind. Die Folge ist, daß ich in den Bewegungsgleichungen des starren 
Körpers zwar die @’, w’ ®’ gern durch die p,g,r ersetzen kann, daß ich 
aber daneben zur Lagenbestimmung des Körpers die 9, y, ® festhalten 
muß, die dann mit den p, g, r durch die Gleichungen (27), welche ich 
die kinematischen Gleichungen nenne, verbunden sind. 

2. Kraftkoordinaten. 

Hat man bei irgendeinem mechanischen System bestimmte Ge- 
schwindigkeitskoordinaten (hier also die 9, g, r) ausgewählt, so hat man 
als Koordinaten der kontinuierlich wirkenden Kräfte allgemein diejenigen 
Größen zu nehmen, mit denen multipliziert die Koordinaten der unendlich 
kleinen Bewegung in den Ausdruck für die Arbeit eingehen. Im vor- 
liegenden Falle haben wir für die Arbeit nach (24) oben (indem die 
u, v, w verschwinden): 

dA=(Lp+Mg+Nr)dt; 
wir werden also das Kräftesystem, das am starren Körper angreift, durch 
seine Drehmomente L, M, N um die Achsen des im Körper festen 





u. [Diese Herleitung war schon vorher von P. Saint-Guilhem gegeben worden, 
Journ. de math. (1) 19 (1854). ] 


XXIX. Schraubentheorie von Sir Robert Ball. \ 5233 


Koordinatensystems festzulegen haben. Genau so werden wir als Koordi- 
naten einer Stoßkraft ilire bezüglichen Drehmomeute wählen, wie wir 
nicht weiter ausführen. 

3. Aufstellung der kinetischen Gleichungen für die p, g, r. 

Die Aufstellung der eigentlichen Bewegungsgleichungen für die p,g,r 
(der Eulerschen Bewegungsgleichungen) erfolgt nun am kürzesten folgender- 
maßen: 

a) Man drücke die lebendige Kraft des rotierenden Körpers durch 
die p, g, r aus. Als Einheit der Masse ist dabei natürlich, auf Grund 
unserer früheren Verabredungen, diejenige zu wählen, die bei Einwirkung 
einer kontinuierlichen Kraft von der Größe 1 in der Zeiteinheit die Ge- 
schwindigkeit 1 erhält. Da sich die p, g, r auf ein im Körper festes 
Koordinatensystem beziehen, erhält man eine quadratische Form derselben 
mit konstanten Koeffizienten 


(28) T=!(Ap?®+Bg’+Cr?+2Dgr-+2Erp+2Fpg). 

b) Hierauf bilde man die Koordinaten L, M, N des sogenannten 
„Impulses“, d. h. desjenigen Systems von Stoßkräften, welches imstande 
wäre, den in seiner augenblicklichen Lage ruhend gedachten Körper 
instantan in den Geschwindigkeitszustand 9, g, r zu versetzen. Nach den 
Grundgesetzen der Kinetik, die in der sogenannten „ersten Zeile der 
Lagrangeschen Gleichungen“ ihren Ausdruck finden, erhält man die- 


selben aus 7 durch Differentiation nach den entsprechenden Geschwindig- 
keitskoordinaten. Die Formeln sind: 


(29) Due yon 


c) Von hier aus erhält man nun die gesuchten kinetischen Gleichungen, 
indem man überlegt, daß sich die Koordinaten ZL, M, N des Impulses 
während des Zeitelementes dt aus zwei Gründen um unendlich kleine 
Beträge abändern. 

Erstlich dadurch, daß an unserem Körper von außen gegebenenfalls 
ein System kontinuierlich wirkender Kräfte angreift. Wir nennen die 
Koordinaten ‚dieses Systems (d. h. seine Drehmomente um die X-, Y-, 
Z-Achse) A, M, N. Die von hier aus resultierenden Änderungen der 
L, M,N sind: 

(30) d’L=Ndt, d“ M=Mdt, d’N=Ndt. 

Zweitens aber ändern sich die Z, M, N dadurch, daß sich das 
Koordinatensystem X YZ, auf welches sie bezogen sind, während des Zeit- 
elementes dt gegen seine ursprüngliche Lage um pdt, qdt, rdt gedreht 
hat. Wir können ebensowohl sagen, daß wir den Raum (und also den 
im Raume feststehenden Impulsvektor) gegen das Koordinatensystem der 


324 Zum Erlanger Programm. 


X, Y, Zum — pdt, -—- gdt, — rdi gedreht haben. Dies gibt als Ände- 
rungen der L, M, N: | 
(31) d’L=(rM—gN)dt, d’ M=(pN—rL)dt, d’N=(gL—pM)dt. 


Die Gesamtänderung der ZL, M, N ist die Summe der Änderungen 
(30), (31); daher kommt, wenn wir noch durch dt dividieren: 





[ dL 

u TUM ON EN 
dM 

(32) a ID HL) EM, 
dN 

(= @L-pM)+N, 


und dieses sind die gesuchten kinetischen Gleichungen. Die A, M, N 
werden dabei zunächst als Funktionen der ®, y, ® anzusetzen sein. 


4. Bemerkungen zu den gewonnenen Gleichungen. 

Schließlich haben wir zur Darstellung der Bewegung die Gleichungen 
(27), (28), (29), (32), wo wir noch die aus (29) folgenden Werte der 
L, M,N in die (32) eintragen können. Wir haben dann sechs Differential- 
gleichungen erster Ordnung für die @, w, ®, p, g, r. Ist insbesondere 
irgendeine (holonome oder nicht holonome) Bedingungsgleichung für die 
o', w', ® gegeben, so wird sich diese in eine lineare Gleichung für die 
?, q, r umsetzen lassen (deren Koeffizienten, allgemein zu reden, Funk- 
tionen der @, y, ® sind): 


(33) Pp+Qqa+Rr=0. 


Es werden dann in den A, M, N neben Gliedern, welche sich auf die 
anderweitigen äußeren Kräfte beziehen, Terme folgender Form auftreten: 


(34) SIR E20. IR, 


unter 4 einen Lagrangeschen Multiplikator verstanden, der so zu bestimmen 
ist, daß die Gleichung (33) fortgesetzt erfüllt ist. 


59. 


Fortsetzung. Fälle, wo die 9, q, r wie Lagrangesche Geschwindigkeits- 
koordinaten gebraucht werden können. 


Die Betrachtungen, welche wir im vorigen Paragraphen unter 3. gaben, 
sind wesentlich durch den Umstand veranlaßt, daß die p, g, r keine 
Lagrangesche Geschwindigkeitskoordinaten, d. h. keine holonomen Ver- 
bindungen der @’, w’, ®’ sind; wir. hätten andernfalls nur die „zweite 
Zeile‘ der allgemeinen Lagrangeschen Bewegungsgleichungen heranzu- 
ziehen brauchen. Es hat daher Interesse, zuzusehen, bei welchen Ansätzen 


XXIX. Schraubentheorie von Sir Robert Ball. 525 


und Problemen der Unterschied der p, g, r und der Lagrangeschen Ge- 
schwindigkeitskoordinaten noch nicht hervortritt; wir lösen dadurch aus 
der allgemeinen Theorie der Rotation eines starren Körpers einen relativ 
elementaren Teil heraus. In dieser Hinsicht ergibt sich zunächst folgende 
Zusammenstellung: 


1. Die Bedingungsgleichungen, welche gegebenenfalls die Beweglich- 
keit des Körpers im Unendlich-Kleinen einschränken, sind in den p,g,r 
ebenso linear, wie in den 9’, yw’, 9’ (vgl. Gl. (33)). 

2. Der Unterschied verschwindet ferner bei den Fragen der Statik, 
insofern bei ihnen die p, g, r (und also auch die Z, M, N) durchweg 
gleich Null zu setzen sind. 


3. Er verschwindet endlich in der Stoßtheorie; in der Tat sind die 
Gleichungen (29), die den Zusammenhang des Impulses mit den erzeugten 
Geschwindigkeitskoordinaten p, g, r ergeben, ihrer Form nach von dem 
Umstande, daß die p, g, r nicht holonome Geschwindigkeitskoordinaten 
sind, durchaus unabhängig. 

Es sind dies einfach diejenigen Teile der Mechanik, welche der Auf- 
stellung der auf kontinuierliche Kräfte bezüglichen Bewegungsgleichungen 
vorangehen. Hierzu tritt aber, wenn man approximative Rechnung. zu- 
lassen will, noch ein vwserter Punkt. Derselbe liegt vor, wenn man die 
Theorie der kleinen Schwingungen unseres starren Körpers um eine Gleick- 
gewichtslage behandelt, und: dabei die üblichen Vernachlässigungen eintreten 
läßt Man nimmt dann nämlich an, daß man die in (32) rechter Hand 
auftretenden „Glieder zweiter Ordnung“, also die (rM — qN) usw., gegen 


die übrigen Glieder, also die EZ und A, usw., vernachlässigen kann. Man 


erhält solcherweise die Formeln: 
eh 
(35) ıSE=M, 
| = a 





und diese hängen mit dem Ausdruck (28) der lebendigen Kraft in der 
Tat so zusammen, als wenn die p, g, r Lagrangesche Geschwindigkeits- 
koordinaten wären. 

Es steht überhaupt nichts im Wege, sofern man Glieder höherer 
‚Ordnung vernachlässigen will, die p, qg, r nach der Zeit genommenen 
"exakten Differentialquotienten von Funktionen der 9, w, ® gleichzusetzen. 
Wir werden eine unendlich kleine Drehung vor uns haben, wenn wir 9 
und 9+y=y unendlich klein nehmen. Ersetzen wir dementsprechend 


926 Zum Erlanger Programm. 


in (27) sin® durch #, cos®# durch 1, w’-9 durch — o’-9 und @’+y’ 
durch x’, so kommt: 
__4(#cosp) 











Ip=9'cop— p-Psiny sage sen 
. 2 Me __d(-P#sinp) 
(36) iqg=—-PVsinp—gp'dcosp= 2 S 
ER BE: 
a, rt 


Hier sind ®cos@, — ® sin @,x die unendlich kleinen Winkel, durch welche 
der Körper von seiner Anfangslage aus um die Achsen OX, OY, OZ ge- 
dreht ist. | 

Die Aufzählung der vorgenannten vier Punkte ist für das Verständnis 
der Ballschen Schraubenuntersuchungen von unmittelbarster Wichtigkeit. 
Wir dürfen vorgreifend erwähnen, daß die Schraubenkoordinaten p,g,r, 
u, v, w (wie überhaupt irgendwelche nicht-holonome Geschwindigkeits- 
koordinaten) genau in den entsprechenden vier Fällen ebenfalls wie 
Lagrangesche Geschwindigkeitskoordinaten behandelt werden können. Und 
nun trifft es sich so, daß Ball in seinen ursprünglichen Untersuchungen 
über die Anwendung der Schraubentheorie auf die Mechanik der starren 
Körper gerade die vier hiermit bezeichneten Kapitel herausgegriffen hat. 
Und auch die weitere Frage, die er später in Angriff nahm und von der 
noch genauer weiter unten die Rede sein soll, die Frage nach den jeweils 
vorhandenen permanenten Schrauben, läßt sich unter denselben Gesichts- 
punkt bringen. Dies ist gewiß nicht zufällig, sondern wohlbedacht, ent- 
sprechend der Auffassung, daß es in der Mechanik vor allen Dingen darauf 
ankommt, sich die jeweils einfachsten Beziehungen und Vorgänge klarzu- 
machen. 


8 10. 


Verwendung der Schraubenkoordinaten für allgemeine Kinetik 
der starren Körper. 


Das in $ 7 Entwickelte läßt sich nun Schritt für Schritt auf die 
Frage nach der Verwendung der Schraubenkoordinaten für die allgemeine 
Kinetik der starren Körper übertragen. 

1. Wir fixieren die jeweilige Ortsänderung des starren Körpers durch 
irgend sechs Parameter, etwa so, daß wir wieder ein im Körper festes Koor- 
dinatensystem XYZ einführen und dessen Lage gegen ein im Raume 
festes System xyz durch die Verschiebungskomponenten &,n,{ des’ An- 
fangspunktes und die drei Eulerschen Winkel p,y,® festlegen (was 
freilich sehr unsymmetrische Formeln ergibt). Die auf das Koordinaten- 
system X YZ bezüglichen Schraubenkoordinaten p,9,r,u,v,w der instan- 


XXIX. Schraubentheorie von Sir Robert Ball. 927 


tanen Geschwindigkeit werden sich dann in folgender Weise als lineare, 
nicht holonome Verbindungen der f; N, e: p, v, 9 darstellen: 


; p=%cosp + y sindsinp, g= —- singt y'sin®cosp, 
r=p-+y'cosd, 
u—E(cospcosy — cos®sin psiny) 
373-7 + n' (cos psin y + cos ®sin pcosy)-+ sin sin, 
v—£&'(— sin cos y — cos#cospsiny) 
+n(- sin p siny + cos® cospcosy)-+-£ sin#cosp, 
w=£sin®siny— n' sind cosy +! cos®. 





Wir bezeichnen diese Gleichungen wieder als die kinematischen Gleichungen. 

2. Um nunmehr zu den kinetischen Gleichungen zu kommen, drücken 
wir erstlich die lebendige Kraft des Körpers durch die 2,g,r,u,v,w aus; 
wir erhalten eine quadratische Form mit konstanten Koeffizienten: 


(38) T=F(p,9,r,u,v,w). 


Wir berechnen ferner, gemäß der ersten Zeile der Lagrangeschen Glei- 
chungen und dem Ausdruck (24) für die virtuelle Arbeit eines Kräfte- 
systems, die Schraubenkoordinaten X, Y,Z,L, M,N des zum Geschwindig- 
keitszustande 9,g,r,u,v, w gehörigen Impulses durch die Formeln: 

oT oT oT oT oT oT 
(39) A= Les, Zu I=-.: 4-7 N = ——. 
Wir überlegen endlich, daß diese Impulskoordinaten während des Zeit- 
elementes dt aus zwei Gründen Änderungen erfahren, die sich superponieren, 
‚nämlich durch die von außen auf den Körper wirkenden Kräfte, die zu- 
sammengenommen die Koordinaten 


2:5. A MN 


ergeben mögen, und durch die Bewegung des im Körper festen Koordi- 
natensystems mit dem Körper. Von hier aus erhalten wir: 


| dt mir - 02) >, FE =(wY—vZ)+(rM—gN)+A, 





(40) 1 E=(pZ—rX)+H, 22 =(uZ-wX)+(pN—rL)+M, 


dzZ 
G-aX-pr)+Z, Ge -(WX-un)+(gL-pM)+N, 





und dies sind die gesuchten kinetischen Gleichungen. 


3. An diese Entwicklung schließen sich dann genau dieselben Be- 
merkungen wie in $ 7, insbesondere auch, was die Berücksichtigung irgend- 
welcher Bedingungsgleichungen angeht. 


928 Zum Erlanger Programm. 


& TI. 
Spezielle Ausführungen zu den Entwicklungen des vorigen Paragraphen. 


Um die Entwicklungen des vorigen Paragraphen durch spezielle Aus- 
führungen zu belegen, ziehen wir zuvörderst den Fall eines isolierten, frei 
beweglichen Körpers heran. Die Sache wird dann eminent einfach, verliert 
aber zugleich einen guten Teil ihrer spezifischen Bedeutung. Wir legen den 
Anfangspunkt des Koordinatensystems in den Schwerpunkt des Körpers. Die 
lebendige Kraft (38) nimmt dann bekanntlich folgende einfache Form an: 


(41) T=%(u+v°+w?)+f(p,g;r), 


unter f eine quadratische Form der beigesetzten Argumente mit konstanten 
Koeffizienten verstanden. Die Impulskoordinaten (39) werden daraufhin 


42) X=mu, Y=mv, Z=mvy, - ı ya 


op’ :0g? = Be: 
Es nehmen daher die letzten drei Gleichungen (40) folgende einfache Form an: 
Gr (M-N)+N, 
dM 
(43) \ 77 -(pN-rL)+M, 
dN 
(m @EZpM) EN. 





Wollen wir nun noch voraussetzen, daß die A,M,N nur von den go, y, ® 
(nicht von den £, n, £) abhängen, so haben wir ersichtlich zur Bestimmung 
der 2, g, r, d.h. der Drehung um den Schwerpunkt, genau denselben Ansatz, 
den man von jeher benutzt hat. Das Eigenartige der Schraubentheorie 
entschwindet; man wird das Problem am einfachsten so weiter behandeln, 
daß man nach Bestimmung der Drehung um den Schwerpunkt die fort- 
schreitende Bewegung des letzteren direkt bestimmt, d. h. die gewöhnlichen 
Bewegungsgleichungen für die &, n, £ aufstellt. Die Schraubentheorie 
erleidet hier also so zu sagen einen Mißerfolg. An diesem Mißerfolg mag 
es liegen, daß sich die Schraubentheorie die große Geltung, welche sie 
zweifellos für die Mechanik der starren Körper besitzt, immer nur erst 
partiell hat erringen können. Gäbe es in der Mechanik der starren Körper 
keine anderen Aufgaben, als die gerade besprochenen, so wäre es über- 
flüssig, eine besondere Schraubentheorie zu entwickeln. 


Es gibt aber andere Aufgaben die Menge. Ich nenne hier die Bewegung 
eines starren Körpers in einem widerstehenden Mittel (wo die A, M, N 
gewiß nicht von den 9, y, 9 allein abhängen), ferner aber die Bewegung 
eines starren Körpers, der gezwungen ist, auf anderen starren Körpern zu 
rollen oder zu gleiten. 


XXIX. Schraubentheorie von Sir Robert Ball. 529 


Ich möchte hier insbesondere auf dasjenige Problem hinweisen, bei 
welchem die Schraubentheorie bislang die glänzendste Verwendung gefunden 
haben dürfte, das Problem von der Bewegung des starren Körpers in einer 
reibungslosen inkompressiblen Flüssigkeit'”). Die lebendige Kraft des aus 
Körper und Flüssigkeit gebildeten Systems kann in diesem Falle ohne 
weiteres in der Form (38) angeschrieben werden, worauf die gesamten 
Entwicklungen des vorigen Paragraphen Platz greifen. Diese Entwicklungen 
sind in der Tat nichts anderes als eine Transskription der Ansätze, welche 
Lord Kelvin und Kirchhoff ursprünglich für den Körper in Flüssigkeit 
gemacht haben; man vergleiche die Darstellung bei Lamb, Hydrodynamics 
(Cambridge, 1895; Kap. 6) der sich direkt an die Ausdrucksweise der 
Schraubentheorie anschließt, sowie das Referat von Love in IV, 15 und 
IV, 16 der Mathematischen Enzyklopädie (1901). Die verschiedenen Formen, 
welche die lebendige Kraft 7’ je nach der Symmetrie des in die Flüssigkeit 
getauchten Körpers annimmt, der jeweilige Zusammenhang zwischen der 
instantanen Geschwindigkeitsschraube und der Impulsschraube, endlich die 
resultierende Bewegung des Körpers selbst sind ebenso viele Gegenstände, 
welche sich auch für eine anschaulich-geometrische Diskussion im Sinne 
der Ballschen Schraubentheorie vorzüglich eignen dürften. Es würde dies 
eine direkte und doch nicht triviale Weiterbildung von Poinsots berühmten 
Untersuchungen über die Rotation eines starren Körpers um einen festen 
Punkt sein. Hierzu wolle man insbesondere die Arbeit von Minkowski 
in den Sitzungsberichten der Berliner Akademie von 1888 vergleichen. 


$ 12. 


Abschließende Bemerkungen über die mechanischen Kapitel des 
Ballschen Werkes. — Verallgemeinerungen des in $7 und $$ 
gegebenen Ansatzes. 


Es wurde bereits in $ 8 hervorgehoben, daß die Untersuchungen über 
die Mechanik der starren Körper, welche Ball in seinem Werke ausführt '®), 
einen übereinstimmenden Charakter zeigen: es handelt sich bei Ball 
durchweg um solche Fragen, bei denen die Schraubenkoordinaten p,g,;r, 





15) Leider ist die mathematische Eleganz dieser Untersuchungen kein Maßstab 
für ihre physikalische Wichtigkeit; vielmehr ist das praktische Geltungsgebiet der- 
selben wegen der in allen Fällen vorhandenen Flüssigkeitsreibung und der bei größeren 
Geschwindigkeiten auftretenden turbulenten Bewegungen ein sehr geringes. 

16) Nur von diesen mechanischen Entwicklungen des Ballschen Werkes ist im 
vorliegenden Artikel die Rede, nicht von den anschließenden geometrischen. Ich möchte 
aber nicht unterlassen anzuführen, daß Herr Ball die geometrischen Fragen neuer- 
dings in einer besonderen Abhandlung in den Transactions der R. Irish Academy 
(vol. 31, part 12, Dublin 1901) weiter verfolgt hat; dieselbe trägt den Titel: Further 
developments of the geomrtrical theory of six screws. 

Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 34 


530 Zum Erlanger Programm. 


u, v, w der instantanen Geschwindigkeit wie Lagrangesche Geschwindig- 
keitskoordinaten benutzt werden können. Ich habe dies hier nur noch 
betrefis der letzten Frage, die in $8 genannt wurde, der Frage nach 
den jeweiligen permanenten Schrauben auszuführen. Dies gelingt in ein- 
fachster Weise im Anschluß an die kinetischen Gleichungen (40). Man 
findet nämlich, daß es sich bei Ball dabei um die Aufsuchung solcher 
Werte der 9,9, r,u,v, w. bez. 9, yw,%,&,n,{ handelt, für welche die 
rechten Seiten der kinetischen Gleichungen (40) verschwinden; es bleiben 
dann die X,Y,Z,L,M,N des Impulses und also auch die p,g,r,u,v, w 
wenigstens für ein Zeitelement konstant, und eben deshalb spricht Ball 
in einem solchen Falle von einer permanenten Schraube. Als einfache 
Beispiele möchte ich anführen Staudes permanente Drehachsen eines um 
einen Punkt rotierenden schweren Körpers (Journal für Mathematik, 
Bd. 113, 1894), sowie Kirchhoffs Theorem, daß bei jedem Körper in 
einer reibungslosen, inkompressiblen Flüssigkeit bei Abwesenheit äußerer 
Kräfte drei zueinander senkrechte Richtungen gleichförmiger Translation 
existieren. Die sämtlichen Fälle stationärer Bewegung, welche in dem ge- 
nannten Falle bei dem Körper in Flüssigkeit auftreten können, diskutiert 
Minkowski l.c. In diesen Beispielen sind zugleich die p,g, r,u,v, w 
nicht nur zeitweise, sondern dauernd konstant, so daß man von Permanenz 
der bez. Schrauben im vollsten Sinne des Wortes reden kann. 


Letzterer Umstand hängt ersichtlich mit der Tatsache zusammen, daß 
die Drehungen um einen Punkt, wie andererseits die Bewegungen eines 
freien Körpers eine Gruppe bilden: gehört eine unendlich kleine Bewegung 
der Gruppe an, so auch die endliche Bewegung, welche aus ihr durch 
unendlichmalige Wiederholung entsteht. Daß dies bei der Bewegung starrer 
Körper keineswegs immer der Fall ist, zeigt das einfache Beispiel eines 
auf einer Ebene rollenden Zylinders. Hier treten daher die in $ 5 genannten 
Gruppen von Bewegungen (bez. die mit ihnen verknüpften linearen Schrauben- 
systeme von „selbständiger gruppentheoretischer Bedeutung“) in charakte- 
ristischer Weise in den Vordergrund. In der Tat läßt sich die Kinetik 
aller dieser Gruppen genau so in Ansatz bringen wie in $7 die Kinetik 
der Drehungen um einen Punkt und in $ 9 diejenige der freien Bewegungen 
(eines starren Körpers); man wird sagen können, daß in allen diesen 
Fällen die Methode der Eulerschen Gleichungen eine naturgemäße Ver- 
allgemeinerung findet!‘)., Die Gesamtheit der Bewegungen, welche ein 





17) Diese Bemerkungen stehen in naher Beziehung zu gewissen allgemeineren 
Betrachtungen über dynamische Probleme, die Herr Volterra in den Jahren 1899 
bis 1900 in den Atti di Torino veröffentlichte; siehe insbesondere den Aufsatz: Sopra 
una classe di equazioni dinamiche in Bd. 33 und den anderen: Sopra una classe di 
moti permanenti stabili in Bd. 34. 


XXIX. Schraubentheorie von Sir Robert Ball. 531 


starrer Körper nach der Natur der ihm auferlegten Bedingungen gegebenen- 
falls ausführen kann, ist immer in einer kleinsten Gruppe von Bewegungen 
enthalten. Es dürfte sich empfehlen, die kinetischen Gleichungen für den 
Körper jeweils so aufzustellen, daß man diese Gruppe als Ausgangspunkt 
nimmt, also für sie „kinematische Gleichungen“ und das Analogon der 
Eulerschen Gleichungen aufstellt. 


Göttingen, den 3. September 1901. 





Nachträgliche Bemerkungen°®). 


Den vorstehenden Artikel, der die Bedeutung der Ballschen Schraubentheorie 
für das Gesamtgebiet der Mechanik zusammenhängend darlegen und zugleich begrenzen 
soll, habe ich s. Z. verfaßt, weil es mir bei der Redaktion des Bandes IV der Mathe- 
matischen Enzyklopädie (der die Mechanik behandelt) erwünscht war, eine derartige 
Darstellung zur Hand zu haben; ich verweise in dieser Hinsicht auf den Artikel IV, 2 
(Timerding, geometrische Grundlegung der Mechanik eines starren Körpers (1902)) 
und IV,6 (Stäckel, elementare Dynamik; erscheint demnächst). Wenn ich jetzt 
diesen Artikel in den Math. Annalen wieder abdrucke, so geschieht es, weil das 
Klassifikationsprinzip des $ 1, dem ich allgemeine Bedeutung beilege, mit den sich 
daran anschließenden Einzelausführungen seither nicht so beachtet scheint, wie ich es 
für richtig halte. 

Vielleicht darf ich über die historische Entstehung dieses Prinzips hier folgendes be- 
merken. Der Gedanke, alle vorkommenden Größen nach ihrem Verhalten bei beliebigen 
linearen Transformationen zu klassifizieren, durchzieht bekanntlich die ganze Invarianten- 
theorie und liegt bereits den ersten invariantentheoretischen Arbeiten von Cayley 
und Sylvester zugrunde. In meinem Erlanger Programm (1872) wurde sodann der 
Gesichtspunkt aufgestellt, daß die Gesamtheit der linearen Transformationen nur ein 
Beispiel irgendeiner anderen Gruppe von Transformationen ist, denen man die je- 
weiligen Urvariabelen unterworfen denken mag. In Physik und Mechanik hat man 
allen Anlaß, als solche Gruppe eben die Hauptgruppe der räumlichen Änderungen, 
d. h. den Inbegriff der Bewegungen des Raumes und seiner Ähnlichkeitstransforma- 
tionen zu wählen, und es ergibt sich dann durch sinngemäße Übertragung der Auf- 
fassungsweise der Invariantentheoretiker das Klassifikationsprinzip des $ 1 mit Not- 
wendigkeit. Ich habe dasselbe dementsprechend seit Jahren in meinen Vorlesungen 
zur Geltung gebracht, worauf auch Hr. Abraham in dem Enzyklopädieartikel IV, 14 
(Geometrische Grundbegriffe für die Mechanik der deformierbaren Körper (1901)), 
wo er das in Rede stehende Klassifikationsprinzip durchweg anwendet, ausdrücklich 
Bezug nimmt. 

Im übrigen ergibt sich, wie ich ausdrücklich hervorheben möchte, eben nach 
den Grundsätzen meines Erlanger Programms, für die Darlegung und die Durch- 
führung des Prinzips eine gewisse Latitüde.e Um dies nur nach einer Seite auszu- 
führen: die „Hauptgruppe“ der räumlichen Änderungen ist eine Untergruppe in der 
Gesamtheit der affinen Transformationen. Man kann unsere Klassifikationen also in 
der Weise durchführen, daß man zunächst ein Schema der affinen Klassifikation auf- 
stellt und in dieses dann die feineren Einzelheiten der metrischen Klassifikation erst 
hinterher einordnet. Eine wissenschaftliche Notwendigkeit, so vorzugehen, besteht aber 
keineswegs. Ich hebe dies hervor, um zu der Meinungsverschiedenheit Stellung zu 





18) [Beim Abdruck in den Math. Ann., Bd. 62 (1906) hinzugefügt. Das außer- 
ordentlich reichhaltige Stäckelsche Referat ist 1908 erschienen.) 


34 * 


932 Zum Erlanger Programm. 


nehmen, welche bei den neueren Diskussionen über die Grundlagen der Vektorenrechnung 
zwischen den Herren Mehmke und Prandtl hervorgetreten ist (Jahresbericht der 
Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Bd. 13, 1903). 
Ich zitiere zum Schluß gern noch einige neuerdings erschienene Literatur, die 
zu den vorstehend wiederabgedruckten Entwicklungen in näherer Beziehung steht. 
Zunächst ein Lehrbuch der analytischen Geometrie, in welchem die Unterscheidung 
der projektiven, affinen und metrischen (oder, wie die Autoren sagen, äquiformen) 
Geometrie in dem hier in Betracht kommenden Sinne von vornherein mit Konsequenz 
durchgeführt wird. Es ist dies das Lehrbuch von Heffter und Köhler (Leipzig, 
erster Teil, 1905). 
Sodann, was Untersuchungen über Schraubentheorie angeht, vor allen Dingen die 
nun vollendete Geometrie der Dynamen von Study (Leipzig, 1903) die neben vielem 
anderen Neuen, was über den Bereich des vorstehend abgedruckten Aufsatzes hinaus- 
liegt, insbesondere eine völlig durchgeführte Diskussion der verschiedenen Arten der 
linearen Schraubensysteme enthält. Ferner die Untersuchungen von Grünwald in den 
Bänden 48, 49 und 52 der Zeitschrift für Mathematik und Physik (1901, 1902, 1905), 
deren Titel ich hier wenigstens anführen will: 
1. Sir Robert Balls lineare Schraubengebiete, 
2. Zur Veranschaulichung des Schraubenbündels, 
3. Darstellung aller Elementarbewegungen eines starren Körpers von beliebigem 
Freiheitsgrad. 
Endlich, was die am Schlusse meines Aufsatzes benutzte Untersuchung holonomer 
und nichtholonomer Geschwindigkeitskoordinaten angeht, die neuesten Publikationen: 
Hamel, Die Lagrange-Eulerschen Gleichungen der Mechanik (in Bd. 50 der 
Zeitschrift für Mathematik und Physik, 1903), und Appell, Traite de M&canique 
rationnelle, 2. Band, 2. Auflage (Paris 1904). 


Göttingen, im Mai 1906. 


XXX. Über die geometrischen Grundlagen der Lorentz- 
gruppe. 


Vortrag, gehalten in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft am 10. Mai 1910, 
[Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Bd. 19 (1910). 


Sie haben alle in mehr oder minder bestimmter Form davon gehört, 
daß sich die Theorie der Lorentzgruppe oder, was dasselbe ist, das mo- 
derne Relativitätsprinzip der Physiker in die allgemeine Lehre von der 
projektiven Maßbestimmung einordnet, wie sich diese im Anschluß an 
Cayleys grundlegende Arbeit von 1859 entwickelt hat. Es entsprach 
noch einer Verabredung mit unserem verstorbenen Freunde Minkowski, 
daß ich diese Sachlage im verflossenen Wintersemester in meiner Vor- 
lesung über projektive Geometrie des näheren ausführte, bzw. als das ab- 
schließende Ergebnis meiner Vorlesung hervortreten ließ. Die Lehre von 
der projektiven Maßbestimmung, die schon nach so manchen Seiten hin 
grundlegend geworden ist, gewinnt hier eine neue und überraschende 
Anwendung, während sich andererseits die modernen Entwicklungen der 
Physiker, die dem Neuling so leicht den Eindruck des Paradoxen machen, 
sozusagen als Korollare eines allgemeinen seit lange wohlgeordneten Ge- 
dankenganges erweisen. Es kann nicht fehlen, daß dieses Zusammentreffen 
zweier nach ihrer historischen Entstehung gänzlich getrennter Gedanken- 
kreise nach beiden Seiten hin in hohem Maße anregend wirken muß; ich 
hoffe um so mehr auf einiges Interesse hierfür gerade auch seitens der 
Physiker, als die Geometer schon mancherlei Einzelresultate herausgearbeitet 
haben, die sich in der Werkstätte der theoretischen Physik nunmehr als 
willkommene Hilfsmittel bewähren möchten. 

Wenn ich nun heute unternehme, Ihnen das Gesagte nach seinen 
wesentlichen Grundlinien näher auszuführen, so stehe ich allerdings vor 
einer großen Schwierigkeit: ich werde nicht umhin können, den Gruppen- 
begriff sowie gewisse fundamentale Begrifisbildungen der projektiven Geo- 
metrie, wie homogene Punkt- und Ebenenkoordinaten, die den linearen Sub- 
stitutionen dieser Koordinaten entsprechenden Kollineationen, endlich für 
jede aus Kollineationen gebildete Gruppe das Vorhandensein einer zu- 


594 Zum Erlanger Programm. 


gehörigen Invariantentheorie, — dies alles wohlverstanden für Gebiete 
von beliebig viel Dimensionen — als geläufig vorauszusetzen, während ich 
doch recht gut weiß, daß nicht nur die zahlreich anwesenden Physiker, 
die ich hier als Gäste besonders willkommen heiße, sondern auch die 
Mehrzahl der jüngeren Fachmathematiker, die unserer Gesellschaft an- 
gehören, sich mit diesen Dingen sozusagen nur per distans beschäftigt 
haben. Viele von Ihnen sind bisher zweifellos der Meinung gewesen, daß 
die projektive Geometrie, nachdem sie so lange im Vordergrunde der 
mathematischen Produktion stand, heute doch nur die Bedeutung einer 
mathematischen Spezialdisziplin beanspruchen könne. Da ist es ja an sich 
sehr nützlich, daß mein heutiger Vortrag der entgegengesetzten Auffassung 
Ausdruck geben muß, daß nämlich die projektive Geometrie im Rahmen 
der von uns allen anzustrebenden mathematischen Gesamtbildung als 
gleichwertig anzusehen sei mit anderen grundlegenden Fächern, wie etwa 
Algebra oder Funktionentheorie. Aber dieses ideale Moment kann doch 
die Schwierigkeit, die sich aus dem tatsächlichen Fehlen ausreichender 
Vorkenntnisse ergibt, nicht aus der Welt schaffen. Ich greife also zu der 
Methode, die unter derartigen Umständen noch am ehesten Erfolg ver- 
spricht: daß ich Ihnen die Dinge nach ihrem historischen Werdegang 
vorführe, und muß Sie übrigens bitten, daß Sie dabei die Lebhaftigkeit, 
mit der ich von der Wichtigkeit, des projektiven Denkens spreche, als 
ein Äquivalent für die fehlende Ausführlichke:t in den Einzelangaben hin- 
nehmen. 

Ich beginne, dem Gesagten entsprechend, damit, daß ich Ihnen 
Cayleys Originalarbeit von 1859 vorlege, die sechste einer Reihe von Ab- 
handlungen, in denen Cayley damals seine Auffassungen und Kenntnisse 
auf dem Gebiete der Invariantentheorie linearer Substitutionen zusammen- 
gefaßt hat (a sixth memoir upon Quantics, Bd. 149 der Philosoph. Trans- 
actions der R. Society, — Bd. % der Werke, 8. 561fl.. Beim Durch- 
blättern werden Sie zunächst keinen besonderen Eindruck haben, weil vor 
allen Dingen Einzelheiten über quadratische Formen entwickelt werden; 
es ist aber doch einfach, die Fragestellung und ihre glänzende Beantwortung 
herauszuheben. Die Entwicklung der Geometrie in der ersten Hälfte des 
vorigen Jahrhunderts hatte dahin geführt, den Gesamtinhalt der Raum- 
lehre in zwei verschiedene Gebiete zu sondern: die Geometrie der Lage 
(deskriptive Geometrie), die von solchen Eigenschaften der Figuren handelt, 
welche bei beliebigem Projizieren ungeändert erhalten bleiben, und die 
Geometrie des Maßes, deren Grundbegriffe (Abstand, Winkel usw.) diese 
Invarianz keineswegs besitzen. Diese Trennung hatte sich im Bewußtsein 
der damaligen Mathematiker festgesetzt, trotzdem bereits Poncelet die 
entscheidende Bemerkung gemacht hatte, daß, für eine allgemeine Auf- 


XXX. Geometrische Grundlagen der Lorentzgruppe. 535 


fassung, die Kreise der Ebene und die Kugeln des Raumes — also die 
Hauptobjekte der metrischen Betrachtung — als Kegelschnitte, bzw. Flächen 
zweiten Grades angesehen werden können, die mit dem Unendlichweiten 
der Ebene, bzw. des Raumes ein bestimmtes durch eine Gleichung zweiten 
Grades gegebenes, imaginäres Gebilde gemein haben, — die sogenannten 
Kreispunkte der Ebene, bzw. der Kugelkreis des Raumes. Nun ist 
Cayleys Leistung, erkannt zu haben, daß in diesen Ponceletschen Aus- 
sagen das Mittel gegeben ist, die genannte Trennung der Geometrie in 
zweierlei einander fremde Disziplinen wieder rückgängig zu machen, oder 
vielmehr sie durch eine prinzipiell andere Auffassung zu ersetzen. Sein 
Resultat ist, — wie alle grundlegenden Gedanken der mathematischen 
Wissenschaft --, äußerst einfach: alle Maßbeziehungen geometrischer 
Figuren können ohne weiteres als projektive Beziehungen aufgefaßt werden, 
sofern man den Figuren — je nachdem sie eben oder räumlich sind — 
die Kreispunkte, bzw. den Kugelkreis hinzufügt; die Maßgeometrie er- 
scheint so als dasjenige Stück der projektiven Geometrie, das von Figuren 
handelt, bei denen das Paar der Kreispunkte, bzw. der Kugelkreis be- 
teiligt ist. 

Diese Aussage wird sehr viel deutlicher werden, wenn ich einige ein- 
fachste Formeln schreibe. 


Zunächst nur in der Ebene. Seien x, % gewöhnliche rechtwinklige 


Punktkoordinaten. Wir setzen, homogen machend, x = =, y= =; wir 


nennen ferner «,, %,, u, die homogenen Koordinaten der durch die Gleichung 
U,X%, + U,X, + u,x, = 0 dargestellten geraden Linie. Das Kreispunkte- 
paar ist dann in Punktkoordinaten durch die Nebeneinanderstellung der 
beiden Gleichungen 

(1) .=0, +9 -=0 

gegeben, in Linienkoordinaten aber als Umhüllungsgebilde aller Geraden, 
welche die eine Gleichung 

(2) uv+w=0 

erfüllen. — Man beachte nun, um bei dem Einfachsten zu bleiben, die 
Formel für die Entfernung zweier Punkte 


r=-V(e-2)’+y- WM. 


Wir schreiben, homogen machend: 











x x a Si 
=, y=5; zn jy-t 
Tz %g Ys Ys 
und erhalten: 
/ 
(3) En (9% -Y%) + as Nr) 
%Ys 


Hier verschwindet der Zähler, wenn die beiden gegebenen Punkte mit 


536 Zum Erlanger Programm. 


einem der Kreispunkte auf gerader Linie liegen, der Nenner, wenn einer der 
gegebenen Punkte auf der Verbindungslinie der beiden Kreispunkte liegt. 
Beides sind projektive Eigenschaften der von den gegebenen zwei Punkten 
und den Kreispunkten gebildeten Gesamtfigur! Algebraisch aber folgt 
hieraus (wie ich unmöglich näher ausführen kann), daß der Ausdruck r 
sich nur um einen konstanten Faktor ändert, wenn man unsere vier 
Punkte gleichzeitig einer beliebigen Kollineation unterwirft. Deshalb 
nennt man r eine Invariante unserer vier Punkte gegenüber der Gesamt- 
heit aller Kollineationen, oder auch eine ‚„simultane Invariante“ der zwei 
zunächst gegebenen Punkte und der in (1) bzw. (2) linker Hand stehen- 
den algebraischen Formen. Der Inhalt der projektiven Geometrie der 
Ebene ist aber, algebraisch zu reden, nichts anderes, als die Lehre von 
den Invarianten, welche irgendwelche ebene Figuren gegenüber der Ge- 
samtheit der ebenen Kollineationen besitzen, insbesondere auch von den 
Relationen, welche solche Invarianten untereinander aufweisen mögen; es 
ordnen sich also alle Sätze, die zwischen den Entfernungen irgendwelcher 
Punkte der Ebene bestehen mögen, in die projektive Geometrie ein. — 

Im Raume ist die Sache nur durch die vermehrte Zahl der Koordi- 
naten komplizierter. Seien x, y, 2 gewöhnliche rechtwinklige Koordinaten, 


so setzen wir, homogen machend, x —= =, y _, = =, Der ‚„Kugel- 
4 4 4 

kreis‘ ist dann in Punktkoordinaten durch das Gleichungspaar 

(4) ,=0 yır% +%=0 


gegeben, in zugehörigen Ebenenkoordinaten (%,, %,, %,, u,) aber durch 
die eine Gleichung: 

(5) vw tw-0. 

Man betrachte wieder den Ausdruck für die Entfernung zweier Punkte. 
Indem wir letzteren die homogenen Koordinaten x, :2,:%,:x2, und 
Y,:Ys:Y,:Yy, erteilen, erhalten wir 








(6) y— Ve, Yı Yızı) + (23% — Yo%ı) "+ (23 Yı - Yazı)“ 

%ıYı 
und knüpfen an diese Formel Erörterungen, die den soeben an (3) an- 
geschlossenen ganz ähnlich sind. — 

Die vorstehenden Andeutungen werden genügen, um den Sinn von 
Cayleys grundlegender Arbeit einigermaßen verständlich zu machen. Ich 
darf nun einen Augenblick von den Überlegungen reden, die ich in meinem 
Erlanger Antrittsprogramm 1872 entwickelt habe!), Bei Cayley ist 





!) „Vergleichende Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen“, ab- 
gedruckt in Bd. 43 der Math. Annalen und anderswo. 'S. Abh. XXVII dieser Aus- 


gabe.) 


XXX. Geometrische Grundlagen der Lorentzgruppe. 537 


immer nur von Invarianten gegenüber der Gesamtheit der Kollineationen 
des gerade in Betracht kommenden Gebietes die Rede. Demgegenüber 
betonte ich damals, daß man ebensowohl von Invarianten gegenüber einer 
Untergruppe von Kollineationen reden könne. Von hier aus ergab sich 
eine neue Beleuchtung des Wesens der metrischen Geometrie und der 
hierauf bezüglichen Cayleyschen Auffassung. Es ist eine triviale Be- 
merkung, daß alle Aussagen der metrischen Geometrie unabhängig von 
der Lage und von der absoluten Größe der Figuren bestehen und eben 
hierdurch gegenüber den Aussagen individuellen Inhaltes, wie man sie in 
der Topographie aufstellt, charakterisiert werden können. Man wird dies 
modern-mathematisch in der Weise ausdrücken, daß man zunächst zwei 
nahe miteinander verwandte Gruppen kollinearer Umformungen einführt: 
die Gruppe der Bewegungen und Umlegungen und die umfassendere Gruppe 
der Ähnlichkeitstransformationen (die Gruppe der ‚„kongruenten“ und die 
Gruppe der „äquiformen‘ Transformationen nach der von Heffter und 
Koehler in ihrem Lehrbuch eingeführten Ausdrucksweise)?), und nun sagt: 
die metrischen Eigenschaften sind dadurch charakterisiert, daß sie relativ zu 
diesen Gruppen invariant sind. Wir haben danach: Metrische Geometrie und 
projektive Geometrie kommen beide auf das Studium einer Invarianten- 
theorie heraus, und ihre gegenseitige Beziehung liegt darin, daß die 
Gruppe der metrischen Geometrie eine Untergruppe der zur projektiven 
Geometrie gehörigen Gruppe ist. 

Ein paar einfache Formeln werden diesen Sachverhalt verdeutlichen 
und noch weiter gliedern. Wir mögen in der Ebene bleiben und der 
Einfachheit halber gewöhnliche (nicht homogene) rechtwinklige Koordi- 
naten x, y gebrauchen. Schreiben wir dann 


(7) J = te Y tl; 
LVA, tag Yyt ag; 

und betrachten hier die «,,,..., &, als beliebig veränderliche Größen, so 
haben wir die sechsparametrige Gru, pe der sogenannten affinen Trans- 
formationen vor uns. Aus ihr entsteht die vierparametrige Gruppe der 
äquiformen Transformationen, wenn man verlangt, daß dx’? -+dy’? bis 
auf einen Faktor mit dx? -+ dy” übereinstimme. Es ist dies dann und 
nur dann der Fall, wenn die Bedingungen erfüllt sind: 


a ER 5) Me 
Ey tg > la + gar Lukas t Sara = 0, 
wenn also die Matrix 


I 
| &,, Cıa 


’ 





| &oı Oga 





?) Lehrbuch der analytischen Geometrie, Bd. 1, Leipzig 1905. 


5838 Zum Erlanger Programm. 


wie man sagt, orthogonal”) ist. Die dreiparametrige Gruppe der kon- 
gruenten Transformationen aber entsteht, wenn man die Determinante 


%ı &a 


21 aa 
Wir schreiben endlich die allgemeinsten Kollineationen der Ebene an: 


gleich +1 setzt. Es wird dann dx” +dy’”=dax?’+dy?. — 








& 


are Ct leoYt Oz 

(8) CH Y + dy’ 
Er RC + RgY- Uyz 

+ Y-+ lg 








Man erkennt nun ohne Mühe: 

Die Gruppe der affinen Transformationen (7) besteht aus denjenigen 
Kollineationen, welche eine bestimmte gerade Linie, nämlich die unendlich 
ferne Gerade, in sich transformieren. | 

Die Gruppe der äquiformen Transformationen aber besteht aus den 
Kollineationen, welche ein bestimmtes auf dieser geraden Linie liegendes 
Punktepaar, eben das Kreispunktepaar, ungeändert lassen. 

Geometrisch nicht ganz so einfach ist die Definition der Gruppe der 
kongruenten Transformationen. Wir begnügen uns hier mit der alge- 
braischen Charakterisierung: es sind die äquiformen Transformationen, 
deren vorbezeichnete Determinante gleich + 1 ist. Die äquiformen Trans- 
formationen sind natürlich eo ipso affın. | 

Soll ich einfügen, daß man nun — als Mittelglied zwischen projek- 
tiver Geometrie und metrischer Geometrie — eine affine Geometrie de- 
finieren kann, welche alle diejenigen Eigenschaften ebener Figuren be- 
handelt, die bei der Gruppe (7) invariant sind? Wir hätten dann dreierlei 
Geometrien zu vergleichen, von denen projektive und metrische Geometrie 
die beiden extremen Fälle sind. Die Systematik würde dadurch gewinnen, 
die Darstellung aber unnötig schleppend werden, weil mehreremal im 
Grunde dasselbe zu sagen wäre. So soll also weiterhin in der Haupt- 
sache doch nur von projektiver und metrischer Geometrie die Rede sein 
und der affinen Geometrie, die allerdings zum Schluß besonders hervor- 
treten wird, nur beiläufig gedacht werden. — 

In diesem Sinne unterscheide ich also nur zwischen der elementaren 
(direkten) Behandlung der metrischen Beziehungen und der durch Cayley 
angebahnten projektiven. Und dieser Unterschied formuliert sich (im 
Sinne des Erlanger Programms) dahin: „Die projektive (höhere) Behand- 
lung sucht die invarianten Beziehungen, welche die vorzugebenden Figuren 
nach Hinzufügung der Kreispunkte gegenüber der Gesamtheit der Kolli- 





s) Der Term ist hier so gebraucht, daß die Ähnlichkeitstransformationen als mit 
eingeschlossen gelten (also auf den Zahlenwert der Determinante der «;., kein Gewicht 
gelegt ist). 


XXX. Geometrische Grundlagen der Lorentzgruppe. 539 


neationen besitzen; die elementare Behandlung die invarianten Beziehungen, 
welche die Figuren als solche gegenüber der engeren Gruppe derjenigen 
(äquiformen und kongruenten) Kollineationen besitzen, welche die Kreis- 
punkte in sich überführen.‘ 

Nun bin ich mit diesen allgemeinen Vorbetrachtungen zu Ende und 
ich bitte Sie nur, insbesondere folgenden Gedanken festzuhalten: Invarianten- 
theorie ist ein relativer Begriffi; man kann gegenüber jeder Gruppe von 
Transtormationen von einer zugehörigen Invariantentheorie sprechen. Dieser 
Gedanke ist so selbstverständlich, daß er in den verschiedensten Anwendungs- 
gebieten und so auch in der theoretischen Physik überall spontan hervor- 
tritt. Die Terminologie, durch die er zum Ausdruck gebracht wird, ist 
natürlich je nach den Gebieten eine sehr verschiedene. Denn die Forscher 
verschiedener Art, und so auch die Physiker, haben bei ihren Arbeiten 
nicht die Zeit und vielfach auch nicht die Gelegenheit, nachzusehen, ob 
irgendwelche begriffliche Ansätze, deren sie bedürfen, sich in den Vorrats- 
kammern der reinen Mathematik bereits fertig ausgebildet vorfinden, sie 
verfahren daher so — und es bringt dies eine gewisse Frische ihrer 
Gedankengänge mit sich —, daß sie sich die mathematischen Instrumente, 
deren sie bedürfen, von Fall zu Fall selbst anfertigen. Die spätere Ver- 
ständigung mit den zünftigen Mathematikern, die mir allerdings eine 
wichtige Sache zu sein scheint, weil sie die Gedanken präzisiert und allerlei 
Zusammenhänge aufdeckt, verlangt dann vor allen Dingen eine Übersetzung 
der hier und dort gebrauchten Ausdrucksweisen in die Sprache des anderen. 
So will ich hier vorgreifend den Satz aussprechen: 

„Was die modernen Physiker Relativitätstheorie nennen, ist die In- 
variantentheorie des vierdimensionalen Raum-Zeit-Gebietes, x, y, 2, t (der 
Minkowskischen „Welt‘“) gegenüber einer bestimmten Gruppe von Kolli- 
neationen, eben der „Lorentzgruppe‘“; — oder allgemeiner, und nach der 
anderen Seite gewandt: 

„Man könnte, wenn man Wert. darauf legen will, den Namen ‚In- 
variantentheorie relativ zu einer Gruppe von Transformationen‘ sehr wohl 
durch das Wort ‚Relativitätstheorie bezüglich einer Gruppe‘ ersetzen.“ 





Ich behandele nunmehr einiges betreffend die rein mathematischen 
Untersuehungen, die sich s. Z. an Cayleys Abhandlung anschlossen. Das 
ist in der Tat die historische Stellung dieser hervorragenden Arbeit, daß 
sie nicht nur das alte Problem von der Beziehung zwischen metrischer 
Geometrie und projektiver Geometrie entscheidend beantwortete, sondern 
damit zugleich eine neue Fragestellung, die nach den verschiedensten 
Richtungen folgenreich werden sollte, in den Vordergrund brachte. Die 
metrische Geometrie erwächst aus der projektiven, wenn man die Kreis- 


940 Zum Erlanger Programm. 


punkte, gegeben durch die Gleichung u? +u?=0 (oder, im Raume, 
den Kugelkreis, gegeben durch die Gleichung u’ + u} + u? =0) hinzu- 
nimmt. Was wird geschehen, wenn man statt dessen irgendeine Gleichung 
zweiten Grades . I, > @,,u;u,—=0 in sinngemäßer Weise zugrunde legt? 
Bleiben wir bei der Ebene, wo unsere neue Gleichung irgendeine 
Kurve zweiter Klasse vorstellt. Für den projektiven Geometer zerfallen 
diese Kurven in fünf verschiedene Arten, die ich hier aufzähle, indem ich 
mir statt des seither benutzten rechtwinkligen Parallelkoordinatensystems 
jeweils ein geeignetes Dreieckkoordinatensystem (dessen ‚„‚Linienkoordinaten‘“ 
ebenfalls u, :u,:u, genannt werden) zugrunde gelegt denke. Die Liste 
ist folgende: 
A. Eigentliche. Kegelschnitte 
1. u + u? + u} = 0, imaginärer Kegelschnitt 
2. u +uw-u;=0, reeller Kegelschnitt 
B. Punktepaare 
3. u +u=0, imaginäres Punktepaar (übereinstimmend mit 
der Gleichung (2) der Kreispunkte) 
4.u—w-(, reelles Punktepaar 


C. Einzelner Punkt, doppeltzählend 
5. WW =. | 

— Das Prinzip dieser Aufzählung ist so einfach, daß jederman die ent- 
sprechende Tabelle nach Analogie gleich für n Veränderliche «,,...,a, hin- 
schreiben wird: zuerst Gleichungen mit n Quadraten, die wechselnd mit 
—+ oder — aneinandergefügt werden, dann solche mit (n— 1) Quadraten usw. 
Die Fälle der ersten Kategorie sollen die allgemeinen heißen, die nach- 
folgenden einfach spezialisiert, die der dritten Kategorie doppelt speziali- 
stert USW. 

Für jeden dieser Fälle konstruieren wir nun ein Analogon zur 
Formel (3) für die Entfernung zweier Punkte und erhalten, was Cayley 
die zugehörige Quasientfernung nannte. Für den Fall des imaginären 
Punktepasres werden wir einfach die Formel (3) beibehalten (nur daß 
jetzt z,:%,:%, und y,:%,:%, nicht notwendig rechtwinklige Parallel- 
koordinaten, sondern allgemein zu reden zugehörige Dreieckskoordinaten 
sein werden). In den folgenden beiden Fällen (des reellen Punktepaares 
und des Doppelpunktes) werden kleine Änderungen anzubringen sein, auf 
die wir sogleich noch zurückkommen. Schwieriger ergibt sich der geeignete 
Ansatz für die Quasientfernung in den vorangehenden beiden Fällen (der 
eigentlichen Kegelschnitte); wir wollen hier darauf nicht näher eingehen, 
weil es zu viel Raum beanspruchen würde und nach seinen Einzelheiten 
für den heutigen Vortrag doch nicht in Betracht kommt. Das Resultat 


XXX. Geometrische Grundlagen der Lorentzgruppe. 541 


ist jedenfalls dieses, daß wir fünf Arten (und nur fünf Arten) Maß- 
geometrie in der Ebene erhalten, von denen uns nur die eine, die dem 
imaginären Punktepaar entspricht, von dem Beispiel der elementaren 
Metrik her bekannt ist. Den Inbegriff aber der so entstehenden Theorien 
nennen wir die allgemeine Lehre von der projektiven Maßbestim- 
mung (zunächst für die Ebene, dann für den Raum, überhaupt für be- 
liebig ausgedehnte Mannigfaltigkeiten). 

Nun kann ja heute keineswegs meine Absicht sein, in die Einzel- 
heiten dieser Theorien einzugehen; nur ihre allgemeine Bedeutung soll 
hervorgehoben werden. Ich habe da zunächst ein Vorurteil, das mancher 
hegen mag, zurückzuweisen: der Laie wird von vornherein sehr wenig 
geneigt sein, der Beschäftigung mit Fragestellungen, die zunächst nur aus 
dem subjektiven, sozusagen ästhetischen Erkenntnistrieb des Mathematikers 
hervorgehen, irgendwelchen Wert beizulegen. Die Geschichte der Wissen- 
schaft aber zeigt, daß die Sache ganz anders liegt; es ist ein großes 
Geheimnis und schwer in bestimmte Worte zu fassen; ich werde sagen, 
daß alles, was mathematisch gesund ist, früher oder später über sein 
engeres Gebiet hinaus eine weiterreichende Bedeutung gewinnt. So ging 
es mit der Theorie der Kegelschnitte, die von den Geometern des Alter- 
tums um ihrer selbst willen entwickelt war und mit der Entdeckung der 
Keplerschen Gesetze plötzlich die größte Wichtigkeit für unser Natur- 
verständnis gewann. Und genau so ging es mit der an die Theorie der 
Kegelschnitte sich unmittelbar anlehnenden Lehre von der projektiven 
Maßbestimmung. Das erste war, daß sie hohe erkenntnistheoretische Be- 
deutung erhielt, indem sie sich als die einfachste Grundlage für die Nicht- 
Euklidischen Geometrien erwies, die aus den Untersuchungen über die 
Unabhängigkeit des Parallelenaxioms von den anderen Axiomen entstanden 
waren und zunächst als etwas besonders schwer Zugängliches galten‘); 
ich werde sogleich noch einige hierauf bezügliche Einzelheiten anführen. 
Das zweite war, daß sie sich in anderen Gebieten der reinen Mathematik 
als eine brauchbare Methode zur Klarstellung komplizierter Verhältnisse 
bewährte, so in der Theorie der automorphen Funktionen oder auch in 
der Zahlentheorie?). Und nun,: in den letzten Jahren, kommt hervor, daß 
sie ebensowohl eine rationelle Grundlage für die modernsten Spekulationen 
der Physik abgibt, insbesondere den Gegensatz zwischen klassischer und 
neuer Mechanik einfach begreifen läßt. 





4) Vgl. meine Arbeiten „Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie“ in 
den Bänden 4 und 6 der Math. Annalen (1871 und 1873). [Siehe Abh. XVI und XVII 
dieser Ausgabe] 

5) Vgl. die allgemeine Darstellung bei Fricke-Klein, Vorlesungen über die 
Theorie der automorphen Funktionen (Teil I, Leipzig 1897), ferner meine autogra- 
phierten Vorlesungen über ausgewählte Kapitel der Zahlentheorie (Leipzig 1897). 


542 Zum Erlanger Programm. 


Die Beziehung zwischen projektiver Maßbestimmung und Parallelen- 
theorie, auf die ich Bezug nahm, läßt sich, wenn wir uns wieder auf die 
Ebene beschränken, ihrem äußeren Ergebnisse nach dahin fassen, daß wir 
im Falle 1) der auf S. 540 aufgestellten Tabelle (also bei Zugrundelegung 
eines imaginären Kegelschnitts) die Nicht-Euklidische Geometrie von Rie- 
mann erhalten, im Falle 2) aber (d.h. bei Zugrundelegung eines reellen 
Kegelschnitts) die Nicht-Euklidische Geometrie von Bolyai-Loba- 
tschewsky-Gauß. Ich möchte einen besonderen Punkt erwähnen, der 
infolge der projektiven Auffassung ohne weiteres klar ist, während er sonst 
leicht von dem Schimmer des Mystischen umgeben scheint: Die Zahl der 
Kollineationen, durch welche ein nicht zerfallender Kegelschnitt in sich 
transformiert wird, ist 00°, sie steigt auf oo*, sobald der Kegelschnitt in 
ein Punktepaar ausartet. Hierin liegt, daß die aus den Elementen uns 
so geläufigen äquiformen Transformationen (Ähnlichkeitstransformationen) 
der Euklidischen Metrik in den Nicht-Euklidischen Geometrien als besondere 
Kategorie in Wegfall kommen; es bleiben nur die oo” kongruenten Trans- 
formationen (Bewegungen und Umlegungen). Die Folge ist, daß es in den 
Nicht-Euklidischen Geometrien ein absolutes Längenmaß gibt, nicht nur, wie 
bei Euklid, ein absolutes Winkelmaß. Übrigens haben die beiden Gruppen, 
die G, der einen oder anderen Nicht-Euklidischen Geometrie und die @, der 
Euklidischen Geometrie, ihrer inneren Struktur nach wenig miteinander 
zu tun. Eben darum ist es so schwer, vom Standpunkte der Euklidischen 
Geometrie aus die Nicht-Euklidische zu verstehen: eine Figur, die sich 
Nicht-Euklidisch bewegt, erleidet, Euklidisch betrachtet, seltsame Ver- 
zerrungen. Alle Schwierigkeit verschwindet aber, sobald ich mich an das 
allgemeine projektive Denken gewöhnt habe. In der Tat schließt die G, 
der projektiven Geometrie (d. h. die Gesamtheit aller Kollineationen der 
Ebene) ebensowohl die G, der einen oder anderen Nicht-Euklidischen 
Geometrie wie die @, der Euklidischen Geometrie ein. Verfüge ich über 
die projektive Auffassung, so habe ich denselben Vorteil, wie ein Wanderer, 
der auf einem Berge stehend in verschiedene Täler gleichzeitig hinabblickt, 
während er vorher, im einzelnen Tale stehend, sich von dem Verlauf der 
anderen Täler nur schwer eine Vorstellung machen konnte. Noch ein 
letzter, nicht unwichtiger Punkt! Bei aller prinzipiellen Verschiedenheit 
der Fälle 1), 2) und 3) ist es für den Projektiviker doch so gut wie 
selbstverständlich, daß man zwischen den drei Fällen einen kontinuier- 
lichen Übergang herstellen kann. Man wähle einfach als fundamentale 
Gleichung der projektiven Maßbestimmung: | 
(9) wtwtrerg = 0 
und lasse hier den Parameter & von positiven Werten beginnend durch 
Null hindurch zu negativen Werten übergehen! Es wird sich dann die 


XXX. Geometrische Grundlagen der Lorentzgruppe. 543 


Riemannsche Geometrie durch die Euklidische Geometrie hindurch in die 
Geometrie von Bolyai, Lobatschewsky, Gauß verwandeln. Des näheren 
stellt sich die Sache so, daß ich um den Punkt «, = 0 herum ein Gebiet 
beliebiger Ausdehnung abgrenzen kann (so groß, wenn es Vergnügen macht, 
daß es unser ganzes Sonnensystem oder auch die gesamte Fixsternwelt 
umschließt) und dann das e, positiv oder negativ, so klein annehmen 
kann, daß innerhalb dieses Gebietes irgendwelche Abstände, Nicht- 
Euklidisch gemessen, von ihren Euklidischen Beträgen um weniger ab- 
weichen, als eine noch so kleine vorgegebene Größe beträgt. — 


Man möge gestatten, daß ich mit diesen Einzelbetrachtungen über 
die projektive Maßbestimmung in der Ebene noch ein weniges weiter fort- 
fahre; es geschieht dies natürlich, um gewisse Überlegungen, die ich beim 
Vergleich der neuen und der klassischen Mechanik späterhin gebrauche, 
zweckmäßig vorzubereiten. Ich wende das obengenannte Kontinuitäts- 
prinzip nunmehr auf die Fälle 3), 4) und 5) unserer Tabelle von 8. 540 
an. Das fundamentale Gebilde sei, bezogen auf ein gewöhnliches recht- 
winkliges Koordinatensystem: 

(10) u"+eu=0 

und hier gebe ich e das eine Mal einen sehr kleinen positiven, das andere 
Mal einen sehr kleinen negativen Wert, das dritte Mal den Wert Null. Mit 
x, y seien die zugehörigen (gewöhnlichen, nicht homogenen) Koordinaten 
eines Punktes bezeichnet. Als Entfernung dieses Punkes vom Koordinaten- 
anfangspunkte erhält man dann durch sinngemäße Abänderung der 
Formel (3): 

(11) r= Ver?’ +y?, 

und hier wolle man nun überlegen, wie das System der um O als Zentrum 
herumgelegten Kreise (d. h. der Kurven r = Konst.) gestaltet ist. Offen- 
bar bekommen wir bei positivem e langgestreckte Ellipsen (deren große 
Achse in die Richtung der X-Achse fällt), bei negativem e Hyperbeln, 


deren Asymptoten = +V-e einen sehr kleinen Winkel mit der X- 


Achse machen, bei verschwindendem Paare gerader Linien y= + Vkonst., 
die parallel zur X-Achse verlaufen. Es ist amüsant, sich zu überlegen, 
wieso diese Parallellinienpaare Übergangsformen zwischen den Ellipsen und 
Hyperbeln der Fälle mit positivem bzw. negativem & sind! 


Wir mögen ferner die zu unserer Maßbestimmung gehörigen äqui- 
formen und kongruenten Transformationen zunächst in den Fällen mit 
nicht verschwindendem e betrachten. Da die beiden durch (10) dar- 
gestellten Punkte für e=0 voneinander verschieden sind, bestimmen sie 
ihre Verbindungslinie, die unendlich ferne Gerade, eindeutig. Unsere Trans- 


944 Zum Erlanger Programm. 


formationen werden also affine Transformationen sein und können in der 
Form angesetzt werden: 
(12) einnee 

Ya gay FT Ung- 
Hier sind die Koeffizienten rechter Hand im äquiformen Falle so zu be- 
messen, daß & (&,,2+.@,9)+ (0,2% + «,%)” bis auf einen willkürlich 
bleibenden Faktor mit ex? + y? übereinstimmt. Dies gibt für die Koeffi- 


zienten &;„ zwei Bedingungen, deren Zahl auf drei steigt, wenn wir, zu 
den kongruenten Transformationen gehend, die Determinante | en 

| a1 39 ı 
gleich + 1 setzen. Wir haben hiernach oo* äquiforme und oo* kongruente 
Transformationen, in genauer Übereinstimmung selbstverständlich mit dem, 
was wir im Falle e= 1 von der Euklidischen Metrik her wissen. 

Wir wenden uns nun zum doppelt spezialisierten Falle e—= 0, indem 
wir als Bedingung festhalten wollen, daß auch hier nur affine Trans- 
formationen (12) in Betracht gezogen werden sollen (— dies ist hier eine 
freie Verabredung, weil die unendlich ferne Gerade nur eine von den ge- 
raden Linien ist, die den Punkt vu? = 0, d.h. den unendlich fernen Punkt 
der X-Achse, enthalten, von Hause aus also keine Notwendigkeit vorliegt, 
daß sie bei den von uns zu betrachtenden Transformationen in sich über- 
geht —). Wir erhalten dann für die äquiformen Transformationen einfach 
&,, — 0; jede Transformation 
| =a,% +0, Y+ %s 
iy- Gay iz 
wird als äquiform anzusprechen sein. Die däquiforme Gruppe enthält 
trotz unserer einschränkenden Verabredung hier noch fünf Parameter. 
Als „Bewegungen“, d. h. kongruente Transformationen ohne Umlegung 
möge man dann unter den (13) diejenigen bezeichnen, welche erstlich 
unimodular sind, zweitens die Entfernung zweier Punkte x, y und &, 9, 
d. h. im vorliegenden Falle (y — Y), unverändert lassen. Dies gibt «,, =1, 
&,g — 1 und die dreigliedrige Bewegungsgruppe ist durch die Formeln gegeben: 


een 


(13) 


(14) ’ 
de YO. 

Die äquiformen Transformationen enthalten sonach zwei Parameter mehr 
als die kongruenten. Wir werden sagen, daß wir jetzt die Einheiten für 
den Maßstab auf der X-Achse und der Y-Achse unabhängig wählen können. 
Insbesondere werden wir in y— % bei beliebig gegebenen zwei Punkten 
eine Bewegungsinvariante haben; st aber insbesondere y— Y=0, so ist 


auch x — & eine Bewegungsinvariante. 





XXX. Geometrische Grundlagen der Lorentzgruppe. 545 


Es gilt jetzt, alle diese gewiß sehr einfachen Ansätze auf größere 
Variabelenzahlen zu übertragen. Oder vielmehr, wir wollen gleich zu 
vier Variabelen x, y, z, £ übergehen (wobei wir den Inbegriff aller Wert- 
systeme dieser Variabelen mit Minkowski als Welt, x, y, z als Raum- 
koordinaten, t als Zeit bezeichnen). Wir verzichten darauf, die zugehörigen 
möglichen Arten der projektiven Maßbestimmung systematisch aufzuzählen, 
so einfach dies schließlich sein würde. Vielmehr beschränken wir uns 
darauf zu zeigen, daß hier, in der vierdimensionalen Welt, das System 
der Mechanik sich unter den Begriff der projektiven Maßbestimmung ein- 
ordnet, und zwar sowohl das System der klassischen Mechanik, wie das 
der neuen Mechanik von Lorentz, Poincare, Einstein und Minkowski, 
womit das Wesen dieser beiden Systeme, wie insbesondere ihre gegen- 
seitige Stellung zur vollsten Klarheit gebracht sein dürfte, 


€ x, ' X, ' T, 
setzen. Die allgemeine lineare Gleichung zwischen x, y, z,t werde dem- 
entsprechend so geschrieben: u,2, + %%, + u,2, + u 2, + u,x, = 0; 
speziell ist x, — 0 dasjenige, was wir das „unendlich Ferne“ der Welt 
nennen wollen. Unser alter Bekannter, der Kugelkreis, erhält wie früher 
die Gleichung: 

(15) vw trwn=(; 

er ist jetzt aber, da wir fünf homogene Koordinaten haben, als zweifach 
spezialisiertes Gebilde zu bezeichnen. Neben ihn stellen wir als einfach 
spezialisiertes Gebilde: 


(16) tut 0, 


Wolle man vorab vorübergehend x = En ee nee 
5 


wo c die „Lichtgeschwindigkeit“ bezeichnen soll, = also (bei Zugrunde- 


legung der Einheiten, deren man sich in der Mechanik allgemein zu be- 
dienen pflegt) eine sehr kleine Größe ist. In Punktkoordinaten ist dieses 
Gebilde durch das Gleichungspaar gegeben: 


(17) =0, ++ - "a0, 
bestimmt also eindeutig das ‚unendlich Ferne“ der Welt. Läßt man hier, 


um zum Kugelkreise zu gelangen, c unendlich werden, so wird man für 
diesen drei Gleichungen in Punktkoordinaten erhalten: 


(18) 0 u. -0, ar r+eet. 


Wir haben hier — =j- 7 der Kugelkreis ist, könnte man sagen, zeit- 
5 


los zu denken. Das unendlich Ferne der Welt ist nur eine der linearen 
Mannigfaltigkeiten, welche den Kugelkreis enthalten, es erscheint erst dann 


vor anderen linearen Mannigfaltigkeiten derselben Art bevorzugt, wenn 
Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 35 


946 Zum Erlanger Programm. 


wir den Kugelkreis aus (16), bzw. (17) durch Grenzübergang entstehen 
lassen. — Auf diese Gebilde (16, 17), bzw. (15, 18) wollen wir nun alle 
Betrachtungen, die wir vorhin an die Gleichung (10),d.h.u? + eu? = 0 
knüpften, sinngemäß übertragen. 

Ich will gleich mit dem Kugelkreis beginnen, indem ich das Prinzip 
herübernehme, daß wir entsprechend der begrifflichen Auszeichnung der 
linearen Mannigfaltigkeit x, —0 die zugehörigen äquiformen und kon- 
gruenten Transformationen der Welt nur unter den affınen Welttransfor- 
mationen suchen sollen. Es hat dementsprechend jetzt keinen Zweck 
mehr, die homogene Schreibweise festzuhalten; vielmehr werden wir das 
allgemeine Schema der in Betracht kommenden Transformationen ent- 
sprechend den Gleichungen (13) gleich in folgender Gestalt anschreiben: 


ee Ct koYyt 2 +0, 

(19) YSR,CHlYy-t O2 t Abt Gy 
Z0O,EH4 RY-t 924 tt 0 

(f= u Zu 7 





Äquiform werden wir diese Transformationen nennen, wenn sie das 
Gleichungssystem (18) in sich überführen. Hierfür ergibt sich als einzige 
Bedingung, daß die Matrix 








Mr Die | 
(20) rg aa Mes 
| a A 
orthogonal sei. Dies liefert für die neun Koeffizienten «,,,..., &, in 
bekannter Weise fünf Gleichungen; im ganzen bleiben von den 17 in (19) 
auftretenden Koeffizienten also 12 willkürlich. — Unter den so bestimmten 


äquiformen Transformationen werden wir dann gemäß (14) diejenigen 
als kongru.nte Transformationen bezeichnen, für die die Determinante der 
Matrix (20) gleich + 1 und überdies @,=1 ist. Die Gruppe der so be- 
stimmten kongruenten Transformationen enthält noch zehn Parameter. Sind 
x, y, z,tundZ&, %, 2, t die Koordinaten zweier Weltpunkte, so bleibt bei der 
Gruppe der kongruenten Transformationen allgemein zu reden nur die Differenz 
&£ — t unverändert; nur wenn & — t insbesondere gleich Null ist, so ist auch 
(2 — £)’+(y—%)’+(z— 7)” eine Invariante. Zwei Weltpunkte haben 
also nur dann eine ‚rein geometrische‘ Invariante, wenn ihre Zeit- 
differenz verschwindet. 


Das wir mit diesen Angaben über die zum Kugelkreis gehörigen, 
äquiformen und kongruenten Welttransformationen in der Tat die Grund- 
lagen der klassischen Mechanik treffen, bedarf nach dem, was neuerdings 
von anderen Autoren vielfach hervorgehoben ist, kaum der Ausführung. 


XXX. Geometrische Grundlagen der Lorentzgruppe. 547 


Die Grundgleichungen der klassischen Mechanik Bleiben in der Tat un- 
geändert, wenn wir 

1. das beliebig gewählte rechtwinklige Raumkoordinatensystem x, %, 2 

durch irgendein anderes gleichorientiertes ersetzen, 

2. dem rechtwinkligen System irgendeine gleichförmige Translation er- 

teilt denken, 

3. den Anfangspunkt, von dem aus wir die Zeit i zählen, beliebig ändern. 
Genau dieses findet in der Gruppe unserer kongruenten Transformationen 
seinen Ausdruck. Speziell den gleichförmigen Translationen 2 entsprechen 
in unseren Formeln die Glieder mit «,,t, «,,t, «,,t. Dem Umstande aber, 
daß unsere äquiformen Transformationen zwei Parameter mehr enthalten, 
als die kongruenten, korrespondiert die Tatsache, daß in der klassischen 
Mechanik die Zeiteinheit und die Längeneinheit unabhängig voneinander 
willkürlich gewählt werden können (worauf sich die Lehre von der „Ähn- 
lichkeit‘ in der klassischen Mechanik stützt). — 

Wir betrachten zweitens den Fall des nur einfach spezialisierten 
Grundgebildes (17) (das noch keinen besonderen Namen trägt, aber gewiß 
einen solchen verdiente): 

=0 ++ —- N 
Die äquiformen Desustormatisnee sind hier notwendig affin, um so mehr 
gehen wir wieder zur nicht-homogenen Schreibweise zurück. Das all- 
gemeine Schema. einer affinen Transformation ist dann: 





.= Ct RoYyt 2 tb k 
(21) | ern. 
Emn,.2 4 2.22... + 
Keun,ct .. 2.2.4 
Wir haben eine äquiforme Transformation, sobald die durch die Matrix 
ER 
ee 79 





gegebene homogene Substitution der x, y, 2, t die. quadratische Form 
x2”+y?”+ 2? — c”t? in ein Multiplum ihrer selbst überführt. Dies legt 
den 20 Koeffizienten &,;; neun Bedingungen auf; die Gruppe der äquiformen 
Transformationen enthält also jetzt elf Parameter. Aus ihr entsteht die 
Gruppe der kongruenten Transformationen ( wie wir sie seither definierten ), 
indem wir verlangen, daß die Determinante 


11 Ser er 





35 * 


548 Zum Erlanger Programm. 


einen der Werte + 1 haben soll. Wir haben so eine Gruppe von zehn Para- 
metern. Sind x, y,2,t und &, %, 2, t die Koordinaten irgend zweier Welt- 
punkte, so erweist sich ihr gegenüber das Quadrat der Quasientfernung: 


- SD + -M+e- N - abe 
als unveränderlich. 


Wir haben nun noch einen feineren Punkt herauszuarbeiten, der 
schon oben, bei den Erörterungen über das Punktepaar u? + eu? = 0 als 
Fundamentalgebilde einer ebenen Maßbestimmung, hätte herangebracht 
werden können. Um aus der Gesamtheit der äquiformen Transformationen die 
kongruenten ohne Umlegung herauszuheben, kann man sich daraufbeschränken, 


in den Substitutionen (12) die Determinante en . | = 1zusetzen. So 
21 223 

macht man es ja in der Tat bei Euklidischer Maßbestimmung, wo als 
Fundamentalgebilde ein imaginäres Punktepaar zugrunde liegt. Aber dies 
führt doch nur für den Fall des imaginären Punktepaars (für den Fall eines 
positiven e) zu den Bewegungen. Ist das Punktepaar reell (e negativ), so 
ergibt die nähere geometrische Überlegung, daß die unimodularen äquiformen 
Transformationen für sich kein Kontinuum mehr bilden, wie man dies doch 
billigerweise von dem Inbegriff der Bewegungen verlangen sollte. Ihre 
Gesamtheit zerfällt vielmehr in vier Kontinua. Nur diejenigen Trans- 
formationen, welche das Vorzeichen des Differentialausdrucks edx?’ + dy? 
ungeändert lassen und überdies positives &,, aufweisen, werden im engeren 
Sinne als Bewegungen zu bezeichnen sein, weil sie allein sich an die 
„identische‘‘ Transformation x’ = x, y’=y kontinuierlich anschließen. 
Der früher gegebenen Definition der kongruenten Transformationen sind also, 
um Bewegungen auszusondern, bei negativem e die beiden genannten For- 
derungen noch ausdrücklich zuzusetzen. Auf die damals gegebene Ab- 
zählung der Parameter hat dies keinen Einfluß. Auch haben wir im Grenz- 
falle <= 0, indem wir «,, = 1 setzten, bereits der neuen Verabredung ent- 
sprechend gehandelt. — Etwas Ähnliches ist es nun auch mit dem jetzt 
zu behandelnden Falle des Gebildes (17) (das wegen des negativen Vor- 
zeichens, mit dem der Term c?x? in seine Gleichung eingeht, bis zu einem _ 
gewissen Grade dem Falle des reellen Punktepaares der Ebene zu ver- 
gleichen ist). Jetzt zeigt die genauere geometrische Überlegung, — die 
nicht etwa schwer ist, die aber mehr Platz beanspruchen würde, als wir 
ihr hier geben können —, daß die Gruppe der kongruenten Transforma- 
tionen, wie wir sie zunächst definierten, noch zwei Kontinua umfaßt, und 
daß wir als Gruppe der Bewegungen von diesen beiden Kontinuen nur 
dasjenige brauchen können, welches durch positives «,, charakterisiert ist. 

Mögen wir die Forderung eines positiven «,, also der Definition 


XXX. Geometrische Grundlagen der Lorentzgruppe. 549 


unserer zehngliedrigen Gruppe noch ausdrücklich hinzufügen. Wir haben 
dann genau die Lorentzgruppe der „neuen“ Mechanik vor uns. Allerdings 
sagt man von der Lorentzgruppe zumeist, sie habe sechs (nicht zehn) 
Parameter. Das ist aber nur eine Folge davon, daß man in der mathe- 
matischen Physik gewöhnlich nicht die Transformationen (21) der Koordi- 
naten x, y, z,t, sondern nur die entsprechenden Transformationen der 
Differentiale dx, dy, dz, dt betrachtet, bei denen die additiven Konstanten 
& 55 %g> &yp 5 &, der Formeln. (21) selbstverständlich fortfallen. Der Um- 
stand aber, daß die Gruppe der äquiformen Transformationen jetzt nur 
einen Parameter mehr enthält als die der kongruenten, findet sein Gegen- 
stück in dem Umstande, daß durch Vorgabe der Konstanten c (der Licht- 
geschwindigkeit) in der neuen Mechanik Raumeinheit und Zeiteinheit an- 
einander geknüpft sind (so daß nur eine der beiden willkürlich angenommen 
werden kann). 


So sind denn alte Mechanik und neue Mechanik gleichmäßig in das 
Schema der projektiven Maßbestimmung bei vier Variabeln x, y, z,t ein- 
geordnet, — der Zielpunkt, den ich zu Anfang dieses Vortrags in Aus- 
sicht nahm, ist erreicht. Alles, was ich zu Eingang über das Verhältnis 
der metrischen Geometrie zur projektiven gesagt habe, würde sich sinn- 
gemäß übertragen lassen. Ich beschränke mich aber darauf, noch zwei 
kurze Bemerkungen zuzufügen. 


Zunächst: Gemäß der Terminologie, die ich oben bei Gelegenheit be- 
rührte, dürfen wir sagen, daß die klassische Mechanik ebenso wie die 
neue Mechanik eine ‚„Relativitätstheorie“ bezüglich einer Gruppe von zehn 
Parametern ist. Man möchte fragen, warum denn in der physikalischen 
Literatur das Wort ‚„Relativitätstheorie‘“‘ ausschließlich als ein Attribut 
der neuen Mechanik gebraucht wird? Hierauf scheint zu antworten: weil 
die neue Mechanik historisch auf dem Umwege über die Elektrodynamik 
entstanden ist. Es genügt, um die Sachlage klarzumachen, die Maxwell- 
schen Gleichungen für den reinen Äther etwa in der Hertzschen Bezeich- 
nung herzusetzen: 





10L_22_07 1oX_aM_ an 
u: DE 82° em ..03 öy’ 
10M_aX_02 1.aY_on_aL 
e 0 0z =’ ce 0x 02°’ 
1oN_ar 0X 102_oL_am 
09... de: 9) 88°... dy.: 98° 
oL oM 0.N oX or 0Z 

aut mehr. 


Diese Gleichungen bleiben selbstverständlich ungeändert, wenn man das 
x, y, 2-System durch irgendein anderes (gleichorientiertes) rechtwinkliges 


990 Zum Erlanger Programm. 


Koordinatensystem ersetzt, oder wenn man den Anfangspunkt der Zeit 
beliebig verschiebt; — das macht zusammen eine Gruppe von sieben Para- 
metern. Sie bleiben aber keineswegs mehr ungeändert, wenn man das 
Koordinatensystem einer gleichförmigen Translation unterwirft, also setzt: 


"=ıc+ua, Yyteo,t Z=2z+0,8. 


Hierin lag der Anlaß, daß man unter der Herrschaft der Maxwellschen 
Gleichungen den elektrodynamischen Äther zunächst als im Raume ruhend 
ansah, daß die Auffassung des absoluten Raumes wieder zu Ehren kam. 
Es blieb die siebengliedrige Gruppe der Änderungen, welche dem rein- 
äußerlichen Übergang von einem Koordinatensystem x, y, z, t zu einem 
gleichberechtigten anderen entspricht. — Da kam die Entdeckung, daß 
diese siebengliedrige Gruppe in einer anderen zehngliedrigen enthalten sei, 
welche die Maxwellschen Gleichungen ihrerseits unverändert läßt, eben 
der Lorentzgruppe. Wieder entschwand der absolute Raum (oder vielleicht 
besser: die absolute Welt), — die Welt ward wieder, was sie früher war, 
ein relativer Begriff —, und man bildete sich, ohne daran zu denken, daß 
man nur das frühere Sachverhältnis mutatis mutandis wiederherstellte, 
das Wort ‚Relativitätstheorie‘‘ als einen neuen, auf die Lorentzgruppe 
ausschließlich bezüglichen Term. 


Als Schlußbemerkung aber möchte ich diese wählen, es wurde oben 
darauf hingewiesen, daß die Schwierigkeiten, die jedermann empfindet, der, 
von der Gewöhnung der Euklidischen Geometrie beginnend, versücht, in 
die Nicht-Euklidischen Doktrinen einzudringen, ohne weiteres wegfallen, 
wenn man den übergeordneten Standpunkt des projektiven Denkens als 
Ausgangspunkt nimmt. Analoges möchte für das Studium der neuen Ver- 
hältnisse gelten, die innerhalb der Mechanik bei Zugrundelegung der 
Lorentzgruppe hervortreten. Es scheint unzweckmäßig, bei diesem Studium 
immer von den in der klassischen Mechanik geltenden. Auffassungen aus- 
zugehen und dann zu überlegen, wie diese künstlich deformiert werden 
müssen, um auf die neue Mechanik zu passen. Vielmehr scheint es rich- 
tiger, sich vom Standpunkte der alten Mechanik zunächst zu einem um- 
fassenderen zu erheben, der dann die alte und die neue Mechanik neben- 
einander als spezielle Fälle umschließt. Nach dem, was oben angeführt 
wurde, ist hierfür nicht einmal nötig, sich in die projektive Auffassung der 
Welt hineinzudenken, denn es genügt die affine Auffassung. Es wird 
darauf ankommen, eine systematische Invariantentheorie der affınen 
„Welt“ zu schreiben, wozu übrigens alle Elemente in den mehrdimensio- 
nalen Untersuchungen der Mathematiker bereits vorliegen, und von ihr 
aus die beiden Arten der Mechanik, die alte und neue, nebeneinander zu 
behandeln. Wieso die alte Mechanik ein Grenzfall der neuen ist, inwie- 


XXX. Geometrische Grundlagen der Lorentzgruppe. 551 


weit sie also als eine Annäherung an letztere angesehen werden darf, kommt 
dann von selbst hervor. Wer bringt dieses Programm zur Ausführung? 
Minkowski hatte die hier geforderten Dinge für sich zweifellos sehr 
genau überlegt. Aber da er für den weiten Kreis der physikalisch inter- 
essierten Leser schrieb, hielt er es im Interesse der Verständlichkeit seiner 
Entwicklungen für zweckmäßiger, nicht seine bezüglichen inneren Über- 
legungen vorzutragen, sondern nur die auskristallisierte Form des 
Algorithmus, zu dem sie im Falle der Lorentzgruppe hinführen. Das ist 
Minkowskis vierdimensionale Vektorrechnung, die er ohne nähere Be- 
gründung als ein bestimmtes System fest verabredeter algebraischer Pro- 
zesse an die Spitze seiner elektrodynamischen Entwicklungen stellt.*) 





P.S. von August 1910. Ich hatte in meinem Vortrage vom 10. Mai 
insbesondere auch von der eleganten Darstellung der Koeffizienten der 
Lorentzgruppe durch zehn unabhängige Parameter gesprochen, die sich 
auf Grund einer wieder zuerst von Cayley aufgestellten berühmten Qua- 
ternionenformel ergibt. 

Die Schlußformel ist diefolgende. Ich verstehe unter ö die gewöhnliche 
imaginäre Einheit, unter i,, i,, i, die spezifischen Einheiten des Quater- 
nionenkalkuls. A,A ,...,D,D’ seien acht Parameter, welche an die 
bilineare Gleichung 

AA +BB+00’+DD'=0 
und übrigens die Ungleichung 
a ee 1 1 
gebunden sein sollen. Ebenso seien &,, Y,; 2,; f, vier Parameter. Die Sub- 
stitutionen der Lorentzgruppe sind dann durch folgende Formel gegeben: 
Ga +iy +2’ +ict)— (ag + isyo + ig2, + ich,) 
(i(A+iA’)+i,(B+iB’) +i,(C+iC’)+(D+iD’))] 
(Hztayt+i,z+ict) 
a -(4(A-iA)Hi, (B-iB’) +i, (0 -i0’)—(D-iD’)) 
ey EB DaB +04 D) 








®) [Diese Bemerkungen über die von Minkowski gewählte Darstellungsweise 
beziehen sich auf die Veröffentlichungen, die 1910 vorlagen und auch für Minko ws- 
kis gesammelte Werke (Leipzig, 1911) maßgebend gewesen sind. Inzwischen hat sich 
1915 in seinem Nachlaß das Manuskript einer von ihm noch vor jenen Veröffent- 
lichungen, nämlich am 5. Nov. 1907, in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft 
gehaltenen Vortrags gefunden, in welchem er seine mathematischen Gedanken un- 
verhüllt dargelegt hat. Dieser Vortrag ist gleich 1915 unter dem Titel ‚Das 
Relativitätsprinzip“ von Sommerfeld in Bd. 47 der 4. Folge der Annalen der 
Physik abgedruckt worden und findet sich übrigens auch im 24. Bande der Jahres- 
berichte der Deutschen Mathematischen Vereinigung (1916). Hierauf möchte ich an 
gegenwärtiger Stelle ganz besonders aufmerksam machen. K.) 


5523 Zum Erlanger Programm. 


Da die Multiplikation der A,A',..., D,D’ mit einem beliebigen gemein- 
samen Faktor die Formel nicht ändert, die A,A',... aber andererseits 
der obigen Bilinearrelation unterworfen sind, haben wir in der Tat zehn- 
fach unendlich viele Substitutionen vor uns. 

Wegen der näheren Einzelheiten und der literarischen Nachweise ver- 
gleiche man etwa die „Zusätze und Ergänzungen“, welche Herr Fritz 
Nöther dem eben erscheinenden Schlußhefte von Sommerfelds und 
meiner ‚Theorie des Kreisels“ (Leipzig, Teubner 1910) hinzugefügt hat. 





[Cunningham und Bateman haben bereits 1909 bemerkt, daß die Max well- 
schen Gleichungen nicht nur bei den linearen Transformationen der Lorentzgruppe 
invariant bleiben, sondern auch bei der erweiterten G,,, die sich aus der Lorentz-. 
gruppe ergibt, wenn man eine gerade Anzahl von Transformationen folgender Art, 
(die einer Umformung der Welt durch „reziproke Radien‘“ entsprechen): 

x z t 

en 2? +y°+2?—c?t? ’ = m Per Er 
hinzunimmt?). Hiervon macht Bateman 1910 in den Proceedings der Londoner 
Mathematical Society (2) 8 interessante Anwendungen auf die Theorie der Maxwell- 
schen Gleichungen. 

Bateman gebt |. c. ferner dazu über, das Wertsystem x, y, z,t durch eine Kugel 
des dreidimensionalen Raumes mit den Mittelpunktskoordinaten x, y, z und dem 
Radius c£ zu interpretieren (es ist dies derselbe Gedanke, den Timerding unab- 
hängig im 21. Bd. des Jahresberichts der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 1912, 
entwickelt hat). Die Transformationen der vierdimensionalen „Welt“, welche wir 
gerade erwähnten, verwandeln sich dann, wie Bateman sagt, in „spherical wave trans- 
formations“, Es sind dies genau die Transformationen der Lieschen Kugelgeometrie. 
Unter ihnen ist die @,, der Lorentztransformationen dadurch ausgezeichnet, daß sie 
Ebenen in Ebenen verwandelt. 

Offenbar schließen sich diese Kalle lohen auf das innigste mit ehlänigen 
zusammen, die Lie und ich 1871 gegeben haben und wegen deren ich hier insbeson- 
dere auf Nr. VIII der vorliegenden Gesamtausgabe (Über Liniengeometrie und 
metrische Geometrie) verweisen darf. 

Für die Physik hat diese @,, allerdings nicht dieselbe Bedeutung wie ihre 
Untergruppe, die @,, der Lorentzgruppe. Es liegt dies daran, daß nur letztere eine 
Verallgemeinerung der G,, der klassischen Mechanik ist (in die sie übergeht, wenn 
man die Lichtgeschwindigkeit unendlich setzt), eine allgemeine Physik aber ebenso- 
wohl die Mechanik wie die Elektrodynamik umfassen muß. Einstein drückte dieses 
Sachverhältnis mir gegenüber gelegentlich so aus: Die Transformation durch 
reziproke Radien wahrt zwar die Form der Maxwellschen Gleichungen, nicht aber 
den Zusammenhang zwischen Koordinaten und Maßergebnissen von Maßstäben 
und Uhren. K.] 








°) Die einzelne Transformation dieser Art würde die Maxwellschen Gleichungen 
so umändern, wie ein Vorzeichenwechsel von t, oder, was auf dasselbe hinauskommt, 
der Übergang von einem Linkskoordinatensystem x, y, z, wie es Hertz benutzt, zu 
einem Rechtskoordinatensystem. 


XXXI. Zu Hilberts erster Note über die Grundlagen der 
Physik). 


[Nachrichten der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Mathematisch- 
physikalische Klasse. (1917.) Vorgelegt in der Sitzung vom 25. Januar 1918.) 


I. Aus einem Briefe von F. Klein an D. Hilbert. 


... Indem ich Ihre Note sorgfältig studierte, bemerkte ich, daß man 
die Zwischenrechnungen, die Sie anstellen, durch Benutzung des gewöhn- 
lichen Lagrangeschen Variationsansatzes wesentlich abkürzen kann und 
im Zusammenhang damit genauere Einsicht in die Bedeutung des Er- 
haltungssatzes gewinnt, den Sie für Ihren Energievektor aufstellen. Bei 
der folgenden Darstellung meiner Überlegungen schließe ich mich mög- 
lichst an Ihre Bezeichnungsweise an, nur daß ich der Konsequenz halber 
die Weltparameter w durch obere Indizes unterscheide: 

wI, wI, ..., wIV 
und unbestimmte Indizes durchweg durch griechische Buchstaben bezeichne. 
Dadurch erleichtere ich den Vergleich mit den parallellaufenden Einstein- 
schen Entwicklungen, über die ich gleichfalls einige Bemerkungen zu 
machen habe. 

1. Ich beginne gleich damit, nach S. 404 Ihrer Note die beiden Inte- 
grale einzuführen, die ich /, und /, nenne: 

(1) I,=J/Kdo, I,=/Ldo, 
unter dw das invarlante Raumelement 
do —=YVg:-dw!...dw!V 

verstanden. Hier ist K die fundamentale Ortsinvariante des zugrunde 
gelegten ds?, die sich unter Benutzung Riemannscher Vierindizessymbole 
so schreibt: 
(2) K= (ur, 00) (greg””—gregre), 

#,9,0,0 | 


für Z aber will ich, da es mir nicht auf Allgemeinheit der physikalischen 





!) Göttinger Nachrichten, Math.-phys. Klasse, (1915), S. 395—407 (Mitteilung vom 
20. November 1915). 


94. Zum Erlanger Programm. 


Voraussetzungen ankommt, den einfachsten nach S. 407 Ihrer Note zu- 
lässigen Wert schreiben: 


(3) L=«Q= a), (dur — ru) (Goa — Lee) (gF 9° — grogre). 


U,P,0,0 
Dabei ist «, gemäß den Einsteinschen Auffassungen, gleich de mit 


2 multiplizierten Gravitationskonstanten zu nehmen, also in den bei den 
Physikern gebräuchlichen Einheiten eine sehr kleine Zahl: 
— a = 1,87-10°°°; 


ich führe diesen Zahlenwert ausdrücklich an, damit man sieht, daß die 
alte Maxwellsche Theorie des von Elektronen freien Raumes, welche 
«= (0) setzt und von K überhaupt nicht spricht, als eine für die gewöhn- 
lichen Messungen zureichende Annäherung an die hier zu. besprechenden 
neuen Ansätze aufgefaßt werden kann. Vgl. weiter unten Nr. 5. 

2. Ich bilde nun zunächst rein formal die Variationen der Inte- 
grale /,, /,, welche einer beliebigen Abänderung der g“”, q, um ög®’, 
öq, entsprechen?), und schreibe sie ‘abkürzend so: 


(4a) öl, -[5 K.,ög"’do 


nr 
(4b) | 51,= «| ( NQ.,ö9” + Q°0g,)do. 
u,r e 


Hier bezeichnen die X,„,, Qu, die wehlbekannten zu den Produkten dw“ dw” 
kontragredienten Tensoren: 


| vg vg K 
en ie zer), B> el). 


gu? öw°®  dweow” 
(5b) 0 (209) vo. | 
die Q° aber den zu den dwe kogredienten Vektor: 

dee 
ey, _ 

(6) Pe 
Die Gleichungen : 
(7) 0 


sind, in den Koordinaten w geschrieben, die unseren physikalischen Vor- 
aussetzungen entsprechenden Maxwellschen Gleichungen; andererseits 














ur 


2) [Wir machen hier die Voraussetzung, daß ög"“”, ö 9 und ög, am Rande 


des Integrationsgebietes verschwinden. ] 


XXXI. Zu Hilberts erster Note über die Grundlagen der Physik.. 555 


sind die Q.,, wie Sie auf 8. 407 Ihrer Note bemerken,, die Energiekompo- 
nenten des elektromagnetischen Feldes. | 

3. Noch will ich, der Deutlichkeit halber, gleich vorab zwischen der 
skalaren Divergenz eines „Vektors p°‘“ und der vektoriellen Divergenz 
eines ‚‚Tensors t,,‘“ unterscheiden. In unseren allgemeinen Koordinaten w” 
drückt sich erstere bekanntlich durch die Summe aus: 





i 1) v Da 
(8) zur) .vz, 
Pr w 
die letztere aber wird etwas komplizierter; ihre vier Komponenten lauten: 
Alvgtuog"” l.r e 
(9) (Zee) va Iru.07):vo 
u,v u,r 


fir o=71, 2, 8, 4. 

4. Ich entwickle nun gleich die vier einfachen partiellen Differential- 
gleichungen, denen I, bzw. I, (weil beide Invarianten bei beliebigen 
Transformationen der w sind) genügen. Zu diesem Zwecke bestimmt man 
natürlich, wie dies insbesondere Lie in seinen zahlreichen einschlägigen 
Veröffentlichungen getan hat, die formellen Änderungen, welche sich bei 
einer beliebigen infinitesimalen Transformation 


(10) | öw/=plI,..., öwIV = pir 


ergeben (unter 9° einen infinitesimalen Vektor verstanden, dessen höhere 
Potenzen vernachlässigt werden dürfen). — Sie haben dies für das Inte- 
gral /, auf S. 398—400 Ihrer Note in der Weise ausgeführt, daß Sie zu- 
nächst die verhältnismäßig komplizierten Änderungen von K in Betracht 
zogen, um von da durch Integration zur Änderung des /, aufzusteigen. 
Meine ganze Vereinfachung der Überlegung besteht darin, daß ich an die 
Formel (4a) anknüpfe, d. h. die Änderung des /, direkt aus der Lagrange- 
schen Ableitung berechne. Die Änderung von I, muß Null sein, wenn 
ich (in 43) für die ög"” diejenigen Werte einsetze, welche der infini- 
iesimalen Transformation (LO) entsprechen. Da die g“” den dw“ dw” 
kogredient sind, findet man als solche einfach 


(11) .öger — I) (ger pe — gee pr — gr pe)®). 


Wir haben also [indem wir die p° am Rande gleich Null setzen]: 


[F«.. ( D’ger p — D ge pr — Sg” pi)do 6. 
MV ° o o 


Hier gestalten wir die Glieder mit p’, p“ in bekannter Weise durch 
partielle Integration um, wobei wir die sonst willkürlichen 9° noch der 





3) [Dies wird in $ 1 der folgenden Abh. XXXII noch genauer erläutert. ] 


396 Zum Erlanger Programm. 


Bedingung unterwerfen, an den Grenzen der Integration verschwindende 
erste und zweite Differentialquotienten zu haben. Wir bekommen dann 


Jr (IK. gu +2 7 8 Bass! Naur.. AP —0 


u,v 





und hieraus, wegen der Willkür der 9°, die vier für den Tensor K,, 
geltenden, auch von Ihnen (bzw. Einstein) aufgestellten Differential- 
gleichungen : 

(12) vg > K.,ge+2)° ang" I (o=1,2,3,4). 


u,v u,v 





die wir offenbar dahin interpretieren können, daß wir sagen: die vekto- 
rielle Divergenz des Teensors K., verschwindet. 

Genau so wird man das Integral I, behandeln können. Neben die 
Inkremente (11) der g“” treten dann nur noch folgende Inkremente 
der 9,*): 

(18) 8% = DL) (%P’+% PR). 


o 


Wir bekommen so folgende vier Differentialgleichungen für die Qu», Q°: 
a) I (va. +2 RE) I (VrQra. ER) 0 


öw® 








u,v 


für 013 8,4 


Es ist wohl unnötig, sie noch besonders in Worte zu fassen. Wohl 
aber verlohnt es sich, einer Umgestaltung zu gedenken, die sie wegen 
der besonderen Form unseres Q gestatten (und die mutatis mutandis an 
verschiedenen Stellen Ihrer Note ebenfalls auftritt). @ hängt nur von 
den Differenzen 9,.—9s. ab und hat daher, wie ein Blick auf (6) zeigt, 
eine verschwindende skalare Divergenz: 


29) _ og. 


® oew 


Infolge dessen können wir die Differentialgleichungen (14) in die andere 
Gestalt setzen: 


10) I (VrQ ger +22 EU) vage.) = 0, 
[4 


4,7 





für o=1,2, 3,4. 


5. Jetzt erst führe ich die Grundannahme der Einsteinschen Theorie 





*) Meine ög«» (11) und ög, (13) sind nichts anderes, als die von Ihnen auf 
S. 398 Ihrer Note mit p«r bzw. p, bezeichneten Größen. 


nd 


XXXI Zu Hilberts erster Note über die Grundlagen der Physik. yi 


ein, am liebsten natürlich in der von Ihnen in Ihrer Note gewählten 
Form, die sich hier dahin ausspricht, daß die Variation 


(15) I, +51,=0 
sein soll, für beliebige ög"”, 9.- 


Dies gibt gemäß (4a), (4b) die bekannten 14 „Feldgleichungen‘“, 
nämlich die zehn Gleichungen: 


(10a) Ku,teQ.,=0 
und die vier Gleichungen 
(16b) Q=0. 


Sie bemerken in Ihrer Note, daß zwischen diesen 14 Gleichungen 
vier Abhängigkeiten bestehen müssen, und zeigen auf S. 406 durch be- 
sondere Rechnung, welcher Zusammenhang zwischen den vier Gleichungen 
(16b) — den Maxwellschen Gleichungen — und den zehn Gleichungen 
(168) besteht. Dies ist bei mir natürlich in den Formeln der vorigen 
Nummer bereits mit enthalten. In der Tat braucht man nur die Glei- 
chungen (14’) mit « multipliziert zu den Gleichungen (12) zu addieren, 
um unmittelbar abzulesen, daß aus den Gleichungen (16a) das Ver- 
schwinden der @° folgt. 


Zugleich ergibt sich völlig klar, was über den Charakter der alten 
Maxwellschen Theorie als einen Grenzfall der neuen Theorie gesagt 
wurde Wenn wir die alte Maxwellsche Theorie in beliebigen krumm- 
linigen Koordinaten w!. - -wIY behandeln, haben wir es doch immer mit 
einem ds? zu tun, dessen Riemannsches Krümmungsmaß identisch ver- 
schwindet, für welches also auch die K,, schlechtweg Null sind. Anderer- 
seits werde «= (0 genommen. Damit sind die zehn Gleichungen (16a) 
von selbst erfüllt; die Energiekomponenten Q., des elektromagnetischen 
Feldes unterliegen von da aus keiner Bindung mehr. Es bleiben nur 
mehr die vier Gleichungen (16b); d. h. eben die Maxwellschen Glei- 
chungen, bestehen. Als eine Folge derselben haben die Q,, gemäß (14) 
eine verschwindende vektorielle Divergenz. 


Natürlich haben vor Einstein wir andern die krummlinigen Ko- 
ordinaten w in der Physik nur so eingeführt, daß wir die drei Raum- 
koordinaten beliebig transformierten, das # aber wesentlich ungeändert ließen. 
Das t gleichberechtigt mit in die Koordinatentransformation einzubeziehen, 
erscheint als die eine große Leistung von Einstein. Die andere ist dann 
selbstverständlich die, daß der Gravitation Rechnung getragen werden 
kann, indem an die Stelle des ds? von verschwindendem Riemannschen 
Krümmungsmaße ein allgemeineres ds? gesetzt wird. — Andererseits war, 
um auch dies zu betonen, das mathematische Rüstzeug zur Bearbeitung 


998 Zum Erlanger Programm. 


dieser neuen physikalischen Gedanken längst bereit gestellt, da uns Räume 
von beliebig vielen Dimensionen mit beliebigem Bogenelement doch seit 
Riemann geläufig sind. Es ist hier nicht der Ort, einen historischen 
Exkurs einzuschalten, der mit den Methoden von Lagranges Mecanique 
analytique beginnen müßte; es wären sonst außer den immer genannten 
Arbeiten Christoffels namentlich diejenigen von Beltrami und Lip- 
schitz zu besprechen. 

6. Ich will jetzt, ohne die Feldgleichungen (16) zu benutzen, die 
Gleichungen (12), (14) zusammen addieren, nachdem ich letztere mit « 
multipliziert habe. Dies gibt für o=1, 2, 3, 4 die Identitäten: 


(17) DVI (Kur +@Qur)95”+ Da VgQ° ges 
AV @ 


ö \Vo(Kuo+a Quo) gur 299’, | 
-—2) nr 
ur 


Diese Gleichungen multipliziere ich mit ?° (unter p” einen beliebigen zu 
den dw” kogredienten Vektor verstanden) und summiere nach o. Hier 
kann ich rechter Hand die p° mit unter die Differentiationszeichen hin- 
einnehmen, indem ich linker Hand entsprechende Ergänzungsterme hinzu- 
setze. Dabei will ich linker Hand die Buchstabenbezeichnungen o und » 
vertauschen, auch statt 2 g“” p” das, im Zusammenhange dieser Überlegungen 


gleichbedeutende, symmetrische g“°p” + g”” p“ setzen. Solcherweise ent- 
steht: 


(18) DVI (Kur + Qu) (gE” p° — gee pr — g”° pr) 


u.9,0 
+ Da VgQ° (4: P° +42) 
0,0 





V9(Kuo+& Quo)gu’— 5 v9Q” au || 


en 


u,v.0 
was natürlich nur eine andere Schreibweise der (17) ist. In Anbetracht 
des besonderen Wertes, den ich für Ihr 7 von vornherein angenommen 
habe (H = K-+.0Q), steht hier nun linker Hand genau, was Sie als Wert 
der mit Vg multiplizierten skalaren Divergenz Ihres Energievektors e” an- 
geben (S. 402 Ihrer Note), also 


z73Var 


dw 





3 
ow’ 





Es folgt, daß Ihr Energievektor e” von 
—2 I (Kur te)” +59) P 


XXXIL Zu Hilberts erster Note über die Grundlagen der Physik. 559 


nur um einen Term verschieden ist, dessen skalare Divergenz identisch 
verschwindet. 

Nehmen wir jetzt die 14 Feldgleichungen (16a), (16b) hinzu, so 
reduziert sich e” auf diesen Zusatzterm und die Angabe $. 402 Ihrer Note, daß 
1) Ze 


dw” 





statthat, erscheint als eine identische Aussage. Besagte Angabe kann 
also wohl nicht als Analogie zum Erhaltungssatze der Energie, wie er in 
der gewöhnlichen Mechanik herrscht, angesehen werden. Denn wenn wir 


in letzterer schreiben: 
4T+D)_) 
dt f 
so besteht diese Differentialbeziehung doch nicht identisch, sondern erst 
infolge der Differentialgleichungen der Mechanik. 

7. Natürlich wäre es erwünscht, den Zusatzterm, um den sich Ihr e” 
von den infolge der Feldgleichungen verschwindenden Gliedern unter- 
scheidet, explizite anzugeben. Ich finde aber Ihre Formeln so kompliziert, 
daß ich die Nachrechnung nicht unternommen habe. Nur das scheint 
klar, daß er Bestandteile umfaßt, die in den 9° linear sind, andere, welche 
die p%, und vielleicht noch solche, welche die p%,, linear enthalten. Es 
kann eigentlich nicht schwer sein, die allgemeinsten Vektoren dieser Bau- 
art anzugeben, deren skalare Divergenz identisch verschwindet. Man erhält 
überhaupt Vektoren X” verschwindender Divergenz, indem man von irgend- 
einem Sechsertensor (einem schief symmetrischen Tensor) A*” ausgeht und 


(20) VER 
u 





dw“ 


setzt. Will man Linearität der X” in den p° und den p% haben, so kann 
man beispielsweise wählen 


(21) a —((Norege) 9° — (N9r°g,) pr). 


8. Hier habe ich eine wesentliche Einschaltung zu machen. Sie wissen, 
daß mich Frl. Nöther bei meinen Arbeiten fortgesetzt berät und daß 
ich eigentlich nur durch sie in die vorliegende Materie eingedrungen bin. 
Als ich nun Frl. Nöther letzthin von meinem Ergebnis betr. Ihren 
Energievektor sprach, konnte sie mir mitteilen, daß sie dasselbe aus den 
Entwicklungen Ihrer Note (also nicht aus den vereinfachten Rechnungen 
meiner Nr. 4) schon vor Jahresfrist abgeleitet und damals in einem Manu- 
skript festgelegt habe (in welches ich dann Einsicht nahm); sie hatte es 
nur nicht mit solcher Entschiedenheit zur Geltung gebracht, wie ich kürz- 
lich in der Mathematischen Gesellschaft (22. Januar). 


960 | Zum Erlanger Programm. 


9. Zum Schluß will ich noch darauf aufmerksam machen, daß für 
die „Erhaltungssätze“, wie sie Einstein 1916 formuliert hat°), selbst- 
verständlich das gleiche gilt, wie für Ihren Satz (19). Er spricht es 
eigentlich selbst völlig klar aus. Ich will hier nicht auf die Einzelheiten 
seiner Rechnung eingehen, sondern nur an sein Schlußresultat anknüpfen, 
das er so schreibt: 


(22) Pr _(T7+Ht)=0, (0=1,2,3,4), 





wo er die I; und die t, als die „gemischten“ Energiekomponenten des 
elektromagnetischen, bzw. des Gravitationsfeldes bezeichnet. Dabei gibt 
er an, daß sich diese T/-+t} unter Zuziehung der Feldgleichungen ver- 
möge einer von ihm näher definierten, vom Koordinatensystem ers 
Funktion &* so ausdrücken lassen: 


ö PAS) 
23 G+rb=— | ")). 
larger 


und daß für dieses &* unabhängig von dem Werte des o die identische 
Gleichung besteht: | 
(24) Di 8° (28 gar) Sy 
ae ow’ dw° og, 
Das ist genau, worauf es hier ankommt. 
Um den Zusammenhang mit der von mir benutzten Bezeichnung 
herzustellen, bemerke ich, daß Einsteins 3, dasselbe sind, wie 








meine Ve Quog*’, Ein steins ti aber von den entsprechenden 
u ; 


1 E u ; A 
F Da VgK,.g*” um einen Summanden abweichen, der sich ergibt, wenn 


u 
man die Gleichungen (23) mit den Feldgleichungen 


KurteQ,=0 
vergleicht. te 


II. Aus der Antwort von D. Hilbert. 


. Mit Ihren Ausführungen über den Energiesatz stimme ich sach- 
lich völlig überein: Emmy Nöther, deren Hilfe ich zur Klärung der- 
artiger analytischer meinen Energiesatz betrefienden Fragen vor mehr als 
Jahresfrist anrief, fand damals, daß die von mir aufgestellten Energie- 
komponenten — ebenso wie die Einsteinschen — formal mittels der 
Lagrangeschen Differentialgleichungen (4), (5) in meiner ersten Mit- 





5) Vgl. die selbständig erschienene Schrift: Die Grundlagen der allgemeinen 
Relativitätstheorie (Leipzig 1916) sowie namentlich die Mitteilung an die Berliner 
Akademie vom 29. Okt. 1916 „Hamiltonsches Prinzip und allgemeine Relativitäts- 
theorie“ (Sitzungsberichte, S. 1111—1116). 


XXXI Zu Hilberts erster Note über die Grundlagen der Physik. 561 


teilung in Ausdrücke verwandelt werden können, deren Divergenz identisch, 
d. h. ohne Benutzung der Lagrangeschen Gleichungen (4), (5): ver- 
schwindet. Da andererseits die Energiegleichungen der klassischen Me- 
chanik, der Elastizitätstheorie und Elektrodynamik nur als Folge der 
Lagrangeschen Differentialgleichungen des Problems erfüllt sind, so ist 
es gerechtfertigt, wenn Sie deswegen in meinen Energiegleichungen nicht 
das Analogon zu denen jener Theorien erblicken, Freilich behaupte ich 
dann, daß für die allgemeine Relativität, d. h. im Falle der allgemeinen 
Invarianz der Hamiltonschen Funktion, Energiegleichungen, die in Ihrem 
Sinne den Energiegleichungen der orthogonalinvarianten Theorien ent- 
sprechen, überhaupt nicht existieren; ja ich möchte diesen Umstand sogar 
als ein charakteristisches Merkmal der allgemeinen Relativitätstheorie be- 
zeichnen. Für meine Behauptung wäre der mathematische Beweis er- 
bringbar. 


Gestatten Sie mir bei dieser Gelegenheit kurz auszuführen, wie ich 
in meiner Vorlesung des letzten Winters die Frage nach den Energie- 
gleichungen der orthogonalinvarianten Theorien der Physik (Elektro- 
dynamik, Hydrodynamik und Elastizitätstheorie) behandelt habe, 

Nehmen wir der Kürze wegen die Weltfunktion 7 als orthogonale 
Invariante an, die nur von den Komponenten eines elektrodynamischen 
Viererpotentials gq, und deren ersten Ableitungen g,, nach w,{s,1=1,2,3, 4) 
abhängt — die Methoden gelten in gleicher Weise, wenn H etwa die 
Viererdichte r und deren Ableitungen oder noch andere physikalische Para- 
meter nebst Ableitungen enthält —: alsdann führt das Hamiltonsche 
Prinzip 
(1) ö/Hdo—0 


zu dem System der vier Lagrangeschen Differentialgleichungen 
(2) [4],=0, (s=1, 2, 3, 4), 


wo allgemein 





bedeutet. 

Um zu den Energiegleichungen dieses Problems zu gelangen, schlagen 
wir den Weg ein, den die Darlegungen meiner ersten Mitteilung weisen, 
nämlich den Weg über die Gravitationstheorie. Es sei H diejenige all- 
gemeine Invariante mit den Argumenten 


9 Lu» 9 I; 
die für 
(3) grau, =; ge —0 


Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 36 


62 Zum Erlanger Programm. 


in H übergeht; dieselbe verschaffen wir uns, indem wir in H an Stelle 
von g,, die kovarianten Ableitungen 


= rfsl 
Is Isı -2, ta, 
h 
einsetzen und zugleich die Faltung mit den g“” vornehmen. Enthält 
beispielsweise 7 als Term den orthogonalinvarianten Ausdruck 


(4) - Q= (a. - un) SED u}, 


m,n 


so ist dieser durch 


re Be; 
ARE WERE N kynl 
=; = M „n Mg” g” 
m;n,k,3 
zu ersetzen. Der Ausdruck 


T = Ng, 
s,h 
et BE hn 


‚Mm, 


ist ın 


umzuwandeln usf. 

Nun gilt für jede allgemeine Invariante eine Identität, die in meiner 
ersten Mitteilung (Theorem III) zwar nur für den Fall bewiesen worden 
ist, daß die Invariante von den g“” und deren Ableitungen abhängt; 
aber das eirigeschlagene Beweisverfahren gilt auch für unsere allgemeine 
Invariante H. Unter Verwendung der Bezeichnungen meiner ersten Mit- 
teilung bekommen wir an Stelle der dortigen Gleichung 


f P,(J Vg)do=0 
nunmehr in unserem Falle die lsounz 
‚J{P,(HVs)+P,(HVg)}do=/[{P( av) Ydo=0, 
eine Identität, die unmittelbar 
HEWsR..P + N WWoHLD}do=0 
u,v u 

zur Folge hat. Nach Einführung von p“”, p„ und Anwendung der par- 
tiellen Integration können wir das Integral linker Hand auf eine Ge- 
stalt bringen, in der der Integrand mit 9° multipliziert ist; da aber p® 
ein willkürlicher Vektor ist, so muß der andere Faktor unter dem Inte- 


gralzeichen identisch Null sein, und hieraus ergeben sich die Identitäten 
(8=1,2,3, 4): 


(5) D,WVgHlrg: ade; AS WVeH ug"! 
+ I Vol. Dill ([IVg H].g) = 0°). 


6) [Vgl. hierzu meine Formel (14), die mit dieser Term für Term übereinstimmt. K.] 





XXXI. Zu Hilberts erster Note über die Grundlagen der Physik. 563 


Diese vier Identitäten sind zugleich — genau wie Sie oben bemerkt 
haben — diejenigen, deren Existenz in dem von mir aufgestellten Theo- 
rem I zwischen den 14 Lagrangeschen Gleichungen unseres Problems 
behauptet wird. 

Kehren wir nunmehr zum ursprünglichen Problem (1) zurück, indem 
wir vermöge (3) die Gravitationspotentiale beseitigen, und berücksichtigen 
die Lagrangeschen Differentialgleichungen (2), so gehen die Identitäten (5) 
über in 


N) a. 
(6) Pr VER), 0 
m 
Bezeichnen wir demnach die Klammerausdrücke 
(7) Ems 2{[VgH), =, 


als die Komponenten des Energietensors, so erhalten wir in den Diver- 
genzgleichungen (6) die gewünschten Energiegleichungen des physikalischen 
Problems (1). 

Nehmen wir insbesondere für Z die Invariante Q in (4), so werden 
€, die Komponenten des bekannten elektromagnetischen Energietensors, 
und wegen der Maxwellschen Gleichungen 


EVA, ga Div„M zen Ta 


— unter r die elektrische Viererdichte verstanden — ergeben in diesem 
Falle unsere Identitäten (5) 


Div,e — Itmlm + 5 TAN 


oder wegen Div, r=0: 
Dive=-r,M, 


d. h. sie liefern den bekannten Divergenzausdruck für die ponderomotorische 
Kraft. 


Nur für den Fall der allgemeinen Relativität, d. h. wenn schon die 
ursprüngliche Invariante HZ eine allgemeine Invariante ist, versagt der 
angegebene Weg zur Herstellung von Energiegleichungen für das Pro- 
blem (1). In der allgemeinen Relativitätstheorte haben wir als Ersatz 
für die fehlenden Energiegleichungen in Ihrem Sinne eben die Tatsache der 
vierfachen Überzähligkeit der Lagrangeschen Gleichungen (Theorem I 
meiner ersten Mitteilung), wie sie oben in den vier Identitäten (5) zum 
Ausdruck kommt. Umgekehrt erscheinen die Energiesätze der orthogonal- 
invarianten Theorien als das Residuum jener vier Identitäten der Grevi- 
tationstheorie. 


Es sei noch bemerkt, daß der Energietensor (7) nicht nur, wie man 
36 * 


564 Zum Erlanger Programm. 


sofort sieht, die Eigenschaften der orthogonalen Invarianz und der Sym- 
metrie besitzt, sondern darüber hinaus jedesmal die Erfordernisse der 
speziellen physikalischen Theorie erfüllt: so wird derselbe im Falle der 
Elektrodynamik, wo H die g,, nur in den Verbindungen 


M,; Se Isx ER Irs 
enthält, ebenfalls nur von diesen Komponenten des Sechservektors M, 
und andererseits im Falle der Elastizitätstheorie auch nur von den eigent- 


lichen Verzerrungsgrößen abhängig, wie sie in den Fragen über Elastizität 
auftreten. ... 


II. Aus einem weiteren Schreiben von F. Klein. 


... Es liegt mir daran, den Unterschied zwischen der orthogonal- 
invarianten Theorie der Elektrodynamik und der die Schwerkraft mit 
berücksichtigenden auch meinerseits noch durch einige Worte zu kenn- 
zeichnen. 

In dieser Hinsicht schafft besondere Klarheit, wenn man, wie ich das 
schon oben (Nr. 5) andeutete, als Zwischenglied die Behandlung der 
klassischen Elektrodynamik in beliebigen („krummlinigen‘) Weltkoordi- 
naten einschaltet. 

Ihr Hauptsatz, daß sich die Energiekomponenten des elektrodyna- 
mischen Feldes einfach durch die Q,, darstellen, tritt dann bereits in 
seiner ganzen Bedeutung in den Vordergrund; ich würde also vorziehen, 
bei diesem Satz sich nicht schon auf die moderne Gravitationstheorie zu 
berufen. 

Auch finde ich es nützlich, die Integrale [| Kdo und [Qdw bei 
der Darstellung auseinanderzuhalten und nicht von vornherein zu einem 
Integral [ Hdw zu verschmelzen. 

Wir haben dann für die X,, und die Q,, je vier Identitäten [die 
Gleichungen (12) und (14) — oder (14’) — meines ersten Briefes], im 
ganzen also acht, und der Gegensatz der früheren und der heutigen Theorie 
läßt sich dann folgendermaßen in präzise Sätze formen: 


1. Beidemal haben wir für den hier in Betracht kommenden Ver- 
gleich neben den acht Identitäten 14 „Feldgleichungen“. 


2. Diese lauten in der früheren Theorie 
a) K,»=0)), BD) We: 


Vermöge der zehn Gleichungen a) sind die vier Identitäten 
(12) von selbst erfüllt, die Identitäten (14) — oder (14’) — 





”) [Als Folge der 20 Gleichungen, welche das identische Verschwinden des 
Riemannschen Krämmungsmaßes aussagen. K.] 


XXXI. Zu Hilberts erster Note über die Grundlagen der Physik. 565 


aber reduzieren sich vermöge der vier Gleichungen b) auf die 
vier Aussagen, welche man die vier Erhaltungssätze (Impuls- 
Energiesätze) nennt. 


3. Dafür hat man in der neuen Theorie die Feldgleichungen 
a) K»taeQw=0, mita+0, b) 9=0. 


Jetzt erscheinen die Gleichungen Q°—=0 vermöge der acht 
Identitäten als eine Folge der zehn Gleichungen a’). 

Aus den Identitäten (14) folgen, wenn man die Q° wegstreicht, 
nach wie vor ‚„Erhaltungssätze“ für die Q,,. Aber diese haben 
jetzt keine selbständige (physikalische) Bedeutung mehr, weil sie 
sich vermöge der zehn Gleichungen a’) auf die vier Identitäten 
(12) reduzieren; sie sind eben schon in den zehn Feldgleichungen 
mit enthalten. 


Alles dieses ist sachlich in voller Übereinstimmung mit den Dar- 
legungen Ihres Briefes.. Es würde mich aber sehr interessieren, die Aus- 
führung des mathematischen Beweises zu sehen, den Sie am Ende des 
ersten Absatzes Ihrer Antwort in Aussicht stellen. . .. 2... 





[Besagt® Ausführung ist inzwischen von Frl. E. Nöther geliefert worden, siehe 
deren Note über „Invariante Variationsprobleme“ in den Göttinger Nachrichten vom 
26. Juli 1918. Ich komme hierauf am Schluß von XXXII zurück. 

Im übrigen möchte ich, um die Beziehungen der Aufsätze XXXI bis XXXIII 
zum Erlanger Programm klar hervortreten zu lassen, hier noch folgende Bemerkungen 
anschließen: 

1. Die Invariantentheorie der in XXX behandelten Lorentzgruppe ist genau das, 
was die modernen Physiker als ‚spezielle Relativitätstheorie‘‘ bezeichnen. 

2. Dabei läßt sich die Lorentzgruppe ersichtlich als größte kontinuierliche Schar 
der allgemeinsten für endliche Werte der x, y, z, t stetigen Transformationen definieren, 
welche die quadratische Differentialform 
dz?+dy?+dz? 


c? 





ds? = di? — 


in sich überführen. 
3. Man denke sich nun statt der zy2zt irgendwelche reelle, im Endlichen überall 
stetige, hinreichend oft differentiierbare, eindeutig umkehrbare Funktionen 
u= 9° (x,y,z,t) (o=1, 2, 3, 4) 


eingeführt. Hierdurch möge das gerade hingeschriebene ds? in eine allgemeinere 
quadratische Form der dw übergehen, die wir gleich in Einsteinscher Weise als 


ds? = 39, dw" dw” 
schreiben wollen. 
4. Dieses neue ds? hat natürlich wie das unter 2. angegebene den Trägheits- 
charakter +———. Seine Koeffizienten g,, sind stetige, hinreiehend oft differentiier- 


bare reelle Funktionen der w, die nur dadurch partikularisiert sind, daß das für ds? 
gebildete Riemannsche Krümmungsmaß identisch verschwindet. 


566 Zum Erlanger Programm. 


5. Nach den Grundsätzen des Erlanger Programms können wir nun die spezielle 
Relativitätstheorie auch in der Weise behandeln, daß wir die Gesamtgruppe aller 
reellen, stetigen, hinreichend oft differentiierbaren, eindeutig umkehrbaren Transfor- 
mationen der w® zugrunde legen, dabei aber das ds? von 3. adjungieren, d.h. die 
Umänderungen hinzunehmen, welche die g,,, bei den jeweiligen Transformationen der 
w erleiden. Man erhält dabei eindeutig bestimmte lineare Transformationen der Iur 
da die Relationen, an die die g,, als Koeffizienten einer Form von verschwindendem 
Krümmungsmaß gebunden sind, zu hohen Charakter haben, um dabei von Einfluß zu 
sein. Außerdem will beachtet sein, daß nicht nur die Substitutionskoeffizienten, sondern 
auch die g,, selbst Funktionen der xyzt bzw. der w® sind. Von hier aus ergeben sich 
dann die Umänderungen, welche die Differentialquotienten der Br bei der jeweiligen 
Transformation erfahren. Die durch alle diese Formeln „erweiterte“ Gruppe ist ferner- 
hin der Betrachtung zugrunde zu legen. 


6. Tun wir dies, so haben wir einen entscheidenden Schritt auf die „allgemeine 
Relativitätstheorie“ zu getan. Ein weiterer Schritt wird sein, daß wir als Koeffi- 
zienten g,, des ds” die allgemeinsten für reelle w überall reellen, stetigen, hinreichend 
oft differentiierbaren Funktionen der w einführen. Das Riemannsche Krümmungs- 
maß und die aus ihm abzuleitende, von Hilbert mit K bezeichnete Invariante sind 
dann nicht mehr identisch Null. 

Im übrigen wird man die „Gruppe“ so wählen, wie gerade unter 5. angegeben. — 

Nebenbei erhebt sich auch die Frage nach dem Zusammenhang der Welt als Ganzes, 
analog wie bei den auf den Fall der Geometrie der Ebene bezüglichen Betrachtungen 
der Abh. XXI. Diese Frage scheint noch wenig bearbeitet zu sein. Bestimmte dabei 
vorliegende Möglichkeiten treten in Abh. XXXIII hervor. Bei der speziellen Relativi- 
tätstheorie, bei der wir, um alle Weltpunkte zu erhalten, zyzt kurzweg von — © 
bis + 00 laufen lassen, fällt die ganze Frage natürlich weg. ; 

7. Die allgemeine Relativitätstheorie des reinen Schwerefeldes ergibt sich hier- 
aus nach Einsteins grundlegendem Ansatz (der von Einstein und Hilbert fast 
gleichzeitig exakt formuliert wurde®)), indem man die Iur den zehn, in ihrer Gesamt- 
heit der in Rede stehenden Gruppe gegenüber Ivan Gleichungen K, „= 0 unter- 
wirft (ich gebrauche hier der Kürze halber die Bezeichnung (5a) meiner eigenen Note). 


8. Wir mögen nun neben der Gravitation irgendwelche weitere physikalische 
Erscheinungen in Betracht ziehen, oder vielmehr, wir mögen, wie es im vorstehenden 
Texte im Anschluß an Hilberts erste Note geschieht, uns neben der Gravitation auf 
die elektromagnetischen Vorgänge im leeren Raume beschränken. 

9. Man wird diese am einfachsten berücksichtigen, auch im Falle der speziellen 
Relativitätstheorie (was in Abh. XXX leider nicht zum Ausdruck kommt), wenn man 
neben unser ds? noch die Linearform 


La, dw® 


°) Einstein „Zur allgemeinen Relativitätstheorie“ in den Sitzungsberichten der 
Berliner Akademie vom 11. und 25. Nov. 1915 (S. 799 bis 801 bez. S. 844 bis 847 des 
Jahrgangs), Hilbert in seiner (vorstehend kommentierten) ersten Note über die 
„Grundlagen der Physik“ in den Göttinger Nachrichten vom 20. Nov. 1915. Von 
einer Prioritätsfrage kann dabei keine Rede sein, weil beide Autoren ganz ver- 
schiedene Gedankengänge verfolgen (und zwar so, daß die Verträglichkeit der Resul- 
tate zunächst nicht einmal sicher schien). Einstein geht induktiv vor und denkt 
gleich an beliebige materielle Systeme. Hilbert deduziert, indem er übrigens die im 
Texte unter 8. genannte Beschränkung auf Elektrodynamik eintreten läßt, aus vorauf- 
gestellten obersten Variationsprinzipien. Hilbert hat dabei insbesondere auch an Mie 
angeknüpft. — Erst in seiner oben (8. 560) genannten Mitteilung an die Berliner 
Akademie vom 29. Okt. 1916 stellte Einstein die Verbindung der beiderlei Ansätze her. 





XXXI. Zu Hilberts erster Note über die Grundlagen der Physik. 567 


stellt, wo die reellen, überall stetigen, hinreichend oft differentiierbaren Funktionen q 3 
das sogenannte Viererpotential des elektromagnetischen Feldes vorstellen. 

10. Die zugrunde zu legende Gruppe erweitert sich nun gegenüber 5. dadurch, 
daß neben die Transformationen der g,, und ihrer Differentialquotienten, die durch 
die Transformationen der w veranlaßt („induziert“) werden, jetzt noch diejenigen 
der q a und ihrer Differentialquotienten treten. 

11. Die Jur» 9, aber sind nunmehr den 14, gegenüber der erweiterten Gruppe 
wieder invarianten, Gleichungen (16a), (16b) des Textes: 


Kır+&X Qur=0, Q?=0 


zu unterwerfen. Dies ist in Verbindung mit 10. der Kern der allgemeinen Relativitäts- 
theorie der Physik, soweit sie hier in Betracht kommt. — 

Diese Formulierungen drücken selbstverständlich nur in anderer Sprache aus, 
was bei Einstein und Hilbert ohnehin gesagt ist. Ich möchte hier insbesondere 
auf Hilberts zweite Mitteilung über die Grundlagen der Physik (in den Göttinger 
Nachrichten 1917, S. 53—76) verweisen®). Hier wird auf S. 61 ausdrücklich ausge- 
führt, daß nur solche aus den Differentialgleichungen 11. zu ziehenden Folgerungen 
einen physikalischen Sinn haben, welche, gleich den Differentialgleichungen selbst 
(NB. gegenüber der unter 10. definierten Gruppe) invarianten Charakter besitzen. 
Das ist mutatis mutandis genau dasselbe, was im Erlanger Programm von den Aus- 
sagen irgendwelcher (durch eine Gruppe willkürlich zu charakterisierenden) Geometrie 
verlangt wird. 

Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, daß ebenso auch die Weiterbildung 
der Einsteinschen Theorie, wie sie Weyl gegeben hat, mit dem Schema des 
Erlanger Programms in Zusammenhang gebracht werden kann. 

Es ist sogar besonders nahe Beziehung zu Einzelausführungen dort (Note VI 
der Abh. XXVII, S. 491—492) vorhanden, insofern dort nicht eine Form ds?, sondern 
eine Gleichung ds? =(0 zugrunde gelegt ist. K.] 





®) Vorgelegt am 23. Dez. 1916. 


XXXI. Über die Differentialgesetze für die Erhaltung 
von Impuls und Energie in der Einsteinschen 
Gravitationstheorie. 


[Nachrichten der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Mathematisch- 
physikalische Klasse. (1918.) Vorgelegt in der Sitzung vom 19. Juli 1918t).)] 





Durch Fortsetzung der Untersuchungen, die ich der Gesellschaft der 
Wissenschaften am 25. Januar dieses Jahres vorlegte?), ist es mir ge- 
lungen, die verschiedenen Formen der Differentialgesetze für die Erhaltung 
von Impuls und Energie, wie sie, für die Einsteinsche Gravitations- 
theorie, von verschiedenen Autoren aufgestellt worden sind®), von einem 
einheitlichen Gesichtspunkte aus abzuleiten und dadurch, wenn ich nicht 
irre, in deren Bedeutung und wechselseitige Beziehung eine wesentlich ver- 
besserte Einsicht zu gewinnen. Ich habe, wie man sehen wird, bei der 
im folgenden zu gebenden Darstellung eigentlich überhaupt nicht mehr 
zu rechnen, sondern nur von den elementarsten Formeln der klassischen 
Variationsrechnung sinngemäßen Gebrauch zu machen. 

Der Kürze wegen knüpfe ich hier gleich, auch in der Bezeichnung, 
an meine vorige Note an. Als eigentlichen Grund des nunmehrigen Fort- 





!) Das Manuskript hat erst Mitte September dieses Jahres seine endgültige Form 
erhalten. 

?) Siehe das Schlußheft des Jahrgangs 1917 dieser Nachrichten: „Zu Hilberts 
erster Note über die Grundlagen der Physik“. [Abh. XXXI dieser Ausgabe.] 

3) Von Einstein kommen hier in erster Linie in Betracht die zusammen- 
fassende Schrift von 1916: „Die Grundlagen der allgemeinen Relativitätstheorie“ 
(Leipzig) und die Mitteilung an die Berliner Akademie „Hamiltonsches Prinzip 
und allgemeine Relativitätstheorie* (Sitzungsberichtt vom 26. Oktober 1916), von 
Hilbert die bereits genannte Note (Göttinger Nachrichten vom 20. November 1915), 
von Lorentz die vier Artikel, die er auf Grund einer von März bis Juni 1916 
in Leiden gehaltenen Vorlesung im Verslag der Amsterdamer Akademie veröffent- 
licht hat — „over Einsteins theorie der zwaartekracht“ —, siehe insbesondere 
Art. III vom April bzw. September 1916 und Art. IV vom Oktober 1916 bzw. Mai 
1917. Ich nenne hier ferner gleich das neuerdings erschienene Buch von Weyl 
„Raum — Zeit — Materie“ (Berlin 1918), auf welches ich mich weiterhin ebenfalls 
zu beziehen habe. [Weyls Buch liegt bereits in dritter Auflage vor; im Texte wird 
immer die erste Auflage zitiert.) | 


XXXI. Differentialform der Erhaltungssätze in der Gravitationstheorie. 569 


schritts kann ich dann nennen, daß ich die damals betrachtete infinitesi- 
male Transformation 

(1) | dw’ = p' 

nicht mehr der Beschränkung unterwerfe, an der Grenze des Integrations- 
gebietes in geeigneter Weise (nämlich mit ihren nach den w genommenen 
ersten und zweiten Differentialquotienten pi» P},,) zu verschwinden. Da- 
durch stellen sich bei den in Betracht kommenden Integralen Randbestand- 
teile ein, deren nähere Untersuchung alles Weitere liefert. — Für den be- 
stimmten, hier ins Auge gefaßten Zweck genügt es dabei, nur das erste 
der beiden früher betrachteten Integrale zu betrachten: 


(2) I,=/S/S/S Kao. 


Die Betrachtung gliedert sich des weiteren zweckmäßigerweise so, daß ich 
K zunächst nur als irgendeine Funktion der g«“”, 95”, 9%, ansehe, dann 
als eine (ebenfalls noch nicht näher bestimmte) Invariante gegenüber be- 
liebigen Transformationen der Weltparameter w, und erst zum Schluß als 
eine Invariante bestimmter Bauart. 

Indem ich solcherweise (1) auf (2) anwende, entstehen eine Reihe 
von Differentialbeziehungen, denen K identisch genügt. Nun erst wende 
ich mich zur Physik, wobei ich mich nicht mehr, wie das vorige Mal, auf 
den Fall des freien elektromagnetischen Feldes beschränke, sondern gleich 
ein beliebiges ‚„‚materielles‘‘ Feld voraussetzze. Wenn man den Hilbert- 
schen Ansatz mit dem von Einstein kombiniert, kann man die zu- 
gehörigen zehn Feldgleichungen der Gravitation bekanntlich in der einfachen 
Form schreiben): 

(3) Kot, = 0°), 

unter X „. die durch Yg dividierte, zu /, gehörige Lagrangesche Ab- 
leitung nach den g“”, unter 7’ „, die Energiekomponenten der Materie ver- 
standen. Der Übergang zu den verschiedenen Formen der Erhaltungs- 
sätze ergibt sich dann einfach nach dem Prinzip, daß man in die für 
das K abgeleiteten Identitäten je nach Belieben »T „, für K„, einsetzt. 

4) Siehe z. B. Herglotz in den Sächsischen Berichten 1916, S. 202, Formel (16). 
— Der Genauigkeit halber vermerke ich noch, daß die Konstante x (die ich in meiner 


vorigen Note an Hilbert anknüpfend — « nannte), nur dann den dort von mir be- 
nutzten Wert 





x = 1,87:10-*.cmt!gr-! 
hat, wenn das zugrunde gelegte ds? der Dimension und dem Vorzeichen nach mit 
dem dı? der speziellen Relativitätstheorie: 

2 2 g 
di? dee _ 4% +dy?’+dz ar 


® sek ® 





übereinstimmt. 
5) [Beim Wiederabdruck wurde hier und im folgenden das Vorzeichen von 7», 


Zur, T?, T7, t?, t7 umgedreht, um mit den in der Physik üblichen Bezeichnungen 
in Übereinstimmung zu kommen. Zum Beispiel ist 7',, alsdann positiv. K.) 


970 Zum Erlanger Programm. 


81. 
Infinitesimale Transformation der g#”. 
Um dem Leser alle Hilfsmittel der Kontrolle’ an die Hand zu geben, 
schicke ich hier die kleine Zwischenrechnung voraus, welche die ög“” be- 


stimmt, die der infinitesimalen Transformation (1) der w entsprechen. 
Ich schreibe statt (1) zunächst 


we — wi + p“ 
(wo mit dem „Hilfsvektor“‘ p und seinen Differentialquotienten 9,, Peso 
weiterhin so zu rechner sein wird, daß man alle Glieder höherer Ordnung 
gegen die linearen vernachlässigt). Wir haben dann: 


dar dw“ + N prdur. 


N un sind die g“” nach ihrer Definition den Produkten dw“ dw” kogredient. 
Daher kommt: 


g’(W) = g"’(w) te pr Ir (w)pt. 
90 (0) = 9" (w) + Narr w)-pr. 


Es ist nun die Differenz g"’ (w) — 9" (w), die ich in meiner vorigen 
Note ög“” genannt habe und die ich jetzt. in Anlehnung an die Hilbertsche 
Note mit p“” bezeichnen werde. Danach ist: 


(4) ög“r m a? = D(ge” p* BE g“t p’ TER gr p“). 


Aber 


Die Differentialquotienten der p“” nach den w werden weiterhin, wie bei 
Hilbert, mit 92%”, p%7 bezeichnet. 

Ich notiere noch den Wert, den p“” in dem später besonders in 
Betracht kommenden Falle konstanter p” erhält (wo ich dann pe, 
bzw. p" schreibe): : 

0 


5 i N uv mt, 
(5) Br 9 


Es ist in diesem Falle also so, als ob die g“” fest vorgegebene Funktionen 
der w [Skalare] wären (nicht eine durch die jeweilige Transformation der 
w induzierte Substitution erlitten). 


8 2. 
Berechnung von JdI, unter der alleinigen Voraussetzung, daß K eine 
Funktion der g#’, 94”, 95, ist. — Ein Hauptsatz. 


Gemeint ist, daß K nicht noch explizite von den w abhängt. — Wir 
haben dann für unsere infinitesimale Transformation [welche sich sowohl auf die 
abhängigen, wie unabhängigen Variabeln des Integrals I, erstreckt] zunächst: 


XXXII. Differentialform der Erhaltungssätze in der Gravitationstheorie. 571 
1 ur ög Fra Pr ög z Pr* 
Av 


Bi +... + pP dw! dulldullt); 


ds ist für dw/dwH dw! dw!V geschrieben, das dreifache Integral in. be- 
kannter vektorieller Weise über den Rand des Integrationsgebietes von /, 
zu erstrecken®). 

Hier werden wir nun die unter dem vierfachen Integral auftretenden 
Differentialquotienten p4”, p%, nach dem alten Verfahren von Lagrange 
durch einmalige, bez. zweimalige partielle Integration fortschaffen, dann 
p“” durch seinen Wert (4) ersetzen und die dadurch hereinkommenden 
Differentialquotienten p” und 9p“ durch eine vierte partielle Integration be- 
seitigen. Wir finden so: 


ar - [EV Ze He 2) ..dS 


+ [[[vo (eTdwildwitdw!” +... + el/ dw! dwidwilt), 


wo folgende Abkürzungen eingeführt sind: 


1. K,, ist die schon in (3) benutzte, durch Yg dividierte, La- 
grangesche Ableitung: 


au) 
_120vgK 7 ®, Io0 pe 
(8) Ben og” a öw® +2 wow” v9; 


2. K7 die folgende En Kombination GB 
(9) Kr= 2 Kurgt®; 


u 

3. €°, für o=1, 2,3, 4, je ein fünfgliedriger Ausdruck, den ich vor- 
ab so schreibe (indem ich den Term, der von der vierten partiellen Inte- 
gration herrührt, besonders hervorkehre): 


(10) e=n"+2)K!p. 


Hier ist dann 
4. n°’ noch ein viergliedriger Ausdruck: 





ee 

e fa Ron | oK y öK .r 1 va + 

u) mer She SE + Zoe 
ur 90 ure 78° VI use 





®) [Es ist ein wesentlicher Unterschied und ern Fortschritt gegen meine 
vorige Note, daß ich hier nichts über das Verhalten der p’, p“”, nn; Po am Rande 
des Integrationsgebietes voraussetze. K.) 


572 Zum Erlanger Programm. 


Das in dem neuen Ausdruck (7) von ö/, voranstehende vierfache 
Integral soll fortan, nach Weglassung des Minuszeichens, das Integral A 
genannt werden. 

Ferner werden wir das in (7) auftretende dreifache Integral durch 
elementare Divergenzbildung in ein zweites vierfaches Integral verwandeln 


(12) Ber + +er)as. 


welches das Integral B genannt werden soll. Also 
(13) 6l,=—-A+B. 

Hier bietet sich nun die wichtige Bemerkung, daß A= B wird, wenn 
wir die p' konstant, also = p’, wählen. 








1) R 
In der Tat verschwindet dann der ursprüngliche Wert (6) von ö/,, 
weil K die w nicht explizite enthält, unter Benutzung der in (5) ange- 
gebenen Werte der p“” identisch. 


Aus A=B Bü schließen wir bei der vollen Willkür, die hinsichtlich 
der Wahl des Integrationsgebietes besteht, daß auch die Integranden von 
A und B übereinstimmen müssen. Wir haben 

övge” 


u legmmty Nr au 


co 
urv 








ew 


v9 öyg K° 

%, H | > 9A, 

er 2 78 
i ow” ow° D 


0 
oT 








Diese Identität soll weiterhin der Hauptsatz heißen. 
Wir können natürlich die Glieder mit X? beiderseits wegheben. Wir 


wollen dann noch n° folgendermaßen als Funktion der p” anschreiben: 
H fi} 


(15) „= 2), U!p 
0 v 
(wo wir rechter Hand die 2 zusetzen, weil es später angezeigt ist, durch 


eine 2 zu dividieren).. Dabei ist (unter Benutzung der üblichen Be- 
zeichnung ö” für 1 oder 0, je nachdem o=r oder o+r): 





(0a:) 
(16) 20; - Kö, 3 =: er 9: r7 te 0900 gr, 
09, ög IH vg dw? 
uv uvo uvo 
Der Hauptsatz aber nimmt folgende Form an: 
oygU? 5 
(17) 2 Ve E„ge=2 2 — Vol TE, Merl, 2, 9:4. 


Die auf der linken Seite stehenden a sind also in elementare 
Divergenzen umgeformt. 


XXXI. Differentialform der Erhaltungssätze in der Gravitationstheorie. 573 


83. 
Vereinfachte Schreibweise der Formeln. — Eine Erweiterung des 
Hauptsatzes. 


Ich habe im vorigen Paragraph die Schreibweise so gewählt, wie sie 
für ihre spätere invariantentheoretische Auswertung geeignet scheint und 
übrigens alter Gewöhnung entspricht. — Inzwischen läßt sich nach Ein- 
steinschen Vorschlägen Vieles dabei abkürzen: 

1. Es wird schon manches eingespart, wenn man das Produkt von 
Vg mit einer durch einen großen lateinischen Buchstaben bezeichneten 
Größe durch den entsprechenden deutschen Buchstaben ersetzt. Also: 


VgK durch &, VgK,., durch $,.,, VgK? durch 87, Vg U? durch U?. 
g f A g 

(Im Sinne dieser Verabredung wird es liegen, eine elementare Diver- 
genz so zu schreiben: 

18 mw! WI RAT FE AG 
(18) En a Rn: 1 








= Dip. 


Hier sollen fernerhin die W’,..., ’’ nur von den g“”, g“” abhängen, so 
daß unsere Did ein spezieller Fall der bisher betrachteten Funk- 
tionen $ ist.) 

2. Ferner können bei den Summenzeichen die Summationsbuchstaben 
weggelassen werden, indem man bemerkt, daß immer nach denjenigen 
Indizes summiert wird, welche zweimal (einmal oben und einmal unten) 
vorkommen. 

3. Endlich können aus demselben Grunde auch noch die Summen- 
zeichen selbst weggelassen werden. 

Wir werden von der so verabredeten Kurzschrift mehr oder minder 
Gebrauch machen, sobald es uns paßt. Die Formeln (17) z. B. schreiben 
sich dann so: 





ou’ 
(19) Kg’ =2 - 3 
ow 


Im Zusammenhang damit gedenke ich gleich einer bemerkenswerten 
Verallgemeinerung der Formeln (17), bez. (19). 

Für die soeben eingeführten Divergenzen (Div) werden in bekannter 
Weise die Lagrangeschen Ableitungen identisch verschwinden: 


(20) Div,,=0. 

Setzen wir also in (19) statt ®,, die. Lagrangeschen Ableitungen einer 
Funktion $*, die mit $ durch eine Gleichung zusammenhängt: 

(21) K*—-K+ Div, 

so bleibt die linke Seite von (19) ungeändert, während auf der rechten 
Seite statt UI? eine neue Funktion U*’ auftritt. Wir haben dann 


574 .. Zum Erlanger Programm. 





a5 = 
(22) 8,9: a dw” 


Die Formel (19) ist damit in bemerkenswerter Weise edisnängn. 
(Natürlich unterscheiden sich die U”? von den W bei festgehaltenem nur 


um Terme, deren elementare Divergenzen ), ar identisch verschwinden. ) 
W 


84. 
 Invariantentheoretische Gesichtspunkte. 


Wir werden jetzt — im Sinne der allgemeinen Relativitätstheorie — 
annehmen, daß K gegenüber der Gruppe aller Transformationen der w 
(die wir uns natürlich durch Hinzunahme der entsprechenden Spselsungen 
der g“” „erweitert‘‘ denken müssen) invariant sei. 

Indem do von Hause aus eine Invariante ist, gilt dasselbe von dem 
Integrale /,. 

K „, erscheint als kontragredienter Tensor; der Komplex der 16 Größen 
K/ als gemischter Tensor. 

Ferner werden wir (indem wir den Hilfsvektor p immer so trans- 
formiert denken, wie die dw) die e°, n° als kogrediente Vektoren’) be- 
zeichnen dürfen. 

Wenn wir A nunmehr so schreiben: 


Bi ıv öyg K? 
7 


a ren 


erscheint das mit den verschiedenen 9” multiplizierte Größensystem als 
kontragredienter Vektor (es ist, im Sinne meiner vorigen Note, die 
„vektorielle Divergenz‘“ des Tensors K,,). 

Entsprechend gewinnen wir aus .B eine Invariante: 


(24) san, 


dw’ 





wir werden sie (wieder im in meiner vorigen Note) als „skalare Diver- 
genz‘‘ des (mit Hilfe des Vektors p gebildeten) Vektors e bezeichnen. 
Nicht minder werden die beiden Bestandteile von (24): 


u p‘) 
(25) en 


für sich genommen Invarianten sein. 











?) [Daß &° und 7°” kogrediente Vektoren sind, sieht man am einfachsten, wenn 
man ihre Ausdrücke (Formel (10) und (11)) mit den Formeln (8), (9) und (14) der 
ersten Mitteilung von Hilbert über die Grundlagen der Physik (l. c.) vergleicht. K.] 


XXXII Differentialform der Erhaltungssätze in der Gravitationstheorie. 575 


Wie aber ist es mit den U}, die unter der Voraussetzung konstanter 
p' (= p") abgeleitet waren ? 
0 


Konstante p” bleiben nicht mehr bei beliebigen Transformationen der 
w, sondern nur noch bei den „affinen‘“ Transformationen: 


aa WwW Ft... taf-wW’+c® 


konstant. Man denke sich die g“” natürlich entsprechend (also linear mit 
konstanten Koeffizienten) transformiert. Wozu immer tritt, daß die einzelnen 
g“” Funktionen der w® sind. 

Wir werden dann sagen dürfen: 

U? ist ein gemischter Tensor der so erweiterten affinen Gruppe. 

Dies hindert nicht, daß nach unseren Gleichungen (14), (17) und der 
Schreibweise (23) der von den p’ unabhängige Ausdruck 





2 xrölvg(U?’+K/)) 
ne 


qo 


(26). 


ow 
ein kontragredienter Vektor der allgemeinen Gruppe ist. 

Es ist dies ein sehr merkwürdiges Sachverhältnis, welches für die 
später folgenden Ausführungen grundlegend ist. 

Nimmt man noch nach (21) statt ® irgendein $* und fügt die 
Voraussetzung hinzu, daß die in (18) auftretenden WW’... W’” gleich den 
mit VYg multiplizierten Komponenten eines Vektors W’... W'” der affınen 
Gruppe sein sollen: 

(27) B=VgW’, 
so wird genau dasselbe Sachverhältnis wie bei (26) bei den allgemeineren 
Ausdrücken 


98 Re ö(Vg(U°+K?)) 
vg 2 dw 
statthaben. 





85. 


Identitäten, denen unser K als Invariante der allgemeinen Gruppe genügt. 


Wir verfolgen jetzt den Gedanken: Weil K eine Invariante unserer 
allgemeinen Gruppe ist, folgt, bei beliebigen Werten der p': 
(29) o1,=ö//SI Kdlo=0. 
(Umgekehrt, wenn bei beliebigen p’ die Relation (29) statthat, wird 7, 
und damit X eine Invariante der allgemeinen Gruppe sein. Denn alle 
endlichen Transformationen der w" setzen sich doch aus den infinitesimalen 


dw’ = p" zusammen.) 
Wir erhalten damit aus den Formeln der $$ 2, 3 eine große Anzahl 


576 Zum Erlanger Programm. 


von Differentialbeziehungen, denen die Invariante K (die noch gar nicht 
individualisiert ist) identisch zu genügen hat. 

1. Wir nehmen, wie in meiner vorigen Note, die p’ so — ohne sonst 
ihre Willkür zu beschränken —, daß der Vektor e° und damit das zu- 
gehörige Randintegral schlechthin wegfällt. Hierzu gehört offenbar, daß 
p', p“” und p4” entlang dem Rande verschwinden, d. h. das Nullsein von 
ae A Dann kommt also gemäß (13) A=0, d.h. bei beliebigem 
Integrationsgebiet und beliebiger Annahme der p’ im Innern des Gebietes. 
Wir schließen gemäß (23), daß die vektorielle Divergenz des Tensors K,, 
identisch Null sein muß. In Formeln: 


2 öygK” 
| v JoygHA, 
Va 2 Ser 








(30) =o für r—=1,2,3;4): 
v9 | 

Es sind dies die Identitäten (12) meiner vorigen Note, die ich jetzt die 

Identitäten A nennen werde. — Man mache sich klar: da es sich um 


einen Vektor handelt, werden die linken Seiten von (30), aufgestellt für 
ein beliebiges Koordinatensystem, gleich wohlbekannten linearen Kom- 
binationen ihrer ursprünglichen Werte sein. Das Verschwinden der trans- 
formierten Ausdrücke besagt also gar nichts anderes als das Verschwinden 
der ursprünglichen Ausdrücke. 

2. Infolge der Identitäten (30) fällt jetzt das Integral A bei beliebigen 
p' weg. Also verschwindet gemäß (13), (29) immer auch das Integral B. 
Wieder überlegen wir, daß das Integrationsgebiet und der Vektor p’ ganz 
beliebig angenommen werden können. Es folgt, daß der Integrand von B, 
d.h. die skalare Divergenz des Vektors e, identisch Null sein muß: 


1 yraygs’ _ 

(31) 7 > Bars 0, 
oder, was dasselbe ist: 

ı dValn’+2 DK p') 

v9 ow° 
In dieser einen Formel (31) und (31’) sind bei der Willkür der p” noch 
sehr viele Einzelgleichungen enthalten. Man betrachte die Terme, welche 
aus > K/p' bei der Differentiation entstehen, und überlege, daß 7° aus 
Gliedern aufgebaut ist, welche beziehungsweise die p“”, p, linear ent- 
halten, während die p“” selbst wieder linear in den p und ihren nach 
den w genommenen Differentialquotienten sind. Aber die 7° werden in 
(31) bez. (31’) noch einmal nach den w” differentiiert. Wir schließen, 


daß die linken Seiten von (31) und (31’) homogen linear in den p’ und 
ihren nach den w genommenen ersten, zweiten und dritten Differential- 





(31°) 0. 


Il 


XXXI. Differentialform der Erhaltungssätze in der Gravitationstheorie. 577 


quotienten sind. Da diese alle unabhängig voneinander angenommen 
werden können, haben wir im EEE: 
4:5-6 
litt gta) 140 

Gleichungen. Ich werde diese die /dentitäten B nennen. 

Es verlohnt sich, diese 140 Gleichungen wenigstens schematisch an- 
zusetzen. Ich werde mit der oben, in (15), eingeführten Bezeichnung nicht 
in Widerspruch sein, wenn ich schreibe: 


(32)  w=2( Up + NUR + Nur") 


(je zu summieren über alle zweimal vorkommenden Indizes. Indizes, 
welche durch kein Komma getrennt sind, sind vertauschbar, nicht so die 
durch die Komma getrennten. Danach gibt es 16(1+4-+ 10) = 240 
Größen U). — Die Gleichung (31’) wird sich nun, indem ich den voran- 
stehenden Faktor Ze weglasse und für YgU wieder U schreibe, folgender- 


9 
maßen zerlegen: 


1. 4 Gleichungen, welche den Termen mit 9” entsprechen: 


(33) 2W. + )=0, 

2. 16 Gleichungen, welche den Termen mit p? entsprechen: 
(34) WıR+LWi=0, 

3. 40 Gleichungen, welche den Deinen mit Pie „ entsprechen: 
(35) ur’ "ur" "+dur o’0' 

4. 80 essen welche den Wir mit p,,,, zugehören: 
(36) ur" Lu Lo. 


Die Abhängigkeiten, die zwischen diesen 140 Gleichungen B bestehen 
mögen, habe ich nicht untersucht. 
Im übrigen ergeben sich nun unmittelbar folgende Schlußfolgerungen: 
a) Die Identitäten A (= (30)) und die B (= (33), (34), (35), (36)) 
ergeben zusammen die hinreichenden Bedingungen, daß eine Funktion X der 
il Ha eine Invariante unserer allgemeinen Gruppe zu 


b) Aber die linken Seiten von (33), multipliziert mit — Ta: sind wegen 
9 


des Hauptsatzes von $2 mit den linken Seiten von (30) direkt identisch. 


c) Also sind die B allein die hinreichenden Bedingungen für die In- 
varianz von K. 
d) Die A allein aber sind es nicht. Denn die Gleichungen A werden 


auch bestehen, wenn man K durch X *— K-+Div ersetzt, — allgemeiner, 
Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 37 


978 Zum Erlanger Programm. 


wenn K eine solche Funktion ist, die sich bei beliebiger Transformation 
der w immer um eine Divergenz vermehrt. 

e) Daher sind die Identitäten B nicht etwa allgemein aus den A 
ableitbar. | 

Für uns gehören aber doch, mit Rücksicht auf die zu entwickelnden 
physikalischen Schlußfolgerungen, die A in die erste Reihe. So möge noch 
einmal der drei Formen gedacht werden, die sie nach dem Früheren an- 
nehmen können: 








o87 
Identitäten A.: 2, +2 Ku’, 
ö en 
(37) 3 Identitäten Az: we u ee für —1,2,3, 4. 
(R+ une 
Identitäten A,: E DER — =. 
\ v9 dw 





Ich habe dabei nur, was weiterhin zweckmäßig scheint, immer die Terme 
mit den / vorausgenommen und übrigens wieder solche Zahlenfaktoren 
zugefügt, daß linkerseits alleweil dieselben vier Vektorkomponenten stehen. 


8.6. 
Übergang zu den Erhaltungssätzen. 


Was ich im Verfolg des systematischen Gedankenganges jetzt noch 
über die besondere Bauart der Invariante K, wie sie der modernen Gra- 
vitationstheorie zugrunde liegt, zu sagen hätte, schließt sich so eng an 
Einsteins einschlägige Untersuchungen an, daß ich es lieber. bis zum 
folgenden Paragraphen verschiebe und hier gleich den prinzipiellen Über- 
gang zu den Differentialgesetzen der Erhaltung von Impuls und Energie 
und eine Übersicht über die verschiedenen Gestalten, in der diese Gesetze 
in der Literatur hervorgetreten sind, folgen lasse. Für das materielle 
Feld, mit dem wir uns jeweils beschäftigen, lauten bei unserer Bezeichnung 
die zehn Gravitationsgleichungen, wie ich schon in der Einleitung unter (3) 
bemerkte, besonders einfach. Ich werde hier gleich statt der lateinischen 
Buchstaben deutsche setzen und habe dann 


(38) Kr rn al. 
Statt dessen kann ich natürlich auch die 16 Gleichungen schreiben: 
(39) ri =0, 


Alles, was wir nun zu tun haben, ist, daß wir die hieraus folgenden 
Werte der $., bez. der 8 in die für die Invariante K aufgesiellien 
Identitäten einsetzen. Die Sache ist so einfach, daß ich die Ergebnisse 
gleich tabellarisch zusammenstellen und erläutern kann. 


XXXII. Differentialform der Erhaltungssätze in der Gravitationstheorie. 579 


Ich beginne mit den Identitäten A. bis A, (37): 
1. Aus den A, folgt durch Division mit n 


9 
0% 
- (40) Satz dur =0. 


Es sind dies die Erhaltungssätze für die Energiekomponenten des materiellen 
Feldes als solche, wie sie sich überall in der Literatur vorfinden. 
2. Ich kann natürlich auch schreiben, was gewissermaßen neu ist: 


(41) A DRug’ = 


3. Hiermit völlig RE ist es, wenn ich den A, entnehme: 


eine 
in | Bus: + ur) nn 


ow 








Dies sind dem Wesen nach die Erhaltungssätze, wie sie Lorentz in 
Teil III seiner eingangs genannten Artikelreihe aufgestellt hat, vgl. daselbst 
S. 482, Formel (79). (Die direkte Identifizierung ist nur insofern etwas 
weitläufig, als Lorentz das ÖJ, zunächst nicht nach den ög“”, sondern 
den ög,„, geordnet hat; es kann aber an der Übereinstimmung nicht ge- 
zweifelt werden, weil er zu ihrer Gewinnung von derselben infinitesimalen 
Transformation öw’= p" (mit konstantem p") ausgeht, die uns zu den 
Identitäten A, geführt hat°)). 

4. Endlich schreiben sich dieselben Relationen gemäß dem A, auch: 


o(2°+2ur°) 


(43) EEE: 


ow 





Man hat das K* (Formel (21)) und damit zusammenhängend die U*” nur 
noch zweckmäßig zu partikularisieren, um die bekannten Einsteinschen 
Formeln zu erhalten: 

oT’ +t,) 
(44) Paare zu 
Das Nähere wird im folgenden Paragraphen noch darzulegen sein. Jeden- 
falls versteht man schon hier, daß die linken Seiten der Einsteinschen 
Relationen, multipliziert mit Vg, ebenso Vektorkomponenten darstellen, 
wie die mit ihnen genau übereinstimmenden linken Seiten von (41), (42). 
Ich hebe das nur deshalb hervor, weil die Sachlage nicht überall klar 
erkannt zu sein scheint. 





°) [In der Tat hat Herr Vermeil die Identität der beiderseitigen Resultate nach- 
‘ träglich durch direkte Rechnung bestätigt. K.] 
87* 


980 Zum Erlanger Programm. 


Wir gehen nun zu der ursprünglichen Zusammenfassung (31), (31’) 
der Identitäten B zurück: 


R Java" _ ee Ben]. 
g 


ow°® 





Indem wir hier für K/ a aus den Gravitationsgleichungen des Feldes 
folgenden Wert xT'” eintragen, tritt an Stelle des Vektors &” ein neuer 
Vektor, der e’ heißen mag: 


(45) e—=n°+2%) Typ. 
Dieser neue Vektor ist nun, wie ich behaupte, genau derjenige, den 
Hilbert in seiner Note — unter Beschränkung auf den elektromagnetischen 


Fall — als Energievektor bezeichnet hat (so daß die Erhaltungssätze für 
Hilbert in die eine Gleichung 


(46) = > ee 
zusammengefaßt sind). 
Zum Beweise bemerke ich: 
a) Was den von der „Materie“ herrührenden Teil in (45), also den 


Term 2% ER -p' angeht, so stimmt dieser, wenn ich nur x in Anlehnung 
an Hilbert gleich 1 setze, nach gehöriger Umänderung der Bezeichnung 
mit den Angaben, welche Hilbert in Formel (19) seiner Note und in 
den sich anschließenden Sätzen macht, ohne weiteres. 

b) Sodann, was den „Gravitationsteil“, das n°, betrifft, so hat mir 
schon vor längerer Zeit Herr Freedericks die zunächst unübersichtlich 
erscheinenden Terme, wie sie Hilbert l.c. in den Formeln (8), (9) und 
(14) angibt, rechnerisch zusammengezogen und ist dabei genau auf den 
Ausdruck gekommen, den ich in (11) als 7° eingeführt habe?). 


Nun sieht die Formel (46), auch wenn ich den Faktor 3 abtrenne, 

9 
zunächst ganz anders aus als die Formeln (42), (43). Die Sachbeziehung 
aber ergibt sich ganz klar, wenn ich (46) nach dem Schema (33) bis (36) 


in 4-+16--40-+ 80 Gleichungen auseinanderziehe: 
Die ersten vier Gleichungen werden lauten: 


(47) 2. ts) 0, 
stimmen also genau mit den Gleichungen (42) überein. 
Die folgenden 16 Gleichungen werden lauten: 


(48) W+TÜ + U, -0 





9) [Offenbar hat Hilbert seine zunächst sehr kompliziert scheinende Darstellung 


von e° gewählt, um den Vektorcharakter dieser Größe von vornherein hervortreten 
zu lassen. K.] 


XXXI. Differentialform der Erhaltungssätze in der Gravitationstheorie. 581 


Dies ist nur eine besondere Schreibweise der Feldgleichungen (39), denn 
W+ > 12,” ist nach (34) mit — 87 identisch. 

Die dann noch verbleibenden 40 + 80 Gleichungen aber stimmen ohne 
weiteres mit den Identitäten (35), (36) überein; sie haben mit dem 
materiellen Felde, welches wir gerade betrachten, gar nichts zu tun. 

Im Grunde reduziert sich also die Hilbertsche Aussage (46) auf die 
Erhaltungssätze (42); was dazutritt, sind ohnehin bekannte Gleichungen. 
Dafür hat die Aussage den Vorzug, daß sie nicht nur selbst etwas in- 
variantentheoretisch Einfaches behauptet, sondern daß auch die in ihr 
auftretende Größe e invariantentheoretisch kurz charakterisiert werden kann: 
sie ist ein den Hilfsvektor p' enthaltender, im übrigen aber von den T .,; 
den K,., und deren Differentialguotienten abhängender kogredienter Vektor. 

Mit den im vorliegenden Paragraphen gemachten expliziten Angaben über 
die verschiedenen Formen der Erhaltungssätze wird, wie man sieht, ergänzt, 
was in den Nummern (6) bis (8) meiner vorigen Note nur erst mehr unbe- 
stimmt ausgedrückt war. 


87. 
Näheres über die Einsteinsche Formulierung der Erhaltungssätze. 


Ich habe nun noch nachzutragen, wie man die von mir mit K* 
bezeichnete Größe partikularisieren muß, um zu Einsteins Schlußformeln: 
(44) Sue =0 
zu kommen, auch noch einiges darüber zu sagen, welche Vereinfachung 
damit erzielt ist. 

Ich beziehe mich dabei am liebsten auf Einsteins oben genannte 
Darstellung in den Sitzungsberichten der Berliner Akademie vom Ok- 
tober 1916. Einstein geht dort davon aus, daß die Invariante K (die 
er @ nennt) die zweiten Differentialquotienten der g“” nur linear ent- 
hält, multipliziert mit Funktionen der g“” selbst. Man kann daher be- 
sagte Differentialquotienten aus dem Integral I, — [[JJ Kdw durch par- 
tielle Integration wegschaffen, also 
(49) K=-G6*+Div 
setzen, wo @* eine Funktion nur der ersten Differentialquotienten ist. 
Insbesondere gibt Einstein für @* den Wert: 

(50) = HIRIE-TETEIN) 


uvoo 








ı0) [Beim Wiederabdruck wurde das Vorzeichen von @* und &* hier und im 
folgenden umgeändert, entsprechend dem bei der ersten Veröffehtlichung nicht ge- 
nügend berücksichtigten Umstande, daß man in Übereinstimmung mit Einstein das 
Vorzeichen von ds? so nimmt, wie es in der Fußnote *) Seite 569 dieser Abhandlung verab- 
redet wurde; alsdann wird das Einsteinsche @ mit dem Hilbertschen K identisch. K.) 


982 Zum Erlanger Programm. 


unter — /';, die sogenannten Symbole zweiter Art verstanden: 


e: fög ög 09,,\ 4) 
51 2, y a8 g nn ur Pre: = 3 
a f “ar dw” SE ew" ow" 
Augenscheinlich ist dieses @* bei affinen Transformationen der w in- 
variant. 
Die ferneren Einsteinschen Schlußformeln folgen nun ohne weiteres 
aus unseren früheren Ansätzen, wenn wir 


(52) K*’=G6*, also £*—= &* 
setzen; wir müssen nur hinterher noch, um volle Übereinstimmung zu 
haben, | 
=] 

nehmen. 

Es handelt sich eigentlich nur mehr um zwei Punkte: 

a) Nach (21) haben wir 
(53) Kurz e,. 
Aber G,, stellt sich, weil &* nur die Differentialquotienten erster Ord- 
nung der g“” enthält, formal einfacher dar als die $,,: 


(v) 

* d {TE} 

(54) ER 1 RRR I 7 
ög"” ow°® 


Als solche treten die &,, bei Einstein in der Tat statt der $,, in den 
Feldgleichungen auf (Formel (7) seines Artikels). — Man wird sagen 
dürfen, daß durch Einführung der ®,, eine besondere Eigenschaft der 
8u,, nämlich keine Differentialquotienten der g“” von höherer als der 
zweiten Ordnung zu enthalten, sichtbar ist. 

b) Ferner haben wir nun für die U; nach (16), (22) die einfachen 
Formeln 
(55) ur, (8-2). 
Diese U” sind gegenüber den allgemeinen U/ tatsächlich gekürzt, aber 


das Resultat der Divergenzbildung | 

ou’ 

aw° 
ist doch wieder dasselbe. Also auch hier bringt die Reduktion der Formeln 
nur die Vereinfachung, zur klaren Anschauung, welche das für uns in 
Betracht kommende Schlußergebnis infolge der Bauart von K ohne- 


hin besitzt. 





4) Vgl. die Durchführung der Zwischenrechnung auf S. 110, 191 des Wey Ischen 
Buches. 


XXXIl. Differentialform der Erhaltungssätze in der Gravitationstheorie. 588 


Die durch (55) definierten U”, dividiert durch x, sind nun ohne 
weiteres die Einsteinschen t;: 
(56) 1er: 
In der Tat gibt Einstein in Formel (20) seiner Abhandlung — auf 
Grund einer ganz anders angelegten Rechnung —, indem er x —= 1 nimmt, 
für seine t; genau die in (55) rechter Hand stehenden Werte. 

Tragen wir dementsprechend in (43) für die — U” die t/ ein, so er- 
halten wir die Gleichungen (44), w. z. b. w. 





Ich wünsche diesen Entwicklungen noch einen kleinen Zusatz zu 
geben. In seinen „Kosmologischen Betrachtungen zur allgemeinen Re- 
lativitätstheorie‘‘!?) hat Einstein bekanntlich den Vorschlag gemacht, die 
fundamentalen Feldgleichungen der Gravitation dahin zu modifizieren, daß 
— in unserer Bezeichnung — statt (3) geschrieben wird 
(57) Kur - iger —-— Tu, =d0, 
unter 4 eine Konstante verstanden. Da 

övg 
ög"” 
so können wir (57) auch so schreiben 
(58) Ku—-xT.»=0, oder auch K —-xT’=0, 
wo 


(59) K=-K+H24. 


Nun gelten für dieses K alle die Voraussetzungen, auf die wir 
in den Paragraphen 2 bis 5 die Identitäten für K aufgebaut haben. 
Wir können also beispielsweise für das K gleich die Identitäten (37) 
anschreiben, in denen wir die U nur durch die U? zu ersetzen haben, 
wo gemäß (16) 

(60) U =-U+1 


sein wird. Wir bekommen also auch Erhaltungssätze, wie früher, etwa 
der Formel (42) entsprechend 


o(2°+-ür) 


o 





Mei 1 
:Vg u ur: 


(61) =(, 





wo wir nun noch das U’ abändern mögen, indem wir statt K 


(62) K*=K+ Div 





12) Sitzungsberighte der Berliner Akademie vom 8. Februar 1917. 


984 Zum Erlanger Programm. 


setzen. Speziell wollen wir für K*, gemäß unseren neuesten Ent- 
wicklungen 


(63) G* = G* +21, d.h. 6G*= G*+21Vg 
nehmen. Schreiben wir dann unter Übertragung von (55), (56): 
64 Io _ v2 

( ) ne ZeP Hz; ’ 


so werden wir nunmehr 
ar +t) 
(65) SD 


haben. Dies entspricht der Angabe, die Einstein in seiner neuesten 
Publikation macht'?). 








88. 
Schlußbemerkung. 


Die Beziehungen, welche die so weit gegebenen Entwicklungen zu 
den von .mir zitierten Arbeiten von Einstein, Hilbert und Lorentz 
und Weyl haben, sind im einzelnen noch enger, als durch den bloßen 
Vergleich der Schlußresultate hervortritt. Viele Formeln, die bei mir in 
den Zwischenüberlegungen auftreten, finden sich auch dort, nur nicht in 
dem von mir eingehaltenen einheitlichen Gedankengange. Es ist sehr 
interessant, dies im einzelnen zu verfolgen. Am nächsten stehen meinen 
Entwicklungen wohl diejenigen von Lorentz, der sich dann aber bald 
auf solche infinitesimale Transformationen dw” = 9° beschränkt, deren p” von 
den w unabhängig sind. Einstein betrachtet solche p”, die affınen Trans- 
formationen der w entsprechen, Weyl (wie ich selbst in meiner vorigen 
Note) solche p’, die im übrigen willkürlich sind, aber am Rande des 
Integrationsgebietes in geeigneter Weise verschwinden '*). | 

Ich darf auch nicht unterlassen, für fördernde Teilnahme an meinen 
neuen Arbeiten wieder Frl. Nöther zu danken, welche die mathematischen 
Gedanken, die ich in Anpassung an die physikalische Fragestellung für das 
Integral /, benutze, ihrerseits allgemein herausgearbeitet hat und in 
einer demnächst in diesen Nachrichten zu veröffentlichenden Note dar- 
stellen wird??). 


13) Sitzungsberichte der Berliner Akademie vom 16. Mai 1918, S. 456. 

14) So schon in einem Aufsatze „Zur Gravitationstheorie“ (in Bd, 54 der An- 
nalen der Physik), der vor meiner Note abgeschlossen, aber erst nach ihr veröffent- 
licht wurde. 

15) [Die Hauptsätze von Frl. Nöther habe ich am 26. Juli der Gesellschaft der 
Wissenschaften vorgelegt. Die Note selbst ist weiterhin in den Göttinger Nachrichten 
1918, 8. 235—257, unter dem Titel „Invariante Variationsprogleme“ erschienen.) — 


XXX. Differentialform der Erhaltungssätze in der Gravitationstheorie.. 585 


'Der vorstehend in $ 2 aufgestellte „Hauptsatz“ ist ein besonderer Fall des 
folgenden von Frl. Nöther am angegebenen Orte bewiesenen weitreichenden Theorems: 

„Ist ein Integral I invariant gegenüber einer @, (d.h. einer kontinuierlichen 
Gruppe mit o wesentlichen Parametern), so werden o linear unabhängige Verbindungen 
der Lagrangeschen Ausdrücke zu Divergenzen “ 

Was aber insbesondere die in XXXI enthaltene Behauptung von Hilbert an- 
geht (siehe S. 561 und 565 der vorliegenden Ausgabe), so ergibt sich als deren exakte 
Formulierung nach Frl. Nöther die folgende: 

„Gestattet ein Integral I die Verschiebungsgruppe, so werden die Energie- 
relationen dann und nur dann uneigentliche, wenn / invariant ist gegenüber einer 
unendlichen Gruppe, die die Verschiebungsgruppe als Untergruppe enthält.“ 

Übrigens findet auch der Satz von Hilbert bzw. von XAXXI, daß zwischen den 
Feldgleichungen der Relativitätstheorie vier Relationen bestehen, bei Frl. Nöther seine 
Verallgemeinerimg. Ihr Theorem lautet so: „Ist das Integral I invariant gegenüber einer 
Gruppe mit o willkürlichen Funktionen, in der diese Funktionen bis zur o-ten Ab- 
leitung auftreten, so bestehen o identische Relationen zwischen den Lagrangeschen 
Ausdrücken und ihren Ableitungen bis zur o-ten Ordnung.“ K., 


XXXIN. Über die Integralform der Erhaltungssätze und 
die Theorie der räumlich-geschlossenen Welt. 


[Nachrichten der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Mathematisch- 
physikalische Klasse. (1918.) Vorgelegt in der Sitzung vom 6. Dezember 1918.]?) 


In meiner Note vom 19. Juli 1918 habe ich versucht, über die ver- 
schiedenen Formen, welche man in der Einsteinschen Gravitationstheorie 
den Differentialgesetzen für die Erhaltung von Impuls und Energie geben 
kann, eine Übersicht zu gewinnen; meine Aufgabe soll heute in erster Linie 
sein, zu der Integralform der Erhaltungssätze Stellung zu nehmen, welche 
Einstein für die von ihm bevorzugte Form der Differentialgesetze auf- 
gestellt hat. Im Zusammenhang damit werde ich Einsteins Theorie der 
räumlich-geschlossenen Welt und die Abänderung, welche diese durch de 
Sitter gefunden hat, behandeln?). Die physikalischen Fragen werden nur 
gestreift, das Ziel ist, die mathematischen Zusammenhänge völlig klar- 
zustellen; ich empfinde eine gewisse Genugtuung, daß dabei meine alten 
Ideen von 1871—72 zu entscheidender Geltung kommen?). Wie weit Fort- 
schritte erzielt sind, möge der Leser selbst durch Vergleich mit den Dar- 
stellungen der anderen Autoren entscheiden. 





!) Zum Druck eingereicht Ende Januar 1919. 
2) Die in Betracht kommenden Veröffentlichungen sind: 
Einstein. 1. Kosmologische Betrachtungen zur allgemeinen Relativitätstheorie. 
Sitzungsberichte der Berliner Akademie vom 8. Februar 1917. 
2. Kritisches zu einer von Herrn de Sitter gegebenen Lösung der 
Gravitationsgleichungen, ebenda, 7. März 1918. 
3. Der Energiesatz in der allgemeinen Relativitätstheorie, ebenda, 
16. Mai 1918. 
de Sitter. In verschiedenen Mitteilungen im Verslag der Amsterdamer Aka- 
demie, 1917, sowie in einer zusammenfassenden Artikelreihe in 
den Monthly Notices of the R. Astronomical Society: On Ein- 
steins theory of gravitation and its astronomical consequences 
(siehe insbesondere den Schlußteil III vam November 1917). 
®) Siehe insbesondere: 
1. Über die sogenannte Nicht- Euklidische Geometrie. Math. Annalen (1871), 
Bd. 4. [Abh. XVI dieser Ausgabe.] 
2. Das Antrittsprogramm: Vergleichende Betrachtungen über neuere geome- 
trische Forschungen, Erlangen 1872. [Abh. XXVII dieser Ausgabe.] 


XXXII. Integralform der Erhaltungssätze usw. 587 


Ich erinnere zunächst an folgende Ergebnisse: Die Erhaltungssätze in 
der Form, die ich nach Lorentz benenne, (Formel (42) der vorigen Note), 
lauten: 
| ö (2 + = ur) 

(1) =(. 


dw” 





Schreiben wir 
1 *o o 
(2) Prg U. =t,, | 
so erhalten wir die Einsteinsche Form der Erhaltungssätze: 


o(T’+t} 
(3) EteihEl 
Ww 


(Formel (44) der vorigen Note)‘). 
Nun wird es der Einsteinschen Grundauffassung entsprechen, wenn 
ich weiterhin 


0 


o *o 


die —, bez. die — 
X x 





kurzweg als die (durch die zufällige Koordinatenwahl und den jeweiligen 
Ansatz bedingten) Gravitationskomponenten der Energie bezeichne. Im 
übrigen will ich die hiernach sich ergebenden Komponenten der „Gesamt- 
energie‘ abkürzend mit dem Buchstaben Y, bez. ®, bezeichnen: 


(4) TUHSW-%, Tr R. 

Es ist eine Besonderheit meiner folgenden Darstellung, auf die ich 
hier vorweg hinweise, daß ich die U und U* (oder auch die ® und ®*) — 
welche beide ihre Vorzüge haben — immer nebeneinander betrachte; man 
sieht dann deutlicher, wie weit in den aufzustellenden Integralformen der 
Erhaltungssätze ein subjektives Moment zur Geltung kommt. 

Zur Bequemlichkeit des Lesers setze ich die zugrunde liegende De- 
finition der entsprechenden lateinischen Buchstaben nach Formel (16), (55) 
der vorigen Note noch einmal her. Man hat: 

, 2 
IE m IE u 1 ie ame 


5 2U;=Kd. — —— gar + — 
( ) ögf” T ogur der vg dw? 





a a er 





4) [Dieser ganze Absatz konnte wesentlich gekürzt werden, nachdem die bei der 
ersten Veröffentlichung an dieser Stelle aufgeführten, in der vorigen Note notwendigen 
Vorzeichenänderungen beim Wiederabdruck in dieser Ausgabe bereits daselbst Berück- 
sichtigung gefunden haben. Auf die Notwendigkeit dieser Vorzeichenänderungen hat 
mich Herr Vermeil aufmerksam gemacht, der mich auch sonst bei vielen für die folgen- 
den Betrachtungen erwünschten Rechnungen in dankenswerter Weise unterstützt hat. K.] 


588 Zum Erlanger Programm. 


Ich habe in (5), wie durchweg in meiner vorigen Note, im Anschluß. 
an Hilberts ursprüngliche Schreibweise, die Quadratwurzel Yg benutzt. 
Will man vollen Anschluß an die Einsteinsche Bezeichnungsweise haben, 
muß man überall V—g nehmen. Auf die Schlußformeln (1) bis (3) hat 
diese Änderung keinen Einfluß; sie ist aber doch zweckmäßig, damit die 
der unmittelbaren Beobachtung unterliegenden Größen durchweg reelle 
Komponenten bekommen; sie soll also weiterbin ebenfalls als angenommen 
gelten. | 


1. Die Integralsätze für abgeschlossene Systeme 
der gewöhnlichen Theorie. 


Sl 
Von der vektoriellen Schreibweise mehrfacher Integrale. 
Erste Einführung des I, bzw. I.. 


Wo immer man mit der Transformation mehrfacher Integrale zu tun 
hat, ist die übliche Schreibweise, z.B. [[ f(xy)dxdy, nicht zweckdienlich. 
Die Stückchen dx, dy sind doch auf verschiedene Richtungen abgetragen 
zu denken, gehören also zwei verschiedenen Vektoren an, so daß schon 
etwas gewonnen ist, wenn man ® Sr&y)d’x d”y schreibt. Noch klarer 
wird die Bezeichnung, wenn man die Vektoren d’, d” nicht gerade parallel 
den beiden Koordinatenachsen, sondern beliebig wählt und das Produkt 
d’x d’y dementsprechend durch den Inhalt des zwischen den beiden 
Vektoren eingeschlossenen Parallelogramms ersetzt... So kommen wir zu 
der Schreibweise 
T ) f d’x d’y 
( ) f(zy)- dx d’y 
die ich gern die Graßmannsche nenne, weil sie den Ideenbildungen in 
Graßmanns Ausdehnungslehre von 1861 entspricht: die Formel ist der 
Beweglichkeit, die wir in den Begriff des mehrfachen Integrals legen, 
besser angepaßt. 

Zum Zwecke der speziellen Auswertung wird man von (7) selbst- 
verständlich in jedem Augenblicke zur gewöhnlichen Schreibweise zurück- 
gehen können. Für alle Transformationsbetrachtungen aber ist (7) vor- 
zuziehen. Setzen wir .B.x=o(E, n),, y=wv(E, n), so ist aus (7) 
unmittelbar klar, warum in die Transformationsformel des Integrals die 
Jacobische Funktionaldeterminante eingeht. Denn man hat identisch: 


| d’x d'y B 9:9, | | de d’y 
Iveyn iate an’ 

Dies vorausgeschickt werden wir nun in der Folge gewisse dreifache 
Integrale betrachten, die sich so anschreiben: 





’ 








XXXII. Integralform der Erhaltungssätze usw. 589 





B nah 
dw! ... d’wIV | 
8 1; .- ” 7 ’ 
(8) SI por ... 4 wir 
ok den ‚IV | 
oder auch die anderen, die ich 
(9) Me 


nenne und die sich aus dem Vorstehenden ergeben, indem man die ®/ 
durch die ®,*” ersetzt. — Zu erstrecken sind diese Integrale über irgendein 
Stück einer in der vierdimensionalen Welt w!... w!V gelegenen „Hyper- 
fläche“; d’, d”, d” bezeichnen drei voneinander unabhängige Vektoren, 
die von dem einzelnen Punkt der Hyperfläche je in tangentialer Richtung 
auslaufen. 

Aus den Differentialgesetzen (1), (3), denen die ®/ bez. B. ge- 
nügen, wird man — bei Voraussetzung der gewöhnlichen Stetigkeits- bez. 
Eindeutigkeitseigenschaften für die 8 — von vornherein schließen, daß 
diese I., bez. I" Null sind, wenn man ihr Integrationsgebiet in der 
Weise geschlossen annimmt, daß es ein bestimmtes Weltstück umgrenzt. 
In der Tat verwandeln sich dann die /, in bekannter Weise in die über 
das umschlossene Weltstück erstreckten vierfachen Integrale 


dw! ... dw!’ 


SE 


/ 








und ähnlich die I, wo nun die Integranden selbst wegen der Erhaltungs- 
sätze (1), (3) ohne weiteres verschwinden. — 

Unser besonderes Interesse aber richtet sich darauf, wie sich die 
FRE; * bei affinen Transformationen der w verhalten, wenn man also die 
w linearen Transformationen mit konstanten Koeffizienten unterwirft: 
(11) ””=awl+...+awP.+c°. 

Eben hier bewährt sich nun unsere vektorielle Schreibweise. Wir wissen 
aus den Entwicklungen der vorigen Note, daß sich die V/, bez. y* °, bei 
den Transformationen (11) wie gemischte Tensoren verhalten; aus ihnen 
erwachsen die ®?, bez. ®*” durch Multiplikation mit Vg (bez. V—g). 
Danach ist ohne weiteres ersichtlich, daß sich die Integranden dI;, bez. 
dI*, wie „kontragrediente“ Vektoren transformieren. Es will dies heißen, 


daß sie die aus (11) abgeleiteten homogenen linearen Substitutionen er- 
leiden: “2 > 
dl,=a;dI, +... +a’dl,. 


Nun sind aber die Koeffizienten a in (11) nach Voraussetzung Konstante. 


590 Zum Erlanger Programm. 


Wir werden also entsprechende Substitutionsformeln für unsere Integrale /, 
selbst haben: 
(12) Dei t..Eag. 


(und natürlich ebenso für die Ir), womit das hier abzuleitende Resultat 
bereits erreicht ist. | 

Der gedankliche Fortschritt aber, der sich mit diesen Formeln (12) 
verbindet, läßt sich so aussprechen: die dI,, dI,; sind, wie alle Vektoren 
der allgemeinen Transformationstheorie, von Hause aus je an einen be- 
stimmten Weltpunkt w als Ausgangspunkt angeknüpft, es sind gebundene 
Vektoren (oder, wenn wir uns noch genauer ausdrücken wollen: Vierer- 
vektoren). Diese Bindung an einen besonderen Punkt tritt nun bei den 
Transformationsformeln für die /,, I, ganz zurück. Man wird die I.. 
I" zweckmäßigerweise als freie kontragrediente Vierervektoren bezeichnen, 
‘d. h. als Vierervektoren, die nur eine Richtung und eine Intensität 


© V BE gl, L,) haben, aber keinen bestimmten Ort in der vierdimen- 
sionalen Welt. | 

Dieser Begriff des freien Vierervektors haftet natürlich durchaus daran, 
daß wir die Gruppe (11) der affinen Transformationen der w zugrunde 
legten. In der Physik, bez. Mechanik ist es eben genau so, wie ich es 
in meinem Erlanger Programm. für die Geometrie darlegte: daß nämlich 
von einer Unterscheidung bestimmter Größenarten immer erst dann die 
Rede sein kann, wenn man sich über die Transformationsgruppe ver- 
ständigt hat, an der man die Begrifisbildungen messen will. Ich bin 
schon seit Jahrzehnten dafür eingetreten, daß die Physiker die hierin 
liegende Auffassung, welche allein Klarheit schafit, bewußt aufnehmen 
möchten’). Insbesondere habe ich 1910 in meinem Vortrag über die 
geometrischen Grundlagen der. Lorentzgruppe®) ausdrücklich bemerkt, daß 
man nie von Relativitätstheorie schlechtweg reden sollte, sondern immer 
nur von der Invariantentheorie relativ zu einer Gruppe. — Es gibt so 
viele Arten Relativitätstheorie als es Gruppen gibt”). 

Die so formulierte Auffassung steht vielleicht im Gegensatz zu den 
Auseinandersetzungen, wie sie im Anschluß an Einsteins allgemeine Dar- 








5) Vergl. u. a. meinen Aufsatz „Zur Schraubentheorie von Sir Robert Ball“ im 
47. Bande der Zeitschrift für Math. und Physik (1902), (1906 im 62. Bande der Math. 
Annalen mit einigen Erweiterungen wieder abgedruckt). [S. Abh. XXIX dieser Ausgabe.) 
(Es werden dort wie im Text’nicht etwa neue physikalische Begriffsbildungen eingeführt, 
sondern es wird nur das, was bei eingehender Beschäftigung mit den Einzelproblemen 
von Vielen gemacht ist, auf ein klares mathematisches Prinzip bezogen.) 

6) Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Bd. 19 (1910), abge- 
druckt in der Physikalischen Zeitschrift, 12.Jahrgang, 1911. [S. Abh.XXX dieser Ausgabe. ] 

”) Vergleiche auch die Mitteilung über „Invariante Variationsprobleme“ von 
Frl. Nöther im Jahrgang 1918, Göttinger Nachrichten (Schlußbemerkung daselbst). 


XXXIIL Integralform der Erhaltungssätze usw. 591 


legungen zurzeit vielfach propagiert werden, nicht aber, worauf ich großen 
Wert lege, zu Einsteins eigenen weitergehenden Einzelentwicklungen. 
Vielmehr zeigen die Einsteinschen Arbeiten, die ich in der vorliegenden 
Note kommentiere, daß sich Einstein im einzelnen Falle — ohne den 
Gedanken systematisch zu fassen — genau der Freiheit der Ideenbildung 
bedient, wie ich sie in meinem Erlanger Programm empfohlen habe. 


82. 
Die Integrale Z,, I,“ für abgeschlossene Systeme. 


Unter einem „abgeschlossenen“ System versteht Einstein in seiner 
oben unter 3) genannten Mitteilung ein solches, welches sozusagen in einer 
Minkowskischen Welt „schwimmt“, d.h. ein System, dessen Einzelteil- 
chen eine Weltröhre durchlaufen, außerhalb deren ein ds? von verschwin- 
dendem Riemannschen Krümmungsmaß herrscht. Man kann dieses ds” 
mit konstanten Koeffizienten schreiben (ohne es darum gerade in die 
dz* + dy® + dz? 

ec? 
spricht dann von „Galileischen“ Koordinaten. Als solche sollen die w® 
außerhalb der Weltröhre fortan gewählt sein, innerhalb mögen sie, stetigen 
Übergäng vorausgesetzt, beliebig verlaufen. Über die Werte der ®/, BG 
im Inneren der Röhre kann dementsprechend nichts Besonderes ausgesagt 
werden, außerhalb aber sind sie jedenfalls Null. Denn es verschwinden 
dort nicht nur alle T/, sondern, wegen der Konstanz der g,, — wie ein 
Blick auf die Definitionsformeln (5), (6) zeigt —, auch alle U/, bez. U,'”. 

Das Innere der Weltröhre denken wir uns, den Punkten des Systems 
entsprechend, natürlich von einer kontinuierlichen Schar von Weltlinien 
durchfurcht, denen allen ein gemeinsamer positiver Sinn beizulegen ist. 
Irgendein die Weltlinie tangierender Vektor, der diesen Sinn markiert, 
möge die Komponenten dw!, ..., dw!V besitzen. 

Es liegt auf der Hand, welche dreidimensionalen Mannigfaltigkeiten 
(Hyperflächen) man als „Querschnitte“ Q der Weltröhre bezeichnen wird. 
Um uns bequemer ausdrücken zu können, werden wir in der Folge aus- 
schließlich solche Querschnitte in Betracht ziehen, welche von jeder Welt- 
linie nur in einem Punkte geschnitten werden. Drei voneinander unab- 
hängige, den Querschnitt tangierende Vektoren a a el mögen dann so 
gewählt werden, daß die Determinante 


dw! ... dwIV 


typisch Form di’ — 





setzen zu müssen): Einstein 








992 Zum Erlanger Programm. 


ein festes Vorzeichen erhält. Indem wir an das Beispiel: 
den 9 u, 
#:=08, 8 0; 9 
4:20, ay, du 
ae 9.6, 0, RR 
anknüpfen, wählen wir dieses Vorzeichen zweckmäßigerweise negativ. 
Dies vorausgesetzt bilden wir uns für den Querschnitt die vier 


Integrale 
2; ben 1, 
des vorigen Paragraphen. 


Im genauen Anschluß an die Einsteinschen Entwicklungen werden 
wir dann die Behauptung aufstellen, daß diese Integrale sowohl von der 
Auswahl der Querschnitte, als von der Koordinatenwahl, die wir im 
Innern der Röhre treffen mögen, unabhängig sind. Vom Standpunkte 
‘der die ganze Welt umfassenden affinen Transformationen der w definieren 
die I,, bez. I jedenfalls einen freien kontragredienten Vektor. Die von 
Einstein aufgestellten neuen Sätze besagen, daß diese Vektoren nur von 
dem materiellen Systeme als solchem, nicht aber von den Zufälligkeijen 
der analytischen Darstellung abhängig sind. 

Zum Beweise der neuen Sätze genügt es jedenfalls, solche zwei Quer- 
schnitte nebeneinander zu stellen, Q@ und Q, die zusammengenommen ein 
einheitliches .Stück der Weltröhre abgrenzen (die also einander nicht 
schneiden); — der allgemeine Fall, wo Q und Q einander durchdringen, 
erledigt sich hinterher mit Leichtigkeit dadurch, daß man einen dritten 
Querschnitt (@) hinzunimmt, der weder Q noch Q@ begegnet, und nun 
erstlich @ mit (Q), dann (Q) mit Q zusammenstellt. 

Im übrigen gliedert sich der Beweis (alles im Anschluß an Einstein) 
in zwei Teile: 

a) Wir denken uns zunächst das Koordinatensystem der w innerhalb 
und außerhalb der Weltröhre irgendwie nach Vorschrift gewählt. Wir 
denken uns dann das zwischen @ und Q befindliche Röhrenstück nach 
außen stetig abgerundet, so daß es von einer einheitlichen Hyperfläche 
umgrenzt erscheint, welche das Innere der Röhre in Q und Q durchsetzt. 
Die Integrale I,, I; geben, sinngemäß über diese geschlossene Hyperfläche 
erstreckt, gemäß dem vorigen Paragraphen sämtlich Null. Aber diejenigen 
Teile unserer Hyperfläche, welche über die Weltröhre hinausragen, liefern 
zu diesen Integralen — weil für sie die Integranden ®/, Br” selbst .ver- 
schwinden — überhaupt keinen Beitrag. Es bleiben die Beiträge der 
beiden Querschnitte Q@ und Q, die aber, wenn wir sie nach der früher 
verabredeten Vorzeichenregel berechnen, in das über die geschlossene 
Hyperfläche genommene Integral mit entgegengesetztem Vorzeichen ein- 


XXXIIH. Integralform der Erhaltungssätze usw. 593 


gehen. Da die Summe Null ist, werden die genannten Beiträge einander 
gleich sein, w. z. b. w. 

b) Nun kommt es noch darauf an einzusehen, daß die auf den ein- 
zelnen Querschnitt @ treffenden /,, I“ bei allen Abänderungen der w®, 
die außerhalb der Weltröhre verschwinden, tatsächlich ungeändert bleiben. 
Wir machen das in der Weise, daß wir uns zunächst innerhalb der Röhre 
zweierlei Koordinatensysteme, w und @, gegeben denken, die sich am 
Rande der Röhre beide in stetiger Weise an dasselbe äußere (Galileische) 
Koordinatensystem anschließen. Von dem ersteren machen wir Gebrauch, 
um für den Querschnitt @ die Integrale I., bez. de zu berechnen, von dem 
anderen für Q, wobei sich &s Werte I,, bez. I, ergeben mögen. Es ist zu 
zeigen, daß I, —=J,, bez. I/—=I;, und dieser Nachweis wird erbracht 
sein, wenn es-uns gelingt, eine dritte Koordinatenbestimmung, %, einzu- 
führen, welche sich entlang Q hinreichend genau an die der w, entlang Q 
desgleichen an die der @ anschließt, während sie längs des Mantels der 
Röhre und außerhalb derselben nach wie vor die dort herrschenden 
Galileischen Koordinaten liefert. ‚„Hinreichend genau“ heißt dabei, daß 
die Berechnung der V/, bzw. der V*” aus den © für den Querschnitt Q 
dieselben Resultate liefert, wie die Benutzung der w, und entsprechend 
für den Querschnitt Q dieselben Resultate, wie die Benutzung der i. 
Wegen der in den Formeln (5), (6) bei der Definition der V, V*” vor- 
kommenden Differentialquotienten der g,, genügt es in dieser Hinsicht, 
— nach einem Überschlag, den mir Herr Vermeil gemacht hat —, daß 
die w mit den w entlang Q auch noch in ihren drei ersten Differential- 
quotienten übereinstimmen, desgleichen mit dem ö# entlang @. Allen den 
solcherweise der Koordinatenbestimmung w auferlegten Bedingungen ge- 
nügt man nun offenbar durch folgendes Beispiel: Man führe die 
Gleichungen ein, welchen die Querschnitte Q, Q bzw. in den und den w 
genügen. Sei f(#) — 0 die erste dieser Gleichungen, f(w) = 0 die zweite. 
Ich schreibe dann einfach: Fu)‘ a 

= w)) w+\f(w)) -w 
2 (Fo) +)‘ 
und habe damit in der Tat allen Bedingungen entsprochen. Unser zweiter 
Nachweis ist also erbracht und damit der Beweis der neuen Sätze über- 
haupt erledigt. 





8 3. 
Endgültige Festlegung freier Impuls-Energievektoren für das 
abgeschlossene System. 
Die I,, bez. /* bilden natürlich die Grundlage für die dem ab- 
geschlossenen System beizulegenden Impuls-Energievektoren. Zur vollen 


Festlegung der letzteren wird es aber noch notwendig sein, die Dimen- 
Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. I. 38 


594 Zum Erlanger Programm. 


sionen der miteinander verbundenen Größenarten in Betracht zu ziehen. 
Auf Seite 569 meiner vorigen Note wurde verabredet, dem ds? die Dimen- 
sion sek” beizulegen. Wollen wir dementsprechend nun voraussetzen, daß 


die benutzten w® sämtlich die Dimensionen sek*! haben. Die ae: 
und das g sind dann dimensionslos, die K, U/, U’, U*°, 1,*”, werden 
übereinstimmend von der Dimension sek "?. Da die Gravitationskonstante x 


o O% 
T T 


die Dimension gr"!cm*! besitzt, erhalten die a die Dimension 
x 





gr*'cm”'sek”*, d.h. die Dimension einer „spezifischen“ (auf die Raum- 
einheit bezogenen) Energie. Es stimmt das damit, daß sie in den 
RB’, VB” mit den T additiv zusammentreten. 

Nun werden diese ®/, %° unter den Integralzeichen 7,, I“ mit drei- 
gliedrigen Determinanten multipliziert, die, nach unserer Verabredung über 
die Dimension der w, selbst die Dimension sek*? haben. Offenbar muß 
ich, um die Dimension einer eigentlichen Energie zu bekommen, den /,, 


I” noch den Faktor c? (c— Lichtgeschwindigkeit) hinzufügen. In Über- 
einstimmung hiermit sollen als freie Impuls-Energievektoren des vor- 
gelegten abgeschlossenen Systems endgültig die Größenquadrupel : 


(14) ec 1.07 


bezeichnet werden. Zahlenfaktoren, die noch zweifelhaft sein könnten, 
sollen nicht weiter beigefügt werden; auch soll an unserer Vorzeichen- 
bestimmung festgehalten werden. 

Den Beweis für die Richtigkeit dieses Ansatzes erblicke ich darin, 


daß in der Definition unserer J* Einsteins eigene Definition des zu dem 
abgeschlossenen System gehörigen Impuls-Energievektors eingeschlossen ist. 


Um dies einzusehen, werden wir in unserer Definition der J * zunächst den 
Faktor c? wieder wegstreichen (weil nämlich Einstein solche Maßeinheiten 
zugrunde legt, daß c= 1 wird, was für den in Betracht kommenden Ver- 
gleich eine bloße Äußerlichkeit ist). Dann aber müssen wir, was eine 
wirkliche Partikularisation ist, den Querschnitt Q so wählen, daß er bei 
der uns gelassenen Freiheit der Koordinatenwahl durch die Gleichung 
w!V = () dargestellt werden kann. Um die Tragweite dieser Einschränkung 
einzusehen, überlege man, daß die Galileischen Koordinaten außerhalb 
der Weltröhre bis auf eine affıne Transformation festgelegt sind. Die 
neue Bedingung läuft also darauf hinaus, den Querschnitt & so zu wählen, 
daß er den Mantel der Weltröhre unseres Systems in einem Gebilde durch- 
setzt, welches, von außen her gesehen, bei zunächst willkürlich angenom- 
menen Galileischen Koordinaten durch eine lineare Gleichung dar- 
gestellt wird, 


XXXIII. Integralform der Erhaltungssätze usw. 595 


Wollen wir nun in der Tat annehmen, daß entlang des Querschnittes 


wIV verschwindet, also d’ wIv, d’ wIv, d” wIV eo ipso Null sind. Unser 
Integral I reduziert sich dann (indem wir c=1 setzen) auf 





dw ... d’wur 
je d’wI ...d’ win 
\d” w! : dd" yim 
also, wenn wir auf die gewöhnliche Schreibweise zurückgehen, auf 
(15) ESS B dw!dwil dwiH, 


was bis auf die Buchstabenwahl genau die Einsteinsche Formel ist. 

Diese Formel ist ja, äußerlich genommen, ohne Zweifel einfacher, 
als die von mir zugrunde gelegte. Dafür ist dann der Vektorcharakter 
der J, wie ihn Einstein behauptet aber nicht ausführlicher begründet 
hatte, schwieriger einzusehen. In längerer Korrespondenz mit Einstein 
wollte mir in der Tat ursprünglich nicht gelingen, diesen Vektorcha- 
rakter zu begründen, bis ich zu der Graßmannschen Schreibweise 
der Integrale griff, von der ich oben ausging, Damit war aber 
auch die von mir gewählte Verallgemeinerung des Querschnittbegriffs 
gegeben. 

Bleibt der wesentliche Unterschied gegen die Einsteinsche Dar- 
stellung, daß ich neben den Vektor J * als gleichberechtigt den Vektor J, 
stelle, — indem ich, unter dem Integralzeichen, statt der Einsteinschen 


= ee die Lorentzschen Ur setze. Daß die J, und die J: im all- 


gemeinen verschieden sind, werden wir sogleich an einem Beispiele ein- 
sehen. Ich würde dem abgeschlossenen System danach sogar unendlich 
viele verschiedene Impuls-Energievektoren zuordnen können, wenn ich z. B. 


o 


statt t’ das Aggregat t/ +4 (® — >) setzen wollte, unter A irgendeine 


numerische Konstante verstanden. Überhaupt würde ich statt der t/ 
irgendein U, setzen dürfen, das sich von den t/ nur um einen Term der 
erforderlichen Dimension unterscheidet, welcher gegenüber affinen Trans- 
formationen einen gemischten Tensor vorstellt, der außerhalb der Welt- 
röhre identisch verschwindet, im Inneren aber eine verschwindende 
Divergenz hat. Welcher von diesen unendlich vielen Vektoren zu 
bevorzugen ist, bleibt, solange ich nur das Bestehen der Integralsätze 
verlange, unentschieden. Eine Entscheidung kann nur getroffen wer- 
den, wenn man neue Gründe heranbringt, die einen bestimmen, unter 
den unendlich vielen Formen des Differentials gerade eine einzelne zu 
bevorzugen. 


38* 


996 Zum Erlanger Programm. 


IH. Einsteins räumlich geschlossene Welt (Zylinderwelt). 
84. 
Der geschlossene Raum konstanter positiver Krümmung. 


In Einsteins Note vom Februar 1917 ist nur erst der Möglichkeit 
eines sphärischen Raumes gedacht, wie er aus einer Mannigfaltigkeit von 
vier Dimensionen (=£,n, £, ®), deren Bogenelement durch die Gleichung 


(16) do?—dE’+dn?+di”’+do? 
gegeben ist, unmittelbar durch die „Kugelgleichung“ 
(17) ++” +o=R 


ausgeschnitten wird®). Für den Kenner der geometrischen Literatur ist es 
wohl selbstverständlich, daß ich Einstein damals gleich auf meine alten 
Untersuchungen über Nicht-Euklidische Geometrie von 1871 aufmerksam 
machte, denen zufolge sich neben die sphärische Raumform eine andere 
geschlossene Raumform konstanter positiver Krümmung stellt, der ellöptische 
Raum (wie er von mir in Verbindung mit meinen sonstigen Betrachtungen 
damals genannt wurde). Man erhält ihn aus dem sphärischen Raum, in- 
dem man einfach je zwei diametral gegenüberstehende Punkte der Kugel 
durch Zentralprojektion auf einen berührenden linearen Raum zusammen- 
faßt. Wir mögen dementsprechend setzen: 














(18) | x=R-, y-RZ, z=R-. 
Rückwärts wird dann: 
2 
da 2 = ee a 
Vx®+y®+z2+R° Ve?+ty®+z2+R° 


Der elliptische Raum ist einfacher als der sphärische, indem sich 
seine geodätischen Linien schlechtweg als gerade Linien darstellen (die 
sich, wenn sie sich überhaupt treffen, immer nur in einem Punkte 
schneiden?)); die Länge einer solchen geodätischen Linie ist Rn, der 





®) Unter „Raum“ soll fortan durchaus ein dreidimensionales Gebiet verstanden 
werden (das in der vierdimensionalen „Welt“ enthalten ist). 

®), Deshalb steht der elliptische Raum voran, wenn man, wie ich das 1871 
tat, von den Grundbegriffen der projektiven Geometrie ausgeht. Er ist dann dem 
hyperbolischen Raume (dem Raume von Bolyai und Lobatschewsky), wie dem 
parabolischen Raume (dem Euklidischen Raume) direkt nebengeordnet, und es 
heißt dieses Sachverhältnis gründlich verkennen, wenn man, wie es bei der Mehr- 
zahl der Autoren immer wieder heißt, die Formeln (18) als eine „Abbildung“ des. 
sphärischen Raumes auf den „Euklidischen“ bezeichnet. „Euklidisch“ wird der 
Inbegriff der Wertsysteme dreier Variabeln x, y, z erst, wenn wir die Differen- 
tialform dz?+dy?+dz? hinzunehmen, — oder, für die gruppentheoretische Auf- 
fassung, wenn wir die Gesamtheit der projektiven Umformungen der x, y,z (deren 
Invariantentheorie die projektive Geometrie ist) durch die Untergruppe derjenigen 


XXXIII. Integralform der Erhaltungssätze usw. 597 


Gesamtinhalt des Raumes R’r? (statt 2Rr, bez. 2 R” x? im sphärischen 
Falle). 

Bei der bloßen Angabe des Bogenelementes tritt der Unterschied der 
beiden Raumformen natürlich noch nicht hervor!°). Ich kann das durch 
(16) und (17) gegebene do” ebensowohl für den elliptischen Raum ge- 
brauchen wie seinen in x,y,z umgerechneten Wert: 

R’ 2 2 
20). do’ = 3{R (d2e’+dy”+dz’ dz — zdy)” 
(20) PRFTEIZIN (de? +dy?’+dz2?)+(y y 
+(zdx — xdz)’+(xzdy— ydx)’} 
im sphärischen Falle, oder auch beidemal den in Polarkoordinaten aus- 


gedrückten Wert: 
(21) do? — R’ (d#° + sin?9-dp? + sin?#sin?p-dy?). 





85. 
Einsteins „Zylinderwelt“ und deren Gruppe. 


Weiterhin soll do?, wie im vorigen Paragraphen, — auch: ohne daß 
wir das Koordinatensystem spezifizieren — kurzweg das Quadrat des 
Bogenelementes eines geschlossenen Raumes von der konstanten Krüm- 


mung = bedeuten, möge dieser nun sphärisch oder elliptisch angenommen 


werden. Der Anstieg zu Einsteins räumlich geschlossener Welt wird sich 


dann einfach so vollziehen, daß wir 


(22) de? —di® — 2% 


c 
setzen und übrigens # von — oo bis + 00 (unter Ausschluß dieser Grenzen ) 
laufen lassen. (Dimension und Vorzeichen dieses ds? stimmen mit unseren 


allgemeinen Verabredungen. Berechnen wir danach formal das Krümmungs- 


maß für den Raum #5 = Konst., so erhalten wir — = Dieses negative 


FR 





ersetzen, welche die genannte Differentialform ungeändert lassen. — Ich bringe 
alle diese Dinge, die anderweitig bekannt genug sind, in der gegenwärtigen Mit- 
teilung, die doch auch für Physiker bestimmt ist, zur Sprache, weil sie im Phy- 
sikerkreise unter Nachwirkung der einseitigen, auf 1868 zurückgehenden Helm- 
holtzschen Tradition immer noch wenig verbreitet scheinen. 

10) Mit der Angabe des do? ist in der Tat der „Zusammenhang“, den die 
zugehörige Raumform im Großen zeigt, noch nicht bestimmt. Auch dieses wird 
in der zeitgenössischen Literatur immer noch vielfach nicht beachtet. Für Räume 
konstanter Krümmung habe ich die einschlägigen Verhältnisse in einer Abhand- 
lung von 1890 [Math. Annalen, Bd. 37 (siehe Abhandlung XXI dieser Ausgabe )), ein- 
gehend behandelt. Von Lehrbüchern geht hierauf insbesondere dasjenige von Killing 
ein (Einführung in die Grundlagen der Geometrie, Teil I, 1893). Ich verweise auch 
gern auf neuere Veröffentlichungen von Hadamard und Wepyl. 


898 Zum Erlanger Programm. 


Vorzeichen entspricht natürlich nur dem Umstande, daß das in (22) ein- 
geführte ds für den genannten Raum rein imaginär wird; es liegt also 
kein Widerspruch gegen den vorigen Paragraphen vor, wo wir den Raum 
kurzweg als einen solchen konstanter positiver Krümmung bezeichnet haben.) 

Wir fragen in erster Linie nach der größten kontinuierlichen Gruppe 
von Koordinatentransformationen, durch welche das ds? (22) in sich 
übergeht. 

Von vornherein ist klar, daß zum mindesten eine @, solcher Trans- 
formationen existiert. Denn es gibt bereits eine kontinuierliche @,, welche 
do” in sich überführt: um an (16) anzuknüpfen, der Inbegriff der ortho- 
gonalen Transformationen der &,n,{, von der Determinante +1, Zu 
ihr tritt dann noch die @,, welche einer Vermehrung von # um eine be- 
liebige Konstante entspricht. Die so gewonnene G, ist gewiß transitiv. 
d.h. man kann durch sie jeden Weltpunkt in jeden anderen, beispiels- 
weise in den Punkt =0, = 0 überführen (um von dem in (21) ein- 
geführten Polarkoordinatensystem Gebrauch zu machen). Möge dieser 
Punkt kurzweg O heißen; um ihn herum ist noch eine kontinuierliche G, 
von Raumdrehungen möglich. 


Wir behaupten nun, daß es auch keine größere kontinuierliche Gruppe 
von Koordinatentransformationen gibt, die ds? in sich überführt, als eben 
unsere G@,.. Zu dem Zwecke genügt es zu zeigen, daß bei festgehaltenem O 
eben nur die genannte @, von Drehungen besteht. Zum Beweise führe 
man von O auslaufende „Riemannsche Normalkoordinaten“ ein. Man 
erreicht dies beispielsweise, indem man t als Variable beibehält und statt 
der Polarkoordinaten 9, @, w die Verbindungen einführt: 


(23) y = 29-0089, y, = = 9.sin p cos y, y = 2 9-sin p siny. 


Schreiben wir noch für # der Gleichförmigkeit wegen y,, so erhalten 
wir für ds? 
(241) d’=(dy} day day —-dy)t za I (udyn— udyı)? 

1,9,3 


+- Glieder höherer Ordnung in den %,, Ya, Ya» 


was zeigt, daß wir es in der Tat mit Normalkoordinaten zu tun haben. 
Was nun die Transformationen von ds? in sich angeht, so haben wir, 
da O festbleiben soll, gemäß der allgemeinen Theorie der Normalkoordi- 
naten nur mehr nach der größten kontinuierlichen Gruppe homogener 
linearer Substitutionen der y zu fragen, welche dieses ds? in sich ver- 
wandelt. Die beiden hingeschriebenen Terme der ds? müssen dabei, ihrer 
Dimensionen halber, jeder für sich in sich übergehen. Es ist danach klar, 
daß y, ungeändert bleiben muß, während y,, Y,, %, höchstens der kon- 


XXXIL Integralform der Erhaltungssätze usw. 599 


tinuierlichen Gruppe ternärer orthogonaler Substitutionen von der Determi- 
nante 1 unterworfen werden können. Damit aber sind wir bereits am Ziele. 


Nach dem so bewiesenen Satze ist es vielleicht gestattet, Einsteins 
räumlich-geschlossene Welt kurzweg als Zylinderwelt zu bezeichnen, weil 
sie sozusagen die Symmetrie eines Rotationszylinders besitzt: beliebige 
Verschiebung längs der t-Achse und beliebige Drehung um O bei fest- 
gehaltenem #. Natürlich ist die Analogie keine vollkommene, weil ebenso- 
wohl um einen beliebigen anderen Punkt (als O) gedreht werden kann. 
Ich möchte auch keinen bleibenden Term einführen, sondern nur ad hoc 
einen kurzen Ausdruck haben, der den Gegensatz gegen die im nächsten 
Abschnitt zu behandelnde de Sittersche Hypothese B markiert. 


Im übrigen werden wir sagen dürfen, daß im vorliegenden Falle, 
nachdem wir uns über die Zeiteinheit und den Anfangspunkt der Zeit- 
rechnung geeinigt haben, der Zeitbegriff weiter keine Willkür enthält'*), 
oder, wenn man es lieber so ausdrückt, daß innerhalb der vierdimensionalen 
Welt die dreifach ausgedehnten Räume it = Konst. Mannigfaltigkeiten ui 
generis sind. Also eine bemerkenswerte Annäherung an die Vorstellungs- 
weisen der klassischen Mechanik. 

Dies ist, wenn man die physikalische Überlegung erwägt, von der 
aus Einstein die Zylinderwelt eingeführt hat, von vornherein selbstver- 
ständlich. Um nämlich die Gesamtheit der Massenverteilungen und Ge- 
schehnisse der Welt vom höheren Standpunkte zu übersehen, fingiert Ein- 
stein zunächst einen Durchschnittszustand, bei welchem die Gesamtheit 
der Massen in dem als geschlossen vorausgesetzten Raume inkohärent und 
gleichförmig verteilt ist, und innerhalb dieses Raumes, während it von 
— 00 bis + oo läuft, ruht. Die wirklichen Massenverteilungen und Ge- 
schehnisse sollen als Abweichungen von diesem Durchschnittszustand auf- 
gefaßt werden. An diesem Durchschnittzustand gemessen ist dann die 
Zeit (oder genauer die in verabredeter Einheit gemessene Zeitdifferenz 
zweier Weltpunkte) eo ipso etwas Absolutes, der Raum in sich homogen '?). 
Ihren präzisen mathematischen Aüsdruck aber findet diese Auffassung in 
der Invariantentheorie unserer @,. 

Besonders interessant ist es noch, zu sehen, wie sich unsere @, zur 
Lorentzgruppe @,, erweitert, man also zu den Vorstellungen der ‚speziellen‘ 
Relativitätstheorie kommt, wenn man das Krümmungsmaß unseres Raumes 
verschwindend nimmt, d.h. R= oo setzt. Unser ds? (22) reduziert sich 





11) So auch bei de Sitter |. c. vermerkt. 

12) Daß der Raum dabei noch nach Belieben sphärisch oder elliptisch voraus- 
gesetzt werden kann, hat Einstein s. Z. ohne weiteres gutgeheißen. Übrigens be- 
handelt auch de Sitter diese beiden Annahmen immer nebeneinander. Ebenso auch 
das neue Weylsche Buch (Raum, Zeit, Materie). 


600 Zum Erlanger Programm. 


dann nämlich überhaupt auf seinen ersten Term'?): dy} — dy} — dy? — dy? 
und bleibt danach bei allen homogenen linearen Substitutionen der dy,, 
dy,, dy,, dy, ungeändert, welche diese einzelne quadratische Form in 
sich transformieren. Damit hört y,=t auf, eine für sich stehende 
Variable zu sein, kombiniert sich vielmehr: bei den zulässigen Substitu- 


tionen mit den Y,, Ya, Y,, wie dies gerade das Wesen der speziellen 
Relativitätstheorie ausmacht. ' 


8 6. 
Die Feldgleichungen der Zyliaderwelt. 


Wir müssen noch bestätigen, daß die Annahme einer den ganzen 
Raum gleichförmig erfüllenden, ruhenden Materie, sagen wir von der 
konstanten Dichte o, mit den für unser ds? aufgestellten Einsteinschen 
Feldgleichungen in der Tat verträglich ist. Gedacht ist dabei natürlich 
an die Feldgleichungen „mit A-Glied‘“, von denen bereits in meiner vorigen 
Note (Formel 57) die Rede war: 


(25) Kr Age» — To, =. 

| Da die Verteilung der Materie im Raume eine durchaus gleichförmige 
sein soll, genügt es, die Verifikation für den Punkt O zu machen. Auch 
werden wir, da es sich um eine Relation zwischen Tensorkomponenten 


handelt, von vornherein das in Normalkoordinaten geschriebene ds? (24) 
zugrunde legen dürfen. 

Von hier aus aber findet man ohne alle besondere Rechnung, vgl. die 
Note von Vermeil in den Göttinger Nachrichten vom 26. Oktober 1917 
(„Notiz über das mittlere Krümmungsmaß einer n-fach ausgedehnten 
Riemannschen Mannigfaltigkeit“): 


‚2 3.02 
(26) K,ı = Ko a Kos ee ee nz Ku = 


während alle anderen K,, verschwinden. 


Nun hat man für den Punkt O bei Zugrundelegung der Normal- 
koordinaten: 


(27) alle 7,,=0, bis auf T,,=c°o. 
Daher ergeben die Feldgleichungen (25): 


an 8 
I 
nn» 

| 

Si 
Le) 

| 

[} 





13) Nicht nur der zweite Term, sondern auch alle höheren Terme fallen fort. 


XXXI. Integralform der Erhaltungssätze usw. 601 


was mit dem von Einstein selbst gegebenen Resultate stimmt (sofern 
man noch c? = 1 setzt). 

Hierzu die Bemerkung, daß sich für K selbst folgender konstanter 
Wert berechnet: 


(29) K-. 


Für die Anwendung auf das Weltall bleibt natürlich der unseren 
heutigen Kenntnissen der Stellarastronomie mit einiger Wahrscheinlichkeit 
entsprechende Wert von R abzuschätzen. Dies hat de Sitter in seiner 
. wiederholt genannten Mitteilung ausgeführt. Ich führe gern sein Resultat 
an, damit man sieht, daß Einsteins kosmologische Betrachtung, deren 
mathematischen Inhalt allein wir hier behandeln, doch auch physikalisch 
nicht völlig in der Luft hängt. Man hat nach de Sitter 


R= 10" bis 10°” Halbmessern der Erdbahn 


zu nehmen. Die Dichte o wird so gering, daß nur etwa 10 ”" gr Masse 
auf den, Kubikzentimeter treffen, d. h. in etwa 100 Kubikzentimetern 
befindet sich die Masse eines Wasserstoffmoleküls. Die Konstante A aber 


6) 


wird beiläufig 10°” sek”. 


53; 
Die Integralsätze für die Zylinderwelt. 


Nimmt man die Feldgleichungen mit A-Glied, so sind, wie ich in $ 7 
meiner vorigen Note im Anschluß an Einsteins Entwicklungen ausführte, 


and = U*?, damit die Erhaltungssätze gewahrt bleiben, durch 


(30) Ü=U.+410, R-nR+lo 

zu ersetzen. Wir werden dementsprechend statt der Integrale /,., bez. 
I; des $1 Integrale I, bez. I, bilden und von vornherein sicher sein, daß 
diese Integrale, genommen über solche geschlossene Hyperflächen, welche 
einen Teil der Zylinderwelt abgrenzen, verschwinden. 

Nunmehr wird der Begriff des Querschnitts, den wir in / für die da- 
mals betrachtete „Weltröhre‘“ benutzten, zu übertragen sein. Wir werden 
als solchen eine sonst beliebige geschlossene Hyperfläche bezeichnen wollen, 
welche jede Weltlinie der Zylinderwelt, d. h. jede Parallele zur t-Achse, 
einmal schneidet. Das einfachste Beispiel bilden die „Räume‘‘ t = Konstans. 

Wir werden dann wie früher den Doppelsatz haben: 


1. daß die Integrale /,, bez. I,, genommen für einen beliebigen 
Querschnitt, einen von dessen Auswahl unabhängigen Wert haben; 


602 Zum Erlanger Programm. 


2. daß dieser Wert auch nicht davon abhängt, welche Koordinaten 
man bei der Ausführung der über den Querschnitt hinerstreckten Inte- 
gration benutzt. 

Nur das wird sich ändern, daß es nicht mehr angeht, den Inbegriff 


der Integrale I., bez. I: als einen (freien) Vierervektor zu bezeichnen. 
Denn für diese Benennung fehlt, gemäß der Natur unseres G,, die gruppen- 
theoretische Grundlage. Jedenfalls gilt: 


I 4, bez. I; wird von Hause aus für sich stehen. Wir mögen seinen 
Wert, mit c® multipliziert, als Gesamtenergie der Zylinderwelt bezeichnen. 
Um die Klassifikation der Größen /,, I,, I, aber (bez. der I* 


I ee: E ) brauchen wir uns nicht viel zu kümmern, da man sich auf ver- 
schiedenartige Weise überzeugen kann, daß sie sämtlich Null sind. 


Erstlich folgt dies (wie auch Einstein betr. der /, ausführt) aus 
Symmetriegründen. Ich resumiere die Sache von meinem Standpunkte 
aus. Wenn wir an den Normalkoordinaten y festhalten, so werden von 
den oo® kontinuierlichen Transformationen, die den Raum y, = 0 in sich 
überführen, natürlich nur die 00° sich als homogene lineare Substitu- 
tionen der %,, %,, %, darstellen, welche Drehungen des Raumes um O vor- 
stellen. Aber es genügt für unsere Zwecke auch, die von ihnen gebildete 
Untergruppe zu betrachten. Ihr gegenüber werden sich die U}, U,,U; 
(und ebenso die U”, U,°, U,”) wie die Komponenten eines dreidimen- 
sionalen Tensors, also die /,,I,,I, (bez. die I*,I,, I/) wie die Kom- 
ponenten eines von O auslaufenden Dreiervektors verhalten. Nun ist 
aber die Zylinderwelt, wie wir wissen, um OÖ herum räumlich isotrop. 
Besagter Dreiervektor muß also bei einer beliebigen Raumdrehung um O 
herum ungeändert bleiben, und das kann er nur, wenn seine sämtlichen 
Komponenten verschwinden. ss 

Zweitens mögen wir den Weg direkter Rechnung beschreiten. Wir 
wählen als den Querschnitt, über den unsere Integrale zu erstrecken sind, 
irgendeine der Mannigfaltigkeiten 4, — Konst. Innerhalb derselben mögen 
irgendwelche Koordinaten w!, wII, w!IT eingeführt gedacht werden. Die 


Integrale /,, bzw. I ‚ werden dann, gemäß den Darlegungen von $ 3, in 
der abgekürzten Form geschrieben werden können: 


(31) L -[([[ (T +10) VZg-dw!dwidwin 
bez. 
(31*) I*= [SS S(T?+%)V-g: dw! dw dwil, 


Die direkte Rechnung ergibt nun, daß die 17,.0.,:% Br x—1,2;3 
sämtlich verschwinden. 


XXXII. Integralform der Erhaltungssätze usw. 603 


Für die Gesamtenergie der Zylinderwelt haben wir mit diesen Formeln 
die Ausdrücke gewonnen: 


(32) ne || (+20) V-gdw!dwildwin, 

bez. 

(32*) H=cSS SITE +E)V-gdw!dwi! dw, 

Der Energiebetrag stellt sich danach in dem einen wie dem anderen 
Falle als Summe zweier Summanden dar. — Wir mögen denjenigen 


Summanden, der 7} entspricht, als Massenenergie bezeichnen, den anderen 
als die Gravitationsenergie. 


Die Massenenergie berechnet sich jetzt ohne weiteres. 7% nämlich 
wird, wie wir auch die w/, wI!, wIH wählen mögen, gleich c?o, und 


® V—-gdw!dwH dw! jst nichts anderes, als das Volumelement dV unseres 
Raumes y, = Konst. Die Massenenergie wird also einfach c’oV, unter 
V das Gesamtvolumen des Raumes verstanden, also, je nachdem wir die 
sphärische oder die elliptische Hypothese annehmen wollen, 2n?R® 
oder n? R®. 

Für die Gravitationsenergie aber hat Einstein in seinem Falle, also 
bei Zugrundelegung der Formel (32*), indem er räumliche Polarkoordinaten be- 
nutzte, Null gefunden. Das d V wird in diesem Falle =sin’#sinp-dddypdy, 
RR 
sin?d ’ 
Resultat der Integration wird Null, weil das [cos2%-d# von 0 bis a 
zu nehmen ist. — Dieses Ergebnis ist gewiß sehr bemerkenswert. Da es 
von der Wahl der w!, wIT, wII unabhängig sein muß, fragt es sich, ob 
man statt der Polarkoordinaten, die eine (von Einstein nur angedeutete) 
längere mechanische Rechnung mit sich bringen, nicht zweckmäßiger- 
weise andere einführen soll. Ich möchte vorschlagen, durchweg mit den 
überzähligen Koordinaten £&, n, &, ® des $ 4 (zwischen denen dann die 
Abhängigkeit ®?-+-n?+[’+o’= u besteht) zu operieren. Man wird 
dann natürlich die Grundformeln der Tensorrechnung auf den Fall ab- 
hängiger Koordinaten verallgemeinern müssen, wozu indes alle Ansätze 
in der Literatur vorliegen. Ich vermute, daß bei Durchführung dieser 
Umsetzung nicht nur das Integral über die Gravitationsenergie sämtlicher 
Volumelemente des Raumes, sondern bereits das dem einzelnen Volum- 
element entsprechende Differential verschwinden dürfte, wodurch doch 
eine verbesserte Einsicht in die Einfachheit des Einsteinschen Resul- 
tates erreicht wäre. 


das ?} (wenn ich die Einsteinsche Terme zusammenziehe ) das 


So viel über das f}. Das Neue, was ich nun auszuführen habe, ist, 
daß wir ein ganz anderes Resultat bekommen (und dies gleich ohne kom- 


604 Zum Erlanger Programm. 


plizierte Rechnung), wenn wir an Stelle des t} das n Ut, also an Stelle 


von J, das J, wählen. — U% ist, wie wir wissen = U}+4. Wenn wir 
nun auf die oben unter (5) wieder angeführte Formel für U} zurück- 
greifen, so zeigt sich, daß im Falle der Zylinderwelt, bei beliebiger Wahl 
der w!, wII, wIII, alle Terme bis auf den ersten fortfallen. U} wird ein- 
fach=3K und also 


Tax EN 
(33) U=;K 41-7 





Es hat also einen konstanten, aber nicht verschwindenden Wert. Infolge- 
dessen wird bei Zugrundelegung der U} die Gravitationsenergie der Zy- 
linderwelt nicht etwa Null, sondern doppelt so groß wie die Massen- 
energie. 

Die hiermit festgelegte Sachlage hat ersichtlich eine über den Fall 
der Zylinderwelt hinausreichende Bedeutung. Sie zeigt am Beispiele, daß 


o 


die Energiekomponenten = auch für die Integralformen der Erhaltungs- 


sätze allgemein andere Resultate als die £? geben. Dies ist, was ich in 
der Einleitung das Hineinspielen eines subjektiven Momentes in die Auf- 
stellung der Energiebilanz genannt und in seiner Tragweite für abge- 
schlossene Systeme am Schlusse von $3 näher erläutert habe. Das Er- 
gebnis ist an sich gewiß in keiner Weise wunderbar, aber widerspricht 
doch dem Eindruck, den man beim ersten Durchlesen der Einstein- 


schen Note hat, als sei es ein ausschließlicher Rechtstitel der i/, zu ein- 
fachen Integralsätzen zu führen. 


Il. Über de Sitters Hypothese B. 


In seinen wiederholt genannten Mitteilungen, insbesondere in Note 3 
der Monthly Notices, hat de Sitter die Annahme der Zylinderwelt, die 
er als Hypothese A bezeichnet, u. a. dahin modifiziert, daß er statt der 
Zylinderwelt — unter Aufrechterhaltung der für ds? charakteristischen 
Vorzeichen — eine Welt konstanter Krümmung setzte. Es ist dies die 
von ihm mit B bezeichnete Hypothese'*); ich stelle mir die Aufgabe, die 
hierbei vorkommenden Verhältnisse durch möglichst einfache Formeln über- 
zeugend darzulegen. Das Wesentliche meiner Überlegungen findet man 





14) de Sitter bemerkt, daß ihm diese Annahme (die sich dem Mathematiker 
durch ihre Symmetrie empfiehlt) zunächst durch Ehrenfest vorgeschlagen worden 
sei. Ich selbst habe in meinen Vorträgen vom Frühjahr 1917 (deren Ausarbeitung 
in einer kleinen Zahl von Exemplaren verbreitet ist), indem ich über Einsteins da- 
mals eben erschienene „Kosmologische Betrachtungen“ referieren wollte, aber die 
Formeln nicht genau verglich, unwillkürlich denselben Ansatz gemacht und mich dann 
später, als ich zur Ausarbeitung der physikalischen Folgerungen schritt, gewundert, 
daß die Resultate mit den von Einstein für seine Zylinderwelt angegebenen natür- 
lich nicht stimmen wollten. 


XXXIII. Integralform der Erhaltungssätze usw. 605 


übrigens bereits in den Protokollen über die Sitzungen der Göttinger 
Mathematischen Gesellschaft vom Sommer 1918 angegeben, die in dem 
im Oktober 1918 ausgegebenen Hefte des Jahresberichts der Deutschen 
Mathematiker-Vereinigung abgedruckt sind (schräge pagina, 8. 42—44). 
Vgl. auch eine Mitteilung an die Amsterdamer Akademie (Verslag vom 
29. Sept. 1918). 


88. 

Die geometrischen Grundlagen für die Welt konstanter Krümmung. 

Wir werden der Annahme, daß die Welt eine Mannigfaltigkeit kon- 
stanter Krümmung sei, in einfacher Weise gerecht werden, indem wir bei 
fünf Variabeln mit Änderung eines Vorzeichens die gewöhnliche Gleichung 
einer Kugel anschreiben, und auf dieser „Pseudokugel“ euklidisch messen '?). 
Dabei wollen wir indes, um die frühere Verabredung betr. die Dimension 
der Variabeln einzuhalten, den Radius nicht R, sondern - nennen; wir 


werden ebenso, der Konsequenz halber, das übliche Vorzeichen von ds” 
umkehren. Ich schreibe also als Gleichung der Pseudokugel 
2 


(34) 4 +40 
und für das zugehörige ds*: 
(35) — ds? = d£&? +dn? + dl? — dv’+dw?. 


Die hierdurch gegebene pseudosphärische Welt (£,n,£,v, @) hat 
wegen des dem ds”? zugesetzten Minuszeichens das konstante (Riemann- 


2 
sche) Krümmungsmaß — 2% Im übrigen geht sie durch eine kontinuier- 


liche G,, „pseudoorthogonaler‘‘ Substitutionen, d. h. geeigneter linearer homo- 
gener Substitutionen der £,n,{,v, ® in sich über, nicht aber, wie man 
leicht nachweisen kann, durch eine noch umfassendere Gruppe. 

An ihre Seite stellen wir dann gleich eine pseudoelliptische Welt, in- 
dem wir, unter Beibehaltung des in (35) gegebenen ds”, schreiben: 





(36) RL SEN u air: > 
c [) c [727 c [777 c [07 
woraus rückwärts 
Ri 
(37) $=- : ’ Kr u e—. 





eVartytynouer 





oO) == 





== = 
aVaryıru4 — 
15) Die Vorschlagssilbe „pseudo“ soll immer auf das Auftreten eines abweichen- 
den Vorzeichens hinweisen. 





606 Zum Erlanger Programm. 


Diese £, n, £, v, ® werden wir bei Behandlung der pseudoelliptischen 
Welt zum Homogenisieren der Gleichungen gebrauchen können (wie viel- 


fach geschehen soll). Bemerken wir noch, daß 
R’ 


(38) 2’ y?+2° u’ + .ı (+n’+—v'+ot) | 


w? Ze a 


R' 





insofern wir uns, wie selbstverständlich, auf reelle Werte der ursprüng- 
lichen Koordinaten &,...,w beschränken, immer positiv ist. 


Wir werden nun der Kürze wegen allein von dieser pseudoelliptischen 
Welt sprechen (also die pseudosphärische beiseite lassen) und ich muß 
‚schon den Leser bitten, mich hierbei durchaus projektiver Auffassungen 
bedienen zu dürfen, welche allein den in Betracht kommenden Verhält- 
nissen wirklich gerecht werden. Ich will in dieser Hinsicht eine Reihe 
von Aussagen, die dem geschulten Geometer selbstverständlich sind, kurz 
zusammenstellen: 


1. Es handelt sich in der pseudoelliptischen Welt um eine projektive 
Maßbestimmung, deren Fundamentalgebilde durch 


: 2 
(39) +yte ut 


gegeben ist und, der Analogie nach, fortan kurz als (zweischaliges) Hyper- 
boloid bezeichnet sein mag. Nach der Vorzeichenbestimmung (38) be- 
finden wir uns zwischen den Schalen dieses Hyperboloids (d. h. in dem 
Weltstück, von dem aus reelle Tangentialkegel an das Hyperboloid laufen), 
in Übereinstimmung mit dem indefiniten Charakter unseres ds?. In homo- 
genen Koordinaten &,... geschrieben lautet die Gleichung des Hyper- 
boloids: 


(40) ++" tot=0, 


das Hyperboloid ist also der Schnitt des Asymptotenkegels unserer Pesans- 
kugel mit unserem x, y, z, u- Gebiet. 


2. Die kontinuierliche Schar der pseudoorthogonalen Substitutionen 
der &,n,... liefert für die x, y,2,w die größte kontinuierliche Gruppe 
von Kollineationen, durch welche unser Hyperboloid in sich übergeht. 


3. Mögen neue Gebilde, welche durch eine einzelne lineare Gleichung 
zwischen den x, y, 2, u (bez. durch eine entsprechende homogene Gleichung 
zwischen den €,n,...) dargestellt werden, schlechtweg Räume heißen. 


4. Räume, welche das fundamentale Hyperboloid nur in imaginären 
Punkten schneiden (wie z. B. = 0), werden elliptische Maßbestimmung 
schlechtweg aufweisen, also endlich ausgedehnt sein. Insofern wird man 
also unsere Welt als ‚räumlich geschlossen“ bezeichnen dürfen und direkt 
neben die Einsteinsche Zylinderwelt stellen. 


XXXIl. Integralform der Erhaltungssätze usw. 607 


5. Als Grenzfälle treten neben diese Räume solche, welche das Hyper- 
boloid in einem Punkte berühren, z. B. die Räume 


(41) a —, oder, was dasselbe ist, vr w=0. 


Solche Räume mögen kurzweg Tangentialräume genannt werden. 


6. Irgend zwei Tangentialräume umgrenzen, bei projektiver Auffassung, 
ein zusammenhängendes Weltstück, in dessen Inneres das Hyperboloid nicht 
eindringt und das man nach seiner Gestalt gemäß projektiver Auffassung 
zweckmäßigerweise als Doppelkeil bezeichnen wird. Dieser Doppelkeil ragt 
von zwei Seiten an das noch immer zweidimensionale Gebiet heran, das 
den beiden Tangentialräumen gemeinsam ist und das man daher zweck- 
mäßigerweise die Doppelschneide (des Keils) nennen dürfte. 


7. Man überblickt diese Sachlage am einfachsten, indem man die 
beiden Tangentialräume der Nr. 5 betrachtet (in welche man vermöge der 
@,, unserer Kollineationen noch jedes andere Paar zweier Tangentialräume 
auf oo* Weisen überführen kann). Der Doppelkeil umfaßt dann die Punkte, 
für welche ” 


(42) ans s, dhelezcht. 


Die Schneide wird durch diejenigen Punkte gebildet, für welche  un- 
bestimmt wird, für die also v und ® gleichzeitig verschwinden (womit 
x, y,z unendlich werden ). 


8. Gemäß der Lehre von der projektiven Maßbestimmung. gibt jeder 
solche Doppelkeil nun Anlaß, für irgend zwei seine Schneide enthaltenden 
elliptischen Räume einen reellen Pseudowinkel einzuführen. 


9. Ich will der Deutlichkeit halber gleich an das Beispiel (41), (42) 
anknüpfen. Zwei zugehörige (ihrem ganzen Verlaufe nach dem Doppelkeil 
angehörige) elliptische Räume werden dann durch Gleichungen: 


A. ER. 
(43) won, wow be. Fe er 


gegeben sein (wobei w, und u, zwischen + = und -, —2 zwischen +1 


liegen). Sie bilden mit den Flanken des Donpeikeie d. h. den beiden 
Tangentialräumen (42), zwei zueinander inverse Doppelverhältnisse, von 
denen wir etwa dieses herausgreifen wollen: 


w+Rlec. %-Rice v+to %W-@ 
u—Rle w+äle v—-—o vt@, 








(44) Dv= 


Als Pseudowinkel der beiden elliptischen Räume (43) wird man dann 
den mit irgendeiner reellen Konstanten A multiplizierten Logarithmus 
dieses Doppelverhältnisses definieren. 


608 Zum Erlanger Programm. 


10. Mit Rücksicht auf die de Sitterschen Entwicklungen wollen wir 
A= = nehmen und wollen übrigens v, = 0 setzen, d. h. den Pseudo- 
winkel von = 0 beginnend nehmen. Wir haben dann, indem wir bei 
U, d), w, noch den Index weglassen, als Definitionsformel des Pseudo- 
winkels: | 
(45) = 2,1% Rle-n 2e So-, | 
und sehen deutlich, wie er von — oo bis + oo wächst, wenn u von 








= z bis = geht, d. h. den ganzen Doppelkeil durchwandert. 

11. Für die Punkte der Schneide selbst, wo ® und v gleichzeitig 
verschwinden, wird @ naturgemäß völlig unbestimmt. Man hat damit, 
für die allgemeine analytische Auffassung, keine andere Singularität vor 
sich als beim Polarwinkel 9 im Nullpunkte eines gewöhnlichen ebenen 
(Polar-)Koordinatensystems. Nur daß die beiden absoluten Richtungen, 
welche der Winkelbestimmung (im Sinne der projektiven Theorie) zu- 
grunde liegen, im gewöhnlichen Falle imaginär, bei (45) aber reell sind'®). 


S 9. 
Einführung von Materie und Zeit. 


Wir denken uns jetzt unser ds? (35) durch vier unabhängige, vorläufig 
noch beliebige Parameter w (für welche wir gern unsere x,%Y,2,u nehmen 
können) ausgedrückt: | 


(46) ds? — N, gu,dw" dw”. 
Da wir wissen, daß dieses ds? konstantes Riemannsches Krümmungs- 


maß hat, können wir die zugehörigen K,, nach den Entwicklungen von 
Herglotz!?) gleich hinschreiben: 


30? 





(47) Kur = a Gar: 
Wir werden also den Einsteinschen Feldgleichungen mit dem 4-Glied 
(48) Kur — AQur — #rTur = 0 
genügen, indem wir 
2 
(49) nn = und alle 7, ,— 0 


setzen, d.h. überhaupt keine Materie annehmen. Wir werden auch weiter 
unten sehen, daß man notwendig zu dieser Annahme geführt wird, wenn 





1) Für die Nr.8—11 möge der diesen Dingen ferner stehende Leser meine alten 
Entwicklungen in Bd. 4 der Math. Annalen [siehe Abh. XVI dieser Ausgabe] ver- 
gleichen (wo die in Betracht kommenden Beziehungen und Überlegungen mit aller 
Ausführlichkeit geschildert sind). 

17) Sächsische Berichte von 1916, S. 202. 


XXXIIH. Integralform der Erhaltungssätze usw. 609 


man von der Voraussetzung einer die Welt gleichförmig erfüllenden, in- 
kohärenten, ‚bei geeigneter Einführung einer „Zeit“ £ ‚„ruhenden“ Materie 
ausgeht. In der Tat kommt auch de Sitter zu diesem Resultat, nur daß 
er es etwas anders ausdrückt, wie man an Ort und Stelle nachsehen mag. 


Natürlich entfernen wir uns mit dieser Formel (49) durchaus von 
Einsteins ursprünglicher physikalischer Absicht, welche darauf ausging, 
sich durch gleichförmige Verteilung der Materie über den Raum hin ein 
mittleres Weltbild zu verschaffen. Wir setzen uns aber auch überhaupt 
in mindestens formalen Widerspruch mit einem anderen Grundsatz von 
Einstein, demzufolge es keine von Null verschiedene Lösung der Glei- 
chungen (48) ohne Annahme von Materie geben soll (vgl. die oben zitierte 
Note Einsteins vom März 1918). Dieser Grundsatz ist bei Einstein 
ursprünglich ohne Zweifel aus physikalischen Überlegungen erwachsen, er 
ist aber an sich rein mathematischer Natur, er wird also (worauf mich 
Einstein gelegentlich einer Korrespondenz selbst aufmerksam machte) 
durch die bloße Existenz unseres ds” (46) widerlegt. Allerdings kann 
man bemerken, daß die g,, dieses ds’ (man führe die Rechnung etwa 
für die x, y, 2, uw aus) entlang dem fundamentalen Hyperboloid unendlich 
werden, was als ein Äquivalent für das Nichtvorhandensein von Materie 
an den nichtsingulären Stellen der Welt angesehen werden kann. 


Handeln wir jetzt von der geeigneten Einführung einer ‚Zeit‘ # (die 
wir dann als w/P wählen). Den Ausgangspunkt muß gemäß Einstein- 
scher Auffassung die Bemerkung bilden, daß die Welt, die wir suchen, 
als statisches System soll aufgefaßt werden können, d. h. daß ds” un- 
verändert bleiben soll, wenn man, unter Festhaltung von w/, w!!, wIlT, 
das w/V’ — t um eine beliebige Konstante vermehrt. Es soll also die ein- 
gliedrige Gruppe: 


(50) a=uwN, W—wNl, guy gvVP=wP/ ı4C 


in der zehngliedrigen Gruppe, durch welche unser ds? in sich übergeht, ent- 
halten sein. Es genügen einige geometrische Schlüsse, um einzusehen, daß 
eine solche eingliedrige Gruppe gleichbedeutend mit einer fortgesetzten 
Drehung unserer pseudoelliptischen Welt um eine festliegende, zwei- 
dimensionale Achse sein muß, daß # darum (nach geeigneter Wahl der 
Zeiteinheit) bis auf eine additive Konstante mit dem Pseudowinkel eines 
Doppelkeils, wie er durch (45) definiert «st, übereinstimmen muß. Wir 
haben also, wenn wir unter v=(, ®=( in früherer Weise irgendzwei 
Tangentialräume des fundamentalen Hyperboloids verstehen und auf die 
additive Konstante keinen Wert legen: 


(51) = —— leg —— 


Klein, Gesammelte math. Abhandlungen. 1. 39 


610 Zum Erlanger Programm. 


zu nehmen. Nun gibt es solcher Paare von Tangentialräumen ©®. Wir 
haben danach &*® Weisen, gemäß (51) ein t einzuführen, — im Gegen- 
satz zur Zylinderwelt, wo das & bis auf eine additive Konstante völlig 
festgelegt war, im Gegensatz auch zur speziellen Relativitätstheorie (der 
Lorentzgruppe), wo das # (immer nach Festlegung der Zeiteinheit und des 
Anfangspunktes) noch drei willkürliche Parameter enthält. 

Konstatieren wir zunächst, daß wir mit (51) genau zu dem ds’ 
kommen, welches de Sitter seiner Hypothese B zugrunde legt. Unter 
Benutzung räumlicher Polarkoordinaten schreibt nämlich de Sitter (so- 
fern ich gleich die von mir sonst gebrauchten Buchstaben verwenden, auch 
das ds? mit dem früher verabredeten Vorzeichen nehmen darf): 


(52) -de— (49° + sin®9-dop? + sin?dsin’p-dy”?) — cos?d-dt? 


und dieses ds? entsteht aus dem in (35) an die Spitze gestellten: 
— ds=d£E’+dn’+di?— dv’+dw?, 
wenn ich, unter Einhaltung der Bedingung (34): 
2 








2 0 R 
a on a A Ar a 
einfach ansetze: 
; SR RB; & 
= -sindcosp, 7 = sin dsin pcosy, 
(53) { = sindsinpsin y, v— 009 6in, 
R ct 
e=cod&iz- 


Hier sollen Sin und of in gewöhnlicher Weise hyperbolische Funktionen 
bedeuten. Es wird danr: 
® 


4 ) Tg —-l, 


[0 


. was in der Tat mit Formel (51) übereinstimmt. 

Ich werde das Stück unserer pseudoelliptischen Welt, welches gemäß 
(53) durchlaufen wird, wenn man #9, 9, y innerhalb der üblichen Grenzen, 
it aber von — oo bis + oo laufen läßt, eine de Sittersche Welt nennen. 


Gemäß (54) durchläuft — dabei nur die Werte von — 1 bis +1. Ofien- 


bar ist diese de Sittersche Welt nichts anderes, als der Doppelkeil der 
vorigen Paragraphen. Seine beiden „Flanken“, v— o=0undv+w=(, 
erseheinen als unendlich ferne Zukunft, bez. unendlich ferne Vergangenheit. 
Seine Kante aber (die für die allgemeine Auffassung der pseudoelliptischen 
Welt aus lauter gewöhnlichen Punkten besteht) erscheint als etwas Sin- 
guläres, nämlich als Ort solcher Weltpunkte, für welche # den Wert °/, 
annımmt. — 


XXXIII. Integralform der Erhaltungssätze usw. 611 


Ich habe diese Verhältnisse schon an der oben genannten Stelle des 
Jahresberichts der Deutschen Mathematiker-Vereinigung berührt (Vor- 
trag vor der Göttinger Mathematischen Gesellschaft vom 11. Juni 1918). 
Um die paradoxen Beziehungen, welche für die physikalische Auffassung 
vorliegen, klar als solche hervortreten zu Jassen, habe ich mich damals 
folgendermaßen geäußert: „Zwei Astronomen, die, beide in einer de Sitter- 
schen Welt lebend, mit verschiedenen de Sitterschen Uhren ausgestattet 
wären, würden sich hinsichtlich der Realität oder Imaginäritat irgend- 
welcher Weltereignisse in sehr interessanter Weise unterhalten können“. 
Gemeint ist, daß die Doppelkeile, welche aus der pseudoelliptischen Welt 
durch verschiedene Paare von Tangentialräumen der fundamentalen 
Hyperboloide ausgeschnitten werden, immer nur Stücke gemein haben, 
mit anderen Stücken übereinander hinausgreifen. — 

Im übrigen kann, wer will, sich über die Einzelheiten der de Sitter- 
schen Welt leicht genauer orientieren. Die Welt reicht nur in den beiden 
Punkten: E=0,n=0, ö{=0,vEw=60 an das fundamentale Hyper- 
boloid heran. Alle Weltlinien sind solche Kegelschnitte, welche das Hyper- 
boloid in diesen beiden Punkten berühren (deren Ebene also die ein- 
dimensionale Achse &=0, n=0, ©=0 enthalten). Es gibt nur noch 
eine kontinuierliche @,, welche die de Sittersche Welt in sich trans- 
formiert, entsprechend der Substitution £=t#--C verbunden mit der 
kontinuierlichen @, der unimodularen orthogonalen Substitutionen von £, 
n, &. Hierbei ist &°+n° + £? invariant, die Gruppe der de Sitterschen 
Welt ist also nicht mehr transitiv. Die „Achse“ &—=0,n=0, &=0 und 
die „Schneide“ v=0, ®=0 sind invariante Gebilde. 

Zum Schluß überzeugen wir uns noch, daß die Dichte o der ruhenden, 
inkohärenten Materie, welche die de Sittersche Welt gleichförmig er- 
füllen soll, in der Tat notwendigerweise — (0) gesetzt werden muß. Bleiben 
wir nämlich bei unseren „statischen“ Koordinaten. Wir haben dann für 
alle anderen Indexkombinationen u, v: 

Aw 7 Jur 


und nur für u=4, v—=4: 


30? : 
gu = In +xco, 
woraus eindeutig 
30° 
4 Jo 2 , 
folgt, wie wir in Formel (49) bereits angenommen hatten. — 
Alle diese Resultate sind in voller Übereinstimmung mit de Sitters 
eigenen Angaben. Sie widersprechen aber dem Einwande, den Einstein 
39* 


e—= (0 


612 Zum Erlanger Programm. 


in seiner Mitteilung vom März 1918 gegen de Sitter erhob und den dann 
Weyl in seinem Buche!*), sowie neuerdings in einem besonderen Aufsatz 
in der Physikalischen Zeitschrift!?) durch ausführliche Rechnungen gestützt 
hat. Beide Autoren finden, daß entlang der Schneide des Doppelkeils 
(ich bleibe der Kürze halber in meiner Ausdrucksweise) Materie vorhanden 
sein müsse. Ich habe die Richtigkeit der Weylschen Rechnungen nicht 
nachgeprüft, schließe mich aber gern der Auffassung an, die mir Einstein 
brieflich aussprach, daß die Verschiedenheit der beiderseitigen Resultate 
in der Verschiedenheit der benutzten Koordinaten begründet sein muß. 
Was ich, unter Verwendung der &, n, £, v, ®, als einzelnen Punkt 
der Schneide bezeichne, ist bei Benutzung der 9, @, w, t (wegen des 
unbestimmt bleibenden Wertes von t) ein einfach ausgedehntes Gebiet. 
Es sollte nicht schwierig sein, hierüber volle Aufklärung zu schaffen. 

Mein abschließendes Votum über die de Sitterschen Angaben aber 
ist, daß mathematisch — jedenfalls bis auf diesen einen noch nicht völlig 
geklärten Punkt [den ich gern in allgemeiner Weise erläutert sehen 
möchte] — alles in Ordnung ist, man aber zu physikalischen Folgerungen 
geführt wird, welche unserer gewöhnlichen Denkweise und jedenfalls den 
Absichten, welche Einstein bei Einführung der räumlich geschlossenen 
Welt verfolgte, widersprechen. 





18) Raum, Zeit, Materie. S. 225. 
19), 1919, Nr. IE (vom 15. Januar 1919). 


Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig. 
MANULDRUCK VON F. ULLMANN G, M. B, H., ZWICKAU SA, 








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